Die Macht der Form: Versuch einer dynamischen Ontologie [1. Aufl.] 9783839429983

Information, a dynamic cosmos, and Deleuze's reversal of Platonism turn out to be ideas linking Aristotle, Spinoza,

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German Pages 292 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Umleitungen
Ideen
Lehren
Krusten
ERSTES HAUPTSTÜCK FORMEN
Möglichkeiten
1 Gründe
2 Gegensätze
3 Prioritäten
4 Differenzen
5 Virtualitäten
6 Öffnungen
Wirklichkeiten
1 Bestrebungen
2 Chronologien
3 Unschärfen
4 Körper
5 Kontakte
6 Tropen
ZWEITES HAUPTSTÜCK KRÄFTE
Extensionen
1 Begriffe
2 Ausdrücke
3 Intensitäten
4 Essenzen
5 Affekte
6 Sinne
Intensionen
1 Introspektionen
2 Einheiten
3 Falten
4 Perzeptionen
5 Seelen
6 Masken
DRITTES HAUPTSTÜCK WILLEN
Komplikationen
1 Künste
2 Perspektiven
3 Destinationen
4 Organisationen
5 Steigerungen
6 Zersetzungen
Entfaltungen
1 Interpretationen
2 Ebenen
3 Entzüge
4 Zusammenhänge
5 Geister
6 Informationen
Literatur
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Die Macht der Form: Versuch einer dynamischen Ontologie [1. Aufl.]
 9783839429983

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Ferdinand Auhser Die Macht der Form

Edition Moderne Postmoderne

2014-12-18 16-12-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d3385321614430|(S.

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4) TIT2998.p 385321614438

Ferdinand Auhser (Mag. phil. Dr. phil.) arbeitet als freier Autor in Tulln an der Donau. Seine philosophischen Schwerpunkte sind das Denken Friedrich Nietzsches und Baruch de Spinozas sowie Kunst und Körper.

2014-12-18 16-12-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d3385321614430|(S.

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Ferdinand Auhser

Die Macht der Form Versuch einer dynamischen Ontologie

2014-12-18 16-12-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d3385321614430|(S.

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Die Dissertationsschrift wurde von der Österreichischen Akademie der Wissenschaften im Rahmen eines DOC-Stipendiums gefördert. Land Niederösterreich

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-2998-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2998-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: info@transcript-verlag.de

2014-12-18 16-12-37 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03d3385321614430|(S.

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4) TIT2998.p 385321614438

Inhalt

Vorwort | 9 Umleitungen | 11 Ideen | 11 Lehren | 14 Krusten | 19

E RSTES H AUPTSTÜCK F ORMEN Möglichkeiten | 27 1 Gründe | 27 2 Gegensätze | 33 3 Prioritäten | 39 4 Differenzen | 45 5 Virtualitäten | 52 6 Öffnungen | 60 Wirklichkeiten | 67 1 Bestrebungen | 67 2 Chronologien | 73 3 Unschärfen | 80 4 Körper | 88 5 Kontakte | 96 6 Tropen | 103

Z WEITES H AUPTSTÜCK K RÄFTE Extensionen | 113 1 Begriffe | 113 2 Ausdrücke | 119 3 Intensitäten | 126 4 Essenzen | 134 5 Affekte | 141 6 Sinne | 146 Intensionen | 155 1 Introspektionen | 155 2 Einheiten | 162 3 Falten | 168 4 Perzeptionen | 175 5 Seelen | 181 6 Masken | 188

D RITTES H AUPTSTÜCK W ILLEN Komplikationen | 199 1 Künste | 199 2 Perspektiven | 205 3 Destinationen | 212 4 Organisationen | 218 5 Steigerungen | 223 6 Zersetzungen | 230

Entfaltungen | 239 1 Interpretationen | 239 2 Ebenen | 244 3 Entzüge | 251 4 Zusammenhänge | 258 5 Geister | 265 6 Informationen | 272

Literatur | 281

Vorwort

Wenn Baudelaire sagt, er habe all seine Liebe und all seinen Hass in die »Blumen des Bösen« einfließen lassen, ist die Radikalität der Formulierung ein Privileg des Dichters. Dennoch ist jedes Buch, jedes Werk – wenn man diesen Begriff verwenden darf –, das eine Form von »erzwungener Kybernetik« oder Selbstüberwindung für sich in Anspruch nimmt, auch immer begleitet oder sogar getragen von Emotionen, die notwendig und gezwungenermaßen einfließen, seinem Entstehungsprozess angehören, die eigentlich mit ihm eins sind. Es gibt tatsächlich Zeiten der Liebe, der innigen Verbundenheit, ebenso, wie Phasen der Abneigung, der Stagnation und der Distanz. Ob und wie weit diese Bipolarität selbst wieder eine Notwendigkeit darstellt, kann und will ich nicht beurteilen, allerdings bin ich mir darüber im Klaren, dass ich meine Liebe zu und Freude mit dieser Arbeit, aus der nun auch ein Buch geworden ist, nicht ohne bewusste oder unbewusste Hilfe anderer wieder hätte finden können. In diesem Sinn gilt mein Dank meinen Eltern und Großeltern, insbesondere meinem Großvater, für ihre Unterstützung, ihr Verständnis und ihr Vertrauen. Ebenso danke ich Herrn Mag. Thomas Wäckerle für seine Korrekturen und Anregungen, Herrn Dr. Richard Hübl, mit dem ich in vielen und langen Gesprächen den Begriff der Information zu deuten versucht habe, vor allem aber Professor Dr. Arno Böhler, für seine Geduld, den Rückhalt, die langjährige Begleitung, die Freundschaft, den Austausch, die vielen Ideen und – wieder – für das Vertrauen, von dem ich selbst eine Zeit lang glaubte, es verloren zu haben. Tulln, im September 2011/Oktober 2014

Umleitungen I DEEN Mit Sicherheit erwecken viele Abhandlungen, vor allem aber die philosophischen, oft den Anschein, von ihrem Ziel immer wieder abzuweichen und in ihrem Ausschweifen mehr Fragen aufzuwerfen, als zu beantworten. In diesem Sinn sehen sich vorausgeschickte Bemerkungen nicht nur mit der Aufgabe konfrontiert, eine Ein-, sondern vor allem auch eine Anleitung zu geben, einen Wegweiser oder Kompass, vielleicht ein Memorandum, anhand dessen die Reise durch eine teils fremde Gedankenwelt eine Route, Richtung oder schlichtweg – Sinn erhält. Die Frage nach dem Bezug von Vielem und Einem, nach dem Einen im Vielen und umgekehrt, ist im Prinzip eine alte, genuin philosophische Problematik. Es geht um den Zusammenhang von Pluralität und einer einheitlichen Grundverfügung. In diesem Fall also um eine Vorstellung, durch die die Ausführungen, die verschiedenen Themenbereiche getragen oder zusammengehalten werden. In der Wissenschaft und der wissenschaftlichen Literatur folgt man gemeinhin einer Forschungsfrage – ein Begriff, der in Anbetracht einer doch sehr ausgeprägten Sensibilität der Philosophen wohl etwas zu forsch klingt, zumal sich dahinter tatsächlich ein Kraftausdruck verbirgt. Der force wird in der Philosophie ohnehin, und auch in diesem Buch, zur Genüge Rechnung getragen. Sie zieht sogar eine Spur, einen Faden, sie ist in manchen Passagen vielleicht richtiggehend spürbar. Hierfür gilt es aber, einen Riecher zu haben, man muss der Spur folgen, man muss sie lesen können. Wahrscheinlich braucht man Halt, ein Geländer auf dem Weg durch ein Dickicht verworrener Kapitel und noch verworrenerer Sätze. Aber welches? Vielleicht – und das wäre ein eigentlich ironischer Zug mit Blick auf den Inhalt des Buches – eine Idee; weniger ein Ideal, als eine unfertige Vorstellung, sicher keine Fest-Stellung, aber eine Ein- oder Grund-Stellung, und – vielleicht noch besser – ein Um-Stellung. Wer weiß… Die Ironie jedenfalls liegt darin, dass sich das ganze Buch eine Zeile gleichsam unter den Untertitel schreibt, und diese ist das 1968 formulierte Credo einer »Umkehrung des Platonismus«.

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Die Macht der Form

Gilles Deleuze beschreibt mit diesem kurzen Satz aus »Differenz und Wiederholung« ein äußerst langes und langwieriges Programm – er gibt einen Anhalt, noch keine Haltung. Er sagt etwas über eine Denkweise oder eine Denkrichtung aus, mit dem Vorsatz, dass die Aufgabe der modernen Philosophie schon dahingehend, dorthin-schielend definiert worden sei: Eben als Kehrtwende, als Um- und Verdrehung. Als ob es viel aufzuarbeiten, umzugraben gäbe. Hier kann man also schon erahnen: Die Idee in oder hinter diesem Buch deckt sich im Großen und Ganzen mit seinem Sub-Text, der zugleich ein Ansinnen formuliert: Es handelt sich um einen Versuch, im besten Fall aber um eine Versuchung. Bei der »dynamischen Ontologie« steht man zu allererst vor einem Paradoxon – vielleicht vor einem ähnlichen, wie Trouton und Noble es vorgelegt haben, insofern es um die Frage nach einem Drehmoment in einem statischen System geht. Als solches erscheint auch die platonische Weltsicht und damit – die Welt, denn es hat den Anschein, als ob sich die platonische Denk- und Betrachtungsweise ebenso nachhaltig wie unbemerkt (oder nur von wenigen Mutigen vermutet) in etwas eingeschlichen hätte, das zu benennen selbst einiges Kopf-Zerbrechen bereitet: Das kollektive Unbewusste? Den Weltgeist? Die Tradition? Vielleicht hat sie in alles hineingewirkt, am ehesten aber in letzteres, zumal es hier vor allem um eines geht, nämlich um Werte. Und sind Bewusstsein und Weltgeist womöglich gar nichts anderes als Traditionen? Das Tradieren jedenfalls ist ein Spiel der Werte. Und ein Pflegen der Voraussetzungen. Von Satzungen. Eine Frage von vordergründig wenig Differenz und viel Wiederholung. Eine Notwendigkeit in einem viele Perspektiven überschreitenden Sinn. Die Tradition ist Erlernen, Bestimmen, Anpassen, Unterwerfen. Ist oftmals: Überleben. Sogar das Atmen hat eine Tradition und musste irgendwann erlernt werden. Diese genealogischen Hinter- und Hinterstgedanken sind nicht neu. Sie stehen selbst wieder in einer Tradition, sie stehen unter dem Einfluss Friedrich Nietzsches, bewegen sich in seinem Zeichen. Entgegen der Meinung vieler war Nietzsche vor allem eines: Ein Philosoph der Tradition, ein Denker und Nachdenker traditioneller Werte, auch ein Vordenker, aber vor allem Philologe. Ein Liebhaber des Logos, der Sprache, der Grammatik, der Regeln hinter den Wörtern, Werten, ein Traditionsforscher und begeisterter Leser von Hintergründen und Absichten. Er hat einen Blick für das Dahinter entwickelt, womöglich einen sechsten oder siebenten Sinn, zumal seine Sehkraft vom Anblick der erscheinenden Welt immer heftiger in Mitleidenschaft gezogen war. Er sieht hinter jeder Erscheinung einen Willen und hinter jedem Wert eine Wertsetzung. Die Wertsetzung, wie sie von Platon vor knapp 2500 Jahren angedacht, angeschaut worden ist, hat Geschichte geschrieben, und nicht irgendeine, sondern eine mächtige, große Geschichte: ein Epos, wenn man möchte (vielleicht eine neue – Odyssee?). Man nennt sie auch Geschichte der Metaphysik, des

Ideen

Abendlandes, Geistesgeschichte. Besonders starke Namen für eine nicht minder starke Entwicklung – und eine ebenso glückliche Fügung, vielleicht eine Art Fusion, ein Zusammen, eine schleichende Konfusion. Denn der Platonismus ist zur Religion und damit in einem noch weiteren Sinne eigenständig geworden. Er hat sich mit dem Christentum vermengt und hat in dieser Liaison einen Vektor, eine Ausrichtung geliefert. Die Sinnfrage und das Ansinnen haben sich so in die Ferne, eigentlich: nach oben gewendet, dem Jenseits zu – es wurde zum sprichwörtlichen Griff nach den Sternen. In dieser Einsamkeit aber findet auch eine der bemerkenswertesten Entwicklungen einer Idee, der Idee, statt. Sie wird nämlich eigensinnig. Sie emanzipiert sich. Sie wird selbst Grund, Zweck und der Hinter-Grund aller Emanation. Sie dreht sich von einem Danach zu einem Davor, wird von der einen zu einer anderen Bestimmung, zu einem neuen Schicksal. Das ist der eigentliche Anachronismus. Diese Bewegung ist Gegenstand des Buches und Gegenstand seiner Einstellung – weniger eine Gegnerschaft als tatsächliches Interesse, ein Zwischen, mit dem schon viel erreicht ist, vielleicht sogar mehr als viel, vielleicht ein Vielleicht, oder noch eher: ein Vielschwer. Schwer ist nämlich die Überwindung, sich aus den Zwängen, aus der Neurose der eigenen Tradition herauszuwinden, und auch hier trifft Platon in seiner Bildgewalt den Nagel oder den Denker auf den Kopf. Gewissermaßen philosophiert auch er schon mit dem Hammer. Es verursacht nämlich einigen Schmerz, sich aus der Gewohnheit heraus, sich über die Gewohnheit hinwegzuwinden, schlichtweg: die Perspektive zu ändern und verschiedene Dinge unter anderen Aspekten oder Auspizien (wir sprechen hier tatsächlich von einer Vogelschau) zu betrachten. Insofern und auch in vielen anderen Dingen gilt es eben, die platonische Welt, oder richtiger: die Welten, im Auge und vor allem: im Sinn zu behalten. Das ist auch der Hauptgrund und der Haupt-Hintergrund, die Brille, durch die es die Passagen über Aristoteles und die Form zu lesen gilt – durch die man sie lesen kann. Denn auch hier wird eine Emanzipation geltend gemacht, ein Herauslesen aus der Tradition. Die Geschichte der Philosophie liest sich oft – und dieses Sich meint tatsächlich ein sich-selbst-Lesen – oder allzu oft sehr glatt, sehr harmonisch. Das Selbst der Geschichte der Philosophie sind die historischen Philosophen, allen voran jene, die in die Geschichte eine Entwicklung, einen Stufenbau hineinlegen möchten. Und eben dort beginnen dann die Philosopheme teil zu haben, dort vollzieht sich eine Methexis der Positionen an einem großen Ganzen, an einem Plan. Die Geschichte des Denkens wird funktionalisiert. Aber mit etwas anfänglich-schlechtem Gewissen lassen sich etwa die aristotelische Form, die Dualität von Möglichkeit und Wirklichkeit und der Gedanke der reinen enérgeia in einem anderen Licht und mit anderen Hintergedanken lesen, das heißt: mit anderen Ab- und Aussichten.

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Die Macht der Form

Neben allem Unbewegten, an dem die aristotelische Philosophie oft aufgehängt und festgemacht wird, herrscht darin nämlich eine ungemeine Dynamik, ein Logos eines dynamischen Seins und eine ganz besondere Form der Bewegung, oder – eine Bewegung der Form. Aristoteles steht nicht im klassischen Sinn in der Tradition oder Nachfolge seines Lehrers, sondern eher gegen ihn und gegen seine Ideen. Er nimmt den Gedanken einer das Dasein bestimmenden Form auf und setzt ihn in die diesseitige Welt – er stürzt die platonischen Ideen und macht den Körper, die reale Form zum Wesentlichen. Hier geht es also um Umwälzungen. Eine richtiggehende Perversion vollzieht sich in der Weltsicht von Lehrer zu Schüler und markiert einen Bruch – eine Kehrtwendung. Doch darin setzt Aristoteles einen Schritt, den Deleuze in seiner Forderung nach der Umkehrung des Platonismus im selben Satz mitsagt: Wenn diese Wendung vollzogen werden kann, dann ist es nötig und auch wünschenswert, Züge und Elemente des Ursprünglichen zu behalten – zu konservieren und umzusetzen, zu deplatzieren, jedenfalls zu performieren. Denn auch das ist ein wesentlicher Zug der Philosophie und ein wesentliches Merkmal ihrer Freiheit – die Performance, die De- und Reformierung ihrer Begriffe, ihrer Ideen. So handelt Aristoteles an und mit den platonischen Begriffen, den Ideen, er greift sie an, was seinem Lehrer Platon ob ihrer Distanz niemals gelungen ist. Er nimmt und setzt sie um in das Leben der Formen und der Natur – der Physis. Das ist eine Um- und zugleich eine Wertsetzung, indem die Idee zur Form wird. Und auch hier, in einer Ein- oder Anleitung ist es zulässig, von Ideen zu sprechen, insofern sie einen Eindruck hinterlassen, indem man etwas mitnehmen kann, das eine Vorstellung von Absichten zulässt, das ein »Ungefähr« beschreibt. Der Unterschied zu den platonischen Ideen liegt im Großen und Ganzen darin, dass man unsere Ideen haben kann.

L EHREN Eine derartige Lesart (obwohl man ein wenig von der Hermeneutik weg

möchte) zieht sich durch das gesamte Buch – hindurch oder hinein. Jedenfalls ist das Herauslesen aus der Tradition in gewissem Sinn auch eine Auslese, eine Auswahl und auch hier wieder und immer wieder: eine Wertung. Die Gründe, warum man von Aristoteles zu Derrida und Nancy, von dort zu Spinoza, weiter zu Leibniz und schlussendlich zu Nietzsche springt, wollen gar nicht objektiv sein, können eher nur einer Perspektive, einer speziellen Idee und Voraussetzung folgen. Aber eben diese perspektivische Struktur ist nicht zuletzt Thema der gesamten Betrachtung und im Weiteren ein Integral der philosophischen Praxis. Man darf nicht nur, man soll auswählen und von

Lehren

alten auf neue und neu gestaltete Begriffe induzieren, schließen, hinführen oder vielleicht sogar – hinraten. Dass das gesamte Buch eine gewisse Neigung, eine Schieflage in mancherlei Hinsicht hat, lässt sich schon aus dem hier Vermerkten ableiten. Welchem Lesen man folgt und welche Perspektive im Vordergrund steht, hängt – und hier kommt man aus menschlicher Sicht wieder zu Aristoteles – zu einem Gutteil auch an seinem Lehrer, an den Einflüssen, den vielen Eindringlingen, den fremden Gedanken, verführerischen Ideen. Augen und Ohren werden über den längsten Zeitraum unbemerkt in eine Richtung gelenkt, es werden ebenso Empfindungen und Werte gepolt, umgeleitet, aufgeschoben. Man weiß tatsächlich niemals so ganz genau, wonach einem der Sinn steht oder wo er hingelenkt wird. Es sind viele Stimmen, die den Weg diktieren. So könnte man natürlich in einer Verzweiflung des Eigensinns alle Ansprüche und alle noblen Absichten über Bord werfen, um vor der Aussichtslosigkeit zu kapitulieren, zumal ohnehin alles nur Rekapitulation zu sein scheint. Jedes Wort und jeder Gedanke eine Wiederholung, eine ewige Wiederbeschwörung desselben. Als ob man eine kafkaesk-strafkoloniale Signatur im Rücken und selbst noch in den Augen mit sich herumführte, die jeden Freigeist vor der Tatsache der Unterschrift der Älteren in einen Sumpf der Resignation treiben müssten. Doch das Re-Signieren ist selbst zu einem großen Thema und zu einer Frage geworden. Es soll hinterfragt, gefühlt, bewusst gemacht werden – oder, um konkrete Fragen meines Lehrers zu zitieren: »Muss es nicht weit reichende Konsequenzen für unser modernes und postmodernes Selbstverständnis haben, dass wir in unserem ›ureigenen‹ Tun weit weniger Täter sind, als wir bisher gedacht haben? Dafür aber weit mehr als Medien historisch überlieferter Riten und Botschaften fungieren, als wir bisher geahnt haben?«1

Diese Konsequenzen haben die Fragen mit Sicherheit: als Folgen und Schlussfolgerungen. Wie weit, bis zu welchem Grad sieht man sich selbst, seine Stellung, seine Gedanken, sogar seinen eigenen Körper als Zitat eines anderen, einmal mehr als Wiederholung, als Krämerei, wieder Hervorkramen von Altem und Althergebrachtem? Aber sogar die Resignation und das resignative Gedankengut können mit einigem Geschick und noch einmal mit etwas Historizität ins Positive gewandelt werden. Selbst der Ahnenforscher ist nicht rein der Verzweiflung überantwortet, zumal er nicht zuletzt – Genealoge und damit wohl auch – Schicksalsgläubiger ist.

1 | Arno Böhler, Politiken der Re-Signation: Derrida – Adorno, in: Eva L.-Waniek, Erik M. Vogt (Hrsg.), Derrida und Adorno – Zur Aktualität von Dekonstruktion und Frankfurter Schule, 172.

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Die Macht der Form

Einen Ausweg, der ihm allerdings auch oft als das Gegenteil, eher als Einbahn angedichtet worden ist, bietet Spinoza. Auch er behauptet (als Geometer), einen gangbaren Weg aus dem Labyrinth der Bestimmung und Vorbestimmung zu zeichnen – wenn man dem Weg glauben möchte. In jedem Fall

sind sich Nietzsche und Spinoza in dieser spezifischen Glaubensfrage durchaus ähnlich. Beide bewegen sich hier um ein gottgleiches Schicksal und die uneingeschränkte Liebe, den amor fati oder den amor dei intellectualis. Und um eine starke, fast geheimnisvolle Bestimmung des Subjekts, des Selbst, nicht zuletzt des Körpers. Jedenfalls beschäftigt sie die Frage nach dem Individuum, die Einzigartigkeit und der Unterschied von Selbigkeit und Gleichheit. Der ganze Zarathustra ist eine Geschichte über Individualität und wie sie werden kann, eine Erzählung über Lehrer und Schüler, über die Notwendigkeit des aus-der-Handgebens, über das Schicksal dieses Lehrers, über sein spezifisches Fatum. Was, wieviel und ob man überhaupt etwas von Lehrern annehmen darf, ist nicht nur eine Gratwanderung, sondern schon als Frage in höchstem Maße verfänglich – man kann tatsächlich nicht aus. Das Lernen und Lehren, die Einflüsse und Beeinflussungen, die Übertragung und Verschränkung ist in jedem Prozess, nicht nur in jedem sozialen Gefüge, immer schon mitverfügt. Es ist eine Bindung. Aber vielleicht kann man sich etwas abschauen, vielleicht nützt es, sich eine gewisse Form der Schau, einen Sinn oder Feinsinn anzueignen, den man selbst bei anderen gesehen, oder: gelesen hat. Diesbezüglich wurde auch Kritik geübt und diesem Buch eine gewisse Schräglage attestiert, ein Ausschlag – wenn man so möchte. Ein Zeiger oder eine Tendenz, die sich in eine bestimmte Richtung neigen. Hier und dort wäre Deleuze zu präsent, zu stark spür- und auch lesbar, zu einseitig und eindeutig, zumal auch von ihm viele Deutungen angestellt und aufgegriffen worden sind. Und das ist völlig richtig. Hier liegt eine derartige Ausrichtung vor und sie hält

einer Analyse, oder vorsichtiger: einer bestimmten Form der Analyse mit Sicherheit nicht Stand. Jedoch ist die Analysis in dieser Spezifikation weder Absicht, noch Teil der Methode des Buches. Vielleicht sogar das Gegenteil: Vielleicht handelt es sich hier auch um den Versuch eines Zuwider, um eine leise Form der Gegenläufigkeit, vielleicht ein wenig um den Versuch einer synthetischen Philosophie. Deleuze tritt tatsächlich an vielen Stellen des Buches auf – selten aber (wie könnte er auch?) mit seinen eigenen Absichten und seinem eigenen philosophischen Programm. In den meisten Fällen hört oder liest man ihn als Lehrer, und da wiederum in ausgezeichneter Weise als Lehrer des Lesens. Von diesen Lese-Lehrern gibt es nicht viele in der Geschichte der Philosophie, nämlich von jenen, die eine bestimmte Form des Lesens entwickeln und weitergeben konnten. Der Philosoph liest und spricht gerne, verliest und verspricht allzu viel, aber dass dem Lesen und Sprechen selbst schon ein ganz immenser Lern-

Lehren

prozess vorausgeht, dass lesen und sprechen von einem ständigen Lernen begleitet werden, wird oft vergessen. Heidegger ist einer dieser besonderen Lehrer, ebenso, wie Deleuze. Von ihnen kann man das Lesen lernen – als eigenständige Fertigkeit. Diese Lese-Lehrer sind auserlesen, zumal es von ihnen nur eine Handvoll gibt und sie in ihrer Lehre immer auch und immer wieder Auslesen treffen. Ihre Lektüre geht ins Detail, es ist eine Ecken- und Winkel-Lektüre, weniger Heraus- als Hineinziehen. Man muss sich in das Lesen hineinfallen lassen, das Lesen wiederholen, dem Autor tatsächlich auf den Leim gehen und hängen bleiben in dem Sog, den er erzeugt hat. Durch diese Lese, dieses Sammeln, finden sie Neues und Unbekanntes. Sie stoßen auf Aspekte, auf Verborgenes und lösen das Gelesene so aus der Tradition, aus der Deutungsüberlieferung heraus. Das ist ein bemerkenswerter Zug und auch eine Form der Analyse, die auf bauend, rehabilitierend und im Endeffekt – synthetisch wirken soll, zumal sie Neues zusammensetzt und erstehen lässt. Die philosophische Forschung – ihre Praxis – hat sich bisweilen assimiliert, sie hat durch den Aufschwung der analytischen Philosophie ihre Methode angeglichen – die Methode selbst ist analytisch geworden – ebenso, wie ihre Bedürfnisse. In der Erfüllung von Erfordernissen liegt eine gewisse Pflicht, und im Pflichtbewusstsein die Sicherung der eigenen Autorität. Die wiederum sucht sich selbst in Belegen und einem besonders weit gestreuten Kanon an Referenzen, an Rückversicherungen. Es muss sich jeder Satz, jede Meinung auf etwas beziehen, es müssen Bezüge hergestellt werden. Dieser Zug soll aber tunlichst keine eindeutige Richtung, keine Tendenz, sondern ein ganzes Netz von Tendenzen und Verweisen haben – er soll eingelegt, gut und weich gebettet sein. Dieser Suche und Sehnsucht fehlt aber auf jeden Fall eines: der Mut. Hier sind keine Seefahrer und Abenteurer unterwegs, hier wird in keinem Fall auch nur eine Absicht erraten – geschweige denn eine Aussicht. Die verzweigte Verankerung nach hinten verstellt den Weg nach vorne und verzerrt das Antlitz des Gedankens – durch den Rückzug. Daher stellt sich die Frage, ob Einseitigkeiten in der Referenz durch Zwei- und Dreiseitigkeiten aufgehoben werden können, und vor allem: ob sie aufgehoben werden sollen. Vielleicht ist die Einseitigkeit sogar weniger weit davon entfernt, Perspektiven zu öffnen, vielleicht muss hier nur mehr eine Bindung, ein Knoten im Kopf gelöst werden. Das Gewirr der Verknüpfungen ist die Angst vor einer tatsächlichen Produktion, der philosophischen Produktion. Man traut es sich oftmals nicht zu, etwas her- und damit hinzustellen. Auch in diesem Buch wird wenig konstatiert. Man hängt zusehends in einer neurotischen Rechtfertigungsspirale, die immer rigidere, immer exaktere Ansprüche stellt. Es wird die exakte Wissenschaft gefordert, aber darin entzieht man der Philosophie etwas ganz Wesentliches, eigentlich sogar zwei Wesen: – sowohl ihr Objekt, als auch ihre Methode.

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Die Macht der Form

Man nimmt ihr die Spekulation, ihre Rate- und Rätselfreude ebenso, wie den spekulativen Begriff, das heißt: ihr Gedicht. Was die philosophischen Lehrer also auszeichnet, jene wenigen Drauf- und Druntergänger, die Umtriebigen, die Rundgänger (sogenannte Peripatetiker?), die sich in ihrem Lesen nicht einschränken lassen, ist im Endeffekt ihre Zurückhaltung, ihre Eigenheit und Eigensinnigkeit. Indem sie so wenig Allgemeinheit, nur so vereinzelt Allgemeingültigkeit zulassen, bleiben sie eben Lehrer im zarathustrischen Sinn – sie sind keine Krücken – Geländer vielleicht, sie geben Halt und Anhaltspunkte, inspirieren. Sie sind in jeder Beziehung geistreich, und man kann durch sie das Ansetzen lernen, das Um- und Querdenken, das Verkehrt-Lesen, das Frei-Lesen. Sie geben keinen Weg vor, sind in ihrem Auslesen auch ein Auslösen, das Herauslösen aus der Ummantelung der Lehrmeinung. Heidegger liest Aristoteles an manchen Stellen gegen den Strich der Philosophiegeschichte, Deleuze macht es mit Leibniz und Spinoza. Er lässt sich inspirieren und beginnt, mit den Vorgaben zu jonglieren, er lässt ihnen freien Lauf, lässt eine Entwicklung der Gedanken zu, eine Bewegung des Begriffs. Diese Art des Lesens ist ein Spiel, und die Lehre ist das Zulassen: Vielleicht kann man daraus das Zulassen und im freien Lesen ein wenig mehr… Verschwiegenheit lernen. Das Leise-Werden des Lehrers ist auch der Weg des weisen und immer weiser werdenden Zarathustra, der erkennen muss, dass er seinen Schülern keinen Weg vorgeben kann. Für den Philosophen kann sich kein Pfad, keine vorgetretene und vorgegangene Spur finden – keine trace, keine Methode. Kein hodós, dem man bedenkenlos folgen kann. Der philosophische Gedanke muss seine eigene Methode mitbringen, er entwickelt sich in der Formung seines spezifischen Weges und ähnelt darin am ehesten – der Kunst. Die Entwicklung, das Hin-Stellen, das Vorlegen ist wohl jener Zug, in dem sich die Philosophie der Kunst nicht annähert, sondern ihr verbindendes, genealogisches Moment. Beide wollen nicht als Wissenschaft reflektieren, sondern ihr Werk präsentieren. Diese Eigenschaft ist im stärksten Sinn auf das Individuum bezogen. So versucht sich das Buch in jedem seiner Abschnitte mit der Disziplin zu befassen, auch mit Hinblick auf die Gefahr, eben darin ein wenig undiszipliniert zu wirken, zumal sich auch hier weniger ein System, als Vermutungen zu Wort melden. Das Philosophieren als Graben und Schürfen, als Ahnenforschung und Archäologie erscheint immer auch als Suche nach Begriffen – nach Begriffshüllen, denn zu begreifen ist wohl eine der philosophischen Aufgaben. Das Zusammenfassen im Begriff, das Einzwängen und Hineinpferchen von Inhalten, das Dichten und Verdichten im philosophischen Begriff – als einem Gedicht. Das ist auch die Kunst und Kunstfertigkeit des Philosophen als Exeget seiner eigenen Geschichte: Das Neu-Entdecken und Neu-Bestücken von Begrif-

Krusten

fen, von Althergebrachtem. Ob es Begriffe gibt, die noch nie gedacht, noch nie bestückt, geschmückt worden sind, ist eine Frage zweiten, oder überhaupt keinen Ranges. Die leeren Begriffe sind wie Gespenster, durchsichtig und farblos, sind selbst oft Grabstätten, die nur darauf warten, geöffnet, entdeckt, erforscht zu werden, zumal auf einigen von ihnen auch Flüche lasten. Jedenfalls nähert sich die Philosophie genau darin der Kunst an oder ist ganz eigentlich in ihrem Wesen Kunst: Insofern sie Begriffe erschafft, schöpft, ziert und verziert.

K RUSTEN Der Fluch lastet vor allem auf jenen Begriffen, die besonders althergebracht und in dieser Überlieferung unangetastet geblieben sind. Hier genügt oft ein vorsichtiges Rütteln, ein kleiner Stich, und vieles löst sich auf, hängt plötzlich in der Luft, wird ungebunden und – giftig. Diese alten Begriffe sind jene, auf denen viel aufgebaut, über denen sich sehr viel zusammengebraut hat. Deshalb hat man im Hantieren immer versucht, dem Begriffsturm ein neues Hölzchen, einen Bauklotz unterzuschieben, damit er nicht seinen Halt verliert und – einstürzt. Ein weiteres Mal geht die Genealogie ihren Weg, untersucht Bedingungen und Gesetze, die Voraussetzungen besonders starker Begriffe. Es geht um das Ich, die Seele, Gott und die Welt, um ihre Fundamente und grammatikalischen Voraussetzungen. An diesen Fällen kann man sehen und – je nachdem, wie tief man den Gedanken zulässt – auch fühlen, wie weit die Eruption, die Erschütterung reicht, wenn erst einmal Fundamente ins Wanken geraten. Es genügt schon ein bloßes »Was wäre wenn?« – der Hauch von Zweifel. Jedoch gilt auch in diesem Fall ein Vorrang der Dekonstruktion vor der Destruktion. Das behutsame Freilegen und Enttarnen bedeutet noch keine vollendete Zerstörung – man will oft nur dahinterkommen und verschiedene Auswüchse, Folgerungen, Ableger entlarven. Gegen die Begriffe, und hier wiederum gegen die letztgültigen, die obersten, hegt sich ein Verdacht. Er ist in gewissem Maße ebenso Thema und Antrieb des Textes. Es gibt sogar Verdächtigungen gegen die höchsten Gesetze, das Gesetz schlechthin, den Satz der Identität. Man vermutet Absichten dahinter, Triebe, die die Identitäten zusammengesetzt, geschmiedet und geschweißt, die sie vor- und damit rückgesetzt, an den Anfang gestellt haben. Kurz: Die Fundamental-Begriffe erwecken den Anschein einer Projektion, sie erwecken die Idee einer gespiegelten, vorgehaltenen Einheit, einer Sicherheit, die als so sicher gar nicht hingenommen werden kann. Was passiert, wenn sich hinter dem Ich, hinter der Seele gar kein Letztes, Unhintergehbares verbirgt, was passiert, wenn diese hohen und ehrwürdigen Namen, diese Adelstitel plötzlich

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als Arbeitstitel – als Mittel zum Zweck (vielleicht sogar zu einem unheiligen, menschlichen?) – enttarnt werden. Auch diese Fragen hängen am Begriff. Im Begriff. Sie werden für die Philosophie zu Fragen einer Kunsttheorie. Vielleicht steckt hinter derartigen Spiegelungen und Fata Morganen eine besondere Kunstfertigkeit, ein Masken- und Versteck-Spiel, das den Blick von etwas weg- und auf anderes hinlenkt. Man könnte sogar vermuten, dass sich in dieser Sammlung (auch das Sammeln ist eine Lese) auf einen Seelen oder Ich-Punkt hin eine ganz gewichtige, fast prometheische Entscheidung verbirgt. Dass sich darin der Auf bruch einer gesamten Kultur (der Kultur?) versteckt, tarnt, camoufliert, insofern man beginnt, sich Ziele zu stecken. Man einigt sich in vielen Belangen. Darin liegt eine Zusammenschau, ein Zusammenstellen, eine tatsächlich fundamentale Arbeit – es werden Einheiten hervorgebracht. Ein Instrumentarium, mit dem man arbeiten, an das man schlussendlich auch glauben kann. Ob es Sinn macht, diese Einheiten aufzulösen, steht nicht zur Debatte. Sinn macht es in einem pluralen Verständnis – es löst die Richtung des Sinns. Das Ich wird dadurch nicht ausgelöscht, es wird nur relativiert, es verliert einiges an – Charakter. Eine Einladung zur Schizophrenie verbirgt sich dahinter ebenso wenig, wie der Aufruf des oder zum Nihilismus. Allerdings besteht die Gefahr, wenn man zu sorglos und zu unvorsichtig an die Glaubensinhalte heranrückt, wenn man sie richtiggehend zerstört. Das ist das große Gespenst, vor dem Nietzsche warnt, dieser unheimlichste aller Gäste – im wörtlichen Sinn, nachdem man bei ihm wirklich keine Heimat mehr findet. Er ist das schwarze Loch der Sinn- und Ziellosigkeit, das Resultat eines pessimistischen »de omnibus dubitandum«, eines programmatischen Zweifels, der irgendwann in Verzweiflung mündet. Aber der Nihilismus ist weder hier noch dort Zweck. Auf ihn deutet mit Sicherheit vieles, womöglich auch Sätze dieses Buches, aber höchstens als Erwähnung und Warnung. Was es tatsächlich mit der Zersetzung der Begriffe, ob alt oder jung, auf sich hat, ist eine Frage der Perspektive und des Perspektivismus – auch in diesem Fall eine zutiefst platonische Problematik. Es ist ein Ringen an den Blickketten der Tradition und eine Hilfestellung, die es vielleicht erleichtert, den Kopf zu wenden, die einen Ansatz- oder Hebelpunkt liefert. Wenn man darüber nachgedacht hat, dass sich unter Umständen hinter dem Ich und der Seele selbst noch ein Mehr und ein Vielmehr verbirgt, dass sich auch hier Konglomerate, tatsächliche Ballungszentren verbergen könnten, Machtgefüge, nach deren Ausrichtung schon sehr viel entschieden worden ist – dann ist damit eine gewisse Lockerheit, eine Auflockerung erreicht. Leibniz hat diese Fragen ausführlich und äußerst originell behandelt – die Seele als Kosmos sämtlicher Ereignisse, als Spiegel der Welt, alles in einer Hell-Dunkel-Divergenz, in einem Überflug zusammengenommen, abgehoben in eine andere Dimension. Da ist vielmehr dahinter, vielmehr drinnen, als

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bloße Identität. Die Spiele von Spiegelung und Täuschung zum Zwecke des Fortkommens, selbst zum Erreichen von Zielen des Machtstrebens, vielleicht das starke Ich-Bewusstsein im Dienste eines noch stärkeren Selbst-Bewusstseins – bei allen handelt es sich um Gedankenspiele, die allerdings – und damit kommt man dann schon zu einem Ausblick – die Aussichten verändern können. Die Philosophie ist nicht primär Medium des Aufruhrs, keine Provokation im herkömmlichen Sinn – ein Hervorrufen vielleicht, womöglich auch ein Lockruf, ein Anklang und Anklingen-Lassen. Sie stürzt in Krisen, Veränderungen, stürzt sich selbst immer wieder hinein, hinunter – auch hinauf in die Krisis: Einige der meistbeachteten Werke der Philosophiegeschichte, auch jene, die am höchsten über das Subjekt hinaus, auch am tiefsten hinein gehen, beginnen auf kritischem Boden, sind eigentlich – Selbstkritik. Was nicht bedeutet, dass sich die Philosophie in dieser Krisis selbst genügt. Sie ist gestreut, ihre Themen greifen aus, sie bewegt sich nicht ausschließlich um einen bestimmten Komplex – es gibt einfach zu viele Kompetenzen, oder besser: zu viele Interessen, die sie antreiben, ihre Forschungsfragen diktieren. Auch hierin liegt ein Zug der philosophischen Praxis: Man stellt weniger Fragen, zumal sich die meisten förmlich aufdrängen (manche setzen sich sogar in Szene). Daher wohl auch das selbstkritische Wesen der Philosophie – sie ist in all ihren Ausschweifungen, in ihrem Überborden doch immer auch Selbstreflexion. Sie verläuft – als der Ausgang einer schöpferischen Tätigkeit – immer in der Spur dieser schizophrenen Bewegung. Deleuze und Guattari schreiben, dass sie entwirft und konstruiert. Der Entwurf einer Ebene, eines Denk- und Weltbildes impliziert für den Philosophen die Aufgabe, sich über seinen Horizont, nicht nur über seine Welt-Sicht, sondern über sein in-der-Welt-sein klar, bewusst zu werden, die Konturen der Ebene, in oder auf der er seine Begriffe erschafft, schöpft, auszuloten, ihres Verlaufs eingedenk zu werden – und zu kritisieren. Nur wie lässt sich der gesamte Horizont der gedanklichen Bewegung in den Griff bekommen, zumal man diesbezüglich selbst wieder in Gedanken verhaftet und gefangen ist? Es ist also unmöglich, die Ebene explizit darzustellen oder sie selbst in die Form eines Begriffes zu kleiden. Aber es gibt eben eine Idee, die eine philosophische Arbeit führt, die sie zieht, die sie mitzieht – eine Spur und ein Gespür, vielleicht eine Art Spiegel und Reflexion der Ebene, ein Zerrbild, das Vermutungen zulässt. Der vorliegende Text orientiert sich – um die Umleitung nun einzulenken – an der Vorstellung oder dem Bild einer dynamischen Ontologie, an dem Glauben an eine grundlegende und archaische Struktur der Bewegung, an einem bewegenden Zug oder einer ursprünglichen Differenz als Ausgang und Motor ständiger Wechselwirkungen – an der Umkehrung und Rückholung des Platonismus, der platonischen Ideen.

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Dies meint eine vektorielle Kehrtwendung, einen Richtungswechsel von der Suche nach einer transzendenten Wahrheit hin zur Annahme und Bejahung der diesseitigen Wirklichkeit, der Bewegung der Natur, zu sämtlichen kinetischen Prozessen und Entwicklungsvorgängen. Es ist der Versuch, zu zeigen, dass eine Relativierung des Transzendenzgedankens den Blick auf Beförderungs- und Vernichtungsprozesse freigibt (in anderen Lichtverhältnissen), auf strebende Kräfte, den Austausch und die Kommunikation immer Formen konstituierender Willens-Punktationen oder Willens-Einheiten. Immer wieder kehrt dabei der Gedanke der Information – als Begriff, den man auch in eine bestimmte Form deuten, zwängen, interpretieren kann. Zumindest können Bedeutungs- und Verständnisfeld auf den Fundamenten der klassischen Philosophie ausgeweitet werden. Man kann etwas Neues hineinpacken – hinzudichten, man kann ihn so weit energetisch aufladen, bis man als Conclusio überhaupt Energie und Information gleichsetzt. Auch hier liegt ein Versuch vor – ein Anfüllen und Beschwören, ein Tanzen und Tänzeln um den Begriff. Zum Abschluss noch zurück zu den alten Begriffen. Wenn es nicht der Nihilismus sein soll, auf den man zusteuert, die absolute Inflation – wonach steht einem dann der Sinn? Wozu eigentlich die Methode der Dekonstruktion, der Genealogie? Warum bohrt man tiefer, als einem oft lieb ist? Die Antwort ist wohl einfacher, als erwartet. Weil selbst Begriffe – und hier auch die ältesten und schwersten – Luft brauchen. Nicht einmal das Heiligste kann in völlig hermetischen Strukturen überleben, auch die Seele ist aus der Perspektive des Physis-Philosophen vor allem eines: ein Organ. Sie hat und braucht ihren Stoffwechsel. Die Inflation passiert in diesem Zusammenhang auch ganz von selbst: sie wird ihr eigenes Nihil, ihr eigener Untergang, in dem sie sich bis zur Unkenntlichkeit aufbläht. Das ist – aus dieser spezifischen Perspektive, aus physikalischer Sicht – in höchstem Maße ungesund. Das Auf brechen der Strukturen, der Begriffs- und damit der Denkstrukturen, hilft in vielen Fällen – als Medizin. Es löst Krämpfe (auch dort, wo man nicht einmal wusste, dass sich etwas sehr stark zusammengekrampft hatte) – verursacht andernorts sicher auch neue Konvulsionen. Aber auch das ist in jedem Fall wünschenswert und Symptom einer lebensnotwendigen Motorik. Der Glaube an feststehende Verkettungen und Verknüpfungen – vermengt mit etwas Aberglauben und etlichen anderen Zutaten, die sich im Lauf der Geschichte anhäufen – kann sehr oft und sehr schnell zu Neurosen führen, zu Zwangshandlungen. Auch die Götter brauchen Luft und Bewegung – sie zerbersten unter all dem Ballast, der ihnen über Jahrhunderte angelastet und angedichtet wird – die Gläubigen aber werden dadurch zu blinden Tänzern im fanum ihrer Götzen – sie werden fanatisch. Die Neurose ist bei näherer Betrachtung auch nichts anderes als eine Wiederholung: Die Frage ist nur, ob man sie will. Und diese Frage kann gestellt

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werden. Man kann sie stellen – vorrangig an sich selbst. Hier setzen das Bejahen und das Wollen, hier setzen Nietzsche und Spinoza an. Hier liegt auch der Sinn des Anbohrens und Zustechens, der Arbeit an den alten Begriffen – durch ihr Auf brechen passiert ein Auf bruch, der den Blick freigibt auf Tieferliegendes, der Perspektiven öffnet, der mitunter die Perspektive des Perspektivismus streift, also auch hier: Möglichkeiten gibt, so manches anders zu betrachten – der vielleicht sogar Neugier erweckt und zeigt, dass auch die Glaubensinhalte, das Ich, die Seele keine feststehenden Instanzen, kein Sein als solches und Ganzes sind, sondern auch geworden, werdend, in eine Geschichte des Werdens geschrieben, die man – als Ontologie – dynamisch lesen kann. Tulln, im Oktober 2014

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Erstes Hauptstück Formen

Möglichkeiten 1 G RÜNDE Es mag gute Gründe geben, aus denen die Philosophie immer wieder den Weg in ihre eigene Vergangenheit und den Zugang zu ihrer Geschichte sucht. Abgründe, die sie unentwegt hinuntertreiben in die Tiefen des längst Vergangenen und vielerorts Vergessenen; ein Gedächtnis, das ihr diesen Abstieg ans Herz legt, die Notwendigkeit zureicht und das Wiederkäuen diktiert: als Eigenheit, Privileg und Aufgabe. Die Wiederholung als Besonderes und das Besondere als Wiederholung. Man hört oft die Frage nach diesen Gründen an den Philosophen gerichtet – den ewig Gestrigen, Jongleur der Jahrtausende –, warum das längst Gewesene, das Halbverdaute aus dem Bauch der Welt hervorgewürgt, ausgespien, warum wieder und wieder der gleiche Weg eingeschlagen werden muss, immer zurück, nach hinten, niemals vorblickend, niemals den Mut auf bringend, Neues zu gebären, sich selbst zu emanzipieren aus der Hand der eigenen Geschichte. Er habe – so der Schluss – kein Auge für das Kommende, keinen Blick für das Jetzt, die Gegenwart. Doch diese Frage übersieht ein grundsätzliches Bedürfnis der Philosophie, ein essentielles Moment, einen Trieb, der nach innen zieht, der nach dem Innen strebt, der selbst Geschichte will und schreiben will, vielleicht ein zeugendes, züchtendes Moment, das eine Bewegung beschreibt, die jede Gerade in eine Krümmung verkehrt, verzerrt und in dieser perspektivischen Bewegung immer neue Dimensionen öffnet. Vielleicht ist die Entwicklung der Philosophie eine zunehmende und immer fortlaufende Sensibilisierung gegen sich selbst, ihre Motive und Intentionen, vielleicht alles Aufarbeiten des Vergangenen eine Re- und zugleich Dekonstruktion erhärteter Gebäude, ein Auf- und Abarbeiten von Grundfesten, die zu befragen und zu hinterfragen gleichzeitig das Privileg wie auch den Mut der Disziplin ausmachen. Man muss tief hinuntergekommen sein und viele Schattenreiche durchwandert haben, man darf die Tiefe und das Innen nicht fürchten, es müssen nicht nur eine, sondern viele Sonnen untergegangen sein, ehe man an einen Torweg kommt, an dem sich Ewigkeit und Ewigkeit begegnen und es werden noch un-

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endlich viele Sterne untergehen, denn in jedem von ihnen dämmert schon die neue Morgenröte. Der Anfang der Philosophie und damit ebenso der Archetypus philosophischen Fragens sind weniger gezielte Suche als Meditation: Der Philosoph will von seinen Antworten heimgesucht, er will überfallen werden, Wirklichkeit nicht setzen, sondern darauf stoßen – er will nicht be-, sondern ergründen, an diesem scheinbar unnahbaren Grund, der in allen Dingen waltet und aus ihnen spricht, der als die Dinge selbst spricht, Anteil haben, ihn fühlen, vom Offensichtlichen zum Offenbaren kommen. Das Dasein, in all seinen Schattierungen und Feinheiten, in all seinen Brüchen und Differenzen zu hören und aufzunehmen, denkend zu durchdringen, war von Beginn an Aufgabe und Stolz der Philosophie. Ihr Selbstverständnis beruht seit jeher auf der Uneingeschränktheit der Frage selbst, auf der Meditation über die Dinge und Erscheinungen, die eben dieses Dasein ausmachen, über die absolute Essenz, das Wesen, das Sein überhaupt, das allem Seienden zukommt. Ob im gotischen Zimmer, an der süditalienischen Küste oder im Zauber der hellenischen Sonne – immer wieder richtet sich der Drang auf das Begreifen dessen, »was die Welt, im Innersten zusammenhält.«1 Welt aber bleibt immer zu verstehen als die Gesamtheit der Erscheinungen, Sammelbegriff für das Geschehen als solches, die Dynamik, die unser Dasein steuert, als jenes sich zeigende Walten, das bei den Griechen phýsis heißt und in seinem Zauber die Meditationen jener anregt, die heute als erste Philosophen, als physikoí2, oder eben als jene bezeichnet werden, die den Grund oder das Prinzip dieser phýsis erfahren wollten – als erste Philosophen. Alles Erscheinende, alles Bewegte, alles im Zyklus des Geschehens Aufgehende und Verschwindende muss auf etwas Elementares zurückgeführt werden können, woraus der Lauf der Welt – emanzipiert aus der launischen Hand der Götter – erklärt und verstanden werden kann. Die phýsis braucht einen Stoff, eine Grund- oder Ursubstanz, an der sie waltet, sie braucht Wasser, Luft, Erde, sie braucht kleinste Teilchen, aus denen sie alles zusammensetzt, aus denen alles besteht und in die sich alles wieder auflöst, usw. Das sind die Überlieferungen von den ersten Weisheitssuchern, jenen Ungläubigen, Abtrünnigen, die sich der göttlichen Herrschaft über das Dasein widersetzen, die sich in ihrer Suche nach greif baren Grundbausteinen, ihrem Bedürfnis nach Erklärungen von gewohnten Bildern abkehren, einen neuen Weg anstreben und auch einschlagen, die sich zur obersten Maxime das eine Prinzip setzen, das alle Dinge durchwaltet, alles verbindet, in dem alles zusammenläuft und aus dem alles hervorgeht. Die phýsis, das waltende sich-Öffnen, das Herauswachsen in die Anwesenheit, braucht ein Urelement, einen Grundstoff, sagen sie, es 1 | Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, 13. 2 | Vgl. Aristoteles, Physik Į 2, 184 b17.

1 Gründe

braucht Wasser, sagt Thales, braucht Luft, sagt Anaximenes3, braucht ein ausgezeichnetes, ursprüngliches Element, in dem alles verbunden, alles eins ist. Oder man findet einen anderen Weg, eine andere, weniger der phýsis als dem wechselhaften Weltgeschehen zugewandte, eine über diese Welt hinauswachsende Erklärung: Die unendlich vielen, unendlich verschiedenen Dinge, das Wechselhafte an sich, muss überhaupt nicht begründet werden, das Meer der Erscheinungen, das uns bald an diese, bald an jene Küste einer neuen, elementaren Betrachtungsweise willkürlich anschwemmt, existiert gar nicht an sich, sondern nur scheinbar, nur für uns, unsere Vorstellung; jedes Festmachen dieses kryptischen Begriffs selbst ist nur Schein und Doxographie, denn das einzig Wahrhaftige, das, was uns beständig bleibt, ist das Denken selbst. Es löst sich nicht in eine unfassbare Vielzahl verschiedener Denken auf, das Denken selbst ist eins und das ist das wahre Sein und das Denken selbst ist das Sein. Es bewegt sich überhaupt nicht, ist unwandelbar, ewig, der wahre Grund und die einzige Wahrheit: Niederschlag der schwärmerischen Reformation jener ersten Physiker durch den Ahnherren einer neuen Generation von Denkern – den Gegenreformator Parmenides4, Wegbereiter der klassischen Metaphysik. Was Parmenides in seiner dichterischen Traumreise erfährt, ist nicht nur die erste Form von radikalem Intellektualismus, das Denken als reines und ewiges Prinzip des Seins, sondern eine apodiktische Leugnung aller Formen sinnlicher Erscheinung zu Gunsten einer absoluten Form, die als einzig wahres Sein alles Dasein konstituiert und damit die Abkehr von jenem Element oder Prinzip konstatiert, das Thales, Anaximenes und die Atomisten dem Walten der phýsis zu Grunde gelegt haben: dem Stoff. Für Parmenides kehrt sich die Wahrheit oder die wahre Welt von der sinnlichen, aus einem oder mehreren Grundstoffen zusammengefügten, in eine reine, intellektuelle Welt, die das Sein im Ganzen konstituiert 5, und in dieser Vision, in dieser Offenbarung ebnet er den Weg für einen Idealisten und Demiurgen, dessen Zeichnung der Welt uns bis heute – und nicht zuletzt durch seinen revolutionären Schüler Kant – stillschweigend und zielsicher den Weg weist. Die Frage nach dem Prinzip als die Frage der Philosophie bleibt weiter erhalten: »Was ist das Ewige, das Ursprüngliche, das Grundsätzliche?« Gesetzt aber, man bleibt der parmenideischen Radikalität nicht zur Gänze verhaftet und scheidet alle Welt der Erscheinungen vom reinen und einen Intellekt, so stellt sich doch die Folgefragen: »Wodurch zeigen sich die Dinge unserer alltäglichen Welt? Wie können Bezüge und Zusammenhänge auftreten? Wodurch 3 | Vgl. ebd.ff. 4 | Vgl. Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker I, 284ff. 5 | Vgl. ebd.

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sind Beziehungen möglich und wie können Dinge und Menschen, schlicht: Wie kann alles Dasein in unserer Welt aufeinander wirken?« Und diese Fragen führen zielsicher ins Zentrum der platonischen Philosophie. Mit ihm beginnt der eigentliche Weg der klassischen Metaphysik, er ist ihr Ausgang und herausragender Anfang. Seine Vision der Ideen – die transzendente Formenlehre – begründet in ihren innersten und tiefsten Strukturen das Repräsentationsmodell der Welt als Ausdruck einer unwandelbaren und ewigen, intellektuell greif baren Sphäre, die als unabdingbare Voraussetzung für alles Geschehen, alle Sinnlichkeit und jeden Kontakt der vereinzelt im Dasein stehenden Erscheinungen zu gelten hat. Platon führt den Begriff der Form in die Philosophie ein6. Jedes Ding unserer Erfahrungswelt tritt nicht an und für sich in das Bild seiner momentanen und sich wandelnden Existenz, sondern kann nur im Licht, im Schein der ewigen Ideen, an denen es Anteil hat, so und so in die Offenheit der Anwesenheit treten. Differenzierter und subtiler als Parmenides zeichnet Platon sein Bild, sein Schema der wahren Welt und ihren Bezug zu den uns umgebenden, auf uns wirkenden Erscheinungen. Die Darstellung ist bekannt 7: Die Höhle der Gefesselten, deren Blick – starr und unbeweglich auf die Bilder der an die Wand geworfenen Schatten gerichtet – nichts von den Dingen selbst erkennen kann, die hinter ihnen vor der einzigen Lichtquelle vorbeigetragen werden; der Unglaube nach der Befreiung aus den Ketten, der Aufstieg endlich ans Tageslicht, die wirklichen Dinge, die im Schein der Sonne, in der blendenden Helle der einen Idee aller Ideen diese reinen Formen selbst verkörpern, die das Wesen aller Escheinungen unserer Lebenswelt konstituieren. »Die Anblicke dessen, was die Dinge selbst sind, die İ੅įȘ (Ideen) machen das Wesen aus, in dessen Licht jedes einzelne Seiende als dieses und als jenes sich zeigt, in welchem Sichzeigen das Erscheinende erst unverborgen und zugänglich wird.« 8 Die Parabel – das welthistorische Höhlengleichnis – spricht von einem Aufstieg, von Möglichkeiten, von der Befreiung aus jenen Fesseln, die den Menschen in der Gewohnheit und Unwissenheit der ihn alltäglich umgebenden Welt gefangen halten: das Leben im Schein der Unmittelbarkeit, der Schlaf im Kreis der Traumbilder, die ihr eigentliches Wesen, ihr Prinzip, ihren Grund verbergen, die nicht selbst Wahrheit sind, sondern nur auf eine über oder hin6 | Horst Seidl, Aristoteles Metaphysik, Einleitung XXVI: »Bei Platon kam dieses [sc. eidos, Form] und das ihm verwandte Wort ੁįȑĮ zu hervorragender, metaphysischer Bedeutung.« 7 | Vgl. Platons Höhlengleichnis, in: Platon, Politeia, Buch ǽ, 514a – 521b, Werke 4, 555ff. 8 | Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Wegmarken, 221.

1 Gründe

ter ihnen stehende, ewige Wahrheit verweisen, und diesen Verweis zu vernehmen ist die Aufgabe des Menschen und zugleich der Weg in die Freiheit, die Befreiung aus den Fesseln und schließlich die Befreiung aus der Nacht der Höhle durch den intellektuellen Aufstieg an das Tageslicht, in dem die Ideen, die reinen Formen, die eigentlichen Wesenheiten abgetrennt und für sich existent erscheinen. Wahrheit bedeutet den Griechen Un-Verborgenheit9, das Finden der Wahrheit das Entbergen, das Lichten der Dinge bis auf jenen Grund, der ihr ureigenes Wesen ausmacht, und dieses Wesen, das Abgründige, Unvergängliche, sind bei Platon die Ideen – transzendent – einsehbar durch die Kraft des Geistes, durch denkenden, intellektuellen Aufstieg. Sie sind das abstrakt Allgemeine in der ewigen Sphäre über den wechselhaften Erscheinungen der Welt, diese wiederum nur vereinzelte Besonderheiten, die Anteil haben an jenem Übersinnlichen, an jenen Wesenheiten, die alles erst zu dem machen, was es ist und somit auch den Grund aller Beziehungen, aller Kontakte, allen Geschehens überhaupt ausmachen. Der Schein, das Licht sind die Ideen, und über allen thront die höchste, die Idee aller Ideen, die »Idee des Guten«10. Nur durch dieses Scheinen oder Leuchten, das den Ideen zukommt, kann alles Einzelne, können alle einzelnen Existenzen erscheinen, in ihr Aussehen, ihr eidos hervortreten. »Alles liegt am Scheinen des Erscheinenden und an der Ermöglichung seiner Sichtbarkeit. Die Unverborgenheit wird zwar in ihren verschiedenen Stufen genannt, aber sie wird nur daraufhin bedacht, wie sie das Erscheinende in seinem Aussehen (İੇįȠȢ) zugänglich und dieses Sichzeigende (‫ݧ‬įȑĮ) sichtbar macht. Die eigentliche Besinnung geht auf das in der Helle des Scheins gewährte Erscheinen des Aussehens. Dieses gibt die Aussicht auf das, als was jegliches Seiende anwest. Die eigentliche Besinnung gilt der ੁįȑĮDie ›Idee‹ ist das die Aussicht in die Anwesenheit verleihende Aussehen. Die ੁįȑĮ ist das reine Scheinen im Sinne der Rede ›die Sonne scheint‹. Die ›Idee‹ läßt nicht erst noch ein Anderes (hinter ihr) ›erscheinen‹, sie selbst ist das Scheinende, dem einzig am Scheinen seiner selbst liegt.«11

In dieser Trennung zweier Welten, die in archaisch dichterischer Form schon bei Parmenides Anklang findet, liegen das Geheimnis des Platonismus und in weiterer Folge – wenn man diese historische Extrapolation wagt – aller Zauber und alle Gefahr der christlich-abendländischen Metaphysik 12 verborgen. Das 9 | Vgl. Martin Heidegger, Aletheia (Heraklit, Fragment 16), in: Vorträge und Aufsätze, 249ff. 10 | Platon, Politeia, Buch ȗ, 508 e3, Werke 4, 543. 11 | Martin Heidegger, Platons Lehre von der Wahrheit, in: Wegmarken, 225. 12 | Vgl. Martin Heidegger, Nietzsche I, 227.

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Prinzip oder der Ursprung aller Dinge, nicht in kausal chronologischem Verständnis, sondern als Bedingung der Möglichkeit dafür, dass alles Wirkliche in den offenen Horizont dieser Wirklichkeit treten kann, sind die transzendenten Ideen, die reinen, abstrakt-allgemeinen Formen, die ewigen Ur-Formen, die allem Einzelnen ihre Form geben, an denen alles Einzelne Anteil hat, und nur durch einen intellektuellen Aufstieg von der Welt der Erscheinungen in jene Sphäre der Allgemeinheiten kann man das wahre Wesen der Dinge – und das sind die allgemeinen Formen – schauen und erkennen. Jede Erscheinung der erfahrbaren Welt, jedes Haus, jeder Baum und jeder Mensch repräsentieren ihre allgemeine, abstrakte Form in der je individuellen Art und Weise ihres Auftretens. Die Idee, das reine Scheinen selbst, macht das Wesen aller Dinge aus. Kein Urelement, kein Stoff, aus dem sich alles zusammensetzt, in den alles irgendwann wieder mündet, auch kein absolutes Denken=Sein, sondern ein objektiver Kosmos reiner Formen, in deren Glanz die einzelnen Formen werden, die verkörpert werden durch jeden individuellen Körper, jede individuelle Form, an denen alles Anteil haben muss, um ins Licht der Erfahrung und Erfahrbarkeit treten zu können – hier passiert die Abkehr vom archaischen Gedanken der phýsis hin zu einer Metaphysik der Ideen... Platon löst die Frage nach dem Prinzip ebenso genial wie problematisch: Der Urgrund alles Seienden kann kein zur Gänze verborgener, unauffindbarer sein, muss dem menschlichen Denken, d.h. der Vernunft begreif bar, einsehbar werden können; wissenschaftliche Erkenntnis aber richtet sich immer auf das Allgemeine und muss zugleich mit der Wahrheit in Bezug stehen, muss an das Wahrhaftige rühren, das ursprünglich Verborgene in die Sphäre der Unverborgenheit – alétheia – bringen können. Da für Platon das Allgemeine zum Einzelnen in unaufhebbarem Gegensatz steht, »so muß entweder das Einzelne das eigentlich Reale sein – dann ist aber keine Wissenschaft, keine Wesenserkenntnis mehr möglich –, oder es muß, wenn anders es Wissenschaft gibt, die wahre Realität dem Allgemeinen zugesprochen, dem Einzelnen dagegen abgesprochen werden.«13 Und Platon entscheidet sich für den Weg der Wissenschaft, den er – an der Schwelle der Zeitalter und als großer Übergang von der heraklitisch-vorsokratischen Welt zur abendländischen Metaphysik der Präsenz – in mythische Visionen und einen der beeindruckendsten literarischen Nachlässe der griechischen Philosophie kleidet, jedoch sich selbst, gleich einer unausgesprochenen Ahnung, vor den sich auftürmenden neuen Landmassen eines unerforschten und unbetretenen Kontinents in die Tiefe des dichterischen Ozeans stürzt. Die Figur, die Person Platon entzieht sich, aber dennoch:

13 | Horst Seidl, Aristoteles’ Metaphysik, Einleitung, XXVII.

2 Gegensät ze

»Die allgemeinen Gattungen und Arten, die sog. Ideen, sind hiernach das wahrhaft reale Seiende, die sinnlichen Einzeldinge hingegen nur ein flüchtiges Werdendes, fast ein Nichtseiendes.«14 Die Probleme, die sich an diese Entscheidung knüpfen, an die Weltenteilung zu Gunsten der Frage: »Wie kann Wissenschaft auf gesicherten Füßen stehen, wie ist Erkenntnis tatsächlich möglich?«, sind evident und längst nicht rein an das platonische Modell gebunden. Mit Platon findet die Metaphysik ihre schematischen Grundzüge, die sich in einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte höchstens in Nuancen und Nomenklaturen unterscheiden werden, bis Kant die platonischen Ideen in einer ähnlich revolutionären und mindestens ebenso beeindruckenden Wende in das Subjekt holt und sie dort – als reine Verstandesbegriffe, schematisch zusammengefügt mit den reinen Formen der Anschauung – die Grundsätze des reinen Verstandes konstituieren lässt, die sich seitdem als die Bedingungen aller Möglichkeit von Erfahrung in gewissem Sinne selbst gerechtfertigt haben15: die Suche nach dem Prinzip aus dem transzendent-ideellen Kosmos in das reine Subjekt verlegt – Aufklärung. Das Schema der Metaphysik seit Platon erscheint wie folgt: Es gibt ewige, allgemeine, intellektuell einsehbare Realitäten, die als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung (bei Kant) oder Bedingung der Möglichkeiten des Erscheinens der Dinge (bei Platon selbst) zu gelten haben. Diese reinen Formen sind zugleich das Einzige, dem Realität zugesprochen werden kann; die bewegte Welt unter ihnen, die Welt der Erscheinungen, der vereinzelten Individuen, der Singularitäten kann – wenn überhaupt – als real, als wirklich nur gelten durch den Bezug zu der ideell-transzendenten Sphäre, durch den Schein, den die Allgemeinheiten auf das Einzelne werfen, bzw. kann es anders überhaupt nicht zur Sprache kommen, denn alles vereinzelt Auftretende, alle Erfahrung überhaupt und jeder Bezug ist nur möglich durch die unabdingbaren Voraussetzungen, die notwendigerweise vorverfügt, vorveranlagt sein müssen.

2 G EGENSÄT ZE Eben an diesem Bild einer zentralistisch-dogmatischen Weltordnung, die die Suche nach dem Prinzip in eine abgetrennte, vorverfügte Welt verlegt und alles Geschehen an die Geschicke eines ewig-göttlichen Regelwerkes knüpft, alles Einzelne und Veränderbare, alle Veränderung und Bewegung entweder zur Gänze leugnet oder in das Licht einer schattenhaften Repräsentation rückt, tun sich neue Abgründe und Fragen auf, die ihre Bahnen noch hinter den Voraussetzungen ziehen wollen, die in Platons mystischer Vision begründet 14 | Ebd. 15 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 197, in: Werke III, 201.

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liegen. Motivation hierfür ist die Vermutung, dass diese Prämissen selbst gemacht werden mussten und trotz ihrer langen und so fest verankerten Wirkungsgeschichte erst aus einer bestimmten und vielleicht gar nicht so eindeutigen Entscheidung zu einem Gesetz mutiert sind – dass sie sich das Siegel der Ewigkeit selbst einmal aufgedrückt haben müssen. Man kann Platon nicht leugnen und schon gar nicht vergessen, aber vielleicht ist es möglich, eine seiner grundlegendsten Ideen, eine seiner größten Errungenschaften, zu transformieren. Gilles Deleuze schreibt diesbezüglich: »Die Aufgabe der modernen Philosophie wurde definiert: als Umkehrung des Platonismus. Daß diese Umkehrung viele platonische Merkmale bewahrt, ist nicht nur unvermeidbar, sondern wünschenswert.«16 Und tatsächlich ist es aus vielerlei Gründen wünschenswert, Merkmale der platonischen Philosophie zu bewahren und sie aus einem wie auch immer gearteten Versuch eines Sturzes, einer Umkehrung seines Weltbildes, zu retten; die Fragen, die sich hier vordergründig und zuerst jedoch stellen müssen, lauten: Was soll denn gestürzt und was gerettet werden, um den Fängen des metaphysischen Modells zu entkommen? Was, welcher Gedanke hat solchen Wert, um aus den fiktiven Trümmern des Platonismus unbeschadet herausgetragen zu werden? Oder anders: Was ist der eigentlich große, einzigartige Gedanke Platons, an dem er mit solcher Akribie festhalten muss, sodass er sich lieber eine neue Welt geschaffen hat, als von dieser einen Überzeugung abzurücken? Die Antwort hierauf gibt vielleicht am klarsten und eindringlichsten jener Mann, der in direktem Kontakt mit der platonischen Philosophie und ihrem Urheber gestanden ist, der sich in jedem Sinne damit auseinandergesetzt und auch als erster besagte Umkehrung des Platonismus vollzogen hat, um den großen Gedanken seines Lehrers nicht nur zu bewahren, sondern ihn in ganz maßgeblicher Weise weiter zu entwickeln. Aristoteles schreibt: »Das Sosein (IJઁ į੻ IJ઀ ਷Ȟ İੇȞĮȚ) und das Wesen (IJ੽Ȟ Ƞ੝ıȓĮȞ) hat keiner bestimmt angegeben, am meisten sprechen noch davon die, welche die Ideen (İ੅įȘ) annehmen; denn weder als Stoff setzen sie für das Sinnliche die Ideen und für die Ideen das Eine voraus, noch nehmen sie an, daß davon die Bewegung ausgehe (denn sie erklären es vielmehr als die Ursache der Bewegungslosigkeit und der Ruhe), sondern die Ideen verursachen das Sosein für jedes von den übrigen Dingen, und für die Ideen selbst das Eine.«17

Platons großer Gedanke – und das ist zugleich sein Prinzip, sein Urgrund – ist die Idee, eidos, ist das Wesen der Dinge als ihr Erscheinen, ihr Auftreten in das Unverborgene durch ihre Form – der große Gedanke ist die Form selbst, 16 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 87. 17 | Aristoteles, Metaphysik ǹ7, 988 a34 - b6.

2 Gegensät ze

und eben an diesem Gedanken möchte sein größter Schüler, an dieser Idee, an diesem Prinzip möchte Aristoteles festhalten, er möchte in seiner Umkehrung des Platonismus den Gedanken der Form behalten und diese Form aus der abgetrennten Sphäre einer transzendenten Welt zurückholen in die individuellen Existenzen, er möchte – in groben Zügen – die phýsis der alten Naturphilosophen, das wunderbare Walten der immer im Wechsel begriffenen Dinge, mit diesem großen Gedanken zusammenbringen, er möchte die bewegte Form als Prinzip der phýsis, als Prinzip allen Geschehens setzen. Aristoteles kehrt auf den Standpunkt der ersten Philosophen zurück. Er fällt vom Himmel der platonischen Ideen in den Schoß der sich wandelnden und permanent in Bewegung begriffenen Natur, auf den Boden der individuellen Existenzen, der unendlichen Differenzen und beginnt eben in dieser neuen, alten Umgebung mit der überlieferten Aufgabe der Philosophie: der Suche nach dem Prinzip oder den Prinzipien, der arché, der ursprünglichen Verfügung in allem Seienden18. Das Große, Übermenschliche der aristotelischen Philosophie ist ihre Vielseitigkeit und darin die Präzision, ihr Problem die innere Inhomogenität. Der Grundgedanke selbst ändert beständig seine Form, wird weiterentwickelt, ist dynamisch, kommt selbst erst mit der Zeit zu seiner vollen Konkretion. Den großen Anfang aber, und darin ist das gesamte Programm schon veranlagt und verankert, machen seine Überlegungen über die Natur, die Betrachtungen über die phýsis; hier erhält das Prinzip, die Dualität von dýnamis und enérgeia seine erste Fassung, tritt zum ersten Mal der aristotelische Formgedanke als Wesen und Grundzug alles Wirklichen auf, um den sich in der Folge seine gesamte Philosophie zentripetal bewegen wird. Das Aufnehmen aller Gegenstände mit Blick auf ein konstituierendes Moment, die Sichtung und Offenlegung der Essenz ist die Aufgabe der philosophischen Wissenschaft – die Meditation über das Wesen und eine gewisse Hartnäckigkeit in der Gegnerschaft des ersten Augenscheins. Das Durchdringen zu dem, was an sich klarer und deutlicher zu Tage tritt und ans Licht kommt, wenn man sich von bestimmten Vorstellungen und operativ-utilitaristischen Einstellungen entfernt hat. Die Notwendigkeit des Ab- oder Aufstiegs zu den ersten Ursachen und Anfängen, zu den Prinzipien, zu jener arché, die alles zu dem macht und werden lässt, was es ist: Das ist die Einleitung in die aristotelische Physik, jene denkerische Komposition, von der Heidegger sagt, sie sei die klassische Einführung in die Philosophie. Sie mache »auch heute noch ganze Bibliotheken philosophischer Literatur überflüssig.«19 Wenn es eine arché, eine ursprüngliche Verfügtheit über alles Seiende gibt, so ist es die Aufgabe der Philosophie, zu jener Verfassung durchzukommen 18 | Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, 146; oder: Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, 52ff. 19 | Martin Heidegger, Der Satz vom Grund, 112.

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und sie in ihrem verborgenen Walten ans Licht zu bringen. Das waren auch Anliegen und Antrieb der Vorgänger, ihre Versuche, sich von verschiedenen Seiten, aus verschiedenen Perspektiven an dieses Projekt heranzuwagen. Sie haben das Grundlegende berührt, wie Parmenides, der seinen logischen Voraussetzungen gemäß sagen musste, alles sei eins, und die Naturphilosophen, die entweder in einem oder mehreren Elementen, im stofflichen Prinzip das Wesen aller Dinge zu finden glaubten, oder Platon, der in seiner faszinierenden Vision die allgemeinen Formen als das eine Beständige, den Grundzug und die Bedingung alles Seienden gesehen hat. Für Aristoteles liegt die erste Notwendigkeit, die erste Bestimmung seines Weges darin, bei den Dingen selbst, bei den ursprünglichen Erscheinungen – und das sind jene natürlichen Phänomene, die nicht erst von Menschenhand gefertigt wurden – anzusetzen, die Natur anhand des sich ihr gemäß Zeigenden zu betrachten, das Tier, die Pflanze, den Menschen usw. Denn in und an ihnen wird sich am ehesten jener Grundzug offenbaren, der allem Seienden nicht nur in gewisser und nebensächlicher, sondern in ursprünglicher Weise zukommt. Das ist das Vertrauen des Aristoteles: Die Einzeldinge selbst werden bei genauerem Hinsehen oder Hinhören ihr Gemeinsames, die grundsätzliche Verfügung, das Sein, das sie zu einem Dasein, einem Seienden macht, offenbaren. Aus der Zusammenschau, einem tiefen Blick und dem genauen Hinhören auf das Ursprüngliche – epagogé – tritt das Urtümliche ans Tageslicht: »[…] die Hinführung auf jenes, was in den Blick kommt, indem wir zuerst über das einzelne Seiende weg blicken, und wohin? Auf das Sein.«20 Diese erste Sichtung, diese Meditation über das Wesen der natürlichen, der von der Natur her existierenden Dinge, führt Aristoteles zu seiner ersten und für die ganze Wissenschaft von der Natur, in weiterer Folge sogar für jene Betrachtungen, die über die natürlichen Erscheinungen hinausgehen und das Sein im Ganzen in den Kreis ihrer Überlegungen einbeziehen, wichtigsten Grundannahme, zu jenem Grundsatz der aristotelischen Philosophie, der auch für uns das große Memorandum aller weiteren Überlegungen bedeuten wird: »IJ‫ޟ‬ijȪıİȚ‫ݙ‬ʌȐȞIJĮ‫ݭݏݙ‬ȞȚĮțȚȞȠȪȝİȞĮİȞĮȚ – Die natürlichen Gegenstände [die von der phýsis her Seienden] unterliegen entweder alle oder zum Teil dem Wechsel [sind ursprünglich in die Bewegtheit verfügt].«21 Auf dieser Grundannahme bildet sich das gesamte Konvolut der aristotelischen Physik. Aus ihr ergeben sich die Begriffe, die bis zum krönenden Abschluss im achten Buch durchdacht und erläutert werden: Unendlichkeit, Raum und Zeit, das Leere, die berühmte Analyse der Kontinuität, Zufall, Notwendigkeit, etc. Alles passiert im Rahmen jener grundsätzlichen Behauptung, dass sich jede natürliche Erscheinung vor allem und wesenhaft dadurch be20 | Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der ĭȪıȚȢ, in: Wegmarken, 245. 21 | Aristoteles, Physik Į2, 185 a12.

2 Gegensät ze

stimmt, kein Unveränderliches, Fixes, kein Feststehendes zu sein, sondern ständiges und ursprüngliches Werden, Veränderung und Wandel22 . Das Wesen der phýsis und damit das Ursprüngliche der von der phýsis her ins Dasein tretenden Erscheinungen muss also durch und in diesem Begriff der Bewegung verstanden werden, das Sein selbst als Bewegtheit, denn es gibt keinen Grund, dieses Sein als einfaches, unwandelbares zu begreifen, so wie Parmenides und seine Schüler es versuchen. Die Annahmen und Voraussetzungen, auf denen sie auf bauen, sind falsch und verführen zu falschen Schlüssen, denn die Dinge selbst offenbaren ihren ontologischen Vorrang – sie sind das Erste, das Einzige, das für sich genommen werden kann, und darin findet die eleatische These über die absolute Einheit selbst schon ihre Widerlegung23. Ebenso problematisch erscheint der Weg, den die Naturforscher einschlagen, von denen die einen behaupten, es gibt einen ausgezeichneten Stoff, aus dem alles wird und in den alles zurückläuft, andere wiederum eine Vielzahl von Elementen annehmen, aus deren je individueller Zusammensetzung die so und so beschaffenen Dinge hervorgehen; problematisch insofern, als vordergründig keine einheitliche und vor allem keine schlüssige These bezüglich der Anzahl der Prinzipien vorzuliegen scheint, jener ersten Ursachen, aus denen das Wesen der phýsis, ihre Verfassung als ursprünglicher Wandel oder Bewegtheit erklärt werden könnte. Jedenfalls kann die kínesis nicht aus jenem alles umschlingenden Satz der absoluten Identität, wie ihn Parmenides meint, von der Göttin der Weltverfassung selbst erfahren zu haben, hergeleitet werden, denn in dieser apodiktischen Formulierung über das All-Eine ist überhaupt kein Platz mehr für den Lauf der Welt und ihre permanenten Veränderungen; hier gibt es keine Entwicklung und keine Fortdauer im Sinne permanenter Umwandlung; nur die eine Wüste der Ewigkeit, das reine Denken, den kugeligen Kosmos der einzigen Wahrheit, über der Einbildung und dem blassen Schein eines fälschlichen Glaubens an Veränderung. Nimmt man hingegen jene, die das Prinzip in der Materie – den einfachen Körpern, wie Aristoteles die Elemente nennt – suchen und zu finden glauben, so herrscht Uneinigkeit darüber, wie viele Grundstoffe hier als Ursprung der phýsis, aller Bewegung, anzunehmen wären24. Was allerdings allen gemeinsam bleibt und selbst als Prinzip der Interaktion und Fortentwicklung, der Umwandlung und Generation fungiert, ist die zentrale Bedeutung einer ursprünglichen Differenz oder Gegensätzlichkeit, ein wesenhaftes Gegeneinander, ein Streit. In jeder Bestimmung der arché findet sich dieses differentielle Moment, als ursprünglicher Gegensatz zweier absolut voneinander getrennter, das heißt nicht auseinander erklärbarer und nicht 22 | Vgl. Wolfgang Wieland, Die aristotelische Physik, 110ff. 23 | Vgl. ebd. 101ff. 24 | Vgl. Aristoteles, Physik Į 4, 187 a12ff.

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aufeinander rückführbarer Bewegungen. Manche sagen, aus dem einen Stoff wird alles durch Verdichtung oder Verdünnung, andere setzen das Leere und das Volle, für Platon zeigt sich im Sinnlichen das Große und Kleine als gegensätzlich, etc. Alle nehmen ihrer Theorie gemäß das Ursprüngliche, das sich nach dem bewegenden Moment des Widerstreits entwickelt und vergeht – die Naturphilosophen haben den einen Stoff und die wechselnde Zusammensetzung als Wandel der sich zeigenden Form, den Rhythmus, die Idealisten haben die eine Form, Idee, und das Prinzip des Gegensatzes im Bereich des Sinnlichen, das Große und Kleine bei Platon. Aristoteles findet also im Durchlauf seiner Vorgänger eine formal grundlegende Übereinstimmung, die sich bei aller Unterschiedenheit und Diskrepanz durch die gesamte Problemgeschichte der Frage nach dem Werden zieht – denn sogar diejenigen, die den essentiellen Begriff der Bewegung leugnen, kommen auf Umwegen zu dem Prinzip einer ursprünglichen Differenz, selbst eines Ur-Sprungs, einer Gegensätzlichkeit: »Sie alle sprechen ja die Grundbausteine (ıIJȠȚȤİ߿Į) und die von ihnen so genannten ›Anfänge‹ (ਕȡȤȐȢ), wiewohl ohne Begriff setzend, doch als Gegensätze (IJܻȞĮȞIJȓĮ) an, als ob sie von der Wahrheit selbst dazu gezwungen wären. Sie unterscheiden einander darin, daß die einen grundsätzlichere, die anderen nachgeordnete Gegensätze annehmen, und die einen solche, die dem Begriffe nach bekannter sind, die anderen der Wahrnehmung nach bekanntere, – die einen setzen Warm und Kalt, die anderen Feucht und Trocken, wieder andere Ungerade und Gerade oder Streit und Liebe als Ursachen des Werdens an [...], so daß sie irgendwie das Gleiche sagen und auch wieder Unterschiedliches: untereinander Unterschiedliches, wie es den meisten (von ihnen) ja selbst so scheint; das Gleiche aber, insofern dies alles entsprechend ist. Sie nehmen es sich ja aus der gleichen Anordnung. Die einen unter diesen Gegensätzen sind bekanntermaßen umfassend, die anderen werden umfaßt.« 25

Das einander Entgegengesetzte, das Widersprüchliche, zieht sich wie ein roter Faden durch alle Erklärungsversuche, die das Seiende im Ganzen und darin das Werden, die Formung und Entwicklung der Dinge zu dem, was sie sind, und ihr Vergehen, erklären und fassbar machen wollen. Obwohl die Unterschiede evident sind, die verschiedenen Herangehensweisen an diese Frage einer essentiellen Differenz, so finden sie dennoch alle zu dem gleichen Schema – die einen eher auf sinnlicher Ebene, wie die Naturphilosophen. Andere, wie Platon und die nachplatonische Akademie, stoßen auf Gegensätze abstrakt-allgemeiner Natur. Die Formen erscheinen uns und alle Formung und Umformung vollzieht sich auf einem Boden grundsätzlicher Entgegensetzung, egal, ob man den 25 | Aristoteles, Physik D 6, 188 b27 – 189 a3.

3 Prioritäten

Stoff oder die Idee als das Eine, Unvergängliche setzt. Auch Aristoteles möchte an diesem anscheinend alten und von der Natur selbst diktierten Grundzug festhalten. Die Gegensätze, enantía, sind im Wesen der phýsis und damit essentiell mit dem Begriff der kínesis verbunden, sind Prinzip aller Bewegung. Sie bedeuten den absoluten Widerspruch, das unmöglich aufeinander Rückführbare oder auseinander Erklärbare, sie spannen das Feld der Bewegung, pflügen den Boden der Welt, auf dem die phýsis waltet und immer wieder verändert, bewegt, gestaltet und umgestaltet, oder anders: Sie sind die phýsis. Allerdings muss sich dieser Wandel an etwas vollziehen können, es muss etwas Zugrundeliegendes da sein, an dem das Prinzip der Formung wirksam wird, etwas, das im Zwiespalt der Gegensätze wird, etwas Ungeformtes, Stoffliches. »Es muss immer etwas als das, was da verändert wird, zugrunde liegen [...], denn immer ist schon etwas da, was zugrunde liegt, woraus das Werdende entsteht, z.B. die Pflanzen und Tiere aus Samen. Es entsteht das im einfachen Sinn Werdende teils durch Umformung, z.B. ein Standbild; teils durch Hinzutun, z.B. Dinge, die wachsen; teils durch Fortnehmen, z.B. wenn aus Stein eine Hermesfigur wird; teils durch Zusammenfügung, z.B. ein Haus; teils durch Eigenschaftsveränderung, z.B. bei Dingen, die sich in ihrem Stoff wandeln.« 26

Der Stoff – Materie – ist das Zugrundeliegende, das, woran sich die Veränderung vollzieht, woran das Prinzip der Formung, das ein Prinzip der Gegensätze ist, waltet. Je nachdem, ob nun die arché als Gegensatz, nämlich als zwei Zustände – Ungeformtheit und Geformtheit – angesprochen wird, oder als einheitliches Prinzip, so muss man entweder zwei oder drei Anfangsgründe, drei verfügende Ausgänge annehmen, nämlich: zwei Gegensätze und den zugrundeliegenden Stoff, oder eine grundlegende Dualität, die das ganze Wesen der phýsis ausmacht – in Formung begriffener Stoff. »Wenn es Ursachen und Anfangsgründe des von Natur aus Vorhandenen gibt, aus welchen als den ersten es ist und geworden ist, und zwar nicht in der Nebenbedeutung der Worte, sondern ein jedes, das ausgesagt wird, nach seinem Wesen, dann entsteht alles aus dem Zugrundeliegenden und der Form(gebung).«27

3 P RIORITÄTEN Es muss im Prozess des Werdens, der somit ein Prozess beständiger Umformung ist, etwas Beharrendes, ein beständiges Moment geben, eine Konstante, an der die Spannung zwischen den Gegensätzen Realität wird. Dieses Zu26 | Ebd. D 7, 190 a13f; 190 b3 - 9. 27 | Ebd. D 7, 190 b17 - 20.

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grundeliegende ist hýle, ist das stoffliche Prinzip, das beständig in Formung begriffen ist, niemals zur absoluten Stagnation gelangt, und eben aus dieser grundlegenden Spannung muss das Wesen der phýsis begriffen werden. Das gesamte erste Buch der Physik bewegt sich beständig auf diesen Satz zu und erreicht in ihm eine erste Synthesis der Prinzipien seiner Vorgänger. Stoff und Form werden vorläufig auf eine gemeinsame Stufe gestellt und bilden eine erste Fassung des Wesens der Bewegung als den das gesamte Geschehen durchwaltenden Grundzug und Ursprung. Das Eigentliche, Wahrhaftige und Wirkliche sind weder die Elemente an sich, nicht Wasser, Luft oder Feuer, ebenso wenig wie Platons abgetrennte Welt der reinen Allgemeinheiten oder Formen. Wirklich sind die Dinge nur in ihrem jeweiligen Erscheinen, in ihrem Wirken, und diese Wirkung ist das so und so Erscheinen eines zur Form gebrachten Stoffes. Die Wirklichkeit kennt keinen formlosen Stoff. Vielmehr ist die Wirklichkeit eines von der phýsis her seienden Wesens, einer ousía oder ersten Substanz, in der das innere Prinzip waltet, immer schon Bewegung, und alles ist verfügt in eine Sphäre der Bewegtheit. »Die ijȪıȚȢ ist ausgängliche Verfügung über die Bewegtheit (țȓȞİıȚȢ) eines Bewegten (țȚȞȠȪȝİȞȠȞ), und zwar ist sie das țĮ‫ׇ‬µĮ‫ބ‬IJާțĮ‫ޥ‬ȝ‫ޣ‬țĮIJ‫ޟ‬ıȣȝȕİȕȘțިȢ Das von der ijȪıȚȢher Seiende ist an ihm selbst und von ihm selbst her und auf es selbst zu solch verfügender Ausgang der Bewegtheit des Bewegten, das es von sich aus und nie beiher ist. Dem von der ijȪıȚȢher Seienden muß daher in einem betonten Sinne der Charakter des von sich her Ständigen zugesprochen werden. Das von der ijȪıȚȢ her Seiende ist Ƞ੝ıȓĮ, Seiendheit, im Sinne der ›Liegenschaften‹, des von sich her Vorliegenden.« 28

Und dieses von sich her bedeutet eben einem inneren Prinzip gemäß, von einem inneren Prinzip geleitet zu erscheinen, in den Horizont des Scheinens und damit der Wirklichkeit zu treten. Alles, woraus die phýsis spricht, in dem sie waltet, wird aus einem immanenten Prinzip der Bewegung und Veränderung zu dem, was es ist, ist anwesend durch und in einem Prozess des Werdens, ständig und immer schon verfügt in einen Horizont der Formung und Umformung, des Wachsens, Ortswechsels, Stoffwechsels, der Interaktion und Kommunikation, ist nie beständig im Sinne einer elementaren Unveränderlichkeit, sondern ist Wesen und Erscheinung, Einzelding und Substanz, als ständig in Formung begriffenes Seiendes. Wollte man die Dinge rein nach der Weise ihrer stofflichen Grundlage betrachten, würde man ihr eigentliches Wesen, die niemals beständige Art und Weise des Heraustretens in den Bezug der Offenheit, übersehen. Man würde sie nicht dem Prinzip ihrer Wirkungskraft – ihrer Wirklichkeit – nach ansprechen, sondern nur demgemäß, was sie möglicherweise werden können, 28 | Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der ĭȪıȚȢ, in: Wegmarken, 271.

3 Prioritäten

könnten, wozu eine Grundlage, ein Zugrundliegendes zwar vorhanden wäre, ein für unendlich viele reale Einzeldinge geeigneter Stoff, dem aber als tatsächliches Ding keine Wirklichkeit zukommt. Das ist der genannte Fehler, den die älteren Naturphilosophen begehen: Sie versuchen, das Wesen der vereinzelt auftretenden Erscheinungen auf den absoluten Urstoff, ein Ausgezeichnetes oder mehrere Grundelemente zurückzuführen, den rhythmischen Wechsel der in Bewegung begriffenen Dinge als dem Elementaren in bloß beiläufiger Weise zukommend zu erachten. Das wahre Sein ist für die meisten von ihnen der ewig beständige Stoff, der sich durchhält, das Verfassungslose, das sich in immer wechselnden Verhältnissen und Fügungen präsentiert. Aber diese Perspektive der zentralen Bedeutung eines Grundstoffes macht für Aristoteles nur eine Weise, einen möglichen Zugang zum Wesen der phýsis aus und bringt ihr Innerstes, das Prinzip des Werdens und die Notwendigkeit der Bewegung und Veränderung noch nicht zureichend zum Ausdruck. Die elementare Perspektive bleibt hinter dem eigentlichen Scheinen der Dinge, hinter dem Prinzip ihrer Wirkung, ihrer Wirklichkeit zurück. Sie berührt nicht jenes Moment, in dem sie sich offenbaren, in dem sie im Heraustreten ans Licht der offenen Bezüge auf sich selbst verweisen, sich in ihrem Aussehen als einem sinnlichen Scheinen präsentieren. Vom stofflichen Prinzip auszugehen ist eine Weise, sich dem Wesen der phýsis zu nähern. »Auf eine andere Weise ist es die Gestalt [ȝȠȡij੽], die in den Begriff gefasste Form [IJઁİੇįȠȢIJઁțĮIJ੹IJઁȞȜંȖȠȞ]. So wie nämlich ›Werk‹ genannt wird das, was nach handwerklichen Regeln gefertigt ist, das Handwerkliche, ebenso wird ›Naturding‹ genannt das Naturgemäße und Natürliche;«29 Jedoch würde man, so der Gang der Argumentation, weder im ersten Fall etwas als »Werk« bezeichnen, wenn es nur der Möglichkeit nach ein solches ist, ein Stück Holz nicht als Objekt der Schnitzkunst, mehrere Stücke nicht als Liege, und ebenso verhält es sich mit den Dingen der Natur. »Was der Möglichkeit nach Fleisch oder Knochen ist, hat ja weder schon sein eigenes Wesen, bevor es an sich genommen hat die begriffsmäßige Form [IJઁİੇįȠȢIJઁțĮIJ੹IJઁȞ ȜંȖȠȞ], mittels derer wir es genau bestimmen und sagen ›was Fleisch oder Knochen ist‹, noch ist es ›von Natur aus‹. Auf andere Weise wäre also die Naturbeschaffenheit der Dinge, die Anfang von Veränderung in sich selbst haben, dies: Die Gestaltung, die Form, welche sich von dem Ding nicht abtrennen läßt, außer nur in Gedanken. [...] Und diese (Form) ist in höherem Maße Naturbeschaffenheit als der Stoff; ein jedes wird doch dann erst eigentlich als es selbst angesprochen, wenn es in seiner zweckhaft erreichten Form da ist, mehr als wenn es bloß der Möglichkeit nach ist.« 30

29 | Aristoteles, Physikȕ1, 193 a28 – b8. 30 | Ebd.

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Das ist ein Punkt, auf den die Untersuchung zusteuert, eine These und ein erstes Ergebnis: Die Gestalt macht das Wesen des von der phýsis her Seienden aus, das Wesen der in der Verfügung der phýsis erscheinenden Substanzen – sie zeigen sich in der jeweiligen Form ihrer Erscheinung, sie erscheinen als bewegte Formen, in ihrem Aussehen, als ihre Gestalt. Sie selbst sind ihre Beschaffenheit als sinnliche und sinnlich wahrnehmbare Wesen, sie treten als bewegte Formen in die Sphäre möglicher Bezüge, werden sichtbar, hörbar, fühlbar, haben ihre Form, sind ihre Form und sind ihrer eigenen Verfügung gemäß in Formation begriffen. Jedes Tier, jede Pflanze, jeder Mensch ist kein Abgetrenntes, Bezugloses und noch weniger elementarer Stoff, dem seine Gestaltung nur in beiläufiger Weise zukommt. Sie sind sie selbst nur in der jeweiligen und notwendigen Struktur, in ihrer Konstitution, sind Kreislauf und Organe, Wurzeln und Äste, Knochen, Fleisch, Blätter, Zellen, sind alle Teile ihrer je spezifischen Eigenheit, die sich durchaus bestimmt und notwendig zueinander verhalten, sind Erscheinungen durch die Formation, in die sie verfügt sind und sie sind ständig in Formation, ständig in Bewegung, ständig Ausdruck, Verkörperung und Offenbarung ihrer selbst. Kein Verweis auf eine transzendente Sphäre allgemeiner Formen, wie Platon sie in seiner mystischen Vision sehen wollte, sondern jedes Ding ist sein eigenes eidos, insofern es wirklich, reales Wesen ist, insofern es Seiendes ist als ein sich Darbietendes, als Erscheinung. »੉įȑĮ ist das Gesichtete nicht in dem Sinne, daß es durch das Sehen ein Sichtbares bietet, sondern ੁįȑĮ ist das Sichbietende, Sichtsame. Allein Plato faßte das İੇįȠȢ, gleichsam überwältigt von seinem Wesen, selbst wieder wie etwas für sich Anwesendes und so den geeinzelten ›Seienden‹, ›die in solchem Aussehen stehen‹ Gemeinsames (koinިn); dadurch wird das Geeinzelte als das Nachträgliche gegenüber der ੁįȑĮ als dem eigentlichen Seienden in die Rolle des Unseienden herabgesetzt.« 31

Das ist die aristotelische Umkehrung des Platonismus, wie sie bei Deleuze als programmatisches Mantra der modernen Philosophie erwähnt wird, und eben darin ist Aristoteles moderner, als es ihm viele zugestehen wollen. Das Formprinzip, das eidos tò katà tòn lógon ist das Prinzip der Verwirklichung als Wirklichkeit selbst. Es ist das zur Form Kommen der je einzelnen Erscheinung, als in Formation sein und Information werden, als jenes Moment, das tatsächlich das Wesen, die Wesenheit, ousía ausmacht. Wenn Platon zu Gunsten der wissenschaftlichen Erkenntnis alles Reale in den Horizont des Allgemeinen verlegt32, um der Wissenschaft ein vordergründig gesichertes Fundament unter die Füße zu schieben und meint, die abstrakten Begriffe, Gattungen und Arten, seien das einzig Wirkliche, kehrt Aristoteles in seiner Kritik der 31 | Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der ĭȪıȚȢ, in: Wegmarken 275. 32 | Vgl. Horst Seidl in der Einleitung zur Metaphysik, XXVII.

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Ideenlehre gewissermaßen auf einen wissenschaftlich bescheideneren Punkt der Betrachtung zurück. Er setzt das abstrakt Allgemeine nicht mehr mit den Wesenheiten gleich, sondern unterscheidet die allgemeinen Begriffe von dem, worauf sie bezogen sind – eben von der ousía selbst, dem Wesen der einzelnen Erscheinung. »Es besteht zwar der Gegensatz zwischen dem Einzelnen und dem Allgemeinen, gleichwohl aber liegen die Wesenheiten bzw. die (mit ihnen eng verbundenen) Formursachen in den Einzeldingen, deren Wesenheiten/Formursachen sie sind. So hat nunmehrİੇįȠȢbei Aristoteles die doppelte Bedeutung: als allgemeiner Art-Begriff und als immanente Formursache in den Dingen.« 33

Indem Aristoteles den Dingen ihr Wesen gleichsam zurückgibt als die jeweilige Form ihrer Erscheinung, ihre Präsenz in einem Horizont der Offenheit für sinnliche Berührung, für Kontakte und Bezüge, in einem Raum, der in dieser Umdrehung der Prinzipien zu einem Raum lebendiger Existenzen, zu einem Lebensraum wird, nimmt er schon ein gutes Stück der Programme und Prinzipien jener philosophischen Richtungen vorweg, die sich als kritische Opposition der logisch-klassischen Metaphysik entgegensetzen. Die allgemeinen Begriffe sind durchaus existent als Werkzeuge menschlicher Erkenntnis und als Modi begrifflich-kategorialer Fassbarkeit, aber es besteht keinerlei Notwendigkeit, diese Allgemeinheiten als das Wesen aller Dinge überhaupt – oder Bedingungen der Möglichkeit aller Bezugnahmen – zu setzen. Der lógos, dem gemäß die Formen füreinander ins Dasein treten, ist keine an die theoretische Erkenntnis geknüpfte begrifflich-logische Verfügung, sondern das Sein selbst, das aus den existierenden Einzeldingen als ihnen gemeinsamer Bezugshorizont spricht – die Möglichkeit, da zu sein, die Möglichkeit, wirken zu können, die Möglichkeit eines jeden Dinges, wirklich zu sein ist die Form, in der es in diesen Horizont des Offenbaren tritt, in dem es erscheint, in dem es als eines – als es selbst – ist. Keine Existenz verkörpert die transzendente Idee als Verweis auf das kryptische Dahinter, in dem das ewige Feuer der abstrakten Ideen seinen durch Körper und Sinne gehemmten Schein auf den Boden der vordergründigen Realitäten wirft, sondern die eine Idee ist selbst gestorben und in allen Erscheinungen als deren je eigene Form zu neuem Leben erwacht. Alles von der phýsis her Seiende zeigt sich in seiner Beständigkeit – als sein Bestand – in der Verkörperung seiner selbst, und diese Verkörperung ist kein Prozess, der zu einem Stillstand kommt, sondern ist permanentes Werden, Dynamik, eine permanente Kette an Formationen, die ineinander greifen, ist ständiger Austausch, ständig Bewegung, und die Bewegung selbst ist das Wesen der 33 | Ebd.

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Form, morphé, die ihrerseits das Wesen der phýsis und die Wesen, die der phýsis gemäß erscheinen, ausmacht. Diese zentrale Bedeutung der morphé als Wirklichkeit und Wesen begründet die aristotelische Ontologie und spricht – als Prinzip – auch aus allen Poren seiner »Metaphysik«, selbst wenn Aristoteles im Hinausgehen über die phýsei ónta in der Folge andere terminologische Wege einschlagen wird. Das Sein, das allen Seienden zukommt, die Stimme, die aus allen im Dasein stehenden Existenzen, aus allen Erscheinungen spricht, ist die Stimme einer ursprünglichen Bewegtheit, einer archaischen kínesis, ist ein Rumoren, das tief unter der Oberfläche scheinbarer Ruhe allen Dingen unentwegt Leben einhaucht, das Werden, das immerzu und unermüdlich aus allem spricht, dessen Anspruch und Ansinnen Gehör und Aufnahme findet. Im Formprinzip drückt sich eine besondere Art der Gegensätzlichkeit aus, ein Überschlag von einem ins andere34 und zugleich eine Art existentieller Spannung, Aufklaffen eines Raumes zwischen Extremen, der aber nicht von außerhalb der jeweiligen Existenz überwölbt wird, sondern den sie selbst öffnet, aufsperrt in ihrer Erscheinung. Der Stoff der Naturphilosophen war das Ur-Eine, die Einheit als elementarer Bestandteil, demgegenüber die jeweiligen Dinge das Unbeständige, Wechselhafte ausmachen, den schlagenden Rhythmus der Veränderung, in dessen sprunghafter, kompositorischer Vielfalt das Elementare als das einzig Dauerhafte gilt. Dem entgegen stellt Aristoteles seinen Formbegriff, den er in der Betrachtung des gegensätzlichen Prinzips findet, das sowohl bei Platon, den Eleaten, als auch bei den Physikern als Grundzug aller Erscheinungen auftritt – alle bilden die Gegensätze zur Form und die Form aus den Gegensätzen. Manche fassen den Begriff des Gegensätzlichen grundsätzlicher, andere leiten ihn empirisch aus den widerstrebenden Elementen ab; alle jedoch kommen in ihren Versuchen der Erklärung und Verwerfung des Scheinbaren, Sinnlichen, auf jenes Prinzip der Zerrissenheit, das sie ihrer Einheit – ihrer indifferenten Grundkonstitution des Seins – gegenüberstellen. Für Aristoteles hingegen bewegt sich eben jene gegensätzliche Struktur, wandern die enantía ins Zentrum seiner Offenlegung der phýsis, deren Wesen die Form als Bewegung, Form als Bewegtheit ausmacht, und diese Bewegtheit scheint offensichtlich ebenso eng mit der Frage der Gegensätzlichkeit wie mit dem Formbegriff in Verbindung zu stehen. Das Gegensätzliche macht als differentielles Moment oder Prinzip einer ursprünglichen Differenz das Wesen der phýsis als Formung und Bewegtheit aus und damit ihren Charakter – als das Werden selbst begriffen. Es ist nicht vermittelt und wird nicht überwunden in der Synthesis einer zur Form gekommenen Möglichkeit, sondern das reine Prinzip der Möglichkeit ist selbst 34 | Vgl. Aristoteles, Physik Ȗ 1, 200 b12.

4 Differenzen

das Moment der Indifferenz, die immer schon untergraben und übergangen, die immer wieder überwunden wird in der unermüdlichen Bewegung der Wirklichkeit, der wirklichen Formen, die sich in dieser Spannung zeigen. Das Gegensätzliche ist selbst die ständige Öffnung des Raumes, in dem und als der sich die Erscheinungen in ihrer jeweiligen Form als Information, als sich in Formation befindend offenbaren. Kein Raum der Wahrheit, sondern eine Sphäre der Wirklichkeit als einer Bedingung der Möglichkeit von Wirkungen; kein logischer, sondern ein ontologischer Raum, in dem das Sein als Werden das Seiende durchdringt und das Seiende so in sein Dasein hebt. Das Gegensätzliche der aristotelischen Physik meint nichts anderes als diesen Begriff einer Differenz35 – keine vorausgesetzte Identität und keinen Begriff, dem die Differenz versöhnlich und glücklich eingezeichnet oder eingeschrieben wird.

4 D IFFERENZEN Deleuze sagt, es gäbe bei Aristoteles eine Differenz, die die größte und vollendetste sei: »Die Differenz allgemein unterscheidet sich von der Verschiedenheit und der Andersheit; denn zwei Terme differieren voneinander, wenn sie nicht durch sich selbst, sondern durch etwas unterschieden sind, wenn sie auch in etwas anderem zusammenpassen, in einer Gattung hinsichtlich der Artdifferenzen, oder selbst in der Art hinsichtlich der Differenzen der Zahl, oder noch im ›Sein gemäß der Analogie‹ hinsichtlich der Gattungsdifferenzen.« 36

Und die größte Differenz unter all diesen ist immer der Gegensatz, so Aristoteles im zehnten Buch der Metaphysik, wo er sie als konträren Gegensatz benennt, denn »dasjenige, was der Gattung nach unterschieden ist, gestattet keinen Übergang ineinander, sondern ist weiter voneinander entfernt und unvergleichbar; bei dem der Art nach Unterschiedenen aber findet Entstehung aus dem Konträren und Äußeren statt. Das Äußerste hat den größten Abstand, also hat auch das Konträre den größten Abstand.«37 Nun sieht Deleuze in dieser Charakteristik eben jenes Problem, das sich durch die gesamte Geschichte der Metaphysik seit Platon an die Frage nach der Differenz knüpft. Das Differentielle findet stets seine Überwindung in der begrifflichen Synthesis und wird von logischer Identität – als Grund und transzendentale Einheit aller Differenzen gesetzt – auf eine sekundäre, viel35 | Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 65. 36 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 51f. 37 | Aristoteles, Metaphysik ,, 1055 a5 – 10.

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leicht minderwertige Stufe verwiesen und als formschaffendes, dionysisches Moment und Grundzug allen Daseins übergangen: in einem Akt der Angst vor dem Ungewissen, der Unwissenheit, in der glücklichen Vision vom kulminierenden, göttlichen Punkt, im transzendentalen Aufstieg zur absoluten Einheit, letztendlich im absoluten Begriff oder der »absoluten Idee«38 . Die Differenz als nicht Untergeordnetes, nicht Einordbares ist das Schlechte, weil kategorial nicht bestimmbar, das Böse, weil die Einheit der intellektuell wiedergefundenen Göttlichkeit zerschlagend, das Unzumutbare, das den Ansprüchen der Wissenschaft, wie sie von Platon in die Allgemeinheit der Idee als einer Gebotstafel eingemeißelt worden sind, niemals Genüge leisten kann. »Ausgehend von einem ersten Eindruck (die Differenz ist das Übel) nimmt man sich vor, die Differenz zu ›retten‹, indem man sie repräsentiert, und sie zu repräsentieren, indem man sie auf die Erfordernisse des Begriffs überhaupt bezieht. Es handelt sich also darum, einen glücklichen Augenblick zu bestimmen – den glücklichen Augenblick der Griechen –, in dem die Differenz mit dem Begriff versöhnt erscheint. Die Differenz muss ihre Höhle verlassen und darf nicht länger ein Ungeheuer bleiben; oder es darf zumindest nur das Ungeheuer fortbestehen, was sich dem glücklichen Augenblick entzieht und bloß eine schlechte Begegnung, eine schlechte Gelegenheit darstellt. Der Ausdruck ›einen Unterschied machen‹ wechselt hier seine Bedeutung. Er bezeichnet nun eine selektive Prüfung, die bestimmen soll, welche Differenzen auf welche Weise in den Begriff überhaupt eingetragen werden können. Tatsächlich scheint eine derartige Prüfung, eine derartige Selektion durch das Große und Kleine ermöglicht.« 39

Das Große und Kleine ist das Prinzip der Gegensätze, wie es von Platon eingeführt40 und auf sinnlicher Ebene der reinen Idee gegenübergesetzt oder untergeordnet wird. Jedoch liegt der Unterschied zwischen Platons dem Begriff integrierter, untergeordneter Differenz und der ursprünglichen Gegensätzlichkeit des Aristoteles eben darin, dass Aristoteles nicht die Differenz jener abstrakten Allgemeinheit, dem platonischen Begriff, einschreibt, sondern umgekehrt Platons Prinzip der Form selbst in die Verfügung der Gegensätzlichkeit stürzen lässt, aus der die individuellen Existenzen in die Offenheit der Erscheinung und Berührung treten. Die Gegensätzlichkeit, die uns von Aristoteles in der Physik präsentiert wird, ist nicht jene aus der Begriffs- und Definitionsanalyse der Metaphysik, auf die Deleuze eingeht und in der er – zu Recht – die Grundsätze der Synthesis und Repräsentation hineinverlegt sieht. Im Gegensatz zu jener logischen Analyse der Art- und Gattungsdifferenzen führt Aristoteles in der Physik tat38 | G.W.F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Werke 8, 388. 39 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 51. 40 | Vgl. Platon, Politikos, 283d, in: Werke, Band 6, 491ff.

4 Differenzen

sächlich den archaischen Begriff einer ursprünglichen Differenz ein, der in der Folge zum Prinzip, zum ontologischen Grundsatz seiner gesamten Philosophie führen und werden wird – nicht eine feststehende, transzendente Form, sondern die sich ständig in Formung befindenden und durch das Prinzip der Formung im Horizont der Erscheinung und Anwesenheit stehenden Einzelheiten, Realitäten, Existenzen sind das wahrhaft Seiende und sind in ihrer Verschiedenheit jener einheitliche Tenor, der aus allen Winkeln und Ecken mit der einen Stimme, als die eine Stimme des Seins spricht. Das Sein des Aristoteles ist durchaus Werden, ein unschuldiges Werden, das nicht in der Abhängigkeit eines übersinnlichen Regulationsmechanismus steht. Es ist Bewegung und Veränderung, ein zu-sich-Kommen, ist jener lógos, der das Wesen jeder singulären Existenz ausmacht und dem gemäß jede individuelle Erscheinung als ana-log bezeichnet werden kann: der Spur, dem Prinzip, der arché folgend, jener prinzipiellen Verfügung, dem permanenten Werden der Form. Die Analogie des Seienden bei Aristoteles enthält in oder aus dieser Perspektive durchaus Züge und Anklänge der einen Stimme des Seins, der Univozität des Seins, von dem Deleuze in Anlehnung an Duns Scotus spricht41, denn es ist eben jene Stimme des Werdens, des zur Form Kommens, die sich in ein und derselben Bedeutung von den differierenden Existenzen, den formalen Modifikationen als den realen Erscheinungen in ihrer Verschiedenheit aussagt, die sich in der Verschiedenheit als Wesen des Singulären aussagt – nicht als Verkörperung eines transzendenten lógos, sondern als Stimme von morphé und kínesis, die aus jedem einzelnen Seienden spricht, der das Seiende folgt, die es hört (ana-log) und in der es von sich selbst spricht. »Es gehört zum Wesen des univoken Seins, daß es sich auf individuierende Differenzen bezieht, diese Differenzen aber besitzen nicht dasselbe Wesen und variieren das Wesen des Seins nicht – wie sich das Weiß auf verschiedene Intensitäten bezieht, wesentlich aber dasselbe Weiß bleibt. Es gibt nicht zwei ›Wege‹ [voies], wie man im Gedicht des Parmenides geglaubt hatte, sondern eine einzige ›Stimme‹ [voix] des Seins, die sich auf all seine Modi, die verschiedensten, verschiedenartigsten, differenziertesten, bezieht. Das Sein sagt sich in ein und derselben Bedeutung von all dem aus, wovon es sich aussagt, das aber, wovon es sich aussagt, differiert: Es sagt sich von der Differenz selbst aus.« 42

Und diese Differenz ist eine plastische, wirkende, formende, ist eine ursprünglich verfügte Differenz als ein Urgrund, aus dem die Formen in das Licht, in die Offenheit ihrer Erscheinung treten, auf dem sie bewegt sind, Form über 41 | Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 58. 42 | Ebd. 59.

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Form und unendlich viele Formen in einer Ausrichtung aufeinander, unendlich kleine Formen, unendlich viele Differentialverhältnisse, die ineinander verwoben, aufeinander auf bauend, gegenseitig bestimmend und einander regulierend neue Formen erstehen lassen, Zellverbände, molekulare Organisationen, Organe, immer in Bewegung, immer absterbend und neu erschaffend, immer im Wechsel, immer in Veränderung43. Sie sind formschaffend auf dem Boden eines existentiellen Differentialverhältnisses, immer in der Schwebe zwischen Da und Nicht, immer an der Grenze, Balanceakt am schmalen Grat, Auf blitzen am Horizont der Erscheinung, in Formation und Information: morphé, eidos, Wirklichkeit der individuellen Existenz gemäß dem lógos der Veränderung, analog in der einen Sprache der alles durchwaltenden Bewegung, denn das Seiende wird in vielfacher Bedeutung ausgesagt, aber immer in Bezug auf dieses Eine44. Nicht das Seiende, sondern dieses eine Sein ist univok. »Die Analogie bezeichnet eine Gemeinsamkeit zwischen wesentlich Verschiedenem. Das Seinsmerkmal kommt allem und jedem zu, wie verschieden dies auch sein mag. Seine ontologisch-analoge Allgemeinheit erstreckt sich damit sowohl »jenseits« über die obersten begrifflich-logischen Gattungen (Kategorien) hinaus (ist scholastisch gesprochen »transzendental«), als auch »diesseits« der untersten Arten, so daß es das Einzelne nicht unbestimmt »neben« sich läßt und in Gegensatz zu ihm tritt, sondern es bestimmterweise mit erfaßt und in es eingeht.« 45

Darin liegt das große Problem und die unbedingte Notwendigkeit, die Ontologie des Aristoteles von seinen logisch-begrifflichen Analysen und seiner Definitionslehre zu trennen, denn der Gefahr einer Verfälschung der Bedeutungen von Analogie und Univozität, auf die Deleuze hinweist, geht eben jene Verwechslung der ontologischen Erwägungen mit dem logischen Diskurs voraus; die enantía der Physik, die ursprüngliche Gegensätzlichkeit, das differentielle Verhältnis richtet sich nicht nach dem Begriff und der Frage der Definition, sondern bereitet den Weg, auf dem Aristoteles zu seinem Prinzip der Wirklichkeit aller Erscheinungen findet, seiner arché oder Ursache, die das Wesen aller Existenzen konstituiert und ausmacht: die immanente Formursache, denn die Form tritt hervor aus dem Spannungsverhältnis einer grundlegenden Gegensätzlichkeit, nicht in die Einheit des Begriffs, sondern als Erscheinung und Anwesung, als ousía, als Werden der Form – mit einer Sprache begabt, in der

43 | Das organische Prinzip, wie es hier verstanden wird, zielt nicht auf eine reine Einheit, sondern impliziert das ständige Absterben und die Erneuerung der jeweiligen Konstituenzien. 44 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik B, 1003 a33f. 45 | Horst Seidl, Aristoteles’ Metaphysik, Einleitung XXXV.

4 Differenzen

alle Individuen ihre Existenz verkünden – und ebenso will Deleuze den Begriff der Univozität verstanden wissen: »Wenn wir dagegen sagen, daß sich das univoke Sein wesentlich und unmittelbar auf individuierende Faktoren bezieht, so verstehen wir darunter nicht die in der Erfahrung konstituierten Individuen, sondern das, was in ihnen als transzendentales Prinzip, als bildnerisches, anarchisches und nomadisches Prinzip wirksam wird, das mit dem Individuationsprozeß gleichzeitig ist und die Individuen ebenso aufzulösen und zu vernichten vermag: innerliche Modalitäten des Seins, die von einem »Individuum« zum anderen übergehen und unter den Formen und Materien zirkulieren und kommunizieren. Das Individuierende ist nicht das bloß Individuelle.« 46

Es genügt nicht, in Bezug auf dieses generative oder genetische Element den Unterschied zur Spezifikation aufzuzeigen, denn das Spezifische bewegt sich in einer genuin anderen Sphäre als die Konkretion des Allgemeinen, als das unter dem Allgemeinen Subsumierbare. »Man muß nicht nur zeigen, wie die individuierende Differenz wesentlich von der Artdifferenz abweicht, sondern zuerst und vor allem, wie die Individuation von Rechtswegen der Form und der Materie, der Art und den Teilen und jedem anderen Element des konstituierten Individuums vorausgeht. Sofern sie sich unmittelbar auf die Differenz bezieht, verlangt die Univozität des Seins, daß man nachweist, wie die individuierende Differenz im Sein den Gattungsdifferenzen, Artdifferenzen und noch den individuellen Differenzen vorausgeht – wie ein vorgängiges Individuationsfeld im Sein sowohl die Spezifikation der Formen, als auch die Bestimmung der Teile und ihrer individuellen Variationen bedingt.« 47

Tatsächlich bezeichnet die Artdifferenz nur ein relatives Maximum und einen Akkommodationspunkt für das griechische Auge, nämlich für jenes Auge, das aus wissenschaftstheoretischer Perspektive urteilt und vor allem: einteilt, den Kategorien gemäß, aber eben eine Einteilung trifft, die auf die begriffliche Struktur theoretischer Erkenntnis, nicht auf das Sein selbst gerichtet ist. Das begrifflich Allgemeine rückt für Aristoteles nicht zur Gänze aus dem Blickfeld. Er weist ihm nur den Platz in der theoretischen Analyse zu, die sich den Dingen annähert, die sie tatsächlich erkennen will, aber deshalb noch nicht und gerade nicht die Wesenheiten selbst, die ontologischen Prinzipien in sich trägt, wie es Platon so gerne gesehen hätte. Die Gegensätzlichkeit, die uns Aristoteles in der Physik – auf dem Weg zu seinen ontologischen Grundsätzen, seiner Ur-Teilung – präsentiert, kann nicht die Differenz 46 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 62. 47 | Ebd.

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der Arten und Gattungen sein, denn Arten und Gattungen haben selbst ihren Platz in der logisch-begrifflichen Sphäre. Vielmehr ist sie eine ursprüngliche, mit dem Formprinzip in ihrem Wesen verknüpfte, sogar identische Differenz, die realen Formen vorausgeht, ihnen innewohnt, und das Formprinzip gemäß dem lógos, der selbst kein begrifflicher ist, erscheint als Anklang an jenen Begriff der Differenz, den Deleuze gegen die metaphysische Differenz – ewig eingesperrt im synthetischen Begriff der Identität – finden will. Die Gegensätzlichkeit als Prinzip trägt die dionysischen Züge, die zu sehen die Griechen selbst irgendwann verlernt oder vergessen haben48 – geblendet von den platonischen Ideen und hörig der sokratisch-wissenschaftlichen Moral, die beständig auf dieses emporgestiegene, hybride Reich verweist. Aristoteles haucht der Idee seines Lehrers Leben ein, er dynamisiert sie in seinem Aufriss der differentiellen Grundzüge alles Seienden. Das Formprinzip ist ständige Bewegung und bringt in dionysischem Rausch immer neue Formen hervor. Es spricht der heraklitische lógos als ewige Wiederkunft des Differentiellen, dem gemäß der Prozess der Formen und Information nie zu einem Ende kommt. Der differentielle Grund ist selbst dionysischer Boden, aus dem Apollon in unendlich vielen, verschiedenen Formen immer wieder aufsteigt und in den er wieder zurückkehrt: Dionysos, der Zerrissene, will die Form, er will hervorbringen, er will Organe und Körper: Dionysos will Apollon und Apollon braucht Dionysos. Die Bewegung steht im Zentrum der aristotelischen Philosophie und wird zu einer Bewegung der Formen – Bewegtheit selbst als Prinzip des beständigen zur Form Kommens, des beständigen Werdens aller Dinge, die selbst in ihrer Gegenwärtigkeit die Momente des Vergangenen und Zukünftigen vereinen, indem sie nie rein im Moment stehen, sondern immer in einer prozessualen Kontinuität, die permanenter Vollzug eines dýnamei ón 49 in das Erscheinen der Wirklichkeit ist, immer ein Werden, immer in der Spannung von dýnamis und enérgeia50. Diese Spannung macht das Wesen der kínesis, das Wesen von Bewegung und Veränderung aus. In dieser Aufspannung hat die Bewegung als Wesen der natürlichen Erscheinungen Statt und entfaltet sich in der Verwirklichung des Möglichen, des der Möglichkeit nach Seienden. Das Stoffprinzip der alten Naturphilosophen tritt für Aristoteles an die Seite der inneren Formursache und hält in gewisser Weise die Bewegung am Leben, denn Bewegung ist immer das in die Erscheinung der Wirklichkeit Treten, die Verwirklichung des Möglichen. »Das endliche Zur-Wirklichkeit-Kommen eines bloß der Möglichkeit nach Vorhandenen, insofern es eben ein solches ist – das ist (entwi48 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 11, KSA 1, 82. 49 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik Ǿ1, 1042 a28. 50 | Vgl. ebd. Ĭ 1, 1046 a1.

4 Differenzen

ckelnde) Veränderung.«51 Und diese Veränderung ist das ständige Werden, das in-Formung-begriffen-Sein und das Prinzip einer Information, die zum einen die Veränderung und Bewegung des Erscheinenden und in die Anwesenheit Kommenden meint: Atmung, Kreislauf, Stoffwechsel, Tätigkeit, Fühlen, Riechen, Sehen, Hören – sinnliche Präsenz – und in dieser sinnlichen Präsenz die Wirklichkeit als Wirkungen erfahrend, das selbst Wirkung-, selbst Information-Sein. In meiner Präsenz, in meinem Erscheinen, bin ich Wirkung und Bezug, indem ich selbst in den offenen Horizont der Beziehungen trete, bin ich selbst ständige Verwirklichung meiner Möglichkeiten und bin Möglichkeit als möglicher Bezug, möglicher Kontakt, mögliche Wirkung und Wirklichkeit. »Da nun einiges, als dieses selbe, sowohl der Möglichkeit wie auch der Verwirklichung nach da ist – nicht gleichzeitig oder in derselben Hinsicht, sondern z.B. so: Warm der Wirklichkeit, kalt der Möglichkeit nach –, werden diese Dinge nunmehr viele Wirkungen aufeinander ausüben und viele voneinander erfahren. Alles wird ja sein zugleich Wirkung ausübend und Wirkung erfahrend. Was also natürlich Anstoß zur Veränderung gibt, (ist selbst auch) veränderbar. Alles derartige setzt ja in Bewegung, in Bewegung auch selbst (befindlich).« 52

Damit lichtet sich zu Beginn des dritten Buches der Physik das Wesen der kínesis als Grundzug aller von der phýsis her ins Anwesen tretenden Dinge: Sie sind immer in Bewegung, immer im Wandel begriffen, sei es bezogen auf Eigenschaften, Wachsen und Schwinden, Werden und Vergehen, oder Bewegung im Sinne eines Ortswechsels, und diese Bewegung wird verstanden als das zu-sich-Kommen oder in-die-Anwesenheit-Kommen, als das sich Zeigen in der je eigenen Form, als Präsenz des Individuellen, als Da-Sein. Jede Pflanze, jedes Tier, jeder Mensch, jede natürliche Erscheinung schreibt sich als Existenz in einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess ein oder ist a priori in einen derartigen Prozess, in einen Wirkungszusammenhang verfügt, in dem zugleich Wirkung erfahren und ausgeübt wird – in einen dynamischen Prozess der permanenten Umsetzung von Vermögen als Wirkkraft des Über- oder Umschlags von einer Erscheinungsform zu einer anderen. Die Bewegung, die die Welt der phýsis durchwaltet, kínesis, die das Wesen der phýsei onta, der von der phýsis her Seienden ausmacht, so die Grundannahme des ersten Buches, ist immer Bewegung auf ein neues Ziel, Weg auf eine neue Stufe, zu einer neuen Form der Existenz, und dieser Weg liegt in der Umsetzung eines den Lebewesen innewohnenden Vermögens, in der realen Wirkung einer immanenten Kraft, die sowohl auf anderes, als auch auf das Individuum selbst greift. Das ist permanente Transformation des hypokeí51 | Aristoteles, Physik J 1, 201 a10 – 11. 52 | Ebd. J 1, 201 a19 - 24.

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menon, des zugrundeliegenden Stoffprinzips, oder metabolé – Umschlag – als Grundzug jenes Vermögens zur Wirkung, das den dýnamis-Begriff gemäß den Formen der Bewegung ausmacht. Dýnamis – gemeinhin als Möglichkeit übersetzt – wird in der Physik eingeführt als das Vermögen oder die Kraft aller Naturerscheinungen, Wirkungen ebenso zu erfahren wie auszuüben. Diese gerichtete Bewegung, die ständige Umsetzung dieses Vermögens ist kínesis schlechthin und als solche der Wesensgrund der phýsis, die alle phýsei onta – als kinoumena – durchwaltet. Das ständige in-Formung-begriffen-Sein meint das gleichzeitige Wirken und Wirkung-Erfahren, den Kontext eines Bezugssystems, in dem die Bewegung gerichtet ist auf das zu sich selbst Kommen und die Verwirklichung einer inneren Veranlagung, einer gewissen »Eignung zu...«, die ihr Ziel in sich hat, aber als Ziel selbst die Bewegung des Lebens, Entwicklung des Lebewesens als Entwicklung seiner Möglichkeiten und der Möglichkeit zur Entfaltung seiner Möglichkeiten: Durchlauf unendlich vieler Entwicklungsstadien, etwa der Keimzelle, die als einzige vermag, ihre Chromosomenzahl auf die Hälfte zu reduzieren, um in der Folge mit einer anderen eine Verbindung einzugehen, aus der sich eine neue Zygote entwickelt und sogleich die Zellteilung einsetzt, etc. Vermögen, das immer auf Entwicklung und Veränderung als einer Neu- oder Transformation gerichtet ist, nicht auf den Endzweck einer sich selbst genügenden Lethargie, sondern immer in den Horizont der Bewegung verfügt, in dem sich auch das voll entwickelte Lebewesen bewegt, formt, wirkt und Wirkung erfährt.

5 V IRTUALITÄTEN Das Spannungsfeld dýnamis-enérgeia, das im ersten Buch der Physik kurz angedeutet53 wird, erfährt in der Aufschlüsselung des kínesis-Begriffs zu Beginn des dritten Buches seine erste Konkretion und Fassung, als die Umsetzung eines Vermögens, einer Möglichkeit der Bewegung (dýnamis katá kínesin) in tatsächliche, wirkliche Bewegung, als Kraftwirkung sowohl im aktiven, als auch im passiven Sinn. Hierin liegt der metaphysische Überbau oder die philosophische Grundlage der Überlegungen und Gedanken über die Natur, durch die Aristoteles in das Wesen aller Dinge einzutauchen und es aufzunehmen sucht. Das Vorankommen von dem uns Bekannteren zu dem an sich Offensichtlichen macht nicht Halt bei der Natur oder irgendeinem anderen ausgezeichneten Bereich – es geht um die Frage nach jenem Prinzip, das nicht nur die Natur, sondern die Gesamtheit aller Erscheinungen durchwaltet und tatsäch-

53 | Vgl. ebd. D 3, 186 a3.

5 Vir tualitäten

lich um eine Konkretion jenes differentiellen Bodens, dessen Stimme die universale Stimme des Seins ist. Die Ontologie oder eigentliche Metaphysik geht noch tiefer als die Philosophie der natürlichen Erscheinungen, die allerdings durch die erste Formulierung von dýnamis und enérgeia den Weg schon vorbereitet hat, und es werden auch in der ersten Philosophie die Formen als aktuale Erscheinungen das Wesen all dessen ausmachen, das wirklich und als Wirkung begriffen ist – dasjenige, das als Möglichkeit zwar noch nicht an sich, aber im Rahmen eines die analytischen Elemente der Zeit kontrahierenden Kontextes doch irgendwie ist, eben nicht als abgetrennte Präsenz, sondern im stetigen Kontinuum des Werdens, das sich schon bei Aristoteles – wenn auch anders, als für Nietzsche – im Zauber eines Glaubens an die Ewigkeit selbst voraussagt. Die aristotelische Konzeption der dýnamis darf nicht als jenem Bezirk des Möglichen zugehörig gedacht werden, der auf den kategorischen Landkarten der traditionell-abendländischen Metaphysik, und hier wiederum in deren hybridem Exzess oder Kulminationspunkt, der Transzendentalphilosophie, dem Wirklichen als Urteilsform oder Aussagenkategorie entgegengesetzt ist. Die ontologische Fragestellung hat nichts mit Urteilsproblematik oder der Logik im neuzeitlichen Sinn zu tun. Sie richtet sich, wie schon früher erwähnt, auf das Wesen der Dinge als den Grund, auf dem alles Wirkliche in die Offenheit der Erscheinung tritt und ein Bezugsfeld aufspannt, das weder die Verankerung in einem rein subjektiv-logisch organisierten Regelwerk, noch die transzendent vorverfügte Zentripetalkraft hin auf einen einzigen Punkt apperzeptiver Synthesis kennt.54 Aristoteles selbst erwähnt die Problematik einer Verwechslung des logischen Möglichkeitsbegriffs mit der dýnamis, die einzig für die ontologische Untersuchung von Relevanz sein kann, und schließt für die weiteren Erwägungen eben jene Bedeutungen aus, die die Urteilslehre und z.T. die Mathematik (Geometrie) in Anspruch nehmen in der Entgegensetzung von Möglichkeit und Unmöglichkeit. Sie sagen etwa: »Unmöglich nämlich ist das, dessen Gegenteil notwendig wahr ist; z.B. daß die Diagonale kommensurabel sei, ist unmöglich, weil dieser Satz etwas Falsches ist, dessen Gegenteil nicht nur wahr, sondern notwendig wahr ist, nämlich der, daß die Diagonale inkommensurabel ist: Daß sie kommensurabel sei, ist also nicht nur falsch, sondern notwendig falsch. Das Gegenteil hiervon, das Mögliche, wird dem zugeschrieben, dessen Gegenteil nicht notwendig falsch ist; z.B. daß der Mensch sitze, ist möglich, denn das Nicht-Sitzen ist nicht notwendig falsch. Möglich also bezeichnet in einer Bedeutung, wie gesagt, daß etwas nicht notwendig falsch, in einer anderen, daß es wahr ist, in einer anderen wieder, daß es wahr sein kann. In übertragenem Sinne spricht man 54 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 123ff, in: Werkausgabe III, 178ff.

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in der Geometrie von Vermögen oder Potenz. Diese Bedeutungen des Möglichen werden also nicht nach einem Vermögen [Ƞ੝țĮIJ੹į઄ȞĮȝȚȞ] benannt.« 55

Denn diese Bedeutungen haben weder Bezug zu dem Vermögensbegriff, den die Physik einführt, noch zu der ontologische Möglichkeit der ersten Philosophie, zum Möglich-Sein und Möglich-Nichtsein, sondern nehmen lediglich die Kategorien wahr und falsch, bzw. möglich-wahr und möglich-falsch in Anspruch. Es sind schlichtweg übertragene Bedeutungen, die nicht analog, sondern homonym gebraucht werden und die einzige Ähnlichkeit, den einzigen Bezug zum eigentlichen Sinn des Wortes in der Namensgleichheit, nicht aber der Sache nach tragen. Dýnamis im Griechischen wird z.B. gebraucht wie lateinisch potentia, Potenz einer Zahl, die Zahl zur x-ten Potenz erhoben, und ebenso heißt adýnaton (unmöglich) etwas, dessen Gegenteil notwendig wahr ist, und dýnaton etwas, dessen Gegenteil nicht notwendig falsch ist, etc. Jedenfalls handelt es sich in diesen Fällen immer um Aussagen, und es ist wichtig, sogar notwendig, die Aussagen über das Seiende – Urteile – nicht mit dem Sein selbst zu verwechseln, worauf schon weiter oben in der Abgrenzung der formbildenden Gegensätzlichkeit hingewiesen worden ist. Anders als die Transzendentalphilosophie lässt Aristoteles nicht die Ordnung der Urteile über die Ordnung des Seins bestimmen, als Bedingungen der Möglichkeit aller Gegenstände der Erfahrung, sondern setzt umgekehrt die Ordnung des Seins selbst als grundlegend für die Urteilssätze – etwa in seinen Ausführungen im vierten Buch der Metaphysik: »Zu sagen nämlich, das Seiende sei nicht, oder das Nicht-Seiende sei, ist falsch, dagegen zu sagen, das Seiende sei und das Nicht-Seiende sei nicht, ist wahr. Wer also ein Sein oder Nicht-Sein prädiziert, muß Wahres und Falsches aussprechen.«56 Alle Modifikationen der Aussage, alle Wahrheitswerte und Schattierungen der Möglichkeitsbegriffe, müssen in den Modi des Seins veranlagt sein und aus diesem Grund liegt sowohl in der Bedeutung der dýnamis, die die Mathematik für sich gebraucht, als auch in jener der Logik zwar ein übertragener, aber kein ursprünglicher Bezug zu dem Wesen der dýnamis, dem sich Aristoteles zu nähern sucht – diese Bedeutungen sind ou katà dýnamin – nicht der ursprünglichen dýnamis folgend, nicht gemäß der grundsätzlichen Bedeutung. »So kann das Ƞ੝ țĮIJ੹ į઄ȞĮȝȚȞ nicht das Zugrundeliegen einer Dynamis schlechthin negieren wollen, sondern nur auf die Nicht-Unmittelbarkeit eines solchen Bezuges weisen. Diese »Möglichkeit« betrifft unmittelbar und primär die Geltungsweise von Urteilen, ohne daß damit deren mittelbare Fundierung in der Seinsweise des Seienden aufgehoben wäre. Der Satz, daß die Diagonale kommensurabel sei, ist deshalb unmög55 | Aristoteles, Metaphysik ǻ12, 1019 b23 - 35. 56 | Ebd.ī 7, 1011 b26 - 28.

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lich wahr, weil der Gegensatz notwendig wahr ist. [...] Das Mögliche in Urteilen hat sein eigenes weites Feld in der Logik.« 57

Die Erörterung über das eigentliche Wesen der dýnamis beginnt nun, nach der ersten negativen, aber notwendigen Bestimmung, im neunten Buch (Ĭ) der Metaphysik, in dem das Ausschlussverfahren aus dem fünften Buch, in dem die grundlegenden Begriffe der Philosophie überhaupt bestimmt werden58, einleitend übernommen wird, mit eben jenem Vermögensbegriff, der zum Teil aus der Physik bekannt ist und der den eigentlichen und ursprünglichen Sinn von dýnamis überhaupt ausmacht – mit der dýnamis katà kínesin. Sie ist arché, Prinzip, und zwar das Prinzip des Umschlags in einem anderen oder in demselben, aber als einem anderen, die Kraft oder das Vermögen, auf ein anderes zu wirken, oder auf sich selbst zu wirken, aber indem eben dieses Selbe als etwas gilt, das eine Wirkung erfährt, auf das gewirkt wird. Der Künstler formt das Erz, das erst nur in Klumpen vorliegt, zu einer Statue, der Lehm wird zu Ziegeln geformt, aus denen der Baumeister das Haus erstehen lässt, alles schlägt von einem in ein anderes um, der Lehm und das Erz sind passiv, der Künstler und der Baumeister aktiv im Bewegungsprozess – alle jedoch sind in den Prozess verfügt durch ihr Vermögen, ihre Kraft, zu formen und geformt zu werden. Es ist ein Formen des anderen und geformt werden durch ein anderes. Und ebenso der Arzt, der sich selbst behandelt, bewegt in gewisser Weise etwas in einem anderen, denn als Arzt behandelt er nicht einen Arzt, sondern einen Kranken, der zufällig er selbst ist – er sieht sich selbst, den Kranken, mit den Augen eines anderen, denen des Arztes und wirkt als Arzt, der er selbst ist, an einem Kranken, der er auch ist – Frage der Perspektive, aber immer Umschlag, Bewegung in einem anderen oder in ein und demselben, aber insofern es ein anderes ist – Übertragungen, Wirkung von Kräften. Die dýnamis ist immer Ausgang für etwas, sie ist arché, aus der heraus etwas in den Bezug der Wirkungen fließt, sie ist das Vermögen, von dem aus umgesetzt wird, von dem der Umschlag in Kraft tritt, und eben dies ist die Leitbedeutung für das aus der Physik bekannte erste Verständnis von dýnamis – nicht wahr und falsch oder möglich und unmöglich, sondern vermögend, zu verändern und verändert zu werden, vermögend, zu bewirken und bewirkt zu werden, zu bewegen und bewegt zu werden. Die Leitbedeutung der dýnamis katà kínesin besagt: »Ausgang sein für einen Umschlag, welcher Ausgang als solcher in einem anderen Seienden ist als das Umschlagende selbst, oder falls das ausgänglich Seiende und das Umschlagende dasselbe sind, sind sie das je in einer anderen Hinsicht. [...] 1. Kraft 57 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 17f. 58 | Vgl. Horst Seidl, Aristoteles’ Metaphysik, Einleitung, XIII.

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Die Macht der Form [dýnamis] ist ਕȡȤ੽ – Ausgang für ... 2. Wofür? Für einen Umschlag, eine Bewegung: kަȞȘıȚȢ. 3. Der Ausgang für den Umschlag ist in einem anderen als der Umschlag, d.h. in einem Seienden, das nicht dasselbe ist wie das, was umschlägt. 4. finden wir den Zusatz ਲ਼ ઞ ਙȜȜȠ: oder (aber) sofern nämlich das, worin der Umschlag hervorgerufen wird, dasselbe Seiende ist wie das hervorrufende, (dann) geschieht das nur so, daß dabei dasIJĮ‫ރ‬IJިȞin einer anderen Hinsicht das Umschlagende ist, in einer anderen das den Umschlag Hervorrufende.« 59

Das ist die Grundbedeutung des dýnamis-Begriffs als Kraft oder Macht, wie er von Homer bis Platon und auch noch bei Aristoteles gebraucht wird: als Vermögen, als »in der Lage sein zu…«, Fähigkeit, Fertigkeit, etwas zu vollbringen, zu bewirken und zugleich offen dafür, Wirkungen, Einflüsse, von einem anderen ausgehende Veränderungen aufzunehmen. Nun geht es Aristoteles aber darum, die Priorität seiner Fassung der Form oder des eidos auf ontologischer Ebene zu entwickeln und in einer Bewegung, die das Wesen aller Dinge in sich aufnimmt, die alte Problematik von Sein und Nicht-Sein auf eine neue Stufe, eine bis dahin noch nicht erreichte Ebene zu heben, auf der die Perspektive einer tatsächlich ontologischen Differenz die aporetische Struktur aufhebt, und eben dafür scheint die gebräuchliche Bedeutung von dýnamis, und damit auch die erste Fassung der dualen Struktur dýnamis-enérgeia aus der Physik noch nicht auszureichen. Bewegung ist das Wirken eines Vermögens auf ein anderes, und in diesem Wirken ist es Umsetzen dessen, wozu es in der Lage ist. Aber genau darin ist mitgesetzt, dass das Vermögen selbst schon real sein muss, dass das Kraft-Haben schon sein muss, um wirken zu können und in seinem Wirken Bewegung zu sein. Als ein Prinzip der kínesis ist dýnamis-enérgeia noch keine Fassung einer Dualität, die die Problematik von Sein und Nicht-Sein überwindet. Bewegung ist mit anderen Worten rein dem Prinzip der Wirklichkeit zuzurechnen, und alle Bewegung ist ein Vollzugsprozess einer realen dýnamis als eines realen Vermögens zu realen Wirkungen und Veränderungen. »Wo immer man diese ›Dynamis‹ mit ›Möglichkeit‹ wiedergeben wollte, würde man den Gedankengang entstellen.«60 – Nämlich jenen Gedankengang, den die Metaphysik einschlägt, um einen Möglichkeitsbegriff zu entwickeln, der noch über jenes Feld der realen Wirkungen und Bewegungen hinausgeht, denn ein Prinzip, wie jenes Wirkvermögen, die ursprüngliche dýnamis, das verändernd auf ein anderes wirkt, kann selbst nicht nur erst möglich, sondern muss schon wirklich, eigentlich wirklicher sein, als jenes.

59 | Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Ĭ 1 – 3; Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, 68. 60 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 23f.

5 Vir tualitäten

»Es ist in einem Wirkzusammenhang gerade der schon verwirklichte, das Mögliche aber der noch ausstehende Teil. Insofern aber ›Vermögen‹ etwas Wirkliches von der Art ist, daß seine Wirklichkeit nicht zugleich die Wirklichkeit dessen ist, wozu es Vermögen ist, daß mit seiner Wirklichkeit also ein anderes noch ausstehendes Wirkliches verbunden ist, bereitet der › Vermögens ‹ begriff den › Möglichkeits‹ gedanken vor.« 61

Und er tut das nicht etwa, indem er sich zu Gunsten dieser noch ungeklärten ontologischen Möglichkeit auflöst oder verflüchtigt, sondern im Gegenteil dadurch, dass dieser Begriff des Vermögens als Kraft und wirken-Können auf die Seite der Wirklichkeit wandert, dass die reale Erscheinung etwas vermag, dass es ihrem Wesen gemäß ist und in ihrem Wesen liegt, dass es zu ihrem eidos, ihrer Form gehört, Kraft zu haben und wirken zu können. »Vermögen [dýnamis] und Wirklichkeit [enérgeia] erstrecken sich weiter [epì pléon] als nur auf das in Bewegung Befindliche«62, sagt Aristoteles zur Einführung in seinen tiefsten ontologischen Gedanken und meint damit, dass die Bewegung selbst als Prozess der Vermögensumsetzung enérgeia ist und der ganze Kosmos als das ewige Werden aller Dinge in noch größerem Rahmen, über diesen Begriff der Bewegung hinaus, gefasst werden muss. Genau an diesem Punkt, nämlich in dem Schritt über die dýnamis kata kínesin – das Vermögen – kehrt Aristoteles zu jener Unterscheidung zurück, die er in der Physik als die ungleiche Dualität der Prinzipien präsentiert hat, zu Stoff und Form, Stoff und Wesen, hýle und ousía 63. Die Form macht das Wesen der realen Erscheinung aus, sie ist die Wirklichkeit des Wirklichen, das Scheinen und der Wirkgrund. Der Stoff ist das Zugrundeliegende, Indifferente, Unbestimmte und in dieser Unbestimmtheit immer in Auflösung begriffen, in der Aufhebung durch die Bestimmung und Formung. Die gesamte Stoff-Form-Dualität ist im Prinzip nur Metapher oder Vorstufe für das ontologische Prinzip, aus dem einfachen Grund, da es den reinen Stoff genauso wenig gibt wie die reine Form; vielmehr ist alles immer schon Form, insofern es ist, aber niemals zur Vollendung gebrachte Form, sondern als in Wirkzusammenhängen stehend auch immer gewisses Potential, nämlich Potential oder Möglichkeit, etwas zu werden, das sie noch nicht ist – und eben das ist der neue Begriff der Möglichkeit: kein reines Nicht-Sein, sondern noch-nicht-Sein, Unbestimmtes, Offenes und absoluter Widerspruch der Stagnation oder Abgeschlossenheit. In diesem neuen Begriff der Möglichkeit ist zum ersten Mal und vom »parmenideisch-platonischen Seinsbegriff her noch unfaßbar – ein Unselbstständiges und unvollständig Bestimmtes konzipiert, das damit doch nicht ganz aus 61 | Ebd. 62 | Aristoteles, Metaphysik Ĭ1, 1046 a1. 63 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik Ĭ6, 1048 b9.

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dem Bereich der Ousia ausgeschlossen ist. Die Ousia selbst ist im Möglichen auf einer Vorstufe des Seins, gleichsam auf dem Wege zu sich selbst. Dieser Weg ist das Werden als Ins-Sein-Kommen [...]«64 Damit vollzieht sich eine Wende bezüglich des dýnamis-Begriffs, die generell für Aristoteles als charakteristisch angesehen werden muss: Er zieht die Möglichkeit in das Einzelding und bestimmt so die ousía, das Wesen, nicht als Abgeschlossenes, sondern als in der Spannung von Wirklichkeit als realer Form und jener noch nicht Form, zu der es noch werden kann, stehend, als perspektivische Existenz einer Erscheinung, die schon ist, und die Sphäre des Seins überhaupt als Offenheit, in der Dinge, die noch nicht sind, noch werden, noch ins Dasein treten können. Dýnamis weitet also seine Bedeutung von Vermögen – als wirken-Können – auf den Horizont aller Erscheinungen aus und bezeichnet das noch nicht Seiende, das sein-Könnende, das mit dem Prinzip der Wirklichkeit selbst ein Spannungsverhältnis, eine differentielle Urfügung konstituiert, ein metaphysisches Konzept, das in jeder und durch jede Existenz nicht verkörpert, sondern das jede Existenz selbst ist. »Dynamis/Energeia betreffen somit nicht mehr nur das Verhältnis vom ›Vermögen‹ zur tatsächlichen ›Wirksamkeit‹ des in seiner Ousia schon konstituierten Seienden, sondern diese Konstitution selbst, also das Verhältnis vom Nichtsein zum Sein dieses Seienden, seine ›Wirklichkeit‹ und dies im Sinn sowohl von ›Verwirklichung‹ als auch von ›Verwirklichtsein‹ eines vorher nur Möglichen. Das ist der mit dem‫݋‬ʌ‫ޥ‬ʌȜ‫ޢ‬ȠȞangedeutete weitere Bereich, in den sich Dynamis/Energeia über den kinetischen hinaus erstreckt.« 65

Das ist das erste Auftreten des philosophischen Möglichkeitsgedankens und die Stufe, auf der Aristoteles in einer differentiellen Struktur die Schwierigkeiten seiner Vorgänger überwindet. Zusätzlich gilt es aber an dieser Stelle auf etwas aufmerksam zu machen bzw. etwas in Erinnerung zu rufen, das unter dem Glanz und der Ekstase einer neu gefundenen Weltformel in Vergessenheit zu geraten droht. Es ist wieder eine Frage von Prinzipien und Anfangsgründen, allerdings im Sinne eines perspektivischen Differenzverhältnisses oder einer Analogie: Jedes individuelle Seiende, jedes Ding, jede Erscheinung, jede Pflanze, jedes Tier, jeder Gebrauchsgegenstand wird – eben unter dem Aspekt einer individuellen Existenz – seine ebenso eigenen Gründe der Entstehung, seine Weise des in die Anwesenheit Kommens, sein eigenes Dasein und seine eigene Geschichte haben – meine Geschichte, meine Entwicklung und Entstehungsweise wird sich in verschiedenen Punkten von allen anderen unterscheiden, hier mehr, dort weniger.»Die Ursachen und Prinzipien«, sagt Aristoteles im zwölften Buch der 64 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 30. 65 | Ebd. 30.

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Metaphysik, »sind in einem Sinne bei Verschiedenem verschieden, in anderem Sinne dagegen, wenn man nämlich im Allgemeinen und der Analogie nach von ihnen spricht, bei allen dieselben.«66 Dieselben sind es eben in jener Hinsicht, wie sie schon in der Physik als Grundzug und Prinzipien aller von der phýsis her Seienden entwickelt wurden, als die drei Prinzipien oder prinzipiellen Perspektiven: »die Form [eidos], die Formberaubung [stéresis] und der Stoff [hýle].«67 Darin liegt aber nur eine Weise, eine mögliche Form der Benennung der Prinzipien als Seinsweisen überhaupt, denn auch sie lassen sich in ein anderes Verhältnis, eine analoge Relation bringen und das ist eben der Bezug von dýnamis und enérgeia, wie ihn das neunte Buch der Metaphysik entwickelt: als Möglichkeit und Wirklichkeit. Wenn man alles – allgemein gefasst – entweder mit Blick auf hýle oder eidos oder stéresis betrachten kann, hinsichtlich des Stoffes, der Form oder eines Mangels der Form, dann ist dies in anderer Perspektive oder in analogem Verhältnis die Betrachtung desselben Gegenstandes entweder als dýnamis – das, was er der Möglichkeit nach ist oder noch werden kann – oder als enérgeia, als das, was er wirklich ist, als der er Wirklichkeit ist; und diese Wirklichkeit als enérgeia entspricht eben der Form, dem eidos, dem Wesen. »Der Wirklichkeit nach [energeía] ist nämlich die Form [...]. Dem Vermögen nach [dynámei] aber ist der Stoff [hýle]. [...] Die ersten Prinzipien also von allen Dingen sind dasjenige, was der Wirklichkeit nach ein erstes, bestimmtes Etwas ist, und ein anderes, welches es der Möglichkeit nach ist.«68 Das Verhältnis hýle-eidos, Stoff-Form, als die erste basale Dualität der aristotelischen Philosophie, ist analog zu dýnamis-enérgeia, Möglichkeit – Wirklichkeit zu sehen, und der Stoff ist eben das, was ein Gegenstand der Möglichkeit nach ist, die Form aber immer das Moment der Wirklichkeit, die Realität eines jeden Seienden – nicht als begriffliche Allgemeinheit oder Idee, sondern als individuelles eidos, als Erscheinung. Das Stoffprinzip wandert von der Grundbestimmung alles Seienden in die Sphäre einer reinen Möglichkeit, einer inneren Möglichkeit des Werdens, die jeder Form innewohnt, wird zu einem ontologischen noch-Nicht, zu einem Riss der absoluten Präsenz und eröffnet so den Raum des Werdens, spaltet die Einheit des Seins in eine Dualität, eine Spannung, eine Differenz.

66 | Aristoteles, Metaphysikȁ4, 1070 a31 - 33. 67 | Ebd. 1070 b18f. 68 | Ebd. 1071 a8ff.

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6 Ö FFNUNGEN Die Perversion, die sich hier in der aristotelischen Metaphysik entwickelt, ist eine doppelte: Das Stoffprinzip der Naturphilosophen wird zu einem philosophischen Begriff der Möglichkeit, strenggenommen zu einem Nicht-Sein, zu einer Indifferenz, die als eine Weise oder eine Perspektive jeder Existenz zu gelten hat. Insofern etwas substanziell noch nicht ist, besteht die Möglichkeit, dass es (unter Umständen) wird, und insofern etwas ist, trägt es in sich die Möglichkeit der Veränderung, Entwicklung, generell die Möglichkeit des Werdens – Prinzip relativer Genesis. Es gibt überhaupt keinen Stoff, sondern immer nur reale Formen, die in ihrer Wirklichkeit zugleich auch Möglichkeit, die beweglich und flexibel, veränderbar sind – Stoff als Realität ist eine Illusion, ist rein die Perspektive der Nicht-Abgeschlossenheit oder die Seinsweise, der Aspekt der Transformation oder Offenheit – dektikón69 – die Öffnung des Raumes der Formen hin auf ihre Beziehungen und den Wandel der Bezugnahmen. Die Form, das Formprinzip ist die Wirklichkeit, die enérgeia, Energie als die Kraft der Existenz, als die innere Kraft jeder Erscheinung, die eben ihr Wirken ist – Wirken als Dasein und Offenbarung jener einen Stimme, der »einzigen Stimme« 70 des Seins – einerseits die Umkehrung des Stoffprinzips in einen philosophischen Möglichkeitsbegriff, andererseits die Perversion der Idee als individuelles eidos und beides zusammengenommen als die Sphäre des Geschehens überhaupt, die einen Begriff der Differenz umspinnt, die einen Riss in die absolute Präsenz verfügt und sich als perpetuum mobile oder als Wiederholung des gleichen Differenzverhältnisses offenbart – als perspektivische Schizophrenie von dýnamis und enérgeia. Aristoteles braucht den alten Begriff der dýnamis für seine Überwindung der Sein/Nicht-Sein Problematik, er braucht die hýle-Konzeption der Physiker und die platonischen Ideen, braucht die widersprüchlichen Ansichten und nimmt alles in einer Bewegung zusammen, die selbst die Entwicklung seines Werkes ist. Er lässt in immer wieder neu gesponnenen Zusammenhängen eine Welt der realen Formen entstehen, die für sich Wesen und an sich Wirklichkeit sind in ihrer Bewegung auf dem Netz des Werdens, gespannt im differentiellen Verhältnis seiner neu gefundenen Dualität.

69 | Vgl. Aristoteles, Über Werden und Vergehen, 320 a2ff: »Stoff ist besonders und hauptsächlich das Gegebene als Träger von Werden und Vergehen, in gewissem Sinne auch das, was den anderen Wandlungen zugrunde liegt, weil alles Gegebene aufnahmefähig [offen] für Gegensätze ist.« 70 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 58.

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Das ist der erste Anlauf, ein erster Versuch, dem Werden den Charakter des Seins aufzuprägen 71, Abschied vom Materieprinzip zu Gunsten eines Möglichkeitsbegriffs und das Bild einer Welt, die nicht starr gebunden vorliegt als das ewig Eine, die auch nicht schwebt – gekettet an die transzendenten Fäden des ewig Einen –, sondern die ist als alles Wirkliche in ihr und als das Mögliche, das alles Wirkliche zugleich ist, die alles ist, »was der Fall ist, und auch alles, was der Fall sein kann.« 72 Der dýnamis-Begriff wird von Aristoteles nicht nur transformiert und in einen neuen Bedeutungshorizont eingetragen, sondern wird darüber hinaus – und vielleicht noch entscheidender – gespalten und aufgeteilt. Die alte Vermögensvorstellung weicht nicht dem neuen Möglichkeitsverständnis, sondern fügt sich in das Konzept des Wirklichen, in den Grund der enérgeia ein. Wirken auf ein anderes oder auf sich selbst, insofern es ein anderes ist, ist Ausdruck und Wesen der enérgeia, ist – wie der Name sagt – Wirklichkeit und Wirkgrund für die Umsetzung eines der Möglichkeit nach Seienden in die Realität und in gewisser Weise negativ gegen die reine Möglichkeit, differenzierendes Moment, das gegen das Indifferente wirkt. Die alte dýnamis ist die Kraft, die auf die neue dýnamis wirkt und so die reine Möglichkeit aufhebt in das Anwesen des Daseins – als Bewegung, die zugleich entweder absolute Genesis eines noch nicht Seienden oder relative Genesis an einem Seienden in seiner Veränderung, seiner Transformation ist. »Ist Kinesis im engeren Sinne auch nur Übergang von einer Phase des schon Seienden zu einer anderen, so ist die folgende neue Phase als solche doch gerade auch das, was die vorangehende, aus der sie herkommt und deren Seinsbestand sie mitenthält, noch nicht ist. Ist das sich ändernde Seiende als solches auch schon im Sein, so kommt doch in jeder Veränderung etwas an ihm ins Sein. Unter dieser Rücksicht ist aber jede Kinesis zugleich relative Genesis und das, an dem sie sich vollzieht, ist unter eben dieser Rücksicht nicht nur ein țȚȞİIJިȞ, sondern auch ein įȣȞ੺ȝİȚ ੕Ȟ, mag es immer seinem wesentlichen Wassein und anderen Akzidentien nach schon ਥȞİȡȖİަĮsein. So ist die neue Dynamis keineswegs auf die absolute Genesis einzuschränken, sie betrifft ebensosehr die Kinesis als relative Genesis, bei beiden aber – und das ist das Entscheidende – bezeichnet sie nicht mehr das Prinzip, sondern nur noch das Substrat der Veränderung, ist nicht mehr ܻȡȤ‫ޣ‬ȝİIJĮȕȠȜ߱Ȣ‫݋‬ȞܿȜȜ࠙, sondernਫ਼ʌȠțİȓȝİȞȠȞįİțIJȚȚțંȞ« 73

Das hypokeímenon dektikón ist nichts anderes als die allem Werden zugrunde liegende Offenheit, die Aufnahmebereitschaft als Möglichkeit für Verände-

71 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 7 [54], KSA 12, 312. 72 | Anton Zeilinger, Einsteins Schleier, 230. 73 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 34.

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rung und Bestimmung. Das Erz 74 liegt der Form nach als Klumpen vor und ist real eben als dieser Klumpen, ist Wirklichkeit, die aber zugleich als dynámei ón offen ist für Veränderung. Diese Realität ist als Möglichkeit ebenso Statue oder Axt oder Schwert, also wirklich in der Form, in der sie in Erscheinung tritt, aber auch Möglichkeit in der Unbestimmtheit dessen, zu dem sie werden kann, durch Bewegung, durch ein Vermögen, das von außen, als ein anderes an ihr wirkt und sie in eine neue Form, zu einer neuen Wirklichkeit bringt. Die innere Dualität eines jeden Seienden ist die Spannung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Die Offenheit präsentiert sich als jenes Moment der Unbestimmtheit jeder Existenz, die sie nicht in eine Abgeschlossenheit verfügt, sondern in einen Bezug der Möglichkeit, zu etwas anderem zu werden. Es geschieht Veränderung, insofern sie bestimmt wird, geformt wird zu etwas anderem, indem sich an ihr eine relative Genesis vollzieht als Werden einer neuen Form, die selbst nicht eine letzte, äußerste, absolute Form sein kann. Durch das immanente Prinzip oder die Seinsweise der Möglichkeit, die jedem Seienden innewohnt, ist die Form als Wirklichkeit selbst nicht rein und durchbestimmt, sondern immer schon gespalten und aufgespalten in diesen Prozess, nicht bloß als Form, sondern immer als in-Formation-Sein. In dieser Sphäre der Information liegt auch ein Kontinuum der Veränderung sowohl von Möglichkeit als auch von Vermögen. Jedes noch-nicht-Sein eines Bestimmten wird in der Bestimmung ausgelöscht, die mögliche Bestimmung »Axt« wird im Werden der Axt aus dem Erzklumpen aufgehoben in den Horizont der Wirklichkeit und damit zugleich ein neuer Raum an Möglichkeiten erschlossen, als Möglichkeiten, die nun der neuen Form immanent sind, die aber zugleich, als neue Form oder neue Wirklichkeit, neues Vermögen als wirken-Können in sich trägt. Das, was sie werden kann, ist sie als hýle – ist sie der Möglichkeit nach: offen, etwas zu werden, das sie noch nicht ist. Das, was sie kann, ist sie der Wirklichkeit nach als Vermögen oder Kraft, zu wirken. Die Dualität von dýnamis und enérgeia ist in diesem Sinne nicht nur eine Differenz von möglich-Sein und wirklich-Sein, die jeder individuellen Existenz innewohnt, sondern zugleich und vor allem die Differenz von möglich-Sein und wirken-Können. Darin liegt vielleicht die wichtigste Konsequenz der Neuinterpretation des dýnamis-Begriffs durch Aristoteles: Die alte dýnamis-Vorstellung wird keineswegs aufgehoben. Vielmehr rückt sie durch Aristoteles in die Sphäre der Wirklichkeit, wird dem Wesen der enérgeia immanent und macht sie essentiell aus. Alles, was der Möglichkeit nach, tatsächlich also noch nicht ist, hebt im wirklich-Werden die reine Möglichkeit auf durch das Vermögen, sich als das zu präsentieren und als das zu wirken, was es nun ist. Das Vermögen ist die innere Struktur der Wirklichkeit als Kraft im weitesten Sinne, die aus sich heraus und als sie selbst real ist in ihrer Aktivität – sie ist 74 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik =8, 1033 a24ff.

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der Seinsweise der enérgeia nach Aktivität und Potential der Aktivität, das sich in seinem Wirken zu steigern in der Lage ist, das auf anderes wirken kann und in diesem Wirken sich selbst permanent neu setzt, sich selbst als Vermögen umsetzt und verwirklicht. Dass Aristoteles niemals einen distinkten Unterschied in den Begriff der dýnamis selbst einführt, dass er dýnamis als Kraft neben der dýnamis als Möglichkeit immer bestehen lässt, liegt darin begründet, dass das der Wirklichkeit nach Seiende immer dýnamis ist als Vermögen, als Können, als Kraft, dass es selbst Kraft ist, und in diesem kräftig-Sein ist es zugleich auch dýnamei ón, der Möglichkeit nach Seiendes, weil es dies eben noch nicht ist, aber sein kann. Das Werden dieses noch nicht Seienden ist die Aufhebung der dýnamis als Möglichkeit in die dýnamis als Vermögen, als Wirklichkeit, die wiederum der Möglichkeit nach etwas anderes ist. Im Vollzug eines Vermögens setzt sich die Existenz als das, was sie ist, in die Wirklichkeit. Sie wirkt und sie bewirkt etwas, das möglich ist seiner inneren Struktur nach. Im Schaffen der Statue setzt der Künstler sein Vermögen um und verliert es dabei keineswegs, vielmehr ist er überhaupt Künstler durch und als dieses Vermögen – er schafft die Statue aus der so und so beschaffenen Form des Steines, der der Möglichkeit nach diese eine Statue ist, aber eben noch nicht wirklich. So vollzieht sich in diesem Prozess nicht nur eine doppelte, sondern eine vierfache Transformation, insofern der Künstler sein Vermögen umsetzt, der Stein aus seiner alten Form zu neuer Form gelangt, aber der Künstler ebenso zu jenem Menschen wird, der vorher nur der Möglichkeit nach der war, der genau diese Statue schafft, die er geschaffen hat und so gewissermaßen auch eine Aufhebung der Möglichkeit vollzieht – durch das Werk – und der Stein als Statue hat anderes Vermögen zu wirken, als zuvor. Jeder Vollzug eines Vermögens, jede Umsetzung einer Kraft ist also nicht reines Wirken an einem anderen und Veränderung eines anderen, sondern macht den Wirkenden selbst zu etwas anderem – nicht im Sinne der Aufhebung des Vermögens, sondern im Sinne der Aufhebung der Möglichkeit, derjenige zu werden, der das und das gemacht hat, und eben darin sind dýnamis als innere Möglichkeit und dýnamis als Vermögen so eng verwoben, dass eine begriffliche Aufspaltung den Wesenszusammenhang entstellen würde. Die Doppeldeutigkeit der dýnamis entfaltet sich im Wirken der enérgeia, die im Umsetzen ihrer Vermögen immer wieder Möglichkeiten auslöscht und damit neue Möglichkeiten schafft, die neue Horizonte erreicht sowie auf jeder Stufe neues Potential eröffnet. Es ist gar nicht mehr nötig, eine strikte Trennung zwischen phýsis und techné, wie sie noch aus der Physik bekannt ist 75, in diese Struktur einfließen zu lassen. Die Spannung von dýnamis und enérgeia in dieser neuen Fassung ist der Wirkzusammenhang des Seins selbst, in dem jedes Noch-Nicht als dýnamei ón und jeder noch nicht in die Anwesenheit der 75 | Vgl. z.B. Aristoteles, Physik ȕ 2, 194 a21f; E 8, 199 a15ff.

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Erscheinung getretene Zug an einer realen Existenz als Möglichkeit begriffen wird. Der Prozess all dieser Wirkzusammenhänge erscheint als Fluxus permanent aufeinander wirkender, in Formung stehender Kräfte; insofern dýnamis als Kraft auf dýnamis als Möglichkeit wirkt, wirkt eines auf ein anderes und das gesamte Feld der Wirkzusammenhänge, das die Welt ist, erscheint als ewiges Spiel des Ineinandergreifens von aktiver und passiver dýnamis, als Werden der Wirklichkeit und Wirklichkeit des Werdens – als dynamischer Prozess. »Indem in der Kinesis das țȚȞȘIJȚțંȞ, die aktive dynamis des Bewegenkönnens, zu einem țȚȞȠ૨Ȟ, dem tatsächlich Bewegenden, wird, ebendadurch wird das țȚȞȘIJંȞ, die passive Dynamis des Bewegtwerdenkönnens, zum țȚȞȠ઄ȝİȞȠȞ, dem tatsächlich Bewegten. Der Bewegungsvorgang, als solcher eine Einheit, ist also zugleich auch immer schon die Dualität des Bewegens und Bewegtwerdens. Wirkt sich in gewissem Sinne dabei eine einzige Dynamis aus, ist sie unter anderer Rücksicht immer schon gespalten in eine passive im kineton und eine aktive im kinetikon, die aufeinander bezogen sind und die beide in derselben Kinesis zu ihrer Energeia kommen.« 76

Dieses Prinzip der Wechselwirkung ist womöglich das wichtigste der aristotelischen Philosophie oder zumindest jener Punkt, der im Lichte der Interpretation der Wirklichkeit als Spiel der Formen oder Information an oberster Stelle steht. Tatsächlich geht es um ein Ineinander von Form und Sinn, denn alle Erscheinungen der Welt treten in diese Offenheit des Scheinens und Wirkens als Formen und nicht als absolute Genesis eines Nicht-Seienden zu einem unveränderlich Feststehenden. Sie sind verfügt in einen differentiellen Prozess des Werdens, der alle Bewegungen und Bezüge in sich schließt und – vor allem – nicht umschließt als ein von außen umfassender Mantel einer ewigen Transzendenz, sondern als inneres Prinzip, als Anfangs- und Urgrund, der sich selbst einschließt in jeder individuellen Existenz, in jedem Einzelnen. Wir sehen eine arché, die spricht als der lógos der phýsis, die nunmehr tatsächlich alle Dinge durchwaltet in der Bewegung von dýnamis und enérgeia, die jedem Ding als Wirklichkeit auch aktive dýnamis zuspricht, insofern es als Wirklichkeit jeglicher »Provenienz« auch immer wirken kann. Der Künstler schafft sein Werk, er realisiert sich selbst als Künstler in seinem Werk und wirkt an den Formen, die er umformt zu seinem Werk. In diesem Prozess wirkt das Werk in jedem Zustand seiner Genesis auf den Künstler, als die Idee, die er davon hat, als der Zustand, in dem es gerade ist, auch als die Form, die es einmal war, und es ist bei weitem nicht rein aktive dýnamis des einen, die sich an der Passivität oder dem nicht-Sein des anderen auswirkt und verwirklicht. 76 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 47f.

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Das ist der Prozess, der als Wirkungsprozess auch immer und vor allem Informationsprozess sein muss, denn es gibt keine einseitige Wirkung und keine transeunte Bewegung, die nur eine Richtung kennt – vielmehr handelt es sich um ein Spiel wirklicher Kräfte, wie Nietzsche später den Grund des Werdens und die Welt selbst interpretieren wird 77, und das Spiel der Formen als Wirken von Formen aufeinander ist tatsächlich ein Spiel der Information und Interpretation, denn alles Wirkliche wirkt aufeinander, indem gegenseitige Veränderung passiert, in den unzähligen Akten der gegenseitigen Formung.

77 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 38 [12], KSA 11, 610: »Und wißt ihr auch, was mir ›die Welt‹ ist? Soll ich sie euch in meinem Spiegel zeigen? Diese Welt: ein Ungeheuer von Kraft, ohne Anfang, ohne Ende, eine feste, eherne Größe von Kraft, welche nicht größer, nicht kleiner wird, die sich nicht verbraucht sondern nur verwandelt […], nichts Unendlich-Ausgedehntes, sondern als bestimmte Kraft einem bestimmten Raum eingelegt, und nicht einem Raume, der irgendwo ›leer‹ wäre, vielmehr als Kraft überall, als Spiel von Kräften und Kraftwellen […].«

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Wirklichkeiten 1 B ESTREBUNGEN Aristoteles ringt mit dem Begriff der dýnamis vor allem deshalb, weil er einerseits das aktive Moment aller Bewegung nicht auslöschen, andererseits aber das Werden aus der essentiellen Spaltung von Sein und Nicht-Sein erklären will und erklären muss. Die einzige Möglichkeit, den Rückfall in die Zweiweltenspaltung, wie sie von Parmenides und Platon vollzogen wurde, zu vermeiden, ist die Spaltung des dýnamis-Begriffs selbst: nämlich in eine aktive und eine passive dýnamis, die diesen Riss in der Bewegung des Werdens zusammenschließen und damit Sein und Nicht-Sein in einen Horizont von Möglichkeit und Wirklichkeit vereinen. Darin muss das Wirkliche, die enérgeia, immer Vorrang haben, denn das Wirkliche schließt die Möglichkeit in sich – nicht umgekehrt. Das Wirkliche ist notwendig, und es ist dann wirklich, wenn es wirkt, insofern es Möglichkeiten realisiert im Umsetzen der eigenen Vermögen (die das Wirkliche sind). Jedem Nicht-Seienden muss ein Seiendes vorausgehen, insofern das Seiende die Möglichkeit hat, das noch-nicht-Seiende hervorzubringen. So ist es undenkbar, dass irgendwann einmal nichts gewesen wäre, denn – und hier trifft die parmenideische These doch wieder – aus absolut nichts kann auch nichts werden1. Also muss immer schon Energie als enérgeia, als Wirklichkeit und Form bgewesen sein, und der Prozess der Formation der enérgeia ist ein ewiger. Alles Seiende hat durchaus immanentes, inneres Potential, hat durchaus Aktivität, denn diese aktive dýnamis, als Vermögen zu wirken, macht die Wirklichkeit aus. Die Wirklichkeit jedes Einzelnen ist tatsächlich Wirkung, und das ist die Aufgabe, die sich Aristoteles selbst gesetzt hat: jeder Erscheinung ihr Potential zu geben und zurückzugeben. Er macht nicht Halt bei der Natur, sondern findet über die Dinge, die sich von Natur, von der phýsis her zeigen, den Weg zu seiner grundlegenden Interpretation der Wirklichkeit. Die Dinge stehen in Beziehung zueinander, insofern sie als Formen erscheinen. In ihrer Beziehung ist immer das Moment der Bewegung von dýna1 | Vgl. DK 28 B 6 – 8, in: Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker I, 317ff.

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mis und enérgeia. Diese Bewegung ist eine gegenseitige Bewegung, gegenseitige Interpretation in der Offenbarung des je Einzelnen, des Individuellen in das Gefüge der Beziehung – Form und Formung gemäß dem lógos. »ȁިȖȠȢ: die Beziehung, das Verhältnis. Das Verhältnis ist das, was die darin Stehenden zusammenhält. Die Einheit dieses Zusammen beherrscht und regelt die Beziehung der sich Verhaltenden. ȁંȖȠȢ ist daher Regel, Gesetz, und zwar nicht als über dem Geregelten irgendwo schwebend, sondern als das, was das Verhältnis selbst ist: die innere Fügung und Fuge des in Beziehung stehenden Seienden. ȁંȖȠȢ ist das regelnde Gefüge, die Sammlung des unter sich Bezogenen.« 2

Diesem lógos gemäß ist die Form das Wesen alles Wirklichen, und sie ist dieses Wesen eben als Beziehung und Bezugnahme; das Bezugnehmen ist die innere Fügung jeder Form, jede Beziehung ist Wirklichkeit als das enérgeia-Werden, als Umsetzung von Vermögen und Auslöschen von Möglichkeit durch die Transformation in die Wirklichkeit. Die Dualität des dýnamis-Begriffs zieht nicht nur die ontologische Spaltung von Sein und Nicht-Sein in die eine Welt des Werdens zusammen, sondern bringt darüber hinaus in diesem Sein, das ein Werden ist, die Wirkung und Wirklichkeit der aktiven dýnamis mit der Passivität als Offenheit zusammen, die im Einzelnen das »verändert-werden-Können« als »zu-einem-anderen-werden-Können« meint, im Großen aber den Riss in die absolute Sphäre der Präsenz zieht und damit im Doppelbegriff von dýnamis-enérgeia einen Begriff der Differenz zumindest vorbereitet. Die Kritik an Aristoteles, er habe Aktivität nicht als Innerlichkeit, als ein von-innen-Heraus begreifen können3, ist nur bedingt richtig und nur dann berechtigt, wenn man alles Werden mit der dýnamis kàta kínesin gleichsetzt, als aktiver Veränderung an anderem. Aber eben im »epì pléon« 4, indem über den gängigen Begriff der dýnamis hinausgegangen wird, manifestiert sich nicht allein der völlig neue Gedanke der Möglichkeit, sondern ändert sich eben auch die aktive dýnamis, die zu einer Immanenz der enérgeia wird, die im so und so Seienden wirklich ist und die auch nicht ihre Wirklichkeit verliert, die sich nicht aufgibt und auflöst in eine neue Wirklichkeit. Die dýnamis als Vermögen – und das ist innere Kraft – erlischt nicht in ihrer Umsetzung, sondern sie hebt Möglichkeiten an einem anderen und auch an sich selbst auf, in dem sie Möglichkeiten realisiert: Ich schaffe etwas und 2 | Martin Heidegger, Aristoteles, Metaphysik Ĭ 1 – 3; Von Wesen und Wirklichkeit der Kraft, 121. 3 | Vgl. Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 9. 4 | Vgl. Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 28ff.

1 Bestrebungen

schaffe etwas durch mein Vermögen, etwas zu schaffen – setze dieses Vermögen um und lasse etwas entstehen, das zwar der Möglichkeit nach, nicht aber schon der Wirklichkeit nach da war, und indem ich etwas schaffe, dieses Buch, dieses Bild, dieses Kunstwerk, setze ich etwas in den Horizont, in die Sphäre der Wirklichkeit, das selbst aktive dýnamis ist bzw. wird, indem es wirken kann, auf andere und auf mich selbst. Es wirkt auf mich, indem ich es schaffe, wirkt schon auf mich, bevor ich noch begonnen habe, es anzufertigen, wirkt in jeder Sekunde meiner Tätigkeit, selbst wenn ich nicht im Prozess der Arbeit bin, und ich wirke ständig, indem ich neue Möglichkeiten umsetze und diese Möglichkeiten aus dem noch-Nicht in das Da setze. Dieser Prozess ist immer Prozess der gegenseitigen Beeinflussung als gegenseitiger Information, indem sich alles permanent in neue Form setzt, durch Erfahrungen, sowohl durch Neues wie Gewohntes. Insofern der Wirkzusammenhang immer ein Gegeneinander – eben Bezug – ist, ist jede Entität immer Realität als tatsächlich Seiendes, und Offenheit – aktiv und passiv. »[M]it dieser Möglichkeit ist die ontologische Unruhe, die im Sein des Seienden waltet, so wenig aufgehoben, daß sie im ȜંȖȠȢ erst deutlich zu Tage tritt. Jedes Seiende ist charakterisiert durch ein eigentümliches Aufgehen (Sichaufschließen) und ein gleichzeitiges Sichzurückstellen auf sich selbst (Sichverschließen).« 5

Aristoteles macht auf dieses Ineinandergreifen der zwei Bedeutungen niemals explizit aufmerksam, lässt es aber verborgen immer mitklingen. Er führt keinen eigenen Begriff für seine neue ontologische Möglichkeit ein, eben weil es ihm darum geht, über die konventionelle Bedeutung des dýnamis-Begriffs hinauszugehen, und die Konvention besagt, dass dýnamis katà kínesin – Kraftwirkung – Veränderung in einem anderen, oder in demselben, aber als einem anderen ist. »1) ›Vermögen‹ ist gerade das, was aus sich heraus zu dem übergehen kann, was es ›vermag‹. 2) Die Veränderung, die es hervorruft, wenn es ins Wirken gerät, liegt ›in einem anderen‹ [oder eben in sich selbst als anderem, nämlich als dynámei ón – Möglichkeit]. Dagegen ist ›Möglichkeit‹ gerade das, was 1) aus sich heraus nicht in die Wirklichkeit dessen übergehen kann, dessen Möglichkeit es ist. Es müsste ja, um diesen Übergang zu bewerkstelligen, wirken können und damit wirklich sein vor seiner Verwirklichung. 2) Die sich bei der Verwirklichung von ›Möglichkeit‹ vollziehende Veränderung ist nicht wie dem durch das Wirken eines ›Vermögens‹ Bewirkten ›in einem anderen‹, sondern ist Veränderung ihrer selbst durch die Aufhebung in die entsprechende Wirklichkeit. Ein

5 | Paola-Ludovika Coriando, Individuation und Einzelsein – Nietzsche-Leibniz-Aristoteles, 266.

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›Vermögen‹ braucht durch seine Wirkung nicht aufgehoben zu werden, sondern kann sich für immer neues Wirken durchhalten.« 6

Ich bin ich selbst – nicht in einer Abgeschlossenheit für mich, sondern in der permanenten Formation an und in mir, bin in mir Information als ständige Organisation und Reorganisation und in dieser Organisation bin ich Information als Wirkung, auf mich selbst und auf andere, ständig beeinflusst und ständig beeinflussend, ständig aktive und passive dýnamis im Werden der enérgeia, die Form als Wirklichkeit und Wirklichkeit in Formation ist. Die Einheit des Individuellen ist zwar eine Grenze, aber keine absolute, keine hermetische, sondern viel eher die Organisation eines komplexen Systems. »Komplexe Systeme – sowohl chaotische als auch geordnete – sind letzten Endes nicht analysierbar, nicht auf Teile reduzierbar, weil die Teile durch Iteration und Rückkoppelung ständig aufeinander zurückwirken.[…] Jedes komplexe System ist ein sich wandelnder Teil eines noch größeren Ganzen, eine Verschachtelung von immer größeren Ganzen, die schließlich auf das allerkomplexeste aller dynamischen Systeme hinführen, das System, das schließlich alles umfaßt, was wir unter Ordnung und Chaos verstehen – das Universum selbst.« 7

Es handelt sich um systematische Organisation als Einheit-werden, als Individuation und gleichzeitig als permanente Veränderung, Offenheit. Das Gesetz des lógos ist nicht das Gesetz der Einheit, das von außen eine transzendente Verfügung in die Welt haucht, denn der lógos spricht aus jedem einzelnen Seienden als diese Existenz selbst – er ist die eine Stimme der Differenz, das Verhältnis oder die Fügung in die Bezugsstruktur, die nur auf einem Boden von Differenzen – eigentlich aus der Fuge 8 – und niemals in einem Raum einzelner Abgeschlossenheiten Statt haben kann. Offensichtlich liegen also in der dýnamis-enérgeia-Lehre – oder vorsichtiger: gemäß einer bestimmten Interpretation dieser archaischen Ontologie – die Grundzüge eines Weges der Immanenz und Verinnerlichung der grundlegenden Prinzipien, wie sie später vor allem bei Leibniz und Nietzsche vollzogen werden, begründet oder vorbereitet. Die Kritik an Aristoteles, die aus dieser Perspektive des Innenlebens erfolgt, erscheint eben mit Blick auf seine Anstrengungen in der Transformation seiner Terminologie nicht haltbar oder überflüssig. Günter Abel bemerkt im Versuch einer Abgrenzung der aristo-

6 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 24f. 7 | John Briggs/David F. Peat, Die Entdeckung des Chaos, 221. 8 | Vgl. zu den Begriffen Fuge und Fügung z.B. Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, 354ff, oder Jacques Derrida, Marx ’ Gespenster, 15ff.

1 Bestrebungen

telischen Bewegungslehre gegen Nietzsches alles Geschehen durchwaltende Willen-zur-Macht-Prozesse: »[Es] ist mit Blick auf Leibniz und später auf Nietzsche herauszustellen, daß Wirken und Erleiden [aktive und passive dýnamis] für Aristoteles zwar die beiden Seiten der einen Bewegung ausmachen, daß dies aber noch keineswegs bedeutet, daß den Dingen ein Streben (hormé) innewohnt, sich selbst auf eine bestimmte Weise und in einer bestimmten Richtung zu bewegen und in solchem Zustande zu erhalten. Eine solche Immanentisierung ist bei Aristoteles noch nicht erreicht. Wäre das der Fall, dann müßte gerade auch die Lehre vom ersten Bewegenden verändert werden, ja sie erwiese sich in weiten Teilen als überflüssig. Das Äußerste, zu dem Aristoteles hier vorgeht, ist dies, die Möglichkeit, bewegt zu werden, Bewegung im eher passivischen Sinn zu erleiden, als eine Fähigkeit in den Dingen selbst anzusehen.« 9

Aber es ist genau dieser Punkt, der hier den Grund der Kritik oder Abgrenzung ausmacht, den Aristoteles selbst immer wieder überarbeitet und neu zu fassen sucht, indem er seine Wende vollzieht und die Verinnerlichung des aktiven Moments durchführt, durch die neue Dualität von dýnamis und enérgeia in der Metaphysik. Die aktive dýnamis ist die Kraft, die vom inneren Grund des Subjekts, der singulären Existenz, wirkt und als diese selbst Wirklichkeit, enérgeia ist. Das Streben ist nichts anderes als das Streben nach Wirklichkeit, ist weniger Erhaltungs-, sondern viel eher Steigerungsbedürfnis, nämlich Steigerung der Wirkkraft oder des Grades der Wirklichkeit – der Macht als wirken Können. Der aristotelische Neologismus der entelécheia10 bezieht sich unter diesem Blickwinkel weniger auf eine moralische Teleologie, sondern viel eher auf die innere Verwobenheit von Wirklichkeit als enérgeia und der Innerlichkeit des télos, das eben auf enérgeia, Wirkung und Form, gerichtet ist. Entelécheia und enérgeia sind synonym gebraucht und meinen nichts anderes als die Wirklichkeit, die nach Wirkung strebt, die sich in dem Horizont des Seins und sein Könnens präsentiert, die sich in diese Sphäre der Wirkungen setzen will. Insofern das »Ziel-in-sich-haben« (en-tél-échein) und das »im-Werk-sein« (en-érgo-einai) das gleiche meinen, bedeutet das, dass alles Seiende, insofern es ist, ein inneres Streben hat und dieses Streben sich nach Wirklichkeit und Wirksamkeit, nach dem Bezugskontext und den Wirkungszusammenhängen sehnt, die die Wirklichkeit sind. Es will – mit anderen Worten – Form, und diese Form im aristotelischen Sinn ist immer in Formation, insofern jedem eidos eine dýnamis als Möglichkeit innewohnt und jede Form

9 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 12. 10 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik Ĭ 8, 1050 a23.

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eine dýnamis als Vermögen, als viele Vermögen ist, deren Vollzug das Moment des Wirkens als Wirklichkeit ausmacht. Das Leben selbst ist nichts anderes als Informationsprozess, ist ständiges Wirken von Formen aufeinander, ist permanentes Hervorbringen und Modifizieren von Formen, und jede Form als Erscheinung, als ousía, als singuläres Dasein, ist selbst ein Prozess von unzähligen Informationen als Interpretationen, ist ein Interpretationszirkel, physio-logischer, »geschehens-logischer Interpretations-Zirkel«11, in dem immer etwas auf etwas anderes wirkt, in dem Auf bau und Zerfall, in dem Kreisläufe tätig sind, in dem Zellen und Substanzen, Atome aufeinander wirken, die nicht letzte Materie und unbestimmtes Etwas sein können, sondern alle eine besondere und singuläre Form haben, die überhaupt nur wirksam sein können, indem sie Form sind und veränderbar nur insofern, als sie sich gegenseitig unter der Perspektive der hýle, der Möglichkeit, interpretieren können, die sie immer auch selbst sind. Es gibt durchaus Innerlichkeit bei Aristoteles und das keineswegs in nur beiläufigem oder andeutendem Sinn, sondern die ganze Bewegung der aristotelischen Philosophie hat sich ihren Weg vorgezeichnet als einen Prozess der Verinnerlichung, der ansetzt mit der Physik und in dem großen Wurf des Sturzes der platonischen Formen in die Einzelwesen und der Prioritätssetzung der singulären Form überhaupt im Kontext der kínesis, die alles Leben durchwächst, am Leben erhält, die phýsis ist, und geht weiter über die Transformation der alten Stoffursache als Perspektive elementarer Bestandteile der Welt in einen philosophischen Begriff der Möglichkeit, die eine Seinsweise jeder Existenz konstituiert, eine Weise, nach der sich alles verändern und zu etwas werden kann, das es noch nicht ist, die einen Riss durch die Vorstellung reiner Präsenz zieht und einen selbst gespaltenen Begriff einer archaischen Differenz fordert, der Differenz von dýnamis und enérgeia. Den Gipfel der Verinnerlichung bezeichnet zuletzt die Spaltung der dýnamis überhaupt, die sich in immanente Möglichkeit und wirkliches, wirken könnendes Vermögen teilt, in das dýnamei ón und die dýnamis poietiké und so die Seinsweisen von Möglichkeit und Vermögen/Wirklichkeit näher beschreibt und für jedes einzelne Seiende konstituiert. Was die aktive dýnamis als inneres Prinzip bewirkt, ist Werk im Sinne von Wirklichkeit, ist das in die Wirklichkeit Heben von etwas und die Verwirklichung als Umsetzung seiner selbst, ist eben enérgeia. »Unter diesen Voraussetzungen wäre der entstehende Zwiebegriff nichts anderes als die alte Dynamis, nur aufgelöst im Zuge des sich entfaltenden und schärfer distinguierenden Möglichkeitsdenkens in die in ihr noch komplex verbundenen Momente. Die11 | Vgl. Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 162ff.

2 Chronologien ser Name nun für das aktive und aktuierende Glied konnte passend vom ਩ȡȖȠȞ, dem Effekt des Zusammenwirkens von passiver und aktiver Dynamis, genommen werden, da dieser ja alle Bestimmungs- und Formelemente von dem aktiven Prinzip her hat. Gedanklich vermitteln konnten dabei jene Wirkzusammenhänge, in denen neben dem Sichauswirken der Dynamis kein weiteres ਩ȡȖȠȞ entsteht, sondern diese als Prinzip (ਕȡȤȒ) dem Sichauswirken (ਥȞȑȡȖİȚĮ) selbst als ihrem Telos gegenübersteht, wie es Ĭ 8 nahelegt.«12

Und Ĭ 8 sagt eben: »Denn das Werk [਩ȡȖȠȞ] ist Zweck [IJȑȜȠȢ], die Wirklichkeit [ਥȞȑȡȖİȚĮ] aber ist das Werk [਩ȡȖȠȞ]. Daher ist auch der Name Wirklichkeit . 13 [ਥȞȑȡȖİȚĮ] von Werk [਩ȡȖȠȞ] abgeleitet und zielt auf Vollendung [ਥȞIJİȜȑȤİȚĮȞ]« Die aktive dýnamis ist Kraft, und sie ist als Kraft in dem Wirklichen, in jedem Wirklichen, und alles Wirkliche ist etwas Wirkendes, insofern es etwas bewerkstelligt, ist Werk und wirkt, ist enérgeia und als solche eine erscheinende Form, deren Ziel nicht bloßes Beharren ist, sondern Werden, immer wieder Form-werden, Möglichkeiten ausschöpfen und Möglichkeit in Wirklichkeit transformieren, in den Wirkhorizont, in den Wirkzusammenhang setzen, denn das Wirken ist das Wichtige, hat immer Priorität – die enérgeia ist das Wesen der Wirklichkeit und das Wirkliche hat immer Vorrang vor dem nur Möglichen, ist immer vor dem rein der Möglichkeit nach Seienden.

2 C HRONOLOGIEN In diesem Sinne ist auch der Weg zu verstehen, den Aristoteles nach hinten einschlägt und darin vor jeder dýnamis immer wieder eine enérgeia verortet14, findet und vorfinden muss. Es ist für ihn undenkbar und mit seiner Lehre unvereinbar, dass sich alles Sein aus der bloßen Möglichkeit und Indifferenz gegen Sein und NichtSein entwickelt haben könnte, gleichsam aus einem Urpotential, das aus sich selbst heraus in das Scheinen der Wirklichkeit getreten wäre. Das hängt untrennbar mit der These der aktiven, bewegenden dýnamis, der Kraft oder wirklichen Energie zusammen, die in jedem komplexen Wirkungs- und Bezugskontext die reine Möglichkeit in die Wirklichkeit aufhebt und sich selbst als wirken-Könnendes umsetzt, sich selbst verwirklicht. Angenommen, es gäbe einen Anfang des Universums, einen Ausgangspunkt des Weltenlaufes als reiner Potenz, deren momentane Aktualisierung den Beginn allen Geschehens markieren würde, so wäre der gesamte Möglichkeitsgedanke brüchig und ge12 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 51. 13 | Aristoteles, Metaphysik Ĭ 8, 1050 a21 - 23. 14 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik Ĭ 8, 1049 b3ff; 1050 b2ff.

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nerell unbrauchbar, denn es bedarf immer eines Wirklichen, einer wirklichen Kraft, die eine Möglichkeit realisiert, aufhebt, bestimmt. Ein Mensch wird immer »durch einen Menschen«15, lautetet eines der am häufigsten auftretenden Beispiele zur Begründung und Untermauerung der Prioritätsthese, und dieses bedeutet zugleich das Fundamentalargument gegen eine creatio ex nihilo16 – ungeachtet aller evolutionstechnischen und entwicklungsgeschichtlichen Gedanken. Obwohl Samen und Eizelle vor der Zygote, und die Zygote vor dem Embryo, das eine als dýnamis in gewisser Weise immer vor dem anderen auftritt, so ist das Vermögen, sich fortzupflanzen, immer schon vorher in einem anderen Menschen, der den neuen Menschen als Möglichkeit in sich trägt, der selbst die Formen von Samen oder Eizelle in sich hat, die wieder unzählige Formen als Informationen in sich schließen und in einen Wirkzusammenhang treten, der für sich einen Informationszusammenhang bedeutet, ständig neue Formationen hervorbringt, der sich entwickelt... »Die Energeia ist zeitlich vor und nach der Dynamis, vor ihr in dem spezifisch, nach ihr in dem numerisch Selben. Wirklichkeit wird nur durch Wirkliches weitergegeben. Auch das scheinbar sich dazwischenlegende Möglichseiende hat seinem eigenen Seinsbestand nach schon Wirklichkeitscharakter. Es ist, wenn überhaupt, eine wirkliche Anlage, nur noch nicht die Wirklichkeit des in ihr Angelegten. Die Bedingungskette von ineinandergreifenden und das Mögliche gleichsam übergreifenden Wirklichseienden ist lückenlos bis hin zu der Wirklichkeit eines jeden aus Möglichkeit Wirklichgewordenen. Sie führt zurück, nicht auf eine erste Möglichkeit, die zeitlich allem Wirklichen überhaupt voranginge, sondern auf eine erste Wirklichkeit.«17

Der Mensch, der entsteht, der gezeugt, geboren wird, der wächst und sich entwickelt, ist zwar als derselbe zuerst der Möglichkeit nach, ist zuerst dýnamis, aber ist als diese dýnamis in der enérgeia seiner Eltern, kann selbst nur Möglichkeit sein, indem ihm etwas Wirkliches, Vater, Mutter, und diesen wiederum Großvater und Großmutter, vorausgehen, ist also rein für sich genommen durchaus zuerst Möglichkeit. Im Großen jedoch, d.i. in der Perspektive des Wirkzusammenhangs, ist immer zuerst Wirklichkeit, sind immer zuerst reale Formen als Informationen, die ein gewisses Programm, selbst Information in sich tragen, das die spezifische Möglichkeit hat, sich fortzupflanzen. Die Priorität der enérgeia, ihr essentielles Früher ist somit lógo – gemäß dem Zusammenhang, dem Verhältnis, dem Bezugskontext der Wirklichkeit nach, ist ousía, gemäß der Notwendigkeit, dass wirkliche Substanzen sein müssen, um die neue Existenz her15 | Vgl. ebd. 1049 b25. 16 | Vgl. z.B. 2. Makkbäer, 7, 28. 17 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 151.

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vorzubringen, die Möglichkeit eines neuen Menschen in die Wirklichkeit zu setzen, und ist auch gemäß der gängigen Bedeutung von früher – chróno – im Lauf der Zeit, der nichts anderes als der Wirkzusammenhang oder der Prozess des Werdens selbst ist, aber eben eingeschränkt, denn mit Blick auf den Bezugsrahmen sind die Eltern als Wirklichkeit früher, spezifisch früher. Das numerisch Selbe bedeutet nichts anderes als das Ungeborene selbst, das als Mensch der Möglichkeit nach früher ist, aber es ist immer schon Same und Eizelle als reale Form, ist erster Zellverband als reale Form, ist erste Zellteilung als Realität und immer in Formation, in Entwicklung, in relativer Genese, denn es muss immer etwas Wirkliches dem Möglichen vorausgehen. In diesem Sinne ist jede Genesis immer eine relative Genesis, denn es gibt die absolute Schöpfung, die Ankunft aus dem reinen Nichts nicht. Im Kontext aller Wirkzusammenhänge muss immer das Wirkliche dem Möglichen vorausgehen und der Kontext selbst muss eine Relationalität im Zeichen der Wirklichkeit sein, die durch die immanente dýnamis eine Wirklichkeit des Werdens ist, ein Sein als Immanenz des Werdens – dieses Werden als Realität. »Der Seins- und Werdezusammenhang ist also eine Kette von Wirklichem, das keine Lücke läßt. Das heißt aber nicht, daß Möglichseiendes in ihm ontisch überhaupt nicht vorkäme. Jedes werdehaft Seiende, das seinem augenblicklichen Seinsbestand nach durchaus wirklich ist, ist immer zugleich, da es »noch nicht« das ist, was es werden kann und nach allen in ihm vorliegenden Dispositionen auch werden soll, ein Möglichseiendes. In der prozeßhaften Verwirklichung des werdehaft Seienden ist jede Phase schon das, was sich im Prozeß entfaltet, und sie ist, da sie nur eine Phase seiner Entfaltung ist, es auch wiederum noch nicht. Der Keim kann unter der Rücksicht seiner Entwicklungsfähigkeit, der Mensch unter der seiner Bildsamkeit, das Material unter der seiner Formbarkeit nur betrachtet werden, weil Keim, Mensch, Material vorgängig und auch unabhängig von einer solchen Betrachtungsweise entwicklungsfähig, bildsam, formbar sind.«18

Und diese Möglichkeit der Transformation ist der ontologische Möglichkeitsbegriff selbst, der nicht – wie es in einer strengen Teleologie zu denken wäre – zu einem Abschluss, einem Endzweck gelangen kann, in dem er als Möglichkeit selbst aus dem voll Entfalteten verschwindet, sondern die innere Anlage, die innere Disposition ist eben, die sich in jeder Phase des Daseins eröffnenden Möglichleiten aufzuheben in eine neue Phase des Daseins, eine neue Phase der Existenz, einen neuen Moment, der sich aufspannt in der vorverfügten Differenz von dýnamis und enérgeia. Keine Teleologie im Sinne eines zu erreichenden Zieles, an dem die Bewegung zu einem Stillstand kommt, sondern der Weg als die Bewegung, als die enérgeia ist selbst das innewohnende Ziel, 18 | E bd. 152f.

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die entelécheia, ist die Wirklichkeit, die sich als Information selbst will und die durchaus nicht ein rein erhaltendes, sondern ein Steigerungsmoment impliziert. Mit jeder Realisation einer Möglichkeit erwächst ein neuer Horizont von Vermögen, als aktiver dýnamis, die die enérgeia selbst ist, und darin eben ein neuer Rahmen an Möglichkeiten in dieser Sphäre der Wirklichkeit, deren Bestimmung es ist, die Möglichkeit aufzuheben – in die enérgeia. Jede Form ist ein Gefüge als Formation, eine Fügung unzähliger Formen, und so weit man auch in eine Form dringen möchte, man wird immer wieder auf Formen treffen, die sich zu Organisationen zusammenschließen und als diese Organisationen wirken, die ihre Vermögen sind – das, wozu sie fähig, wozu sie Wirkkraft sind. Form, enérgeia, wirkt immer auf andere Formen und steht in diesem Wirkzusammenhang, der eine Kontinuität beschreibt, der eine Geschichte der Wirklichkeit ist. Diese Geschichte des Wirkens ist insofern die Geschichte des Werdens selbst, als sie die Kontinuität der Aufhebung und zugleich Erzeugung von Möglichkeiten ausmacht, die sich auf dem Riss von dýnamis und enérgeia, dem Riss in der Präsenz selbst bewegt19, der sich nicht in einer Identität repräsentiert, sondern sich als die Zeit selbst – als der gespaltene Moment – in Szene setzt. Dýnamis und enérgeia sind nicht konstruierte, in das Sein hineinverlegte Gesichtspunkte eines Subjektes – durch sie soll das Seiende nur so begriffen sein, wie es sich in dieser Welt nun einmal zeigt: »[N]icht schlechthin seiend, sondern erst nichtseiend, dann seiend, erst so, dann anders seiend und dies – das ist zum Verständnis der aristotelischen Konzeption noch wichtig – nicht in beliebigem Wechsel und beliebiger Richtung, sondern in sich durchhaltenden Ordnungen. Die Übergegenständlichkeit dieser besonderen Struktur des werdehaft Seienden ist also Voraussetzung dafür, daß sie einem Subjekt als ›Möglichkeit‹ überhaupt zum Gegenstand zu werden vermag. Allerdings ist für Aristoteles der Logos noch so selbstverständlich ›Logos des Seins‹, daß die Frage nach der Abhängigkeit oder dem Maß der Abhängigkeit einer aufgefundenen Struktur vom Erkennen nicht mit in deren Problematik eingeht, so unabweisbar dies in einer anderen Problemsituation werden mag [...].« 20

Der lógos, dem gemäß die Formen das Wesen des Wirklichen ausmachen, ist lógos des Seins, kein erkennendes Instrumentarium und keine reine Vernunft 21, sondern die Bezugsstruktur und die innere Ordnung des zur Form 19 | Vgl. zum Begriff des Risses: Martin Heidegger, Der Ursprung des Kunstwerkes, in: Holzwege, 58: »Gewiß steckt in der Natur ein Riß, Maß und Grenze und ein daran gebundenes Hervorbringenkönnen, die Kunst.« 20 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 154. 21 | Vgl. hierzu Kants Erläuterung der transzendentalen Logik, in: Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 97 f, in: Werkausgabe III, 112f.

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Kommens eines jeden Seienden als in-die-Anwesenheit-Kommen, als Erscheinen, als Offenbarung seiner selbst, insofern sinnlicher Bezug, sinnstiftender Kontakt zwischen Realitäten, insofern Wirkung auftritt, denn dieses Verhältnis und dieses sich-verhalten-Können ist das Wesen der Wirklichkeit, das Wesen der Form. Sie ist weder Repräsentation eines transzendenten lógos, noch Begriff einer reinen Identität, sondern sie ist die Sensibilität des Daseins in einer grundlegenden Informationsstruktur, ist Metapher und Erscheinung, Übertragung, Unhaltbares, Ungreif bares, Bewegliches, sinnlicher Kontakt und Sinn im Kontakt, ist real in ihren unzähligen Bezügen. Die Prioritätslehre der Metaphysik richtet sich auf nichts anderes, als darauf, die Wirklichkeitsstruktur des Geschehens selbst zu ergründen und das Sein, das nunmehr zu einem Werden mit dem Charakter des Seins mutiert ist, als ein ungewordenes, als ein ewiges zu präsentieren, den Lauf der Welt als einen Prozess, der niemals begonnen hat, der sich immer in der gleichen Struktur, nämlich in der Differenz von dýnamis und enérgeia vollzieht und der ein wirklicher Prozess ist, das Realste überhaupt als ein ewiger Zirkel, ein Informations- und Interpretationszirkel, als ein ewig gerechtfertigtes Dasein individueller, werdender Existenzen. Die Frage danach, was an absolut erster Stelle kommt, ist keine Frage nach einem ersten ausgezeichneten Seienden, nicht die Frage nach einem punktuellen Anfang, auch keine Schöpfungsfrage – die aristotelische Philosophie kennt überhaupt keine Schöpfung, wie sie von der scholastischen Tradition eingeführt wird 22 – sondern es ist die alte Prinzipienfrage, wie sie schon zu Beginn der Physik zur Diskussion gestanden hat. Was ist der Anfangsgrund als Grund, der aus allem Dasein spricht und der die ganze Struktur durchwaltet, die nunmehr offengelegt wurde als eine Struktur des Werdens, als differentielle Fügung? Was hat Seinsvorrang insofern, als alles Dasein von diesem Vorrangigen durchwaltet und durchzogen wird? Das ist weniger der Weg zu einem Äußersten ൬൭, den gesamten Kosmos Umschließenden, sondern es ist eben der Weg vom uns Bekannteren zu dem an sich Bekannteren, und dabei muss es sich immer um ein Inneres, ein alles in seinem Innersten durchtreibendes Prinzip handeln. 22 | Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles, hrsg. von Horst Seidl, in: Aristoteles’ Metaphysik, Bücher VII – XIV, 559: »Die Erkenntniß, daß die Welt zeitliches, bewegungsmäßiges Entstehen haben kann, führte zu zwei gegensätzlichen Annahmen, der aristotelischen von der Ewigkeit der Welt und der christlich-scholastischen von der Schöpfung aus dem Nichts, d.h. einem zeitlosen und bewegungs-, entstehungslosen Ins-Sein-treten der Welt.« 23 | Obwohl die Ewigkeit der Bewegung durch die kontinuierliche Bewegung des Himmels hergeleitet wird; vgl. Aristoteles, Metaphysikȁ 6, 1071 b3 – 11 und den entsprechenden Kommentar, ebd. 558.

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Diese arché, die erste aller Ursachen, ist für Aristoteles die reine enérgeia, die Fügung der Wirklichkeit selbst, denn egal, wie weit man in der Zeit zurückschreiten wollte, man würde immer auf etwas treffen, das schon wirklich da ist, man würde immer zuerst Wirklichkeit finden, die Möglichkeit in sich trägt, die Möglichkeit aufhebt in die Wirklichkeit, man würde immer in der Welt sein und in der Welt als einem Wirklichen, immer in dem Wirkzusammenhang, der die Welt ist – man würde immer sagen: »Die Welt besteht; sie ist nichts, was wird, nichts, was vergeht. Oder vielmehr: sie wird, sie vergeht, aber sie hat nie angefangen zu werden und nie aufgehört zu vergehen – sie erhält sich in Beidem ... Sie lebt von sich selber: Ihre Excremente sind ihre Nahrung...«24 Sie ist ewiger Prozess und dieser ewige Prozess ist ihre Wirklichkeit, ist die Wirklichkeit selbst. Die arché der Wirklichkeit ist ein ewiges Prinzip: »Aber auch in entscheidenderem Sinne hat die Wirklichkeit Vorrang vor dem Vermögen (der Möglichkeit); denn das Ewige ist dem Wesen nach früher als das Vergängliche, nichts Ewiges ist aber nur dem Vermögen nach (der Möglichkeit nach). Der Grund ist dieser: Jedes Vermögen (jede Möglichkeit) geht zugleich auf den Gegensatz; denn was nicht vermag zu sein [der Möglichkeit nach ist; A.d.V.], das kann sich auch nicht bei irgendeinem finden, aber jedes, das zu sein vermag [das der Möglichkeit nach ist], das kann auch nicht wirklich tätig sein. Was also zu sein vermag [der Möglichkeit nach ist], das kann sowohl sein als auch nicht sein, und hat also ein und dasselbe Vermögen (die Möglichkeit), sowohl zu sein, als auch nicht zu sein. [...] Was aber möglicherweise nicht sein kann, das ist vergänglich [...] Nichts also von dem schlechthin Unvergänglichen ist etwas schlechthin dem Vermögen nach (der Möglichkeit nach) Seiendes.« 25

Dieses Ewige hat insofern Priorität, Vorrang, als es Prinzip ist und Grund dafür, dass überhaupt etwas ist – aber eben kein Grund im Sinne einer Instanz oder eines ausgezeichneten Einzelnen, sondern die Ewigkeit des Prinzips der Wirklichkeit, das alles durchwächst und durchwaltet. Das Ewige ist reine enérgeia, ist selbst unbewegte Ursache aller Bewegung als die Kraft oder Energie, die immer schon die Prozessualität des Daseins getrieben oder das Mögliche aus der Weise des Nicht-Seins herausgetrieben hat, insofern sie selbst von keiner innewohnenden Möglichkeit gespalten wird – ewig ist die Wirklichkeit als Wirklichkeit aller einzelnen Seienden in ihrer Dualität von dýnamis und enérgeia, aber eben nicht mit der entelécheia, Möglichkeit, sondern Wirklichkeit zu werden. Die Realität als das Geschehen selbst, als die dýnamis-enérgeia-Prozesse, ist das Ewige und als diese Wirklichkeit nicht gespalten, sondern das ewig Gleiche, eine perpetuierende Konstante, die in jeder Phase des dýnamis-enér24 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 14 [188], KSA 13, 374. 25 | Aristoteles, Metaphysik Ĭ8, 1050 b6 – 17; wir bevorzugen in diesem Fall die in Klammer geführte Übersetzung von dýnamis mit Möglichkeit.

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geia Prozesses wiederkehrt – als die Wirklichkeit des Verhältnisses und des Kontakts, als die Bezugnahmen und Beziehungen, als die Wirklichkeit des lógos des Seins. Es kann keine ursprünglich reine Potentialität geben, denn sie bedarf immer einer enérgeia, einer Auslösung, eines Wirkzusammenhanges, durch und in dem sie aufgehoben wird in das Scheinen der Anwesenheit. »Die Gründe für das Ungenügen einer Urpotentialität als letzten Seins- und Erklärungsgrundes der unaufhörlichen Kinesis liegen einmal in der vom Möglichsein als solchem unablösbaren Nichthaftigkeit und zum anderen im Angewiesensein des Möglichen auf ein verwirklichtes Wirkliches. Für sich genommen bietet Bewegbares keine Gewähr für (tatsächliche) Bewegung und, selbst noch als Bewegtes, gegen Nicht-Bewegung. Sich selbst überlassen, vermag es überhaupt nicht in Bewegung überzugehen, d.h. durch die Setzung als absolut Erstes würde das Bewegbare zugleich als solches negiert, da es dann auf keine Weise mehr bewegt werden könnte. Daß nichts wirklich werden kann, es sei denn kraft eines Wirklichen, gilt ausnahmslos.« 26

Dass man hierin eine Theologie oder Gotteslehre, eine metaphysische Bestimmung einer absolut ersten Substanz als einer ausgezeichneten Entität verorten möchte, ist naheliegend und von Aristoteles durch die von ihm selbst gebrauchten Begriffe »Gott«, oder »das Göttliche« durchaus suggeriert. Allerdings münden alle Versuche, das göttliche Prinzip des Aristoteles zu einem Schöpfergott zu formen oder dem Gottesbild des Abendlandes anzugleichen, in offensichtliche Widersprüche mit der systematischen Vorbereitung, die der These der reinen Energie vorangeht. Das Geschaffene aus dem Nichts und die ewige Existenz, die eine endliche Welt aus dem Dunkel ihrer eigenen Unendlichkeit hervorzaubert, hat nichts mit aristotelischer Metaphysik – weder im allgemeineren, ontologischen, noch im engeren, auf die reine enérgeia oder das unbewegt Bewegende bezogenen Sinn – zu tun. Viel eher könnte man mit Nietzsche gegen den Gedanken einer creatio ex nihilo argumentieren: »Die Hypothese einer g e s c h a f f e n e n e n Welt soll uns nicht einen Augenblick bekümmern. Der Begriff ›schaffen‹ ist heute vollkommen undefinirbar, unvollziehbar; bloß ein Wort noch, rudimentär aus Zeiten des Aberglaubens; mit einem Wort erklärt man Nichts. Der letzte Versuch, eine neue Welt, die a n f ä n g t , zu concipieren, ist neuerdings mehrfach mit Hülfe einer logischen Prozedur gemacht worden – zumeist, wie zu errathen ist, aus einer theologischen Hinterabsicht.« 27

26 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 197. 27 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887-1889, 14 [188], KSA 13, 374, Hervorhebung i.O.

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Denn die logische Prozedur des Aristoteles endet nicht bei einem Ersten, aus dem heraus alles entsprungen ist, sondern sie endet bei einem Prinzip, das ein ewiges ist, und als Ewiges ist unbewegte Wirklichkeit als Ursache aller Bewegung, reine enérgeia als Wirklichkeit, die nicht im Geschehen steht als Informationsprozess, nicht im Wandel der kínesis von dýnamis und enérgeia, sondern die die Ewigkeit alles Wirklichen selbst ist, die die Wirklichkeit all dieser Prozesse ist, die die Wirklichkeit des differentiellen Bodens ausmacht, auf dem die Formen so unentwegt wachsen und vergehen, sich verändern und in Bezug stehen. »[N]icht der theologische Begriff ›Gott‹ ist der Leitbegriff von Lambda [12. Buch der Metaphysik], sondern der naturphilosophische Begriff des unbewegten Bewegers. Nach dem entscheidenden Kapitel 7 verfügt über die Kraft, etwas zu bewegen, ohne selber bewegt zu sein, das Begehrte und das Gedachte (to orekton kai to noêton: XII 7, 1072 a26) sowie das Geliebte (b3: kinei hôs erômeneon).« 28

Die Welt hat niemals angefangen und wird zu keinem Ende kommen, denn ihre Wirklichkeit ist sie selbst und diese Wirklichkeit ist eine ewige, ist reine entelécheia, die ihr Ziel nicht in einem Außen oder einem Endzweck hat, sondern in sich selbst, die immer wieder sie selbst wird, die sich tatsächlich von ihren eigenen Exkrementen ernährt und immer wieder aus der eigenen Asche aufsteht, die sich selbst will und sich durchhält durch alle Veränderungen und Transformationen, die Bestand und ewigen Bestand hat, Energie, die sich erhält in jeder Transformation, deren Realität sie ist – und es ist nicht sehr erstaunlich, dass sich auch die Physik, die den Energiebegriff im neunzehnten Jahrhundert für sich entdeckt und ihn mit Einstein auf die Spitze seiner Wirksamkeit gebracht hat, gerade über jene energetischen Erhaltungssätze – vor allem über den seit Robert Mayer bekannten Energieerhaltungssatz – sagen muss, er habe die Krisen aller naturwissenschaftlichen Begriffe uneingeschränkt überstanden.29

3 U NSCHÄRFEN Die Welt des Aristoteles ist bewegt von einem selbst unbewegt-ewigen Prinzip der Bewegung, das als innerste Ursache göttlich erscheint. Sie ist eine Welt der Formen, die sich nicht an eine ausgezeichnete Form in der äußersten Sphäre des Kosmos hängen und ihr Ideal verehren, eine Welt des Werdens und der singulären Existenzen, aus denen der lógos des zueinander-in-Beziehung-Tre28 | Otfried Höffe, Aristoteles, 159. 29 | vgl. Carl Friedrich von Weizsäcker, Die Einheit der Natur, 385.

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tens spricht. Sie ist eine Welt der Kommunikation und Interpretation, eine Welt ständiger Informationen, die durchdrungen sind von ihrem Bedürfnis, zu wirken und die in die Sphäre der Wirklichkeit verfügt sind. Sie ereignen sich im Geschehen einer wirklichen Welt, in der das Spiel von dýnamis und enérgeia immer wieder, ewig wiederholt wird, und die Ewigkeit dieses Spiels ist die reine Wirklichkeit selbst, das Äußerste und zugleich Innerste, das Letzte, zu dem man vordringen kann. Sie ist das selbst unbewegt Bewegende, das Ewige, ein göttlicher Zirkel, in dem Formen auf Formen treffen, die ihrerseits von unzähligen Differenzen durchwaltet sind, die Informationen sind und in ihrer Formation immer und immer wieder wirklich werden, die wirklich sind als Information. Was bei Aristoteles Gott heißt, ist eben die reine Energie und reine Wirklichkeit, die Ewigkeit des Wirkens und aller Wirkungen, aller Wirkzusammenhänge – das unbewegt Bewegende des Geschehens an sich. »Der Gott ist Energeia – darin gipfelt die ganze Lehre von der Priorität der Energeia. Gott ist ›Wirklichkeit‹ [die Wirklichkeit selbst], und das heißt gleichermaßen ›Wirksamkeit‹, da sein Sein vom Charakter des Nous als reiner Noesis ist. Im Urgrund fällt Wirklichsein mit Wirksamkeit zusammen als Geist-Leben, als In-sich-Wirksamsein des Geistes. In dem vom Urgrund Begründeten bedeutet Wirklichsein das Wirksamsein des Eidos. Das Eidos ist aber nicht ›an sich‹ und kann nicht ›in sich selbst‹ wirksam sein, sondern nur an einem anderen, der Hyle [die es auch immer selbst ist]. Das noch nicht Wirkliche ist das noch nicht von der Wirksamkeit des Eidos Ergriffene, aber Ergreifbare. Insoweit ›Stoff‹ ist, ist Möglichkeit.« 30

Das ist der Gipfel der »ersten Philosophie« in einer Gotteslehre, die das Prinzip des Wirklichen als göttlich verehrt und den Fluss des Geschehens in seiner Gesamtheit und Ewigkeit als das Höchste und zugleich Erste, zu dem man vordringen, zu dem der Geist, der wissen will und von Natur aus nach Wissen strebt, durchdringen kann – als dem an sich Bekannteren. Es ist das Eintauchen in eine Welt realer Kräfte, eine dynamische, wirkende Welt, eine Welt, die immer schon wirklich war, die lebt von den Möglichkeiten, die sie selbst produziert im Auslöschen von Möglichkeiten, die wirklich ist als die Differenz von Möglichkeit und Wirklichkeit, die lebt als die unzähligen Formen und Formationen, die sie ist, als die Bilder und Erscheinungen, die immer Trugbilder, immer Masken, ihrem Wesen nach nicht greifbar sind im Zeichen der inneren Differenz, die sie durchwaltet. Aber eben das ist das Prinzip der Energie: eine Undurchdringbarkeit der Formen selbst als dem Realsten und Wirklichsten der Wirklichkeit, denn jeder Versuch der Durchdringung stürzt in eine neue – in die gleiche – perspektivische Dualität von Möglichkeit und Wirklichkeit, 30 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 226; vgl. auch Otfried Höffe, Aristoteles, 159: »Der unbewegte Beweger ist der Geist, der sich auf sich selbst richtet.«

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die sich aller Definition, aller Festmachung, aller Konkretion entzieht in der Konkretion, die sie ist, die als diese erscheinende Form ist. Das Realste, zu dem wir vordringen können, ist eben dieses Prinzip der Wirklichkeit als eine göttliche arché. Jede Beziehung, in der und als die ich bin, ist eine Beziehung von kinetischen Formen und als solche ein informativer Bezugskontext. Jede Relation zieht Möglichkeiten aus dem Inneren einer Erscheinung in den Horizont der Wirklichkeit, Wirkkräfte, aktive Dynamiken ziehen Möglichkeiten in die Wirklichkeit, indem sie eben diese Potentiale auslöschen und neue Möglichkeiten erzeugen. Der unbewegte Beweger als das ewige Prinzip der Kinetik und Transformation ist die Formulierung der Priorität des Wirklichen und zugleich die Vereinheitlichung, die Vereinfachung, Knotenpunkt oder Gemeinsamkeit aller Vorgänge des Geschehens – er ist Ursprung und Ursache als arché, Grund aller Bewegung und darin die Einheit aller Naturprozesse, aber keine ausgezeichnete, transzendente Substanz, sondern ousía in ihrer Bedeutung als Sein – als das Wesen der Wirklichkeit.

»Bezeichnenderweise spricht die Physik zwar von einem Beweger, der selbst nicht bewegt ist (II 7, 198 b1 f), ferner vom ersten Beweger (VIII 6 und 10), aber nicht zugleich von Gott und dem Göttlichen. Lambda ist daher mit dem Titel ›Philosophische Theologie‹ nicht bloß überbewertet, sondern sogar fehlbestimmt. Es geht dem Buch nicht eigentlich um Theologie, sondern um Ontologie, Naturphilosophie und Kosmologie.« 31

Und aus ontologischer Perspektive geht es um einen Kreislauf der Bewegung als der Aufhebung von Möglichkeiten in die Wirklichkeit, dessen Angelpunkt nur ein realer – der realste überhaupt, eben die reine Wirklichkeit – sein kann. Es ist dies nicht zu verwechseln mit Nietzsches Lehre von der ewigen Wiederkunft – vor allem mit Blick auf das ausgezeichnete Prinzip, allerdings ist eine Ähnlichkeit bezüglich des Fokus auf das Perpetuieren der Differentialprozesse nur schwer zu leugnen: »Da für das wirkliche Kräftegeschehen der rein theoretische und an der formalen Widerspruchsfreiheit orientierte Möglichkeitsbegriff auszuschließen ist, vollzieht sich im und als Tätigsein der Kräfte die Realisierung dessen, was möglich ist. Das Reich der Möglichkeiten hängt von den Kräften ab, nicht umgekehrt. Indem sich der Mensch als die Leib-Organisation, mithin als der Machtwillen-und-Interpretations-Komplex, der er ist, selbst übernimmt und bejaht, sich also explizit intern wird, gewinnt er sich als Moment derjenigen Wirklichkeit, die er selbst ist und die nicht mehr auf eine der beiden Seiten der Entgegensetzung von Subjektivität und Objektivität, von Geist und Natur, von Mentalem und Materialem verbucht werden kann. So wie das Individuum von der 31 | Otfried Höffe, Aristoteles, 160.

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Wirklichkeit, so ist auch diese von jenem abhängig. Dies kann als das Einholen und die gestaltend-handelnde Übernahme des eigenen und nicht-suspendierbaren Grundcharakter sowie Grenze-seins aufgefaßt werden.« 32

Und genau dieser Drang zur Wirklichkeit – diese Priorität der Wirklichkeit – bestimmt das Wesen der aristotelischen Philosophie, die Abhängigkeit aller Möglichkeiten von den realen Kräften, der aktiven dýnamis und den Ausschluss der theoretischen, logischen Möglichkeit, wie sie am Anfang des neunten Buches der Metaphysik vollzogen wird. Hier bäumt sich aus den Grundgedanken und Meditationen über das Reich der Natur, über das Wesen der von der phýsis her Seienden, das ontologische Prinzip als Grund und Wesen der ontologischen Differenz auf, die alles, das gesamte Geschehen als solches in sich einschließt – eine absolut neue Weltkonzeption, auf deren höchster Stufe überhaupt kein Unterschied mehr gemacht wird zwischen Mensch und Tier, Geist und Welt, organisch und anorganisch, moralisch und unmoralisch. Es ist der Lauf der Welt selbst, und alles darin, jede spezifische Differenzierung, alles Denken und Handeln, Lieben und Hassen, jede Wissenschaft und jeder Glaube sind in dieses Reich der Informationen verfügt und innerlich durchdrungen vom Prinzip der Wirklichkeit. Das Leben selbst erhält sich als Geschehen im unüberbrückbaren Ineinander von Möglichkeit und Wirklichkeit. Man kann in gedanklichen Experimenten in der Geschichte bis in die Unendlichkeit zurückgehen und man wird an keinen letzten Punkt gelangen. Jeder Dogmatismus, der einen Anfang setzt, wird sich an den unausweichlichen Fragen: »Und davor?«, »Und wodurch?«, »Und warum?« aufhängen und aufgeben müssen, jeder Urknall wird seine Auslösung verlangen und jeder Schöpfer sein Motiv, seinen Grund, seine Wirklichkeit, die die Möglichkeit der Schöpfung umsetzt. »Nichts kann mich hindern, von diesem Augenblick an rückwärts rechnend zu sagen ,ich werde nie dabei an ein Ende kommen’: wie ich vom gleichen Augenblick an vorrechnen kann, ins Unendliche hinaus [...]«33, und erst die Umkehrung dieses Gedankens würde auf die fatale Vorstellung eines Anfanges stoßen, der Versuch, »diesen correkten Begriff eines regressus in infinitum gleichzusetzen mit einem g a r n i c h t n a c h v o l l z i e h b a r e n Begriff eines p r o gressus bis jetzt«34 – aber diesen Fehlschluss zieht Aristoteles eben nicht, indem er sagt: Egal, wie weit ich in der Geschichte zurückgehe, ich werde immer auf Wirkliches stoßen, und aus diesem Grund ist es die Wirklichkeit, das reine Prinzip der Wirklichkeit, das Ewige, das ewig 32 |  Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 302. 33 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887-89, 14 [188], KSA 13, 375. 34 | Ebd, Hervorhebung i.O.

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Göttliche und immer Bewegende, das sich nicht verändert, das ewig Gleiche oder selbst unbewegt Bewegende. Soweit ich in der Geschichte zurückgehe, so tief kann ich in jedes einzelne Seiende eindringen, ohne jemals auf einen letzten Punkt, eine Ursubstanz zu stoßen. Ich kann die reale Form nicht durchdringen, denn sie ist selbst – als sie selbst – Wesen, ousía und ungeachtet dessen, wie weit ich eindringe, es wird sich immer etwas präsentieren, es wird sich immer etwas Wirkliches zeigen, das wieder mein Interesse der Bestimmung weckt: Es werden sich immer Formen und Körper-Formen zeigen, die nicht stillstehen, sondern die in Formation sind, immer in Bewegung, und je weiter ich fortschreite, umso offensichtlicher wird sich diese unbändige Bewegung zeigen. Sie wird sich niemals festmachen lassen, wird immer in der Spannung zwischen dýnamis und enérgeia stehen, wird immer in den Horizont der kínesis verfügt sein. Es werden sich neue Organisationen offenbaren, die eine Form ausmachen, Komplexe und Fügungen, in denen wieder Formen tätig und wirklich sind, die eine gemeinsame Sprache sprechen, insofern sie aufeinander wirken und einander interpretieren, denn das ist Information: die niemals endende gegenseitige Wirkung als Interpretationszirkel der Formen selbst. Genau darin sind sie im ewigen Spalt von dýnamis und enérgeia – in einer Relation, die sich der absoluten Konkretion entzieht, in einer Unschärferelation, die sich als perspektivische Differenz versteht. Will ich den Ort, die Stätte eines Körpers bestimmen, muss ich seine Bewegung außer Acht lassen, und je stärker der Fokus auf der Ortsbestimmung, auf der Perspektive des Ortes liegt, umso mehr verschwimmt der Wert des Impulses und umgekehrt 35 – perspektivischer Dualismus als oberstes Prinzip der Naturwissenschaft, grundlegende Differenz, die sich in jeder Beziehung offenbart, Bestimmung als Jetzt unter Ausschluss der Bewegung, die die Form auch immer ist, oder Bestimmung der Bewegung, Perspektive des Noch-nicht: dýnamis und enérgeia. Dass sich die christliche Theologie des Mittelalters in derartiger Akribie auf die Philosophie des Aristoteles gestürzt hat, liegt vielleicht weniger am Interesse an der Tiefe seiner Gedanken, als in der Vermutung, dass sich hinter der Maske des großen Philosophen womöglich ihr schärfster Gegner verbergen könnte, und in diesem Sinne erschien es von äußerster Notwendigkeit, ganze Armeen von Interpreten und Kommentatoren auf diese so schwer verständliche historische Stimme loszulassen, mit der Aufgabe, doch einen kairós zu bestimmen in einer so aufwendigen Transformation aller Prinzipien der aristotelischen Philosophie selbst – aus ungewordener Wirklichkeit doch einen Schöpfergott zu zaubern, aus der entelécheia eine Teleologie des Heils und aus dem Doppelbegriff der Differenz einen Begriff, dem die Differenz auf ewig untergeordnet bleibt. Aller Seelenatomismus und jedes metaphysische Zentri35 | Vgl. z.B. Anton Zeiliger, Einsteins Schleier, 52.

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petalprinzip steht im Widerspruch zu der ontologischen Grundkonzeption von Möglichkeit und Wirklichkeit, die sich selbst entwickelt aus einem viel älteren Gedanken, den Aristoteles vor allem in der Physik an den Beginn seines Aboder Aufstiegs zu dem an sich Bekannteren stellt: die ursprüngliche Gegensätzlichkeit, die Gegensätze, anhand derer alle Philosophen und Physiologen vor ihm die Form der sinnlichen Gegenstände bilden, die sie ineinander setzen zur Form, und dieses Prinzip der Gegensätzlichkeit erscheint als ein Diktat der Wahrheit, der alétheia selbst. Alétheia im Griechischen bedeutet aber vor allem das aus der Verborgenheit Gekommene36, das in den Horizont des Scheinens Gerückte, das Erscheinende und ist für Aristoteles weniger Wahrheit im Sinne logischer Korrektheit, sondern eben das Wirkliche – das in der Sphäre der Wirklichkeit Stehende. Die Gegensätzlichkeit ist also Diktat und Spruch der Wirklichkeit, der enérgeia selbst, ist Orakelspruch, der aus jeder Existenz als die Stimme des Seins selbst spricht, und das Programm der aristotelischen Philosophie ist das ungebrochene Interesse an der Deutung dieses Orakelspruches, fast als ob – wie im Fragment des Heraklit – jedes Seiende eine Stätte, die Aussage dieses Spruches wäre, entbergend, indem es verbirgt und verbergend, indem es entbirgt 37. Es geht um die grundlegende Gegensätzlichkeit und deren nähere Bestimmung. Über die Dualität von Stoff und Form dringt er in die absolute Priorität der Form eines jeden Seienden ein und drängt das stoffliche Prinzip an den Rand des Nicht-Seins – Materie ist nur eine Perspektive, insofern etwas veränderbar ist, und alles ist veränderlich und in Veränderung, aber niemals Stoff, sondern als Realität immer nur Form, die Möglichkeiten in sich trägt, neue Form, andere Form zu werden. Es gibt keinen Stoff und keine Atome, keine Elemente, sondern immer nur Formen, die sich bewegen und aufeinander wirken als Informationen. Das ist die höchste Bestimmung des anfänglichen Prinzips der Gegensätzlichkeit, das ist die immanente Differenz, die alles Seiende durchwaltet, die tatsächlich – wie bei den Vorgängern – immer wieder Formen als Realitäten, sinnliche Formen hervorbringt, als Bestimmungen einer immanenten Unbestimmtheit, als Körper, die aufeinander wirken, indem sie sich offenbaren, als Organisationen, die in die Unverborgenheit treten und in diesem Auftreten ihren inneren Riss maskieren – in unendlich vielen Metaphern und Trugbildern, die sie sind, eben Formen, die wirken und wirken können in der differentiellen Fügung der Realität. Insofern ist Aristoteles selbst die größte Perversion seiner eigenen Tradition oder Interpretation, ist selbst immer schon vor und nach der 36 | Vgl. Martin Heidegger, Alétheia (Heraklit, Fragment 16), in: Vorträge und Aufsätze, 249. 37 | vgl. Heraklit, Fragment 93 – Die Vorsokratiker I, 253; Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der ĭȪıȚȢin: Wegmarken, 279.

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Metaphysik, die ihre Kreuzzüge unter seiner Flagge, ihre Götter in seinem Namen und ihre Erkenntnisse aus seiner Philosophie gewonnen hat. In den Errungenschaften der neueren Naturwissenschaft, in der Relativitätstheorie und Quantenphysik, in der Genetik und Informationstheorie, liegen Möglichkeiten, die aristotelische Philosophie von den Ketten ihrer traditionellen Interpretation zu befreien und den Grund ihrer Gedanken in anderem Licht zu sehen, oder überhaupt: sehen zu dürfen als eine archaische und enthusiastische Philosophie der Differenz, als Philosophie der Bejahung und Liebe zu den Formen und Erscheinungen, die in der Welt sind, die die Welt hervorbringt, als Denken, das die leisesten und verstecktesten Bewegungen, das Rumoren und Ausgreifen, die Kraft und den inneren Willen alles Wirklichen fühlt, das Wollen der Wirklichkeit und die Macht der Wirklichkeit verherrlicht. Einer der Hauptsätze des Aristoteles lautet »‫݋‬ȞİȡȖİȓĮȝ‫ޡ‬ȞȖ‫ޟ‬ȡIJާİ‫ݭ‬įȠȢ©38 und bedeutet: »Der Wirklichkeit nach ist nämlich die Form; die enérgeia ist das jeweilige eidos des Einzelnen, ist eine Kraft, zu wirken, ist die ousía« und trotz aller kategorialen Bestimmungen über das Wesen der Substanz als erstem und einzig abtrennbar Seienden darf niemals das Konzept der neuen dýnamis vergessen werden. Natürlich ist das Wesen das Erste, die ousía, ist eben immer die Form, die nicht in essentieller Abhängigkeit von ihren Attributen steht. Der Mensch bleibt er selbst, egal, ob er sich an diesem oder jenem Ort befindet, ob er so und so groß ist oder an dieser und jener Krankheit leidet, aber es ist dennoch immer die Gesamtheit der Erscheinung, die die Wirklichkeit konstituiert, die seine Wirklichkeit im Hier und Jetzt, im Dasein ausmacht, und er ist seinem Wesen nach in die Prozessualität und Dynamik der Differenz, des Werdens, verfügt, er ist in dem Bezugshorizont, der eine offene, eine gespaltene Sphäre bezeichnet und ist genau dadurch nicht reine Form, nicht abgetrenntes eidos, sondern bewegte Form als permanente Formation der Form. Enérgeia als eidos ist die Wirklichkeit eines jeden Seienden als Information und Organisation, als Kontakt, als ständiger Informationsprozess, und darin liegt ein Prinzip, zu dem auch die modernen Naturwissenschaften durchgedrungen und wieder durchgedrungen sind – es gibt keine abgetrennte Wirklichkeit, zu der wir nur vermittelt und über Repräsentanten Zugang haben, deren Repräsentationen wir selbst sind, es gibt kein Dahinter und keine Dinge an sich, die sich hinter dem Schleier der Erfahrung befinden. Es gibt nicht einmal ein Davor und Danach, weder eine Information bedingende Wirklichkeit, noch eine Wirklichkeit konstituierende Information... »Wirklichkeit und Information sind dasselbe«39, und Information ist kein schlichtes Frage-Antwort Spiel, nicht die einfache, in eine Richtung zielende Zuweisung von etwas auf etwas anderes, ist nicht nur Ja oder Nein, sondern es ist der gegenseitige 38 | Aristoteles, Metaphysikȁ5, 1071, a8f. 39 | Anton Zeilinger, Einsteins Schleier, 229.

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Bezug und Kontakt, es ist eine Weise des Austauschs, indem sich die Formen selbst nicht verlieren, indem sie sich nicht aufgeben, aber trotzdem und immer wieder neu formieren, Möglichkeit um Möglichkeit ausschöpfen und zugleich wirken, etwas bewirken und ins Werk setzen. Die Wirklichkeit ist Information als die unzähligen, wirklichen Informationen, als die »wahren Formen«, und jede individuelle Form ist selbst eine Organisation unzähliger Informationen, ist Informations- und Interpretationskomplex. »Diese wahren Formen heißen nicht nur lebende Organismen, sondern physiko-chemische Partikel, Moleküle, Atome, Photone, immer wo es bezeichenbare individuelle Seiende gibt, die sich nicht mit dem Funktionieren begnügen, sondern sich unablässig ›bilden‹. Die Frage stellt sich nicht nach einem Vitalismus, obwohl die innerliche Vielfalt der Formen dem Unterschied zwischen dem Organischen und dem Anorganischen Rechnung trägt. In jedem Fall sind die wahren oder absoluten Formen ursprüngliche Kräfte, wesentlich individuelle und tätige erste Einheiten, die ein Virtuelles oder Potentielles aktualisieren und die eine mit der anderen zusammenstimmen, ohne sich nacheinander zu bestimmen.« 40

Sie stimmen einander zusammen als gegenseitige Bildung, als ursprüngliche Bildung durch gegenseitigen Kontakt und tatsächlich als die Bildung zur Form im Aktualisieren von Virtualitäten, im Herausziehen des Potentiellen in den Horizont der Anwesenheit. Information ist weder nur Aufnahme noch für sich existenter Stoff, der bereitliegt zur Akkomodation, zur Verinnerlichung, der aufgesaugt wird, sondern ist vielmehr die Realität des Kontaktes von Formen untereinander, die real sind in der Formation ihrer Organisation. Der Unterschied von organisch und anorganisch ist ein sekundärer, gemachter, ist vielleicht gradueller Einschnitt in das Maß von Aktivität und Rezeptivität, ist Maßstab des wirken-Könnens, aber in keinem Fall eine absolute Grenze oder eine Zäsur, jenseits derer ein völlig neues Reich von Regeln und Organisationsprinzipien erwächst. Die Differenz erstreckt sich über die Gesamtheit des Geschehens als Differenz von dýnamis und enérgeia, die sich in jeder Form immer wiederholt, die jede Identität immer schon untergraben hat, die jeder Identität immer schon vorausgegangen ist und vorausgegangen sein muss, die jede Form von Repräsentation persifliert und pervertiert, zu einer Erscheinung an sich, einer Metapher, einem Zeichen ohne Dahinter, ohne Bezeichnetes, zu einem Trugbild. Philosophisch übersetzt sind die Grundprinzipien der Quantentheorie zum einen die unumgängliche gegenseitige Beeinflussung, die Aufhebung der absoluten Identität durch die Unmöglichkeit der Kontaktaufnahme, ohne 40 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 167.

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in einen Bezugskontext, einen gegenseitigen Austausch, eine wechselseitige Formation zu treten: Ich kann ein Teilchen nicht messen oder zu bestimmen versuchen, ohne es in dieser Kontaktierung zu beeinflussen; zum anderen ist es die Unmöglichkeit der vollständigen Bestimmung aller Wesensmerkmale, aller Parameter, die eine Erscheinung, eine Form, ein Teilchen ausmachen. Perspektive des Ortes entstellt die der Bewegung und umgekehrt – Perspektive der Form entstellt die der Möglichkeit. Sehe ich etwas als Möglichkeit-zu, als noch-Nicht, als stéresis, entstellt sich die Erscheinung als momentane Form, und vice versa: Kontakt und eine jeder Erscheinung immanente Differenz. Jedes Teilchen hat einen Ort, ist ein bestimmter Ort, ist die Stätte seiner Präsenz und ist zugleich Bewegung, Impuls, ist Möglichkeit, ist Form und Veränderung der Form, ist immer wiederkehrende Wiederholung des Differentiellen. »Die Differenz und die Wiederholung sind an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten. Denn nur in dem Maße, wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das Negative und läßt sich bis zum Widerspruch treiben. Der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefasst sein mag, definiert die Welt der Repräsentation. Das moderne Denken aber entspringt dem Scheitern der Repräsentation wie dem Verlust der Identitäten und der Entwicklung all der Kräfte, die unter der Repräsentation des Identischen wirken. Die moderne Welt ist die der Trugbilder. Hier überlebt der Mensch nicht Gott, überlebt die Identität des Subjekts nicht die der Substanz. Alle Identitäten sind nur simuliert und wie ein optischer ›Effekt‹ durch ein tieferliegendes Spiel erzeugt, durch das Spiel von Differenz und Wiederholung.« 41

Durch ein Spiel, das zugleich jenes von dýnamis und enérgeia ist, das Spiel der Erscheinungen und ihrer Sprache untereinander, ihr Kontakt und die Offenbarung ihrer selbst in den Kontakten, die sie pflegen und in den Beziehungen, die in ihnen unentwegt Statt haben und interpretieren.

4 K ÖRPER Jeder Körper, jede Erscheinung – und mag sie noch so klein, so unscheinbar sein – ist nicht Urstoff und letztes Element; das Atom ist eine Illusion, eine Projektion, ein Hilfsmittel, ideeller Baustein, theologisches Derivat. Alles ist Form oder ist eher Form als Stoff, ist eher Wirklichkeit als Möglichkeit, und diese Wirklichkeit ist ein Körper, ein Komplex, komplexes System, ein Scheinen, in dem sich die Weite des Raumes und die Unendlichkeit der Zeit kontrahieren, in dem etwas auf blitzt, in dem eine Interaktion von Kräften Statt hat – nicht 41 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 9.

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nur eine Stätte einnimmt, sondern eine Stätte der Präsenz schafft. Raum und Zeit als abstrakte Begrifflichkeiten sind ebenso Projektionen, wie die Seele und das Atom, sind die Vorstellung leerer Ordnungsstrukturen, in die die Bausteine der Welt geworfen werden, sind Konstrukte, mathematisch-logische Realitäten, eigentlich Ideen. Nicht Raum und Zeit sind die Realitäten des Körpers, sondern der Körper ist die Realität des Raumes und der Zeit, als der Augenblick, in dem sich die beiden Bahnen von unendlich-nach-vorne und unendlich-zurück treffen, er ist die Wirklichkeit und Wirksamkeit realer Kräfte42 und ist selbst die Differenz, die ihn spaltet. Er ist die erscheinende Form, die aus einem Zusammenwirken von Kräften hervorgeht, die aufsteht aus dem grundlegenden Kräftegeschehen und die das Kräftegeschehen konstituiert – er ist niemals Identität, immer Auf bruch, ist niemals im absoluten Hier und Jetzt, sondern immer in Bewegung, hier und nicht hier, Realität von Sein und Nicht-Sein. Die Körper sind immer im Aufbruch, in Bewegung, kurz vor einer Bewegung in einem Auseinanderfallen. »Das, was ein Aufbruch, selbst der einfachste ist: der Augenblick, in dem ein bestimmter Körper nicht mehr da ist, eben hier, wo er war. Jener Augenblick, in dem er dem bloßen Klaffen des Zwischenraums, der er selbst ist, Platz macht. Der Körper, der fortgeht, nimmt seinen Zwischenraum mit, er nimmt sich als Zwischenraum mit und stellt sich gewissermaßen beiseite, er zieht sich in sich zurück.« 43

Und der Zwischenraum ist der Ort seiner Intimität, ist ein gespalten Sein als eigentliches bei sich Sein, die Realität der Differenz. »Der Körper ist sich im Aufbruch, insofern er fortgeht – sich eben hier vom hier in Abstand bringt. Die Intimität des Körpers exponiert die reine Aseität als den Abstand und den Aufbruch, der sie ist. Die Aseität – das An-sich, das Durch-sich des Subjekts – existiert nur als der Abstand und der Aufbruch dieses A der Aseität – (dieses fort-von-sich), welches die Stätte ist, die eigentliche Instanz seiner Gegenwart, seiner Authentizität, seines Sinns. Das fort-von-sich als Aufbruch ist das, was exponiert wird.« 44

Das Fort-von-sich ist die Offenbarung seiner selbst als Zwischenraum. Der Zwischenraum ist die Differenz, ist das Aufmachen des Raumes, die Realität der Stätte, die Arealität, wie Nancy schreibt, als die Negation der absoluten Realität, des absoluten, vierdimensionalen Hier und Jetzt und zugleich die Realität des Areals, als der Raum und die Zeit, als die er sich präsentiert. Die Körper 42 | Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 46: »Jede Beziehung zwischen Kräften erstellt einen Körper […].« 43 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 32f. 44 | Ebd. 33.

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sind die differentiellen Formen, und Information hat nur Statt, findet nur statt, wo Körper auf Körper, wo Form auf Form wirkt, wo Kräftegeschehen ist, wo Bezüge herrschen, wo sich nichts zur Gänze dem anderen darbietet und überantwortet, wo Subjektivität oder Individualität – in sich zurückgezogen – ausgreift, wo sinnliches Geschehen ist. Die Sinnlichkeit ist das Offene der Offenbarung und der Sinn der Kontakt aus der Differenz 45, aus der inneren Gespaltenheit, aus dem Hier und nicht Hier, aus dem Zusammenspiel von hypokeímenon dektikón und eidos, Form und Offenheit. Darin liegt das Wesen der Information selbst, des Sinns und der Interpretation, der Bezogenheit und Angewiesenheit. Formen wirken auf Formen – ich bin die Organisation einer Mannigfaltigkeit von Informationen, bin ein Kräftegeschehen und bin in einem Kräftegeschehen. Jeder Bezug, den ich auf baue, ist meine Realität – ist die Luft, die ich atme, sind die Menschen, die ich kenne, ist das Blut, das ständig in allen Bahnen und Organen zirkuliert, ist jedes Buch, das ich lese und jeder Gedanke, der aufsteigt und sich wieder verflüchtigt. Es ist immer mehr als binäres Ja oder Nein sagen, ist immer Gegenseitigkeit und verzweigte, vielfältige Wirksamkeit. Es sind undurchdringbare Netze und Strukturen, nicht zwei Antworten auf unendlich viele Fragen, sondern unendlich viele Antworten auf ein und dieselbe Frage, unendlich viele Tonlagen und Nuancen ein und derselben Stimme, unendlich viele Schattierungen derselben Farbe – die Univozität des Seins, die aus allen Differenzen spricht, die aus allen Seienden spricht, die selbst die Differenzen und Auf brüche sind – Offenbarungen, Erscheinungen, Körper, Formen, Existenzen. »Also exponiert: aber es ist nicht die Sichtbarmachung dessen, was zuallererst versteckt, eingeschlossen war. Hier ist die Exposition das Sein selbst (das heißt: das Existieren). Oder besser noch: wenn das Sein als Subjekt, als Wesen, die Autoposition besitzt, ist die Autoposition selbst die Exposition, als solche, in ihrem Wesen und in ihrer Struktur. Auto = ex = Körper. Der Körper ist das Exponiert-Sein des Seins.« 46

Das ist nichts anderes als Aristoteles’ Argument gegen Platon und die Ideenlehre: Die sinnliche Erscheinung ist nicht Repräsentation, nicht Abbild oder getrübte Erscheinung des Allgemeinen, sondern ist erste Substanz als das Wesen, das Wesentliche des Geschehens. Es ist die erste Umkehrung des Platonismus, der eigentlich klassischen Metaphysik, der ersten transzendentalen oder ontologischen Zeichenlehre, ihrer Verweisstruktur und Verkörperungstheologie. Platon gebiert die allgemeinen Formen, befruchtet durch den Drang auf 45 | Vgl. hierzu auch: Volker Gerhardt, Die »Grosse Vernunft« des Leibes, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 141ff. 46 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 33f.

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wissenschaftliche Sicherheit und das Bedürfnis nach einer moralischen Weltordnung in Form der transzendenten Ideen, die dem von aller Körperlichkeit befreiten Geist wieder zugänglich werden, die ihm offen stehen nach seinem Aufstieg aus dem Schattenreich der irdischen Erscheinungen, den dunklen Umklammerungen der Höhlenwelt. Sie weisen den Weg auf die eine, höchste, die göttlichste aller Ideen, die Idee des Guten47, die in ihrem Schein noch die Formen selbst erstrahlen lässt, in der alles kulminiert, in der sich alle Bahnen kreuzen und von der immer schon alles ausgegangen ist. Sie verschlingt alles, umkreist alle Differenzen, ist erstes Signifikat aller Bedeutungskontexte und zugleich oberstes télos jeder Bewegung, auf das notwendig alles Streben gerichtet sein muss, das dem Grund seines Wesens gerecht zu werden sucht. Darin liegt immer die Bewegung der Metaphysik, ihr eigener Auf bruch, der keinen Bruch in das Prinzip der Einheit, sondern den Bruch mit der Differenz zu Gunsten einer projizierten Einheit beschreibt, der die Verweisstruktur der Formen, den Beziehungskontext der Körper enteignet, in eine Richtung treibt, der die Trugbilder und Masken zu Abbildern und Statthaltern, zu Sklaven »im Zeichen von…« mutieren lässt. Mit diesem Aufbruch der klassischen Metaphysik von der einen hin zu einer anderen, ferneren Welt, mit ihren unzähligen Reisen von den weiten Feldern der Differenzen in den Himmel der absoluten Identität, von der Höhle hinauf ins helle Reich der Ideen, der Kreuzfahrt zur Insel des reinen Verstandes48, eröffnet sie den Raum der versteinerten Körper, der geschlossenen Formen, der Seelen und Atome und Seelenatome, den Zwischenraum der Präsenz, der das Spiel der Formen leugnet mit Blick auf jenes Dahinter, jene unwiderruflichen Voraussetzungen, die Leben einhauchen, indem sie alles Leben auslöschen. Nancy schreibt über die unkörperlichen, die abstrakten Begierden, die metaphysische Erotik des Medusierens sei ein sicheres Zeugnis für die Verleugnung der Körper. »Medusa läßt ihren Ausdruck erstarren, lähmt ihre Ausdehnung: übrig bleibt eine Masturbation des Auges«49, nämlich jenes ideellen Auges, das in der Vision der Ideen sich selbst als sich an ihnen teilhabend sieht, oder jenes vernünftigen Auges, das im Durchdringen aller Dinge hin auf ihren Grund sich selbst erblickt – als Bedingung aller Möglichkeit. Die Ideen Platons, Gott oder die Vernunft der Aufklärung, verkörpern allesamt den transzendenten Grund, den übersinnlichen Sinn, das Pneuma, das aus allen Dingen spricht und bedeuten zugleich den Anspruch, durch sie und mit ihnen, in ihnen den Verweis zu vernehmen, auf dieses Dahinter zurückzugehen, in der Welt der Körper den Wert zu erkennen, der ihnen zu Grunde 47 | Vgl. Platon, Politeia VI, Werke Bd. 4, 505 a2. 48 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 294, in: Werkausgabe III, 267. 49 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 43.

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liegt, und im Erkennen dieses Wertes die Welt der Körper zu entwerten. Man blickt nicht aus der Welt der Körper, sondern aus einem Mysterium, aus einer Sphäre der Unkörperlichkeit, die den Körper absterben lässt, die vorgibt, ihn zu durchdringen und eben in dieser gedachten Durchdringung sich dem Körper entfremdet. »Einen Körper sehen ist eben nicht, ihn mit einer Sicht zu begreifen: Das Sehen selbst entfernt sich dort, es schafft sich dort Raum, es umfasst nicht die Gesamtheit der Ansichten. [...] Die Körper sehen heißt nicht, ein Mysterium zu enthüllen, es bedeutet, das zu sehen, was sich dem Sehen anbietet, das Bild, die Menge der Bilder, das nackte Bild, wobei die Arealität entblößt wird. Dieses Bild ist aller Vorstellungswelt, aller Erscheinung fremd – und gleichfalls aller Deutung, allem Dechiffrieren. Einen Körper kann man nicht dechiffrieren – ausgenommen die Tatsache, daß die Chiffre eines Körpers dieser Körper selbst ist, nicht chiffriert, ausgedehnt. Das Sehen des Körpers durchdringt nichts Unsichtbares: Es ist Komplize der Ausdehnung, die das Sichtbare ist.« 50

Denn diese Ausdehnung ist die Realität des Körpers, seine Realität als Arealität, die sich nicht auf einen substantiellen Punkt reduzieren lässt, dem verschiedene Eigenschaften zukommen können oder nicht – von denen er unabhängig existiert. Kein Punkt, zu dem man durchdringen kann, denn in jedem Durchdringen des Körpers wird die Ausdehnung als die Form, die er immer ist und immer zuerst ist, verleugnet, zerstört, getötet. Die Arealität, die Ausdehnung, in der sich der Körper exponiert, als die er sich verortet, ist nicht das Scheinbare, der augenscheinliche Verweis auf einen Grund, denn der Grund selbst ist a-real – vielmehr ist sie die Klarheit, als die sich der Körper immer offenbart, nicht als implizite Aufforderung zur Dekodierung, als ausgedehnte Sphinx, sondern als Realität, als ausgedehnte Evidenz – als Evidenz, die in der Offenbarung ihrer Arealität, im sich Öffnen und sich Ausdehnen, mit dem metaphysischen Anspruch der Reduktion und Festsetzung, mit der transzendentalen Bindung an einen transzendenten, ideellen Grund, bricht, die den Raum, den sich die Metaphysik als Raum der Präsenz dieses Grundes geschaffen hat, auf bricht und so einen neuen Raum entwirft, der nicht Zwischenraum zweier Welten, sondern Zwischenraum der Körper ist – die Körper als Formen, die Körper- oder Leib-Formen51 nicht als das Scheinbare, sondern selbst das Scheinende, das, was zuerst und wesentlich in den Horizont des Scheinens, des Erscheinens und des Daseins tritt.

50 | Ebd. 43. 51 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39 ff.

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In ihrer Ausdehnung schaffen die Formen selbst den Raum, in dem sie offenbar, geöffnet sind aufeinander, nicht um durchbohrt, durchdrungen zu werden auf ein Dahinter, das sie mitreißt, in den Sog der Vergessenheit zieht, sondern einen Raum, in dem sie einander berühren, fühlen, sehen, denken, ohne von einem anderen vereinnahmt zu werden. Und jeder Körper, jede Form, jedes eidos ist Teil dieses Aufbruchs in seiner Exposition, in seiner Individualität, die nicht unteilbare Substanz als Identität, sondern ousía in der differentiellen Verfügung von dýnamis und enérgeia, nicht Inkorporation einer Idee, sondern substantielle Leugnung des ideellen Mysteriums ist, indem sie sich selbst als Mysterium und Trugbild offenbart. Jeder Körper, indem er so ist, wie er ist, und dieses Sein immer wieder verändert, modifiziert, das Sein selbst modalisiert, sich nicht seinem Wesen gemäß zeigt, sich nicht in einer mystischen, sondern immer nur in einer fraktalen Form zeigt, der selbst gespalten ist und sich einer gespaltenen Sicht zeigt, bricht den metaphysischen Diskurs, widerspricht ihm und bricht somit einen neuen Raum auf, den man lange verschwiegen und begraben hat, bricht in seiner Gemeinschaft mit anderen Körpern, die sich in ihrer Evidenz nicht auf ein Gemeinsames reduzieren lassen wollen, die dieser Reduktion entgegenstehen in ihrer je eigenen Stätte, den Raum der Körper, die Welt der Formen auf, die Welt der Differenzen als die Welt der Wirklichkeit, schafft selbst den Aufbruch und Durchbruch des Raumes, in dem er in einer moralisch-wissenschaftlichen Vision festzusetzen, zu verorten versucht wurde. Insofern jeder Körper in gewissem Sinne einen Auf bruch darstellt, zeigt sich darin zum einen, dass er selbst keine Geschlossenheit, keine Abgeschlossenheit für sich und in sich selbst bedeutet, sondern sich öffnet gegen anderes, andere Körper, dass er Kontakt aufnimmt, dass er in der Öffnung rührt und berührt wird; zum anderen aber, dass durch seine Öffnung, in der Offenbarung der Auf bruch jenes Raumes passiert, der darauf drängte, ihn als diese Geschlossenheit erkennbar, bestimmbar zu machen, der ihn einsperren und ersticken wollte, in dunklen Höhlen oder transzendentalen Gefängnissen. Körper haben ihren eigenen Ort, die je eigene Stätte ihrer Existenz, die nicht zu durchdringen ist, ohne dabei den Körper selbst zu opfern, ohne die Form zu verlieren, und es ist tatsächlich die Unvoreingenommenheit des Aristoteles, die ihm die Körper-Form als das Wesentliche, das Erste, die ousía präsentiert – die den allgemeinen Begriff in seiner Gültigkeit einschränkt gegen Platon und die wissenschaftliche Moralität. Die Welt des Aristoteles präsentiert sich als der Corpus realer Formen, das Geschehen als die Bezüge der Körper-Wesen, als die Bewegung, die sie selbst sind und auch immer sind als das unaufhörliche Wirken aufeinander. Es ist Grundsatz seiner Methode, Körper für Körper nicht zu subsumieren, sondern zu beschreiben, nebeneinander zu stellen, um zum Wesentlichen des Singulären durchzudringen, um diesen Auf bruch klarer und deutlicher zu sehen

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als einen neuen Auf bruch, der neuen Raum schafft und immer wieder Raum, Zwischenräume schafft, jeden Körper nebeneinander zu stellen, nebeneinander zu schreiben ohne Überschrift; die Sichtung und Betrachtung des Einzelnen, das Herauskehren und Hervorbringen des Abgründigen, Verstellten, der einen Stimme des lógos der Bewegung. Er sieht nicht das Allgemeine zuerst, wendet sich gegen den akademischen Duktus, geht vom Singulären zu den Bestimmungen, und die ersten Bestimmungen sind immer das Wesen selbst, das Dasein des Individuellen in einer Welt der Körper-Formen. Er »nimmt den Gegenstand, den er behandelt, auf und betrachtet ihn, was für einzelne Bestimmungen daran vorkommen. Er betrachtet z.B. das Wesen [...] und sagt: Das Wesen wird gesagt so, und auch so, in diesem Sinne, in vielen Bedeutungen, diese Bestimmungen finden sich daran vor.«52 »Corpus« meint nichts anderes, als diese Unbefangenheit, das annehmenund aufnehmen-Können der Existenzen, einen Schriftkörper, in dem Wort für Wort nebeneinander steht, in dem sich Sinnzusammenhänge ereignen, in dem Bezüge stattfinden – der absolut moderne Roman, in dem sich das Weltgeschehen schreibt, in dem Ebene über Ebene liegt, eine Unendlichkeit an Ebenen, die vertikal angeordnet die Tiefendimension erzeugen, das Reich der Metaphern und Trugbilder, die Perversion der Hintergründigkeit in einem Staccato an Präsenzen, Kontakten und Bezügen, ein einziger Tag, der alle Tage umschließt, ein einziger Monolog, der alle Monologe ausspricht, das Zugleich aller Enden einer parabolischen Bewegung53. Man bräuchte eine Schrift der Körper, oder aber Körper als Schrift, als ein Nebeneinander, in dem jeder Körper seinen eigenen Platz, seine eigene Stätte einnimmt und zugleich mit anderen Körpern, mit anderen Wörtern in Kontakt steht, nicht für sich alleine, allem anderen fremd, und doch nicht an der Stelle des anderen, nicht die Stätte des anderen vereinnahmend, ihn durchdringend. Das ist das Modell, das Nancy in seiner Schrift über den Körper präsentiert: Ein Gedankenmodell als die unbefangene Beschreibung des Singulären, ein nicht gerichtetes Nebeneinander, Corpus: Wort neben Wort, Fall neben Fall, Körper um Körper. Das Wort, der Körper offenbart sich in der Schrift als die Ausdehnung, zeigt sich von einer bestimmten Seite und steht gemeinsam mit anderen Körpern – verweist nicht auf sein Innerstes, auf sein Wesen, ist nicht 52 | G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, Werke 19, 146. 53 | Vgl. z.B. Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 39: »In Finnegans Wake schließlich haben wir wirklich einen Einsteinschen, in sich selbst zurückgekrümmten – das erste Wort ist mit dem letzten verschweißt – Kosmos vor uns, der zwar endlich, aber gerade unbegrenzt ist. Jedes Ereignis, jedes Wort steht in einer möglichen Beziehung zu allen anderen, und es hängt von der semantischen Entscheidung bei einem Wort ab, wie alle übrigen zu verstehen sind.«

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endliche Repräsentation des Unendlichen, und genauso wenig ist er rein äußerlich, reines Außen und in seiner Äußerlichkeit abgeschlossen gegen anderes. Das ist die Illusion der gesammelten Auflistung der Körper-Formen, die nicht reduzierbar sind auf ein allen Gemeinsames. Ein Corpus, wie ihn die Jurisprudenz kennt, in der sich eben jener Raum, jener nicht gerichtete Raum der Körper lichtet, in dem den Körpern Gerechtigkeit widerfährt, in dem sie existieren als Erscheinungen, als singuläre Offenbarungen, Konturen und Grenzlinien, Formen. »Das Modell des Corpus ist der Corpus Iuris, Sammlung oder Zusammenstellung der Institutiones, Digestes und anderer Codices aller Artikel des römischen Rechts. Es ist weder ein Chaos noch ein Organismus: Der Corpus steht nicht genau zwischen beiden, sondern eher anderswo. Er ist die Prosa eines anderen Raums, weder abgründig noch systematisch, weder in sich zusammengefallen noch fundiert. So gestaltet sich der Raum des Rechts: Seine Grundlage entzieht sich an Ort und Stelle, das Recht des Rechts ist selbst immer rechtlos. Das Recht überwölbt alle Fälle, doch es ist selbst der Fall seiner Einsetzung, Gott ebenso fremd wie der Natur. [...] Die Rechtsprechung besteht weniger darin, das Absolute des Rechts zum Ausdruck zu bringen, als vielmehr darin, Gründe daraus abzuleiten, das zu sagen, was hier Recht sein kann, da, jetzt, in diesem Fall, an diesem Ort. Hoc est enim...: lokale, räumliche, horizontale Diktion und weniger Diktion des Seins des Rechts als sein Tun, sein Tun-Können, Zu-tun-im-StandeSein in diesem Fall.« 54

Und ebenso wäre ein Corpus der Körper, ein Corpus corporum, die Sammlung, Aufzählung der Körper-Formen, die selbst nicht einem bestimmten Gesetz folgt, die nicht mit der Einschränkung der Frage passiert: Aber was versetzt den Körper überhaupt erst in die Lage, Körper zu sein, was sind die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, der Aufzählung überhaupt, was ist das Urbild, als dessen Abbild, als dessen Repräsentation diese Form erscheint, was ist das Allgemeine, das sich in jeder Singularität zum Ausdruck bringt? Kein Verweis auf einen transzendenten lógos, sondern ein Kata-log der Körper, eine Schrift der Körper, die nebeneinander stehen, alle ihre Stelle einnehmen, ohne auf eine transzendentale Synthese zu verweisen, bzw. deren Ausdruck zu sein, sie zu verkörpern. Jeder Körper ist Auf bruch, indem er den Raum durchbricht, der ihn anpassen will, indem er den Raum modifiziert in seiner Evidenz, seiner Offenbarung – der Raum der Körper ist kein vorgegebener, ausschließender, sondern ein modaler Raum, das Dasein der Körper ist selbst modal und modifizierbar, ist irgendwo ein Raum juristischer Klarheit, »ebenso, wie der Raum des Rechts 54 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 49.

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der Raum der je nach Fall konfigurierten Körper ist. Der Körper und der Fall haben sich einander übereignet. Zu jedem Körper paßt eine eigene Rechtssprechung: ›Hoc est enim...‹«55

5 K ONTAK TE In diesem Sinne wäre ein Corpus, in dem alle Körper rein demgemäß aneinandergereiht würden, wodurch sie sich zu allererst zeigen, worin sie sich offenbaren, eine Schrift ihrer Ausgedehntheit, ihrer Stätten, jener Orte, an oder in denen sie Statt haben (als die sie Statt haben), an denen sie existieren, eine Schrift der Toten eben im Sinne einer bloßen Aufzählung, die nicht den Tod, sondern das schlichte Nebeneinander zum Ausdruck bringt. Er wäre eine Aufzählung, die immer weiter schreitet, von Körper zu Körper, Bestandaufnahme, die nichts von ihrem Weg kennt, nichts davon vorwegnehmen kann, die essentiell und gegen allen metaphysischen Anspruch immer unsicher ist, die nicht erst ihre Zelte auf einer isolierten Insel eines besonders reinen Verstandes aufschlägt, sich dort orientiert und alles kommen lässt, sondern stets fremde Länder bereist »und die Fremde als Länder, Herzogtümer, Gegenden, Übergänge, Überquerungen, Öffnung der Landschaften, unerwartete Gebirgsketten, Wege, die abseits verlaufen, nirgendwohin, Auf brüche, Rückkünfte. Corpus: ein Schreiben, das etwas vom Land sähe, alle Länder des Körpers nacheinander.«56 Corpus – kein Diskurs, keine Erzählung, eher offene, aphoristische, nicht-abgeschlossene Prosa, fragmentarische Schrift, die ihre Wörter, ihre Körper, das Wort »Körper«, wenn man will, nicht einer Überschrift, einem Ziel, einem Ergebnis unterstellt, ein surrealer, dadaistischer Text, in dem die Arealität der Körper, ihre Ausdehnung offenbar wird, in dem sie irgendwie, irgendwo – sich selbst überlassen – an ihren Stätten Kontakt aufnehmen. Es ist ein neuer Auf bruch, eine neue Schrift, die nicht erzählt und schlussfolgert, Corpus, ein Raum, der selbst einen Raum durch- und auf bricht, in dem nicht jede Beziehung determiniert ist, sondern der Beziehungen ermöglicht, eine Schrift, die nicht sagt, unter welchen Bedingungen mein Auge diesen Körper, dieses Wort sieht, diese Hand schreibt, die nicht sagt, wie Körper auf andere Körper wirken, wie Beziehungen, Bedeutungen überhaupt erst möglich sind, und in diesem nicht-Sagen, in diesem Schweigen eben Kontakt ermöglicht, rührt und berühren lässt. Corpus – ein Gedankenmodell, das in seinen Ansprüchen seine eigene Unmöglichkeit zum Ausdruck bringen soll – das reine Nebeneinander der Körper, das reine Aneinanderreihen von Wör55 | Ebd. 49. 56 | Ebd. 50.

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tern in einem Schriftbild, einem Schriftkörper als die unabdingbare Exposition von Zusammenhängen und Wirkkräften. Die Illusion eines Corpus als die Entbindung aus der Stringenz der absolutistischen Sinnstruktur, als Auf bruch des gerichteten Spiels zur Offenbarung der vielschichtigen Sinnverweise der Körper-Formen untereinander57, der unendlichen Ebenen, die ineinander verwoben, verschachtelt, verkeilt, anziehend und abstoßend wirken, die Wirkkraft der in sich zurückgezogenen, offenen Form, der Spannkraft, die jede Form für sich in Anspruch nimmt, bei sich und außer sich, die Informationsstruktur der Körper-Formen, die einander bewegen und beeinflussen, einander interpretieren und in ihren Zusammenhängen den Sinn-Körper konstituieren. Ein Corpus, der sich in der ursprünglichen Unmöglichkeit der reinen Auflistung zu einem modernen, offenen Kunstwerk wandelt, der kein Gesetz kennt außer die Gesetze der inneren Differenz, der immanenten Bewegung, Chaos unendlicher Bezüge, die sich jedem Anspruch vorverfügter Identität entziehen, die sich immer als problematisch und fraktal, als undurchdringbar erweisen. »Man weiß, wie diese Bedingungen bereits in Werken wie Mallarmés Livre oder Finnegans Wake von Joyce verwirklicht wurden: [...] Die Identität des gelesenen Dings löst sich hier wirklich in divergente Reihen auf, die durch die Geheimwörter definiert werden, wie sich die Identität des lesenden Subjekts in den dezentrierten Kreisen der möglichen Mehrfachlektüre auflöst. Dennoch geht nichts verloren, da jede Reihe nur in der Wiederkehr der anderen existiert. Alles ist Trugbild geworden. Denn unter Trugbild dürfen wir nicht eine bloße Nachahmung verstehen, sondern eher den Akt, durch den noch die Idee eines Urbilds oder einer privilegierten Position angefochten, gestürzt ist. Das Trugbild ist die Instanz, die eine Differenz in sich schließt, als (zumindest) zwei divergente Reihen, auf denen es sein Spiel treibt, ohne jede Ähnlichkeit, ohne daß man von nun an die Existenz eines Originals und eines Abbilds angeben kann.« 58

Das Wort in einer Schrift berührt andere Wörter, ohne in sie einzudringen, ist Trugbild, indem es auf sich selbst als Erscheinung und auf ein anderes verweist, auf sein Hier und nicht-Hier, auf seine eigene Grundlosigkeit. Es offenbart sich selbst und schweigt von sich. In diesem Verorten ihrer eigenen Stätten haben die Wörter Kontakt, zueinander, zu mir, dem Lesenden, zu mir, dem Schreibenden, dem Hörenden, und sie heben immer den Anspruch ihrer absoluten Identität auf in ihrem Erscheinen, womit auch meine Identität gespalten, immer schon gespalten ist – in ihrer Bewegung, die zugleich meine Bewegung, in ihrer Differenz, die zugleich meine Differenz ist. 57 | Vgl. hierzu z.B. meinen Aufsatz »Bezugs-Formen«, in: http://www.inst.at/trans/ 17Nr/6-9/6-9_auhser.htm. 58 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 98.

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»Ob wir es wollen oder nicht, auf dieser Seite berühren sich Körper, oder sie ist selbst Anrühren (meiner Hand, die schreibt, Ihrer, die dieses Buch in Händen hält). Dieses Berühren ist unendlich umgeleitet, aufgeschoben – Maschinen, Transporte, Fotokopien, Augen und wieder andere Hände haben sich dazwischen gestellt –, doch sie bleibt der winzige, beharrliche Kern, das winzige Staubkorn eines allenthalben unterbrochenen und doch allenthalben fortgeführten Kontakts. Am Ende rührt Ihr Auge an die gleichen Schriftzüge, die das meine nun berührt, und sie lesen, was ich geschrieben habe, und ich schreibe Ihnen. Irgendwo hat das Statt.« 59

Hier passiert Kontakt als Berührung von Differenzen, hier konstituiert sich Bezug, hier steht der Sinnkörper als bewegter Zwischenraum, hier ereignet sich Kontakt in der Umsetzung und Verwirklichung von Möglichkeiten, und dieser Kontakt ist immer ein Kontakt von Körpern, die selbst irgendwo Statt haben, die eine Stätte einnehmen, die nicht aufeinander oder ineinander, sondern irgendwo, nebeneinander, hintereinander existieren. Die Arealität, die Ausdehnung der Körper, ist ihre Evidenz, in ihr sind sie offenbar, sind sie offen, geöffnet, schreibt Nancy, geöffnet nach vielen Seiten, an vielen Seiten, auf anderes hin offen, und sind in dieser Offenheit eben sie selbst, intim, unantastbar, undurchdringlich. Die Öffnung ist jenes »nach Außen« der Körper, in dem sie berühren, in dem sie Kontakt aufnehmen; mein Körper, der sieht, der liest, der spürt, der denkt und atmet, der in Kontakt steht, von seiner Stätte aus andere Stätten berührt, an andere Körper rührt, ohne meinen Körper in dem Sinne zu veräußern, als er andere einnehmen, durchdringen würde. So wie die verschiedenen Wörter nicht den Platz des anderen einnehmen, immer in gewisser Distanz zueinander stehen, Abstand halten, aber dennoch an das nächste Wort rühren, es irgendwie, irgendwo berühren, steht auch der Körper in Kontakt zu anderen Körpern, eben indem er sich in seiner Offenheit in sich selbst zurückzieht, sich in seiner Offenheit dem Durchdringen, dem Aufsaugen und damit der Auslöschung verweigert, indem er Wesen, Offenbarung, ousía bleibt. »Zwei Körper können nicht gleichzeitig denselben Ort besetzen. Folglich auch Sie und ich nicht zur selben Zeit an dem Ort sein, wo ich schreibe, wo Sie lesen, wo ich spreche, wo Sie hören. Kein Kontakt ohne Abstand.«60 Genau in dieser Frage nach den Körpern und dem Kontakt von Körpern liegt auch das gesamte Problem der Metaphysik verborgen. Die Metaphysik ist inspiriert durch die Welt der Körper. Sie ist inspiriert durch ihr Auftreten, ihr Statt-Haben, ihr Dasein und inspiriert durch den Kontakt, den Körper zueinander haben, eine seltsame Form von Gemeinschaft, von Austausch, Kommu59 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 48. 60 | Ebd. 52.

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nikation, etc. – Inspiriert, weil sie eben daraus die Energie ihrer Spiritualität zieht, ihren Drang zu Erklärungen und Orten, die nicht mehr der Welt dieser Körper angehören können, die sich ihr entziehen und in denen alle Stränge von Zusammenhängen und Beziehungen zusammenlaufen, in einem Grund für alle Bewegung, alles Wirken, in übersinnlichen Ideen, reinen Formen, an denen alle Dinge Anteil haben, in der Umdeutung der reinen Energie zu einem ersten Beweger als Ausgangspunkt für alle Bewegung, in reinen Ideen, die jeder Körper entstellt wiedergibt, ausdrückt, oder in einer alles durchwaltenden Vernunft, die jede Erscheinung und Bewegung regelt, die Bedingungen der Möglichkeit, Schemata, Grundsätze vorgibt, nach denen alles, jeder Kontakt allein vollzogen werden kann. Dieser Kontakt, diese Wirkung, aufgeschoben über räumliche und zeitliche Distanzen aller Art, Kontakt zwischen Körpern, einer Hand, die schreibt, einem Buch, einer Seite, Wort auf Wort, einem Auge, das liest, Wirkung, Bewegung zwischen Körpern, scheinbar, vordergründig unbegründete Bewegung, muss doch irgendwo einen Grund haben, muss doch irgendwie Sinn ergeben. Aber genau darin, im Verlassen der Welt der Körper, würden Nancy und Aristoteles sagen, im Aufsteigen in eine andere Welt, in der verbissenen Suche nach dem Allgemeinen, tötet man den realen Kontakt, den Kontakt der arealen Körper, indem man ihnen ihre Arealität auf Kosten einer transzendenten Realität abspricht, indem man in jede Öffnung eindringt und den Körper in diesem Eindringen und Durchdringen auf einen metaphysischen Punkt implodieren lässt – Aristoteles gegen Platon...61 Es ist immer unmöglich, zum Scheitern verurteilt, vom Körper zu sprechen, weil er sich in seiner Offenheit dem Durchdringen entzieht, weil man nicht zu dem durchkommt, was man in einer mystischen Vision gerne als sein Wesen bezeichnen würde, und es ist ebenso unmöglich, vom Körper zu schweigen, weil er in seiner Zurückgezogenheit immer Kontakt aufnimmt, immer in Kontakt steht, weil er offen ist, eine Jungfrau, »eine Vestalin auf ihrem Lager.«62 Und er ist nicht Jungfrau, weil er geschlossen ist, sondern weil er offen ist. Diese Jungfräulichkeit – als Offenheit – kann man ihm nicht nehmen. Der Körper ist da, ist Form, erfüllt die Stätte seiner Anwesenheit, ist areal, Ausdehnung, und ist in dieser Anwesenheit auch irgendwie abwesend, bei einem anderen, in seinen Sinnen und seinem Fühlen, ist immer in Kontakt und bricht selbst den Raum seiner Präsenz auf, ist immer Auf bruch und nicht

61 | Paola-Ludovika Coriando, Individuation und Einzelsein, 267: »Weil Individualität Differenz ist (und d.h. ein Bruch, ein Spalt, ein Sprung), ruht das es-selbst-sein des Einzelseienden nicht in sich selbst, sondern trägt den Wesensspalt, den es mit seinem Sichabzeichnen vom indifferenten Gesamt des Seienden eröffnet, weiter mit sich.« 62 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 52.

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Raum für sich, sondern Zwischen-Raum, ist – in gewissem Sinne und sinnlicher Gewissheit – wahnsinnig. »Der einzige Eingang des Körpers, der einzige Zugang, den er in jedem dieser Eingänge wieder aufgenommen hat, ist ein Ausbruch von Wahn. Körper, Corpus, corpus hoc ist ein unheilbarer Wahn. Keine Verwirrung, auch kein Delirieren, auch keine Manie, auch keine Melancholie, welche die ganz gewöhnlichen Formen des Wahns des ›Geistes‹ sind. Sondern dieser stolze, hingestellte, gespannte Wahn, stets drohend mitten in der Gegenwärtigkeit, mitten im ›Ich‹, mitten im ›Wir‹, mitten im ›Augenblick‹. Diese grelle Öffnung mitten in der Besinnung, zur vollen Besinnung. Diese räumliche, nervöse Dichte, die sich im Herzen alles Eigenen verbreitet und sich nicht aneignen läßt, ohne sich zu lockern, ohne an sich zu ihrer eigenen Fremde zu werden, noch, ohne aus dem Sinn, aus ihrem Sinn etwas ganz anderes zu machen, eine Ausdehnung, ohne die Sinn wohl sinnhaft sein, aber niemals, nirgends Statt haben könnte. Man tritt durch diesen Wahn in den Körper und durch alle Eingänge des Körpers ein – und durch denjenigen [Wahn], welcher jeder Körper ist, hat man zu diesem Wahn [d.i. zu diesem Körper] Zugang.« 63

Körperlicher Wahn, der nicht den pathologischen Wahnsinn des Geistes meint, sondern eine sinnliche Ekstase, Ekstase sinnlicher Gewissheit, eher einen apollinisch-dionysischen Wahn, der ausgreift und rührt, der berührt in seinem sich selbst Sein, der aus seiner Stätte hinaussteht und eben darin Statt hat, der in sich zurückgenommen sinnlichen und sinnvollen Kontakt hat und in seinem Kontakt dem Sinn überhaupt erst Raum und eine Stätte gibt. Er ist keine Krise. »Er ist lediglich das unendlich Losgebundene und Gelöste des Statt-Habens, das an sich selbst gespannt ist. Er ist diese Opfergabe der Stätte.«64 Und als diese Opfergabe ist er apokalyptisch, ist er selbst Offenbarung und Evidenz, die Evidenz des Körpers. »Kein Geheimnis des Körpers, das uns mitzuteilen, und kein geheimer Körper, der uns zu offenbaren wäre. Was ›offenbar‹ wird, ist, daß die Körper sichtbarer als jede Offenbarung sind.«65 Keine mystische epopteía, kein autoerotischer Voyeurismus, der alle Kontakte und Bezüge, sich selbst eingeschlossen, aus einer ewigen, übersinnlichen Perspektive aufnimmt und in diesem Sehen seine Kontemplation der Abgehobenheit erreicht, seine eigentliche metá-phýsis, sondern Körper, die existieren, sinnliche Körper, die Kontakt haben, die offen sind im Hinausstehen, im Wahn des gelöst-Seins von ihrer Stätte, die ekstatisch und in ihrer Ekstase selbst Sinn sind, Sinn machen. Meine Hand schreibt, mein Ohr hört, mein Auge sieht an seiner Stätte, und ist von ihr losgelöst, ist offen und in seiner Öffnung in sich 63 | Ebd. 53. 64 | Ebd. 65 | Ebd.

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zurückgezogen, und in meinem Sehen, Hören, Fühlen, Denken, etc. bin ich nicht fort, nicht anderswo, bin ich nicht ein anderer, der seinen Körper fühlt, sondern bin ich Exposition, Ekstase des Körpers, Kontakt, Öffnung, zurückgezogen, Auf bruch, Zwischenraum im Informationskontext der Wirklichkeit. Der Sinn eines Wortes liegt nicht in seinem Wesen, der Sinn des Wortes »Körper« nicht unter seiner Oberfläche, unter seiner Ausdehnung, sondern in seinem Kontakt, der zugleich sein Abstand ist, in seinem Kontakt zu anderen Wörtern, die nicht gleich neben ihm, vor oder unter ihm stehen müssen, die irgendwo stehen können. Wir können das Wort nicht durchdringen, um seinen metaphysischen Hintergrund zu durchleuchten, den einen, ewigen Sinn, aus dem das Wort hervorgegangen ist, den es ausdrücken und inkorporieren muss, ebenso wie man das Wort nicht von seinem Sinn trennen kann, den es in seinem Kontakt, in seinem sinnlichen Kontakt hat, variabel, zufällig, der sein Zwischenraum, seine Ekstase ist. Das Zusammen der Körper ist offener Text als Pluralität unendlich vieler Kontexte, der Körper selbst Schriftzug – nicht als in einen festgemachten Bedeutungskontext eingeschriebener, sondern aus dieser Umklammerung entschrieben, keinem über allem Geschehen schwebenden Signifikat mehr untergeordnet, sondern Information als endogener und exogener Wirkzusammenhang, ist selbst Form, Metapher, Zeichen, das sich immer verändert, immer wird, das in diesem Werden immer wieder offenbar wird. Das transzendente Signifikat stirbt, ist tot in der Auflösung der absoluten Sinnstruktur und verschwimmt darin in die unendlich vielen Trugbilder, in die Unendlichkeit der Signifikanten, Zeichen, Formen, die sich nunmehr nicht aus der Differenz zu ihrem Urbild, sondern aus der inneren Differenz ihrer Ausgedehntheit präsentieren. Schreiben ist Entschreiben, ist das nach außen Schreiben, die Ausdehnung des Wortes, das sich von seiner Stätte, vom Raum seiner Ausdehnung, dem Raum, der in ihm ist, adressiert von seinem Da, Dasein, auf ein anderes, ein Da-Drüben, und wenn dieses Da-Drüben nicht Verweis auf eine Transzendenz, absoluter Verweis auf einen reinen Ort des Sinns ist, dann ist es die Distanz zwischen den Wörtern, jener Zwischenraum, Statt-Haben des Kontakts. Insofern ist die Ontologie Schrift oder Schreiben – als modale Ontologie – als Modus der Ausdehnung und ekstatischen Kontaktaufnahme, Ontologie des Körpers, Entschreibung des Seins. »Nach draußen adressierte Existenz (da gibt es kein Anschreiben, keine Bestimmung; und dennoch (aber wie?) gibt es einen Empfänger: ich, du, wir, die Körper letztlich). Ex-istenz: die Körper sind das Existieren, der eigentliche Akt der Existenz, das Sein.«66

66 | Ebd. 22.

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Er ist diese Existenz als sinnlicher Körper, als Körper des Sinns, der nicht in einen Horizont eines absoluten Sinns verfügt, eingebettet ist, der nicht die Inkorporation einer Transzendenz, die Idealität des Sinns darstellt. »Er ist im Gegenteil das Ende dieser Idealität, folglich das Ende des Sinns, indem er aufhört, sich auf sich zu verweisen und sich auf sich zu beziehen (auf die Idealität, die ihn zum ›Sinn‹ macht) und sich auf dieser Grenze aufhebt, die seinen ureigensten Sinn aufhebt, die seinen ureigensten Sinn ausmacht und ihn als solchen exponiert. Der Körper des Sinns exponiert diese grundlegende ›Schwebe‹ des Sinns (er exponiert die Existenz), die man ebenso gut den Einbruch nennen kann, welcher der Sinn eben in der Ordnung des ›Sinns‹, der ›Bedeutungen‹ und der ›Deutungen‹ ist. Der Körper exponiert, einfach und absolut, den Einbruch des Sinns, der die Existenz konstituiert.« 67

Im Prozess der Verwesung des krankgewordenen Signifikats bewegt sich auch die Schrift auf anderen Bahnen und hört auf, als Hilfsform und Verkörperung, als Abbild zu fungieren. Das bedeutet: Die Schrift hört nicht auf, den Signifikanten des Signifikanten hervorzubringen, allerdings zeichnet sich in einer ungewohnten Bewegung die neue, große Bedeutung dieser Struktur ab: die Schrift als gedoppelte Verweisstruktur, als wertgleiches Zeichensystem. Sie dringt in eine ursprüngliche Sphäre dessen ein, was die abendländische Tradition unter verkehrten, zumindest in die Irre führenden Vorzeichen für sich als Sprache vereinnahmt hat. Die Schrift selbst wird Ontologie als Ontologie der ausgedehnten, der singulären Formen und hört auf, sich selbst als Derivat einer Ontologie der Transzendenz zu präsentieren. Durch das Stärkerwerden eines durch ein untergehendes System unterdrückten Begriffs wird der Blick auf Bewegungsmechanismen frei, die man – wie schon erwähnt – ohne das Abfallen bestimmter Werte wohl niemals zu Gesicht bekommen hätte: »Die Sekundarität, die man glaubte, der Schrift vorbehalten zu können, affiziert jedes Signifikat im Allgemeinen, affiziert es immer schon, das heißt, von Anfang, von Beginn des Spieles an. Es gibt kein Signifikat, das dem Spiel aufeinander verweisender Signifikanten entkäme, welches die Sprache konstituiert, und sei es nur, um ihm letzten Endes anheimzufallen. Die Heraufkunft der Schrift ist die Heraufkunft des Spiels; heute kommt das Spiel zu sich selbst, indem es die Grenze auslöscht, von der aus man die Zirkulation der Zeichen meinte regeln zu können, indem es alle noch Sicherheit gewährenden Signifikate mit sich reißt, alle vom Spiel noch nicht erfaßten Schlupfwinkel aufstöbert und alle Festen schleift, die bis dahin den Bereich der Sprache kontrolliert haben.« 68

67 | Ebd. 25. 68 | Jacques Derrida, Grammatologie, 17f.

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6 TROPEN Besagtes Spiel ist das Spiel der Zeichen untereinander und das Chaos ihrer vielschichtigen Bewegungen. Die Schrift, der Text des gestürzten Signifikats – vielleicht selbst Metapher oder Trope – ist nichts anderes als die Welt der Formen und Informationen, die zugleich die Welt der sich durchhaltenden dýnamis, der in jede Form verfügten Offenheit ist. Mit dieser Heraufkunft des Spiels passiert also keineswegs eine bloße Ablöse des gebräuchlichen Sprachbegriffs, der traditionellen Ontologie, dessen, worin man vielleicht über lange Zeit den Primat des signans oder den unmittelbaren Verweis auf ein Fixum gesehen hat. Vielmehr ist es der Übergang von einer zentralen, monarchischen, zu einer dezentralen Abhängigkeits- und Verweisstruktur, der Einsturz und Fall der transzendentalen Grammatik in eine Grammatologie, eine Grammatik des lógos, der aus jeder Form spricht oder der die eine Stimme des Seins, die Univozität des Seins in seinen unendlichen und unendlich unterschiedenen Modalitäten ist. Aristoteles sagt, die Formen sind eher und mehr das Wesen, sind Wirklichkeit und wirken gemäß dem lógos, denn der lógos ist die Sprache, die die Formen verbindet, die grundlegende Verfügung der Informationsstruktur in der Singularität, die Offenheit der nicht abgeschlossenen, der nicht identischen Form. Transzendentale Grammatik ist der Ansatz des zentralen Punktes, für den jede Bezugsstruktur funktioniert, für den alles Funktion ist – das Zusammenlaufen in der reinen Apperzeption69, aus der alle Konturen und Formgebungen erstehen, Grammatik als Zeichenlehre, die einen transzendenten, alle Erfahrung konstituierenden lógos als reine Vernunft verortet. Das Spiel Derridas, das Spiel, das zu sich selbst kommt, ist jenes, das den Knotenpunkt löst, ist genau die Relationsstruktur, die den Weg ins Perspektivische freigibt, den Weg in eine »gewisse Ungewissheit« der Formen und Zeichen, der Formen als Zeichen, Metaphern und Trugbilder. Dem voraus geht ein Emanzipationsprozess, das Einreißen der Mauern des Elternhauses, die uns über so lange Zeit das Gefühl der Geborgenheit gegeben, oder besser: vorgespielt haben. Es ist wieder und aus anderer Perspektive die Umkehrung des Platonismus: Sturz der Idee in das individuelle eidos, Auflösung der abstrakten Form in die individuellen Körper, der Tod des übersinnlichen Sinns und damit die Verwesung der transzendentalen Grammatik als Auf bruch der Doktrin, wie und unter welchen Umständen Formen aufeinander wirken, einander beeinflussen können; aber noch mehr: In dieses Spiel führt ein eigenartiger Weg des Erkennens, auf dem uns der Wert der Erkenntnis in ein anderes, ebenso befreiteres wie angreif bareres Licht gerückt werden, entgleiten wird; ein Weg des Erkennens, auf dem uns der Zauberstab der 69 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, A 107 f, in: Werkausgabe III, 168f.

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Verhärtung, des Fixierens und Fixieren-Könnens verloren geht in einem Meer von Seifenblasen, beweglich, schwebend, glänzend, spiegelnd und verletzlich. Ein Weg der Gewissheit, der uns das Ungewisse, Konstruierte der Gewissheit lehrt, der uns das Spiel der Formen, die Sprache und Bezüge der Formen in ursprünglich metaphorischer, tropischer Form erscheinen lässt, uns aber im Aufzeigen der Beweglichkeit der Metaphern unsere eigene Beweglichkeit zurückgibt. Beweglichkeit in einem Spiel der Welt, als Prinzip einer polymorphen, sich an den Seilen »Sinn« und »Wert« von Kontext zu Kontext schwingenden, grundlegenden Kommunikation, verstanden als die Übertragung von Bedeutungen, als Spiel von im Austausch begriffenen, voneinander abhängigen und einander permanent verändernden Formen, In-Formationen, Figuren, ständig in Formation befindlich, performativ. Nietzsche schreibt in seiner Rhetorikvorlesung: »Als Bezeichnung für Übertragungen hatten die Griechen zuerst (z.B. Isocrates) ȝİIJĮijȠȡȐ, auch Aristoteles. Hermagoras sagt, daß bei den Grammatikern noch ȝİIJĮijȠȡȐ heiße, was die Rhetoren IJȡިʌȠȢ nannten.« 70 Die Metapher, die später als tropische Form unter anderen angesehen wurde, trägt also die ursprüngliche Bedeutung der Figuration, die Übertragung, in sich. Die Trope ist Wort-Form, Redefigur, die »uneigentliche Bezeichnung« 71, das, was bei Deleuze Trugbild heißt, jene Form, In-Formation, die nicht auf ein Eigentliches, Ursprüngliches, Grundlegendes – ein Signifikat –, sondern auf ein anderes, auf eine andere Figur verweist, auf ein anderes hinweist, hinzeigt. »[...D]ie Sprache selbst ist das Resultat von lauter rhetorischen Künsten[;] die Kraft, welche Aristoteles Rhetorik nennt, an jedem Dinge das heraus zu finden und geltend zu machen was wirkt und Eindruck macht, ist zugleich das Wesen der Sprache: diese bezieht sich, ebenso wenig wie die Rhetorik, auf das Wahre, auf das Wesen der Dinge, sie will nicht belehren, sondern eine subjektive Erregung und Annahme auf andere übertragen.«72

Das ist Übertragen als das griechische metaphérein. Der konstruierte Begriff der Wahrheit wendet sich aus den Bedürfnissen und Ansprüchen, die in ihm liegen oder an ihn gestellt werden, gegen jenes Prinzip, das wir im Gleichen auch als Fundamentaltrieb, als ewigen Würfelwurf im Spiel der Welt anerkennen wollen, denn im Festzurren seiner Leinen, im Werfen des selbstgeschmiedeten Ankers »Wahrheit« liegt das Stocken der Bewegung, das Erschlaffen 70 | Friedrich Nietzsche, Darstellung der antiken Rhetorik, Vorlesungsaufzeichnungen, KGW II, Bd. 4, 443. 71 | Ebd. 426. 72 | Ebd. 425f.

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aller Muskeln und Fasern, die unentwegt geschaffen, Figuren hervorgebracht haben. Das bedeutet zwar nicht, dass der Grundtrieb der Metapherbildung, von dem Nietzsche in seinem frühen Essay »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn« 73 spricht, im Wahrheitstrieb ausgeschaltet wäre, jedoch, dass alles ihm Entspringende eben unter jenem vorgetäuschten, produzierten Licht der Wahrheit erscheint und somit der Gefahr einer Entwertung durch die Bewertung aus einer illusionär zu einem Fixum erhobenen Perspektive mit offenen Armen entgegenläuft. Die Kunst des Schaffens der Begriffe, oder die Begriffsbildung – eben als Kunst verstanden – ist durchaus wesenhaft, Wesen der Sprache (als téchne, die den Text produziert), allerdings nicht die blinde Abhängigkeit von starr und hart gewordenen Metaphern, in die man sich langsam durch die Macht der Gewohnheit hat treiben lassen. Der Versuch, einer einschränkend rigiden Illusion zu entkommen, indem man sie neu benennt, das Gleiche hinter einem anderen Busch zu verstecken, um es dort zu suchen und wiederzufinden, erscheint im Großen und Ganzen als metaphysische Neurose, der man in der Philosophie wohl niemals zur Gänze entkommen, deren Tücken und Gefahren man sich aber wohl in kleinen Dosen und immer wieder bewusst werden kann. Wie auch immer: Der Trieb zur Metapherbildung als Wille zur Form – als Wille zur Wirkung und Wirklichkeit – ist wesentlich und grundlegend auch in den Fragen nach dem Wesen der Sprache, oder anders: ist das Moment, in dem die Fragen nach der Wirklichkeit oder dem Wesen der Wirklichkeit immer wieder kulminieren. Aus welcher Perspektive man auch immer an die Eigentümlichkeit von Bezügen oder Bezugsstrukturen, Wirkungszusammenhängen herantritt, man stößt immer auf die metaphorischen, verweisenden, Wirkung hervorrufenden Formen, auf das Spiel von Kräften, die in und als dieses Formenspiel immer am Werk sind, auf die Kräfte, die immer wieder und immer weiter Sinn erzeugen auf den divergenten Bahnen der immanenten Differenz. Das Zeichen ist durchzogen, zersetzt in seiner Struktur der vorgetäuschten Identität mit sich selbst durch eine Notwendigkeit, die Notwendigkeit des Zeigens, Verweisens, durch das Bedürfnis nach Kontexten und Kontextualisierung. Es ist durchzogen von einem ursprünglich ursprungslosen Antrieb, auf etwas anderes, auf ein anderes, nämlich ein anderes Zeichen hinzuführen, hinzuweisen, trägt dieses andere insofern in sich, als es immer schon auf einen Bezug, ein Da-Drüben ausgerichtet ist, es will ausgreifen nach anderem, ist ursprünglich schizophren, gespalten. Es trägt das andere in sich selbst, in sein Innerstes eingeschrieben. Jedem Wort, jeder Figur, kurz: Jeder Form, die wir dem Zeichenbegriff angedeihen haben lassen, ist dieser appetitus zu eigen, 73 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne 1, KSA 1, 880.

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dieser Trieb, weiterzuführen, gelesen, interpretiert zu werden als Motiv, weiterzulesen. Diese ursprüngliche Einschreibung, diese grundsätzliche Inschrift als movens des Verweisens zeigt uns Derrida in seiner Dekonstruktion der binären Subjekt-Prädikat-, Signifikat-Signifikant-Struktur, der größten Totalität als der abendländischen Metaphysik. Jede Atomarisierung in gesprochenes, geschriebenes Wort, Bild, Sprachform etc. wird unterlaufen und zusammengehalten vom Begriff der Zeichen-Form. Es ist eine essentielle Verbindung von (herkömmlicher) Sprache und (herkömmlicher) Schrift anzunehmen, die jeden Versuch einer intendierten Prioritätensetzung unterminiert: »Hier drängt sich der Gedanke auf, daß die Schrift dem gesprochenen Wort äußerlicher, sofern sie nicht dessen ›Abbild‹ oder ›Symbol‹, und ihm zugleich innerlicher ist, wo es in sich selbst eine Schrift darstellt. Noch bevor er mit der Einkerbung einer Gravur, der Zeichnung oder dem Buchstaben, einem Signifikanten also, in Verbindung gebracht wird, der im allgemeinen auf einen von ihm bezeichneten Signifikanten verweist, impliziert der Begriff der Schrift(graphie) – als die allen Bezeichnungssystemen gemeinsame Möglichkeit – die Instanz der vereinbarten Spur (trace institutée). [...] Die vereinbarte Spur ist ›unmotiviert‹, doch ist sie nicht ›eigen-sinnig‹ (capricieuse)«74

Sie ist ohne Motiv, unmotiviert, nicht bedingt durch einen anderen Ursprung und ebenso wenig eigensinnig, als für sich sinnvoll, denn sie bewegt das Spiel von Sinn und Bedeutung. Die Spur, von der Derrida spricht, ist Möglichkeit, Werden der Möglichkeit und Möglichkeit des Werdens, ist selbst ein Werden. Eine Spur führt, ist die unsichtbare Struktur, die einen Abdruck mit dem anderen verbindet, ohne Zentrum, ist ein dezentriertes und immer dezentrierendes Verweisen, immer mit dem Vorbehalt der Möglichkeit, die Richtung zu ändern. Sie ist in ihrer Unsichtbarkeit die Kraft, die jedem Zeichen äußerlich ist, indem sie bindet, treibt, tauscht, täuscht, und innerlich, indem sie in ihrem Treiben, Antreiben, das Zeichen selbst demotiviert, von jedem grundgelegten Motiv befreit. »Die ›Unmotiviertheit‹ des Zeichens verlangt nach einer Synthese, in der das ganz Andere sich als solches – ohne alle Einfältigkeit, ohne Identität, ohne Ähnlichkeit oder Kontinuität – ankündigt. Sich als solches ankündigt in dem, was es nicht ist: also in der gesamten Geschichte, die, angefangen mit dem, was die Metaphysik als das ›Unbelebte‹ bestimmte, bis hin zum ›Bewußtsein‹, alle Organisationsstufen des Animalischen durchlief.«75

74 | Jacques Derrida, Grammatologie, 81. 75 | Ebd. 82.

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Diese Spur ist die Einschreibung der Möglichkeit von Verhältnissen, sie zeichnet das Verhältnis zum anderen im Durchdringen der Identität und im Zerreißen des mit-sich-Identischen, das nichts desto weniger den Schein dieser Identität notwendig aufrechterhalten muss. Sie wird gedacht als Vorangelegtes der Verhältnisse, der werdenden Relationen der Dinge zueinander, als Tatsache, aber ihrer Anlage nach selbst als ständig werdende Tatsache. So drückt sie ihre Möglichkeit im gesamten Feld des Werdens, im ganzen Bereich des Seienden aus, welches die Metaphysik von der verborgenen Bewegung der Spur her als anwesend-Seiendes bestimmt hat. »Es gilt, die Spur vor dem Seienden zu denken. Aber die Bewegung der Spur ist notwendig verborgen, sie entsteht als Verbergung ihrer selbst. Wenn das andere sich ankündigt, gegenwärtigt es sich in der Verstellung seiner selbst. [...] Der Bereich des Seienden strukturiert sich entsprechend den verschiedenen – genetischen und strukturalen – Möglichkeiten der Spur, ehe er als Bereich der Präsenz bestimmt werden kann. Die Gegenwärtigung des anderen als solchem, das heißt die Verstellung seines ›als solches‹ hat immer schon begonnen, und keine Struktur des Seienden vermag sich ihr zu entziehen.«76

Der Begriff der Spur drückt die Notwendigkeit des sich-Verhaltens, der Bezüglichkeit aus, möchte jenes am oder im Zeichen, in der Zeichen-Form bezeichnen, wodurch die auf ein zentrales Signifikat als gerichtet gedachte Abhängigkeitsstruktur gelöst wird, aufgelöst in eine dezentrale Struktur, durch die das Spiel der Signifikanten ermöglicht wird. Der Begriff der Unmotiviertheit unterbreitet nicht nur das Postulat, die Spur selbst habe keinen Ursprung, kein Motiv, sondern darüber hinaus, dass sie selbst nicht und niemals als Signifikat, als Zentrum gedacht werden kann. Sie bezeichnet schlicht das Werden der Bezüge, die immer im Wechsel begriffenen, selbst immer spielenden Performationen der In-Formation, Figuration. In ihr hebt sich der Begriff der »zentrierten Struktur« selbst auf, sie bricht das begründete Spiel, »das von einer begründeten Unbeweglichkeit und einer versichernden Gewißheit, die selber dem Spiel entzogen sind, ausgeht« 77, dadurch ab, indem sie selbst das Spiel des Werdens spielt. Das Problem lag niemals in einer Negation der Tatsache, dass sich Dinge zueinander verhalten, dass ein gewisses Spiel der Phänomene mit und untereinander gegeben und anzunehmen wäre; vielmehr stand und steht immer noch zur Debatte, wie denn die logozentrischen Ansprüche, der in jedem Modell der Weltauslegung mitgedachte Wunsch nach einem Ausgangspunkt – gedacht 76 | Ebd. 82f. 77 | Jacques Derrida, Die Struktur, das Zeichen und das Spiel im Diskurs der Wissenschaften vom Menschen, in: Die Schrift und die Differenz, 423.

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als Gegenteil der aristotelischen arché, dem Anfangsgrund – überwunden oder hintergangen werden kann. Wie kann man die als Fixum vorgestellte Wahrheit des Seins – oder das Sein der Wahrheit – über oder unter der sich die scheinenden, erscheinenden Bewegungen des Werdens nur mit Bezug auf dieses Grundgelegte ereignen können, auflösen oder dekonstruieren? Wie kann

diese platonische Dichotomie überwunden werden? Vielleicht durch jenen Begriff der Spur, die Zeichen auf Zeichen weisen lässt, die einen Riss durch jede Form der Einheit zieht, die selbst im Werden das Sein des Seienden ist oder in ihrer Bewegung dem Werden den Charakter des Seins aufprägt 78; anders als Aristoteles, aber unter den gleichen Vorzeichen, mit der gleichen Absicht, die individuelle Form und deren Bewegung, die Singularität und das Werden ihrer selbst im Werden ihrer Bezüge in den Vordergrund zu rücken. Der Anbruch, das Aufkommen dieser Deutung der Zeichen und der Öffnung des Zeichenbegriffs, die essentielle Kontinuität der Zeichenbewegung »macht zugleich deren Unterbrechung unmöglich. Das Ding selbst ist ein Zeichen.« 79 Das Zeichen ist Form als Information und negiert in seiner gedachten Spaltung das Absolute, d.i. jede Form von Absolutheitsanspruch, indem es jedem Ding seine Präsenz, seine uneingeschränkte Gegenwärtigkeit insofern abspricht, als es immer schon und notwendig sein anderes in sich trägt. Das Ding ist also nicht Ding, insofern es als Objekt für ein Subjekt ist, sondern indem es als Zeichen auf ein anderes Zeichen verweist, wirkt es, und es ändert sich in seinem Wirken unablässig auch selbst, wird in dieser Wirkung als in einem Kontext zu dem, was es ist... wird Sinn, Wert, Bedeutung. »Das sogenannte ›Ding selbst‹ ist immer schon ein representamen, das der Einfältigkeit der intuitiven Evidenz entzogen ist. Das representamen kann nur funktionieren, indem es einen Interpretanten hervorbringt, welcher seinerseits zum Zeichen wird und so ad infinitum. Die Identität des Signifikats mit sich selbst verbirgt und verschiebt sich unaufhörlich. Das Eigentliche des representamen besteht darin, es selbst und ein anderes zu sein, als eine Verweisstruktur zu entstehen und sich von sich selbst zu trennen. Das Eigentliche des representamen ist es, nicht eigentlich, das heißt vollkommen bei sich zu sein (proche de soi; prope, proprius). [...] Spiel wäre der Name für die Abwesenheit des transzendentalen Signifikats als Entgrenzung des Spiels, das heißt, als Erschütterung der O,nto-Theologie und der Metaphysik der Präsenz.« 80

Und dieses Spiel vom Werden der Bedeutung, dieses Spiel des Werdens selbst, das »Spiel der Welt«, wie Derrida es nennt, anerkennen wir als die gegenseiti78 | V gl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 7 [54], KSA 12, 312. 79 | Jacques Derrida, Grammatologie, 85f. 80 | Ebd. 86f.

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ge Produktion von Zeichen und Interpretant, als die Kraft, die die Bewegung dieser Gegenseitigkeit aufrecht erhält und weiterführt, die von Zeichen zu Zeichen leitet. Die Produktion, das Spiel der gegenseitigen Hervorbringung, der gegenseitigen, performativen Formung, nennen wir Information, Wirkung von Formen auf Formen, ursprünglichen Horizont von Wirkungen überhaupt. Die Form ist die Wirklichkeit, die enérgeia immer das eidos, das eidos aber nicht für sich, sondern als Differenz an sich, als Differenz von dýnamis und enérgeia, als Sinn, der immer neuer Sinn, neue Bedeutung werden kann in einer Sphäre permanenter Beeinflussungen, ständiger Über- und Untergriffe, in einer Sphäre, die selbst immer enérgeia, immer Wirklichkeit ist und als solche niemals angefangen hat und auch nie zu einem Ende kommt...

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Zweites Hauptstück Kräfte

Extensionen 1 B EGRIFFE Die Philosophie arbeitet an und mit Begriffen, sie belebt und animiert, vernetzt, erneuert und erhält sich durch dieses unentwegte Schärfen und Transformieren selbst am Leben – sie hängt am Begriff ebenso, wie dieser in seinem Auftreten, seinem Erscheinen, seinem Verständnis, in seinem Glanz oder Abgrund an ihr hängt. Die Meditation der Philosophie beginnt mit dem Staunen1 darüber, dass da etwas ist und nicht mit der Frage, warum etwas und nicht nichts ist, beginnt mit Verwunderung, Begeisterung, Entsetzen und ist in ihrem Wesen Eindringen, in-sich-Gehen als in die Verinnerlichung dessen zu gehen, worüber man staunt. Es ist Leben und Erleben am Beginn der Philosophie – weniger ein Hinaustreten, als das Eindringen in die Selbstverständlichkeit von Bewegungen und Abläufen, von Begegnungen und Auseinandersetzungen, das Selbstverständnis in sich aufnehmen und zum Begriff machen, den Begriff innerlich auskleiden und differenzieren, vielleicht der unerreichbare Anspruch, so viel Leben und Dynamik, so viel Funktion und Transformation, so viel Geschwindigkeit in den Begriff zu bringen, bis jener Punkt erreicht ist, an dem sich der Begriff als starre Form selbst wieder auflöst, so tief zu gehen, bis alles Licht und alle Konstanz als ständiges Flackern, als permanentes Spiel von Singularitäten erscheinen, bis die Sonne zu einem Meer von Explosionen verschwimmt, die sie immer schon in ihrer Form zum Leuchten gebracht haben. So arbeitet Aristoteles an der ousía, an seinem Begriff: Er dringt ein und wandelt ihn, erneuert ihn, definiert, wertet um und belebt, er bringt aus dem Inneren des Begriffes etwas bis dahin Unbekanntes zum Scheinen und Erscheinen, bringt etwas im Begriff zum Ausdruck – seine Dynamik der Form, die in allem liegt und waltet, sein Prinzip des Seins als ein Prinzip des ständigen Werdens, seine Lehre von den Kräften, sein Prinzip von dýnamis und enérgeia. Genau darin bleibt er seinem eigenen Programm der Philosophie, 1 | Vgl. den Begriff des thaumázein bei Platon, Theaitetos, 155 d3 und Aristoteles, Met. ǹ 2, 982 b11.

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das er als propädeutischen Nebensatz an den Beginn der Physik stellt 2, treu, er geht immer weiter von dem Bekannten und Sichtbaren zu dem Verborgenen und Verdeckten, er operiert und gräbt, und durch jede Facette, die er offen legt, durch jede Falte, die er glättet, wird auch sein Begriff immer klarer und heller, ausgekleidet und umfänglich, immer kräftiger und wirksamer. Er sucht den lebendigen Begriff oder den Begriff des Lebens, keine Hülle, die das Leben verschleiert, sondern einen Ausdruck, der die Züge des Lebens zu verkörpern, darzustellen in der Lage ist, keine Beschreibung des Lebens, sondern einen Begriff, der die Kraft hat, die Dynamik des Lebens aufzunehmen, der den absoluten Horizont, die große Ebene als seinen eigenen Rahmen setzt. Darin entzieht sich Aristoteles eben jener Tradition, die ihn als ihren großen Begründer und Urvater auserwählt hat, er entzieht der Metaphysik der Substanz durch das Prinzip seiner Philosophie ihr wichtigstes Fundament, er lässt sie gespenstisch erscheinen, schwankend – als enormes Gebäude, als Palast, der keinen festen Boden unter sich hat, irgendwo schwebend zwischen einer jenseitigen Vorstellung und dem regen Treiben darunter, in dem er immer nur aus seiner transzendenten Position einen Ort gesehen und seine Wege gefunden hat. Er macht die Geschichte der Metaphysik, bevor sie beginnt, sich selbst zu schreiben, zu einem Mythos, einer dunklen und gespenstischen Geschichte. In ihrer Funktion als Grundlage und Ursprung der europäischen Metaphysik ist die ousía von der belebten Form wieder zur Idee geworden, ausgehungert und leicht, zu einer Substanz verkümmert, die sich allem unterzuordnen hat, die nur in einem logischen Kalkül das Erste sein muss, eine Grundlage, der ihre Akzidenzien wie Ballast anhaften und so nach und nach, Stück für Stück eine Erscheinung ergeben, eine Substanz als leere Hülle, die scheinbar alle Funktionen bekleiden können muss – hier als transzendenter Gott, dort als Wesen ohne Eigenschaften, dann als Denken und Ausdehnung൭. In jedem Fall aber ist sie Platzhalter für etwas Unsagbares, Dunkles, eine Variable für das Scheitern an den Anforderungen des Begriffs – vielleicht jener Ort, an dem die Philosophie aufhört, am Begriff zu arbeiten, weil sie ein System benötigt, dessen Regeln sie selbst vorgibt; als der vorgetäuschte kaíros, in dem die Philosophie spielerisch wird, indem sie ihr eigenes Spiel und ihre eigenen Spielregeln erfindet, als der Moment der Unbescheidenheit des Bewusstseins, in dem es genügsam und – vor allem – selbstgenügsam wird, als Torweg zwischen zwei Welten, auf dem man sich zur besseren Aussicht einen Platz sichert, mit einem Auge verächtlich auf die diesseitige, mit dem anderen sehnsüchtig nach der jenseitigen blickend. 2 | Vgl. Aristoteles, Physik Į 2, 184 a16f. 3 | Vgl. hierzu den cartesischen Substanz-Dualismus, in: René Descartes, Meditationen über die Grundlagen der Philosophie, Sechste Meditation, 64ff.

1 Begriffe

Der Begriff wird ausgesaugt, ausgequetscht von den systematischen Druckmechanismen, er wird seiner Innerlichkeit beraubt, seine Intimität wird extrahiert, hinausgezogen in eine Öffentlichkeit und als Fugenmasse in ein poröses Mauerwerk gestrichen, um es abzudichten gegen alle Aus- und Einflüsse, um überhaupt jegliche, dem System gegenüberstehende Externität in die Sphäre des Irrealen zu verbannen. Das Außen wird fremd, unheimlich, wird der Albtraum, der in Nebelschwaden vor den Mauern einer funktionalen Hierarchie schwebt, der eigentlich eine Unmöglichkeit, ein Gespenst verkörpert, und die Begriffe selbst sind dem System eingegliedert, sind versklavt, in jeder Hinsicht unedel, sind zu bloßen Operanden verkümmert. Im Zuge ihrer systematischen Bemühungen wandelt sich das Schaffen der Philosophie grundsätzlich von dem immer wieder aufgenommenen, permanenten Verfeinern und Schattieren, von dem ständigen Beleuchtungs- und Farbenspiel im Inneren des Begriffs auf ihrer kompositorischen Ebene und dem Versuch, ihren Begriff der Ebene, dem Horizont ihres Denkens, dem er entsprungen ist, anzugleichen, zu harmonisieren, zum Schaffen einer Maschinerie, zum Zeichnen eines Systems, das dem Sein auferlegt, dem Leben aufgezwungen wird, zum Erschaffen eines transzendentalen, hybriden, panästhetischen Organs: ein riesiges Organ, das alles erst sichtbar, hörbar, greif bar macht, das die Welt zugänglich werden lässt. Mit ihrem großen Anspruch, eine Exegese der aristotelischen Philosophie, der aristotelischen Substanz zu leisten, beerdigen die philosophischen Populisten und Kommentatoren des Mittelalters die Überreste der ousía, die das europäische Festland erreichen und bauen auf ihrem Grab einen neuen, seiner feurigen Begeisterung und seines Stils erleichterten Platonismus: Weltenteilung, transzendente Regulation, ein transzendentes Ziel, nur zu erreichen unter der Voraussetzung des leiblichen Ablebens. Der Sinn der Welt ist der Tod, der Tod der Sinn des Lebens, alles Leben geschieht für eine andere Welt – toter Sinn, umhüllt und verpackt als Prinzip der Hoffnung, getragen und bestärkt durch die unerschütterlichen Fundamente der europäischen Philosophie – durch Begriffe, die übersetzt und ausgelegt, diskutiert und kommentiert, zurechtgeschnitten und angepasst werden. Sie fungieren als Mittel, als Werkzeuge im Dienste eines Höheren, eines Systems, in das sie eingegliedert und aufgenommen werden müssen, in dem sie funktionieren und ihre Eigendynamik, ihre innere Differenz notwendig verlieren. Die Arbeit am Begriff verlagert sich von der endogenen Architektur zu einer von den Prinzipien des Systems geleiteten Interpretation und Kritik und verlässt in eben jenem Moment die Ebene, auf der er sich entwickelt und deren Ereignisse er zum Ausdruck gebracht hat, verlässt die Ebene des Erschaffens der Begriffe zugunsten ihrer Kommunikation und Diskussion und – verliert sie darin. So mutiert die Vorstellung von Philosophie überhaupt zu der einer permanenten Diskussion, einer Auseinandersetzung als Zersetzung der Begrif-

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fe, einer kommunikativen Rationalität. Aber »[n]ichts ist falscher, und wenn ein Philosoph einen anderen kritisiert, so ausgehend von Problemen und einer Ebene, die nicht die des anderen waren und die früheren Begriffe zusammenschmelzen lassen, wie man eine Kanone einschmelzen kann, um daraus neue Waffen zu gewinnen.«4 Es geht um Umformung und Bedeutung, weniger um Neologismen, als um Neubesetzung, um das Schaffen von Sinnzusammenhängen. »Man befindet sich niemals auf derselben Ebene. Kritisieren heißt bloß feststellen, daß ein Begriff erschöpft ist, seine Komponenten verliert oder neue hinzugewinnt, die ihn transformieren, wenn er in ein neues Milieu getaucht wird. Diejenigen aber, die kritisieren, ohne zu erschaffen, die sich mit der Verteidigung des Erschöpften begnügen, ohne daß sie ihm die Kräfte zu neuem Leben verleihen können: sie sind das Wundmal der Philosophie.« 5

So ist es eine Frage des Mutes, den Auf bruch zu neuen und den Auf bruch alter Begriffe zu wagen, eine Frage der Besinnung auf die philosophische Aufgabenstellung, systematisierte Rahmenbedingungen zu untergraben, zu hintergehen, um den eigenen Begriff von innen systematisch zu durchlaufen, ihn aufzubauen, mit immer neuen Momenten, Ereignissen auszukleiden, dynamisch werden zu lassen, die Mannigfaltigkeit der Ereignisse zu verdichten, zusammenzuführen und sie dennoch in ihrer Singularität nebeneinander – übereinander – existieren zu lassen6. Darin mutiert der Philosoph zum Dichter seines eigenen Begriffs, zu einem Übersetzer seiner permanenten Meditation und zu einem Transformator und Revolutionär gegen die alten Begriffe, die nur in ihrem Zerbrechen, ihrer Pulverisierung, die nur fragmentarisch zu neuer Kraft und neuem Leben finden können. »Überall treffen wir auf den gleichen pädagogischen Status des Begriffs: eine Mannigfaltigkeit, eine Oberfläche oder ein Volumen, die absolut, selbstbezüglich sind, sich aus einer Anzahl untrennbarer intensiver Variationen gemäß einer Nachbarschaftsordnung zusammensetzen und von einem Punkt im Überflug durchlaufen werden. Der Begriff ist der Umriß, die Konfiguration, die Konstellation eines künftigen Ereignisses. In diesem Sinne sind die Begriffe mit vollem Recht Sache der Philosophie, weil sie es ist, die sie erschafft und immer von neuem erschafft. Selbstverständlich ist der Begriff Erkenntnis, allerdings Selbsterkenntnis, und was er erkennt ist das reine Ereignis, das nicht mit dem Sachverhalt verschmilzt, in dem es sich verkörpert. Stets ein Ereignis aus den Dingen

4 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 36. 5 | Ebd. 6 | Der Begriff nicht als Behälter, sondern als Corpus der Ereignisse verstanden.

1 Begriffe

und Wesen freisetzen – das ist die Aufgabe der Philosophie, wenn sie Begriffe, Entitäten erschafft.« 7

In diesem Erschaffen, dem eine Dekonstruktion, eine Destruktion innewohnt, liegt der einzige Weg, auf dem die Philosophie aktiv und kreativ werden, auf dem sie ihre Stellung behaupten kann, und sie findet ihn tatsächlich über ein Hinterfragen ihrer eigenen Dogmen und Prinzipien, ihrer Grundbefestigung, auf der sie über lange Zeit gewachsen und breiter – eigentlich: höher geworden ist, auf der sie ihr System, ihre tatsächliche Metaphysik errichtet hat. Sie findet ihren Weg durch das Eindringen in den heiligen Begriff der Substanz, des Wesens, des ersten Unantastbaren und wendet sich, beflügelt durch die Aufbruchsstimmung einer neuen Zeit, zurück zu ihren Wurzeln, setzt über zu dem Ursprung des Begriffes und findet die aristotelische enteléchia, die ousía, die griechische Substanz und die reine Energie, die es neu zu bestimmen, neu zu erschaffen, neu zu entwerfen gilt. Diese Rückbesinnung meint weder einen Regress, noch eine Verherrlichung des Griechischen, der aristotelischen Philosophie, sondern die eigentliche Re-Vitalisierung des Philosophischen, die Re-Sensibilisierung als Verabschiedung jener Doktrin, der zufolge jeder Begriff als Instrumentarium eines höhergelegenen Ziels oder tiefergelegten, teleologischen Ursprungs zu gelten hat. Sie meint das Zulassen der Unendlichkeit, in die man eingebettet, in die man geworfen ist, in der man treibt als im Sein Treibender und die man denkt als das Sein Denkender, eine prägrammatikalische Ebene, in der kein die Welt reflektierendes, sie wahrnehmendes Subjekt und die Welt nicht als dem Subjekt gegenüberstehendes Objekt existiert, eine in jedem Sinne vor-philosophische Ebene als das All-Eine, das All, das Universum, offenstehend, vielleicht expandierend, vielleicht in Kontraktion, rotierend, sich überschlagend – die Gesamtheit aller Bezüge, des sich Angehenden, des sich Bewegenden. Das ist das Feld, der Kosmos der Philosophie, in dem Begriffe erschaffen werden, in dem Ereignisse stattfinden als Begriffe. Der Begriff belagert, bevölkert, durchwandert diese offene Ebene, bezieht sich auf sie und wandert in seiner eigenen Bewegung mit ihr – einer Ebene, die aus keiner Transzendenz emaniert, sondern der alles immanent, die allem immanent und permanent in Bewegung ist, eine Immanenzebene, auf der die Begriffe entwickelt, geformt, womöglich gefunden werden, die sie trägt und umhüllt als absoluter Horizont und zugleich absolute Leere, die ihre Konkretion durch ihre Begriffe findet und in der die Begriffe zu ihrer Konkretion gelangen. »Die Immanenzebene ist kein Begriff, auch nicht der Begriff aller Begriffe. Verwechselte man sie, so hinderte die Begriffe nichts daran, eins oder Universalien zu werden und 7 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 40.

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ihre Singularität zu verlieren, aber auch die Ebene würde ihre Offenheit verlieren. Die Philosophie ist Konstruktivismus, und der Konstruktivismus besitzt zwei komplementäre Aspekte, die sich wesensmäßig voneinander unterscheiden: Begriffe erschaffen und die Ebene entwerfen.« 8

Es ist das Bild, das ursprüngliche Bild, die Welt, die sich dem Denken offenbart, in der sich das Denken offenbart, in dem das Denken nicht geschieden ist von einem als Objekt gedachten Sein, eine Welt, die höchstens gefaltet ist, aufgefaltet in Perspektiven, zwei, drei, unendliche Perspektiven9. Es geht um eine vorphilosophische Welt, in der der Philosoph seine Begriffe zu entwickeln, zu entfalten sucht – gefährliche Sphäre, in der es wenig Sicherheiten gibt, ein verlassener Ort, eine Wüste, ein präphilosophischer, postchaotischer Raum, der nicht selbst in eine Begriffsstruktur zu kleiden ist, der aber immerzu und permanent benannt werden will, den man sich – heimlich machen will, auf den man hinarbeitet als ständiges Abarbeiten von Voraussetzungen, als Übersteigen vorgegebener Bahnen, als Illusionist, als Quantenphysiker, der sich Denken und Sein nicht nur als parallel, sondern als verschränkt vorzustellen sucht; nichts als Betrachtungsweisen, Attributionen ein und desselben, derselben Gesamtheit, der einen Substanz. Gesetzt den Fall, es ist die konstruktivistische Aufgabe der Philosophie, ihre Begriffe zu erschaffen, zu entwickeln, auszukleiden, ebenso, wie die Ebene zu entwerfen, auf der die Schöpfungen des philosophischen Procederes lebens- und überlebensfähig sind – angenommen, es ist Aufgabe ihrer Selbstreflexion, sich immer und in jedem Moment ihrer Tätigkeit, dieser Notwendigkeit bewusst zu sein, so steht darin zugleich der Anspruch mitgeschrieben, sich auch noch über die letzte Grenze, die letzte Trennlinie einer dualen Dimension aufzuschwingen, um in einer neuen Sphäre die eigenwillige Form einer Identität anzuerkennen, in der der philosophische Begriff, der Gedanke wie ein reales Wesen, seine Mutation wie die Entwicklung und Weiterentwicklung erscheinen, in der eben die Trennung von Denken und Sein auf den Rang einer mathematischen Vereinfachung, eines Modells, eines Graphen, Abrisses etc. zurückgestuft werden und die Welt als eine in sich unendlich differenzierte Einheit hervortritt. Deleuze’ Immanenzebene als »Bild des Denkens« ist somit selbst wiederum nur Bild, Schatten, ist selbst Begriff und Versuch einer Veranschaulichung oder Offenlegung in der genuinen Aporie der Philosophie selbst – in der Aporie, durch Begriffsschöpfungen, durch das oder in dem Schaffen der Be8 | Ebd. 42. 9 | Vgl. Deleuze’ Charakteristik des Barock, in: Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 11: »[…] er krümmt die Falten um und um, treibt sie ins Unendliche, Falte auf Falte, Falte nach Falte.«

2 Ausdrücke

griffe den Dualismus von Denken und Sein, Begriff und Realität zu überwinden. Die Immanenzebene ist die Welt, das Sein, die Substanz und die Begriffe sind die Wesen, Seienden, die Modi der Substanz; sie sind die »mannigfaltigen Wellen«, die sich heben und senken, die Immanenzebene aber ist »die eine Welle, von der sie auf- und abgewickelt werden. Die Ebene umhüllt die unendlichen Bewegungen, die sie durchlaufen und wiederkehren, die Begriffe aber sind die unendlichen Geschwindigkeiten endlicher Bewegungen, die stets nur ihre eigenen Komponenten durchlaufen.«10 Aber es ist eben jener Punkt im Rückgang der philosophischen Selbstanalyse, in der Aufarbeitung der Prägungen ihrer und in ihrer eigenen Geschichte kein Endpunkt, keine Sackgasse, kein Ort der Verzweiflung, sondern vielmehr ein Ausgangspunkt, ein Anfang, ein Ort im Lichte einer neuen Sonne, der anbrechende Morgen eines neuen Tages, in der die Mittel und Wege der Philosophie keine anderen, keine neuen, in deren Schein die Schöpfungen der Philosophie keine grundsätzlich verschiedenen sind, die aber in jedem ihrer Strahlen ein Memento, ein Fanal mitsendet, deren Licht von einem Hauch des Lebens begleitet wird, die jeden Begriff animiert, bewegt, inspiriert, durch die das knöcherne Gefüge der philosophischen Begriffe seinen Körper wiedererhält – in deren Schein der philosophische Begriff das Tanzen lernt…

2 A USDRÜCKE In diesem Sinne sind sowohl Spinozas Auffassung der Substanz als auch Leibniz’ Konzeption der beseelten Einheit, der monadische Gedanke, tatsächlich ein Neubeginn der Philosophie. Sie sind in jeder Form radikaler und eindringlicher, in jeder Hinsicht bewegender und bewegter als der mit Descartes traditionell in einem Atemzug genannte Umbruch, die Revolution des Denkens, die neuzeitliche Wendung11. Spinozas Philosophie ist eine Explosion im Himmelreich, ein Urknall am schmalen Grat zwischen cogitatio und extensio, ein Ereignis, eine vakuumerzeugende Nova, die den gespaltenen Begriff der Substanz in sich zieht, den entfernten, transzendenten, personalisierten Gott in apersonaler Herrlichkeit erscheinen lässt, eine pantheistische Epiphanie oder die neue Welt der Philoso-

10 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 42. 11 | Vgl. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, 123: »René Descartes ist in der Tat der wahrhafte Anfänger der modernen Philosophie, insofern sie das Denken zum Prinzip macht.«

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phie im Lichte jener Sonne, die den dunklen Riss zwischen Geist und Körper erhellt, ausleuchtet und ad absurdum führt12 . Die Substanz ist kein Begriff und keine Universalie, vielmehr der Versuch einer Darstellung des Grundkonzepts, sie ist das All-Eine, das göttlich-Allumfassende, das All per und in se, erhaben über jede Unterscheidung zwischen wirklicher und möglicher Welt, fernab von Entwicklung und Bewegung, indem sie alles beinhaltet und produziert, hervorbringt, indem sie sich permanent als eine unendliche Diversität ausdrückt und manifestiert, indem sie sich in ihren Produkten selbst denkt und wahrnimmt. Sie ist das göttliche Prinzip als Anfangs- und Urgrund, die Ebene, auf und in der sich alles bewegt, der alles zukommt, auf die alles zurück-, alles hinausläuft, das aus sich hinaus- und in sich zurücklaufende Rad. Sie ist das Gestalt- und Formprinzip, das Sein, dessen Ausdruck alles Seiende ist, die reine enérgeia, die unter unendlich vielen Attributen betrachtet werden kann, die sich in unendlich vielen, vereinzelten, vernetzten Modi, in Modifikationen ihrer selbst zum Ausdruck bringt – die sich tatsächlich ausdrückt als in sich unendlich bewegtes Ganzes. »Und so kann auch Spinoza ganz klassisch Substanz weiter definieren als dasjenige, dessen selbstimmanente Konzeption nicht der Konzeption eines anderen äußeren Dinges bedarf, um in sich selbst ek-sistent, d.h. aus-drücklich zu sein« 13 In dieser Vorstellung liegt ein Bruch mit der Tradition, eine radikale Umkehr oder Wendung des Denkens, eine vorkantische und vorkopernikanische Tat, indem sich der Philosoph nicht auf die Schau einer Transzendenz festlegt, nicht auf die Analyse eines jenseitigen Ideals konzentriert, sondern sich selbst als Teil eines Weltganzen betrachtet, als einem großen Zusammenhang zugehörig. Die Immanenzebene ist eben diese unendliche Einheit nicht im Sinne eines Systems, sondern als das Universum unendlicher Bewegungen – oder als die unendliche Bewegung in sich, das unentwegte Treiben des Kosmos in seiner Schönheit und Grausamkeit, in seiner Liebe und seinem Hass, als das Zusammensein der Substanz in sich durch die Modifikationen, in denen sie sich unter unendlich vielen Attributen ausdrückt – jenseits einer Vorstellung des Jenseits, alle Vorstellungen von Transzendenz selbst übersteigend. Die Aufgabe des Philosophen bleibt demnach nicht, über das Außen zu meditieren, hinauszugreifen aus dem Rahmen des Diesseitigen, sondern so tief wie möglich in die Realität einzudringen, die Wirklichkeit als immanen12 | Deleuze schreibt Spinoza eine messianische Stellung in der Philosophie zu, in: Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 69: »Daher ist Spinoza auch der Christus unter den Philosophen, und die größten Philosophen sind allenfalls Apostel, die diesem Mysterium näher oder ferner stehen.« 13 | Arno Böhler, Deleuze in Spinoza – Spinoza in Deleuze. Wissen wir was das Medium »Körper« kann? In: Spinoza - Affektenlehre und amor Dei intellectualis: Die Rezeption Spinozas im Deutschen Idealismus, in der Frühromantik und der Gegenwart, 167.

2 Ausdrücke

ten Horizont aller Wirkungen wahrzunehmen und sich der Immanenz in jedem Gedanken bewusst zu sein, der Tatsache eingedenk zu sein, »daß die Immanenz nur sich selber immanent und damit eine Ebene ist, die von den Bewegungen des Unendlichen durchlaufen wird, angefüllt mit den intensiven Ordinaten […]«൫൮, wie es Spinoza in jeder seiner Überlegungen tut, und darum liegt in ihm auch ein Anfang der Philosophie. »[D]arum ist er auch der erste unter den Philosophen. Vielleicht der einzige, der keinerlei Kompromiß mit der Transzendenz geschlossen, ihr überall nachgestellt hat. […] Nicht die Immanenz ist es, die sich auf die Substanz und die Modi bei Spinoza bezieht, im Gegenteil, die spinozistischen Begriffe von Substanz und Modi sind es, die sich auf die Immanenzebene als ihre Voraussetzung beziehen. Diese Ebene präsentiert uns ihre beiden Seiten, die Ausdehnung und das Denken, oder, genauer, ihre beiden Potenzen, Seinspotenz und Denkpotenz. Spinoza – das ist der Taumel der Immanenz, dem so viele Philosophen vergeblich zu entkommen suchen.«15

Die Ebene als Weltebene, als Ebene des Geschehens ist nicht Platzhalter, Statthalter, nicht Repräsentant für etwas – sie präsentiert sich, sie legt sich dar, legt sich offen, sie drückt sich aus als Potenz, als Macht in ihren Attributen, die nicht klassifiziert, geordnet werden können nach Graden der Wirkkraft, nach einem Maß an mehr oder weniger Realität, sondern die Attributionen der Substanz sind ebenso wirklich wie die Substanz, die sich durch sie ausdrückt, sich produziert. Demzufolge hat die Substanz nicht das höchste Maß an Realität, sondern sie ist schlichtweg die einzige Wirklichkeit, die Wirkung, nicht das Kraft- und Machtzentrum, sondern die Macht oder Potenz per se, als Kräftegeschehen. Spinoza ist ein Visionär, Abenteurer und Entdecker. Er dringt in Gefilde vor, die vor ihm noch nie – oder vor langer, in Vergessenheit geratener, dunkler Vorzeit – beschritten worden sind, er erobert philosophisches Neuland, er ist Aufklärer, Missionar, Gründer, und er verfährt in seiner Arbeit auf dem Boden der neuen Gedankenwelt nach strenger mathematischer, geometrischer Methode. Er vermisst und ergründet, versucht, die Grundstruktur darzulegen und Zusammenhänge, Verhältnisse zu erörtern. Die Ethik ist weder Anleitung noch Gebot, entbehrt aller Imperative und Maximen. Sie ist vielmehr Topographie, Skizze, eine philosophische Landkarte, deren erstes Buch den Grundcharakter, das Wesen des Seins als Ganzem zum Thema hat – man beginnt beim Großen, beim Allergrößten, man spricht nicht von Gott und der Welt, sondern von Gott oder der Welt, von Gott als der Welt, de deo sive de natura16, 14 | Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie?, 57. 15 | Ebd. 16 | Baruch de Spinoza, Ethik IV, praef., 190.

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von der göttlichen Natur, soweit man in der Lage ist, darüber zu sprechen, soweit es möglich ist, Begriffe zu finden, und damit schreibt sich Spinoza selbst seinen Eintrag im Buch der großen Philosophen: Er setzt sein philosophisches Schaffen in eine Analogie zu seinem Inhalt – er transponiert das Verhältnis von Immanenzebene und Begriff auf das Verhältnis von Substanz und Modus. Die Substanz ist das Prinzip der Wirklichkeit nicht als Anfangs- oder Ausgangspunkt, sondern das Wirkliche, Wirkende ist Ausdruck der einen Substanz, es sind Modifikationen der Substanz, Affektionen, Zustände, die unter verschiedenen, substantiellen Wesensbestimmungen betrachtet werden können. Konkret sind Ausdehnung und Denken zwei solcher Bestimmungen, Attribute der oder Perspektiven auf die Substanz, die sie in ihrer Unendlichkeit ausdrücken, jedoch muss die perspektivische Vielfalt noch eine unendlich größere sein, die der menschliche Verstand zu denken oder wahrzunehmen gar nicht in der Lage ist. Die Differenz zwischen dem Geistigen und Körperlichen, eine Differenz, die wir im Bereich der Affektionen der Substanz ausmachen, erfordert eine Differenzierung im Wesen Gottes selbst, ist das Postulat einer intensiven Auffaltung. »Gott ist das Erklärungsprinzip einer Welt, die unter differenten Formen steht, und insofern ist er durch differente Attribute konstruiert. Insofern dies eine Differenz in der Welt ist, die uns zugänglich ist, die wir Geistiges und Körperliches erfahren, wäre Gott, wenn er relativ darauf auf zwei Attribute, die jeweils das Geistige und Körperliche hervorbringen und begreifbar machen, eingeschränkt ist, ein von uns her gedachter Gott.«17

Und um dieser Konsequenz zu entgehen, muss Gott – und das tut Spinoza – als durch unendlich viele Attribute konstituiert oder ausgedrückt, als sich in unendlich vielen Attributen ausdrückend bestimmt werden. Die Philosophie Spinozas ist eine Philosophie des Ausdrucks, eine Frage nach der Form – nach Information und Realisation. Das Grundsätzliche liegt in der Einheit des Seins, im Übersteigen der Wertigkeiten, der Substanzendualität, von Himmel und Erde, eigentlich in einer Transzendenz der Transzendenz und einer damit verbundenen Rückkehr, einer Einverleibung, das Göttliche in den Körper der Welt, der Weltkörper in den Geist Gottes, einem Denken der Immanenz als einer Univozität, so dass alles Seiende als im Sein stehend, die Substanz ausdrückend, als eine singuläre Form des einen Seinsprinzips betrachtet werden kann. Im Begriff des Attributs findet Spinoza seine Versöhnung mit dem menschlichen Verstand: Es ist jener Aspekt, jene Ausdrucksform der Substanz, die er als das Wesen, als die Essenz der göttli-

17 | Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, 38.

2 Ausdrücke

chen Einheit ausmachen, erkennen kann18. Das Attribut ist kein Wesen, kein Eigenständiges, sondern es ist Ausdruck und zugleich formale Realisation der Unendlichkeit und darin selbst unendlich, es ist eine Perspektive des Unendlichen und zugleich die vom menschlichen Verstand einsehbare Differenzierung der Einheit. Ausdehnung und Denken existieren nicht per se und auch nicht als in sich ruhende Abgeschlossenheiten, sondern eben als unbegrenzte Formen, die das Wesen der Einheit ausdrücken, die in der einen göttlichen Natur zusammenlaufen. »Bei Spinoza sind die Attribute dynamische und aktive Formen. Und eines scheint wesentlich zu sein: das Attribut ist nicht attribuiert, es ist gewissermaßen ›Attributeur‹. Jedes Attribut drückt ein Wesen aus und attribuiert es einer Substanz. Alle attribuierten Wesen sind, in der Substanz, von der sie das Wesen sind, einander gleich. […] Das Attribut bezieht sein Wesen auf einen immanenten Gott, der zugleich Prinzip und Resultat einer metaphysischen Notwendigkeit ist. In diesem Sinn sind die Attribute bei Spinoza eigentliche Verben mit einem Ausdruckswert: als dynamische Attribute sind sie nicht mehr vielfältigen Substanzen attribuiert, sondern sie attribuieren etwas einer einzigen Substanz.«19

Sie sind dem menschlichen Ohr verständliche Wörter, Begriffe der göttlichen Sprache, Verstandesbegriffe als Begriffe für den Verstand, sind Ausdruck einer differenzierenden Kraft im Universum. Die Attribute sind Verben als Ausdruck der Tätigkeit, Ausdehnung und Denken sind permanente Bewegung, sind Tun, sind Werden und Veränderung, rhémata, grammatikalische Notwendigkeiten in der Verschiedenheit, in der Unterschiedlichkeit der Welt. In dieser Auffassung, in der Transformation des Attribut-Begriffes in das Attribut-Verb, in der dynamischen Leseart des Wortes Attribut liegt eine erste Annäherung an den bewegten Grundzug des Seins, an ein Bewegungs- und Aktionsprinzip, das das göttliche Sein durchwaltet, das göttliche Sein ausmacht: Wir lesen »denken« und »ausdehnen«, verstehen denken und ausdehnen als Qualitäten der Substanz, als diejenigen Züge, die unser Sein konstituieren, in denen unser Dasein steht – oder vielmehr bewegt, als die es sich bewegt. Alle dynamischen Formen, alle Qualitäten, die wir an der Substanz erkennen, sind eigentlich Tätigkeiten, Wörter des Tuns und sind gleichzeitig die Notwendigkeit, die grammatikalische Notwendigkeit in der logischen Aussage der Verbindung zwischen Substanz und Modus: Alles Seiende ist ausgedehnt, denn das Wesen des Seins ist, sich auszudehnen, alles Seiende denkt, usw.

18 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik I, Def. 4, 5: »Unter Attribut verstehe ich das, was der Verstand an einer Substanz als deren Wesen ausmachen kann.« 19 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 42.

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Spinozas Bild, seine Vorstellung der Einheit braucht die Attribution der Substanz, braucht die Formen, die ihre Qualität ausdrücken als die Verbindung zwischen der Unendlichkeit des All-Einen und seiner endlichen Zustände. Der Modus impliziert, dass er ausgedehnt ist, dass er denkt, die Substanz aber drückt sich in den unendlichen Formen von Ausdehnung und Denken aus, spricht durch ihre Formen und ist darin vereint mit ihren Zuständen, die ständig in Bewegung und Veränderung sind und auch begriffen werden. Sie ist in sich bewegt und differenziert durch die Differenz ihrer unendlichen Qualitäten, die im Begriff ihrer Zustände mit ausgesprochen, eingeschlossen sind. »Die Attribute werden als die den Geschöpfen und Gott, den Modi und den Substanzen gemeinsamen Seinsformen erreicht. […] Die Attribute konstituieren das Wesen der Substanz, sie konstituieren aber keineswegs das Wesen der Modi oder Geschöpfe. Es sind gleichwohl gemeinsame Formen, weil die Geschöpfe sie in ihrem eigenen Wesen wie in ihrer Existenz implizieren. Von daher die Bedeutung der Konvertibilitätsregel: Das Wesen ist nicht allein das, ohne das das Ding weder sein noch begriffen werden kann, sondern reziprok das, was ohne das Ding weder sein noch begriffen werden kann. Nach eben dieser Regel sind die Attribute das Wesen der Substanz, aber keineswegs der Modi, etwa des Menschen: sie können sehr wohl ohne die Modi begriffen werden.« 20

Es ist der große Gedanke der Univozität, den Spinoza von Duns Scotus übernimmt, dem »Doctor subtilis«, der in seiner Feinfühligkeit und Sensibilität als Erster die Sinne schärft, hellhörig wird gegenüber der einen Stimme, dem Anspruch des Seins, das sich von allem in gleicher Weise aussagen lässt.21 Hier wie dort ist es eine Frage nach der Erkennbarkeit Gottes oder des göttlichen Prinzips, und es sind die Attribute, die Aussageformen des Unendlichen, die sich nicht nur ähnlich und in unterschiedlicher Qualität manifestieren, sondern die sowohl der göttlichen Einheit, wie auch den vielen Modi zukommen, die Ausdruck und zugleich Einschluss, im Endlichen eingeschlossen sind. Die Zustände oder Modifikationen des Einen schließen die Qualitäten in sich, insofern sie alle in der einen Substanz sind, ihr Gemeinsames in der Substanz haben. Die Attribute sind als Ausdruck der Substanz, als das Wesen der Substanz ausdrückend, und als in den Einzelnen eingeschlossene Qualitäten Gott und den Geschöpfen gemeinsam. Die göttliche Natur, das All ist qualifiziert oder qualifiziert sich selbst, präsentiert sich als ausgedehnt und sich ausdehnend, als physikalische Realität ebenso, wie als Denken, als denkend, 20 | Ebd. 43. 21 | Vgl. Johannes Duns Scotus, Über die Erkennbarkeit Gottes, 3. Distinktion, 1.-2. Frage; ebenso L.udger Honnefelder, Duns Scotus, 56ff; Johannes Duns Scotus, Die Univozität des Seienden, Texte zu Metaphysik, hrsg. von Tobias Hoffmann, in der Einleitung XXII-XXXI.

2 Ausdrücke

als beseelt, und die Modi sind, alles Seiende ist von physikalischer und spiritueller Realität, sie schließen die Unendlichkeit der Attribute in sich, wie die Seeleneinheit bei Leibniz die Unendlichkeit der Welt in sich schließt 22 . Die Modi sind bewegt, unentwegt in Bewegung, in Formation und Veränderung, sie sind die variablen Ergänzungen in der Geschichte des Seins. Die Sätze »Gott ist die Welt«, »Gott bewegt die Welt« sind zusammengehalten durch die Attribute als Verben und Tätigkeiten, sie sind die Qualitäten der Substanz, die den Grundzug, das Prinzip der Bewegung in die Diversität der Parallelebenen aufspalten und gleichzeitig den Formen Leben einhauchen, indem sie in ihnen eingeschlossen sind. »Formen, die Gott, dessen Wesen sie konstituieren, und den Modi oder Geschöpfen, die sie wesentlich implizieren, gemeinsam sind. Dieselben Formen gelten für Gott und für die Geschöpfe, obgleich die Geschöpfe und Gott in Wesen und Existenz verschieden sind. Um genau zu sein, besteht diese Verschiedenheit darin, daß die Modi allein in jenen Formen begriffen werden, die umgekehrt mit Gott in einem Wechselverhältnis stehen. Diese Verschiedenheit beeinträchtigt nicht den formalen Grund des Attributs als solchem.« 23

Die Vielheit und die Vielfalt der Modi schließen die unendlichen Attribute in sich als ihr Gemeinsames. Die Natur drückt sich in ihnen aus und drückt sich in ihren Affektionen aus: Explikation und Implikation, Einschluss und Ausdruck, durch die die Grundstruktur der Welt auf die Ebene der Komplexität gehoben wird, die die Konstitution der Welt zu einer komplizierten machen. Das Eine im Vielen eingeschlossen und das Viele, die Diversität das Eine ausdrückend ist die complicatio als synthetisches Prinzip, und die unendlich vielen Weisen des Seins sind als dynamische Formen die gleichen sowohl für Gott als in den Modi, sind univok und unveränderlich – sie verbalisieren die eine Stimme des Seins. »Gott ist die ›komplizierte Natur‹, und diese Natur expliziert Gott und impliziert ihn, sie schließt ihn ein und entwickelt ihn. Gott ›kompliziert‹ alles, alles jedoch expliziert ihn und schließt ihn ein.«24 Das gesamte erste Buch der »Ethik« kreist um die Stellung dieser Grundbegriffe zueinander, um das komplizierte Verhältnis Substanz-Attribut-Modus, das im Prinzip nur als ein Verhältnis zwischen Substanz und Modus, zwischen dem Gesamt der göttlichen Natur und den in ihr stehenden und sich in ihr bewegenden Singularitäten betrachtet werden muss. Es will im Grunde den 22 | Vgl. z.B. Paola-Ludovika Coriando, Individuation und Einzelsein – Nietzsche-Leibniz-Aristoteles, 172: »Die Summe der Eigenschaften einer jeden einfachen Substanz ist aber das Ganze des Seienden.« 23 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 44. 24 | Ebd. 20.

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Ausgangspunkt festlegen und zugleich alle Zweifel bezüglich eines Regresses in Descartes’sche oder mittelalterliche Konzepte ausräumen. Spinoza besetzt – eingedenk der Aufgabe der Philosophie – die Begriffe neu. Er revoltiert und braucht in seiner umstürzenden, erneuernden Arbeit die Stringenz und Konsequenz des Geometers oder Mathematikers, er bedarf der genauen Vorbereitung, der absoluten Transparenz, einer inflationären Anzahl an Beweisen und Begründungen – kurz: der Sicherheit seiner eigenen Voraussetzungen, um zum eigentlichen Problem seiner Auseinandersetzung vorzudringen.

3 I NTENSITÄTEN Eine »Ethik« im spinozistischen ൬൯ (oder spinozanischen) Sinn kann nur von dem Zusammensein und Zusammenwirken des endlichen Seienden handeln. Sie kann nur das Wesen der Relation der Modi untereinander sowie deren Kräftekonstellation zum Thema haben, jedoch geht eben jener Auseinandersetzung eine unendlich schwere und tiefgreifende Propädeutik voran – muss ihr vorangehen als große Umschichtung der philosophischen Begriffs- und Wertschätzung, als Umwertung der bisherigen Werte. Die Transformation der substantiellen Geschiedenheit in eine attributive Vielfalt als Begründung der Unterschiedenheit in der Welt überhaupt ist ein Grundpfeiler der gesamten Philosophie Spinozas und darüber hinaus eine der originellsten Fassungen der problematischen Bezogenheit von Vielem und Einheit. Die Modifikationen der Substanz sind Zustände, Affektionen, und sie sind in Gott, in der All-Natur; sie schließen die Seinsformen der göttlichen Natur in sich ein, tragen die Attribute in sich und sind zugleich deren Ausdruck, sind ausgedehnt, denkend, repräsentieren so auf ganz bestimmte, singuläre Weise die Natur Gottes, sind als natura naturata Produkte der einen natura naturans26 , und diese selbst bestimmt sich wiederum durch das permanente Hervorbringen ihrer eigenen Zustände, durch dauernde Produktivität, unentwegtes Schaffen. Die göttliche Natur ist wesentlich potentia27, ist Macht – in sich und für sich. Sie ist die Macht, hervorzubringen, sich selbst durch den Wechsel ihrer Zustände zu transformieren und dennoch im unentwegten Wandel konstant zu bleiben. Die Modi drücken diese Macht der Substanz, in der sie sind, auf bestimmte Art und Weise aus, sie selbst üben Kraft, üben Wirkung aus, und 25 | Der Begriff »spinozistisch« wird hier und in weiterer Folge niemals – wie philosophiehistorisch manchmal der Fall – polemisch verstanden. 26 | Vgl. Baruch de Spinoza, Eth. I, prop. 29, scholium, 34. 27 | Ebd. prop. 34, 41: »Gottes Macht ist genau seine Essenz. (Dei potentia est ipsa ipsius essentia.)«

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dieses Zusammenspiel von Kräften, Kräftekomplexen und Zusammenballungen ist der eigentliche Kern einer Ethik, die sich nicht auf Regeln oder Dogmen bezieht, sondern schlichtweg das Miteinander der Erscheinungsformen einer Welt behandelt, die in sich in infinitum scheidet, differenziert, aber im Ganzen trotzdem eine – eine göttliche ist. Die Substanz ist in sich und wird durch sich selbst begriffen28. Sie ist die Divinität, außer der überhaupt nichts ist, dasjenige, dem alles zukommt, von dem alles ausgesagt wird, als dessen Ausdruck alles zu begreifen ist. Sie hat unterschiedliche Seinsformen, Weisen des Seins, ist attribuiert durch diese Formen, respektive sind die Formen des Seins Attributeur der Substanz, erster Ausdruck, die unendlichen Perspektiven, die der Verstand einzusehen in der Lage ist 29, da er sie selbst – als Modus, Zustand der Natur – in sich schließt. Nichts ist ausgeschlossen, alles ist zusammen, alles auf einer großen Ebene der Immanenz, alles ist in Gott kompliziert, Gott ist kompliziert, indem er sich expliziert, so, wie seine Explikationen das Göttliche implizieren. In seiner Komplexität ist er nicht nur die höchste, sondern die einzige Realität, das Wirkliche per se. »Gott erhält durch das Insein der Modi jene allumfassende Realität, der nichts, das überhaupt wirklich ist, fremd ist. Ginge man davon aus, daß es nur ein Wirkliches gibt, das die Welt selber wäre, also nur einen Modus, wäre nicht einzusehen, daß Gott von einer Realität ist, die durch den Bezug auf Vieles gekennzeichnet ist. Das Wesen Gottes, das, für sich betrachtet, diesen Bezug nicht hergibt, hat diesen Bezug, weil es Prinzip des Seins von Vielem ist. Ist also Vieles wirklich, dann muß das Prinzip, aus dem es ist und erklärt werden kann, von einer Wirklichkeit sein, die das Gesamt einer Realität ist, die aus Vielem besteht.« 30

Andernfalls wäre eine Untersuchung der Wirklichkeit als der Wirkungen der Modi untereinander und aufeinander müßig oder absurd – jedoch ist eben diese Realität der Verschiedenheit, des Unterschiedes in der Welt, das Erste und Eindringlichste, erste Station im Auf- oder Abstieg des Philosophen. Gesetzt den Fall, er beginnt bei der Meditation über das Seiende, die Wesen, die Erscheinungsformen der Welt, mit dem Ziel, auf einen Grund oder einen Zusammenhang zu stoßen, das Prinzip des Wirkens, der Veränderung zu ergründen, so ist es eben die Frage nach dem Vielen und dem Einen und das Problem ihrer Zusammenführung: Wie ist ein Prinzip in allem und wie bleibt alles verschieden, obwohl es in einem zusammenhängt, zusammenläuft? Der Philosoph erkennt die Unterschiede, er sieht die Dinge, nimmt sie wahr, je28 | Ebd. def. 1, 5. 29 | Ebd. def. 4, 5. 30 | Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, 39.

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doch erkennt er ebenso die konstanten Weisen, Formen des Seins, das Prinzip der Formation überhaupt, die Attribute, die selbst untereinander verschieden sind, und erkennt schlussendlich ihre Einheit im Gesamt der Welt. Es sind verschiedene Ausdrücke ein und derselben Natur. Alles, was ist, ist in Gott, und das unendlich Viele, das ist, muss notwendig aus der einen Natur Gottes folgen31, muss von ihr produziert, von ihr hervorgebracht worden sein. Es ist Vieles – das ist vorausgesetzt – und die Diversität ist essentiell, ist notwendig, ist Prinzip des Seins, aber »hier wie dort muß der Schluß von der Welt auf das unbedingte Prinzip gehen, zugestehen, daß das Prinzip nicht auf das uns zugängliche Wirkliche restringiert ist, also nicht nur ein Vieles, sondern ein unendlich Vieles umfaßt.«32 Gott ist die eine, unendliche, hervorbringende Substanz, das Prinzip, aus dem unendlich Vieles auf unendlich viele und unterschiedliche Weise folgt, und jeder Modus, jedes Lebewesen, jede kleinste Konstellation der Realität ist Teil oder Zustand des Ganzen. Die Problematik für Spinoza liegt nun in seiner eigenen logischen Stringenz und Konsequenz – er braucht zwischen den unendlichen Seinsformen, den Attributen, und dem einzelnen, endlichen Modus, der – jeder für sich – das Unendliche einschließt, eine Hybridform der Affektion, einen Modus, der unmittelbar aus der Natur Gottes und aus ihren Attributen folgt, der selbst unendlich ist, unmittelbar, denn: »Während Gott sich in jedem der Attribute, unbeschadet ihrer essentiellen Differenz untereinander, ganz artikuliert, nämlich als hervorbringende Kausalität, scheint diese ungeteilte Selbigkeit in bezug auf einen einzelnen endlichen Modus, der ein Produkt dieser Kausalität ist, nicht bestehen können. Ein einzelnes Ding kann seine Wirklichkeit nur aus der Wirklichkeit Gottes haben, die eine sich in den Produkten erfüllende Produktivität ist. Ein Unendliches, das sich dergestalt in seinen Produkten erfüllt, kann aber nur Unendliches produzieren, also ein unendlich Vieles im Sinne einer Totalität dessen, was ist, von der erst zu erweisen ist, inwiefern sie überhaupt eine Totalität von unendlich vielen endlichen Modi, die real geschieden sind, ist.« 33

Der unendliche Modus ist Zwischenstück, ein Bindeglied zwischen der vereinzelten Endlichkeit und dem einen Unendlichen34, er ist Produkt als ein von der Substanz Hervorgebrachtes, zugleich aber ebenso ewig und unendlich, Aus31 | Baruch de Spinoza, Ethik I, prop. 15 u. 16, 18ff. 32 | Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, 39. 33 | Ebd. 40. 34 | Vgl. z. B. Karl Jaspers, Spinoza, 18: »Finite individual beings belong to the totality of the finite, which itself is endless and infinite. This infinity is a consequence of God’s infinity, but is itself grounded in a third infinity, that of the infinite modes, which are not God’s infinity and not the endlessness of individual things, but between the two.«

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druck der Produktivität der Substanz, Realisation. Ist die Ausdehnung eine von unendlich vielen Qualitäten des einen Ganzen, so ist sie in unmittelbar modifizierter Form Bewegung und Ruhe. Das Denken als Seinsform transformiert sich in den unendlichen Verstand, und es ist Grundzug der Modifikation überhaupt, der ersten Modifikation, wenn man möchte, das Bewegungsmoment in das Wesen der Natur einzuführen, die Unendlichkeit der Bewegung, denn sowohl in Bezug auf Ausdehnung, wie auf das Denken werden die Begriffe weiter dynamisiert. In dieser Konsequenz der Modifikation, die eigentlich eine Modifikation der Attribute ist, macht Spinoza auch den Schritt zur Teilbarkeit des Ganzen: das Attribut Ausdehnung ist Qualität der Natur, unteilbar, intensiv; die Gesamtheit des Universums ( facies totius universi) als vermittelter unendlicher Modus ist eben die Gesamtheit aller ausgedehnten und ideellen Erscheinungen und somit – zwar in infinitum, aber – teilbar. In einem späten Brief an G.H. Schuller schreibt Spinoza eine der wenigen konkreten Auseinandersetzungen über das Wesen des unendlichen Modus: »Die Beispiele endlich, die sie verlangen, sind: von der ersten Art [d.i. der unvermittelte unendliche Modus] im Denken der schlechthin unendliche Verstand, in der Ausdehnung aber Bewegung und Ruhe; von der zweiten Art [d.i. der vermittelte unendliche Modus] aber das Angesicht des ganzen Weltalls, das zwar in unendlichen Modis sich ändert, aber immer dasselbe bleibt; siehe hierüber Anm. 7 zu dem Lehnsatz vor Lehrs. 14, Teil 2 [der Ethik].« 35

Die Erörterung der unendlichen Modi ist ein logischer Schritt in Spinozas Weg von der Gesamtheit – oder besser: von der Einheit zu den einzelnen Seienden. Gesetzt den Fall, die Welt als Ganzes ist als unendliche Produktivität verstanden, als unendliche Potenz, die sich in ihrem Schaffen permanent selbst produziert und ihre Zustände verändert, so ist der vermittelte unendliche Modus schlichtweg die Gesamtheit ihrer extensiven Teile, ein Sammelbegriff für die im ständigen Wechsel begriffenen Formen des Daseins und zugleich – wie bei der Zellteilung – die weitere Differenzierung des Einen in sich. »Die Konsequenz steht unter dem Hinblick auf ein Vieles, das als eine Mannigfaltigkeit von unterschiedlichem Einzelnen anzusehen ist, das jeweils von besonderer Bestimmtheit ist und darin besonderen Veränderungen unterliegt. Im Hinblick darauf folgt aus dem unmittelbaren unendlichen Modus, daß, wie dieses viele einzelne sich auch, an sich selbst betrachtet, verändern und ausgestalten mag, das Ganze des Vielen ein und dasselbe bleibt. Auch dies ist eine Konsequenz aus der Unbedingtheit der göttlichen Natur, aber nicht unmittelbar, sondern vermittelt durch den unmittelbaren unendlichen 35 | Baruch de Spinoza, 64. Brief, Briefwechsel, 250.

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Modus in dessen Charakter, ein Ganzes von Vielem zu sein, aus dem sich eine Folgerung in bezug auf das Viele ergibt.« 36

Die Modifikation ist die selbstgeschaffene Struktur der Substanz, die Entfaltung ihrer Komplexität, die Epiphanie des Daseins. Das Sein hat unendlich viele Qualitäten, unendlich viele Attribute, und es ist die Qualität, die Macht des Seins selbst, sich auszudrücken, sich selbst in den Attributen zu verbalisieren. Die Qualitäten sind erste Aktion, erste Tätigkeit, ursprüngliche Tätigkeit, und sie tragen in sich die unendlich vielen Variationen dieser Sprache, in dieser Sprache spricht das Wesen des Seins als Bewegung, als Motor, als Intensität und unendlich viele Grade an Intensität, als infinite Reihe, die die Zustände des Attributs, seine Flexionen, Beugungen, Brüche, Abwandlungen darstellen, die Wesen der Modi, die als endliche, existierende Seiende ebenso das Wesen der Substanz in sich schließen. Wenn es die Aufschlüsselung der Attribute in Ausdehnung und Denken geben muss – nämlich als Rückschluss auf Grund der uns offensichtlichen Unterschiedenheit zweier Qualitäten – und wenn einer einzigen, allumfassenden Substanz noch unendlich mehr Attribute zugerechnet werden, so ist jedem Attribut dennoch wiederum das Wesen der Substanz gemein, dass schlichtweg als Bewegung und Drang zur Veränderung, zur Modifikation bezeichnet werden muss. Egal, ob man die Ausdehnung in ihrer grundlegenden Modifikation als Verhältnis von Bewegung und Ruhe oder das Denken als unendlichen Verstand modifiziert betrachtet, geht es prinzipiell um eine stetige Dynamisierung des Begriffs, und es ist die Dynamik selbst, die Bewegung, kínesis, die die Differenz durch die göttliche Immanenzebene treibt, die den realen Körper aus der Unendlichkeit der Attribute formt, und darin ist Spinozas Philosophie so prägend und revolutionär – sie ist, wie die aristotelische Metaphysik, eine Philosophie der Kräfte, der bewegenden und widerstreitenden, der schaffenden und zerstörenden Kräfte. Ihr ganzes Prinzip, ihr Urgrund ist eine unendlich schöpferische Kraft, die eine göttliche Substanz als schöpferisches, kreatives, produktives Prinzip, die hervorbringende Natur, die sich selbst inszeniert, die sich unter ihren eigenen qualitativen Perspektiven in einen unendlichen Prozess des Selbstwerdens verfügt, die sich selbst als Prinzip des Lebens inkorporiert. Es geht ein substantieller Riss durch die Einheit der Substanz, ein differenzierender Trieb, ein Streben, ein conatus37, der als Fügung oder Fuge das Viele in das Eine bringt, das Wesen des Einen in jedem Endlichen auf blitzen, leuchten, strahlen lässt, ein Wille, der im Prinzip der Wille Gottes als Wille zu sich selbst durch seine unendlich variierenden Zustände ist, der die Stasis der 36 | Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, 41. 37 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik III, prop. 6, 122.

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Substanz, die Stasis und Stringenz der geometrischen Ordnung in der Ethik durchbricht 38, ein Spross, der die Ekstase vorantreibt, der die Substanz in ihrer schöpferischen Tätigkeit tatsächlich zu einem aus sich rollenden Rad39 werden lässt. Er ist das Bedürfnis nach der Extension, der das Parallelprinzip als das Einheitsprinzip konstatiert: Nicht der Geist will einen Körper, braucht einen Körper, sondern keine Idee ohne Körper, keine Idee eines Modus ohne existierenden Modus, und so hat in der unendlich komplizierten Reihe der modalen Wesen, der intensiven Quantitäten, jedes seinen Modus, ob er nun existiert oder nicht (denn das Wesen des Modus schließt die Existenz nicht ein40), aber es gibt sie, nicht als Möglichkeiten, sondern als Realitäten, als Konstellationen. »Jede substantielle Qualität hat eine modal-intensive, selbst unendliche Quantität, die sich wirklich in unendlich viele innerliche Modi teilt. Diese innerlichen Modi, die alle im Attribut enthalten sind, sind die intensiven Teile des Attributs selbst. Eben dadurch sind sie die Teile des Vermögens Gottes, unter dem Attribut, welches sie enthält. […] So sind die Modi in ihrem Wesen ausdrückend: sie drücken das Wesen Gottes aus, jedes nach dem Grad an Vermögen, der sein Wesen konstituiert. Die Individuation des Endlichen geht bei Spinoza nicht von der Gattung oder der Art zum Individuum, vom Allgemeinen zum Besonderen; sie geht von der unendlichen Qualität zur entsprechenden Quantität, die sich in irreduzible, innerliche oder intensive Teile teilt.« 41

Und Spinoza sagt selbst im dritten Beweis zu Lehrsatz 11, Eth. 1, dass existieren – im Gegensatz zum nicht-Existieren, nicht-existieren-Können – Macht bedeutet und insofern das Realste überhaupt das Prinzip aller Wirklichkeit ist. Ferner, nachdem seine Existenz und seine Essenz, sein Wesen, dasselbe sind42, so ist der Modus ein die Macht Gottes ausdrückender Zustand der Natur, je nach seinem intensiven Grad… q.e.d. Das Sein selbst ist Macht, die reine enérgeia ist Macht, ist unendliche Potenz, und ihre Macht äußert sich seit jeher in ihrer Selbstdifferenzierung und Entwicklung, in der Entwicklung ihrer Zustandsveränderungen oder ihrer Selbstaffektion, sie ist unendlich und ewig, ohne Anfang und Ende, wodurch jede Frage oder Diskussion nach einer Schöpfung ex nihilo ad absurdum geführt werden, und das Spiel der Zustände untereinander, der bedingten Modi, 38 | Zur Rehabilitation der geometrischen Methode vgl. Gilles Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, 98. 39 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den drei Verwandlungen, KSA 4, 31. 40 | Baruch de Spinoza, Ethik I, prop. 24, 31: »Die Essenz der von Gott hervorgebrachten Dinge schließt nicht Existenz ein.« 41 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 176. 42 | Baruch de Spinoza, Ethik I, prop. 20, 28.

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ist selbst ein ewiges, ein permanentes gegenseitiges Schaffen und Zerstören. Die Modi haben sich untereinander selbst als Ursache ihres Werdens und Vergehens, da ihre Existenz nicht notwendig, nicht mit ihrem Wesen ident ist. Das ist die vordergründige Dichotomie in der Analyse der endlichen Modi: dass sie einerseits das Wesen Gottes ausdrücken, andererseits aber nicht selbst in ihrer Existenz mit ihrem Wesen eins sind; jedoch sind die Modi eben nicht in sich selbst, sondern in einem anderen. »Wenn es aber zutrifft, dass ein existierender Modus eine große Zahl anderer existierender Modi ›benötigt‹, können wir bereits ahnen, daß er selbst aus einer großen Zahl anderer existierender Modi zusammengesetzt ist, die ihm von woandersher zukommen, die ihm zu gehören beginnen, sobald er aufgrund einer äußeren Ursache existiert, die sich im Spiel der Ursachen erneuern, insoweit er existiert, und die nicht mehr zu ihm gehören, sobald er stirbt. So können wir dann sagen, worin die Existenz eines Modus besteht: Existieren heißt eine sehr große Zahl von Teilen (plurimae) in der Wirklichkeit haben. Diese Teile sind als Komponenten sowohl dem Wesen des Modus, als auch untereinander, einer dem anderen äußerlich: es sind extensive Teile.« 43

Geht man also davon aus, dass das Gesamt der Natur in seinen unendlich vielen Qualitäten insofern quantifiziert ist, als jede Seinsform für sich eine graduelle Komplexität hat oder aufweist, so ist dies weniger als zweidimensionale Aneinanderreihung analoger Intensitätsstufen, sondern viel eher als Vielzahl, als Unendlichkeit verschiedener Ebenen zu verstehen, die das Vermögen der Substanz ausdrücken. Das modale Wesen ist ein Grad an Intensität, ein intensives Quantum, ein Kraft- oder Machtquantum, jede quantitative Ebene des Attributs eine eigene Sphäre, ein Grad an Bedecktheit, an dem gemessen das Licht der Sonne mehr oder weniger Strahlkraft hat. Das Attribut ist in sich quantifiziert, jedoch nicht gequantelt, denn es gibt keine Einheiten an Intensität – die Intensitäten greifen ineinander, und das Problem der Entsprechung (nämlich der Entsprechung von extensivem Modus und intensivem modalen Wesen) ist analog dazu wieder hauptsächlich ein Problem des Modells, der Vorstellungs- oder Einbildungskraft44, nämlich: Wieso die Unterscheidung intensiv-extensiv, wieso ist das modale Wesen real, physisch real und schließt nicht automatisch die Existenz des extensiven Modus ein, wieso kann es ein reales modales Wesen geben, ohne notwendig den kongruenten extensiven Modus? Jedoch bleibt in der Meditation dieser Fragen die notwendige Aufgabe jene, das Konzept der Einheit der Substanz und das Ziel als die Erklärung des Zusammenseins und des Wesens im Zusammensein der Modi nie aus dem Blick zu verlieren. 43 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 177. 44 | Vgl. Spinozas Brief an Meyer, Brief 12, Briefwechsel, 47ff.

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Die Substanz ist Macht, ist Gott, ist schöpferisches Prinzip als eine Immanenzebene, d.i. eine Ebene, in der und für die alles ist und existiert, und alles Existierende kann keine andere Macht ausdrücken, als jene der Substanz – das Viele ist im Einen, das Eine in jeder Singularität, drückt sich in jeder Singularität, in jedem singulären Modus aus. Nun expliziert sich die Substanz in unendlich vielen Qualitäten, die differenziert sind, jedoch nicht für die Substanz, sondern für den menschlichen Verstand – Ausdehnung und Denken sind verschieden – aber für uns verschieden – und sie sind die unendlichen Seinsformen, die unendlichen Weisen des Seins, die wir erkennen können, Verben, die zu vernehmen unser Gehör im Stande ist. Weiter: Betrachtet man ein Attribut gesondert, etwa jenes der Ausdehnung, so ist sie als solche, als Begriff, Verb, selbst als Vorstellung unteilbar – eben Qualität oder Attribut des Ganzen, sie drückt aber in ihrer Unendlichkeit und Unteilbarkeit die Macht der Substanz aus, muss also differenziert, auf bestimmte Art und Weise geteilt, teilbar sein, und das ist sie in ihrer modifizierten, affektierten Form, eben nicht per se und nicht real, sondern modal, und die Affektion der Ausdehnung ist als unendliche die Relation von Ruhe und Bewegung, vermittelt aber sind es unendlich viele Formen der Extension, Formen unserer Welt, Erscheinungsformen unseres Daseins, die sich ständig in Bewegung befinden (denn Ruhe ist Bewegung45), und ihrer jeweiligen Form nach, ihrer jeweiligen Konstellation entsprechend drücken sie einen bestimmten Grad an Vermögen der Substanz aus, sind sie ein bestimmtes Quantum Kraft oder Macht. Der ausgedehnte Modus, der Körper, kann etwas46, hat Wirkung, Wirkkraft, und jedem Grad an Wirkkraft entspricht, jeder Grad an Wirkkraft ist eine Intensität des jeweiligen Attributs, eben das modale Wesen. Und ebenso verhält es sich mit den Modifikationen des Denkens, denn die Qualität Denken ist ebenso modifiziert, ebenso komplex in Bezug auf die Grade der Intensität und ebenso extensiv affiziert wie die endlichen Ideen – endliche Modi des Denkens. Die Schwierigkeit hier bleibt, wie gesagt, im Auge zu behalten, dass die Differenzierung eine begriffliche ist, und die Formen der Modifikation nicht als real gesonderte betrachtet werden dürfen. Ein Körper, der mehr Wirkkraft besitzt oder erringt, schwingt sich nicht auf die nächste Stufe der intensiven Grade, erreicht nicht die nächste Ebene, sondern er kann einfach mehr als ein anderer, kann mehr als vorher und drückt dementsprechend die Macht Gottes in höherem Maße aus. Mit der Theorie des inexistenten Modus geht es Spinoza darum, zu zeigen, dass nicht zu jeder Zeit jedem Grad an Vermögen ein realer extensiver Modus entsprechen muss, und das ist schlüssig auf Grund der The45 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum, 7: »[…] denn ich erachte einen völlig ruhenden Körper als mit der Natur der Dinge unverträglich […].« 46 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik III, prop. 2, scholium, 117.

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se, dass das Wesen des Modus seine Existenz nicht einschließt. Dennoch hat das modale Wesen als intensiver Grad des jeweiligen Attributs Realität, existiert in der intensiven Komplexion der Qualität, ist Teil des Attributs als Modifikation der Macht Gottes und muss allein schon aus diesem Grund real sein.

4 E SSENZEN Das Attribut ohne seine Affektion bleibt reine Vorstellung, Abstraktion. Wäre es zulässig, von Willen zu sprechen, so könnte ein Attribut ohne Zustand nicht der Wille Gottes sein, denn das Wesen Gottes oder der Natur ist das Schaffen, seine Macht ist das Schaffen und seine Produkte sind seine Affektionen selbst, die Modifikationen der Attribute. Die ganze Welt ist durchwaltet und getragen von diesem Willen, der Wille der und Wille zur Macht ist, nämlich der göttliche Wille zur Produktivität und der Wille der Produkte, ihren Status, ihren Ausdruck oder Grad an Macht zu erhalten und zu steigern. Eben auf diesem Weg schreitet Spinoza die Grenzen seiner Welt von außen nach innen ab – er hat die Leiter zum Himmel fallen gelassen und wandelt sicheren Schrittes auf einer Ebene der Immanenz, die er versucht, zu durchmessen und deren Problematik, deren problematische Vorstellung, er vermitteln will. Das Kernstück der Ethik ist nicht die Substanz, nicht das Attribut, sondern es ist der singuläre Modus, vornehmlich der Mensch, aber der Mensch inter pares, der Mensch als Teil eines Welt-, eines Machtgefüges, das für sich genommen ein ewiges und unendliches ist, und – gesetzt, es klänge ein appellierender Ober- oder Unterton in den ethischen Betrachtungen mit – das zu verlassen oder übersteigen zu wollen einen Akt völliger Sinnlosigkeit darstellte. Darin liegt Spinozas permanenter Kampf gegen die Transzendenz: nicht als Kämpfer gegen Gott, sondern als Paraklet einer sich ständig vollziehenden Epiphanie, als Optiker, der den Blick zu schärfen sucht auf das Nahe und Nächstgelegene, auf den Körper, den Geist, die Unmöglichkeit der Trennung, die Unnötigkeit einer Aufspaltung. Wenn es eine Trennung gibt, dann in unserer Vorstellung, in unserem Geist, dann als Momente oder Attribute der Unendlichkeit, die wir zu begreifen in der Lage sind, die aber – in logischer Konsequenz – in einer göttlichen Einheit zusammenlaufen, kulminieren, oder: immer schon eins gewesen sind. Die Modifikation ist nun nichts anderes als eine Affektion der Substanz respektive ihrer Attribute, wobei hier wiederum der Grundsatz der Parallelität oder der Entsprechung von tragender Bedeutung ist: Jeder Modifikation der Ausdehnung entspricht eine Modifikation des Denkens, jeder Körper hat eine Idee, jede Idee ihren Körper, und es ist diese Unterscheidung als real-attributive zu betrachten, als Differenzierung des Verstandes, als Kategorisierung,

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wodurch zugleich der Grundsatz mitausgesprochen ist: Es gibt keinen Vorzug eines bestimmten Attributs gegenüber einem anderen, es gibt – entgegen jeder rationalistischen Tradition – keinen Vorrang des Geistes gegenüber dem Körper, nur einen corpus intellegens, einen Körper-Geist. Die Affektionen der Substanz sind sowohl intensiver wie auch extensiver Natur und sind Produkte der Substanz selbst, ihre Reihe oder Ebenenvielfalt ist eine unendliche, die Reihen sind unendliche: die intensiven als modale Wesen oder Grade an Vermögen, die extensiven als die äußerlichen Zusammensetzungen, als die Ideen und Körperkonstellationen, deren Wesen eben immer ein bestimmter Grad an Vermögen ist. Ferner ist die Selbstaffektion eine notwendige, in der Natur der Sache liegende, denn das Wesen der Substanz ist potentia als Produktivität, schöpferische Macht, und die Affektionen ihrer selbst sind ihre Produkte. Nun verhält es sich mit der Unendlichkeit der endlichen Modi wie folgt: Es ist die facies totius universi die unendliche Gesamtheit der endlichen Modi, jedoch ist jeder Modus seinerseits selbst eine Gesamtheit unzähliger Teile, jeder Körper eine Konstellation endlos vieler kleinerer Körper, eine reale Teilbarkeit in infinitum. Der Körper ist als Erscheinung oder Form eine momentane Zusammensetzung unendlich vieler kleinerer Körper, die selbst wiederum immer weiter teilbar sind. Somit ist der Körper ein sich ständig im Fluss befindlicher, dessen momentane Form einem bestimmten Grad an Vermögen, an Macht entspricht. Die letzten endlichen Teile sind Relationsquanten, kleinste Körper, die selbst wieder teilbar sein müssen (das ist das Wesen der unendlichen Teilbarkeit), sind keine Atome, auch keine virtuellen Termini einer infiniten Teilbarkeit. »In Wahrheit sind die letzten extensiven Teile die unendlich kleinen wirklichen Teile eines selbst wirklichen Unendlichen. Die Setzung eines wirklichen Unendlichen in der Natur hat bei Spinoza nicht weniger Bedeutung als bei Leibniz: es gibt keinerlei Widerspruch zwischen der Idee von letzten, absolut einfachen Teilen und dem Prinzip einer unendlichen Teilung, wenn nur diese Teilung in Wirklichkeit unendlich ist. Wir müssen annehmen, daß ein Attribut nicht allein eine intensive Quantität hat, sondern auch eine unendliche extensive Quantität. Es ist diese extensive Quantität, die wirklich in unendlich viele extensive Teile geteilt ist. Diese Teile sind äußerliche Teile, von denen die einen von außen auf die anderen einwirken, und die sich vom Außen unterscheiden.« 47

Mit Leibniz würde man sagen, die Natur ist angefüllt48, es gibt keinen leeren Raum – weder aus der Perspektive des Denkens, noch aus jener der Ausdehnung ist die Leere vorstellbar oder zulässig, denn alles ist in Gott und in allem 47 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 180f. 48 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Prinzipien der Natur und Gnade, Philosophische Schriften, Band I, 417.

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waltet das göttliche Wesen. Das nicht-Sein oder leer-Sein widerspricht der Natur Gottes. Die Existenz des bestimmten Modus, d.i. einer bestimmten Konstellation extensiver Teile, ist nicht notwendig, nicht im Begriff eines bestimmten modalen Wesens inbegriffen, wohl aber ist die extensive Affektion des Attributs in ihrer Gesamtheit eine notwendige, und diese Affektion ist in sich bewegt, ist eine in sich selbst permanent werdende Zustandsänderung. Der Spinozismus mutiert hierin zu einer absoluten Antithese der Stasis: Der in der Zeit existierende endliche Modus ist eine Konstellation unendlich vieler kleinerer Modi, jeder Körper das Zusammenwirken unendlich vieler Körper, jede Idee eine Gemeinschaft von Ideen, und sie sind als in der Zeit existierende Modi niemals mit sich selbst ident, sind immer in Veränderung und ständig in ihrer eigenen Formung, der Bewegung ihres Was-Seins begriffen – ein ständiges Werden und Vergehen, Zusammenschließen und Abstoßen, ein ständiges einander-Bedingen. Jeder Modus als extensives Quantum eines Attributs, als extensiver Zustand einer Qualität, hat immer einen anderen endlichen Modus als unmittelbare Ursache seiner Existenz, denn sie ist eine bedingte und gezeitigte – folglich nicht direkt aus dem Wesen der Substanz deduzierbar, denn alles, »was aus der unbedingten Natur irgendeines Attributes Gottes folgt, hat immer existieren und unendlich sein müssen, anders formuliert, ist durch ebendieses Attribut ewig und unendlich.«49 Die Transformation der extensiven Modi erfolgt als Resultat des Bewegungsprinzips, der Grundaffektion der Substanz, der primären Selbstaffektion: Die eine und ewige Substanz ist Produktivität, und der actus purus ihrer potentia ist, sich selbst in Bewegung zu setzen, ihre eigene Macht graduell zu differenzieren als Intensität und die singulären Erscheinungen ihrer eigenen Attribute sich selbst in einem unendlichen Kreislauf bedingen und verändern zu lassen. Wollte man einwenden, dass durch die Unmöglichkeit einer direkten Relation zwischen der Substanz und den endlichen Modi die Notwendigkeit der Modi selbst ad absurdum geführt ist, so liegt sie dennoch in den modalen Wesen oder Vermögensgraden, in den intensiven Ordinaten des Attributs. »Sie [die extensiven Teile] bilden alle zusammen und in jeder Beziehung ein sich änderndes unendliches Universum, das dem Allvermögen Gottes entspricht. In dieser oder jener bestimmten Beziehung allerdings bilden sie kleinere oder größere unendliche Gesamtheiten, die diesem oder jenem Grad an Vermögen entsprechen, d.h. diesem oder jenem modalen Wesen. Sie sind immer unendlich viele: unendlich viele Teile entspre-

49 | Baruch de Spinoza, Ethik I, prop. 21, 28.

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chen immer einem Grad an Vermögen, wie klein er auch sei; die Gesamtheit des Universums entspricht dem höchsten Vermögen, das alle Grade enthält.« 50

Die große, alles überschattende Frage in dieser Konzeption der Relation des Vielen zum Einen, des Vielen im Einen ist nun im Grunde teleologischer Natur: Welcher Impetus, welcher Motor, welches Ziel führt oder lenkt die Modi, aus welchem Grund passieren die Veränderungen in der Sphäre der endlichen Erscheinungen, was ist das Prinzip der oder in der Erscheinungswelt, aus dem der Drang der Formation von Körpern erwächst, warum verbinden sich kleinere zu größeren Körpern, warum ist das interne Verhältnis der Körper in einem permanenten Wechsel begriffen? Oder anders formuliert: Wie äußert sich, wie drückt sich das Wesen der Substanz als Macht im vereinzelten Modus aus und wie ist der singuläre Körper-Geist in der Lage, die unendliche Essenz zu inkorporieren? Wodurch äußert sich in jeder Erscheinung der Welt das substantielle Wesen, was ist der Motor in einem vordergründig zur Gänze organisierten, determinierten Weltbild? Dem ersten Buch der Ethik zu Folge ist Gott nicht nur die bewirkende Ursache der Existenz aller Dinge, sondern auch ihres Wesens51, denn Gott ist die Ursache der Modifikationen seiner selbst schlechthin, auch wenn das modale Wesen die Existenz des singulären Modus nicht notwendig miteinschließt. Das modale Wesen oder der Intensitätsgrad wiederum ist Ausdruck des Vermögens Gottes, Ausdruck seiner Macht, und indem jeder extensive Modus, jeder Körper und dessen Idee einem bestimmten Grad an Vermögen entsprechen, ist ihre Essenz Macht als bewirken-Können: der Modus drückt die Macht Gottes je nach dem Grad seines Wesens aus. Das einzelne Seiende »ist also durch das, was Gott wesentlich ist, bestimmt: es ist selber causa qua potentia. Darin ist das einzelne an ihm selbst bestimmt was es vom vermittelten unendlichen Modus her nicht ist, nämlich selber zu wirken, aus sich heraus zu wirken.«52 Es ist seine Bestimmung, auf andere extensive Teile zu wirken, mit dem Ziel, seinen Grad an Vermögen, sein Können, seine Macht, zu erhalten und zu steigern. Darin stößt man auf das Herz der Ethik Spinozas, auf jenes belebende Prinzip, das unentwegt den Kreislauf des Seins vorantreibt, dessen Adern wie unendlich kleine, verästelte Flüsse ihre Furchen durch die Welt der Erscheinungen ziehen. Man vernimmt hierin den Klang der göttlichen Stimme je nach dem Grad der Begabung, aber sie spricht aus allen Erscheinungen ihrer selbst, ihrer Natur: Es ist das Streben, zu sich selbst zu kommen, immer mehr

50 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 181. 51 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik I, prop. 25, 31. 52 | Wolfgang Bartuschat, Spinozas Theorie des Menschen, 46.

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das zu werden, was man, wer man ist, zu erkennen, was man ist, sich selbst als Teil des großen Kosmos zu begreifen. Das Streben des Einzelnen ist der Grundtrieb und der Grundzug der Welt. Das Wesen aller Modi ist – unabhängig von Abstufung nach Graden – Macht, göttliche Macht, und es ist ihr Wesen, die göttliche Macht als Wirkkräfte auszudrücken ebenso, wie diese Macht zu wollen, zu dieser Macht als Realisation ihrer selbst zu wollen und nicht Ausdruck im Sinne einer Stasis, einer Stagnation zu sein, sondern Steigerung, mehr-Werden, permanenter Vollzug der Steigerung eigener Ausdrucksfähigkeit. Dieser Drang ist der Anspruch und zugleich die Stimme der Ewigkeit in den endlichen Dingen, Erscheinungen, die göttliche Fügung in jedem noch so kleinen Körper, die Transformation, die jeden Körper als Konstellation zu einer Kräfterelation, zu einem Quantum an Kraft oder Macht werden lässt. »Die essentia qua potentia des einzelnen Dinges ist als conatus ein strebendes Angehen gegen ein Vernichtetwerden von außen, was nur heißen kann, gegen ein Vernichtetwerden des zeitlichen Dinges durch ein ihm Äußerliches. Diesen Drang, sich selbst zu erhalten, bestimmt Spinoza als die Essenz eines einzelnen Dinges in dessen konkreter Wirklichkeit (›essentia actualis ipsius rei‹, III, prop. 7).« 53

Auf diesen Begriff des conatus steuert die gesamte Ethik zu, er ist der Drehund Angelpunkt, das Bindeglied zwischen der unendlichen Substanz und ihren Modi, der Motor eines göttlichen Spiels, einer unendlichen Veränderung im Zeichen der Einheit, er ist der Ausgang und die Grundlage der gesamten Lehre von den Affekten, durch die der Begriff oder Titel einer Ethik überhaupt gerechtfertigt wird. Er ist die aristotelische enérgeia als Vektor, ist das wirken-Können als wirken-Wollen, als Zug zur Wirksamkeit, zum Ausdruck, zur Produktivität – in Wahrheit nicht eine Vorstufe zum Willen zur Macht, sondern schon die Pluralität der Willen-zur-Macht-Konstellationen, der Willen-zur-Macht-Prozesse, als er jeder Körper-Geist-Einheit innewohnt, jedes Quantum Realität durchwaltet, insofern er Sinn gibt, die Richtung weist, insofern er als göttliche Fügung zu sich selbst zurück will und immer mehr er selbst, immer mehr Macht werden will. Die tatsächliche Vervielfältigung, die Diversität in der Einheit vollzieht sich in der so erreichten Darstellung der Individualität – als je eigene Ausformung, Formation eines im tiefsten Wesen jeder Erscheinung verankerten Willens, eines Individuationsprinzips, dessen Ziel die Steigerung seiner Ausdrucksfähigkeit ist – ebenso, wie die Erkenntnis derselben. Wir lesen, dass »eine solche Tendenz im einzelnen aus der ewigen Substanz«54 nicht herge53 | Ebd. 133. 54 | Ebd. 134.

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leitet werden kann, meinen aber, dass es sich genau gegenteilig verhält: Eben jene Tendenz leitet sich als Wesen alles Seienden und als ewiges Prinzip direkt aus der Substanz ab, ist selbst das Wesen der Substanz in ihrer Selbstaffektion. Gott, die natura naturans, haucht sich selbst in seinen unendlich vielen Zuständen den eigenen Atem und damit eigenen Willen, den Willen zu sich selbst ein, er spricht aus sich selbst als aus jeder Erscheinung, jeder Affektion seiner Qualitäten. Das modale Wesen ist die potentia und das modale Wesen ist der conatus, ein conatus potentiae, wenn man möchte, Streben oder Willen, zu wirken und darin wirklich sein, und zugleich das Streben, immer höhere Grade, weitere Ebenen der Wirksamkeit zu erreichen, permanent zu mutieren, sich zu häuten und immer weiter zu entfalten, Falte um Falte zu glätten und auf jeder Stufe des sich selbst Näherkommens auch den Einblick in den großen Zusammenhang zu schärfen. »Gegen den Tatbestand, daß jedes Ding einem äußeren Einfluß ausgesetzt ist, wird die potentia eines Dinges, ohne die als einer inneren Bestimmung es nur Moment eines übergreifenden Wirkzusammenhanges wäre, nicht aber etwas an sich selbst, als conatus bestimmt. Die Essenz des singulären Dinges wird als ein Selbstbezug in der Äußerlichkeit bestimmt und deshalb als ein Streben (conatus) gegen das Äußere, gegen das das Selbst (›in suo esse‹) zu erhalten (›perservare‹) ist. Damit erst ist die Ontologie zu einer Konkretion gelangt, die es erlaubt, singuläre Modi voneinander zu unterscheiden.« 55

Die Modi sind sich darin ihrem Wesen nach gleich als conatus, als Streben, aber individuell und unterschiedlich gemessen am Grad des Vermögens, den sie verkörpern und in der zeitlichen Existenz, in der sie stehen. Kein Modus kann einem anderen gleichen, kein Modus kann je eine exakte Kopie eines vorangegangenen sein, kein Körper bleibt jemals mit sich selbst gleich56 – Sturmlauf gegen alle Vorstellungen einer Stagnation und Identität! Jedoch spricht aus jedem Modus immer wieder das eine Prinzip, der eine Trieb oder Wille, zu werden und sich zu entwickeln, als Affektion der Substanz selbst seine eigenen Affektionen in ihrem Zusammenhang zu erkennen, selbst Grund der eigenen Affektionen zu werden und die Selbsterkenntnis voranzutreiben. Die Modi bedingen ihre Existenz gegenseitig, sind Ursache voneinander, d.h. ihre Existenz folgt nicht unmittelbar aus dem Wesen der Substanz, sondern aus dem Zusammenwirken von Körpern untereinander, die allesamt das Wesen der Substanz ausdrücken, die sich gegenseitig affizieren, in Zustände versetzen, die selbst immer im Wechsel begriffene Zustände des Ganzen sind. Sie gehen nicht auf Grund ihres Wesens in die Existenz über, sondern 55 | Ebd. 136. 56 | Brian Massumi, Ontomacht – Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, 31: »Ein Körper stimmt nicht mit sich selbst überein.«

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auf Grund mechanischer Gesetze, äußerlicher Gesetze, in letzter Instanz auf Grund von Gesetzen der Kommunikation und Bewegung. »Wenn wir unendlich viele einfache Körper betrachten, sehen wir sie sich in immer veränderlichen unendlichen Gesamtheiten gruppieren. Die Gesamtheit all dieser Gesamtheiten bleibt jedoch konstant, und diese Konstanz wird durch die Quantität an Bewegung definiert, d.h. durch die totale Proportion, die unendlich viele besondere Zusammenhänge enthält, Zusammenhänge von Bewegung und Ruhe. Die einfachen Körper können niemals von einem dieser Zusammenhänge getrennt werden, durch den sie einer Gesamtheit angehören. Die totale Proportion bleibt nun immer konstant, während die Zusammenhänge sich bilden und vergehen, gemäß den Gesetzen der Zusammensetzung und der Auflösung.« 57

Die Zusammensetzung oder Verbindung der Modi als Körper, als Ideen, geschieht eben aus dem Drang oder dem Bedürfnis, den jeweiligen Grad an Vermögen zu erhalten und zu steigern. Obgleich das mehr-Wollen oder mehr-werden-Wollen keinen expliziten Teil eines Lehrsatzes der Ethik ausmacht, schwingt der Anspruch in der Kombination verschiedener Stellen über das Wesen des conatus eindeutig mit58, sodass wir das Selbsterhaltungsstreben als Steigerungsbedürfnis59 des eigenen Vermögensgrades nicht nur auffassen können, sondern müssen (die Stasis oder Stagnation widerspricht dem Spinozismus seinem Wesen nach). Dementsprechend findet sich der Modus in einer – wie Deleuze sagen würde – triadischen Struktur der Bewegung: im Sinne eines Körpers als sich ständig verändernde Zusammensetzung unendlich vieler Körper, als einem ständig variierenden Vermögensgrad, der ihr Wesen ist, und als Streben per se nach einem Mehr an Vermögen, das im Gleichen ihr Wesen ist. Der Mensch ist ein endlicher Modus, ein endlicher Zustand der unendlichen Substanz: Er setzt sich aus einer Vielzahl kleinerer Körper zusammen, die selbst wieder bis ins Unendliche teilbar sind, und die Zusammensetzung dieser Körper selbst wechselt permanent, ist ein ständiges Absterben und Neuwerden, ist Zellteilung, Zellneubildung, Blutkreislauf, Bluterneuerung, Atmung, Verdauung, Ausscheiden, ist Erkennen und Lernen, Vergessen und Verdrängen, ist Assoziation, Neurose, Psychose, Glück und Unglück, eben Transformation, um den Menschen als Gesamtheit zu erhalten und ihn in seiner Wirkkraft zu steigern, seinen Grad an Vermögen zu steigern, ihn zu entwickeln, respektive ihn sich selbst entwickeln zu lassen, denn die Bewegung 57 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 185. 58 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik III, prop. 10-12, 124ff. 59 | Vgl. Wolfgang Bartuschat, Baruch de Spinoza, 106f, auch: Wolfgang Röd, Benedictus de Spinoza, 205.

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kennt kein statisches Moment – Bewegung ist mehr- oder weniger-Werden, ist Stärkung oder Schwächung, ist niemals konstant.

5 A FFEK TE So ist das Wesen des Menschen ein sich ständig ändernder Grad an Vermögen, an Können, an Wirkung, an Ausdruck der göttlichen Kraft. Jeder Teil des Gefüges, jeder kleinste Körper als Idee und umgekehrt verkörpert ebenso die göttliche Macht und das Streben, ein Stück weit höher in der Ebenenvielfalt der Ausdruckskraft zu kommen. Jedoch ist das Wirken und die Wirkkraft des Modus keine selbstbezügliche, seine Struktur keine hermetische: im Gegensatz zur Substanz, die in und für sich ist, ist der Modus in einem andern, durch und für anderes, sein Wirken ist gerichtet, bezogen auf anderes, und anderes auf ihn bezogen, seine Existenz ist ständige Berührung, ständiger Austausch, ständige Interaktion und Kommunikation – er bewegt sich auf dem Spielfeld der Substanz. Die Modi sind die vielen, interagierenden Wellen, die Frequenzen und Amplituden, Longitudinal- oder Transversalwellen, die Interferenzen, die sich auf der einen Ebene, in der einen Welle bewegen, sich befördern oder auslöschen. Dieses beeinflusst-Werden, die Fähigkeit, berührt zu werden, bewegt zu werden, ist ebenso Teil des Vermögens des Modus, wie sein Wirken, seine Wirkkraft – die Sensibilität, das affiziert-werden-Können ist Teil seiner Kraft und seiner Macht, ist nicht Leidenschaft und Passivität, sondern Zeichen seiner offenen, porösen, unvollkommenen, kommunikativen Struktur60. Der Modus ist seinem Wesen nach offen61, als er in Veränderung begriffen ist, er ist Zustand, Affekt der Substanz, die sich in ihren Modifikationen selbst affiziert, aber er ist ebenso das affektierte Wesen per se, er ist als Affektion selbst immer schon in einen Kreislauf der Affektionen, Zirkel der Affekte verhaftet. Es liegt in der Natur der Modi, sich untereinander ins Unendliche zu affizieren.

60 | Vgl. Brian Massumi, Ontomacht – Kunst, Affekt und das Ereignis des Politischen, 29ff. 61 | Vgl. Arno Böhler, TheatReales Raumdenken, 9: »Als wunde, mit anderen Körpern stets schon weltweit verbundene Entitäten sind Körper immer schon Stätten lokal vernetzter Vielheiten, deren Multitude den weltweiten Corpus eines Körpers bildet: Das Gezüge der tensionalen Verhältnisse, in denen ein Körper in Modi der wechselseitigen Anziehung, Abstoßung, des Für-, des Gegen- und Mit-ein-anders zu anderen Körpern steht.«

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»Daraus schließt man, daß der existierende Modus auf vielfache Weise affiziert ist. Spinoza geht von den Teilen zu deren Affektionen, von deren Affektionen zu den Affektionen des ganzen existierenden Modus. Die extensiven Teile gehören einem Modus nur in einem ganz bestimmten Zusammenhang an. […] Ein Modus hört zu existieren auf, sobald er unter seinen Teilen nicht mehr denjenigen Zusammenhang aufrechterhalten kann, der ihn charakterisiert; zudem hört er auf, zu existieren, sobald er ›unfähig ist, auf mehrere Weisen affiziert zu werden‹«. 62

Bedenkt man hierbei die vorhin angesprochene Univozität der Attribute, der Seinsweisen – sowohl bezogen auf Gott, wie auf die singuläre Existenz – so müssen die Qualitäten im Modus eben Qualitäten ein und desselben Modus, Perspektiven auf den Modus sein, Aspekte der selben Erscheinung, die im zeitlichen Wandel niemals mit sich selbst ident, jedoch immer eine Einheit von phýsis und psyché ist, Ausdehnung und Denken. Jede Veränderung der extensiven Teile des Körpers ist eine Veränderung der extensiven Teile der Idee des Körpers. Spinoza denkt als erster Philosoph den Körper als Moment einer psychophysischen Gesamterscheinung63 und leugnet zugleich jegliche Form der kausalen Relation zwischen Körper und Geist. Er revoltiert gegen ein Dogma der abendländischen Tradition, emanzipiert den Körper aus der strengen Hand des Bewusstseins und zerrt auf den sicheren Steigbügeln einer befremdend anmutenden mathematisch-geometrischen Methode die hybride Regentin Vernunft von ihrem Thron in die Gemeinschaft eines tieferliegenden Triebes, einer sinnstiftenden vektoriellen Verfügung, die als Körper-Geist auf anderes gerichtet und in ihrer Gerichtetheit auf sich selbst bezogen ist. Der Affekt als Bezug, die Affektivität64 als Offenheit und der conatus als zugleich verbindendes und individuierendes Moment erwachsen aus dem Boden, den die Ontologie bestellt, fruchtbar gemacht hat, den sie vorbereitet hat für die eigentliche Theorie und es ist die Affektivität, die das grundsätzliche Verhältnis ausmacht, in dem jedes Ding, jede Existenz steht als Wille nach außen und poröse Struktur nach innen, als durchlässige und veränderbare Form, Daseinsform, die je nach dem Grad ihrer Fähigkeit, Affekte zuzulassen, zu verarbeiten, auszuüben und sich einzuverleiben, einen ganz bestimmten Ausdruck der einen göttlichen Macht darstellt.

62 | Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 191f; Baruch de Spinoza, Ethik IV, prop. 39, dem., 227. 63 | Vgl. Wolfgang Röd, Benedictus de Spinoza, 217f. 64 | Vgl. zum Affekt-Begriff bei Spinoza meinen Aufsatz: Über Wille und Affekt, in: Denken im Affekt, hrsg. von Bernd Bösel, Eva Pudill, Elisabeth Schäfer, 157ff.

5 Affekte

»Denn konkret ist ein Modus im Körper wie auch im Denken ein komplexes Schnelligkeits- und Langsamkeitsverhältnis und eine Macht des Körpers oder des Denkens, zu affizieren oder affiziert zu werden. Konkret: es ändern sich viele Dinge, wenn ihr die Körper und Gedanken als Mächte betrachtet, zu affizieren und affiziert zu werden. Ihr werdet ein Tier oder einen Menschen nicht durch seine Form, seine Organe und Funktionen, auch nicht als Subjekt definieren: ihr werdet sie durch die Affekte, deren sie fähig sind, definieren. Affekt-Fähigkeit mit maximaler und minimaler Schwelle ist ein geläufiger Begriff bei Spinoza.« 65

Das Denken des Affekts und das daraus notwendige Denken im Affekt, die Idee des Körpers als Geist und das Bewusstsein als die Idee dieser Ideen, die adäquat oder inadäquat nur in Bezug auf die Affekte ihrer Organisation sein können, die der Leib, die die Gesamtheit ist – dieses körperaffine Denken, das sich selbst gar nicht anmaßt, aus dem Bezugshorizont der Affektivität austreten, ihn übersteigen zu können, das ewig danach strebt, den Bezugsrahmen als solchen, als göttlich-natürlichen wahrzunehmen, widerspricht der klassischen Metaphysik und der Tradition des außerweltlichen, überirdischen Sinns. Es ist eine Rehabilitation des Körpers und ein Antagonismus zur platonisch-christlichen Leibverachtung, es ist – aus der Zeit Spinozas gesprochen – etwas genuin Neues und in jedem Sinne Abstoßendes: abstoßend für die Tradition, die Gewohnheit und die ausgezeichnete Position des Geistes, abstoßend für Freunde des lieblichen Stils, abstoßend für »Ethiker« und das Bedürfnis nach Vorgaben für den richtigen Umgang mit Launen und Gemütsregungen. Vor allem aber sind das Projekt und die Umlenkung des Denkens abstoßend in Hinblick auf die unausgesprochenen Voraussetzungen, die in jeder klassischen Ontologie und Metaphysik des Seins eine grundlegende und nie hinterfragte Rolle gespielt haben. Wenn der Begriff des conatus in seiner ganzen Tragkraft und Weite, in der Beziehung zu seiner Deduktion, das philosophische Kernstück ist, dann ist es die Theorie der Affekte aus thematischer Perspektive. Spinoza muss Gott und die Welt, die Natur und die Kreaturen neu erfinden, um das Wesen ihrer gegenseitigen Beziehungen und Bezugnahmen erläutern und im Lichte seiner pantheistischen Sonne darstellen zu können. Es ist ein sich-Überschlagen, sich-selbst-Überwinden, ein ständiger Kampf mit der Darstellung, die Auseinandersetzung mit der Form, eben die Suche nach der Transzendenz66, ihr Ausschluss, das Transzendenzverbot in jedem Punkt der Ebene: Spinoza führt sein Bild des Denkens, seine Immanenzebene mit der Natur zusammen und extrapoliert sie horizontal ins Unendliche… der Status des Menschen wird vordergründig abgewertet, der Mensch selbst entmündigt – in Wahrheit wird 65 | Gilles Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, 161. 66 | Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 57.

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die Perspektive gewechselt, die Hybris der Selbstüberschätzung in die hybride Natur umgewandelt, in das ständige Vermengen und Verwachsen, in den Kampf und die Liebe der Zusammengehörigen, in das Kräftespiel der Seienden. Das Epizentrum der bebenden Umwertung liegt zu allererst in der Ontologie, erschüttert das Sein als Ganzes, zertrümmert seine Türme und Festungen und lässt jedes Wesen den Staub des Unendlichen inhalieren – der Körper bebt in der Ekstase seiner Rehabilitation, seiner Revitalisierung, in der Überwindung der unnatürlichen Trennung von seiner Idee, und wenn vom Körper die Rede ist, dann nur vom Körper-Geist als einer untrennbaren Einheit, von jenem großen Gebilde, das Nietzsche als die Leib-Vernunft bezeichnen wird67, deren reflektierender Verstand ebenso Organ ist wie Leber und Niere, Teil im Zusammenwirken einer Gesamtheit, die nicht ein anderes verkörpert, sondern ihre eigene Macht, die Macht der Natur und die Macht Gottes. Es gibt keine gegenseitige Einflussnahme von Körper auf Geist oder vice versa: »Der Körper kann den Geist nicht zum Denken bestimmen und der Geist nicht den Körper zur Bewegung und Ruhe oder zu irgendetwas anderem (wenn es noch etwas anderes gibt).«68 Was der Körper aber kann, was er wirklich kann als Wirkmacht, als singulärer Ausdruck einer unendlichen Macht, gilt es erst auf dem neu gefundenen, neu bestellten Feld der Immanenz zu erkunden, gilt es, im Rahmen der Natur und ihrer Gesetze zu erforschen, ihrer Verfassung gemäß, der sich zu entziehen auf Grund der Immanenz niemand in der Lage ist. Dass der Mensch in Spinozas Analyse eine herausragende Stellung einnimmt, steht außer Frage, dass die Betrachtung der Affekte bezogen auf den Menschen, seiner spezifischen Affekte im Vordergrund steht, ist offensichtlich, jedoch eingebettet in der unendlichen Gesamtheit aller Modi miteinander, als Teil des großen Ganzen, der sich in ihrer Gesamtheit erhaltenden energetischen Konstellation. Spinoza schreibt selbst in seiner Einleitung zum dritten Teil, jenem Abschnitt, in dem er endgültig das Besondere des endlichen Modus ins Zentrum des Interesses rückt: »Die meisten, die über die Affekte und über die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, behandeln, so sieht es aus, nicht natürliche Dinge, die den allgemeinen Gesetzen der Natur folgen, sondern Dinge, die außerhalb der Natur liegen; eher scheinen sie den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staat zu verstehen. Denn sie glauben, daß der Mensch die Ordnung der Natur mehr stört als befolgt und daß er über seine Handlungen eine unbedingte Macht hat und von nichts anderem als von sich selbst be-

67 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39. 68 | Baruch de Spinoza, Ethik III, prop. 2, 116.

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stimmt wird. […] Doch was die Natur und Kräfte der Affekte sind und was andererseits der Geist vermag, das hat, soviel ich weiß, noch niemand bestimmt.« 69

Die Natur macht keine Fehler, denn sie ist eins mit Gott – deus sive natura – und die erscheinende Welt, die Welt der Phänomene, der Lebewesen, das Offensichtliche, das Dasein ist die Modifikation des Einen, der einen Substanz, die eine unendliche Vielfalt an Kräften, an Machtexpressionen darstellt – an Quantitäten, Zusammenballungen, Konstellationen, die das Treiben der Welt sind und die sich selbst nach den Gesetzen der Natur bewegen, gegenseitig bewegen, beeinflussen, aufeinander beziehen, in jedem Moment affizieren. Jede Erscheinung der Welt ist eine Form als Information, als informativer Modus des Weltgeschehens, und ist eine denkende, beseelte Form, ein Konvolut von aufeinander wirkenden Kräften, von widerstreitenden, sich vernichtenden, sich befördernden Kräften, und im Ausdruck ihrer Macht ist sie offen für Beziehungen, Veränderungen, sie nimmt an, nimmt auf, gibt weiter, entwickelt sich, steht in einem ständigen Wechsel der Affektionen ihrer selbst. Je mehr sie den Grund ihrer Affektionen einsieht, ihre Ursache, den Wirkzusammenhang, desto stärker wird sie selbst Grund des Affekts – als Teil des gesamten Wirkgeschehens, wird aktiv, klar, wird immer mehr Ausdruck der göttlichen Macht. Spinoza tritt als Geometer in die Philosophie und fängt von vorne an. Er meditiert und lässt wirken, gibt sich dem Affekt des Denkens und wissen-Wollens hin, sieht und empfindet Körper über Körper, Bewegung um Bewegung, einen Aufruhr des Lebens gegen das Sein, als das es abgestempelt, ad acta gelegt wird. Er denkt den Körper und die Leibvernunft und den Begriff des Körpers in seinem vollen Umfang – als Organisation und Sinn: »Ein Körper kann alles mögliche sein, es kann ein Tier sein, ein Klangkörper, es kann eine Seele oder eine Idee sein, es kann ein Textcorpus sein, ein sozialer Körper, ein Kollektiv sein. Wir nennen die Länge eines Körpers die Gesamtheit der Verhältnisse von Schnelligkeit und Langsamkeit, Ruhe und Bewegung zwischen Teilchen, die ihn unter diesem Gesichtspunkt zusammensetzten, d.h. zwischen nicht geformten Elementen. Weite nennen wir die Gesamtheit der Affekte, die einen Körper in jedem Augenblick ausfüllen, d.h. die intensiven Zustände einer anonymen Kraft (Existenzkraft, Macht, affiziert zu werden).« 70

Er denkt die Begriffe der Kraft und der Macht aus der Bewegung, den Körper im Affekt und das Denken im Affekt – er denkt den Modus als Affektion und selbst ständig im Affekt, denkt ihn als ständige Berührung und ständiges 69 | Ebd. praef., 112. 70 | Gilles Deleuze, Spinoza – Praktische Philosophie, 165.

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Pulsieren, als pulsierende Formation um eine göttlich-natürliche Distinktion, als den Mut des Lebens oder den so viel diskutierten und so oft hinterfragten Sinn des Lebens. Er ist der Denker des Leibes als eines Sinnzusammenhangs jeder Existenz, die nicht de facto in körperliche und geistige Sphäre getrennt, aufgespalten werden, sondern eben nur unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann, eine durch Sinnstiftung geeinte Pluralität. »Der Leib ist eine grosse Vernunft«, lehrt Zarathustra seine Schüler, »eine Vielheit mit Einem Sinne, ein Krieg und ein Frieden, eine Heerde und ein Hirt. Werkzeug deines Leibes ist auch deine kleine Vernunft, mein Bruder, die du ,Geist’ nennst, ein kleines Werk- und Spielzeug deiner grossen Vernunft.« 71 Und im Sinne dieser großen Vernunft arbeitet die kleine Vernunft als Organ, arbeitet am Affekt, arbeitet daran, den Affekt einzuverleiben und den Sinn zu verkörpern, ihn immer wieder als die Existenz, die sie ist, zu verkörpern und weiterzutragen. Der conatus ist ein alle Grenzen überspringender Zug, ein Trieb, der allem Seienden zukommt, zugesprochen werden muss, er ist Ungenügsamkeit, das Streben und Ausgreifen nach etwas, die Suche, und vielleicht ist es eben jene »kleine Vernunft« im oder am Menschen, die einer seiner stärksten Willen, aber eben nur Wille unter anderen ist, keine genuin andere, überfliegende Dimension, sondern ein Moment am Leib, das ihn mitprägt und mit ausmacht, das sich aber niemals von ihm ablösen und ohne die große vernünftige Organisation, deren Teil sie ist, existieren kann. Jeder Körper ist Körper als Organisation von Kräften und darin selbst ein relatives Konstrukt, Konstrukt von Relationen und Verbindungen, von Zusammenhängen, eine Zusammenballung von kleinen und kleinsten Körpern, die selbst immer Willen-zur-Macht-Organisationen darstellen und die als Einheit, als Leib nur in der Verfügung ihrer großen Vernunft, ihrer organisatorischen Vernunft, die selbst Wille zum Leben ist, auftreten können. Die große Vernunft fügt die einzelnen Willen zu einer Totalität, einer sinnvollen und eigensinnigen Totalität, sie schafft Einheit unter den gegeneinander strebenden Willensorganisationen und stellt so die Bedingung der Möglichkeit dafür, dass diese Einheit als Einheit fortbestehen, sich bewegen und entwickeln und ihr Handlungspotential steigern kann.

6 S INNE Man braucht, um die Notwendigkeit einer so gearteten Verfügung einzusehen, nur an die unendliche Vielfalt von Bewegungsimpulsen zu denken, die in ab71 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39.

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soluter Koordination zu einander stehen müssen, um die einfachsten Aktionen setzen, einen Schritt in eine bestimmte Richtung tun, die Hand nach einem Gegenstand ausstrecken zu können. »Gesetzt, ein lebendiger Körper wäre unfähig, seinem Richtungssinn zu folgen; gesetzt, er würde schon beim ersten Bewegungsimpuls zerfallen, oder er würde nur torkeln, trudeln oder fuchteln [...]: Dann wäre der Leib als Leib bereits unmöglich, denn er hätte nichts, worauf er sich richten könnte; er könnte keine Nahrung und keinen Schutz suchen, könnte nicht angreifen und nicht fliehen. Seine Existenz wäre ohne den ›Sinn‹, der in seinen natürlichen Vollzügen liegt, und damit wäre sie auch schon gescheitert. Ein Leib, der die Vielheit, die er ist, nicht zur Einheit seiner Vollzüge bringen kann, wäre ganz und gar unmöglich.« 72

Und eben darin ist die Leib-Vernunft als Zusammenhalt und Zusammenführung der unzähligen Leib-Aktivitäten, der permanent ablaufenden Vollzüge und Aktionen sinnstiftendes Moment, ist Zusammenschließen einer Vielheit zu einer gelebten und lebensfähigen Einheit, ist Logos im Sinne einer einheitlichen Sprache, die eine interne Kommunikation, eine kontinuierliche Interpretation, ein Zusammenspiel und gegenseitige Information ermöglicht, die als Bedingung für die reale Form fungiert, die in Erscheinung tritt, für die Leib-Form, die sich selbst unentwegt neu formieren und neu organisieren muss73. Jeder Körper muss aus dieser Perspektive als Organisationsfeld betrachtet werden, als interne Differenz, die sich als Einheit präsentiert, als Relation von Kräften, die in der Lage sind, einander zu deuten und zu interpretieren, die eine Formation hervorbringen, in dem sie in einem Informationszirkel stehen. Insofern denkt jeder Leib, jeder Körper, der als Organisation auftritt – aber nur so kann ein Körper überhaupt sein – denkt, indem sein Bestehen von der internen Homogenität der Kräfterelationen abhängig ist und denkt, indem er als organisatorische Einheit immer auf andere Einheiten Bezug nehmen, interpretieren und interpretiert werden kann. Die tatsächlichen Bewusstseinsinhalte, alles Greif bare und Bestimmbare, sind nur ein kleiner Ausschnitt, vielleicht nur der kleinste Teil dieser Geschehensprozesse, die immer in den großen Zusammenhang organisierter Einheiten und deren Interaktion eingebettet sind. Die große Vernunft ist eine Vernunft, die zusammenschließt, verbindet, eine gemeinsame Sprache, einen Kommunikationsraum schafft, aber sie ist 72 | Volker Gerhardt, Die »Grosse Vernunft« des Leibes, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 145. 73 | Zu Volker Gerhardts Abhandlung über die »grosse Vernunft« vgl. auch meine Aufsätze: Volker Gerhardt: Versuch über die »Grosse Vernunft« des Leibes 1 und 2, in: http://www.univie.ac.at/performanz/fwf/site/?page_id=7.

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eben darin keine transzendente Verfügung, die alles ihren Gesetzen Widersprechende ausschließt, negiert und einen jenseitigen Kosmos von Bedingungen erstellt, sondern sie ist ein diesseitiger Einschließungs- und Zusammenschlussprozess, ein Erschließungs- und Aufschlussprozess, der eine lebendige Einheit als Willen und darin als Ausdruck vieler Willen konstituiert und erhält, ja, nicht nur erhält, sondern im Dasein immer mehr werden will, eine immer gefestigtere und fähigere, immer mächtigere Einheit. Sie ist real in einer Welt der Wirkungen und ist selbst ein Wirkungshorizont, ein Sinn-Körper. Die Welt selbst ist nur als die Totalität dieser eigensinnigen Erscheinungen; es gibt hier keinen essentiellen Bruch von belebt und unbelebt, organisch und anorganisch, bewusst oder unbewusst, sondern nur mehr graduelle Differenzen in der Komplexität von Organisationen, die gemeinsam den Sinn der Welt konstituieren als ein ewiges Bezugsfeld, als die Wirklichkeit, als die Vielzahl aller Willen-zur-Macht-Prozesse, die niemals begonnen haben und niemals aufhören werden. Die Welt ist die Wirklichkeit und die Wirklichkeit ist der Sinn der Erde, den man in der Verachtung des Leibes, in der Verachtung dessen, das immer schon in diesem Zusammenhang steht und lebt, selbst zu verachten gelernt hat... »Der einheitliche Sinn, in dem sich die Vielheit der leiblichen Organisationen realisiert und den wir als die ›grosse Vernunft‹ des Leibes zu begreifen haben, ist somit in den Wirkungskonnex der Erde eingelassen. Zwar bewegt sich jeder Leib nach seinem eigenen Gesetz; er hat damit auch seine eigene Vernunft. Doch sein Gesetz konnte nur unter den mundanen Konditionen entstehen, die sein irdisches Umfeld bestimmen. Also ist der Sinn des Leibes ursprünglich auf die Erde bezogen, die ihn hat wachsen lassen. Deshalb spricht Zarathustra auch vom ›Sinn der Erde‹.« 74

Zwar können dieser Sinn der Erde und der Sinn des Leibes nicht in eins gesetzt werden, aber jeder Leib als Sinn und große Vernunft ist in dieser Totalität der Sinnzusammenhänge, der Sinnorganisationen und ist als Sinn des Leibes immer auch Sinn des Lebens – das Leben als Werden und das Werden, die Bewegung und Veränderung, die Transformation und Information der lebendigen Form selbst als das alle Wirklichkeit konstituierende Wesen, die Welt aus einer ästhetisch-schaffenden Perspektive, als ein sich selbst immer wieder hervorbringendes Phänomen, als eine ewige Wiederkehr des gleichen Prinzips, der Wirkung und Kräfterelation – das alles meint Deleuze, wenn er von der Univozität des Seins spricht 75, denn das Sein als Werden spricht aus jeder Erscheinung der pluralen Welt, und eben dies meint Nietzsche, wenn er sagt: 74 | Volker Gerhardt, Die »Grosse Vernunft« des Leibes, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 147f. 75 | Vgl. Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 58ff.

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»Dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n – das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . « 76 Der Körper, der Leib ist niemals für sich selbst, ist niemals ausgegliedert aus der großen Relation, ist nicht von seinem Bezugshorizont zu trennen, denn er lebt in diesem Netz der Verbindungen, er schafft sich permanent selbst in seinem Auftreten, in seiner Form, die er sich selbst gibt und ist darin in Formation, er formt sich und tritt in dieser Formung immer in ein dynamisches Feld, in dem er Eindrücke aufnimmt und Eindruck macht – und so verhält es sich mit jedem Körper, mit jeder Entität. Es ist Sinn in der produzierten Einheit und Sinn an der Grenze der Einheit, an jener Grenze, die eine andere berührt, die sich ausdehnt und ausgreift nach einer anderen, die berührt und in der Berührung nicht verloren geht. Es ist Sinn, der Kontakt sucht und Kontakt ermöglicht, kein reiner Eigensinn, der sich einer Selbstreflexion zur Gänze hingibt, der ohne alles Interesse ist, sondern Sinn ist immer interessiert, zwischengeschaltet, bezogen. Der Leib ist nicht Statthalter einer transzendenten Idealität, ist nicht der Körper, der Platz schafft für einen Sinn, der in seiner Reinheit über dem Geschehen schwebt, sondern er ist selbst Sinn und sinnlich in seinem Auftreten, in seiner Erscheinung. Es ist der Sinn selbst, der, am Anfang und am Ende, über seiner Grenze schwebt: »[U]nd diese Grenze ist der Körper, nicht als reine und einfache Exteriorität gegenüber dem Sinn, nicht als irgendwie geartete intakte, unberührbare ›Materie‹, in eine unwahrscheinliche Transzendenz eingemeißelt, die in der dichtesten Unmittelbarkeit eingeschlossen wäre (dies ist die karikaturistische Radikalität des ›Empfindsamen‹, aller Idealismen und aller Materialismen), also letztendlich nicht als ›der Körper‹, sondern als der KÖRPER DES SINNS. Der Körper des Sinns ist keinesfalls die Fleischwerdung einer Idealität des Sinns: Er ist im Gegenteil das Ende dieser Idealität, folglich das Ende des Sinns, indem er aufhört, sich auf sich zu verweisen und sich auf sich zu beziehen [...] und sich auf dieser Grenze aufhebt, die seinen ureigensten Sinn ausmacht und ihn als solchen exponiert.« 77

Die Einheit als die Totalität der aufeinander wirkenden Willensrelationen, der Kraftquanten, die immer schon eine innere Differenz, eine immanente Spur, eine différance 78 sind, nennt Nietzsche das Selbst; das Selbst, das sich erschafft, 76 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 7 [54], KSA 12, 312, Hervorhebung i.O. 77 | Jean-Luc Nancy, Corpus, 25, Hervorhebung i.O. 78 | Vgl. Jacques Derrida, Die différance, in: Jacques Derrida, Die différance – Ausgewählte Texte, 125: »Die différance bewirkt, daß die Bewegung des Bedeutens nur möglich ist, wenn jedes sogenannte »gegenwärtige« Element, das auf der Szene der

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das sich in seiner vernünftigen Organisation zum Leben bringt, das sich als Ganzheit und Einheit der internen Vollzüge präsentiert. Das ist der große, gebieterische Anspruch, der mächtige Gebieter und unbekannte Weise, das Selbst, das es als Einheit zu bewahren und weiterzuführen gilt, das sich selbst weiter bringen will, seine Macht steigern will, denn es ist Macht im Vollzug seiner Organisation, in der Koordination seiner Individualität, ist ein Kreis, ein bewegtes, rollendes Rad. Aber dieses Rad will nicht nur für und in sich rollen, sondern aus sich hinaus, will tätig und schöpferisch werden in dieser Bezugsund Interpretationswelt, und eben dazu ist das Selbst der Leibverachtung nicht fähig. Es ist nicht in der Lage, das zu tun, was es am Liebsten macht, nicht in der Lage, seinem Wesen gerecht zu werden, denn um aus sich hinaus, über sich hinaus schaffen zu können, muss es den Blick auf seine eigene Verfassung gewonnen haben, muss sich selbst bejahen und in jeder Situation bejahen können, muss seinen Willen kennen, dem alles nur Spiel- und Werkzeug ist, Funktion, Mittel zur Steigerung seiner Macht. Das Selbst ist die große Vernunft des Leibes, ist die Verfügung, die den Leib ermöglicht, die ihm die Möglichkeit gibt, sich zu präsentieren, und diese Organisation, dieses Organisationsprinzip steht hinter allen Äußerungen, hinter jedem Ich und jeder Vernunft, hinter jedem Denken und jeder Aktivität, indem es jeder Aktivität Sinn gibt, indem es einen Bezugshorizont schafft, eine Totalität, für die der Geist denkt und die kleine Vernunft schließt, für die sich ein Bein vor das andere setzt, für die das Herz unentwegt Blut durch den Körper schickt – ein weises und in jedem Sinne vernünftiges Füreinander, ein schöpferisches Füreinander, geboten und verfügt durch einen Unbekannten, der Selbst heißt, der Leib heißt, der Sinn des Leibes heißt: »In deinem Leibe wohnt er, dein Leib ist er.« 79 Der Leib eint in sich eine Vielzahl, eine Unendlichkeit an Willen-zur-Macht-Organisationen und tritt in seiner Einigkeit selbst als Wille zur Macht auf, als etwas, das wirken will, das nicht stagnieren, sondern immer werden will, das in seinem Schaffen und über-sich-hinaus-Schaffen immer mehr das werden will, was es ist. Das Selbst will den Affekt, sucht die Berührung, denn Wille zur Macht ist für Nietzsche in jeder Wirksamkeit und in jedem auf sich wirken-Lassen gelegen – die Welt ist lebendig und Leben ist immer Wille zur Macht: »Wo ich Leben sah, fand ich Willen zur Macht: und auch noch im Willen des Dienenden fand ich Willen zur Macht.« 80 Und das Anwesenheit erscheint, sich auf etwas anderes als auf sich selbst bezieht, während es das Merkmal [marque] des vergangenen Elements an sich behält und sich bereits durch das Merkmal seiner Beziehung zu einem zukünftigen Element aushöhlen läßt […].« 79 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 40. 80 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, 13 [10], KSA 10, 459.

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Erscheinen des Leibes ist immer Ausdruck seiner Macht, die er mehren will, als die er präsenter, wirklicher, wirkungsvoller werden will. Er tritt auf in der Form der Einheit, die sich unentwegt selbst produziert, die sich permanent in diesem Formationsprozess, in diesem vernünftigen Informationsprozess wiederfindet, die sich selbst formt und für andere Information ist, in Relation steht, die als Selbst wirkt und (sich) exponiert. Das Selbst ist die Vernunft des Leibes und wirkt als Ausdruck des Leibes, als seine Exposition, ist seine Form, die er sich im und durch den Umgang mit sich selbst und seinesgleichen zu geben vermag. Er ist in jedem Sinne affektiv, er lebt in einer Welt der Affekte, wird von ihnen berührt und berührt damit andere, und er denkt im Affekt: insofern er Leib ist, in einem energetischen Bewegungsfeld und Bewegungszusammenhang agiert, in dem er als Seiendes, als Individuum immer wieder berührt, körperlich affiziert wird und jedem Affekt eine Idee entspricht, er denkt im Affekt als eingebettet in der Parallelattribution von cogitatio und extensio, denkt im Affekt der Affekteinverleibung, denkt im Bewusstsein und als Bewusstsein der Einverleibung, als das Grund Werden des Affekts. Er denkt sich selbst in einem göttlichen Raum sämtlicher Relationen, die in spinozistischer Terminologie die Affekte sind. Nietzsches große Vernunft des Leibes ist eine Weiterführung, eine Konkretion des conatus, die Willen zur Macht sind der genealogische Zug in jeder Organisation und das Denken ist zurückgeholt, als gefallener Engel und verlorener Sohn zurückgekehrt in das ewige Spiel der natura naturans, in ein Spiel der Affekte, aus dem es sich nicht erheben kann und demgegenüber es gar nicht überheblich werden will. Vielleicht sind es auch die Gründe der Philosophie, die immer wieder eintauchen wollen in das Spiel der Affekte, die Krusten lösen und sich Wunden einverleiben wollen, die Gesundheit wollen, und vielleicht ist das Denken im Affekt und das Denken des Affekts, das sich-Bewusstmachen des affektiven Zusammenhangs das Denken der Philosophie, der Grund der Philosophie, der Wille zur Philosophie – wie er Spinoza treibt und vorantreibt, ihn zu einem ersten Philosophen81, einem Fürsprecher des philosophischen Schaffens, zu einem Verteidiger der Philosophie macht. Aus der Natur der Affekte und ihrem Zusammenspiel, aus der Möglichkeit des Menschen, sich seiner Affektionen bewusst zu werden, entwickelt sich auch der Weg aus der Knechtschaft 82, aus dem Leiden, der Passivität. Indem man selbst Grund seiner Affekte wird, den Grund der Affekte einsieht, ihren Zusammenhang erkennt, wächst der Grad des Ausdrucks der Macht Gottes und damit die Liebe zu Gott – selbst Affekt, aber ein positiver, affirmativer 81 | Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 57. 82 | Der Titel des vierten Teils der Ethik lautet: »Von menschlicher Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte«.

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Affekt: »Wer sich und seine Affekte klar und deutlich einsieht, liebt Gott, und umso mehr, je mehr er sich und seine Affekte einsieht.« 83 Das ist die schlüssige Konsequenz, logische Folge, aber alles dem Prinzip der Immanenz verhaftet und eingedenk der Grundverfassung der göttlichen Natur. Es ist eine Konsequenz als Liebe zu Gott, und zugleich als Liebe durch Einsicht, Liebe durch Erkennen, durch den Blick auf Relationen, ursprüngliche Verbindungen, eine Liebe, die sich als Liebe zur Weisheit offenbart. Der Philosoph beginnt langsam und genau, akribisch, setzt einen Fuß vor den anderen und setzt keinen Schritt unüberlegt, Definition für Definition, Lehrsatz für Lehrsatz, alles aufeinander bezogen, alles in absoluter Übereinstimmung, Kongruenz, zielsicher und selbstbewusst. Er hat eine lange Reise hinter und ein weites Land vor sich, die Mittel sind begrenzt und die Aufgabe ist groß, langwierig: Es geht darum, Mauern zu stürzen, heilige Grenzen zu überschreiten, Dogmen zu brechen, Götzen anzubeten, eine unheilige Allianz mit der Natur, mit dem neuen Boden zu schließen, auf den man eben den Fuß gesetzt hat, und die Zweifler und Ungläubigen zu überzeugen, sie einzuführen in die Welt der Horizontalebenen, der Bewegungen, der energetischen Ausdrücke, der Geschwindigkeiten. Spinoza beschleunigt seine Reise selbst, wird immer schneller in seinem Philosophieren84, er bildet seine Begriffe, umrundet sie, durchläuft, bestimmt, animiert sie, tanzt mit ihnen auf der einen Welle, der einen Ebene, lässt sie kreisen auf der Gesamtheit der göttlichen Natur, ineinandergreifen, einander bedingen, lässt sie und durch sie alle anderen Begriffe erklären, ableiten, herleiten und nimmt im fünften Buch der Ethik – ganz im Sinne seiner Immanenzbewegung – auch noch den Begriff der Philosophie mit auf seinen Kreuzzug, revitalisiert ihn als die Liebe zu Gott selbst, als das intuitive Erkennen der Zusammenhänge, der Einheit, des Einheitsprinzips. Spinoza führt alles zusammen, ohne es verschmelzen zu lassen: Er bewegt sich als Reisender und Forscher durch ein Meer an Spannungen, er fühlt die Zusammenhänge, die Rhythmen. Er ist Theoretiker der Schwingungen, Physiker, Beobachter der Wellen, der Interferenzen, der Kräfte und Geschwindigkeiten. »Die Ethologie ist zunächst Studium der Beziehungen verschiedener Geschwindigkeitsverhältnisse, der Vermögen, zu affizieren und affiziert zu werden, die jedes Ding charakterisiert.«85 Und Spinozas Ethik ist eben Ethologie, Vermessung, Beschreibung, Kartographie, Bestimmung von Verhältnissen, von Kräften. »Diese Beziehungen und Vermögen haben für jedes Ding einen eigenen Umfang, eigene Schwellen (Minimum und Maximum), Veränderungen oder Transformationen. Sie selektieren in der Welt oder Natur, was dem Ding korre83 | Baruch de Spinoza, Ethik V, prop. 15, 280. 84 | Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 42. 85 | Gilles Deleuze, Spinoza, Praktische Philosophie, 162f.

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spondiert, d.h. was das Ding affiziert oder von ihm affiziert wird, was sich bewegt oder durch das Ding bewegt wird. […] Jeder Punkt hat seine Kontrapunkte: Pflanzen und Regen, Spinne und Fliege. Demnach ist kein Tier, kein Ding jemals zu trennen von seinen Beziehungen zur Welt: das Innere ist nur ein selektiertes Äußeres, das Äußere ein projiziertes Inneres; Schnelligkeit und Langsamkeit der Metabolismen, Wahrnehmungen, Aktionen und Reaktionen verketten sich, um solch ein Individuum in der Welt zu konstituieren.«86

86 | Ebd. 163.

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Intensionen 1 I NTROSPEK TIONEN Spinoza hadert mit der Transzendenz, er zweifelt, verdächtigt, er stellt ihr in jeder Ecke und in jedem Winkel nach, wie Deleuze sagt, denn sein Plan ist ein anderer, sein Entwurf der Welt ist keine abgestoßene, gefallene Erscheinung, sondern vielmehr ein Selbstentwurf, eine Entwicklung als Auswicklung, Entfaltung, ein Entfaltungsprozess oder Procedere, das nie begonnen hat, ein Implikations- und Explikationsverhältnis, ein Spiel der unendlichen Faltungen, wie es vor allem dem Barock eigentümlich ist. Die Metaphysik als Plan einer Transzendenz ist immer gerichtet, immer mehrdimensional und in ihrer Mehrdimensionalität mit Wertigkeiten behaftet – von einem selbst nach den Regeln der Transzendenz gebildeten Wertesystem gesteuert, geleitet, und die Teleologie ist eine externe. Der Grund, das Ziel, das Telos der Bewegung liegt in einem anderen, Bewegung ist für etwas anderes, das Subjekt, die Form entsteht nicht um ihrer selbst willen und auch nicht aus sich selbst heraus, nicht aus eigener Kraft – externe Dynamik, Immanenz als Systemimmanenz. »Im Gegensatz dazu legt ein Immanenzplan keine zusätzliche Dimension an: der Zusammensetzungsprozeß muß für sich selbst entlang dem, was er gibt, und in dem, was er gibt, erfaßt werden. Es ist ein Kompositions-, kein Organisations- oder Entwicklungsplan. Vielleicht zeigen die Farben den ersten Plan an, während die Musik, die Pausen und die Töne zu diesem gehören. Es gibt keine Form mehr, sondern nur Geschwindigkeitsverhältnisse zwischen kleinsten Teilchen einer ungeformten Materie. Es gibt kein Subjekt mehr, sondern nur individuierende Affektzustände der anonymen Kraft.«1

Der Immanenzplan ist ein genuin philosophischer, kein Paradigmen- oder Perspektivenwechsel, sondern ein beherzter und beständiger Kampf gegen den Augenschein, gegen das vermeintlich Offensichtliche, ein kopernikanisches Projekt. Es geht tatsächlich darum, eine neue Ebene, ein neues Bild 1 | Gilles Deleuze, Spinoza, Praktische Philosophie, 166.

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des Denkens zu entwerfen, einen neuen Rahmen, eine neue Heimat für die Begriffe der Philosophie zu finden, schließlich die Begriffe selbst zu neuen, bewegten Formen mutieren zu lassen. Sie werden zu Spannungen, Pulsaren, Zeitbomben als in der Zeit stehenden, explosiven Entitäten. Die Dinge der Natur müssen als Kraftäußerungen, als genuine Wirklichkeiten, Wirkungen angesehen werden, als Flexionen von Wirkungszusammenhängen, als die Antithese zum platonischen Schattenspiel, und die Veränderung gilt als das Realste überhaupt. Spinoza ist kein Lehrer der Moral, kein Aufklärer als Kreuzritter der Erhabenheit des Geistes, kein Physiker der mechanischen Kraft, sondern vielmehr Physio- und Physikologe, Denker der vorsokratischen phýsis, Denker wie Anaximander oder Heraklit, Denker der aristotelischen enérgeia, Denker der Kraft, wie Leibniz, Wegbereiter eines Weltbildes, eines Denkbildes, für dessen Einsicht oder Aufnahme es viele Vormeinungen fallen zu lassen gilt, nämlich: »einmal, daß es sich um Naturphilosophie handle, sodann, daß hier unsachlich Moralisches und Juristisches eingemischt werde, ferner, daß überhaupt abgegrenzte Vorstellungen aus abgesonderten Gebieten der Natur, der Sittlichkeit, des Rechtes ins Spiel treten […].«2 – Eine Anleitung zum Verständnis von Anaximanders Gedicht, für uns zugleich Anleitung zum Lesen von Spinozas Ethik, Hinweis darauf, was hinter, unter den Masken der Begriffe liegt, eine Karte hinauf oder hinab zu jener Ebene, die das Feld durchmisst, auf dem man sich bewegt, auf dem man erst beginnt, zu philosophieren, zu jener substantiellen Ebene Sein=Denken, auf der man beginnt, Begriffe aufzubauen und zu erschaffen. Der philosophische Diskurs zeigt sich demnach immer als Prozess der Aufschlüsselung oder Erkundung, als Seiltanz zwischen Exaktheit und Sensibilität, als mathematische, psychologische, dynamische, physikalische, ethnologische Untersuchung, als schwer zuordenbar, etc., in jedem Fall aber als – zumindest fragmentarische – Selbstanalyse. Wollte man einen signifikanten Zug, ein gemeinsames Merkmal der wissenschaftlichen Neuerungen, der großen Errungenschaften des zwanzigsten Jahrhunderts hervorkehren, so träte zu allererst die dimensionale Verschränkung in den Fokus, und hier wiederum – noch vor der Raum-Zeit, noch vor den Variationen der Unendlichkeit – die grundlegende Beziehung und Bezugnahme von Subjekt und Objekt, Beobachter und Beobachtetem, die gemeinsame Sphäre, in der sich der Wissenschaftler, Analyst und sein Objekt befinden. Freuds Analytik, Einsteins Relativität, Heisenbergs Unschärfe, Mandelbrots Fraktale – alle verweisen auf die unleugbare Relation, die Schimäre der Abgeschlossenheit und treffen hier weniger tangential, als überschneidend, kreuzend, auf die philosophische Problematik

2 | Martin Heidegger, Der Spruch des Anaximander, in: Holzwege, 332.

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der Distanz und der Ebenen, der Beschreibung und des Zusammenhangs der Beschreibung mit ihrer Grundlage, kurz: der Immanenz. Diese Verschränkungen sind unweigerlich Implikationen bei Aristoteles ebenso, wie bei Duns Scotus, Leibniz oder Spinoza, sind prägend für das philosophische Denken und für den Plan der Philosophie: der Philosoph nimmt sich selbst, muss sich selbst und womöglich vor allem sich selbst mitnehmen in die Betrachtung, er muss tatsächlich in sich gehen auf seiner Suche nach Inspiration, als Maler, Komponist, als Dichter und Akteur, er ist auf dem Weg einer mehrdimensionalen Verschränkung, die sich als Aufschlüsselungs- und Einschluss-verfahren, als Entfaltungs- und Rückfaltungsprozess entpuppt, als Beugung, Brechung, Inflexion3 und Komplikation. Die Immanenzebene ist jene vor-philosophische Dimension, jenes vor-begriffliche Feld, das Bild des Denkens überhaupt, jener Horizont, der unser in-der-Welt-Sein konstituiert, die Realität, in der wir uns bewegen, in der wir beginnen, die Begriffe zu schöpfen, zu erschaffen, zugleich das Material, aus dem sich unsere Begriffe formen. Sie ist das Offene der Welt, unser Denken, unsere Gefühle, das Ganze in bestimmter Weise, fraktal auf andere Weise, Gesichtspunkt, Ausschnitt, nicht Ausgangspunkt, den man verlassen kann, sondern begleitender Grund, in jedem Fall das Erste: die Welt, Ich, ich in der Welt, die Welt für mich, ich für die Welt, die große Welle, auf der wir schwimmen, die Wüste, die wir durchwandern. Sie ist »kein gedachter oder denkbarer Begriff, sondern das Bild des Denkens, das Bild, das das Denken sich davon gibt, was denken, vom Denken Gebrauch machen, sich im Denken orientieren… bedeutet.«4 Und demnach ist sie die Basis für die Begriffe, der Grund, auf dem der Philosoph Schaffender, auf dem er schöpferisch wird, sie ist der Nährboden, aus dem die Begriffe ihre Stoffe, ihre Möglichkeit der Differenzierung ziehen, sie ist die Gaia der Begriffe, steht zu ihnen in engem, mütterlichen Verhältnis. Aber man bleibt an diesem Punkt nicht stehen; es ist ein Sog, ein Strudel, eine Windhose der Vorstellungen, eine Expansion: die nicht-begriffliche Ebene ist selbst wiederum Bild, muss in den Diskurs miteinbezogen werden, man will, man muss benennen, man will das Ganze in den Griff, zu fassen bekommen, und es ist das philosophische Denken, das sich das Bild des Denkens vorstellt als die Heimat seiner eigenen Begriffe, die Begriffe als seine Schöpfungen und gleichzeitig seine Anforderungen, die Welt zu fassen, wodurch sich notgedrungen der Riss zwischen den zwei Grundbegriffen auftut, wodurch eine Differenz der Entfaltung schon mitgeschrieben ist. Ausdehnung 3 | Zum Begriff der Inflexion vgl. Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 29: »Das ideale genetische Element der variablen Krümmung oder der Falte ist die Inflexion.« 4 | Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 44.

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und Denken, Körper und Geist, Materie und Spiritus, die Aufspaltung zweier Unendlicher, die weniger ein Problem der Griechen, sehr wohl aber eines der Neuzeit bedeutet, eine verlockende, verführerische Dichotomie, selbst in Begriffe gefasst. Es sind Disparate, wie Deleuze sagt, absolut Verschiedene, die sich nicht widersprechen und nicht widersprechen können, weil es kein Element gibt, das der eine behaupten und der andere bestreiten könnte.

»Eben weil aber alle absoluten Formen unfähig sind, einander zu widersprechen, können sie einem selben Sein angehören, und, weil sie es können, gehören sie ihm tatsächlich an. Insofern sie Formen sind, ist ihre reale Differenz formal und zieht keinerlei ontologischen Unterschied zwischen Seienden nach sich, denen sich jede attribuierte: sie attribuieren sich alle einem einzigen und selben Sein, ontologisch eins, formal verschieden.« 5

Jedoch drängt das philosophische Bedürfnis nach einer Vereinigung der Disparate als einer Fassung seiner Immanenzebene, der Philosoph drängt nach seinem Begriff der Immanenz, die sich de jure der begrifflichen Form verweigert, und dennoch braucht Spinoza die Substanz, Aristoteles die enérgeia als Einschluss aller Dichotomie – der Philosoph der Immanenz braucht seinen Begriff der Immanenz und darin seine formulierte Immanenzebene, er braucht sein Feld, seinen Entwurf, dem er selbst innewohnt, dem er angehört. Er muss sich selbst in die unendliche Verkettung von Ereignissen der Welt einschreiben. Die Linie der zweiten Dimension muss gebogen und immer wieder gebogen, jeder Punkt des Geschehens muss, gleich der Peano-Kurve6, durchlaufen werden, sie muss sich bis ins Unendliche krümmen und die Krümmung muss eingeschlossen werden im philosophischen Begriff, der dadurch zur Inflexion, zum Einschluss und zugleich zum Ausdruck des Geschehens mutiert. Wenn Deleuze die Immanenzebene dem Begriff gegenüberstellt, so trifft es auf das Verhältnis von spezifischem Begriff und dessen Grund, nicht aber auf das gesamtphilosophische Projekt, das selbst die nicht-begriffliche Ebene in Form bringen muss, das getrieben ist von dem Bedürfnis, von der Anforderung des Ausdrucks. Die reine enérgeia, die Substanz bei Spinoza, das harmonische Verhältnis bei Leibniz, im Prinzip auch die ewige Wiederkehr sind Immanenzebenen, bedeuten das Gesamt der Welt und es sind Bilder, begriffliche Bilder, unendliche Innenräume, barocke Innenräume, die in sich immer weiter ins Detail bestimmt werden, die aber alle durch den genetischen Zug, von dem Trieb ihres 5 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 76. 6 | Vgl. John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie, 132ff.

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Schöpfers erfüllt, von einem Lichtstrahl, dem genetischen Element selbst animiert werden, einer Spannung, die allen gemeinsam ist, die den Beobachter, den Maler in sein eigenes Bild, den Komponisten in seine Partitur einschreibt. Die Kraft, das Kraftmoment, enthebt sich selbst in der Vereinigung des Philosophen mit seiner Ebene, mit seinem Begriff, der Abbildtheorie, lässt Ebene und Begriff verwachsen, erweckt das statische Verhältnis zum Leben. So ist es bei Spinoza der conatus als der göttliche Zug ebenso, wie bei Leibniz die vis7, die ursprüngliche Kraft, die im Prinzip alles trägt und erhält, das genetische Element aller Begriffe und Ebenen, die Tension, die der Philosoph umkreisen, umschwärmen muss, um seine Begriffe zu animieren, um die er seine Begriffe zu bilden hat, die Magie, die das Bildnis mit seinem Dorian Gray, seiner Schönheit und seinem Hass erfüllt. Die Kraft als Singularität, als conatus in jedem singulären Modus, die enérgeia als sich vollziehende Wirklichkeit ist jener Punkt, an dem die Philosophie ins Unsichtbare vordringt, an dem sie sich endgültig vom Augenschein entfernt, an dem der Philosoph in sich dringt und die Spannung nach außen trägt aus seiner jeweiligen Perspektive, an dem er die Perspektive selbst noch in seine Betrachtung mit aufnimmt. Kraft, überall Kraft, die antreibt, spannt, kämpft, umwirbt, die alle Starrheit löst, die alles bewegt, die im Prinzip eine Differenz, die Quotienten hervorbringt, Produkte, Singularitäten, die immer Quotient, immer Produkt eines Spannungsverhältnisses sind. Gesetzt den Fall, man entfernte sich so weit vom Offensichtlichen, vom Offenkundigen, man würde so sehr Gegner des Augenscheins und interpretierte jede Erscheinung der Welt als komplexes Verhältnis von Differentialen, von Spannungen, Kräfterelationen, so wäre ein Vergleich mit der Mathematik zulässig: überall teuflische Polymere, überall komplexe Zahlen, überall Verhältnisse von Realteil und Imaginärteil, überall beseelte Materiespannungen, und je tiefer man eindringt in den Zauber der Welt, in den Zauber der Mandelbrotmengen, überall wieder komplexe Zahlenverhältnisse, überall selbstähnliche, niemals

gleiche Fraktale, Formen über Formen, die Verhältnisse informieren, repräsentieren8. Die Frage nach der Perspektive ist eine Frage der Dimension, sie ist verschränkt, verknüpft mit einer dimensionalen Varianz und zugleich Wegweiser zu einer absoluten Relativität: Die Inflation der Perspektiven hebt den Abstand oder die Differenz von Subjekt und Objekt in eine tatsächliche Relation, eine Verbindung und Abhängigkeit, in einen Horizont der unweigerlichen gegenseitigen Beeinflussung und Wirkung. In Mandelbrots revolutionärem Essay über die fraktale Geometrie der Natur erscheint das Beispiel der Betrachtung 7 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum, 7ff. 8 | Vgl. John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos – Eine Reise durch die Chaos-Theorie, 139ff.

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eines Wollknäuels, das aus großer Entfernung als nulldimensionaler Punkt, näher als dreidimensionales Gebilde, noch näher als Komplex eindimensionaler Fäden, die Fäden aber bei höherer Auflösung wieder als dreidimensionale Säulen etc. erscheinen9 , und ähnlich verhält es sich mit jedem Objekt der Physik, der Natur, mit jeder Erscheinung unserer Welt. Man kann immer weiter, immer tiefer vordringen, der Weg ist gewunden, geschlungen, aber jedes Ende ist nur eine Täuschung oder Fata Morgana, eine Maske, hinter der wieder eine Maske steht, eine Form, die von viel kleineren, ähnlichen Formen zusammengesetzt, aufgebaut und getragen ist. Das Knäuel als eindimensionaler Punkt markiert eine Einheit, täuscht die Impenetrabilität eines Unteilbaren vor, einen atomaren, letzten Bestandteil, verändert aber seine Erscheinung, seine Form, seine Dimension mit der Veränderung der Position des Beobachters, steht somit in Bezug und Austausch, wird selbst zu etwas anderem, wird immer mehr, immer kleinere Einheiten und jede Einheit löst sich wieder auf in die Zwischenräume ihrer dimensionalen Differenzen, zerfällt ihrer fraktalen, porösen Natur gemäß.

Ähnlich verhält es sich mit dem Beispiel der Küstenlänge Britanniens: Jeder Wert ist nur ein Näherungswert, jede Figur nur ein Modell, denn je kleiner der Maßstab, je genauer die Messung, desto größer wird das Ergebnis, man nimmt immer mehr Details, immer mehr Unregelmäßigkeiten wahr: Buchten, Landzungen, Vorsprünge, Halbinseln, Steine, Moleküle, usw. Man käme bei immer fortschreitender Präzisierung de facto nie zu einem Ende. Ebenso verhielte es sich mit der Fläche und dem Volumen, und die gleiche Schwierigkeit träte bei der Untersuchung aller Körper auf, man fände Unebenheiten, Falten, eine immer tiefer greifende Faltenstruktur und so hätte im Prinzip jede Figur proportional zur Messgenauigkeit einen unendlich langen Rand, eine unendlich lange Begrenzungslinie10, oder anders: Jedes Objekt impliziert bei begrenzter Ausdehnung, zeitlicher Dauer, bei scheinbar genauer Erfassbarkeit dennoch eine gewisse Unschärfe und das Attribut oder die Dimension des Unendlichen. Alle Erscheinungen der Welt sind im Prinzip Zusammensetzungen, Anhäufungen, kleinste, wieder teilbare Teile, die größere Teile zusammensetzen, die Gebilde konstituieren, sind Komprimierungsereignisse, Verdichtungen und in ihrem Zerfall Auflösungen von Verbindungen. Scheinbar ist in jedem Objekt ein unsichtbarer Faktor miteingeschrieben, eine unbekannte Größe, die seine Teile wie Magneten zusammenhält, zueinander treibt, eine variable Größe, die bei Verringerung ihre Tendenz ändert, sich anders orientiert, eben eine Kraft oder viele Kräfte, die ständig einen Prozess der Formung vorantreiben, so wie sich die Erde in ihrer vordergründig soliden Konstitution ständig weiter transformiert als eine unendliche Reihe 9 | Vgl. Benoît B. Mandelbrot, Die fraktale Geometrie der Natur, 27f. 10 | Vgl. hierzu: John Briggs/F. David Peat, Die Entdeckung des Chaos, 136f.

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geothermischer Aktivitäten, Eruptionen, Explosionen, Entladungen und Verschiebungen. Aus großer Entfernung wird sie, ebenso wie das Wollknäuel, als eindimensionaler Punkt erscheinen, doch wird sie dieser Punkt erst durch ihre internen Prozesse, als Einschluss unglaublicher thermodynamischer Vorgänge, als die Konvektionsströme, das flüssige Gestein, das die gesamte Lithosphäre erzeugt und hervorbringt, aufsteigen lässt im physikalischen Sinn der alten Griechen und wieder zurücktreibt ins Erdinnere, ausgespien und sich selbst aufgefressen, wie es die Mythologie als Schicksal des Erysichthon darstellt. In diesem Licht erscheint die Setzung von Einheiten tatsächlich als Postulat, der Glaube an das Atom nur mehr als Vertrauen und Zuversicht, die Welt in Auflösung, verflüssigt, verschwommen, das heraklitische pánta rhei als Erkenntnis der perspektivischen Revolution. Nietzsche schreibt in seiner Begeisterung über die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse:

»Was die materialistische Atomistik betrifft: so gehört dieselbe zu den bestwiderlegten Dingen, die es giebt; und vielleicht ist heute in Europa Niemand unter den Gelehrten mehr so ungelehrt, ihr ausser zum bequemen Hand- und Hausgebrauch (nämlich als einer Abkürzung der Ausdrucksmittel) noch eine ernstliche Bedeutung zuzumessen – Dank vorerst jenem Polen Boscovich [eigentlich Kroate11], der, mitsammt dem Polen Kopernicus [eigentlich Deutscher], bisher der grösste und siegreichste Gegner des Augenscheins war. Während nämlich Kopernicus uns überredet hat zu glauben, wider alle Sinne, dass die Erde n i c h t fest steht, lehrte Boscovich dem Glauben an das Letzte, was von der Erde ›feststand‹, abschwören, dem Glauben an den ›Stoff‹, an die ›Materie‹, an das Erdenrest- und Klümpchen-Atom: es war der größte Triumph über die Sinne, der bisher auf Erden errungen worden ist.«12

Dennoch zweifelt man, ist hin- und hergerissen, es scheint, als stünde man zwischen zwei Wirklichkeiten, denn ebenso, wie uns Kopernikus nicht den Boden unter den Füßen weggezogen hat, ist es Boscovich nicht gelungen, die Erde in Wasser zu wandeln, ist die Quantenphysik nicht so weit gelangt, die Existenz von Objekten und ihren Anspruch der Einheit zu leugnen. Aber darum geht es nicht, und der Gegner des Augenscheins ist in seinem antagonistischen Streben zugleich der große Paraklet der Perspektive. Er beschränkt nicht die Wirklichkeit, sondern erweitert sie, er füllt sie an mit weiteren, mit unzähligen Dimensionen, mit Blickpunkten und Aspekten, er leugnet nicht die Existenz von Einheiten, sondern ergründet sie, versucht, ihnen auf den Grund zu gehen, ihre Ursache, ihre Wirk-Ursache zu erkennen. Wenn es die Teilung oder Teilbarkeit in infinitum gibt, wenn sie möglich ist, und das ist sie der Theorie nach, so muss es einen Grund des Zusammenhalts, des Zusam11 | Vgl. den Kommentar zur Kritischen Studienausgabe, KSA 14, 350. 12 | Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse I, 12, KSA 5, 26, Hervorhebung i.O.

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menstrebens der kleineren Einheiten geben, ein Warum und ein Wozu, der Äther der Zwischenräume muss aufgeladen sein von einer Aura der Formen, und der schwindende Glaube an die Materie ist zugleich Keim des Glaubens an die Kraft, an das Zwischen und die Differenz, von der jede Form durchzogen ist, an einen Zug der Produktivität, der ebenso ursprünglich ist, wie die Formen selbst13.

2 E INHEITEN Es scheinen die Grenzen einer als Einheit begriffenen Form relativiert einerseits durch die Widerlegung der Undurchdringlichkeit, andererseits durch die Relationalität von Objekten untereinander, ihre Wirkungen aufeinander, die immer stattfinden, die unleugbar sind. Eine grenzenlose dimensionale Vielfalt des Begrenzten in sich, grenzenlose Wirkung von Begrenztem auf Begrenztes, überall unsichtbarer Zusammenhalt, Anziehung oder Abstoßung, überall Kräfte, die in ihrem Wirken keine Grenze kennen, einen Hauch von Ewigkeit in sich tragen, wie ihn schon Anaximander vor über zweieinhalb tausend Jahren verspürt hat, der die Elementarkräfte, im Gegensatz zum Unbegrenzten (ápeiron), als beschränkt aufgefasst hat. »Wenn eine von ihnen unbeschränkt gewesen wäre, hätte sie – wie schon Aristoteles gesehen hat – den endgültigen Sieg errungen. […] Anaximander hat in einem ›Satz‹ die in einer fortschreitenden Entwicklung begriffene Regelmäßigkeit des natürlichen Geschehens auf eine verständliche Formel gebracht.«14 Die Regelmäßigkeit ist das unentwegte Wirken, sind die in der Wirkung entstehenden fließenden Grenzen, ein Spiel des Endlichen im Schoß der Unendlichkeit. Aktion und Reaktion, Bezugnahme und Auslöschung von Beziehungen, Beherrschen und beherrscht-Werden sind die Wertmaßstäbe der Kraft: niemals einander gleich sein, aber immer in einem universellen Ausgleich, in einer Konstanz, ein energetisches Kontinuum, das in seinem Grenzen-Schaffen ohne Grenzen ist, eine Fügung, die als Zwischen-Sein eine Fuge der Endlichkeit und Vergänglichkeit ist15. Es kann keine unbegrenzte Kraft geben, folglich muss es – mit Spinoza – nicht nur eine, sondern viele, unzählige Kräfte geben, die nicht in und bei sich, sondern in einem anderen oder auf

13 | Vgl. z. B. Reinhard Mocek, Ganzheit und Selbstorganisation: Auf den Spuren eines biologischen Grundproblems, in: Chaos und Ordnung – Formen der Selbstorganisation in Natur und Gesellschaft, 61ff. 14 | Jaap Mansfeld, Die Vorsokratiker I, 63. 15 | Vgl. hierzu Heideggers Interpretation des Gedichts: Der Spruch des Anaximander, in Holzwege, 355.

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anderes wirkend sind, durch anderes begrenzt16, und die Unendlichkeit ist der Horizont dieser Wirkungen, das ápeiron als die grenzenlose Unfügsamkeit der Wirkungen. Es sind überall Kräfte, die Erscheinungen konstituieren und zugleich ihre hermetische Struktur lösen. Jede Form ist durch komprimierende, drückende, ziehende Kräfte in ihrem Dasein begründet, zwischen allen Einheiten und in allen Einheiten scheinen Kräfte am Wirken zu sein, um sie überhaupt als solche in das Licht der Anwesenheit treten zu lassen. Ihr Wesen ist keine Statik, sondern eine grundlegende Dynamik, keine Gleichgültigkeit, sondern Liebe und Hass, Attraktion und Abstoßung, Beförderung und Zerstörung, ein affektgeladenes Prinzip, das allem innewohnt, eben ein Zug, ein conatus, das formbildende, genetische Element, das jeder Erscheinung ursprünglich innewohnt. »Kräfte sind Ursachen«, konstatiert der Entdecker des zweiten thermo-dynamischen Gesetzes, und sie sind »die Vereinigung von Unzerstörlichkeit und Wandelbarkeit.«17 Sie sind mithin keine einem Subjekt, einer Substanz anhaftenden, ihr zukommenden Eigenschaften, sondern das, was die Substanzen, Objekte, in ihrem Was-Sein ausmacht, sie sind Gründe und Ursprünge, unvergängliche Prinzipien, Triebmomente des Universums, die in ihrer Erkenntnis den Beobachter in ihren Bann, in den Horizont ihrer Wirkungen ziehen, sie nehmen den Psychologen ebenso mit, wie den Physiker, schließen sie ein in die konzentrischen Kreise, sie ziehen an, ziehen den Philosophen in das perspektivische Feld ihrer diametralen Ausrichtung, übersteigen noch den Wert, den ihnen die klassische Physik beigemessen hat, denn ihr Kraftbegriff ist »immer nur der Begriff einer Maßbezeichnung innerhalb der Rechnung; die Physik kann so, wie sie die Natur in den Ansatz für das Vorstellen bringt, als Physik überhaupt nie Kraft als Kraft denken. Physik stellt immer nur Kraftbeziehungen, und zwar in der Hinsicht ihres raum-zeitlichen Erscheinens in den Ansatz.«18 Der Philosophie geht es ebenso um Kraftbeziehungen, aber um jenes ursprüngliche Moment, den Grundzug des Werdens, das Kraft-Sein einer jeden Form, wie sie am Ende des ontologischen Weges schon bei Aristoteles erscheint. Seine Untersuchungen über die phýsis, das aufgehende Walten, das Prinzip der Entfaltung, stehen nicht im Gegensatz zu den metaphysischen Ausführungen, sondern gehen in sie über, werden erweitert, ausgedehnt, auf das gesamte Feld des Seienden transponiert. So ist die Aufspaltung des dýnamis-Begriffes zugleich die Eröffnung des Kräftespiels, ist eine Konkretion der Weltformel Anaximanders. Aristoteles spricht über die erscheinende Form, 16 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik I, Def. 2, 5. 17 | Julius Robert Mayer, Die Mechanik der Wärme, 4f, in: Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Bd. 37. 18 | Martin Heidegger, Nietzsche I, 306.

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die ousía, das tóde ti, über das Prinzip, das etwas ausmacht, und es ist das zusich-Kommen als das wirklich Werden, das in den Wirkhorizont-Treten und das die-Wirkung-in-sich-Tragen als Möglichkeit und Kraft, als sich ständig vollziehende Formung, als Prozess. Die Aufnahmefähigkeit ist Öffnung, ist Offenheit, und das umsetzen-Können des Aufgenommenen ist informatives Potential, ist Potential, das sich in Wirkkraft entlädt, das sich umwandelt, das die Einheit zu sich selbst kommen lässt und die Einheit im Wechsel ihrer durchlaufenen Stadien Einheit bleiben lässt. Wenn Anaximander das Wirkgeschehen der Kräfte im Ganzen verdichtet, poetisch in einen Satz zusammenfasst, legt es Aristoteles auf das Wesen der konkreten Form, deutet, spezifiziert es, und jede Philosophie der Kräfte ist immer auch Philosophie der Immanenz, ein Denken der Relativität und Relationalität, ein Anspruch des Zusammenhangs und der Verschränkung, das Denken der Innerlichkeit als das In-Sein in einem Wirkzusammenhang, das Spinoza in seiner analytischen Exaktheit auf die Spitze treibt. Ohne ein Denken der Kräfte wäre die Theorie der Affekte obsolet, hinfällig, unmöglich, denn sie basiert auf dem einen Zug, der den Modus, der die unendlich vielen endlichen Modi mit dem Hauch der Ewigkeit erfüllt, durchdringt, dem conatus, dem Prinzip der gegenseitigen Beeinflussung, dem Streben, das auf anderes wirken, ergründen, sich selbst ergründen will, das im Ergründen zu seiner eigenen Bestimmung kommen will, und alles basierend auf dem Gedanken der einen Substanz, in der alles verbunden, alles zusammenhängend ist, in einer göttlichen Verschränkung, wie sie die reine enérgeia benennt. So ist es der Glaube oder die Entdeckung der Kraft, die die Materie pulverisiert, die sie in nicht-materiale Quanten sprengt, die die letzte Einheit der materialen Welt schon durch die Teilung in infinitum aufhebt. Sie ist Basis der Philosophie der Immanenz, die sich gegen die Metaphysik der Präsenz wendet, die sich überhaupt gegen die klassische Vorstellung der Metaphysik auf bäumt, die revoltiert, die sich nicht der Naturwissenschaft annähert, sondern ihr tatsächlich vorausgeht. Sie konstituiert einen perspektivischen Versuch als Fassung der Spannungsverhältnisse, die die Welt hervorbringt und die die Welt hervorbringen, die die ganze Welt einschließen. Der Glaube an die Kraft ist die Kerbe, der sichere Seeweg, der zwischen der cartesischen Enge, zwischen Skylla und Charybdis, Ausdehnung und Denken hindurchführt, um sie herumführt, Brückenschlag, Vereinigung – wie auch immer man möchte: Der Philosoph der Kraft taucht ein in das Treiben der Welt, die Erscheinungen, geht in sich, nimmt sich selbst als Teil der Erkundung und findet überall Spannungen, überall Differenzen und Quotienten, komplexe Zahlen, immer wieder komplexe Zahlen und kehrt mit der Überzeugung, dem Vertrauen in einen essentiellen Dynamismus von seiner Reise zurück, mit dem Glauben an eine perpetuierende Prozessualität von Faltungen und Entfaltungen, die er selbst versucht, zusammenzufalten, einzuschließen,

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etwa in einem Begriff der substantiellen Kraft-Einheit, wie ihn Aristoteles in der ousía findet.19 Man steht immer vor der Frage nach der Beziehung von Vielem und Einem: Wie ist das Viele im Einen zu denken, wie der Zusammenhalt, das Warum des Zusammenwirkens und sein ursprüngliches Prinzip? Wie kann das Eine geschlossen, als Einheit bekräftigt und zugleich von einer unendlichen Vielfalt durchwaltet und getragen gedacht werden, wie können in einer Entelechie Kräfte am Wirken sein, und sie dennoch als ursprüngliche Wirkeinheit, als etwas, das genuine Kraft ist, vorgestellt, wie kann sie eine Bedeutungs- und Sinneinheit werden? In diesen Fragen bedienen sich sowohl Leibniz als auch Spinoza der aristotelischen Substanz, sie greifen beide auf das dichotomische Prinzip zurück, brauchen beide eine Ebene als Spielfeld und ein Moment der Ewigkeit, das sich in dem Einzelnen verkörpert und ausdrückt. Sie sind die Denker des Ausdrucks als der Manifestation einer differentiellen Beförderung und deren Einheit in der Erscheinung, der Notwendigkeit des Vielfältigen und seines Zusammenschlusses, seines Einschlusses, seiner Inter- und Intraaktivität. Überhaupt ist das aktive Moment die große Errungenschaft beider als die Erkenntnis des tätigen und selbsttätigen Subjekts, als das Postulat der Kraft- oder Machteinheit, deren Prinzip die Dimension der gefalteten Materie unterläuft oder überragt in der intensiven Graduierung des modalen Wesens oder der einschließenden, fensterlosen, aktiven Seele. Sie bedienen sich der aristotelischen ousía, sie erkennen die Tragkraft, die Tiefe des Begriffs ebenso, wie ihre Aufgabe, ihn zu transformieren: Spinoza schreibt das gesamte Spiel der Welt, das Geschehen, die Natur, in den Substanzbegriff, transformiert genauer genommen die reine enérgeia, Leibniz geht ins unendlich Kleine, erkennt die Notwendigkeit der substantiellen Einheit als Prinzip alles Seienden und kreist in seinem philosophischen Schaffen – weniger systematisch als Spinoza – konzentrisch um die Bildung seines neuen Substanzbegriffes, der ursprüngliche Kraft ist, der die aristotelische Form revitalisieren soll, eine ousía der Neuzeit, die das dynamische Prinzip, das Kraftsein und Kraftstreben als Grundzug der Welt festlegt. Die Kraft ist das Grundlegende, das Erste, überall ist Bewegung, deren einzig Reales die zu ihr drängende Kraft sein muss, und diese Erkenntnis trägt die Idee der substantiellen Form, einer eigentlich immateriellen Einheit. »[Durch sie wird] die überlieferte Lehre der Peripatetiker über Formen und Entelechien (die mit Recht als rätselhaft betrachtet und kaum von ihren eigenen Urhebern recht verstanden wurde) auf verständliche Begriffe zurückgeführt; da wir meinen, es sei nötig, 19 | Vgl. hierzu: Enno Rudolph, Die Bedeutung des aristotelischen Entelechiebegriffs für die Kraftlehre von Leibniz, in: Studia Leibnitiana, Sonderheft 13, 49ff.

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die bislang von so vielen Jahrhunderten akzeptierte Philosophie eher zu erläutern, damit sie feststehe (wo dies möglich ist), weiter zu beleuchten und durch neue Wahrheiten zu vermehren, als sie zu vernichten.«20

Und es tritt hier wie dort immer dasselbe Problem in die Erläuterungen, in den Denkprozess der Philosophen, die große Frage nach der Einheit, nicht nach Vereinigung, sondern tatsächlich nach der Einheit von Denken und Ausdehnung, die reale Einheit und die Einheit im Begriff, die einen Grund hat, begründet ist, die rückwirkend die Einheit der Welt konstituiert, von der man ursprünglich ausgeht, ausgehen will und ausgehen muss. Es ist dies das große Problem, die große cartesische Lücke, die Grauzone,

die schon von Spinoza in der Vorrede zum abschließenden fünften Buch der Ethik kritisiert21 wird und die Leibniz dazu bewegt, die metaphysischen Fragen, vor allem jene nach der Substanz, in Angriff zu nehmen. Descartes hat keinen Begriff der Psychophysis, keine Idee der realen Einheit von Körper und Seele, schwenkt von der anfänglichen Stringenz und mathematischen Klarheit zu nebulosen Erklärungen oder verdrängt den eigentlichen Kern des Problems22 . Die lebendigen, beseelten Einheiten heißen bei Leibniz nun Monaden, sie sind der Grund seiner Philosophie, die energetischen Formen, die Individuen, die eine Substanz des Spinoza als unendliche Vielheit: Was bei Spinoza alles ist, wird bei Leibniz zum Einen, der spinozistische Modus wird Substanz: Spinoza geht vom Großen, vom Allergrößten aus, Leibniz vom Kleinsten, und dennoch sind die Begriffe ähnlicher, als die diametrale Herangehensweise vermuten ließe – als Resultat der Ähnlichkeit der Aufgabe: das Leben in seiner ganzen Tragweite, die Welt in ihrer Unendlichkeit, in ihrer göttlichen Unendlichkeit zu fassen, und sowohl hier wie dort ist überall Leben, kein essentieller Unterschied zwischen Leben und Tod, sondern immer nur Unterschiede des Grades, des Ausdrucks, der Ausdruckskraft. »Nur das Individuum, nur das individuelle Lebewesen hat allein wirkliches Sein, alle Ganzheiten, alle Universalien, alle Eigenschaften, alle Relationen, sie alle haben nur ein Sein, das jeweils in dem Sein eines individuellen Lebewesens, einer Monade, fundiert ist. […] Dieser Grundsatz, daß das individuelle Lebewesen real ist, und daß allein das individuelle Lebewesen – die Monade – real ist und daß nichts anderes als das individuelle Lebewesen im spezifischen Sinne real ist, ist das eigentliche aristotelische Erbe bei Leibniz. Bei Aristoteles drückt es sich so aus, daß die Substanz das eigentlich 20 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum, 5. 21 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik V, praef., 266ff, v.a. 268. 22 | Zur Gemeinsamkeit bezüglich der Kritik an Descartes vgl. Ludwig Stein, Leibniz und Spinoza, 64ff.

2 Einheiten

Reale ist, und daß die Substanz in ihrer primären Bedeutung als substantia prima ein IJȩįİIJȚist.«23

Und wie bei Aristoteles ist die Entwicklung des Substanzbegriffes zugleich die Entwicklung der leibnizschen Philosophie: Sie ist Träger von Eigenschaften im logischen Sinn, sie ist das hypokeímenon als das jeder Veränderung zu-Grunde-Liegende, und sie ist vor allem das Wesen, das den Ursprung aller Tätigkeit in sich trägt, das nicht von außen eines Anstoßes, eines Impulses bedarf, sondern in sich und als es selbst Kraft, ursprüngliche Kraft ist. Aus diesem Begriff müssen die ersten Wahrheiten folgen, in ihm sollen sich die vordergründig Unvereinbaren, die unendlichen Begriffe von Ausdehnung und Denken vereinigen, darin wird sich die Anforderung des philosophischen Begriffes als Entfaltung und Einschluss vollziehen. Das ist Ansinnen und Programm, und es ist die Idee der Kraft, die den Einschluss, den Zusammenschluss vollziehen soll, es ist der Begriff der Kräfte24, für den Leibniz eigens die Wissenschaft der Dynamik bestimmt, durch den Licht auf oder in die Substanz, in das dunkle, scheinbar unüberwindbare Tal zwischen cogitatio und extensio fallen kann und fallen wird. »Da nun aber die Vielheit ihre Realität nur von wahren Einheiten haben kann, die anderswoher kommen und etwas ganz anderes sind als die mathematischen Punkte, die nur die äußersten Stellen des Ausgedehnten und der Modifikationen sind und von denen feststeht, daß das Kontinuum aus ihnen nicht zusammengesetzt sein kann – so war ich gezwungen, um diese wirklichen Einheiten zu finden, auf einen wirklichen und sozusagen beseelten Punkt zurückzugehen, das heißt auf ein substantielles Atom, das irgendetwas Formales oder Aktives einschließen muß, um ein vollständiges Seiendes zu bilden.«25

Es muss nicht nur etwas einschließen, sondern das gesamte Geschehen, die ganze Welt muss irgendwie in der substantiellen, aktiven Form präsent, eingeschlossen sein. Der gesamte Lauf der Welt muss sich in der Einheit abzeichnen, ähnlich wie bei Spinoza, ähnlich dem spinozistischen Spiel von Auf- und Einfaltung, von Ausdruck und Einschluss, dessen zwei Bewegungen, zwei Momente der Ausdruck der Substanz in ihren Attributen, der Ausdruck der Attribute in den Modi und zugleich der Einschluss der Attribute in den Modi sind – die unendlich vielen endlichen Modifikationen des Einen, Ausdrücke

23 | Gottfried Martin, Leibniz – Logik und Metaphysik, 143. 24 | Vgl. Martial Gueroult, Die Konstitution der Substanz, in: Leibniz ’ Logik und Metaphysik, 488. 25 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Neues System, Philosophische Schriften I, 205.

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des Einen, die das Eine in sich schließen als psychophysische Einheiten, die Macht verkörpern und von einem Willen zur Macht getrieben sind. So ist der Seelenpunkt bei Leibniz kein atomistischer, sondern ein KraftPunkt, kein Bestandteil der Materie, sondern das Konstituens der Materie als der gesamten lebendigen Welt. Die Natur der Einheit ist die Kraft und es gibt überall nichts anderes als Kraft-Einheiten, unteilbar, ewig. Die Kraft ist gleichzeitig die Einheit der Natur, und alle Erscheinungen der Welt müssen bestimmte Komplexe dieser Einheiten sein, Gebilde, Machtgebilde, Organisationen, die nicht ganz verschwinden können, sondern de facto nur ihre Form verändern, die sich permanent in Formung befinden. »So ist es natürlich, daß das Lebewesen, da es immer lebendig und organisiert war (wie Leute von großem Scharfsinn anzuerkennen beginnen), es auch immer bleiben wird. Und da es so keine erste Geburt noch gänzlich neue Schöpfung des Lebewesens gibt, folgt daraus, daß es auch keine letzte Auslöschung noch gänzlichen Tod in metaphysischer Strenge genommen geben kann; und daß es folglich statt einer Seelenwanderung nur eine Umwandlung eines und desselben Tieres gibt, je nachdem die Organe verschiedenartig gestaltet und mehr oder weniger entwickelt sind.« 26

Das ist das große Bild: Die Welt ist organisch, bis ins Kleinste organisch, beseelt, überall ist Materie, aber organisierte Materie, geformte Materie, bewegte Materie als Formen, geregelt nach mechanischen Prinzipien, Druck, Stoß, etc., durch äußere Kräfte. Zugleich aber gibt es dieser Materie zu Grunde liegende – oder vielmehr – sie überfliegende Seeleneinheiten, Organisationseinheiten, Prinzipien der Einheit, denn die in der Materie wirkenden Kräfte erklären zwar die äußere Bewegung, die Plastizität, aber nicht die variablen Einheitsgrade, das aristotelische tóde ti, das, was etwas ist, etwas werden lässt, etwas zu sich selbst werden lässt, die Teleologie, die Entwicklung zu etwas, auf etwas hin, das mehr-Werden.

3 F ALTEN Die Einheitsgrade der Körper, ob Mikroorganismus, Zelle, Wurm oder Mensch, lassen sich nicht durch plastische – wie Leibniz sagt, abgeleitete – Kräfte erklären, denn sie stehen unter dem Plan einer ursprünglichen, von innen wirkenden Kraft, die sie voraussetzen. »Sie stellen die organische Synthese her, setzen aber die Seele als Einheit der Synthese oder als ›immaterielles Lebensprinzip‹ voraus. Erst dadurch verbindet sich 26 | Ebd. 211.

3 Falten

ein Animismus mit dem Organizismus, unter dem Gesichtspunkt der reinen Einheit oder der Einigung, unabhängig von jeder kausalen Einwirkung. Es bleibt, daß die Organismen ohne die Seelen-Einheiten, von denen sie und die von ihnen untrennbar sind, nicht aus sich selbst die kausale Macht hätten, sich ins Unendliche zu falten und in der Asche bestehen zu bleiben.«27

Und hier liegt, wie auch Deleuze bemerkt, das ganze Problem, die ganze problematische Architektonik eines faszinierenden barocken Bauwerks, eines Hauses mit zwei Etagen: Wie ist die untere Etage der Materie, der plastischen abgeleiteten Kräfte mit der oberen der Seelen verbunden, wie ist die Monade als Einheit zu verstehen, wie kann eine per definitionem »Seelen-Einheit« mit den Einheiten der Materie, mit den Organismen in Verbindung stehen, ohne elementare Priorität zu besitzen – denn sonst fiele man zurück in die spiritualistische Doktrin des untergebenen Körpers. Aber genau das widerspricht der Konzeption der Einheit, dem Einheitsprinzip. Es ist die Frage nach dem Vielen im Einen, nach den Gradunterschieden, wie sie die Wesensmodifikation Spinozas aufweist, kein separatistisches Ansinnen, sondern die Frage nach dem Ganzen, nach der graduellen Differenz an Klarheit, an Bewusstsein, an Macht, eine Frage des Einschlusses und der Entfaltung. Man kann nirgends Halt machen, an keinem Punkt aufhören, denn so tief man in die Materie eindringen kann, so weit muss man auch den Seelen-Gedanken fassen. Es gibt keine Grenze zu den Seelenlosen, Leblosen, zu den reinen Materiehaufen, auch der kleinste Materierest lebt, ist animiert, beseelt. Der Stein spricht zu Leibniz ebenso, wie der Mensch, wenngleich in einer verworrenen, dumpfen, unklaren Sprache, Gemurmel eines Schlafenden, Regungen, Zuckungen, Ausdruck der Bewusstlosigkeit, aber dennoch drückt er aus seiner Perspektive die ganze Welt aus. Die Einheit der Form ist immer eine Sache der Seele, der oberen Etage, und in ihr entwickelt sich die Komplexität der leibnizschen Welt, denn es »sieht ganz so aus, als ob die Faltungen der Materie«, die unendlichen Bewegungen und Formungen in der Welt der Erscheinungen, in der Natur, »ihren Grund nicht in sich selbst hätten. Denn die Falte ist immer zwischen zwei Falten, und dieses Zwischen-Zwei-Falten scheint überall zu verlaufen: zwischen den Organismen und den tierischen Seelen, zwischen den tierischen und den vernünftigen, ganz allgemein zwischen den Seelen und den Körpern […].«28 Was bei Spinoza in einer absoluten Parallelität der göttlichen Attribution begriffen wird, ist bei Leibniz gefaltet, von einer Falte durchzogen, dimensional gefaltet – einer Notwendigkeit folgend – denn zu glauben, die Materie durchlaufen zu können, bis man den Sprung oder fließenden Übergang in den 27 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 25. 28 | Ebd. 28.

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Raum der Seelen findet, wäre absurd. Die Seelen, die Monaden haben keine Eingänge, keine Öffnungen, sie haben nach der berühmten Formulierung von Leibniz »keine Fenster«29, durch die man in sie hinein oder aus ihnen hinaus könnte, durch die man Einblick bekäme. Es gibt keinen Weg und keinen Fährmann, keinen Charon, der über die gefaltete Styx übersetzt und vom Reich der Körper in das Reich der Seelen führt. Die Materie ist in ihrer Äußerlichkeit bis ins Unendliche äußerlich, es geht in den Faltungen der Materie immer weiter, wie die Reise durch die faszinierende Welt der Mandelbrotmenge, aber man erreicht den Seelenpunkt nicht. Er muss von seiner Natur her anders, in seiner Dimension anders sein, in sich geschlossen und durch die unendliche Ausdehnung unzugänglich, aber es muss ihn geben als das Einheitsstiftende, als den Ursprung der Wirkungen. Fenster und Türen der Materie stehen offen, sind einladend und zugleich ausladend, indem sie immer nur auf ein weiteres Außen verweisen, draußen und immer weiter nach draußen. »Gewiß deutet die organische Materie bereits eine Verinnerlichung an, jedoch eine relative, immer sich vollziehende und niemals vollendete. So kann zwar eine Falte durch das Lebendige verlaufen, aber nur zur Aufteilung von absoluter Innerlichkeit der Monade als metaphysisches Lebensprinzip und unendlicher Äußerlichkeit der Materie, als physisches Gesetz der Phänomene. Zwei unendliche Gesamtheiten, von denen die eine die andere nicht erreicht: ›die unendliche Unterteilung der Äußerlichkeit setzt sich unaufhörlich fort und bleibt offen: man muß also aus dem Außen herauskommen und eine punktuelle innere Einheit setzen … Der Bereich des Physischen, des Natürlichen, des Phänomenalen, des Kontingenten ist gänzlich in die unendliche Wiederholung offener Ketten eingetaucht: darin ist er nicht metaphysisch. [...]‹« 30

Der metaphysische Punkt, der Seelenpunkt, ist wesentlich anders, verschieden und doch verschmolzen mit der Materie, er ist unfassbar, und fasst doch die ganze Welt in sich, ist ein Spiegel der ganzen Welt 31, ein mit Spiegeln ausgekleidetes, barockes Zimmer. Er ist reine Innerlichkeit, eine unendliche Linie, unendliche Verknüpfung von Ereignissen, die Peano-Kurve, die alle Punkte durchläuft und sich selbst in einem ausdehnungslosen Punkt zusammen29 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 7, Philosophische Schriften I, 441. 30 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 51; bzw. Michel Serres, Le système de Leibniz et ses modèles mathémathiques, Bd. II: Schémas, Points, 762. 31 | Vgl. Martial Gueroult, Die Konstitution der Substanz, in: Leibniz ’ Logik und Metaphysik, 487: »Sie [die Substanz] muss also in einer verkürzten Form, d.h. auf verworrene Weise die Gesamtheit der Realitäten oder der Monaden, die dieses Universum bilden, die Gesamtheit der Beziehungen, die sie miteinander verbinden und sie selbst mit den anderen verknüpft, in sich schließen.«

3 Falten

schließt, einschließt, eben in einem metaphysischen Punkt. Die obere Etage, das Seelen-Stockwerk, ist tapeziert, verhängt, verhüllt, und die schweren Stoffe ihrer Auskleidung werfen Falten in die Unendlichkeit, nach vorne und zurück, nach oben und unten. Sie krümmen, beugen sich und falten sich ein. Die Seele ist nicht Kurve, nicht Flexion der Kurve, sie ist der Inflexionspunkt, wie Deleuze sagt, das Ereignis des Punktes, reine Idealität, einfach, ohne Teile, das metaphysische Atom als tatsächlich Unteilbares, aber sie muss Eigenschaften, sie muss Besonderheiten, sie muss Besitz haben, es muss ihr etwas zu- oder angehören, irgendetwas in ausgezeichnetem Sinn zukommen, denn das wiederum ist das Gebot der Natur, das Augenscheinliche, das sich uns Offenbarende: Individualität über Individualität, wohin man blickt Einzigartiges, Singularitäten, deren Prinzip die Monade als Seeleneinheit sein muss. Sie muss Eigenschaften, Prädikate haben, die Dekoration, die Inneneinrichtung der oberen Etage, der unendlich vielen oberen Etagen muss sich jede von der anderen auf bestimmte Art und Weise unterscheiden. »Und wenn die einfachen Substanzen nicht durch ihre Eigenschaften voneinander verschieden wären, so gäbe es kein Mittel, irgendeine Veränderung in den Dingen wahrzunehmen, weil das, was im Zusammengesetzten ist, nur aus einfachen Bestandteilen kommen kann; und da die Monaden ohne Eigenschaften voneinander ununterscheidbar wären, weil sie ebensowenig hinsichtlich der Quantität verschieden sind, so würde folglich – unter der Voraussetzung, daß der Raum erfüllt ist – in der Bewegung jeder Ort immer nur einen Inhalt erhalten, der dem gleichwertig ist, den er schon gehabt hat, und ein Zustand der Dinge wäre von dem anderen nicht zu unterscheiden.« 32

Dieser Grundsatz der Unterscheidung macht das Wesen der Monade aus: Sie muss von jeder anderen unterscheidbar, eben individuell und gleichzeitig selbst permanent einer Veränderung, einer Bewegung, einer Formation oder Transformation unterworfen sein. Sie ist als lebendiges Seiendes, als ursprüngliche Kraft immer in Bewegung. Die Aktivität der wechselnden Zustände aber kann nur eine innerliche sein, denn die Monade selbst ist reines Innen, absoluter Innenraum – Spinozas Modi der Ausdehnung beeinflussen sich gegenseitig permanent nach den Gesetzen von Ruhe und Bewegung, und jeder Einflussnahme entspricht eine Idee der Veränderung. Bei Leibniz faltet sich die Materie unaufhörlich, immer weiter, immer tiefer, immer komplexer, sie ist ein Spiel äußerlicher Auffaltungen, Entfaltungen, Einfaltungen, wie sich Gebirge ständig in Faltung befinden, und die Seele hat die Falten in sich, sie verändert sich permanent nach einem inneren Prinzip, sie umgibt, umhüllt dieses innere Prinzip der Veränderung. Die extensiven Falten sind materiell, sind ständige

32 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 8, Philosophische Schriften 1, 441f.

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Ursache-Wirkungsrelationen, die intensiven Falten sind in der Seele, konstatieren den individuellen Gesichtspunkt, die Individualität überhaupt. »Die ganze Welt ist nur eine Virtualität, die aktual nur in den Falten der Seele existiert, die sie ausdrückt, wobei die Seele von inneren Entfaltungen aus operiert, wodurch sie sich eine Repräsentation der eingeschlossenen Welt gibt. Wir gehen in einem Subjekt von der Inflexion zum Einschluß wie vom Virtuellen zum Aktualen, wobei die Inflexion die Falte definiert, der Einschluss dagegen die Seele oder das Subjekt, d.h. dasjenige, was die Falte, ihre Zweckursache und ihre vollendete Tat umhüllt.« 33

Die Inflexionen sind die Besonderheiten, die Faltungen in der Seele, die von der Einheit umhüllt, umzogen, zusammengeführt oder eingeschlossen werden – die Vielheit im Einen, die bei Spinoza über die göttliche Vermittlung, nicht im okkasionalistischen Sinn34, sondern über die Einheit der Attribute und der unendlichen Modi in der einen Substanz erreicht wird. Diese Faltungen sind die inneren Bestimmungsmomente, eine Vielzahl von Dispositionen, »une pluralité d’affections«35, wie Leibniz selbst schreibt, Affektionen, Zustände, eben wie bei Spinoza, nur in der unendlichen Pluralität der Einheiten selbst. Die Vorhänge, Tücher, ihre Drapierungen bewegen sich unentwegt, falten sich, bäumen sich auf zu Wellenbergen, und jede noch so kleine Falte markiert ein Ereignis der Welt, ein zukünftiges oder vergangenes, denn die Ereignisse in der Monade sind verkettet, verschlungen, gewölbt, sie bewegen einander gegenseitig, schaukeln sich auf, verdecken oder präsentieren sich. Zustandsänderungen der Innerlichkeit ebenso, wie sich die Zustände der spinozistischen Substanz ändern, und so heißen die Veränderungen, die Affektionen der absolut singulären Substanz Perzeptionen, die natürlich keine Wahrnehmungen im klassischen Sinn sein können, kein von außen nach innen, sondern immer nur Bewegungen im Inneren der Seele, die aber auf ganz besondere Weise Bewegungen, Ereignisse der Welt sind. Es ist der vorübergehende Zustand der Seele, wie Leibniz sagt, der von den Begriffen der Wahrnehmung und dem Bewusstsein geschieden werden muss und den alle Monaden, alle Seelen, haben, immer haben, und darin wurzelt auch sein Glaube an die Transformation, an den alles durchwaltenden, alles durchdringenden Informationsprozess, der nicht von Leben und Tod, sondern von Extrema an graduellen Differenzen getragen ist, von Zuständen des Wachens oder Schlafens – die Seelen, die Entelechien sterben nicht, sie treten nur permanent in ein anderes Stadium ihrer Zuständlichkeit, ihre Falten sind mehr oder weniger klar, mehr ent- oder mehr zusammengefaltet. »Explizie33 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 42. 34 | Vgl. Wolfgang Röd, Benedictus de Spinoza, 196. 35 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 13, Philosophische Schriften 1, 442.

3 Falten

ren – Implizieren – Komplizieren bilden die Triade der Falte«36, und es sind Variationen des Einen, Unteilbaren, die unendlichen Reihen als Perzeptionen in der Monade. »Solange die Reihen endlich oder unbestimmt blieben, liefen die Individuen in der Tat Gefahr, relativ zu sein und dazu berufen, in einem der Komplizierung aller Reihen fähigen universalen Geist oder einer Weltseele unterzugehen. Wenn aber die Welt eine unendliche Reihe ist, konstituiert sie in dieser Eigenschaft das logische Verständnis eines Begriffs, der nur noch individuell sein kann, ist also von unendlich vielen individuellen Seelen umhüllt, von denen jede ihren irreduziblen Gesichtspunkt beibehält. […] Die unendliche Reihe der Krümmungen oder Inflexionen ist die Welt, und die ganze Welt ist unter diesem Gesichtspunkt in der Seele eingeschlossen.« 37

Sie ist eine Kurve, die unendlich viele Punkte als Ereignisse durchläuft, und an unendlich vielen Punkten unendlich viele Kurven berührt, eingeschlossen von der Seeleneinheit, die aber durch die Individualität ihrer Perzeption eine bestimmte Region der Weltkurve, der Kurve der Ereignisse, ausdrückt, die einen Bezirk, eine kleine Region der klaren Perzeptionen hat, einen bestimmten, individuellen Gesichtspunkt, der sie von allen anderen unterscheidet. Die Perzeption, die in infinitum reichende Reihe an Differentialquotienten der Perzeptionen, erlaubt es Leibniz, die absolute Individualität als Kraft und Aktivität festzulegen38, da sie der äußeren Wahrnehmung nicht fähig ist, das Außen überhaupt nicht kennt, sondern das gesamte Außen in einer andern Dimension zu einer Innerlichkeit zusammenschließt, einschließt, und die Welt offenbart sich in jeder Monade, für jede Monade auf bestimmte, ausgezeichnete Weise, aus einer bestimmten, individuellen Perspektive, offenbart ein Spiel der Perspektiven, als jede Monade selbst der Gesichtspunkt ihrer eigenen Welt ist. So gesehen existiert die Welt aktual nur im Subjekt, ist nur für das Subjekt, jedoch beziehen sich die Subjekte alle auf die Welt als unendliche Reihe, die ihre Faltungen, Inflexionen sind und derer sie einen Bezirk des klaren und deutlichen Ausdrucks einnehmen, für sich in Anspruch nehmen: »Die Monaden haben keine Fenster, weil sie keine brauchen; sie brauchen keine, sie haben es nicht nötig, aus dem Inneren des Gehäuses hinauszublicken, weil ihnen das, was sie als Selbstbesitz in sich haben, genügt. Jede Monade ist als solche in verschiedenen Graden der Wachheit vorstellend.« 39 36 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 44. 37 | Ebd. 44f. 38 | Vgl. Klaus Erich Kähler, Leibniz – der methodische Zwiespalt der Metaphysik der Substanz, 24ff. 39 | Martin Heidegger, Die Grundprobleme der Phänomenologie, 426.

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Die Welt ist eingeschlossen im Prinzip des Endlichen, sie ist aktual auf unterschiedlichste Weise, aus einer Vielzahl von Gesichtspunkten. Sie ist eine Stadt, die wahre, die absolute kosmo-pólis, eine Verwirrung, Verkettung von Häusern, barocken Häusern, neben-, über-, unter-, ineinander, zweistöckige Häuser, Etagengebilde, überall, die nach zwei Vektoren tendieren: hier Materie über Materie, dort Seele neben Seele, und die Welt selbst ist als konvergente Reihe in allen Seelen eingeschlossen, als Reihe, die in jeder Monade eine Hell-Dunkel-Divergenz, ein Lichtspiel40 bedeutet. Ereignis über Ereignis, verkettet, verknüpft, territorialisiert, arealisert, und jede Monade hat ihren eigenen Bezirk, der für sie, in ihr klar und deutlich erscheint, der sich von einem dunklen, verworrenen, chaotischen Grund abhebt. Das Chaos per se wäre die Abstraktion von jedem Moment der Filterung, ein Gedankenkonstrukt, das vor jeden Prozess der Ordnung greifen möchte, jedoch kann die Welt als Chaos gar nicht vor ihrem Sieb, die unendliche Reihe nicht vor den Mechanismen ihrer Hell-Dunkel-Differenzen existieren. »Vom psychischen Gesichtspunkt wäre das Chaos eine allgemeine Benommenheit, die Gesamtheit aller möglichen Perzeptionen als ebenso viele Infinitesimale oder unendlich Kleine; das Sieb jedoch zöge daraus Differentiale, welche fähig sind, sich in regelmäßige Perzeptionen zu integrieren. Wenn das Chaos nicht existiert, dann weil es nur die Rückseite des großen Siebs ist und weil dieses ins Unendliche Reihen von Ganzen und Teilen zusammensetzt, die uns chaotisch erscheinen (aleatorische Folgen), nur weil wir unfähig sind, ihnen zu folgen, oder weil unsere eigenen Siebe nicht genügen.« 41

Es ist also immer Ordnung, immer eine gewisse Form von Regulation im Chaos, überhaupt kein Chaos an und für sich, denn die Monade perzipiert ständig, ist ständig aktiv in ihrem Verändern der Zustände und der Zustand selbst ist das In-Sein der Welt, das Da-Sein, aber die Frage drängt noch immer nach der Architektur, nach dem Wie des Aufeinander, nach dem Zusammensein der Etagen – wie vereinigt sich die Seele mit ihrem Körper, wozu der Körper, wieso will, wieso braucht sie ihn, aus welchem Grund kann die Seele, die ja per definitionem in sich ist, nicht rein für sich sein. Die Kette oder Reihe von Ereignissen ist in der Singularität der Monade eingeschlossen, ihre klaren und deutlichen Perzeptionen sind ihre Singularitäten, die sich aber zu jenen der anderen Monaden verlängern, sie mit einschließen als die unendlich konvergente Reihe, die die Welt ist, das ganze Universum, und das Universum ist durch Ordnung geregelt, folgt Gesetzen, die sich in der 40 | Vgl. Hubertus Busche, Monade und Licht – Die geheime Verbindung von Physik und Metaphysik bei Leibniz, in: Lichtgefüge des 17. Jahrhunderts – Rembrandt und Vermeer, Leibniz und Spinoza, 125ff. 41 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 127.

4 Perzeptionen

Monade ausdrücken, die sich, wie das Gesamt aller Dinge, in der Monade widerspiegeln. Die Falten in der Monade sind die Wellen eines Meeres, unendlich viele, kleine Perzeptionen, die alle Ereignisse der Welt sind, alle Molekular-, Korpuskel-, alle mikro- oder makroskopischen Bewegungen sind in ihr präsent und repräsentiert – das ist der Grund der Monade, der dunkel sein muss, denn das Unendliche kann nicht zur Gänze klar und deutlich im Endlichen präsent sein – es ist verworren, chaotisch, ein Rauschen, ein Undefinierbares, aber der Grund ist die Voraussetzung, ist Grund der Formen, Grund des Klaren: »Die Mikrorezeptionen oder Welt-Repräsentanten sind diese kleinen Falten, ein Gemälde von Hantai oder eine toxische Halluzination bei Clérambault. Und es sind diese kleinen dunklen, verworrenen Perzeptionen, die unsere Makroperzeptionen zusammensetzen, unsere bewußten, klaren und deutlichen Apperzeptionen: niemals tauchte eine bewusste Perzeption auf, wenn sie nicht eine unendliche Gesamtheit kleiner Perzeptionen integrierte, welche die vorangegangene Makroperzeption aus dem Gleichgewicht bringen und die folgende vorbereiteten.« 42

4 P ERZEP TIONEN Es ist also die Analogie, die Konstitution – ebenso, wie bei den materialen Formen, die sich aus kleinen und immer kleineren zusammensetzen, sind auch die Zustände der Monade immer Gesamtheiten einer Vielzahl kleinerer Ereignisse, unbewusster, nicht präsenter, dunkler Perzeptionen, Bewegungen der Welt, die in der Seele präsent sind. Wie die ausgedehnte Welt, die Materie permanent in Bewegung ist, so ist auch die intensive, eingeschlossene Welt eine Welle unendlicher Wellen und Bewegungen, Schwingungen, die sich verstärken oder auslöschen, die sich zusammensetzen oder zerstören. Und ebenso verhält es sich mit dem Drang, von einer Perzeption zu einer anderen fortzuschreiten, mit dem Bedürfnis, dem Willen, dem Zug, der die Monade genauso ist, wie der Wechsel der Stadien, die sie durchläuft. Dieser Zug ist wieder jener Ausdruck der aktiven Kraft, der bei Spinoza conatus heißt und der das bewegende Moment aller Veränderung ausmacht. »Die Tätigkeit des inneren Prinzips, die die Veränderung oder den Übergang von einer Perzeption zur anderen bewirkt, kann Strebung (appetitus) genannt werden. Es ist wahr, daß der Appetitus nicht immer ganz und gar zu der Perzeption gelangen kann, auf die er angelegt ist, aber er erlangt immer irgend etwas und dringt zu neuen Perzeptionen vor.« 43 42 | Ebd. 141. 43 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 15, Philosophische Schriften 1, 445.

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Insofern die Monade immer Kraft ist, ist sie in sich differenzierte Kraft und Wille, der sich aus vielen kleinen Willen zusammensetzt – wie es bei Nietzsche heißen wird –, der selbst immer ein Komplex, eine Komplexität, eine complicatio vieler Willen ist, und es ist die Perzeption selbst, die – eingeschlossen – selbst den Willen in sich einschließt, selbst immer schon Wille oder Strebung ist, zur nächsten, klaren Perzeption fortzuschreiten – ihren Möglichkeiten entsprechend. Die Stasis der Perzeption hebt sich auf der einen Welle der Unruhe auf, wie alles andere Ruhende oder Feststehende. Ebenso, wie die Monade ursprüngliche Kraft ist, ist die Perzeption ursprünglicher Wille, wollender Wille, und die Monade als Einheit ist der Komplex der Willensäußerungen. Diese mikroskopischen Regungen, dieser Taumel im Unsichtbaren, Ungreif baren, sind die Bedingungen für die großen Drapierungen, für die großen Falten, die sich aus unendlich vielen kleinen Falten, Willen, zusammensetzen, aus Stacheln und Härchen, aus Unebenheiten, Reibungsflächen. In einer von Gabriel Tarde übernommenen Formulierung schreibt Deleuze: »Vom Kosmologischen zum Mikroskopischen, aber auch vom Mikroskopischen zum Makroskopischen. Es gehört zur Perzeption, die Welt zu pulverisieren, aber auch, den Staub zu spiritualisieren.«44 Daraus folgt, dass eine Perzeption nie für sich selbst, sondern immer nur in ihrer Differenz zum Abgrund, zur tiefen Dunkelheit, und immer nur als Differenz vieler kleiner Perzeptionen gedacht werden kann, als Erhebung aus dem Reich des Unbewussten, als singulärer Ton, der aus dem Getöse der Nacht hervordringt, als etwas Bemerkenswertes, Besonderes, als etwas Klares und Deutliches, das einen Ort einnimmt, das sich in der Seele lokalisiert, im Raum erscheint. Es geht jedem Ereignis, jeder Perzeption, eine Spannung voraus, ein Quotient, ein Differentialverhältnis, es müssen immer Wirkungen sein, Wirkung auf Wirkung, die größere Wirkungen hervorbringen, die den Grad des Makroskopischen erreichen. So verhält es sich in der Seele, in der Monade: Sie ist selbst das Sieb, die Kehrseite ihres dunklen Grundes, insofern sie den dunklen Grund in sich hat und zugleich die Perzeptionen ist, die aus dem Grund hervorgehen, sie ist eine Schwelle, eine Grenze, eine individuell verlaufende, gespannte Membran – wie man von der Bewusstseinsschwelle spricht, und wie Bewusstes unter, hinter die Grenze zurückgehen, zurückgedrängt, die Amplitude gewaltsam gedrückt werden kann. Es sind Reizungen erforderlich, Stromstöße, Auslösungen, Anstöße, ein umsichtiger Beförderungsprozess, wenn man das Unbewusste hervorholen, herauftauchen, vor den Vorhang ziehen möchte, aber es ist die Schwelle tatsächlich ein Vorhang, ein Auf und Hinter der Bühne.

44 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 142.

4 Perzeptionen

»Jedes Bewußtsein ist Schwelle. Zweifellos muß man in jedem Fall sagen, warum die Schwelle so und so ist. Wenn man aber die Schwellen als Minima des Bewußtseins annimmt, sind die kleinen Perzeptionen jedesmal kleiner als das mögliche Minimum: in diesem Sinn unendlich klein. In jeder Ordnung werden diejenigen ausgesondert, die in Differentialverhältnisse eintreten, und so die Qualität hervorbringen, welche an der Schwelle des in Betracht gezogenen Bewußtseins auftaucht (das Grün beispielsweise). Die kleinen Perzeptionen sind also nicht Teile der bewußten Perzeption, sondern Erfordernisse oder genetische Elemente, ›Differentiale des Bewußtseins‹.« 45

Es wird somit das Differentialkalkül zum Werkzeug, eigentlich zur universellen Maschine oder zum Automaten der Aussonderung, aber nicht nur als Grund, der sich hebt und senkt, sondern als unendlich viele Ebenen von Differentialen, von Quotienten, die selbst wieder Quotienten werden: Qa/Qb=Qc, Qc/…, die sich in einer ewigen Auseinandersetzung befinden, die in das klare Licht treten und ebenso wieder in den dunklen Grund zurückfallen, die Bestandteil anderer Perzeptionen, bewusster Perzeptionen werden, die Größeres konstituieren oder mit ihrem Zerfall viel größere Konstrukte zerfallen lassen. Es sind Kurven, Krümmungen, Flexionen in der Monade, nicht in Raum und Zeit, sondern Raum und Zeit krümmen sich mit der Kurve, die Ereignisse beugen, krümmen die Raum-Zeit, relativieren Verhältnisse. So wie es überall Monaden gibt, Seelen über Seelen, so ist in den Monaden verteilt die Asche, der Staub als die unendlichen Perzeptionen, die Kohlenstoffe, die sich zu Diamanten formen und wieder zurück gehen, vergehen in den dunklen Grund der Vergessenheit. Es sind bei Leibniz überall Differentialverhältnisse46: Er hebt seine mathematische Erkenntnis, seine Errungenschaft des Differentialkalküls auf die Ebene der Metaphysik und konstruiert ein Ausschluss-, ein Selektionsverfahren, ein metaphysisches Sieb als einen psychischen, oder psychophysischen Mechanismus. Nachdem die ganze Welt in jeder Singularität eingeschlossen ist, ist der Mechanismus sowohl individuell wie universell. Es ist die gleiche Welt, die gleiche Kette, die gleiche Reihe in jeder Monade, jedoch ist der Gesichtspunkt, die Perspektive, die Intensität der Perzeption niemals dieselbe, niemals mit der anderer Monaden gleich, niemals mit sich selbst gleich, weil sie selbst immer bewegt, als Welle immer in Bewegung ist. Jede Monade drückt dieselbe Welt aus, aber keine auf idente Art und Weise und keine in derselben Intensität, keine hat den gleichen Grad an Wesen – würde Spinoza sagen –, keine dieselbe Stufe des modalen Wesens, keine drückt die Macht der Substanz auf gleiche Weise aus. So könnte man in Analogie zwischen Spinoza und Leibniz behaupten, dass etwa ein Staubkorn, eine Zelle oder ein Fisch unterschiedlich klare 45 | Ebd. 144. 46 | Zur Bedeutung des Differentialkalküls vgl. ebd. 143ff.

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Perzeptionen haben, einem völlig unterschiedlichen Status der modalen Wesenheiten entsprechen, aber dennoch Perzeptionen haben, dennoch dieselbe Welt ausdrücken, dennoch Modi ein und derselben Substanz sind47. Jede Monade schließt in sich unendlich viele kleine Perzeptionen, sie umhüllt sie, hüllt sie ein, faltet sie in sich. Der Unterschied zwischen den einzelnen ist das jeweilige Gebiet des klaren Ausdrucks, das sich in hell-dunkel-Abstufungen in das Gebiet jeder anderen Monade verlängert, weiterzieht, fortspannt als die unendliche Kette oder Reihe der Ereignisse der Welt. Es gibt keine Seeleneinheit ohne Perzeption, denn das wäre der absolute Todeszustand, der aber wiederum nur durch ein göttliches Eingreifen48 eintreten könnte. »Noch das winzigste Tierchen besitzt Lichtkraft genug, um seine Nahrung, seinen Feind und manchmal auch seinen Partner erkennen zu können: wenn das Lebendige eine Seele impliziert, dann weil bereits die Proteine eine Aktivität der Perzeption, des Auseinanderhaltens und der Unterscheidung bezeugen, kurz, eine ›ursprüngliche Kraft‹, welche nicht durch physikalischen Druck und chemische Affinität (›abgeleitete Kräfte‹) erklärt werden kann. So gibt es hier auch keine Reaktionen, die sich aus Reizen ergeben würden, sondern äußerliche organische Tätigkeiten, welche in der Seele eine innerliche Perzeptionsaktivität bezeugen.« 49

Das ist der Weg der Analyse: Die Perzeptionen sind Falten, Inflexionen, Ereignisse, Zustände der Monade. Es gibt keine Monade ohne Perzeptionen, denn jede Monade ist ursprüngliche, genuine Kraft, Ausdruck von Kraft, die von Perzeption zu Perzeption geht, will, deren Perzeptionen selbst Willen sind und die als Einheit eine differentielle Vielheit von Willen, von Appetitionen in sich schließt. Das Verhältnis der Perzeptionen selbst ist ein differentielles, ein Differentialkalkül: Die klarere Perzeption ergibt sich als Quotient einer Vielzahl von unklaren, schwingt sich durch das Sieb der Trennung vom dunklen Grund an die Oberfläche des Lichts und fällt in den Grund zurück: Es ist ein Treiben in der Seele, ein unruhiges Meer, aus dem Singularitäten erscheinen, das eine Oberfläche hat, auf dem Boote treiben, ein Horizont, Tag und Nacht, Sonnenauf- und Untergang, aber irgendwo schwingt der Gedanke an die untere Etage, das untere Stockwerk mit, die Aufforderung, der Ruf der Materie, der Ruf der Welt, der Wille der Seele, einen Körper zu haben – der Körper ist in den Ausführungen über die Seele implizit immer vorhanden, spricht im Prinzip 47 | Deleuze sieht die Gemeinsamkeit zwischen Leibniz und Spinoza vor allem im Begriff des Ausdrucks verankert. Vgl. hierzu das Schlusskapitel in: Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des Ausdrucks in der Philosophie, 285ff. 48 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Monadologie, § 6, Philosophische Schriften 1, 439ff. 49 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 149f.

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immer mit, besetzt jedes Beispiel, jede Analogie: Das kleine, kleinste Tierchen ist ein Körper, ist zu allererst Körper, an dem wir uns die Aktivität der Seele vorstellen, veranschaulichen. Anscheinend ist der Körper eine Anforderung unserer Vorstellungskraft, anscheinend brauchen wir die Materie, um uns die Seele denken zu können, und vielleicht braucht die Seele selbst ihren Körper, ihre Materie… In der Monade ist nur das Perzipierte und die Perzeption ist »nur« Zustand, Zustand der Seele, Repräsentation der Welt – sie ist Einheit und Intensität. Die Materie ist die Extension, die Ausdehnung, die ständige Reibung und Beeinflussung, sie ist überhaupt ein ständiger Fluss der Formungen und Umformungen, ähnlich jenen Prozessen in der Seele, aber niemals mit ihnen gleichzusetzen. Trennung ist das Wesen der Analyse, das Auseinanderhalten ihr Prinzip, das Dogma der Untersuchung, und es kann nicht in gesonderter Weise von ein und demselben gesprochen werden: Leibniz könnte seine Analyse, seine Apokalypse der Seele, des metaphysischen Seelenpunktes nicht durchführen, wenn es sich nur um eine Fiktion, eine Projektion organischer Prozesse handelte. Es bedarf beider Seiten, beider Dimensionen, beider Etagen, und eben in der Forderung, der Notwendigkeit ihrer Koexistenz, müssen sie real verschieden, können sie nicht dasselbe sein – sie sind selbst von der Falte, der Hemisphären-Falte getrennt, was sie jedoch nicht daran hindert, auf ein und dieselbe Welt bezogen zu sein, dieselbe Welt zu sein. Die Seele ist in sich gefaltet in unendlich viele kleine und große, mikround makroskopische Perzeptionen, sie ist der Einschluss par excellence. Die Materie schließt nichts ein, sie ist der Ausschluss, das Außen an sich, sie ist die extensiven Faltungen der Moleküle, die Textur des Raumes, Textur der Extension. Sie ist voller Organe und Komplexe, voller Aggregate, Haufen, voller mehr oder weniger organisierter Körper, die einander ständig bewegen und schieben, drücken, anziehen, abstoßen, krümmen, winden, ein- und ausfalten. Die Entwicklung selbst ist die Bewegung der Falte – das Entfalten, Ausbreiten, das Wachsen, die Bildung immer neuer Falten, wie es die Zellteilung veranschaulicht: das Fortschreiten zu einem immer höheren Status der Komplexität, das unentwegte Kräftewirken, das stärker-Werden ebenso, wie seine Entgegensetzung, die Zusammenfaltung, Einfaltung. Immer Spannung, und der Mechanismus der Materie selbst ist die Spannkraft: »Wenn die Welt unendlich ausgehöhlt ist, wenn es Welten in den winzigsten Körpern gibt, dann darum, weil ›überall Spannkraft in der Materie‹ ist, die nicht nur die unendliche Unterteilung der Teile bezeugt, sondern auch die Zunahme in Zuwachs und Nachlassen der Bewegung bei gleichzeitiger Realisierung der Krafterhaltung. Die Falten-Materie ist eine Zeit-Materie, deren Phänomene wie die kontinuierliche Entladung ›von unendlich

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vielen Windmühlen‹ sind. Und auch da ahnt man noch die Affinität der Materie mit dem Leben, insofern eine fast muskuläre Konzeption der Materie überall Spannkraft setzt.« 50

Jedoch sind die Kräfte der oder in der Materie immer nur abgeleitete, sekundäre, wie Leibniz sagt, oder anders ausgedrückt: Wenn es immer nur äußere Wirkungen gibt und die Teilbarkeit in infinitum, die Virtualität einer unendlichen Teilbarkeit, ist kein Subjekt der Kraftwirkung auszumachen. Es gibt kein Wirkendes in der Materie, so wie es keine Extension der Seele gibt. Wenn der Tumult, die sich überschlagenden Wandlungen und Bewegungen der Welt das erste sind, mit dem wir konfrontiert sind, der Lärm, der Wind, der Lufthauch, der uns berührt, das Licht, das uns blendet, so ist es auch für den Philosophen die Bewegung, die er als Grundlage des Geschehens annehmen muss – die an ihn rührt, ihn berührt, die ihn mitreißt, aber der Form muss eine Wirkung vorangehen, der Wirkung wieder eine Form, der sie entspringt usw. »Bewegung (wie auch Zeit) existiert niemals, wenn man die Sache ganz exakt beurteilt, da sie niemals als Ganzes existiert, weil sie keine koexistierenden Teile hat. Und daher ist nichts in ihr real, außer jenes Momentane, das in einer zur Veränderung drängenden Kraft bestehen muß.«51 Das bedeutet, die Materie fordert einen Ursprung der Kraft, oder: eine ursprüngliche Kraft, ein Kraft-Innen, ein Prinzip der Wirkungen selbst, der Faltungen, denen sie ständig unterworfen ist, den Gebirgsbildungen, Zellteilungen, den Wellenschlägen und Windstößen, sie braucht Pulsschlag, Kreislauf, sie braucht ein Herz, oder eine ursprünglich-einheitliche Seele, eine nicht ganz platonische Idee, die ihr vielleicht nicht nur Impuls, sondern auch Richtung gibt. Und das ist die wechselseitige Forderung, das diametrale Bedürfnis: Ähnlich dem Postulat eines ganz anderen Systems, in dem die Anschauung ihren Begriff, der Gedanke seinen Inhalt fordert52, bedarf die orientierungslose Materie ihrer Richtung, die schwebende Seele ihres Körpers, sie braucht den Körper als jenen Bezirk, jenes Areal der Welt, das sie klar und deutlich ausdrückt, das sie besetzt, das sie inkorporiert. Es ist das Problem der realen Unterscheidung oder der Analyse per se: Wenn Aristoteles dýnamis und enérgeia gesondert betrachtet, Spinoza die Idee oder den Körper auseinandersetzt, wenn Kant erst Ästhetik, dann Logik, Anschauung und Begriff untersucht, oder eben Leibniz die Materie und die Seele, dann suggeriert die Bewegung eine Spaltung oder Unüberwindbarkeit der Extrema, eine Differenz, die die Gefahr einer Transzendenz, Weltenteilung, Substanzenpolarität birgt, die nicht besagt, dass die Welt in Differentialverhältnisse pulverisiert, gestreut ist, sondern vermuten lässt, dass es eine Welt der 50 | Ebd. 17. 51 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum I, 5. 52 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 75, A 51; Werkausgabe III, 98.

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Seelen und eine der Körper, eine der Anschauungen und eine des Verstandes gibt, sie suggeriert nicht Unterscheidbarkeit, sondern Unvereinbarkeit. Und eben darum die Suche nach dem Begriff, das ewige Streben nach und Arbeiten am Begriff des Philosophen, an seinem Lebenswerk, an seinem Meisterstück: Die Analyse markiert nur die differentiellen Momente, die Konstituenzien, die den Begriff auskleiden, die Drapierungen, der Begriff selbst aber schließt die Momente zusammen: Materie und Seele sind keine gesonderten Existenzen, sie sind in ihrer gegenseitigen Forderung, in ihrem Bedürfnis miteinander verbunden. Wenn die Seele die ganze Welt ausdrückt, indem sie sie einschließt und einen bestimmten Bezirk, ein Areal, eine Sequenz der unendlichen Inflexionsreihe für sich behauptet, dann fällt dieses Gebiet mit ihrem Körper zusammen, dann ist das in ausgezeichneter Weise ihr Körper. »1) Jede Monade kondensiert eine gewisse Zahl singulärer, unkörperlicher, idealer Ereignisse, die noch keine Körper ins Spiel bringen, obwohl man sie nur in der Form ›Cäsar überschreitet den Rubikon, er wird durch Brutus ermordet…‹ aussagen kann. 2) Diese in der Monade als ursprüngliche Prädikate eingeschlossenen singulären Ereignisse konstituieren das Gebiet des klaren und deutlichen Ausdrucks oder ihren ›Bezirk‹. 3) Sie beziehen sich notwendigerweise auf einen Körper, der dieser Monade angehört, und verkörpern sich in den unmittelbar auf sie einwirkenden Körpern. Kurz, eben weil jede Monade ein klares Gebiet hat, muß sie einen Körper haben, wobei dieses Gebiet ein Verhältnis mit dem Körper konstituiert – kein gegebenes Verhältnis, sondern ein genetisches, das sein eigenes ›relatum‹ mit sich bringt.« 53

5 S EELEN Die Seele schließt die Ereignisse ein, die der Körper und sie selbst durchlaufen. Sie kompliziert die Prozesse, die der Körper expliziert oder entfaltet, und die Graustufen der Hell-Dunkel-Differenz sind die Aura des Körpers, das Umfeld, sind Zukunft und Vergangenheit, die Inflexion, die Krümmung der RaumZeit. Wenn Cäsar den Rubikon überschreitet, sind der Fluss, der Würfel, das Pferd, die Legion herausragend, klar, Brutus ist düster, der Dolch verschwommen, aber dennoch präsent in der Kette der Ereignisse. Cäsar ist Monade, ist Seele und Körper und ist zugleich unendlich viele Seelen und ebenso viele Körper, und die Bewegungen des Pferdes, der Druck, den Cäsar auf das Pferd ausübt, der Fluss, der Ausspruch, die Muskelbewegungen seiner Zunge sind Ereignisse, Ereignis über Ereignis, die alle in Zusammenhang miteinander stehen, sind Kurven, unendliche Reihen, die einander berühren, und in jeder 53 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 140.

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Seele tritt ein anderer Aspekt desselben Ereignisses klarer hervor, oder anders: Jede Monade drückt die Welt ihrem Körper gemäß aus und gemäß den Wirkungen anderer Körper auf sie. Sie ist die Seeleneinheit, die immer einen Körper hat, und es gibt keinen Körper ohne Seele. Die Bewegungen in der Seele sind die Differentialfunktionen der Perzeption, die Bewegungen der Körper sind Kausalrelationen, Ursache und Wirkung, die nicht ident mit jenen der Psyche, ihnen aber zum Verwechseln ähnlich sind durch das Nahverhältnis, die enge Beziehung zueinander, indem sie beide dieselbe Welt zum Ausdruck bringen. Noch weiter: Die Monade ist als reine Singularität, Einheit, Unteilbarkeit, Substanz in bestimmter Weise, selbst Abstraktion oder Ausgrenzung, denn auf Grund ihrer eigenen Konstitution, ihrer Anforderungen oder Bedürfnisse ist sie als absolut Einzelnes gar nicht vorstellbar: entweder eine und nur eine Substanz, in der alles zusammenläuft, kulminiert, auf die alles als sie ausdrückend bezogen ist, oder die Substanzen als unendliche Vielheit, die jede für sich die ganze Welt ausdrücken und in sich schließen. Mit Leibniz dürfte man streng genommen nur von der Vielzahl der Monaden sprechen, denn die Monade selbst hat keine Teile, wohl aber ist sie ein Spiegel der Welt, die selbst bis ins Unendliche teilbar, unterteilbar ist, in ihre Ereignisse, ihre Geschichte, und gesetzt, man spräche von einem Erfordernis der Welt: dann wäre es die Pluralität der Monaden, die Pluralität der Kräfte, der Appetitionen oder der Willen, denn wenn es die Monade ist, die das Organisationprinzip in sich trägt als das Gebot der Einheit, so ist die Vielheit das Prinzip der Organisation – es gibt kein davor und kein danach: keine Materiehaufen, die sich auf Befehl und Anweisung organisieren, sondern sie sind immer schon organisiert und keine frei schwebenden Seelen, denen per Zufall ein Körper zukommt. Sie haben immer schon, besitzen immer schon einen Körper, ein Areal ihres Ausdrucks, ihrer klaren Perzeption, die sich verlängert in die Perzeptionen anderer Monaden, die sich fortsetzt und fortspinnt. Die Monaden sind ewig, und es ist immer eine Frage der Zusammensetzung, der Organisation, eine Frage nach dem Wie und dem Wozu der Organisation, Ursachenfragen sowohl des Zwecks als auch der Bewegung. Sie sind die ursprünglichen Kräfte und markieren als Kraft-Ausdrücke die Körper – die Körperseelen sind die eigentlich bewegten, und es ist das Wirken von Monade auf Monade, wodurch Spannung entsteht, Spannungsverhältnisse entstehen, die sich ständig ändern, wie sich die Materie, die belebte Materie ständig verändert, transformiert, wie sich die Körper ständig in Formation befinden, nicht durch Geburt und Tod, Leben und Sterben, sondern den ständigen Wechsel ihrer Zusammensetzung. »Sie [sc. Die Seele] behält immer, sogar im Tode, einen organisierten Körper, der Teil des vorangehenden ist, obwohl das, was sie bewahrt, stets Gegenstand einer unmerklichen

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Auflösung und Wiederherstellung ist und sogar zu bestimmten Zeiten eine große Veränderung erleidet. So gibt es statt Seelenwanderung eine Umformung, Einwicklung und Entwicklung und schließlich einen Fluß des Körpers dieser Seele.« 54

Die Welt selbst hat also zwei Ebenen, zwei Aspekte, die Gleichung der Welt ist dual: Sie ist ein großes Gebäude, die große Stadt der unendlich vielen, zweistöckigen Häuser, in deren einem Stockwerk die Materie gedacht oder vorgestellt werden muss als das wilde Treiben der Formen, die obere Etage aber als der Vektor der Formation, als der Antrieb der Organisation. Es gibt nicht das lose Materieteilchen und nicht die entwichene, losgelöste Seele. Die Seelen selbst sind untereinander organisiert, nicht, indem sie ineinandergreifen, übergreifen, sondern indem sie in sich den klaren Bereich der anderen mittragen, mitführen nach einer Ordnung der Kompossibilität 55, und die Graduierung der Seelen untereinander ist so unendlich, wie die Reihen der Welt, die sie einschließen. Die Monade Cäsar reguliert so eine Komposition der untergeordneten, weniger klaren Monaden, eine Komposition ihrer Bestandteile, der Fuß- und Handmonade, der Augenmonaden usw., die wieder eine Vielzahl anderer Monaden unter sich haben, jedoch sind sie alle Formen, und zwar absolute Einheitsformen, die als Körper sehr wohl aufeinander wirken und einander beeinflussen, aber der Körper, das Korpuskel, der kleinste Teil im Körper könnte gar kein Teil sein, wenn er nicht selbst schon Form und Information wäre, die er durch seine wahre Form56, seine Seeleneinheit ist. Die Substanzen sind vertikale Positionen, die die horizontale Ausdehnung zusammenschließen, die das Treiben der Elektronen organisieren, die die Körperwelt oder die untere Etage überfliegen und darin mit ihr das Haus eines wahren Körpers bilden. »Meine Augen würden auf ein drittes Auge verweisen, und dieses auf ein viertes, wenn eine absolute Form nicht in der Lage wäre, sich selbst zu sehen und dadurch an allen Orten ihres Bereichs, an denen sie sich gleichzeitig befindet, alle Einzelheiten: nicht lokalisierbare Verbindungen. Diese wahren Formen heißen nicht nur lebende Organismen, sondern physiko-chemische Partikel, Moleküle, Atome, Photone, immer wo es bezeichenbare individuelle Seiende gibt, die sich nicht mit dem Funktionieren begnügen, sondern sich unablässig ›bilden‹.« 57 54 | Gottfried Wilhelm Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand I, Philosophische Schriften 3.1, 399. 55 | Vgl. z.B. Louis Couturat, Über Leibniz ’ Metaphysik, oder: Martial Gueroult, Die Konstitution der Substanz, beide in: Leibniz ’ Logik und Metaphysik, 64 bzw. 493ff. 56 | Vgl. Aristoteles, Über die Seele Ǻ, 1-2, 412 a1ff, 59ff, oder: Jean-Luc Nancy, Corpus, 112ff. 57 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 167.

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Sie bilden sich und sind in ihrer Bildung selbstbezüglich, strahlend, von der oberen Etage nach innen oder nur innen strahlend, selbstbeleuchtend, auf der unteren nach außen, auf anderes – die Monade, die Körper-Form hat Strahlkraft, eine Aura des Lebendigen, und es stellt sich keine Frage nach einem Vitalismus, obwohl die innerliche Vielfalt der Formen dem Unterschied zwischen dem Organischen und dem Anorganischen Rechnung trägt. »In jedem Fall sind die wahren oder absoluten Formen ursprüngliche Kräfte, wesentlich individuelle und tätige erste Einheiten, die ein Virtuelles oder Potentielles aktualisieren und die eine mit der anderen zusammenstimmen, ohne sich nacheinander zu bestimmen.«58 Die Vorstellung einer klaren Trennung zwischen organisch und anorganisch muss der Relativität einer Schattierung weichen, einem analogen Stufendenken, der Idee einer graduellen Differenz, wie sie bei Spinoza das modale Wesen konstituiert – von der klaren Trennung zur Trennung der Klarheiten, der klaren Vorstellungen oder Perzeptionen in den Monaden, denn das Leben weitet sich aus bei Leibniz: zu viele Wunder, zu viel Magie, zu starkes Rauschen in der Welt, um eine Grenze ziehen zu können, zu viel Bewegung und Rumoren noch in den tiefsten Schichten, im Gestein, in der Erde, in den Wolken, im Staub. Die kleinste materiale Einheit gibt es de facto nicht, sie ist in infinitum teilbar, zusammengesetzt, zusammengeschweißt, innerlich vernetzt und sie hat eine Einheit in einer höheren Etage, eine Seeleneinheit, deren klare Perzeption vielleicht wirklich nur eine ist, tief schwebend über dem dunklen Grund, kaum unterscheidbar von den Tiefen des dunklen Universums, aber doch eine verschwommene, eingeengte, retardierte Perspektive: Das Staubkorn ist kein Azephale, es ist in seiner Aktivität nur unendlich eingeschränkt (wie gesagt: der leibnizsche Dynamismus kennt den Begriff der Ruhe nicht), seine Seele zusammengefaltet, die Inflexionen fast zur Gänze unter dem Sieb der Perzeptionen, aber es trägt dennoch virtuell die ganze Welt in sich, hat seine Perspektive, sein Areal, das es besetzt, und ist selbst nach zwei Vektoren beherrschend und untergeben, hat unter sich noch immer kleinere, schwächere Einheiten, ist andererseits Bestandteil einer größeren, mächtigeren. Die Welt der Monaden ist so eine prästabiliert harmonische൯൳, jedoch eine von Herrschaftsverhältnissen durchwachsene, geleitete, eine Welt der Machtverhältnisse. Die Harmonie ist vielseitig, besser zweiseitig, als sie zum einen 58 | Ebd. 167. 59 | Vgl. G.W.F. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, Werke 20, 254: »Diese Einheit, daß zusammenstimmt die Bestimmung des Willens des Menschen und die Veränderung, die er meint dadurch hervorzubringen, ist durch ein Anderes, nicht von außen; und dies Andere ist Gott, der diese Harmonie prästabiliert, – es ist dies die bekannte prästabilierte Harmonie. Indem eine Monade verändert wird, gehen in der

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auf die Monaden untereinander bezogen ist, womit nicht gesagt ist, dass es keinen Kampf, keine Machtwechsel oder Usurpationen gäbe, sondern dass nicht eine Perspektive von zwei Monaden gleichzeitig eingenommen werden kann – das ist der Grundsatz der absoluten Seelen-Individualität. Im weiteren ist es aber das Zusammen der real Unterschiedenen, die dimensionale Harmonie, die Untrennbarkeit der Monade von ihrem Körper und vice versa, denn obwohl die Seele nicht auf die Gesetze der Körper wirken und die Körper nicht in die Seelen eindringen können, ist die Verbindung notwendig, ist das Miteinander der Ähnlichkeit eine Forderung sowohl des Körpers wie der Seele, die reale Unterscheidung eine analytische, ein Prozess des Sezierens, Auseinandernehmens, eine Untersuchung. Jeder Körper ist unendlich viele Körper, jede reale Erscheinung eine unendliche Vielfalt an Körpermonaden, eine Organisationen-Organisation, die die Welt in ihrer Veränderlichkeit ausdrückt, oder in ihrem Ausdrücken die reale Welt konstituiert – denn die Seele hat die ganze Welt in sich und aktualisiert sie permanent, macht sie wirkend oder wirklich, und dieser Prozess wird von jeder Körper-Seele vollzogen: »Man sieht also, daß die Leibnizsche Theorie der Zugehörigkeit eine fundamentale Umkehrung vornimmt, die sie immer wieder von neuem in Gang setzt: man muß die Monaden, die einen Körper haben, denen ein Körper gehört, von den Monaden unterscheiden, die spezifische Erfordernisse dieses Körpers sind oder die zu Teilen dieses Körpers gehören. Und diese zweiten Monaden, die Monaden des Körpers haben selbst wieder einen Körper, der ihnen gehört, einen spezifisch anderen als den, dessen Erfordernisse sie sind, und seine Teile besitzen ihrerseits eine Menge von dritten Monaden.« 60

Jeder Körper ist so eine Organisation oder ein Herrschaftsgebilde61, wie es Nietzsche formulieren wird, und die Macht des Körpers vergrößert oder verkleinert sich je nach der Intensität oder Komplexität seiner Organisation. Wenn die materialen, die extensiven Bewegungen in der Seele widergespiegelt sind, ähnliche, gleichzeitige Bewegungen in der Seele als dimensionales Korrelat haben, so verhält es sich umgekehrt mit der Bewegung, der Faltungsbewegung in der Seele, die eine Willensbewegung ist, ein Streben, denn: Jede Monade ist ursprüngliche Kraft, ist eine Kraft-Einheit, ein Zusammenschluss, der zwar nicht geteilt werden kann, aber trotzdem Innerlichkeit hat, Innerlichkeit ist, und dieses Innen ist das permanente Fortschreiten von Perzeption zu Perzeption, von Zustand zu Zustand, die unentwegte Zustandsänderung als Wille, der nicht als Korrelat anhaftet, sondern der die Monade ist als Kraftzentrum. So anderen Monade Veränderungen vor, die jenem entsprechen; dies Entsprechen ist Harmonie und durch Gott gesetzt.« 60 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 176. 61 | Vgl. z. B. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 5 [61], KSA 12, 208.

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ist die Aktualisierung der Welt in der Monade und die Realisierung der Welt in den Körpern die Inkorporation der Kraft selbst als der Kräfterelationen, das aufeinander Wirken der Körperseelen. Die Kraft ist Leibniz’ ständiger Begleiter auf seinem Weg, das Wesen der Seelen-Einheit zu erarbeiten, in seinen Begriff zu drängen, und sie bleibt ständig das Movens seiner Philosophie. In ihr vereinigen sich die scheinbar getrennten Sphären des Körperlichen und Seelischen. Die abgeleitete ist nicht wesenhaft von der ursprünglichen Kraft unterschieden, sie bilden beide die Einheit der Erscheinung, die immer etwas will, die ihre inneren und äußeren Faltungsmechanismen, Faltungsdifferentiale durchlaufen, durchdringen will. Der Körper gehört der Monade, die Form dem Körper, und die wahre wird zur wirklichen, zur wirkenden Form: Mein Körper hat seine veränderliche Form, hat eine relative Konstanz in seiner Form durch den ständigen Fluss, den ständigen Austausch kleinerer Körper, die unter einem Organisationsprinzip stehen: Meine Hand ist beseelt, ebenso, wie die unzähligen Blutkörperchen, die im Kreislauf Sauerstoff transportieren, dessen Molekül selbst wiederum Einheiten hat, zusammenschließt, aufnimmt und abstößt, und hinter jeder Einheit steckt ein unglaubliches Treiben, ein Kampf, ein Wechsel, ein ebenso dichter Nebel, wie ihn die kleinen Perzeptionen in der Monade erzeugen. Die Welt ist in der Monade projiziert, das reale Ereignis eine Aktualisierung der Monade als Realisation ihrer Körpervermögen, die herrschende Monade, die ich bin – und nicht einmal sie muss immer die herrschende sein – braucht ihren Stab an Untergebenen, die es ihr ermöglichen, einen gewissen Bereich der Welt als klar zu perzipieren, ein gewisses klares Areal zu sein. »Ein spezifischer Körper gehört zu meiner Monade, allerdings soweit meine Monade diejenigen beherrscht, die zu den Teilen meines Körpers gehören. Der Ausdruck, als Chiffre der Entsprechungen, steigert sich zur Herrschaft als Chiffre der Zugehörigkeiten; jede Monade drückt die ganze Welt aus und daher alle anderen Monaden, allerdings unter einem Gesichtspunkt, der jede mit einigen anderen, von ihnen beherrschten oder sie beherrschenden, enger verbindet.« 62

In dieser Hinsicht dringt Leibniz weiter als Spinoza in die Interpretation der Welt als ständigen Fluxus von Machtrelationen: Die absolute Einheit ist ursprüngliche Kraft, und es gibt die Kraft nur analytisch als Singularität, denn real ist die Kraft immer als Vielheit von Kräften63 zu begreifen: Sie ist zugleich Prinzip der Einheit als einhüllende Seele, als die körperlose Schwebe, die die ganze Welt zusammenschließt und in sich trägt, und sie ist Prinzip der wirkenden Differenz, der realen Auf- und Einfaltungen der Körper. Sie ist das Wir62 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 179. 63 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 34 [123], KSA 11, 461ff.

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kungsmoment per se, das genetische Element, Kräfte über Kräfte, sie durchzieht die Faltungen in der Seele als conatus, appetitus, Drang, Wille, sie umgibt alle Körperfalten, alle Gesteinsschichten, Meereswellen, alle Fasern und alle Stränge. Es sind immer Konzentrationen, Quantitäten als Kraftäußerungen, die von einer inneren Qualität reguliert, gerichtet werden, sie sind immer vektoriell, strebend, auf etwas gerichtet, und sie sind immer untrennbar von den jeweiligen Herrschaftsgebilden, die sie mittragen, konstituieren oder dominieren. Auch wenn die Prioritäten andere, die Vorgangsweisen unterschiedlich sein mögen, so ist es doch eine Reinkarnation der aristotelischen ousía, der Entelechie, die das Werk von Leibniz und Spinoza verbindet, die sie auf diametrale Weise annähert, die aus ihrer Differenz eine neue Optik auf das Wesen des aristotelischen Gedankens erstehen lässt, ohne ein Epigonentum zu suggerieren, sondern vielmehr die basale Tendenz des philosophischen Schaffens markiert als die Arbeit am und im Begriff. Die Substanz ist das, oder zumindest eines der großen Worte der Philosophie, so unhandlich und weit, unübersichtlich, schwer, vielseitig – so kraftvoll. Aber ein großer Gedanke braucht einen starken Begriff, ein großes Projekt eine weite Ebene, braucht Platz, Raum, ein Atelier mit vielen Fenstern, durch die Licht und Inspiration strömen, braucht Zeit und Muße, Genauigkeit, Gegnerschaft, Angst und Verzweiflung. Die Ebene ist klar, es gibt keine Spezifika, keinen Teilaspekt, man plant Großes, man nimmt alles mit in die Neubestimmung des Begriffs, es gibt die strikte Trennung zwischen der Immanenzebene und ihren Elaboraten, ihren singulären Verschränkungen nur verschwommen, es ist ein Panoptikum des Philosophen, ein Rauschzustand, eine dionysische Verzückung, in der er eins werden möchte mit seiner Immanenzebene, seinem Bild des Denkens und seiner Welt, eine Ekstase des Begriffs, in der versucht wird, hinauszugreifen, den Boden noch mithineinzuziehen in die Grenzen, in den Einschluss, sich selbst miteinzuschreiben als Ereignis der Welt. Spinoza dehnt die Substanz, er glaubt an die Ewigkeit der Natur, ist bezaubert und verzückt vom Unendlichen, und Gott kann nicht mehr sein als das Ewige und Unendliche: Gott ist die Natur, und es kann nur eine, nur einen geben – es entzieht sich unserer Vorstellungskraft, aber anhand der Attribute, die unser Verstand einzusehen vermag, anhand der ersten Unendlichen, zu denen wir vordringen können, an denen wir selbst Anteil haben, müssen wir fordern, dass es noch eine Vielzahl anderer Attribute gibt, denn es geht um die Vollkommenheit. Die unendliche Attribution ist ein Postulat, ein Zeichen unserer Devotion, und das ganze Geschehen ist umhüllt, ummantelt, umgeben vom Hauch des Göttlichen. Leibniz komprimiert, das Große wird unendlich klein, ungreif bar, die Substanz wird immateriell, von aller Prädikation des Extensiven befreit, unteilbar, ungreif bar, wird auf eine andere Etage gehoben, aber überall tobt der Kampf mit den Extrema, der Kampf um die Einheit von Kör-

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per und Geist. Er wird unterschiedlich ausgetragen, mit verschiedenen Waffen gekämpft, aber in Wahrheit ist dieser Kampf das treibende Moment, die Aufbruchsstimmung: Wir wollen diese Vereinigung, wir wollen die ursprüngliche Einheit, und wir müssen analysieren, differenzieren, auseinanderhalten, um eine Basis zu schaffen, auf der diese Forderung ein Recht hat.

6 M ASKEN Man ist getrieben und geleitet von diesem Willen nach dem Einheitsmoment, nach der Berechtigung, zu sagen, dass es Körperformen gibt, dass jeder Modus Geist und Körper ist, dass jede Monade eine Körperseele ist, denn man will den Körper und man will den Geist – man will nichts hergeben. Es ist mein Körper, mein Geist, es gehört zu mir, macht mich aus, es ist mein Wesen, Körper-Geist zu sein, und es ist ein Wille da, diese Existenz zu manifestieren, eine treibende Kraft. Und eben diese Kraft treibt die Substanz ins unendlich Große ebenso, wie ins unendlich Kleine, sie definiert sich selbst als Ausdruck der Macht Gottes, als ursprüngliche Kraft, sie schreibt sich gewissermaßen ihre Konstituenzien selbst zu: die Philosophen nehmen sich mit in ihren Begriff und fühlen selbst das Moment, das sie antreibt, das sie zu dem werden lässt, was sie sind, und die Kraft wird mehr und mehr zu einem ähnlich dominanten Begriff wie die Substanz, die Form. Die Form wird immer weiter bewegt, zentripetal auf der einen, zentrifugal auf der anderen Etage, aber immer mehr Bewegung und Unruhe, die Einheit wird gesprengt, es gibt immer nur Vielheiten, Differenzen, Texturen, aber die Organisation der Natur, dessen, was uns am nächsten ist, der eigene Körper, die eigenen Fähigkeiten, verweisen uns auf die Notwendigkeit der Ordnung zwischen den Ungleichen, die somit immer nur eine Ordnung der Dominanz, ein Machtgefüge sein kann. Der Modus ist Zustand der Substanz, Modifikation der Welt und ihrer gesamten Geschichte, er kompliziert die Verkettung oder das Miteinander von Raum, Zeit, Denken, Ausdehnung, Vergangenheit, Zukunft in einem Ereignis, er wirkt, die Monade ist ursprüngliche Kraft, sie kompliziert andere Monaden, wirkt, aktualisiert, realisiert die Welt. »Wir glauben, daß die Terme ›Zustand‹, ›Modifikation‹, nicht im Sinne des Prädikats verstanden werden dürfen, sondern als (öffentlicher) Aspekt.«64 Und diese Aspekte des Öffentlichen sind Äußerungen, Ausdrücke ihrer selbst, sind Formationen von Gefügen und als Gefüge Repräsentanten ihres eigenen Status im Gesamtgefüge, sie sind ein bestimmtes Quantum Macht, ein Quantum

64 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 191.

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Kraft65, die nicht aufhören, zu wirken, die dem ewigen Schaffens- und Zerfallsprozess angehören, die gemeinsam ein Gesamt konstituieren, das sich erhält, das sich in seiner Erhaltung innerlich bewegt, sich selbst iteriert. Die abgeleiteten Kräfte, von denen Leibniz spricht, die Kräfte der Natur, sind im Prinzip nichts anderes als die ursprünglichen, sie unterscheiden sich nur durch Begrenzung, durch Aspekte. In Wirklichkeit, im Wirken gibt es die Kraft gar nicht ohne Begrenzung, die ursprüngliche Kraft gar nicht ohne Körper. »Die ursprünglichen Kräfte sind Monaden oder Substanzen an sich und durch sich. Die abgeleiteten sind dieselben, aber unter einem vinculum, oder auch im Augenblick: in einem Fall werden sie als Menge genommen und werden plastisch, im anderen Fall werden sie als Haufen genommen und werden elastisch, da es die Haufen sind, die in jedem Augenblick sich verändern (sie gehen nicht ohne eine Rekonstitution von einem Augenblick zum anderen über). Die abgeleitete Kraft ist weder Substanz noch Prädikat, sondern mehrere Substanzen, weil sie nur als Menge oder Haufen existiert.« 66

Die Substanz ist zwar das Prinzip der Einheit als Prinzip des Ein- und Zusammenschlusses, der absoluten Innerlichkeit, jedoch entfernt sich Leibniz in seinem Postulat der körperlichen Wirklichkeit oder der Verwirklichung der Welt in den Körpern von der Vorstellung einer absoluten Einheit überhaupt, oder besser: Er hat diese Vorstellung zu keinem Zeitpunkt seiner Entwicklung der Substanz, und es wird immer klarer, dass es die Substanz, die Einheit immer nur als Vielheit, als unendlich viele geben kann. Die Einheit schließt damit wesenhaft die Vielheit in sich, sie ist als Einschluss das Eine, aber in ihrem EinsSein immer unter vielen – individualisiert, aber nicht separiert. Bei Spinoza drückt sich die eine Substanz in der Vielheit ihrer Zustände aus, bei Leibniz ist die Substanz in sich, kann aber nur gemeinsam mit anderen, unendlich vielen Seeleneinheiten sein. So ist der Zusammenschluss oder Einschluss kein Produkt, keine strenge Teleologie, die ein reales Ziel, eine Stasis in ihrem Fortschritt hat, sondern ein Prozess, der immer wieder von neuem beginnt, ein Wiederholungsprinzip, ein Gebot oder Appell. Es ist die eine Seite eines dichotomischen Verhältnisses und zugleich die eine Seite des Organischen oder des Organisationsprinzips. Die obere Etage ist der Ruf der Seele nach Einheit, während in der anderen das Treiben der auseinanderstrebenden Kräfte herrscht und waltet, und nur im Zusammenspiel, in der Harmonie beider Ebenen, ist tatsächlich die Wiederholung und immer wieder auftretende Wiederholung des organischen Prin65 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 13, KSA 5, 279: »Ein Quantum Kraft ist ein eben solches Quantum Trieb, Wille, Wirken – vielmehr, es ist gar nichts anderes als eben dieses Treiben, Wollen, Wirken […].« 66 | Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 191.

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zips möglich, eine ständige Erneuerung, ständiger Wechsel und Austausch, ständige Konfiguration. Friedrich Kaulbach versucht diese entgegengesetzten Tendenzen, die Spannung, zu interpretieren: »Als einigende Kraft wirkt die Monade einerseits zusammenfassend, gestaltend und das Viele um ein Zentrum kristallisierend: andererseits aber wirkt sich in ihr das dazu entgegengesetzte Motiv aus, jede Bestimmtheit aufzulösen, über sie hinauszugehen, jede Endlichkeit zu verneinen, um das Ganze als Unbegrenztes, Unendliches, nicht Fixiertes denken zu können.« 67

Aber man darf auch diese Aufspaltung der Bewegungsrichtungen, die Dichotomie der Vektoren nicht missdeuten, etwa in der Annahme, der Körper wäre die Tendenz zur Zerstörung aller Einheit, eine selbstzerstörerische Einladung zur Enthauptung, sondern gerade weil im monadologischen Gedanken der Zwiespalt mitspielt, mitgedacht wird, ist er so eine treffende Annäherung an einen Begriff des Lebens überhaupt: Der Körper braucht seine permanente Zerstörung, den unentwegten Umbruch in sich selbst, den Tod seiner Teile, seine Exkremente, das Abstoßen alter Zellen, Zellverbände, ganzer Zellschichten; er trägt in sich unendlich viele Senfkörner, die seinetwegen sterben müssen, damit er weiterleben kann. Der organische Prozess ist im Grunde auch ein durchgängiger Auflösungsprozess, ist viele, viele Scheintode, viele Rückfaltungen von Monaden, viele Perzeptionsverdunkelungen, er ist in seinem Prozess permanent in Auflösung begriffen und verliert sich dennoch nicht, eben durch die Einheitsstiftung der übergeordneten Monade, der vernünftigen Monade, die nicht nur »ich« sagt, sondern die das Ich macht, die reguliert. Sie ist nicht der eine Geist, die Vernunft der Kategorien, sondern vielmehr eine Vernunft des Leibes, ein mächtiges, herrschendes, bestimmendes Instanzenorgan, ein mitleidloser Regent, der den Tod vieler Untergebener opfert, um sich selbst zu erhalten, um selbst mehr zu werden, jedoch sterben die Monaden nicht, sondern treten lediglich in ein anderes Stadium, in einen anderen Zustand, ein anderes Perzeptionsverhältnis68. Vielleicht liegt darin der Vorteil von Leibniz gegenüber Spinoza: Indem er von der individuellen Substanz ausgeht, läuft er nicht Gefahr, sich im Großen, in der unendlichen Weite der göttlichen Natur zu verlieren. Sein Begriff geht auf das Procedere des Singulären, auf das differentielle Procedere, insofern jede Singularität ein Prozess ist, eine Anti- oder Ekstase, ein Ausgreifen oder Hinausgreifen aus der eigenen Form. Die Erscheinung ist Formung, ist ein 67 | Friedrich Kaulbach, Nietzsche und der monadologische Gedanke, in: Nietzsche Studien, Bd. 8, 131. 68 | Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz, Neues System 7, Philosophische Schriften 1, 209f.

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Organismus, eine Vielheit, sie kann gar nicht anders sein, und dieses Prinzip einer Form als Maske, als Schein, scheinbare Einheit, ist womöglich eher zu finden, wenn man die Einheitsstiftung als generelle, substantielle, aber immer plurale Doktrin annimmt, wenn man vom Seienden zum Sein, und nicht umgekehrt vorgeht. Spinoza ist der Denker der Immanenz, der Ebene, er bestellt den Boden für das Große, er denkt in der Substanz die reine aristotelische enérgeia, die göttliche Allmacht und lässt alles nicht nur teilhaben, sondern in und durch die Substanz sein – Leibniz ist als Denker der Einheit der Denker der Differenz, der substantiellen Differenz in seiner Bestimmung des Einschlusses und der Entfaltung, er ist der Denker vieler Seelen, die Willen sind, die Körper haben, denkt die vielen Körper als Organisationen, die immer beseelt sind, die als einheitliche Erscheinung durch ein einheitsstiftendes Prinzip sie selbst sind, die als Momentaufnahmen eher Masken, eher scheinbare als fixe Phänomene sind. Die wahren Formen sind durchwaltet von einer Dichotomie, sie unterliegen einer gewissen Unschärfe, drücken die Unschärfe aus, sie sind da und nicht da, sind Bewegung, Maske, Trugbild. »Das Trugbild ist der wahre Charakter oder die Form dessen, was ist – des ›Seienden‹ –, wenn die ewige Wiederkunft die Macht des Seins (das Formlose) ist. Wenn die Identität der Dinge aufgelöst ist, entweicht das Sein, erlangt es Univozität und beginnt das Differente zu umkreisen. Was ist oder wiederkehrt, besitzt keine vorgängige oder konstituierte Identität: Das Ding ist zur Differenz verdammt, durch die es zerteilt wird, und zu allen in dieser implizierten Differenzen, die es durchläuft.« 69

Dieses Durchlaufen der eigenen Differenzen aber ist der Aktualisierungsprozess der Monade, der Realisierungsprozess der Körper, kurz: das wirkliche Sein oder in-der-Welt-Sein der wahren Formen als Schein und Erscheinung, als die permanente Reproduktion ihrer selbst, als die permanente Auflösung und Erhaltung, und im Großen als das Spiel der Formen überhaupt, die wie Blitze, kurzes Lichtflackern erscheinen und wieder vergehen, wie die Perzeptionen in der Monade, die aber nicht untergehen, sondern nur unter die Oberfläche, unter das Sieb der Aussonderung und Besonderung. Die Monaden sterben nicht, sie ändern ihren Zustand und sie sind Künstler der Veränderung und des Wechsels, sie sind Akteure der antiken Tragödie, Seiltänzer zwischen den apollinischen und dionysischen Extrema. Das ist ein Schritt, den Leibniz vielleicht nicht ganz bewusst, aber dennoch vollzogen hat; er denkt die Differenz der singulären Erscheinung als Bedingung ihres Anwesens, ihres Daseins, bestimmt die Einheit als reale Pluralität, erkennt die ganze Welt von einer unendlichen Falte durchzogen und zugleich eingehüllt 69 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 95.

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in unendlich viele Faltungen, als unendlich viele Faltungen, die sich bewegen und beziehen. Das Verhältnis von Leibniz und Spinoza ist kein harmonisches, es besteht trotz zeitlicher Nähe kein unbedingter Bezug, dennoch Wertschätzung, Hochachtung Leibnizens gegenüber dem spinozistischen System, Kenntnis der Grundsätze 70, Ansätze von Kritik, etc. Gleichwohl tut es nichts zur Sache, es sind eigenständige Philosophien, sie bringen eigenständige Begriffe hervor, ihr ganzes Leben ist der Arbeit am Begriff verschrieben und unterstellt, und es sind mächtige Begriffe der Neuzeit, die sich hier und dort präsentieren, die sich erheben aus einem auf brechenden Europa, aus einem auf brechenden Geist, aus einer Stimmung, Leuchttürme, deren Strahlkraft bis in die Antike zurück-, bis in die Gegenwart vorreicht. Es geht weniger um Übereinstimmung und Disharmonie, als um die Intention und die Elemente des Begriffs, um die genetischen Strukturen, das Ahistorische, das aus dem Rahmen der Geschichte fällt, das Zeitlose, Geschichte-Schreibende, und das sind gleichsam Wesensmerkmale der großen Erschaffenen der Philosophie, ihrer großen Elaborate, ihrer Meisterwerke: die Wirkung auf die Zeit, gegen die Zeit, das Komprimieren, Komplizieren der Zeit und Überschreiten, das Aufleuchten des Ewigen und Unendlichen. Es sind die Elemente, die man mitnehmen darf, die es mitzunehmen gilt, die im genuinen Prozess der Philosophie weitergetragen werden müssen, Elemente der Differenz, der Spaltung, der Bewegung – gesetzt den Fall, man glaubt daran, gesetzt, man will die Differenz. Aber vielmehr will sich die Differenz selbst, vielmehr ist es der Wille zur Differenz, der lebensstiftende Wille, der sich weiterschreibt und beibehält, der sich maskiert und kostümiert, ein apersonaler Genius, das Rumoren der Erschaffung, das wilde Treiben, das hier und dort den Horizont bestimmt, dessen Verkleidungen man überführen kann, die man ein- und zuordnet, aber vielleicht ist der Wechsel der Masken selbst noch Teil der Differenz und Teil des Willens, Teil der Natur, Zug des Genies, das keine Fehler macht. »Seine Irrtümer geschehen willentlich und sind die Pforten der Entdeckung.« 71, könnte man mit Stephen Deadalus proklamieren, und wenn es eine Metaphysik der Präsenz gibt, wenn es die Geschichte der Metaphysik gibt, wenn es die Klassiker sind, die diese Geschichte schrei70 | Leibniz übernimmt teilweise die Diktion der spinozistischen Definitionen, etwa in Monadologie, § 44, Philosophische Schriften 1, 459: »Denn wenn es eine Realität in den Wesenheiten oder Möglichkeiten oder auch in den ewigen Wahrheiten gibt, so muß diese Realität in irgendetwas Existierendem oder Wirklichem (Aktuellem) und folglich in der Existenz des notwendigen Seienden gegründet sein, bei welchem das Wesen die Existenz einschließt [!] oder bei dem es genügt, möglich zu sein, um wirklich (aktuell) zu sein.« 71 | James Joyce, Ulysses, 260.

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ben, die Eckpfeiler, die großen, schweren Träger einer Brücke durch die Zeit, dann ist es ein Blick aus der Ferne, der urteilt, eine Geometrie vor dem Fraktal, die vermisst und beurteilt, denn man kann mit dem gleichen Recht die ousía, die Substanz oder die Monade als exklamatorische Fürsprachen der Differenz wahr- und aufnehmen, weiterführen, ihre Motive beibehalten, anderes verstoßen, abstoßen, wie es Brauch und Aufgabe der Philosophie ist. Sie ist eine Kunst des Schöpfens und des Zerstörens, sie hat nicht viele, sondern nur ein Bild, das sie immer wieder zerstört und neu erschafft, neu komponiert, neu zusammenfügt, sie vergisst und lernt, behält und verwirft, sie will ihre eigenen Begriffe immer wieder neu erfunden wissen, zermalmt, zertreten, in Elemente zerteilt. Man fällt immer wieder zurück auf den Boden der großen Ebene, man steht wieder und wieder vor der Unendlichkeit, vor dem düsteren, diffusen Sein, mit Fragen über Fragen, alleingelassen, entmutigt, aber man ist nicht allein, man soll etwas mitnehmen und fortspannen, sich verlängern, wie sich eine Monade in ihrem Einschluss der Welt hin zu den anderen Monaden verlängert. Merleau-Ponty schreibt diesbezüglich: » – aber gewisse Beschreibungen von Leibniz – nämlich daß jede Ansicht der Welt eine Welt für sich ist, daß dennoch ›das, was einer eigentümlich ist, allen öffentlich zugänglich ist‹, daß zwischen den Monaden untereinander und in ihrem Verhältnis zur Welt eine Ausdrucksbeziehung besteht, daß sie sich als Perspektiven untereinander und von der Welt unterscheiden – sind völlig beizubehalten, sie müssen auf dem Hintergrund des rohen Seins wiederaufgegriffen und vor der substanzialistischen und ontotheologischen Interpretation befreit werden, die Leibniz an ihnen vornimmt.«72

Es ist zulässig, einen Gedanken aufzunehmen, weiterzutragen, es steht eine Forderung dahinter, ein Aufruf, und es ist ein Wille, der seine eigene Pluralität auf immer unterschiedliche Weise, in immer verdeckter, maskierter Form zum Ausdruck bringt. Der Philosoph taucht ein, taucht ab in die große Welle der Immanenzebene, lässt sich mitreißen, von ihr forttragen, muss eindringen in das Allumfassende, das Gestalt- und Formlose, muss sein Bild des Denkens, seine Welt erforschen, die zugleich auch immer die Welt anderer, in anderen, für andere ist, und er will diese Bewegung. Er will ab und wieder auftauchen, er will Begriffe erschaffen, schöpfen – das ist seine Aufgabe, sein Ansinnen, seine Profession – er ist Architekt, Restaurateur, Animateur, Künstler der Einsamkeit, Künstler der Öffentlichkeit. Die Schöpfung der Begriffe zieht die Immanenzebene an, zieht sie in sich, will sie umgreifen. Der Begriff ist analytisch und synthetisch, er setzt ebenso zusammen, wie auseinander, er braucht beide Seiten und ist selbst ein Einschlussverfahren, das Einschließen der Auseinanderstrebenden, des diamet72 | Maurice Merleau-Ponty, Das Sichtbare und das Unsichtbare, 283.

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ral-vektoriellen Verhältnisses, etwa der Unendlichen von Denken und Ausdehnung, und er sucht seinen eigenen Zug, seine innere Falte, sein differentielles Moment, er will sein genetisches Element und findet überall Kraft, Kräfte, Streben, Begehren, Spannung, conatus, dýnamis, enérgeia, vis, entelécheia, etc. Der schöpferische Zug durchwaltet die Philosophie ebenso, wie die Welt, er ist grundlegend, prinzipiell, und er findet und erfindet sich scheinbar immer neu, setzt sich selbst immer neue Masken auf, camoufliert sich selbst, verspricht sich in seiner eigenen Sprache 73 an anderes, an weitere, spricht nach hinten und vorne, er zieht die Zeit zusammen und wird in diesem Sinne selbst Wortführer seiner eigenen Inkarnation, seiner Inkorporation. Er will sich selbst realisieren, zur Sprache bringen, er will als Zug des Lebens selbst Leben in der Differenz unendlich vieler Formen und Zeichen. Spinozas Substanz ist groß und ist der Versuch, jene Ebene, die Deleuze als Immanenzebene bezeichnet, in den Griff zu bekommen. Er bewegt sich auf und mit der Ebene, er lässt sie alles umgreifen und leitet die Kraft aus ihr ab, von ihr her. Leibniz setzt die Kraft als Ursprung des Individuellen, er lässt alles Kraft sein, lässt überall Kräfte walten, Kräfte des Lebens, Willen zum Leben, lebensbejahende Exklamationen noch aus den tiefsten und hintersten Winkeln des Universums – beide haben einen starken Willen, es steht der Anspruch eines starken Willens hinter beiden Philosophien, eines schaffenden, zeugenden Willens, der in Leibniz seine unendliche Vielfalt unterstreicht, seine prinzipielle Dichotomie, der in den Monaden das apollinisch-dionysische Theater, die Tragödie der Welt anklingen und auf blitzen lässt, Differenzen über Differenzen, der seine Affinität zur Macht, der sein Wesen als Macht konstituiert, und der in Spinoza seine Ebene präsentiert: Er will alles an sich, in sich ziehen, Magnetfeld des Willens und göttlicher Zirkel, der in der spinozistischen Substanz eine Ebene einführt, der nichts mehr entgeht, eine Ebene der Bewegung, der horizontalen Vektoren, ein Spielfeld der Kräfte, ein göttlicher Boden, auf dem der Wille das Tanzen lehrt…

73 | Vgl. Paul de Man, Allegories of Reading, 277.

Drittes Hauptstück Willen

Komplikationen 1 K ÜNSTE Aller Anfang ist Schwere – Gewicht und Bedeutung liegen noch vor dem Staunen, vor der Verwunderung1, das apokalyptische Wort ist die Metapher einer unendlichen Geschichte, eine archaische Trope im Inneren der Höhle, Kraft und Sinn sind nicht frei schwebend, sondern gebunden und gerichtet – man wird nicht in eine neue Welt geboren. Sie ist tief und alt, gewunden und verwundet, gezeichnet von Narben, Brüchen, Wucherungen, vor allem aber reich an Erfahrung, die sie archiviert und verarbeitet, die sie als Geheimnis hütet, verdeckt, verschleiert und mit ihr die Ereignisse nährt, die ihr in ihrer Prägnanz innewohnen. Am Anfang ist das Wort, schwer, gewichtig – aber man hadert mit dem Ursprünglichen, mit der Annahme eines Ausgangs; es wird zögernd, stockend übersetzt, das Wort, die Tat oder die Kraft, der Sinn2, der göttliche Sinn, als Hauch, als Ewigkeit, die Sinnzusammenhänge, die Richtungen, die Wegweiser des Sinns, eine Unendlichkeit der Kraft, eine Vielzahl an Kräften, ein wildes Treiben, das sich in seiner Offenbarung gar nicht als Anfang versteht. Eher als Verfügung, als Prinzip, eine arché als geschehens-logischer Zirkel, die sich über und vor alle, zumindest in das Zentrum aller Geschichte stellt, eine geordnete Unordnung, der Seele über Seele, Bewusstsein über Bewusstsein entspringt, ein gebärfreudiger und verschlingender Prozess, der sich der Philosophie aufdrängt, ihre Aufgabe ist, der sie hervorbringt, um sich selbst zu erkennen. Aber die Schwere ist drückend, die Eindrücke sind Prägungen, Präformationen, die Schwere der Sozialisation lastet als Notwendigkeit auf den Schultern jeder Perspektive, die das Licht der Welt erblickt – nichts ist frei und nichts ist alleine –, die archaische Trope ist immer schon die Unendlichkeit ihrer Subtropen, jede Existenz in ein subtropisches Klima geboren, geregelt, abgeleitet. Wir kennen kein Leben vor dem Sündenfall – kein proklamiertes Paradies ohne Erkenntnis. Die Regulation, der Zusammenhang und der Zerfall sind mehr 1 | Vgl. Platon, Theaitetos, 155 d3; oder Aristoteles, Met. ǹ 2, 982 b11. 2 | Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil, 36.

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als alles andere die Basis der Organisation, das organische Prinzip, sind Mechanismen und Schemata der Wertung. Wenn es kein Leben, keine Existenz, überhaupt nichts ohne den immanenten Grundsatz, das Mantra der Selbstformation gibt, wenn jede noch so kleine Einheit von einem inneren Moment des Strebens geleitet wird im Rahmen und Raum ihrer Umgebung, in ihrem Umfeld, dann ist sie ihrem Wesen nach wertend, eine wertende, schätzende Einheit, ein ursprünglicher Differenzierungsmechanismus von Gewichtungen, der Beimessung von Bedeutung. Dieser Werteschematismus ist der eigentlich physio-logische – oder psycho-physio-logische – Automatismus3, das Selbstverständnis oder die Selbstverständlichkeit des Lebens und zugleich die Aufgabe der Philosophie in ihrer ganzen Leucht- und Strahlkraft, in ihrer unendlichen Weite, ihrer Verborgenheit, der dezentrale, dunkle Grund, das Rhizom, die Koralle, das Rumoren unendlich vieler unendlich kleiner Perzeptionen, Wahrnehmungen, Regungen, dünne, weiche, schrille Stimmen von irgendwo, nirgendwo und überall. Der Philosoph muss nicht auswandern, muss sich nicht entblößen, muss kein Eremit werden, denn er wird keine Wüste finden, die sich der Dimension der Zusammenhänge entzogen hat, keine Häutung wird einen reinen Blick gewährleisten, kein Ort wird nicht zu der Welt gehören, die ihn angeht, die ihn anregt und bewegt. Vielmehr ist es das Selbstverständliche, das zu-Grunde-Liegende, der lógos, das Wort, die Sprache, die ihn interessiert, die ihn berührt und bewegt, die sein Interesse erweckt als tatsächliches Zwischen-Sein, der lógos, den er stockend zu übersetzen sucht, mit allen Problemen und Schwierigkeiten, die Faust in seinem Studierzimmer quälen. Es ist die Ebene, die ihn treibt, die selbst wuchert, ihre Erscheinungsform unentwegt ändert, die er in seinem eigenen Begriff unterzubringen sucht, die er sich heimlich machen will, Spinozas bewegte Immanenzebene, der Boden der Werte, Kräfte, Taten, Sinne, das Ur-Sprüngliche in jedem das Wort zerpflückenden Sinn, das er zu fassen bekommen möchte in seinem Begriff. Das ist die eigentliche Philosophie, die Philosophie Heraklits, Anaximanders4 – Elementarphilosophie, die den Systemgedanken nicht kennt, die eher systematische Entwicklung, weniger systematische Auseinandersetzung ist, die möglichst wenige Voraussetzungen, möglichst wenige Hintertüren, Hin3 | Vgl. »Der geistige Automat«, Baruch de Spinoza, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, in: Werke, Bd. 3, 41. 4 | Vgl. Die Vorsokratiker I, 16: »Wirklich gelungen ist die Aufstellung einer Alternative zur mythologischen Welterklärung erst Thales’ Nachfolger, Anaximander. Der Begriff des natürlichen Prozesses, der bei Thales nur in embryonaler Form auftritt, wurde von ihm voll entwickelt und auf den gesamten von der mythologischen Kosmogonie und Kosmologie bestrittenen Fragenkomplex ausgedehnt.«

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tergedanken hat, eine kriegerische Philosophie, aus der ein starker Wille, ein Wille zum Werk spricht, ein Wille, der unverblümt auf seinen Schaffensdrang blickt, schwer, mutig, der durch Schluchten, über Abgründe geht, der schafft und hervorbringt. Und das ist die Philosophie vor allem: Sie ist eine schaffende Kunst, Begriffskunst, sie bringt Begriffe, bringt Werke hervor. Das philosophische Werk ist nicht der isolierte Begriff, sondern die explosive Gabe, eine Verdichtung, Krypta, eine Autoexegese in gewissem Sinn, die Reflexion oder der Kommentar seiner eigenen poíesis als der Kunst der Dichtung, der sinnstiftende Rahmen, die Explikation der Innerlichkeit des Begriffs. Die Kunst steht am Anfang der Philosophie, wie das Wort in der Offenbarung, sie ist ihre arché, ihre Grundstimmung, ihre Verfassung, der sich der Philosoph nicht entziehen kann, die er mitnehmen muss in seinem Eintauchen in die sinn- und wertstiftende Welt – er ist der Kryptograph des gefräßigen Automaten, Silen und Mänade, Priester und Konzelebrant der eleusinischen Mysterien; er meditiert, beschwört, muss hervorbringen, etwas ans Licht bringen, ins Werk und Wirken setzen, Begriffe setzen, besetzen, stimmen und in Stimmung versetzen. Von der Erde zur Sonne und von der Sonne in den Erdkern, Paraphrase der kopernikanischen Wende, Rückkehr dorthin, wo die Temperaturen der Sonne noch übertroffen werden, das Eindringen und Wiedereindringen in die phýsis – nicht das Überwinden, sondern das Lesen und Deuten ihrer Tropen5, ihrer Verfügungen und Geheiße ist die Aufgabe, nicht zu versuchen, sich außerhalb der Beziehungsvielfalt zu positionieren, sondern eine »Ekstase«6 als Überwindung ihrer vordergründigen Stasis. Das Einfangen des bewegenden Moments ist die ekstatische und zugleich orgiastische Erfahrung der Philosophie. Hinter dieser Zuwendung steht nicht die Absicht einer Verschmelzung der Disziplinen, auch nicht die Trübung ihrer – von welcher Hand auch immer gezogenen – Grenzen, sondern die Exposition eines Bedürfnisses, die Manifestation eines Willens, der den Philosophen leitet und vereinnahmt, eines maskierten und camouflierten Willens, einer narzisstischen Regung, die sich selbst den Spiegel vorhalten möchte, die selbst das Wort ergreift. Das ist Ausdruck einer Empathie – zwischen Pathos und Distanz 7 – und Ausdruck einer gewissen Bescheidenheit, in der sich das analytische Bewusstsein zurückzieht, vielleicht hingibt, in dem es Zeuge eines Überschusses an Erfahrung wird, eintaucht in die mythische Verzerrung aller Klarheiten und die Verzückung des Rauschens einer unbändigen, unendlich anmutenden Vielfalt, einer rasenden Natur. Da5 | Vgl. Paul de Man, Allegories of Reading, darin: Rhetoric of Tropes (Nietzsche), 103ff. 6 | Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, 429. 7 | Vgl. Volker Gerhardt, Pathos und Distanz, Studien zur Philosophie Friedrich Nietzsches, Einführung, 5ff.

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rin wird der Philosoph zum Künstler und Dichter, sein Werk zu einer physiologischen Poesie, zu einem leuchtenden Stern, der untergeht und untergehen muss, der seine Samen, Sporen und Ableger verteilt als die Begriffe, die sich erhalten, die die Spannung in sich schließen und weitertragen, übermitteln, die durchhalten und fortdauern. Wenn der Entwurf der Ebene und die Schöpfung des Begriffes die allgemeinen Aufgaben der Philosophie sind 8, dann ist die dichtende Entfaltung die konkrete des Philosophen. In einer sehr frühen Periode schreibt Nietzsche: »Der Philosoph sucht den Gesammtklang der Welt in sich nachtönen zu lassen und ihn aus sich herauszustellen in Begriffen: während er beschaulich ist wie der bildende Künstler, mitleidend, wie der Religiöse, nach Zwecken und Kausalitäten spähend, wie der wissenschaftliche Mensch, während er sich zum Makrokosmos aufschwellen fühlt, behält er dabei die Besonnenheit, sich, als den Widerschein der Welt, kalt zu betrachten, jene Besonnenheit, die der dramatische Künstler besitzt, wenn er sich in andere Leiber verwandelt, aus ihnen redet und doch diese Verwandlung nach außen hin, in geschriebenen Versen zu projiciren weiß.« 9

Die Sensibilität ebenso, wie der Stolz, sind die verbindenden Elemente, die Geburtsmomente von Kunst und Philosophie, jedoch mutiert der philosophische Stolz in der Entwicklung der systematischen, der sokratischen Analytik zu einer Hybris der Zurückhaltung: Er versucht, sich dem Werk zu entziehen. Der ironische Stolz ist im Grunde ein Akt der Scham und der Scheu, kein Rückzug zugunsten eines Höheren, sondern eine tiefe szientistische Angst vor der Entblößung des eigenen Wesens: Sokrates erfindet die Mäeutik vielleicht aus Gründen der Devotion vor der Wissenschaft, mit Sicherheit aber, um sich selbst den Tarnmantel der Unantastbarkeit überzustreifen – er entzieht sich und erfindet damit das Paradigma der Wissenschaft per se: den unbeteiligten Beobachter, dessen ruhende Position erst durch Heisenberg Jahrtausende später wieder ins Wanken, in Bewegung gerät. Hier trennt sich auch der Weg von klassischer Philosophie und Kunst, insofern der Künstler seinen Willen zum Werk nicht im Verborgenen zu halten braucht, vielmehr das Werk seinen Künstler braucht, der sich darin ausdrückt, der etwas gibt, preisgibt, der sich vielleicht selbst modifiziert in seinem Schaffen, in einen Transformationszyklus einlässt: Schizophrenie, Hysterie, vielleicht Egomanie als der Mut und die Faszination der Erfahrung seiner selbst – er ist sich selbst am nächsten im Moment der Reflexion, in Liebe oder Hass, zwischen Verehrung und Verachtung, er hat sich selbst zum Thema, sieht sich 8 | Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie, 42. 9 | Friedrich Nietzsche, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, KSA 1, 817.

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selbst gewissermaßen als Spiegel der Welt, durchläuft seine unendlichen Perzeptionen als Exhibitionist sub ordine artis und zugleich als Künstler der Verschleierung, der Verstellung, der Metapher – eben als poetischer Künstler, und der Philosoph ist darin sein Bruder, sein Zwilling oder Alter Ego. Er braucht sich selbst am allermeisten, braucht seine Stimmung, Gefühle, Reaktionen, braucht sein Denken, seine Ebene, seine Immanenzebene, den Mut dazu, den Mut sich hinzugeben, sich loszulassen und zu sammeln, sich selbst zu lesen: Er braucht sein Gemüt und seinen Zustand – sich selbst in der Welt, die Welt in sich. Es gibt nichts Näheres, nicht mehr Innigkeit, nicht mehr von-innen-heraus – der Philosoph braucht sich selbst, er hängt an sich selbst und sein Werk ist immer eine Inszenierung der Interaktion: Er ist der Dichter der Psychologie, der Physiologie, Chemie, Biologie, in jedem Fall der Rätselfreund, Übersetzer der archaischen Trope, kein Naturalist im Sinne Rousseaus, eher Pantheist mit Goethe und Spinoza. Es geht um die ständige Suche, die ständige Bewegung auf einem Feld der Spannungen, um eine Genese in jeder Hinsicht, nicht um Parallelität, sondern um eine ineinandergreifende Entwicklung, Weiterentwicklung, um Absterben und Erneuerung, einen Austausch, einen organischen Prozess zwischen Werk und Künstler, um einen organischen Prozess, der sich selbst ins Werk setzt, um die unendlichen Zwischenspiele zweier Welten, deren eine, abgründige, dunkle, tiefe die dionysische, die andere apollinisch genannt wird10, um das tragische Prinzip der Inszenierung zum Ausdruck zu bringen. Wenn Nietzsche im nachträglichen Vorwort über die Geburt der Tragödie schreibt, sie bewege sich in den Kreisen einer »Artisten-Metaphysik«11, so richtet sich seine Kritik gegen seinen eigenen Glauben an zwei das Dasein übersteigende Spannungsebenen, aus deren Schoß die Welt erwächst oder ersteht – in Wahrheit eine Inkonsequenz, ein Mangel in der Entwicklung einer Philosophie der Immanenz, getragen auf den Schultern einer Künstler-Religion, die aber dennoch in ihrem Grund, ihrem Grundbedürfnis das philosophische Wesen berührt oder zum Ausdruck bringt, nämlich: »die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens…«12 Die Offenlegung der Spannung zwischen dem dionysischen Grund und dem apollinischen Glanz, des formlosen Rumorens in seiner Entgegensetzung zum formstiftenden und formschaffenden Prinzip, darf eben nicht in den Rang einer metaphysischen Kategorienlehre gehoben, darf nicht missdeutet oder missverstanden werden als überfliegende Bipolarität, sondern muss nach aristotelischem Vorbild im Innersten der Welt verhaftet und verankert sein, muss als Spiel der Perspektiven und Zustände, überhaupt als Zustandsper10 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie, KSA 1, 25. 11 | Ebd. Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, 13. 12 | Ebd. 14.

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spektivismus angesehen werden, als die zwei basalen, treibenden Momente oder das perpetuum mobile mundi. Unter der Optik des Künstlers ist der Weg der Wissenschaft jener des sokratischen Rückzugs, der Scham oder der Ironie: Der Wissenschaftler leugnet, nimmt sich selbst aus seinem Werk, entzieht sich und wird darin Systematiker – er bildet apersonale Systeme, Modelle, Beispiele, sucht die Zusammenhänge in einem reinen Außen, wird unberührbar, unantastbar. Das ist eine Erkenntnis, eine Selbsterkenntnis, zu der die Wissenschaft auf ihrem eigenen Boden nicht durchdringen kann. Wenn sich nun aber in der Kunst der Rahmen der Bezüge ausdehnt, der Künstler in sein Werk einfließt, sich mit dem Werk formt, wie sich das Werk mit und durch ihn formt, so gilt es diese Perspektive auf die Dimension des gesamten Geschehens auszudehnen, auszuweiten – nicht die Kunst als Perspektive auf das Leben, sondern die Kunst unter dem Aspekt allen Lebens überhaupt zu sehen, das Werk, ergon, das im-Werk-sein und in-der-Werkformung-begriffen-sein (enérgeia) als Schaffensprinzip, arché der Bewegung, Kraft, Sinn, Tat eben unter der Optik des Lebens. Es geht darum, sich die Wissenschaften zu Nutze zu machen, das Interesse aufrecht zu erhalten, den Blick zu schärfen und dabei die Frage nach den Prinzipien ebenso wenig aus dem Auge zu verlieren, wie den perspektivischen Zirkel. Man treibt Psychologie und Physik, wird Naturforscher, durchkämmt die unendliche Bibliothek der Einzelwissenschaften als Künstler, als Dichter, als Literat, entdeckt überall Bezüge, Einflüsse, Stauungen, Auslösungen, Explosionen, Kräfte über Kräfte, findet überall die apollinisch-dionysischen Zwischenspiele, überall Formung und Deformation, Zerstörung, Krieg, Kampf, Mächte, die aufeinander treffen, Aneignungen, Usurpationen, ständig getriebene, ausgreifende Einheiten, sieht und fühlt sich selbst in den Kreislauf der Spannungen verfügt, man erahnt eine Schneise, eine Spur, die die Kunstgötter in ihrem Interagieren durch die Welt schlagen und sieht die Kunst das Prinzip des Lebens ausdrücken, sieht überall Werk und das Prinzip der Formung, die Natur durchwachsen und durchzogen von einem immanenten Informationskreislauf, einer Logizität der Information. Es sind die Schwere der ursprünglichen Verborgenheit, die schweren, dunklen Masken, das Unheimliche der Selbstverständlichkeit, die Magie des Automaten, die die Verwunderung und das Staunen der Philosophie hervorbringen, die sich aufdrängen und manifestieren, die alles in ihren Bann ziehen, unzählige Ausdrücke und der Wille zur Form, die den Philosophen zum Dichter, zum Begriffskünstler werden lassen, zu einem Dichter der Spannung, der Tragödie des Lebens, die er selbst lebt, spürt und verfolgt – zu der jeder Zugang, als deren Teil jede Existenz zu gelten hat, wie es Mephistopheles den

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Menschen mitteilt: »Ihr alle fühlt geheimes Wirken/Der ewig waltenden Natur/Und aus den untersten Bezirken/schmiegt sich herauf lebend’ge Spur.«13

2 P ERSPEK TIVEN Wenn die spinozistische Philosophie den Prozess einer Vergöttlichung der Natur vorantreibt, das Affekte-Geschehen als ewigen Lauf der Modifikationen der Einheit betrachtet, so vollzieht Nietzsche nicht eine »Naturalisierung der Ästhetik«14, sondern geht einen weiteren perspektivischen Schritt in der Bewegung der Immanenz – als Integration eines eigentlich ethischen Moments. Wir sehen uns in einer Welt der Relationen, der Bezüge, des Wechsels, der Bewegung: wirkende Formen, sich selbst entwickelnde Einheiten, Seeleneinheiten, die die Welt in sich schließen, einem gewissen deterministischen Prinzip folgen, die ein Universum konstituieren, das sich durch eine göttlich-transzendente Verfügung als Resultat eines Auswahlverfahrens ergibt, oder einen Gott, der sich in den Erscheinungen der Welt verflüssigt, auflöst, der die Natur in den Rang der Divinität hebt, aber zugleich das Telos als Stimulans aufhebt, kurz: einen Werterelativismus, den die Entwicklung der Philosophie notwendig mit sich bringt, noch keine Umwertung, sondern eher eine Entwertung, die Trümmer einer Revolution, die brach liegen vor einem metaphysisch geschulten Auge. Angenommen, die Welt bewegt sich von selbst, sie ist der unendliche Lauf der Dinge, die auftreten und vergehen, die sich zeigen und verbergen, erscheinen, auf blitzen, Momente in der Unendlichkeit markieren, und angenommen, wir selbst sind Teil dieses ewigen Spiels, des Maskenballs15 der Ewigkeit, so stellt sich doch vor allem die Frage, wie und unter welchem Aspekt diese Tragödie der Endlichkeit zu bewerten, mit welchen Maßstäben und Wertmaßstäben der Nacht der Verzweiflung zu entkommen ist, und eben in diesem Punkt enthüllt die Kunst, die Ästhetik ihre wahre Kraft, enthüllt sie ihre Bandbreite, ihren Wirkungsraum. »Nur als ästhetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt«16 – das ist der programmatische Satz der Tragödienschrift und zugleich das antimetaphysische Mantra, dem sich alle Schaffensperioden Nietzsches unterordnen, dem sich alle noch so schwerwiegenden oder tiefgreifenden Sät13 | Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie zweiter Teil, 13. 14 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 72. 15 | Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsches Philosophie der Masken, in: Nietzsche Studien Bd. 10/11, 111ff. 16 | Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 5, KSA 1, 47.

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ze nachstellen lassen, denn darin liegt die tatsächliche Umwertung als neue Wertsetzung veranlagt, der erste und vielleicht heftigste Hammerschlag der Philosophie, der nach seiner Konkretion, nach seiner Ausdeutung, nach seinem Material verlangt. Man spricht nicht von Kunst und Wissenschaft, nicht von Philosophie und Kunst, nicht von einer nach den Regeln einer so oder so bestimmten Ästhetik geschliffenen Brille, sondern vom Leben oder vom Lebendigen, das auf sich selbst blickt als Moment des Ästhetischen, als künstlerische Entfaltung, als permanente Extrapolation eines internen Schaffensprozesses, tatsächlich als Werk und Wille zum Werk. »Wer immer die Welt geschaffen hat: er kann sie nicht nach moralischen Kriterien entworfen haben, sondern nur nach ästhetischen. Allein nach diesen hat das Spiel von Schuld und Leid, Grausamkeit und Endlichkeit einen Sinn, so wie das Schicksal der Menschen in den Tragödien seine Bedeutung als Element einer künstlerischen Konzeption gewinnt.«17

Das ist ein Ausgangspunkt, ein Grundzug, ein Grundsatz, eine arché, wie sie jede Philosophie, jeder Philosoph notwendig braucht, die erste meditative Erfahrung dessen, was Deleuze das Bild des Denkens, die Ebene der Immanenz nennt, alles, zu dem man Zugang hat, alles, dem man selbst angehört, Vorstellungen, Erinnerungen, Träume, ein Ausloten des Raumes, Akt der Vermessung – der Rück- und Untergang der Philosophie: Man muss die Tiefen ergründen, auf eine Dimension der Spannung, der Aufspannung und Auffaltung des Ganzen zurückgehen und zugleich vorgreifen, den Mut zu einer Introspektion auf bringen und findet etwas überwältigend Großes: phýsis, Kraft, ein Prinzip des Aufgehens und Vergehens, Gott – überall, in allen Erscheinungen, das Unbegreifliche, Unfassbare, einen Taumel der Produktivität, Spannung, die sich entlädt, die hervorbringt, eine Ursprache des Lebens, eine »nat language«18, Unsprache, Nachtsprache, Raunen der Natur, Aufgehen und Untergang der Sonne, die ägyptische Nut19, Univozität des Seienden, die Tension zwischen dem dionysischen Abgrund und dem apollinischen Glanz – alles als Prinzip, als Anfangsgrund, als Ur-Sprung oder Ur-Teil20. Man beginnt immer ganz von vorne, an der Schwelle von Sein und NichtSein, beginnt, und geht weiter, deutet aus, entfaltet die Dichte, legt um, inter17 | Konrad Paul Liessmann, Philosophie des verbotenen Wissens – Friedrich Nietzsche und die schwarzen Seiten des Denkens, 324. 18 | James Joyce, Finnegans Wake, 83. 19 | Klaus Reichert in der Einleitung zu James Joyce, Finnegans Wake – Deutsch – Gesammelte Annäherungen, 12. 20 | Friedrich Hölderlin, Seyn Urtheil Möglichkeit, Sämtliche Werke, Briefe und Dokumente, Bd. 4, 163.

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pretiert, man entwirft die Ebene der Immanenz. Und so ist es das Prinzip des Schaffens überhaupt, das Nietzsche zu allererst findet, das er aus jeder Erscheinung der Welt sprechen und singen hört, eine alles übertönende Symphonie des Geschehens, eine Komposition der Tragödie: »Kunst erweist sich als der explizite und in sich gesteigerte expressive Austrag dessen, wozu Ansätze und wovon Spuren in jedem Lebendigen zu finden, ja in aller Lebendigkeit selbst wesentlich beteiligt sind. Die Auffassung der Kunst und die dieser zukommende Stellung im Prozeß der Welt-Auslegung wird somit bei Nietzsche aus ihrer neuzeitlichen Engführung als Ästhetizismus, für den Kunstwerke Gegenstände psychologischen Erlebens im inneren Sinn bzw. ihrerseits Ausdruck ebensolcher Zustände sind, gelöst und in eine dem Umfang wie der Intensität nach vollere Bedeutung eingesetzt. Es geht um eine Freisetzung des Ästhetischen im und am Lebendigen und damit in und an den Dingen selbst.« 21

Alles Natürliche ist Ausdruck eines Zusammenspiels der schaffenden, inszenierenden Kräfte, trägt die genetischen Elemente des Glanzes und der Zerstörung in sich, ist ihre Vereinigung als selbstrepräsentierende Einheit, die innerlich bewegt, getrieben ist, die sich aus Kräften der Vereinigung und Kräften des Umbruchs zusammensetzt, die eine Willenseinheit ist, eine Erscheinung des dionysischen Grundes, der ausgreift, vereinnahmen, inhalieren will, der zur Vereinigung drängt, der der Rausch der Vereinigung selbst ist. Ähnlich wie bei Spinoza vollzieht sich die Inkarnation des Göttlichen, der göttlichen Spannung nicht nur auf dem Boden der Erde, sondern in allen Dingen, in der gesamten Geschichte, in jedem und als jeder Körper, nur ist der Gott ein anderer geworden, ist über die Jahrhunderte zu einem schizophrenen, zu zwei Künstlergottheiten mutiert, gespalten – er dringt nicht mehr als selbstaffektierte Einheit, sondern als Einheiten gebärende Spannkraft in die Welt, transformiert sie in ein ästhetisches Phänomen. Das ist der Ausgang, die Verfassung, die Stimmung im und aus dem Geiste der Kunst, das eine Ende der Parabel, ein Entwurf. Aber Nietzsche ist zu sehr Philosoph, zu stark getrieben, zu sehr der von ihm selbst proklamierte Wille, als dass er bei einem Grund-, Auf- oder Abriss stehen bleiben könnte. Das Postulat der Entwicklung will vor allem eines: sich selbst entwickeln, will selbst zu dem werden, was es ist, will größer, umfassender, anwendbarer werden, will sich ausdehnen, vereinnahmen, an Macht gewinnen. Die Kunst unter der Optik des Lebens zu betrachten meint, alle Bereiche des Lebens in die Sprache der Kunst zu übersetzen, oder die Kunst als Prinzip der Wirkung, der Kräfterelation auf alle Bereiche des Lebens zu transponieren, den ästheti21 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 72.

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schen Grundcharakter auszumachen, und eben darin wird Nietzsche – ganz im Sinne der Philosophie – konkret… und konsequent. Er ist nicht der Anfang einer neuen, nicht das Ende der alten Metaphysik, nicht der große Revolutionär, auch nicht der Zerstörer der Metaphysik – zumindest nicht der einzige. Im Grunde ist die gesamte Geschichte der Metaphysik als die Geschichte der europäischen Philosophie eine große Veranstaltung zur Verschleierung von Differenzen, Abstraktion und Nivellierung – als Brücke in die Vergangenheit wird sie eben an jenen Stellen durchbrochen, gekreuzt, gepfählt, wo sie am sichersten getragen werden sollte, von ihren eigenen Pfeilern widerlegt, ad absurdum geführt, zumindest teilweise persifliert in der aristotelischen ousía, der spinozistischen Immanenz, der monadologischen Kraftwirkung, etc. Die Geschichte der Metaphysik ist eine Geschichte ihrer Selbsttäuschung, aber sie ist nichts desto weniger ein Nährboden, ein harter Stein oder Kristall, der sich immer wieder anbietet, widerlegt, gesprengt, zerstört zu werden, und Nietzsche tut das – nicht als erster, nicht als einziger, aber mit überragender Konsequenz, Überzeugung, als Manifestation der Selbstwerdung des Philosophen, nicht als Deklaration, sondern als Exklamation, eben als Wille, der sich selbst nicht zu verbergen braucht – als Dynamit 22 . Der horizontale Vektor des Geschehens wird nicht gekrümmt, sondern gesprengt, die Grundfrage nach dem Sein ein weiteres Mal gestellt, aber nicht mehr an das Sein gerichtet, das Geschehen wird weiter, noch weiter entblößt, das zu Substanz und Gott vereinigte, das unendlich viele Substanzen gewordene Universum verliert noch das letzte, verliert seine göttlichen Namen, Gott stirbt ein zweites Mal für eine neue Welt, für einen neuen, göttlichen Zirkel23. Der Charakter der Wirklichkeit ist das Wirken und nichts außerdem, es ist Bewegung, eine prozessuale Mannigfaltigkeit, der Mensch ist entthront, die Vernunft ihrer Schöpfungskrone verlustig gegangen – das ist keine Nivellierung, sondern eine Konsequenz der Perspektive: wenn man alles in den Blick nehmen möchte, wie es die althergebrachte Aufgabe der Philosophie ist, wie es ihr Stolz befiehlt, kann der Mensch – in Spinozas Worten – nicht als Staat im Staat 24, nicht als essentiell anderes kategorisiert werden, sondern muss seine hybride Stellung, dem Mahnruf der Univozität des Seins folgend, aufgeben. Überhaupt ist die Auf- und Abspaltung der verschiedenen Bereiche, die Stufenfolge oder Ebenen-Hierarchie von organisch, anorganisch, bewusst und unbewusst obsolet, nachgereiht, eine nutzlose (oder vermeintlich nutzlose) Einschränkung. Der Kardinalunterschied fällt, aber das ist nichts Neues – in diesem Ansatz bewegt sich Nietzsche in der Gesellschaft von Aristoteles, Spi22 | Vgl. Fridrich Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, 365. 23 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 74. 24 | Vgl. Baruch de Spinoza, Ethik III, praef., Werke 1, 112.

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noza, Leibniz, Thales, Anaximander, Heraklit, ist auf einer Stufe mit den großen Philosophen, ohne ihnen explizit zu folgen. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als um die Frage nach dem Wesen der Existenz, des Daseins, nach der Konstatierung einer grundlegenden Bewegung und dem Problem ihrer Beschaffenheit. »In der Rede von ›Geschehen‹ geht es um die Prozesse des Übergangs von einem Zustand in einen nächsten und um die Frage, wie diese Vorgänge zu begreifen sind. Die Schwierigkeit besteht darin, daß diese Übergänge weder im Modus und in den Elementen der Ausgangszustände noch in denen der Abschlußzustände beschrieben und erfaßt werden können.« 25

Für Nietzsche mutiert dieses Problemfeld der permanenten Zustandsänderung zu einem Horizont der Kraft oder Kräftewirkung – das Geschehen wird in seiner Gesamtheit oder Totalität als Kräftegeschehen gedeutet. Die Nähe zu Leibniz und Aristoteles ist an dieser Stelle nicht nur vordergründig, sondern liegt in der Fragestellung selbst veranlagt, und auch wenn für Nietzsche die Lehre von den Entelechien oder Monaden von geringerer Bedeutung ist, breitet sich der Gedanke der Kraft, die Notwendigkeit einer ursprünglichen Kraft über das Bild oder die Vorstellung der gesamten Welt, des Universums, des Kosmos. Alle Erscheinungen sind »Spannungsverhältnisse«26, jede Existenz ist Ausdruck eines basalen Kräftegeschehens, Exposition von Kraftwirkungen, denn überall, wo Bewegungen, wo Veränderungen sind, muss eine Kraft nicht nur im Hintergrund, sondern als treibendes Moment im Zentrum stehen. Das ist in seinen Grundzügen der leibnizsche Gedanke, eine nahezu deckungsgleiche Ausgangslage, mit der Einschränkung, dass für Nietzsche der Prozess des Einschlusses der Unendlichkeit keine oder nicht dieselbe Bedeutung mehr hat: Er braucht den metaphysischen Punkt nicht, wird dagegen die Einheiten zugunsten einer essentiellen Differenz aufheben. Leibniz reanimiert die homerische, platonische, aristotelische dýnamis und führt den Kraftbegriff in die Philosophie ein, entwirft die Wissenschaft der Dynamik, die Lehre von den Kräften, eine Wissenschaft des Unsichtbaren, erarbeitet einen Boden für die Naturwissenschaften, bedient Physik, Biologie, Psychologie, die sich gerne und schnell ausbreiten, die die Kraft konkretisieren, näher bestimmen am Objekt und das Objekt näher bestimmen als Kraft, die den Kraftbegriff formen. Nietzsche wiederum zieht den Kraftbegriff aus dem naturwissenschaftlichen Kontext und weitet ihn aus, er dehnt und spannt 25 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 3. 26 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 45.

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ihn über das gesamte Geschehen, er bestimmt ihn weiter, kleidet ihn innerlich aus, verfährt nach der Art des Philosophen als Künstler des Begriffs. Die Welt wird dynamisch, die Kraft wieder philosophisch – vielleicht so philosophisch, dass sie überhaupt als der Grundbegriff Nietzsches angesehen werden muss, an dem sich die morphologische Genese vollzieht, den er auf- und an dem er sich abarbeitet, wie Aristoteles an der platonischen Idee, wie Spinoza und Leibniz die Substanz modifizieren, neu setzen, neu besetzen. Die Kraft bestimmt den naturwissenschaftlichen Duktus des neunzehnten Jahrhunderts, die Frage nach der Organisation von Kräften wird dominant, der Organismus, die Teleologie der Kräfte, der Entwicklung, die Frage nach der Energie, ihrer Erhaltung, ihrer Differenz, nach ihrem Gesamt tritt in den Vordergrund. Es ist eine Folgeerscheinung der Exaktheit und eine Notwendigkeit der wissenschaftlichen Dignität: Man beginnt mit der Dekonstruktion – oder ist vielmehr immer schon involviert in den Prozess der Abarbeitung – von Vorurteilen, Dogmen, von Glaubensgrundsätzen, die sich auf Grund neuer Erkenntnisse als unhaltbar, als nicht mehr tragbar erweisen, und immer wieder taucht aus den Tiefen der griechischen Vergangenheit das Mantra der aristotelischen Physik mitten in den Umwälzungen und Neubestellungen des wissenschaftlichen Bodens auf, vom vordergründig Bekannten und Wahren zum tatsächlich Wirklichen weiterzugehen 27, fortzuschreiten und den neuen Erkenntnissen gemäß die Voraussetzungen zu ändern. Die Kräfte erobern das Feld, werden stärker, brisanter, präsenter, sind im Vormarsch gegen das eigentlich Standhafte und Feste. Die Materie entblößt zusehends ihre poröse Struktur, verliert den Deckmantel der Impenetrabilität, sie erfährt eine Öffnung, wie sie der ganze Fortschritt der aristotelischen Philosophie beschreibt: Sie transformiert sich von einem Prinzip des Stoffes, des Zugrundeliegenden, der Basis zu einem Prinzip der Möglichkeit, wird flüssig, a- oder polymorph, mit einem Wort: dynamisch. Die Frage selbst mutiert von jener nach dem Wesen zu einer Auseinandersetzung eines Prozesses der Formation von nicht letztgültig zu bestimmenden Bestandteilen, eigentlich Potentialen, die auch die exakteste Wissenschaft nicht zu fassen in der Lage ist. Das ist das Resultat der Konsequenz: Betrachtet man einen Alltagsgegenstand nach den Kriterien seiner Zusammensetzung, hinterfragt man sein Wesen, seinen Aufbau, die Hintergründe seiner »Materialität«, so ist man schnell oder auf Umwegen zu einem Komplex von Molekülen vorgedrungen, die ihrerseits wieder Aneinanderreihungen, Verbindungen von Atomen sind – abzulesen im Periodensystem, nummeriert, geordnet – Verbindungen, die je nach dem »Wie« ihrer Anordnung verschiedene Erscheinungen, unendlich viele verschiedene Erscheinungen konstituieren können. Und die Atome sind – entgegen den Ansprüchen ihres Namens – wieder Repräsen27 | Vgl. Aristoteles, Physik Į1, 184 a16f.

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tanten eines noch viel kleineren Systems von Teilbereichen, von Organisationen, Zusammenhalten, von Protonen, Neutronen, Elektronen, von Distanzen und Wirkungen, Kräften, die die Elektronen um ihren Kern kreisen lassen, die den Raum definieren, Größe, Ausdehnung, die Bestimmungen sind. Es ist »Materie plus Information, woraus sich jedes beliebige Objekt zusammensetzt, und es läuft darauf hinaus, dass die Materie sehr einfach beschaffen ist: Sie hat nur drei verschiedene Bestandteile, Up-Quark, Down-Quark und Elektron.«28 – Aus deren Struktur, aus deren Relationalität sich alles konstituiert, was Materie genannt oder unter diesem Begriff verstanden wird, wobei in den mikroskopischen Untiefen auch die Unschärfe als ein Gebot der Natur selbst miteinzurechnen bleibt, die besagt, dass niemals Ort und Impuls eines Elektrons gleichzeitig bestimmt werden können, nur Felder, Bereiche, Wirkungsräume, in denen Konzentrationen zu verorten sind, in denen Bewegung stattfindet, in denen die Spannkraft sich selbst eine Form gibt, und so tritt die Information als eigentliche Komponente, als So-Sein, das eigentliche tò dè tí29 in den Vordergrund, in den Wirkungshorizont, deren Potential der Rest an unbestimmbarer Materie ist. Der Stoff löst sich auf in Attraktion und Spannung, in Kraftkonzentrationen als eine Notwendigkeit, die schon Aristoteles viel schärfer gesehen hat, als es ihm die Naturwissenschaft zubilligt, und die der kroatische Universalgelehrte Rugjer Bošković zu einem seiner Grundsätze erhoben hat 30. Er ist der erste neuzeitliche Agnostiker in Bezug auf die Materie und damit gemeinsam mit Julius Robert Mayer, dem Entdecker des zweiten Gesetzes der Thermodynamik, der Fels, auf dem Nietzsche sein Willen-zur-Macht-Geschehen gründet. Sie sind die naturwissenschaftlichen Wegweiser zurück in die Zeit der Griechen, in die Naturauffassung Heraklits, in das scheinbar halt- und uferlose Werden, das Treiben des Umbruchs, der Veränderung, in den alles bestimmenden Kampf und Krieg, die Fahnen und Wappen in Nietzsches Kreuzzug gegen den Begriff des Seins, gegen das Beständige, die Seele, das Ich, die Einheit – sie sind der Umbruch und der Beginn der Umwertung, ausgestattet mit Mut und Noblesse, mit Vertrauen in die Schärfe ihrer Sinne und die Folgerichtigkeit ihrer Gedanken. Die Philosophie mutiert darin von einer transzendenten Schau des Beständigen und Wahrhaftigen zu einer Topographie der Veränderung, zu einem ewigen Versuch, das absolut Unbeständige in Begriffe zu fassen, das Bewegte für einen Moment zu greifen, fest zu machen, den Drang, den Trieb zu fassen zu bekommen, sie hat Berechtigung als »die allgemeinste Form der Historie, als Versuch das Heraklitische Werden irgendwie zu beschreiben und in Zei28 | Anton Zeilinger, Einsteins Spuk, 72. 29 | Vgl. Aristoteles, Metaphysik A 7, 988 a34. 30 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse, KSA 5, 26.

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chen abzukürzen (in eine Art von scheinbarem Sein gleichsam zu übersetzen und zu mumisieren).«31

3 D ESTINATIONEN Die Materie ist sehr klein und dünn geworden, von ihren unendlich vielen, verschiedenen Erscheinungsformen, ihrer massigen Undurchdringlichkeit reduziert auf kleinste, in ihrer Lage nicht exakt zu bestimmende Elementarteilchen, Quarks, Elektronen, eigentlich Bewegungseinheiten, die Räume konstituieren, die die Beschaffenheit und Form von Konstrukten festlegen in ihrer Bewegung, in ihrer Bindung aneinander, in ihrem Trieb zueinander. Sie sind keine Atome, keine Unteilbaren, sondern A-Horizonte, in Bezug auf ihren Ort und ihren Impuls unbestimmbare Komponenten, die Felder erzeugen, die in ihrem Wirken aufeinander Formen konstituieren, Atomkern und Hülle, Elemente, Moleküle, Zellen, Organe – eben alles, was unter den Sammelbegriff der Materie gerechnet wird. Die Formation, die Information ist höher zu bewerten als die Materie, ist ihrem (physikalischen) Stellenwert nach höher32, das »Wie« des Zueinander der elementaren Quantitäten konstituiert das »Was« des Objektes, aber die Materie selbst modifiziert den Raum ihrer Existenz zu einem gespenstischen, zu einem düsteren und unklaren Feld, ihre Objekte, ihre Teile entziehen sich der Exaktheit, bilden Attraktionsfelder, sind eigentlich nichts anderes als Wirkungsmomente, energetische Konzentrationen, Wirkungs- oder Kraftquanten33 – viel eher als materiale Punkte. Es sind Kraftkonzentrationen nicht in der, sondern als die Materie selbst, jede Einheit ist eine Wirkungseinheit, getragen auf oder von einer intensiven Spannung, einer Spannkraft. Die Kräfte bringen Formen hervor, die Kräfte sind die Form oder die Materie ist die in Formung begriffene Kraft – Information ist in Form gebrachte Kraft oder Energie, und auf die ganze Welt bezogen bedeutet das: »Es gibt in Wahrheit nur eine einzige Kraft. Im ewigen Wechsel kreist dieselbe in der toten wie in der lebenden Natur. Dort und hier kein Vorgang ohne Formveränderung der Kraft [Anm. J.R. Mayer: Der Leser wird sich bald daran gewöhnen, beim Worte »Kraft« nur an »Energie« zu denken.]«34 Und eben das ist die neue, alte Welt des Philosophen, ein Kraft-Kosmos als eine unendliche Mannigfaltigkeit an Formen, an Umformungen, Übergriffen, Zerstörungen, ein Kräfte- und Kampfspiel, ein Krieg, wie ihn Heraklit 31 | 32 | 33 | 34 |

Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 36 [27], KSA 11, 562. Vgl. Anton Zeilinger, Einsteins Spuk, 73. Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 14 [79], KSA 13, 259. Julius Robert Mayer, Die Mechanik der Wärme, 12.

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beschrieben hat, in dem immer wieder Kräfte aufeinander Bezug nehmen, einander unterdrücken, in dem die Form selbst erscheint als die Bändigung und Unterdrückung der Zügellosigkeit der Kräfte, in der jede Form als Provokation der Kräftenatur auftritt, in der sich in oder unter jeder Form ein unglaubliches Wirkungspotential aufstaut, das nur eines geringen Anstoßes bedarf, um entladen, um zum Ausbruch gebracht zu werden. In jedem Fall handelt es sich um einen Beförderungsprozess, um ein Ineinandergreifen der Bedürfnisse, um ein getriebenes Spiel, als die Kräfte oder Kraftquanten immer wieder aufeinander zusteuern, einander ebenso auslöschen wie bedingen, sich gegenseitig benötigen – so, als ob ihnen ein Trieb innewohnte, als ob sie einen inneren Willen zur Formschaffung mit sich brächten, einen Impetus, der einem Prinzip folgt, einen conatus, appetitus, vielleicht sogar eine Art Wissen, unbewusstes Wissen, das ganz ohne Selbstreflexion die größten Werke hervorbringt35. »Das Wissen ist die Eigenschaft aller treibenden Kräfte – es kommt auf Eins hinaus zu sagen, es sei die Eigenschaft der Materie, vorausgesetzt, daß man weiß, was Materie ist: die treibende Kraft als das Vorurtheil unserer Sinne gedacht: so daß Kraft und Materie Eins sind, entweder als ein An sich bezeichnet oder, nach der Relation zu unseren Sinnen, als Grenze unseres Empfindens für die Kraft bezeichnet. Die treibenden Kräfte sind nichts Letztes und der Analyse schlechthin Widerstrebendes, wie Schopenhauer meinte, der sie als den ›Willen‹ verstand: wir können in ihnen noch das Wissen begrifflich absondern als ihre Eigenschaft: ohne Wiedererkennen und Schließen giebt es keinen Trieb, kein Treiben und Wollen.« 36

Die Einheit oder in-eins-Setzung von Kraft und Materie bedeutet schlichtweg, dass das gesamte Geschehen, das Gesamt aller Prozesse, als Informationsgeschehen oder die Transformation von Kräften angesehen werden muss, als eine Kraft, die sich als jede Singularität der Erscheinungswelt inkorporiert, oder als Welt, die grundlegend durch den Austausch und das Wirken von Kräften bestimmt ist. Hinzu kommt aber nun, dass jedes singuläre Kraftquantum mit einer bestimmten Form von Wissen, vielleicht einer Intentionalität, selbst mit einem Quantum Information bestückt, begabt, ausgestattet sein muss, dass es als treibende und formschaffende Kraft einen Willen oder wissenden Willen, einen Zug zur Formschaffung impliziert oder einschließt, als Eigenschaft in sich trägt oder vielleicht selbst dieses Wissen oder dieser Wille ist. Man spricht nicht von Reflexion oder einer Ansammlung von Wissensinhalten, viel eher von einer basalen Vernunft, einem zu Grunde liegenden Ver35 | Vgl. Spinozas Beispiel der unbewussten Tätigkeit des Nachtwandlers, in: Ethik III, prop. 2, schol., 117f. 36 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, 10 [F101], KSA 9, 438.

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mögen des Schließens, Einschließens, Zusammenschließens, einer vernünftigen Sinnlichkeit oder einem Sinn per se, einem ästhetischen Moment in jeder oder als jede Kraft, einem Sehen und sehen-Können, einem Wissen als videre37, als er- und ausblicken. Die Stellung der Welt als Kräftegeschehen erfährt darin eben nicht ihre haltlose Entwertung, ihren Untergang in den nihilistischen Sumpf der Wertlosigkeit, sondern durch den Verfall ihrer für unumstößlich gehaltenen substantiellen Grundzüge, die Materie, das Denken, die Einheit, die Seele, etc. zu Gunsten einer alles bestimmenden und sich in ihrem Gesamt erhaltenden Energie als singuläre, operierende Kraftquanten oder Wissensund Sinneinheiten, als Quantitätsdifferenzen38, erfährt die Welt selbst eine neue Sinngebung und neue Sinnlichkeit, erfährt sie selbst eine Umwertung, nicht eine Entwertung ihrer bestehenden Werte. Das ist die tiefste und heikelste Aufgabe des Philosophen, der mit dem Hammer agiert: das Zerstören ebenso, wie das Schaffen, das Setzen neuer Werte. Aber dieses Wissen der Materie, die Sinnlichkeit, der Richtungssinn der Kräfte ist nicht Eigenschaft im additiven oder beiläufigen Sinn, kein einer Substanz oder substantiellen Qualität zugerechnetes Merkmal, sondern es ist das intensive Moment der Kräfte selbst, ihr Antrieb, ihr conatus, ist sie selbst als Wille zur Wirkung, als der Wille zur Erzeugung von Qualitäten, als der Wille zum Eintritt in ein quantitatives Differenzverhältnis, in eine Spannungsrelation, ohne die die Kräfte überhaupt nicht sein können, ist der Zug, als der das Elektron in seinem Umkreisen des Kerns das Atom definiert, den Kraftraum Atom schafft und erzeugt, ist die Attraktivität, die das Spannungsfeld erzeugt, und die alle Elementarkräfte selbst sind – sie sind nicht leer, nicht inhaltlos, sondern sie sind Intensitäten39, sind Monaden, gefallene monadologische Engel, die den Wirkungsraum der prästabilierten Harmonie verlassen haben. Die Kraft ist ein Begriff der Naturwissenschaft, alles ist Kraft, die ganze Welt ist Kraft, unendlich viele Kräfte, aber der »siegreiche Begriff ›Kraft‹, mit dem unsere Physiker Gott und die Welt geschaffen haben, bedarf noch einer Ergänzung: es muß ihm eine innere Welt zugesprochen werden, welche ich bezeichne als ›Willen zur Macht‹«40 – Keine Ergänzung oder Anfügung, sondern die qualitative Transformation des Begriffes oder die Neubestimmung eines Prinzips. In diesem Punkt geht Nietzsche über Leibniz hinaus: Er bestimmt tatsächlich eine Entelechie, er gibt dem Willen, dem Trieb eine Richtung, zerstört nicht wahl- und planlos, sondern gibt der Welt zu allererst und

37 | Die Etymologie von »Wissen« führt zu einer indogermanischen Wurzel, die »sehen, erblicken« bedeutet. 38 | Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 48. 39 | Vgl. Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 128. 40 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 36 [31], KSA 11, 563.

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zu allerletzt das, was ihr durch den Fall der Transzendenz entzogen wurde: Er gibt ihr Sinn. Er gibt dem Leben Sinn und der Welt die Pluralität von Sinneinheiten41. Das Kraftquantum ist weder leer noch verlassen, es hat Wissen und Zug, es hat einen Trieb und ist selbst ein Trieb, es ist seinem Wesen nach nichts anderes als der Wille zum Wirken, der Wille zur Wirklichkeit und darin das Ausgreifen nach einem Mehr, nach einem immer größeren Wirkungsspektrum, einer Erweiterung des Horizontes, der Bestimmung, einer Stärkung des »Selbst«42 . Arbeit des Philosophen ist Arbeit am Begriff und Nietzsche ist zu sehr Kenner der Sprache und ihrer Erfordernisse, als dass er den Willen ohne Telos lassen könnte, das Telos aber sehr wohl ohne transzendentes Regulativ oder Endzweck. Der Kraftbegriff ist Ausgangspunkt und Anstoß – tatsächlich ein dominanter und siegreicher Begriff, die neue Substanz des Aristoteles, die wirkliche Substanz, nach einer Übersetzung, nach einer philosophischen Transformation durch Leibniz, und es ist die aristotelische ousía, zerschlagen und zertrümmert, ertränkt und wiederbelebt, entstellt und neu zusammengefügt, mit der die Naturwissenschaftler an die Neubestimmung, an die Setzung des prozessualen Geschehens herantreten, Dynamisten, Energetiker, Gläubige, Atheisten, Agnostiker; sie alle arbeiten mit einem Wort, einem tätigen Wort, eben mit der Kraft, die so viele Wege und Umwege genommen hat – sie setzen sie ins Zentrum der Welt und als die Welt, als einen unveränderlichen, quantitativen Horizont, als eine, reine Kraft und reine enérgeia, pulverisieren die Materie ein weiteres Mal, lassen sie wieder dýnamis werden und geben sie als Kraftpunkte, singuläre Kräftefelder, als thermische, elektrische, magnetische Kraft, als Gravitation zurück in die Hand des Philosophen, Bildhauers und Begriffskünstlers; überlassen sie den wertenden und werteschaffenden Hammerschlägen seines Geistes, der ihre Unvollständigkeit, ihr loses Treiben erkennt, der als Zeichen seiner Sensibilität auch noch das Innen der verschwindend kleinen Elemente sieht und sie umbenennt, umformt, neu formt: Die Kraft ist getrieben, sie will etwas, und in ihrem Wollen ist sie selbst dieser Wille: Sie ist die unendlich vielen Willen zur Macht43. Das ist der große Begriff, der gebieterische Anspruch, terminus periculus, aber zugleich ein Geschenk und ein feines, zerbrechliches Gut, ein Wort, das am Ende und am Anfang einer Reise der Interpretation, eines logischen Krei41 | Vgl. Volker Gerhardt, Die »Grosse Vernunft« des Leibes, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 123ff. 42 | Vgl. ebd. v.a. 154ff. 43 | Zur Frage nach der Pluralität der Willen zur Macht vgl. z. B. Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsches Lehre vom Willen zur Macht, in: ders. Über Werden und Wille zur Macht, Nietzsche-Interpretationen I, 25ff.

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ses steht, ein Vordringen in die trüben, nebulosen Gefilde der Induktion, die Selbstentblößung gegenüber den Gefahren des Missverständnisses und der Fehlbesetzung. Der Wille zur Macht ist das Kunstwerk eines Philosophen, seine Idee, an der er gearbeitet, die er nicht zuletzt auch für sich selbst geschaffen hat, eben sein Begriff, der sehen und hören gelernt hat, zu dem er durchgedrungen ist – vielleicht einer der erlösenden Momente, ein kairós, in dem sich Begriff und Immanenzebene, Denken und Sein, Arbeit und Vergnügen begegnen, in denen eine kurze Vereinigung den Ruf provoziert: »Alles ist…« und sich sofort wieder löst, aber ein Licht als Erbe zurücklässt, das den Weg über kurze oder längere Distanz erhellt, das weiterführt. Man bewegt sich in dunklen Sphären, ist Seiltänzer mit wenigen Sicherheiten in den Fragen nach dem Wesen der Welt – Anhaltspunkt über Anhaltspunkt, eine unhaltbare Menge an Information. Die Nacht ist tief und die Welt ist groß; man kann nicht alles untersuchen, und darin liegt die gegenseitige Beförderung von Philosophie und Wissenschaft: Es ist der Austausch der Begriffe ebenso, wie die gegenseitige Transformation. Die Kraft bedarf einer Ergänzung als einer Bestimmung, einer Destination, oder vielmehr: Es bedarf der Erkenntnis der Bestimmung, die seit jeher die Kräfte leitet und lenkt, die die Kräfte Kräfte sein lässt und das Geschehen als solches durchwaltet, und in dieser Bestimmung verändert die Kraft ihr Aussehen, ihren Charakter, zeigt sie ihren Charakter, der immer etwas will, der mehr will: Sie ist Wille zur Macht und alle Kräfte sind in ihrem Wirken dieser Wille – sie wären halt- und planlos, ziellos, grundlos. Die Form ist die Erscheinung, das Wirkliche, das sich Zeigende44 und in ihrem sich Zeigen ist die Wirkung Macht – sie repräsentiert nicht, sondern präsentiert sich selbst als etwas Reales, sie ist Ausdruck der inneren Kräftedifferenz, der inneren Wirkung, eben der Kraft, und die Kraft will sich zeigen, sie ist das ständige sich-zeigen-Wollen als eine Konstatierung ihrer Qualität. Die Kräfte bringen die Qualität hervor als Macht und sie produzieren permanent, sie sind der Ausdruck und die Manifestation ihrer selbst als dieser Wille. Fragmentarisch notiert Nietzsche 1887 »Dynamis ›reale Tendenz zur Aktion‹, noch gehemmt, die sich zu aktualisieren versucht – ›Wille zur Macht‹ – ›Spannkraft‹ ›aufgesammelte und aufgespeicherte Bewegungstendenz‹«45 als Kommentar zu Otto Liebmanns Rehabilitation der aristotelischen dýnamis-Lehre46, und es ist tatsächlich die Tendenz, der Zug oder Drang nach der Aktualisierung aufgestauter, präsenter Potentiale, die das Kräftedenken auch 44 | Vgl. den Begriff der Ekphantischen Präsenz bei Dieter Mersch, Negative Präsenz, in: Arno Böhler/Susanne Granzer, Ereignis Denken – TheatRealität, Performanz, Ereignis, 112ff. 45 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 9 [92], KSA 12, 387. 46 | Vgl. Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 207.

3 Destinationen

in Verbindung mit der Naturwissenschaft und die Formulierung oder den Gedanken des Willens zur Macht nährt und stärkt. Aristoteles spaltet und dupliziert den Begriff der dýnamis in Potenz und Potential47, in Kraft und Möglichkeit in seinem ontologischen Prozess des wirklich-Werdens, des zum Wirken Kommens – er formt die gesamte Materie in den Komplex der Differenz von Kraft und Möglichkeit um, der einem inneren Prinzip der Zielgerichtetheit folgt, einem immanenten Telos, das er in sich trägt, das jeder singuläre Komplex in sich trägt als das in-die-Erscheinung-treten des Möglichen, als das Realisieren des latent Vorhandenen, als Umsetzung. Die Kraft ist Fähigkeit und Möglichkeit mit einer Intensität oder als eine basale Tendenz der Entladung, der Kraftwirkung, die es umzusetzen gilt, und sie ist selbst diese Tendenz als Wille, sie ist Wissen um die Möglichkeit und Wissen als Sehen der Möglichkeit, Drang zur Verwirklichung und Drang zum Werk – aber nicht als eine Auslöschung der Möglichkeit per se, sondern als eine Umformung oder Transformation des Möglichen in einen Horizont des Verwirklichten mit einer damit verbundenen, neu geschaffenen oder weiter greifenden Potenz. Jede Kraft wirkt und wirkt mit anderen Kräften, sie wirken auf- und gegeneinander und erzeugen in ihrem Wirken Formen, kleinste Formen, Atomkerne, Atome, Moleküle, usw., erzeugen Qualitäten als quantitative Differenzen oder Differentialverhältnisse, verlieren darin aber nicht ihren Status des Kraftseins und wirken-Könnens – die Realisierung hebt die Potenz nicht in einen Zustand der Stasis, sondern erweitert das Feld der Möglichkeit, vergrößert sie. Demgemäß ist die Welt der Formen keine der offenen, präsenten, sondern eine der zum Großteil verborgenen Kräfte, eine plurale Welt der Potentiale oder aufgestauten Kräfte, die zu langsamen oder punktuellen Entladungen kommen können und sofort wieder in andere Formen übergehen, sich umformen, von anderen Formkomplexen aufgenommen, vereinnahmt werden und damit sich selbst und das Wesen des anderen verändern, beeinflussen, umformen. Die Konstanz oder Erhaltung der Energie ist kein Spiel der Transparenz, sondern ihr genaues Gegenteil: Die Kräfte agieren im Verborgenen, hinter den Masken, den Erscheinungen, sie verkörpern sich und interagieren, sind die poröse Struktur der Körper, ihre Öffnung per se, sind Ventile und Nadeln. Der große Gleichheitssatz causa aequat effectum 48 ist im Grunde als ebenso universal zu betrachten wie jener, dass es nur eine Kraft gibt, die gleichbleibt, die sich erhält, jedoch sind es im konkreten Fall die Prozesse von Anstoß und Entladung, die Auslösung großer energetischer Potentiale verursacht durch einen

47 | Josef Stallmach, Dynamis und Energeia, 13ff. 48 | Vgl. Julius Robert Mayer, Die Mechanik der Wärme, 3; Gottfried Wilhelm Leibniz, Specimen Dynamicum, 22.

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Funken, eine kleine Bewegung, ein Ferment etc.49, durch das Freisetzen von Kräften, von Stauungen, die in jeder Form, in jedem Körper, in jedem Gedanken, in allen Realitäten veranlagt sind und sein müssen, die je nach Ventilation und Austausch, je nach Charakter explosiv sind. Es ist ein Kräftegeschehen im Gange, das eben durch seinen verborgenen Drang niemals zu einem Stillstand, niemals zu einem Ausgleich kommen kann, in dem nicht eine übermächtige Kraft, sondern viele mächtige, und noch viel mehr unterlegene Kräfte am Werk sind, dominante, aktive und reaktive Kräfte50, streitsüchtige, eigensinnige Kräfte, die nicht einen Willen haben, sondern de facto Willen sind, die ein Können sind, dýnamis, die enérgeia wird und darin ihre dýnamis, ihr Potential erhöht, steigert, in ihrem Wirken ihre Macht steigert, die sie einzig und allein will – sie will zu sich selbst kommen.

4 O RGANISATIONEN Der Wille zur Macht ist ein Begriff, ein Schlagwort und eine intraterminologische Ergänzung: Er ist Kraft nach außen und Wille zur Macht nach innen – Willens- oder Kraftquantum, Ausdruck, Bestandteil und Prinzip des Lebens als philosophischer Versuch. Es ist ebenso viel und ebenso wenig Träumerei und Schwärmerei darin, wie in allen anderen großen, mächtigen Begriffen der Philosophie: Er ist vor allem ein geschehenslogisches Konzept nach einer Analogie, oder einer ganzen Reihe von Analogien, ein logischer Schluss des meditierenden und zugleich sammelnden Philosophen. »Es hilft nichts: man muß alle Bewegungen, alle ›Erscheinungen‹, alle ›Gesetze‹ nur als Symptome eines innerlichen Geschehens fassen und sich der Analogie des Menschen zu Ende bedienen. Am Thier ist es möglich, aus dem Willen zur Macht alle seine Triebe abzuleiten: ebenso alle Funktionen des organischen Lebens aus dieser Quelle.«51 Aber es ist eben der Mensch, er selbst, der ihm am nächsten, am geheimnisvollsten und zugleich am offensten ist, die Innenwelt, das organische, mentale, suchende, ausgreifende Wirken, die es zu untersuchen, die es zu transponieren und zu transportieren gilt. Man nimmt die Erkenntnisse der Naturwissenschaft an, nimmt sie mit auf den Weg, schlägt hier und dort seine Zelte auf, aber sucht das Prinzip, das Innen, die Innenwelt der Kraft, wie sie Leibniz gesucht und gefunden hat, das 49 | Vgl. Julius Robert Mayer, Über Auslösung. 50 | Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 46: »In einem Körper werden die überlegenen oder herrschenden Kräfte als aktive, die unterlegenen oder beherrschten als reaktive benannt.« 51 | Fridrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 36 [31], KSA 11, 563.

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treibende Moment an sich. Es geht nicht um eine Ergänzung als Zusatz, sondern um eine Erfüllung des Begriffs, um eine Animierung, um einen Bezug, einen Konnex zum Leben selbst. »Damit wird sichtbar, worauf die Formel von der ›inneren Welt‹ eigentlich zielt: Es sind die aus der Innenerfahrung des Menschen stammenden, unvermeidlichen Projektionen auf – oder besser in die bewegenden Kräfte der äußeren Welt. Die ›innere Qualität‹ der Kraft ist aus einer Übertragung gewonnen. Die unsere eigene Kraftäußerung begleitende innere Empfindung ist der erkenntnistheoretische Ort, an dem sich die Unterscheidung zwischen Innen und Außen bildet. Nur über unsere Empfindungen haben wir Zugang zu den Dingen. Was immer wir als Kraft erleben, ist über die eigene Kraft vermittelt, tritt nur als Reaktion auf unsere eigene Kraft in den Horizont.« 52

Der Ausschluss dieser inneren Empfindung, der vermeintlichen Begleiterscheinung, wäre die notwendige Verschleierung und Verdeckung des Innen überhaupt: Wir haben, der Philosoph selbst hat nichts anderes, kein anderes Objekt der Introspektion, als eben sich selbst, und er darf vor sich selbst, vor seiner eigenen Innenwelt nicht Halt machen; er muss sie mitnehmen, annehmen, muss den Kreis der Betrachtung um sich selbst ziehen, schließen, darf sich nicht nach sokratischer Vorgabe ausschließen, denn dadurch wird der Blick, wird die Sicht auf das Wesentliche verstellt. Vielleicht bedeutet der Aufruf, die Forderung, sich der Analogie des Menschen zu Ende zu bedienen nicht nur, das Herrschaftsgebiet der Kräfte, des Willens zur Macht auch auf alle mentalen, geistigen Ebenen, auf alles Wünschen und Begehren auszudehnen, sondern vielmehr auch noch den letzten Menschen im Prozess der Analysis, der wissenschaftlichen Untersuchung in die Betrachtung miteinzubeziehen, und das ist – aus der Perspektive des Betrachters – er selbst, der erkennen will, der wissen will, der sein Wissen vergrößern, seinen Horizont erweitern will, etc.53 Der Wille zur Macht ist das Tiefste und Innerste, ein Anklang an den oder Weiterentwicklung des conatus, des appetitus in der und als die Monade, er ist die Kraft als Entelechie, die das Streben nach Wirklichkeit und nach einem Mehr an Potential in sich trägt. Sein Charakter ist das Streben und Ausgreifen nach anderen Kräften, das Annektieren und Akkumulieren, das unersättliche zunehmen-Wollen als Steigerung seiner selbst, ähnlich dem spinozistischen Trieb, dem es in der Umwandlung der Affekte in vernünftige, durchsichtige Zustände, im Selbstwerden der Ursache um eine Steigerung der Macht geht. 52 | Volker Gerhardt, Vom Willen zur Macht, 210. 53 | Vgl. Freud schreibt über Nietzsche, »er habe sich selber besser gekannt als irgendein anderer Mensch, der je gelebt hätte oder je leben würde.« – Walter Kaufmann, Nietzsche als der erste große Psychologe, in: Nietzsche Studien, Bd. 7, 262.

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Der Wille zur Macht ist der aristokratische Zug des Lebens selbst, ist die Antithese zur Selbsterhaltung als reines Moment oder Bedürfnis der Steigerung, er ist Prinzip der Erhaltung des Lebens in seinem mehr-Wollen, nicht als Gegenpol der Stagnation, sondern als Beweis der Gleichsetzung von Ruhe und Tod. Erweiterung, Mehrung, Steigerung und Auslassung der Kraft sind die wesentlichen Tendenzen, die Grundzüge des Lebendigen überhaupt – die Erhaltung des Daseins ist in diesem Fall sogar zweitrangig, nebensächlich. Er ist kein blinder, aber ein rücksichtsloser Wille, der Antrieb zum Auf bau von Komplexen und Gebilden, der der Macht-Mehrung in einer rein von Mächten regierten Welt dient, die gar kein Streben nach Erhaltung kennt: Es gibt keine Zäsur, keine Einschränkung des Feldes, des Wirkungsraumes. Er weitet seine Kompetenz nicht aus, sondern wohnt allen Existenzen, allem Lebendigen, Organischen und allem Anorganischen inne, agiert im Denken ebenso, wie im Blutkreislauf und in den Zellen. »[M]an kann die unterste und ursprünglichste Thätigkeit im Protoplasma nicht aus einem Willen zur Selbsterhaltung ableiten: denn es nimmt auf eine unsinnige Art mehr in sich hinein, als die Erhaltung bedingen würde: und vor allem, es ›erhält sich‹ damit eben n i c h t , sondern z e r f ä l l t . . . Der Trieb, der hier waltet, hat gerade dieses Sich-nicht-erhalten-Wollen zu erklären […].« 54

In seinem Ausgreifen, in der Verbindung der Kräfte, im Akt der Formschaffung, der immer im Vollzug ist – sofern es keine vereinzelte, keine absolut singuläre Kraft geben kann, ist der Wille immer als Organisation, als Wille-zur-Macht-Organisation aktiv und fordernd, er bildet Kommunen, Zusammenschlüsse, agiert nach einem Prinzip des Schließens und Verknüpfens, allerdings rein um der Erhöhung seines Potentials willen. Er schafft zweckmäßige Ordnungen, Organisationen – und jede kleinste Erscheinung, jede Dimension über einem Minimum an Wirkkraft oder als dieses Minimum ist eine Qualität als Kräftedifferenz55, eine Auseinandersetzung von Willens- und Kraftquanta – die aber im Dienste eines Höheren stehen, einer herrschenden Kraft dienen als Beförderung und Steigerung ihrer Kraft. Die Bestimmung dieser Untergrenze, der Membran oder des Filters der Erscheinbarkeit, wie ihn schon die Innenwelt der Monaden kennt 56, wird von der Physik wenige Jahre nach Nietzsches Tod nachgereicht, fast als eine Konkretion 54 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 11 [121], KSA 13, 57, Hervorhebung i.O. 55 | Vgl. Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 46: »Denn die in Beziehung tretenden Kräfte weisen eine Quantität nur auf, insofern jede auch die Qualität besitzt, die ihrem quantitativen Unterschied als solchen entspricht.« 56 | Vgl. Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 139ff.

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und mathematische Würdigung des metaphysischen Erbes. Der Quotient aus Energie und Frequenz eines Photons ergibt eine Naturkonstante und zugleich einen Schwellenwert, den Wert einer universalen Schwelle, steckt die Pforten der Wahrnehmung und zugleich jene der Erscheinung ab: Das Planck’sche Wirkungsquantum57, eine verschwindend kleine Größe, ist das Feuertor in die reale Welt, in den Horizont der Wirkungen, des Austauschs, und es muss aus metaphysischer Konsequenz eine universale Konstante sein, denn, einfach formuliert: etwas, das nicht wirkt, ist nichts. Die kleinsten Teilchen, die kleinsten Bestandteile, die letzten Überreste der Materie sind in ihrer Ungenauigkeit, in ihrer Unbestimmbarkeit nur an eine Vorgabe gebunden, nämlich an das nicht-unterschreiten-Dürfen dieses letzten Quantums an Wirkkraft. »Nach Heisenberg spricht man von der Ungenauigkeit des Ortes als Ortsunschärfe und von der Ungenauigkeit des Impulses als Impulsunschärfe. Die Heisenberg’sche Unschärfebeziehung besagt nun, dass das Produkt aus Ortsunschärfe und Impulsunschärfe einen bestimmten Betrag nicht unterschreiten kann. Dieser Betrag ist gegeben durch das von Max Planck entdeckte Wirkungsquantum, das allerdings sehr klein ist.« 58

Aber es ist eben nicht Materie im überlieferten Sinn, sondern Konzentrationen von Wirkung, Kraftquanten, Zusammenballungen, die am Formauf bau beteiligt sind – selbst Formen, die nach den Ansprüchen mathematischer Exaktheit nur ungenau, unscharf zu bestimmen sind, die keinen bestimmten Ort haben, kein Fixum sind, kein im klassischen Sinne verstandenes Sein konstatieren, sondern deren Konstituens der Impuls, die Bewegung aus- und sie zu einem ursprünglichen movens macht, eine alle materielle Erscheinung bedingende Bewegung. Ebenso, wie die Konstanz der Energie als ein philosophisches Postulat, diffus aus griechischer Vorzeit, konkreter durch den leibnizschen Dynamismus, seine Taufe und Anerkennung durch die Wissenschaften erst in dem Erhaltungssatz Mayers erfährt, ist es auch das Quantum Kraft, der Primat der Wirkung, den Nietzsche einführt, auf den er schließt und den er insgeheim in das kollektive Unterbewusste der Naturwissenschaften eindringen lässt, das seinen Auftritt erst versehen mit den Insignien der Berechenbarkeit und dem Ritterschlag der physikalischen Notwendigkeit feiern darf. Die Welt selbst ist eine konstante, in sich unendlich flexible Ewigkeit, spielerisch, ein großer Maskenball der wechselnden und sich verändernden Formen, ein Spiel der Intensitäten, insofern Kraftwirkungen gleichzusetzen sind mit der Bildung von Kraftzentren, Konzentrationen, von ungleichen Relationen. Eine Kraft oder ein Kraftpunkt kann niemals singulär auftreten, nicht einmal als vereinzelt vorgestellt werden, er muss immer »in Bezug auf …«, 57 | Vgl. Anton Zeilinger, Einsteins Schleier, 16. 58 | Anton Zeilinger, Einsteins Spuk, 74.

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immer »in Relation zu …« gedacht und gedeutet werden und zugleich selbst deuten und interpretieren – in einem grundlegenden Bezugsverhältnis59. Jede Macht oder Kraftkonstellation steht durch den Prozess der Auslegung in einem Ungleichheitsverhältnis, und ebenso, wie es niemals nur eine Kraft oder einen Kraftpunkt geben kann, können auch nicht zwei absolut gleichwertige, gleichmächtige Kraftformen auftreten oder aufeinander treffen. Jedes Kräfteverhältnis ist Differenz, nicht Äquivalenz und produziert genau darin, als singulärer Zustand des Ganzen, eine Modifikation, einen Zustandsprozess, der zugleich Ausdruck mehrerer aufeinander wirkender Willen-zur-Macht-Komplexe und in seinem Ausdruck selbst eine Willen-zur-Macht-Organisation ist. Es wirkt immer eine aktive, bestimmende, auf eine reaktive, unterlegene, gehorchende Kraft auf Grund der Disposition, der Qualität ihres Zueinander und der individuellen Art ihrer Auseinandersetzung, ihrer gegenseitigen Deutung und Auslegung, wodurch sich die Interpretation60 als eigentlich ursprüngliche Tätigkeit des Willens oder der relativen Einheiten ergibt: Jede singuläre Erscheinung ist eine Qualität als Kräftedifferenz, als Ausdruck einer Interpretation, ist Wille zur Macht und in ihrem Erscheinen immer interpretierend, auslegend, wertend, strebend – sie deutet auf ihre ganz bestimmte Art und Weise die ganze Welt, steht in einem absoluten Perspektivismus, »vermöge dessen jedes Kraftcentrum – und nicht nur der Mensch – von sich aus die ganze übrige Welt construirt d.h. an seiner Kraft mißt, betastet, gestaltet …«61 Die Welt ist in ihren unendlichen, konvergenten Reihen62 nicht eingeschlossen in der Einheit einer Seelenmonade, sondern ist sowohl Wirkung wie auch interpretatives Produkt oder Auslegung, soweit der Bezug gegeben ist, soweit eine Kräfterelation besteht, wodurch der deterministische Zug eingeschränkt oder hintergangen wird. So revolutionär der Gedanke des Einschlusses des Unendlichen auch sein mag, so sehr ist er in seiner Hermetik eine Anforderung oder ein Erfordernis des von Leibniz mit Gott geschlossenen Stabilitätspaktes, eine einvernehmliche Lösung mit einem Anker der Transzendenz, ebenso, wie die spinozistische Macht keine individuelle, sondern die Macht Gottes in ihrer Verteilung, in ihrer modifizierten Aufteilung manifestiert, ein unum 59 | Vgl. z.B.: G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Werke 3, 114: »Es ergibt sich hieraus, daß der Begriff der Kraft durch die Verdoppelung in zwei Kräfte wirklich wird und wie er dies wird. Diese zwei Kräfte existieren als für sich seiende Wesen; aber ihre Existenz ist eine solche Bewegung gegeneinander, daß ihr Sein vielmehr ein reines Gesetztsein durch ein anderes ist, d.h. daß ihr Sein vielmehr die reine Bedeutung des Verschwindens hat.« 60 | Vgl. Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 133ff. 61 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 14 [186], KSA 13, 373. 62 | Vgl. Gilles Deleuze, Die Falte – Leibniz und der Barock, 100.

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und omnium. Leibniz verriegelt Fenster und Türen der Monade und wirft den Schlüssel weg, er mauert sie zu, nachdem er zuvor das ganze Universum in sie hineingelegt, eingeschrieben hat, alle Zukunft und alles Gewesene, jedes Ereignis und jede Verkettung von Ereignissen. Sie ist ein Spiegel und zugleich gekettet an die Vorgaben einer deterministisch-harmonischen Regulation, der appetitus ein grundlegendes Streben, aber ebenso gefesselt an die inneren Monadenberge, an die Perzeptionen, die er wollen muss und an denen ihm immer wieder seine Leber herausgerissen wird, sein Herz, das nach draußen, die Grenzen überwinden will. Diese Ekstase ist bei Leibniz per definitionem nicht möglich, eine äußerste und letzte Schale, eine dünne Haut von Transzendenz, die die Monaden, die ihren Kosmos umhüllt und gleichzeitig schützt, eine göttliche Atmosphäre, die ein Werden der Welt nur in geregelten Bahnen, nach einem bestimmten Plan zulässt, eine Gewissheit und Sicherheit.

5 S TEIGERUNGEN So ist es ein letzter Schritt, den Nietzsche vollzieht, den er wagt – nicht als »Vollender der Metaphysik«63, nicht als Vollstrecker Gottes, sondern als Prophet eines göttlichen Zirkelgeschehens, als philosophischer Dichter einer fließenden und überfließenden Welt. Die mutigsten und konsequentesten unter den Philosophen, Leibniz und Spinoza, die stärksten Philosopheme eines Immanenzgeschehens und einer absoluten Individualität, die beiden Substanzen, bestreiten ihren Weg noch mit den Überresten der Unschuld des Seins und der Verantwortungslosigkeit, mit den Richtungsvorgaben, den Weisungen, die der Geschehensverlauf – sollte er auch ein unendlicher sein – zu nehmen hat, mit der letzten Last, die das Werden noch zu tragen hat, bis Nietzsche, mit Hammer und Peitsche bewaffnet, ein unmissverständliches te absolvo ausspricht und die »Unschuld des Werdens«64 proklamiert. In jedem Fall aber geht es in der Bestimmung oder Erkenntnis des basalen Willens um die Hervorkehrung der grundlegenden Tendenz der Steigerung, des mehr-werden-Wollens, der Stärkung und Zunahme, der Akkumulation von Kraft und damit verbunden um die Auslöschung jeder Vorstellung eines Willens zur Selbsterhaltung oder Nivellierung; auch hier wird eine Umwertung oder eine Umkehr vollzogen, insofern jede Erhaltungsbestrebung in den 63 | Mihailo Djuriü, Nietzsche und die Metaphysik, 88; zur Deutung Nietzsches als Vollender der Metaphysik vgl. Martin Heidegger, Der Wille zur Macht als Kunst, in: Nietzsche I, 1 – 225, und gegen diese Auslegung z.B.: Wolfgang Müller-Lauter, Nietzsche – Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, 137. 64 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, 7 [21], KSA 10, 245.

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Dienst des ausgreifenden Willens zur Macht gestellt, untergeordnet, funktionalisiert wird. Jedes Organ, jede Zelle perpetuiert nicht um ihrer oder seiner selbst willen, sondern agiert einem Befehl gehorchend und gibt selbst Befehle an die jeweils untergeordneten relativen Einheiten, sie leben und sterben im Dienste einer größeren Sache, leben nach dem Diktat ihrer inneren Distinktion und äußeren Regulation. Die Einheiten sind gebrochen, als wesentliche Differenzen enttarnt, die materialistische Atomistik aufgelöst, das Klümpchen-Atom65 zerfallen und alles Existierende ist ein als relationale Kraftwirkungen auszulegendes Geschehen – alle Einheiten eigentlich Projektionen: »Wird der auf diese Weise wiedergewonnene Gesichtspunkt der Flüssigkeit alles dessen, was und wie es ist, in den ›Wert‹-Zusammenhang gerückt, so ist zu sagen, daß für Nietzsche gerade im Vergänglichen, im Wechselnden, das gegenüber dem Festhalten an der Illusion des Sich-Gleich-Bleibenden Höherwertige liegt. Denn darin fällt das Leben nicht aus seinem eigenen Grundcharakter heraus, sondern wird vielmehr in seinem Vollzug zu dem, was es ist. So ist es nur zu verständlich, daß Nietzsche nicht nur gegen Spinozas Erhaltungs-Grundsatz, sondern auch gegen die bei Spinoza anzutreffende Höherwertigkeit der als ›causa sui‹ gedachten und sich gegenüber ihren Modi ewig gleichbleibenden Substanz polemisiert.« 66

Denn die Modi sind sehr wohl getrieben von dem Bedürfnis einer Steigerung der Macht, allerdings ist die potentia des singulären Modus eine intensive Modifikation der Macht Gottes und damit die Macht eines anderen, usw. Bei Nietzsche hingegen ist das Interpretationsgeschehen ein Prozess der individuellen Machtsteigerung, insofern jeder Kraft- oder Wille-zur-MachtKomplex in seinem notwendigen Deuten des Gegenübers in ein Verhältnis und damit in ein Herrschaftsverhältnis tritt, seine tatsächlich eigene Macht mehrt oder mindert, in jedem Fall aber eine Form konstituiert und als diese Form weiter interpretiert, weiter deutet, einen größeren Körper bildet. Jede Art von Bewegung, jede Prozedur, egal, ob chemisch, biologisch, physikalisch, psychisch oder sozial, ist im Grunde agieren oder reagieren, wie es die Elemente vorexerzieren, ist auslegen und umformen. Es sind Akte in einer perspektivischen Struktur, die eine Mehrung der je individuellen Fähigkeiten und Möglichkeiten anstreben, die eine neue Form präsentieren und als relative Einheit Potential in sich schließen. Nietzsche schreibt: »Meine Vorstellung ist, daß jeder spezifische Körper darnach strebt, über den ganzen Raum Herr zu werden und seine Kraft auszudehnen (– sein Wille zur Macht:) und Alles 65 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 36 [34], KSA 11, 565. 66 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 89.

5 Steigerungen

das zurückstoßen, was seiner Ausdehnung widerstrebt. Aber er stößt fortwährend auf gleiche Bestrebungen anderer Körper und endet, sich mit denen zu arrangieren (›vereinigen‹), welche ihm verwandt genug sind: – so c o n s p i r i r e n s i e d a n n z u s a m m e n z u r M a c h t . Und der Prozeß geht weiter…« 67

So bilden Kraftkonzentrationen Atomkerne und Verbindungen mit Elektronen, bilden Atome und Atomverbindungen, Moleküle, Zellen und Zellverbände, Organe und Organisationen, die innerlich sehr wohl nach der Erhaltung ihrer Komponenten, Bestandteile, ihrer Konstituenzien trachten, aber eben nicht um der Erhaltung, sondern um der Steigerung der relativen Einheit willen, die als solche immer weiter versucht, den Raum, das Umfeld zu dominieren, zu vereinnahmen, die sich alles anzueignen sucht – als Ausdruck einer Machtpolitik; oder einer Erschließungs- und Ergründungspolitik, denn der Raum, von dem Nietzsche spricht, die Gefilde, über die jeder Wille versucht, Herr zu werden, die er versucht, zu unterwerfen, sind in diesem Fall der Eroberung keine objektiven, keine brachliegenden Räume, sondern müssen aus den Bezugnahmen der Willenspunktationen erst auf gewisse Weise konstruiert, zugänglich gemacht werden, müssen erst einer ursprünglich schöpferischen Tätigkeit entspringen, denn dort, wo keine Beziehung und keine Interpretation ist, ist überhaupt nichts. Absolut neue oder besetzte Räume, neue oder alte Welten – niemals tote Welt, niemals leerer Raum. Jeder spezifische Körper ist seinem Wesen nach Kraft, Energie, Welle – Erkenntnisse der Physik – und in seinem Kraft-sein ist er Wille zur Macht, seine Kraft ist der Wille zur Macht als Kraft zu etwas, als gerichtete und singulär spezifizierte Kraft, worin er mit allem anderen, mit jeder anderen Existenz übereinkommt, als ein verbindendes Moment, insofern die Natur, die Welt, das Gesamt des Geschehens hierin eine gemeinsame, eine unmissverständliche Sprache hat, eine tatsächlich apriorische Grammatik, und damit das Konspirieren ermöglicht, fast als eine Bedingung der Möglichkeit. Die Qualitäten treffen aufeinander und sondieren, sie nehmen Maß und schätzen ab, sie bewerten als ihre ursprüngliche, ureigene und ureignende Tätigkeit, sie interpretieren und legen aus nach den Vorgaben eines immanenten Zieles, nämlich der Erweiterung des Raumes, des Handlungs-, Kompetenz-, Möglichkeits- und Herrschaftsraumes. Ihr Eigen-Sinn liegt vor allem in einer An-Eignung oder Ent-Eignung als der Unterwerfung unter das Diktat eines mächtigeren, stärkeren Willens. Der Wille ist überall, Kräfte sind überall, aber sie sind Geschöpfe der Nacht, dionysische Gespenster, Verwalter und Dramaturgen des Verborgenen, sie stehen hinter, unter jeder Form, sie haben jede Einheit schon zerrissen, bevor die67 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 14 [186], KSA 13, 373f, Hervorhebung i.O.

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se jemals als Einheit in Erscheinung treten konnte. Der Wille ist die Nacht und die Finsternis, und die Nacht ist tief, tiefer als der Mensch, die Wissenschaft, die Klarheit des Tages je gedacht oder zu denken gewagt haben68, sie greift weit zurück, weit hinunter in die tiefsten und entlegensten Orte, sie ist der Motor der phýsis, das Aufgehen der Sonne und ihr Untergang, die Mutter und das Grab, aus der alles Scheinen hervor- und in das alles Walten zurückgeht, die Schöpfung und ihre Auflösung, sie steht in oder hinter der phýsis – sie ist die Metaphysik des Gottes Dionysos. Es ist die reinste und ursprünglichste Metaphysik, eine Disziplin, die sich mit der phýsis selbst auseinandersetzt, ohne die Voraussetzungen und Zugeständnisse, die Nietzsche kritisiert, ohne sokratisches Ideal, platonische Welten, christliches Gewissen, eine erdverbundene, eine ihrem Thema verbundene Wissenschaft und zugleich eine Kunst, philosophisches Dichten des künstlerischen Prinzips, des Schaffensdranges und seinem Willen, ein sichselbst-Wollen. Die Umwertungen, Umwälzungen, die Hammer- und Donnerschläge richten sich nicht gegen das Fragen nach Prinzipien, nicht gegen den Willen, zu ergründen, nicht gegen den getriebenen Geist und nicht einmal gegen das Bedürfnis, die Suche nach Namen, nicht gegen die Sprache per se. Die »Metaphysik der Präsenz«69 oder des Seins beerdigt ihre eigene Dignität, ihre Noblesse vor allem unter den Schutzschildern, die sie sich gegen die zerstörerische Macht der Vergänglichkeit vorhält; sie wirft sich mit ihren Rettungsankern selbst über Bord eines ehemals stolzen Schiffes, sie versteinert alles Leben und alles Werden, um einen letzten Rest, einen letzten Glauben an etwas Beständiges aufrecht zu erhalten, und gegen diese in jeder Hinsicht unedlen Tätigkeiten, gegen diese Angst und Verurteilung des Werdens, gegen den Gedanken der Schöpfung, mit der das Werden in einem erdichteten oder systematisierten Apriori geschlagen und gebrandmarkt wird, richtet sich die Polemik, die Angriffslust Nietzsches. Wille zur Macht – ob phýsis, meta-phýsis, lógos, proto-phýsis, Physiologie, Logik, Physik, Kosmologie, etc. – welche Kategorien man auch immer anbringen, wie auch immer man werten möchte, er ist als Philosophem und Begriff Produkt einer ursprünglich philosophischen Tätigkeit, tatsächlich einer Metaphysik, die keinen oder so wenig wie möglich Schutz in Anspruch nimmt, die keine Werte auf bestehenden Fundamenten, sondern den Wert der Wertsetzung, der Individualität als einer ursprünglich wertenden, interpretierenden, relativen Einheit in den Vordergrund setzt und die Nabelschnur zur transzendenten Welt durchtrennt, den ersten Atemzug und den ersten Schrei fernab 68 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 285. 69 | Jacques Derrida, Grammatologie, 119.

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von einer Plazenta der Wahrheit ermöglicht. Im Gegensatz zu Schopenhauer, der den Willen als »Ding an sich« 70, als ein »in sich gegründetes, substantielles und transzendentes Prinzip der Wirklichkeit« 71 bestimmt, ist es bei Nietzsche die Diffusion der vielen Willenseinheiten, die aber in ihrer Richtung, in ihrer Ausrichtung etwas Gemeinsames haben, die gleiche Sprache sprechen. Es ist nicht der eine Wille zur Macht Äquivalent der oder deckungsgleich mit der spinozistischen Substanz, sondern die Auflösung des Gedankens einer alles umfassenden causa sui, eines einheitlichen – wenn auch immanenten – Grundes, von dem nicht nur auszusagen bleibt, dass er allem, sondern vor allem auch, dass ihm alles immanent ist als einer metaphysischen oder theophysischen Einheit. Wenn Spinoza den transzendenten Angelpunkt zu Gunsten der Vergöttlichung der Natur aufhebt, sprengt, so braucht er das Eine nicht als Ausgang einer Wirkungskette, sondern als verbindendes und das Prinzip der Immanenz rechtfertigendes Moment, als Genesis und Genetik, auf die alles – als auf eine Einheit – zurückzuführen ist, in der alle Stränge zusammenlaufen. Nietzsche aber zündet sein Dynamit noch einmal in der gefallenen Herrlichkeit und sprengt die immanente Einheit in eine ursprüngliche Mannigfaltigkeit von Perspektiven, in eine Vielfalt von Willenseinheiten, deren Übereinkommen nicht in einer gemeinsamen Herkunft, sondern in einem gemeinsamen Streben, einem Bedürfnis wurzelt, insofern sie alle nach einem Prinzip des Ausgreifens und mehr-Wollens agieren, agieren müssen – ihrer Natur gemäß. So betrachtet ist die Rede von dem Willen zur Macht insofern berechtigt, als es eine nachgesetzte grammatikalische Verallgemeinerung ist (die Einheit als Begriff), die Beschreibung eines jedem Einzelnen immanenten Prinzips ohne einheitlichen Sammel- und Einheitspunkt, eines Prinzips als grundlegende Ausdrucksform des perspektivischen und Perspektiven schaffenden Daseins. Die Frage nach der Kommunikation ist das Grundproblem der Setzung einer Vielheit, der Streuung und der absoluten Mannigfaltigkeit von Kraftzentren und Konzentrationen. Wenn man davon ausgeht, dass jeder Wille und jede Willenseinheit, jede kleinste relative Einheit ihren Eigensinn, ihre Individualität besitzt, ihr Streben immer das nach Macht und Machtvergrößerung, nach Steigerung ist und die Formen immer schon größere oder kleinere Konstrukte, Organisationen von Kraft-Quanten sind, müssen die Möglichkeit und die Funktionalität von Organisationen an sich angezweifelt werden, denn es scheint, als ob eben durch die Separation und das Postulat der Eigenständigkeit der gemeinsame Boden verloren ginge, die Basis, auf der die Wirkungen 70 | Arthur Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Zweites Buch. Welt als Wille, § 23, 166. 71 | Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht, 38; vgl. auch Georg Simmel, Schopenhauer and Nietzsche, Kap. 3: Metaphysics of the Will, 32ff.

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stattfinden können. Aber es ist die Macht als Richtungsvorgabe, als der Sinn des Willens, als sein Etwas, zu dem er will, das eine Gemeinschaft im Sinne eines verbindenden Moments schafft, eine Sprache der Herrschaft und der Wirkung auf etwas hin als eine Sprache der Natur selbst, eine Ur-Sprache, vielleicht eben jene »nat language«, von der Joyce spricht oder in der er selbst zu sprechen versucht 72, und darin ist der Wille zur Macht auch Eins, er ist verbindendes und vor allem sinnstiftendes, genetisches Element, das Element oder eben der Grundzug, in dem man übereinkommt – aristokratisch arrangiert – als der Bedingung der Möglichkeit jeder Mechanik, jeder geregelten oder zufälligen Wirkung. Der Wille zur Macht untergräbt noch die einfachsten Vorgaben eines mechanistischen Weltbildes, indem er den Zug, das Warum klärt, indem er Sinn gibt. »Eine ›wissenschaftliche‹ Welt-Interpretation, wie ihr sie versteht, könnte folglich immer noch eine der d ü m m s t e n , das heisst sinnärmsten aller möglichen Welt-Interpretationen sein: dies den Herrn Mechanikern in’s Ohr und Gewissen gesagt, die heute gern unter die Philosophen laufen und durchaus vermeinen, Mechanik sei die Lehre von den ersten und letzten Gesetzen, auf denen wie auf einem Grundstocke alles Dasein aufgebaut sein müsse. Aber eine essentiell mechanische Welt wäre eine essentiell s i n n l o s e Welt!« 73

Jeder singuläre Wille ist ein Aspekt, eine Perspektive, eine Interpretation der Welt als ein Deuten von Machtgefügen und ist selbst ein solches Gefüge, eine Vielheit, eine Pluralität, und alle Entwicklung, jede Selbstentwicklung, jeder rückwirkend als Evolution kategorisierte Schritt, jeder Fehlgriff, jede Anomalie, jeder Ausbruch aus der Norm ist ein Akt des oder der Willen zur Macht, ein Akt der Kräfte in ihrer Kommunikation, in der Sprache des Willens zur Macht, und die Sprache selbst, jede Grammatik ist ein Produkt dieses Willens, des Akteurs der Selbstverschleierung, des Maskenbildners und Maskenkünstlers. Alle Einheiten sind konstruierte, geschaffene, zurechtgemachte Vorstellungen als Vereinfachungen, als modi operandi, die dem Zwecke der Kommunikation und der Beförderung, der Ausweitung dienen, Zeichensprache, Zeichenkunst, Begriffe – Mittel zum Zweck. Es sind Schemata, die eine einheitliche Welt vorspielen und widerspiegeln, Denkkategorien, Wertesysteme, die Prinzipien unterstellen, die Richtlinien vorgeben, Ausschlussverfahren, Verdrängungsmechanismen, die über die Individualität bis zu einem gewissen Grad hinwegtäuschen, die einen gangbaren Weg vorzeichnen, vorschlagen und suggerieren. 72 | Vgl. Klaus Reichert, Nacht: Sprache, in: James Joyce, Finnegans Wake – Deutsch – Gesammelte Annäherungen. 73 | Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 373, KSA 3, 626.

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Es ist überall die Chemie im Spiel, überall das Agieren und Reagieren, überall das sinnstiftende Moment und überall sind Mittel zum Zwecke der Beförderung. Gleich der erste Aphorismus von »Menschliches, Allzumenschliches« trägt die Überschrift »Chemie der Begriffe und Empfindungen« 74 als Umschreibung einer Zusammensetzung, Agglomeration, als gewordener und gewachsener Operanden und Werte, als etwas scheinbar Fixes, von dem aus rückgeschlossen wird, das aber selbst in seine Elemente, in seine Moleküle zersetzt werden kann. Man darf hier nicht Halt machen und vor der Tiefe und der Konsequenz nicht zurückschrecken: Es wird nicht die Realität aller Phänomene geleugnet, nicht die Existenz und Wirklichkeit der Sprache, nicht der Geist, nicht die Vernunft, nicht das Organ und seine Zellen, sondern selbst auf ihren Grund aufmerksam gemacht, darauf hingewiesen, dass es nicht die Vernunft ist, die uns als erstes und oberstes Vermögen die ganze Welt eröffnet, sondern dass sie rückwirkend in ihrer Selbstanalyse von sich behauptet, diese ureinigende Fähigkeit immer schon besessen zu haben: als ihr spezifischer Wille zur Macht. Die Elemente der Sprache sind Konstruktionen zur Vereinfachung 75 und zur Verfolgung eines viel tiefergreifenden, ursprünglicheren Willens, eben des Willens zur Macht, der aus jedem Wesen, aus jeder Existenz spricht, aus ihren Urtiefen zu hören ist, und es ist ein psychologischer Fehlschluss, die von der Sprache und Grammatik suggerierten Einheiten als Begriffseinheiten rückgreifend oder rückagierend als Ausgangspunkt und Anfangsgrund zu setzen: das Sein, die Seele, das Ich usw. In dieser schürfenden, freilegenden Tätigkeit treibt Nietzsche seine eigentliche Profession auf die Spitze: Er agiert als Philologe der Sprache an sich 76, ihres Wesens als Mittel zum Zweck und der Gefahr ihrer Rückprojektionen durch die Philosophen. Die Einheiten sind tief verwurzelt und Notwendigkeiten, nichtsdestoweniger sind sie geschaffen und nichts Letztgültiges, sie sind Produkte und Elaborate von Konspirationen, von Zusammenschaltungen, von mehreren, unzähligen Machtkomplexen, die sich eine Kultur und viele Kulturen, eine und viele Sprachen gebildet, erfunden haben, die permanent am Arbeiten sind, unentwegt schaffen, die sich die Sprache des Traumes und die Sprache der Kunst bilden, die sich eine gemeinsame Wahrnehmung, die Illusion einer für alle gleichen Welt schaffen, die Herr werden wollen über alles Voraus- und alles Zurückliegende, die Wissenschaften und Einzelwissenschaften bilden und die 74 | Friedrich Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches 1, KSA 2, 23. 75 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 268, KSA 5, 221: »– die Geschichte der Sprache ist die Geschichte eines Abkürzungs-Prozesses –;« 76 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 2, KSA 5, 260: »Das Herrenrecht, Namen zu geben, geht so weit, dass man sich erlauben sollte, den Ursprung der Sprache selbst als Machtäusserung der Herrschenden zu fassen: […].«

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Bildung an sich erfinden, etc. Und man ist selbst in diesen Kreislauf verfügt, der Wille zur Macht ist ein Begriff, aber eben der Anklang einer Ur-Stimme, das Zeichen einer Selbstpräsentation, ein kurzes Auf blitzen der Ewigkeit, eine Version der Univozität als der eine Wille, der die vielen, unzähligen Willen ist und sie verbindet.

6 Z ERSE T ZUNGEN »Der Wille zur Macht ist die Vielheit von miteinander im Streit liegenden Kräften. Auch von der Kraft im Sinne Nietzsches kann man Einheit nur in der Bedeutung von Organisation aussagen. […] Als Spiel und Gegenspiel von Kräften resp. Machtwillen enthüllt sich die Welt, von der Nietzsche spricht. Bedenken wir zunächst, daß die Zusammenballungen von Machtquanten sich unablässig mehren oder mindern, so kann nur von sich fortlaufend ändernden Einheiten gesprochen werden, nicht aber von der Einheit. Einheit ist immer nur Organisation unter der kurzfristigen Herrschaft dominierender Machtwillen.« 77

Und diese Einheiten sind relativ, bedeuten eins78, meinen eins, folgen einem gemeinsamen Sinn und schaffen sich diesem Sinn oder diesem Ansinnen gemäß Einheiten, sie konstruieren und konstruieren sich selbst, schöpfen nach ihrem eigenen, organisatorischen Abbild. Das Problem oder die Gefahr des Prozesses sind nicht die gestalteten Einheiten an sich, denn das Formprinzip ist das Schaffensprinzip des Willens zur Macht – er will die Form, er will die gespielte, scheinbare Einheit, den apollinischen Glanz ihrer Erhabenheit; vielmehr ist es die Projektion, der Götzendienst, der an den Abbildern und Figuren, Begriffen und Statuen verrichtet wird, das Verkrusten und Erhärten ihrer Fugen und Risse, das Zähmen und Bändigen des inneren Aufruhrs. Die Verehrung der Einheit als einer metaphysischen Voraussetzung ist ein kultureller Aufstand gegen das Urprinzip des Kampfes, der Zerstörung und Erschaffung, das aber selbst noch Ausdruck des Willens zur Macht ist als ein Kampf gegen das von Nietzsche als Ideal des Künstlers bezeichnete zulassen-Können und Ja-sagen-Können zur Welt als einer sich ändernden, sich ständig modifizierenden Gesamtheit, einem ewigen Spiel der Perspektiven. Ein Aufstand der konstruierten Moral oder des Sklaventums…79 77 | Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht – Nietzsche-Interpretationen I, 40. 78 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 2 [87], KSA 12, 104. 79 | Vgl. z.B. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 10, KSA 5, 270: »Der Sklavenaufstand in der Moral beginnt damit, dass das R e s s e n t i m e n t selbst schöpferisch wird und Werthe gebiert: das Ressentiment solcher Wesen, denen die eigentliche

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Die Rede von der »Umwerthung der Werthe«80 ist nicht zuletzt, sondern vor allem ein Mahn- oder Weckruf, ein Aufruf an all jene, die die Tiefe, die die Gefahr des Gedankens fühlen oder erahnen können: In seiner Beschwörung, in seinem Auftreten ist der Wille zur Macht als Ursprung und Urprinzip, sind die Willen zur Macht als Weltkonstruktion zuerst und ganz besonders eines: Zerstörung und Vernichten, das Niederschlagen von Grundsätzen, der Rundumschlag einer absoluten Relativierung, in vielen Ohren Heuchelei, aus vielen Blickwinkeln Meuterei, Ketzerei, alles Negative und Destruktive, alles, das sich nicht in den Dienst einer oder der Sache stellt. Es ist eine Revolution ohne Ideale, ein scheinbar wahlloses, rückgratloses Kritisieren, Destruieren der Wissenschaft und Philosophie, Polemik gegen alle ehrbare Kunst und ganz eigentlich gegen alles, dem Wert und Bedeutung zugeschrieben werden. Die Moral wird ebenso angegriffen, wie die Seele, Schleier und Kleidung aller Psychologie und Ethik werden mitsamt ihren Trägern verleumdet und negiert im Zeichen eines dionysischen Gedankens, und alles erweckt den Anschein, als ob nichts übrig bliebe, als ob der Wille zur Macht, sollte man ihm glauben, sollte man ihn hören, noch die entferntesten Sonnen mit in das Grab seiner Dunkelheit risse und die Welt – ob perspektivisch oder nicht – einem Nichts, einem reinen destruktiven Nihilismus überantwortet wäre. Und tatsächlich: Die Konzeption verursacht und hinterlässt klaffende Wunden, Ruinen und entstellte Fratzen dessen, was als heilig und groß gegolten hat. Sie stellt nicht nur in Frage, sondern proklamiert die Falschheit und den Irrtum, entlarvt alle Fundamente, auf denen die Kultur, die Kulturen ihre Tempel und Werte geschaffen haben. Es bleibt nicht viel übrig und Nietzsche ist sich der Gefahr dieses in einer Hinsicht durchaus schrecklichen Gedankens bewusst, zugleich aber auch seiner Notwendigkeit und der damit verbundenen Aufgabe, mit ihm leben zu lernen, ihn anzunehmen, aufzunehmen, ihn als Gedanken ebenso wieder vergessen zu können, wie alles andere vergessen gekonnt werden muss, die Relativität ins Positive, in eine Bejahung81 zu verkehren, die Augen langsam an das Licht einer neuen Sonne, eines neuen Morgens zu gewöhnen. So wie Spinoza der Transzendenz in allen Ecken und den hintersten Winkeln nachstellt 82, sie überall vermutet und auszumerzen sucht, handhabt es Nietzsche mit der Vorstellung einer Einheit als dem letzten Überbleibsel einer sicheren Kultur: Jeder Rest muss zerschlagen und zertrümmert werden, denn das Rückholen des transzendenten Gottes in den Mantel der Natur ist nur der Reaktion, die der That versagt ist, die sich nur durch eine imaginäre Rache schadlos halten.« 80 | Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 203, KSA 5, 126ff. 81 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, 311. 82 | Vgl. Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 57.

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erste Schritt: Er bleibt dennoch der Gott, deus sive natura, und ebenso, wie sich die Natur Gott einverleibt, macht es Gott mit der Natur auf ihrem Boden: die Einheit bleibt. Aber die Welt der Kräfte und Kräfte-Wesen besteht auf ihren Eigensinn, ihre je eigene Perspektive als einem Aspekt der Macht und der Macht-Mehrung, sie ist eine Konsequenz und ein Postulat des Stolzes: Wenn es Kräfte gibt, und dieses Vertrauen, dieses Zutrauen in die Wissenschaft ist Voraussetzung als ein Beweis viel älterer, philosophischer Postulate, dann muss es sie überall geben, dann sind sie überall und wirken überall, dann sind sie nicht Bestandteil, keine Akzidenzien, sondern die Konstituenzien, die Grundlagen, das eigentliche »Was« der Welt und orientieren sich in der oder als die Welt, sind gerichtet als Willen oder Wellen, treiben aufeinander zu, befördern oder zerstören sich aus ihren jeweiligen Perspektiven, und wir sind überhaupt nicht im Stande, alle Aspekte zu indizieren, zu katalogisieren, da uns schlichtweg die Mittel fehlen (ähnlich, wie wir auf die unendliche Vielzahl göttlicher Attribute nur schließen können in Form einer Induktion unseres devoten Verstandes): »Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgendeinen anderen Charakter noch hat, ob nicht ein Dasein ohne Auslegung, ohne ›Sinn‹ eben zum ›Unsinn‹ wird, ob, andererseits, nicht alles Dasein essentiell ein a u s l e g e n d e s Dasein ist – das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlichste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehen und n u r in ihnen zu sehn. Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andere Arten Intellekt und Perspektive geben könnte […].« 83

Was wir wissen, wovon wir ausgehen können, ist, dass es Kräfte gibt, dass sie aktiv sind, dass sie Einheiten bilden und bilden müssen, dass aber die Einheiten konstruierte sind, der Bedeutung nach eins, und dass sie alle als Elaborate strebender Willen in Erscheinung treten, ins oder zum Scheinen kommen. Wieder und noch radikaler wird hier allen kategorischen Dichotomien, allem Bewusst-Unbewusst, allem Körper-Geist, im Besonderen allem Organisch-Anorganisch die Rechtfertigung entzogen, insofern jede Konstellation als Form den Anspruch eines Organs, einer Willen-zur-Macht-Organisation und einer Interpretationseinheit erhebt, und je kleiner und unbedeutender die Verbindungen zu sein scheinen, desto wichtiger und verlässlicher sind sie, desto zielsicherer ist ihr Wille.

83 | Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 374, KSA 626, Hervorhebung i.O.

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Jedes Kraftzentrum hat auf die ganze Welt, d.i. auf seine bezüglichen Komplexe, eine Perspektive, es sieht auf seine Art, hört, fühlt, deutet, es interpretiert je nach seiner eigenen Maßgabe und seinem Zustand, seiner Machtstellung und konstruiert damit eine eigene Welt 84 – kein Konstruktivismus im nihilistischen, sondern im perspektivischen Sinn, in der Dekonstruktion der einen Sphäre. »Es liegt auf der Hand, daß jedes von uns verschiedene Wesen andere Qualitäten empfindet und folglich in einer anderen Welt, als wir leben, lebt. Die Qualitäten sind unsere eigentliche menschliche Idiosynkrasie: zu verlangen, daß diese unsre menschlichen Auslegungen und Werthe allgemeine und vielleicht constitutive Werthe sind, gehört zu den erblichen Verrücktheiten des menschlichen Stolzes, der immer noch in der Religion seinen festesten Sitz hat.« 85

Die Welt als objektive Tatsache, als Gegebenheit, ist eine Täuschung, ein Glaube, sie existiert oder existierte überhaupt nicht außerhalb ihrer Deutungen, womit sie nicht negiert, sondern die Unmöglichkeit der Abstraktion von ihrem perspektivischen Charakter untermauert und die Notwendigkeit der sie konstruierenden Willen verdeutlicht wird. Es gehört einfach alles dazu und selbst die Wertverschiebungen, die Aktivitäten der subversiven, unterlegenen Kräfte, die Schöpfungen der Moralgläubigen und der Fleiß der Altardiener, der Götzendiener der Seele und der Vernunft gehören dazu und bewegen und verändern, bewirken etwas, das in dichotomischen Verhältnissen, moralischen Glaubenseinteilungen als gut oder böse, wünschenswert oder unduldbar kategorisiert, ausgelegt wird. Die Welt ist Chaos als das Aufeinandertreffen eigenständiger interpretierender Kräfte ohne feststehende Maßgabe, ohne eine ihr immanente Regel der Konfrontation, sie formt sich dem interpretierenden Auge, dem Sinn gemäß und die Flüssigkeit der Relationen, die sie konstituieren, ist die einzige graduelle Differenz und zugleich die einzige Gewissheit, die man annehmen darf. Die Notwendigkeit ist das Wirken der Willen aufeinander und das durch sie provozierte Werden, das immer wieder neu Werden und die stetige Veränderung, die ständige Neu-Organisation, die Komplexbildung und deren Fragilität, die sich ändernden Machtverhältnisse, wie es auch im Menschen als einer Willen-zur-Macht-Organisation niemals nur ein Wille ist, der herrscht und bestimmt, der die Richtung vorgibt – im Gegensatz zur Leibniz’schen Hierarchie der Monaden (die Monade Cäsar etc.) –, sondern es ist im Gefüge ein permanenter Wechsel und ein Gegeneinander, das ein Gesamt auf Zeit erhält, 84 | Vgl. das bekannte Beispiel von der Lebenswelt der Zecke, in: Jakob von Uexküll/ Georg Kriszat, Streifzüge durch die Umwelt von Tieren und Menschen, 12f. 85 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 6 [14], KSA 12, 238.

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zusammenhält, eine Oligarchie der Willen. Je einfacher und konkreter die Organisationen, desto sicherer und klarer sind die Kräfteverhältnisse abgesteckt, desto starrer und unwandelbarer, desto kleiner ist die Wahrscheinlichkeit eines Machtwechsels, wie es etwa im Bereich des vermeintlich Anorganischen der Fall ist. Das Procedere ist das gleiche, die Vorgabe immer das Wirken der Kräfte. »Ein Machtwille sucht z.B. einen anderen Machtwillen zu überwältigen. Zur Überwältigung gehört eine – je spezifische – Weise von ›Erkennen‹ desjenigen, das überwältigt werden soll. Kein Wille zur Macht ist ›blinder Wille‹.« Aber die Kräfteverhältnisse sind auf dieser niederen Stufe der Komplexität relativ klar und die Wahrnehmung der Kräfteverschiedenheit demgemäß eine scharfe, eine eindeutige. »Die Schärfe der Wahrnehmung, die den chemischen Kräften als solchen eigen sein soll, liegt in der Sicherheit und Bestimmtheit. Diese können nur in ›festen Wahrnehmungen‹ gegeben sein, welche Nietzsche dem Unorganischen in der Tat zuspricht.« 86 Er geht sogar so weit, im Bereich des Anorganischen von einer Herrschaft der Wahrheit zu sprechen 87, von einer relativen Verlässlichkeit bezüglich des Ausganges der Kämpfe und Kräftemessungen, der Konfrontationen, als die Organisationen nicht die Komplexität und Spezifikation der höheren Organismen haben oder bedeuten. Nichtsdestoweniger ist für alle Bereiche, für jedes Wirkungsfeld keine absolute Sicherheit gewährleistet und die Naturgesetze stellen dementsprechend nur Induktionen mit einer relativ geringen Wahrscheinlichkeit der Negativität dar oder umfassen einen sehr großen Zeitraum geregelter Verhältnisse, hinter oder vor den zu blicken uns weder möglich noch auch wichtig ist. Im Gegenteil: Es besteht kein Zweifel an der Nützlichkeit der scheinbar obersten Grundsätze einer prozessualen Funktionalität, aber hier wie dort bleibt darauf hinzuweisen, dass die prinzipielle Möglichkeit einer Veränderung der vermeintlich in Stein gemeißelten Dogmen gegeben ist – dass sich alles irgendwann anders verhalten haben könnte, dass alle Herrschaftsgebilde auch in der Natur gewachsene, geformte, entstandene sind, dass der Regelmäßigkeit aller Prozesse selbst ein Prozess, ein Verfahren, ein Übermächtigungsgeschehen vorangegangen ist, in dem sich ein Wille durchgesetzt hat, der standhält, der Regeln vorgegeben hat, der Schemata der Interpretation suggeriert. Es ist die Ahnung oder Koketterie mit der Unschärfe, ein Verweis auf die allen Messungen, aller vermeintlichen Genauigkeit oder Exaktheit immanente Formalisierung, Modellbildung, ein Vorgriff auf die fraktale Geometrie der Natur, ihre unergründliche Feinheit und darin ein Glaubensbekenntnis an die Univozität des heraklitischen (oder Heraklit zugesprochenen) panta rhei durch 86 | Wolfgang Müller-Lauter, Über Werden und Wille zur Macht, 64f. 87 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 35 [53], KSA 11, 536.

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das oder in dem Weltbild als einem fundamentalen Interpretations-, einem immerwährenden Willen-zur-Macht-Geschehen, denn auch »die chemischen Qualitäten fließen und ändern sich: mag der Zeitraum auch noch so groß sein, daß die jetzige Formel einer Zusammensetzung durch den Erfolg widerlegt wird. Einstweilen sind die Formeln wahr, denn sie sind grob;«88 – aber aus keiner Zusammensetzung ist eine absolute Notwendigkeit ab- oder herauszulesen, dass Elemente in genau dieser oder jener Form verbunden sein müssen, mögen sie auch Voraussetzungen, Grundbedingungen darstellen, wie der Sauerstoff. Die Bestimmung des Verhältnisses ist immer gebunden an eine gewisse Unschärfe, an eine Spannweite, und man kann nicht mit letzter Sicherheit sagen, dass die Varianz nicht größer wird, dass es nicht irgendwann größere Abweichungen gegeben hat oder geben wird, die das Verhältnis in gröberen Zügen verändern, mithin eine andere Perspektive, ein anderer Wille herrschend wird. Darin ist die permanente Veränderung, der »ewige Fluß der Dinge, in keinem Augenblick ist Sauerstoff genau dasselbe wie im vorigen, sondern etwas Neues: wenn auch diese Neuheit zu fein für alle Messungen ist, ja die ganze Entwicklung aller Neuheiten während der Dauer des Menschengeschlechts vielleicht noch nicht groß genug ist, um die Form zu widerlegen.« 89 Jedoch: Die Möglichkeit besteht, der Boden, auf dem wir gehen, auf dem die Fundamente gebaut sind, umschließt den Hauch einer Unsicherheit, ist selbst enérgeia auch als dýnamis, als Potential, als Schein einer Welt, die die Unterscheidung von Wahrheit und Schein in letzter Konsequenz gar nicht mehr kennt, in der eigentlich alles Schein geworden, alles mit dem Attribut eines gefährlichen Vielleicht90 behaftet ist. Wahrheit und Schein sind – wie alle anderen fundamentalen Gegensätze – eben nur Sätze einer Interpretation, einer Auslegung, sind Kategorisierungen als die Möglichkeit einer Gangbarmachung und letztendlich Bilder – Gottes- oder Weltbilder, Modelle, Glaubensinhalte, Anhaltspunkte… Der neue Ansatz ist die Deutung der Welt als Auslegungs- und Informationsgeschehen, als die permanente Tätigkeit relativer Einheiten in Form von Bezugnehmen, Bezüge-Herstellen auf Grund eines intrasubjektiven Strebens, eines Machtwillens, der Einheiten als solche konstituiert, als solche erscheinen lässt und sie als Form und Information präsentiert. Die Wesen sind Kräfte als Wirkungen nach außen und innen, als Speicher- und Entfaltungsformen, als gebannte und konservierte energetische Potentiale, die nach mehr oder weniger geregelten Auslösungsverfahren funktionieren, arbeiten, agieren oder reagieren. Information ist mit Sicherheit Wissen oder ähnlich unserem Wissensverständnis, jedoch in seiner Tragweite viel größer, viel umfassender 88 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, 11 [149], KSA 9, 499. 89 | Ebd. 90 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 2, KSA 5, 17.

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anzusetzen, als Teil eines fundamentalen Austauschprozesses, der nicht von Trägersubstanzen oder Medien befördert wird91, sondern als die Formen oder Komplexe selbst immerzu stattfindet, insofern jedes Machtwillen-Organ relative Form oder Einheit als komprimierte Kraft und gespeicherte Information und in seinem Wirken auch immer Formwerdung, Ent- oder Rückfaltung – als sich in Formation befindend – ist, mit unbestimmtem Ausgang, unbestimmtem Telos, als ständiger Tanz auf dem Feuer oder eben Teil eines in seinen unendlichen Perspektiven gar nicht abschätzbaren Interpretationsprozesses. Der destruktive Charakter des Willens zur Macht strebt nicht nach einer Zerstörung der Welt, trachtet nicht danach, eine absolute Einöde oder Wüste zurückzulassen, sondern die Perspektiven zu ändern, vielleicht sogar danach, eine – im Gegensatz zu der von den Religionen als Maske gebrauchten und vielfach missbrauchten – ehrliche Bescheidenheit geltend zu machen, eine Bescheidenheit des Bewusstseins92, die aus einer Schau ihrer Rück- und Fehlschlüsse und deren Unbegründbarkeit resultiert. Gesetzt, die Einheit ist gebrochen, die Existenz des physisch- ebenso, wie des metaphysisch-Einen in die Aktivität von Kräften aufgelöst, in ursprüngliche Differenzen verfügt, so zerbricht auch die Einheit als Ziel, als Entelechie und Zweck des Werdens, als ein Grund des Geschehens, für den oder dessenthalben etwas geschieht, als die transzendente Projektion des selbst schon vorgestellten immanenten Einen. »Es geht hier nicht mehr um die anthropozentrische Frage, ob die Wirklichkeit zweckmäßig auf den Menschen hingeordnet ist oder nicht, auch nicht um die Frage eines metaphysischen Endzweckes des Weltprozesses, ebensowenig um das Problem eines zwecksetzenden umfassenden Gesamt-Bewußtseins und auch nicht mehr um eine den Dingen selbst innewohnende Teleologie im Sinne des Entelechie-Gedankens.« 93

Sondern um eine grundlegende Relativierung von Wertkonstruktionen – und eben aus der Perspektive dieser Wertsetzungen, die sich in keinem Moment als solche verstehen, erhält der Gedanke des Willens zur Macht sein gefährliches Gesicht, sein teuflisches Aussehen, wird er von der Pluralität in den Singular rückübersetzt und als das Böse, Sinnvernichtende, Nihilistische an sich klassifiziert, er wird gesetzt, wie man es im Positiven schon mit dem Ding, der Seele und Gott gemacht hat – er fällt einer Einteilung, und der vorangehend, einer großen Sorge zum Opfer. 91 | Vgl. die kurze Charakteristik des technischen Übertragungsmodells in: Sybille Krämer, Medium, Bote, Übertragung – Kleine Metaphysik der Medialität, 13. 92 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1882 – 1884, 24 [16], KSA 10, 654: »Es ist die Phase der B e s c h e i d e n h e i t d e s B e w u ß t s e i n s .« 93 |  Günter Abel, Nietzsche, Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 120.

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Nietzsche geht es nicht um die Abschaffung des Zwecks, sondern um eine Relativierung der Fragestellung, um ihre Genealogie oder das Bewusstsein, dass einer bestimmten »Art zu fragen« eine Genealogie, ein Wachstum und in diesem Wachstum eine Wertsetzung vorausgehen. Und so verhält es sich mit dem Resultat der basalen Setzung von Willen-zur-Macht-Prozessen im Ganzen, vorausgesetzt, man kann oder darf diesbezüglich überhaupt von einer Art Resultat sprechen. Es entsteht ein intro- und extrospektiver Perspektivismus, ein Werterelativismus und zugleich die Möglichkeit, die Aufforderung, Werte zu setzen, neu zu setzen, neu zu interpretieren94. Die Welt ist in sich das immer fortlaufende Interpretieren, das Beziehen und Stellung nehmen, Einnehmen von Blickpunkten, Aspekten, ist immer Wollen und Wissen in seiner etymologischen Grundbedeutung von Sehen und Wahrnehmen, eben Ausgreifen und das andere Beurteilen nach einem einzigen Kriterium – nach dem der Macht und der Möglichkeit der eigenen Machtsteigerung. Das ist das einzig beständige Moment in der chaotischen Struktur der Relationen, der einzige Leitfaden, den es in der Betrachtung nicht aus den Augen, nicht aus dem Sinn zu verlieren gilt. Introspektion als die Sichtung der Auflösung, der chemischen Zersetzung oder Zersetzbarkeit alles scheinbar Feststehenden und die Entlarvung der härtesten und scheinbar haltbarsten Vorstellungen, auch der Naturgesetze, als Fest-Stellungen, als nur schwer widerlegbare Deutungen. So sehr Nietzsche Sprengstoff, so sehr er Dynamit ist in seiner impulsiven Destruktion, so sehr ist er auch Säure, die sickernde und langsam sickernde Auflösung von Vorstellungen und Glaubensbekenntnissen, die schleichende Zer- und Auseinandersetzung, zumindest die Relativierung und die damit verbundene Möglichkeit einer anderen Auslegung, eben das, was er auch sein möchte: ein Wachrütteln oder Zerrütten von allzu glatten, allzu menschlichen Götzenbildern, von Ideen, an deren Erscheinungsform über Jahrhunderte im Verborgenen – oft von großen Künstlern, Freskenmalern und Bildhauern des Geistes – verbissen gearbeitet wurde.

94 | Vgl. Friedrich Kaulbach, Philosophie des Perspektivismus, 217: »Nietzsche übernimmt in seinem Denk-handeln zwei Hauptaufgaben perspektivischer Philosophie. Die erste betrifft das Studium der Bedingungen der Möglichkeit für philosophisches ›Erkennen‹ Im Mittelpunkt ihres gedanklichen Feldes steht das Thema Perspektive und Wahrheit, wobei es um Sinnwahrheit geht. […] Die zweite Aufgabe erfüllt der Philosoph, wenn er sich selbst aufgrund experimenteller Erfahrung mit Weltperspektiven für eine bestimmte entschieden hat, von deren Sinnwahrheit er für sich selbst als Individuum wie auch für den Menschen seiner Zeit und dessen Zukunft überzeugt ist.«

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Entfaltungen 1 I NTERPRE TATIONEN Das Denken des oder der Willen zur Macht ist nicht das große Zerstören, nicht einmal das große Leugnen, eben nicht das Entwerten aller moralischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen Werte, sondern die Philosophie der Werte als ein Aufmerksam-Machen auf die Wertsetzungen als Voraussetzungen aller großen Regeln und Gesetze, auf das Nachattribuieren von einer irgendwie gearteten Gesetzmäßigkeit, weil man nicht wagt, zu sagen, dass es sich um eine Feststellung von Machtverhältnissen, von Macht-Strukturen handelt. Zugleich – und darin offenbart sich der kontradiktorische oder hinweisende Charakter von Nietzsches Philosophie – bedeutet das nicht, dass auf Grund der Herkunft von Gesetzen oder Mechanismen, auf Grund der Entdeckung ihres Ursprunges automatisch auf sie zu verzichten sei, sie außer Kraft gesetzt wären, oder anders: Nur aus dem Tatbestand, dass ein Naturgesetz keine apriorische Wahrheit sein muss, heißt das nicht, dass es nicht gilt, dass es sich nicht in den meisten, oder in allen uns bekannten Fällen als stimmig, als jeder weiteren Berechnung oder Verarbeitung nützlich erwiese. Im Gegenteil: Das Machtgeschehen, das Herrschen verlangt nach einer gewissen Einschränkung der Reflexion und die Deutung des Geschehens als Interpretationsgeschehen meint eben nicht, sich in jedem Augenblick – gleich einem »Aschermittwochs Memento Homo« – seiner fragilen, fraktalen Konstitution eingedenk zu sein, sondern dass die herrschende Kraft ihren Willen erfüllt, ihrem Streben nach einem Mehr nachkommt. »Die gewisse U n w i s s e n h e i t , in der der Regent gehalten wird über die einzelnen Verrichtungen und selbst Störungen des Gemeinwesens, gehört mit zu den Bedingungen, unter denen regirt werden kann. Kurz, wir gewinnen eine Schätzung auch für das Nichtwissen, das Im-Großen-und-Groben-Sehen, das Vereinfachen und Fälschen, das Perspectivische. Das Wichtigste ist aber: daß wir den Beherrscher und seine Unterthanen a l s g l e i c h e r A r t verstehn, alle fühlend, wollend, denkend – und daß wir über-

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all, wo wir Bewegung im Leibe sehen oder errathen, wie auf ein zugehöriges subjektives unsichtbares Leben hinzuschließen lernen.«1

Das Ausblenden, das Fokussieren ist nicht nur Bestandteil, sondern Wesenszug des Interpretationsgeschehens. Es ist ihm immanent, ebenso wie das perspektivische Auf brechen, das Wechseln von Herrschaftsstrukturen, wie es im Menschen oder als der Mensch der Fall ist, bei dem etwa eine sehr populäre, idealistische Strömung der Philosophie annimmt, die Vernunft stehe an der Spitze einer sehr strengen hierarchischen Ordnung und alle Bedingungen der Möglichkeit hingen an ihr wie an einer Kette, alles Sein – als subjektiv erschlossen und in der Reinheit des Vermögens als objektiv gültig – wäre erst durch die ewigen Weisungen dieses obersten Organs zugänglich, geöffnet und zugleich gerichtet 2 . Perspektivisch betrachtet oder unter der Perspektive des Perspektivismus sind es viele Willen, viele Herrschaftskomplexe, die sich abwechseln, die sich der Existenz ihrer Untergebenen oft nicht oder nur latent bewusst sind, die sich ihrer Funktionalität als einer Selbstverständlichkeit bedienen und darin das gesamte Gemeinwesen Mensch weiterführen, befördern oder vernichten. Die Willen zur Macht eröffnen die Perspektive, geben die Möglichkeit, etwa das kantische Vernunftsystem als ein Wertesystem zu entlarven, als etwas, hinter dem selbst ein Wille, ein mächtiger und gebieterischer, ein konsequenter Anspruch steht, die Forderung, ein immanentes System zu konstruieren, selbst als einen Rück- oder Zirkelschluss, um daraus die Grundfesten aller Systeme zu meißeln, etc. Insofern weist Nietzsche darauf hin, dass es wichtig ist, um die prinzipielle Struktur der Herrschaftsformation zu wissen: erstens, dass es eine ist, und zweitens, dass sich jeder Herrschaftskomplex aus qualitativ gleichwertigen Existenzen, eben aus Machtwillen zusammensetzt, dass das interne, ebenso wie das externe Geschehen überhaupt keiner Regel, sondern Befehlen folgt, dass die Regeln nachgesetzt, selbst konstruiert, erdichtet sind. Die Gefahr liegt in der Überhandnahme der Versteinerung, der Verkrustung des Werdens, darin, dass der Charakter der Welt als Chaos3, als ursprüngliches Werden zusehends verschleiert und verdeckt wird, dass – als ein Aufstand der gehorchenden, reaktiven Kräfte – das Gehorchen selbst in den Status eines Gesetzes, vielleicht eines Naturgesetzes gehoben wird, dass falsche Tu1 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 40 [21], KSA 11, 639, Hervorhebung i.O. 2 | Vgl. etwa das Schematismus-Kapitel und das System der Grundsätze des reinen Verstandes in Kants Kritik der reinen Vernunft, B 176 – 197, Werkausgabe III, 187 – 201; zur Interpretation von Kants Schematismus vgl. Arno Böhler, Singularitäten – Vom zu-reichenden Grund der Zeit – Vorspiel einer Philosophie der Freundschaft, 25 - 109. 3 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 109, KSA 3, 468.

1 Interpretationen

genden und falsche Begriffe, falsche Gegensätze – etwa richtig und falsch, Gut und Böse, etc. – suggeriert, gelehrt, gepredigt werden4, dass ein Glaube erzeugt wird, der die Welt an sich, das ganze perspektivische Geschehen mit seinen Unvorhersehbarkeiten, seinen Zufällen, seiner ganzen Unschuld als schlecht und böse klassifiziert wird, dass vielleicht ein ungeheuerlicher Wertungsprozess in eine ganz bestimmte Richtung seit sehr langer Zeit im Gange und am Wirken ist und ihn niemand als solchen enttarnt, niemand den Willen dahinter sieht: Denn der Wille selbst kennt keine Kategorie von Gut und Böse, er bewegt sich immer jenseits, ist den kategorischen Gegensätzen gegenüber transzendent, sie überfliegend oder untergrabend. Die Welt bewegt sich nicht in die falsche Richtung, sie hat nicht zu irgendeinem Zeitpunkt eine Wendung gemacht, hat nicht ihr Vorzeichen geändert und bewegt sich auch nicht auf einer Einbahnstraße – Nietzsche versucht nicht, umzupolen, den Lauf zu verändern, sondern er warnt vor der unglaublichen Macht der Erkenntnis, dass die Glaubensinhalte zerbröckeln, dass sie haltloser, unhaltbarer werden, er warnt vor der subjektiven Einsicht, dass das Höchste irgendwann vom Himmel fällt, die Kraft der Sonne schwächer wird und aller Zweifel in eine Verzweiflung umschlägt, indem die Werte des Lebens selbst versinken, absterben. Er ist Philologe und Genealoge in aller Radikalität, ist Werte-Philosoph auf der untersten und zugleich höchsten, tatsächlich ontologischen Stufe, indem er die Werte entlarvt, ihre Struktur offenlegt, sie zurückverfolgt und sagt: Jedem Wert geht eine Wertsetzung voraus, und jede Wertsetzung ist Interpretation von Kräften, die andere Kräfte auf ihren Wert hin beurteilen zum momentanen Zweck der Machtsteigerung des im Weltbezug stehenden, aus der Geschichte gewachsenen Individuums. Der Fluss aller Dinge, der »Fluss des Geschehens«5 ist real, seine Konstellation, ebenso porös wie liquid, und die Dinge, die Wesen sind selbst real auf einer gleichen, gemeinsamen Basis, die die Ursprünglichkeit aller Individualitäten ist, alles Seienden oder eigentlich Werdenden. Die Geschichte ist eine Kette von Macht- und Übermächtigungsprozessen, die Evolution ist keine Anpassungs- sondern eine Machtdemonstration, ist kein Prozess der Unterwürfigkeit gegenüber äußeren Umständen, sondern ein Unterwerfen, ein Urbarmachen der Äußerlichkeiten – sie ist die Geschichte eines pluralen Wirkens von innen heraus. Die Bescheidenheit, die man in dieser Sphäre dem bewussten Denken nun nahelegt, kann man getrost als Immanenz der Rückschau auf einen Jahrmillionen dauernden Prozess wieder abrechnen: Man hat sich nicht ge-, sondern

4 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral 2, KSA 5, 260. 5 | Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 112, KSA 3, 473.

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man hat verfügt, eine große, mächtige Vernunft 6 hat ihren Willen, ihre unzähligen Willen auf ebenso unzählige Weisen durchgesetzt. Manches ist stärker geworden, feinsinniger, vielleicht listiger im Unterwerfen anderer, im Arrangieren von Organen, in seinen Mechanismen, in der Handhabung seiner Unzufriedenheit. Die Illusion der Gesetze ist das Produkt des Bedürfnisses nach Sicherheit, dem selbst wieder ein Willen zu Grunde liegt, und es ist gut oder nützlich in vielerlei Hinsicht, aber eben nur Bedürfnis, keine Vorgabe, keine Verfügung. Die Rückprojektion der Scheinbarkeit von Erkenntnissen ist eine Eigenart des bewussten Denkens, Tätigkeit eines Organs, ein Spezifikum, aber eben eines unter Vielen, eine Spezialisation inter pares, wie die Gallensekretion Aufgabe der Leber und die Insulininkretion Aufgabe des Pankreas sind, allerdings verhängnisvoll, insofern das Produkt, die Einheit, vor die Produktion7, womöglich vor die ganze Welt gesetzt werden als eine grammatikalische Spitzfindigkeit, als eine Täuschung. Die Routine in der Prozessualität ist nicht mehr und nicht weniger als eine Feststellung von Machtverhältnissen, das Einrichten von Organisationen mit spezifischen Aufgaben, der Immanenzprozess eines herrschaftslogischen Zirkels. Die Welt ist das Gesamt der Interpretationsvielfalt, und diese Tätigkeit ist von ihr nicht abzurechnen: Es bleibt keine tabula rasa, kein leerer Raum, keine reine Form, sondern die Welt ist oder wird permanent in der Pluralität ihrer Vollzüge, ihrer Hierarchien. »Es gibt kein Ansich der Dinge, sondern nur interpretierende und interpretierte Prozesse der Feststellung. Dies bedeutet nicht, daß es Wirklichkeit nicht gibt, Interpretieren also Phantasieren wäre. Aber das Etwas, das als Wirklichkeit erscheint und angesprochen wird, ist nicht etwas im ontologischen Sinne Gegebenes und nicht als sich-gleich-bleibender Bestand dessen, was ist, fixierbar. Wirklichkeiten sind immer konstruierte Wirklichkeiten. Es handelt sich um Produktion, nicht um Wiedergabe oder Spiegelung. In diesen konstruierenden Interpretationsprozessen werden die einzelnen Interpretierenden auch ihrerseits immer schon sowohl von derjenigen vielheitlichen Organisation, deren Regentschaft sie sind, als auch von dem, worauf und von dem Medium, worin sie sich beziehen, interpretiert.« 8

Und das Individuum selbst ist ebenso eine Herrschaft, eine Struktur, wie das Gesamt der Welt eigentlich Chaos ist als das ungerichtete Gesamt dieser Konstellationen. Es sind Vielheiten von Willen-zur-Macht-Komplexen, relative inter6 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39. 7 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft 370, KSA 3, 619ff. 8 | Günter Abel, Nietzsche - Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 173.

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pretierende Einheiten und als Vielheiten zu interpretierende Einheiten. Alles Erscheinende, alles Reale, alles Wirkliche ist aus dieser und als diese Bezugnahme, als ständiges Bezugnehmen, mit- oder miteinander-Sein9, als Tätigkeit, die den Stein Stein und den Vogel Vogel sein, bleiben, werden lässt. Wenn Spinoza aus anderer Perspektive schreibt, der Mensch sei nicht als Staat im Staat zu betrachten, so müsste man mit Nietzsche schreiben, es gibt überhaupt nur Staaten, die in- und übereinander greifen, jeder Staat, jedes Gemeinwesen ist viele Gemeinwesen, jede Herrschaft sind viele andere, jeder Körper ist viele Körper und jede Vernunft Teil einer größeren. Die ganze Welt ist – in Günter Abels Worten – ein geschehens-logischer Interpretationszirkel10, und der lógos meint tatsächlich eine Form von Vernunft, eine Form von vernünftigem Zusammen- und Gegenspiel, von ganz verschiedenen Vernunftkomplexen, die nach einem Prinzip des légein, des Lesens, Diktierens, des Auslegens11 verfahren, die endokrine und exokrine Einheiten hervorbringen, Informationen als Interpretationen. Jedes Wesen ist nicht Spiegel, sondern Interpretation des Gesamtgeschehens, ist in gewisser Weise Produkt, künstlerisches Produkt einer Schaffensstruktur, einer Willensstruktur, ist zugleich apollinischer Glanz in seinem Auftreten und dionysischer Abgrund in seiner Zerrissenheit, in seiner Schizophrenie, in seiner abgrundtiefen Willensvielfalt. Der Wille zur Macht existiert nicht als ontologischer Singular, er ist die Vielheit der Welt per se, er ist zugleich die kleinsten, einfachsten, und die komplexesten Strukturen, er ist Interpretationstätigkeit des Singulären und damit aus phýsis-logischer Sicht immer nur plural. Im Singular ist er ein Begriff, Wortschöpfung, Produkt eines Philosophen, er ist die Anleitung zur Deutung der Welt als – und damit selbst – Interpretation, eine Deutung des Geschehens als Deutungen, er ist ein philosophisches Werk und zugleich seine Triebfeder, er ist die Konkretion, die Gabe einer Dichtung, selbst als eine semantische Krypta, als ein Rätsel, er umschließt als begriffliche Einheit die ganze Welt und ist in seiner Aussagekraft, in seiner Bedeutung ein Zirkel – er enthebt sich selbst des Anspruches, etwas Absolutes anzusprechen oder auszusagen. Die Interpretationen sind immanentes Programm des Willens zur Macht, sie sind ihm eingeschrieben, sind als sein Ausdruck in ihm, und er ist selbst Interpretation des Weltgeschehens, nicht unangreif bar, sondern eine Art Selbst-Entzug in seinem Aufheben des Wahrheitskriteriums, seiner Leugnung der Subjekt-Objekt-Relationen, seiner Zerstörung des Täters hinter der Tat. 9 | Vgl. Jean-Luc Nancy, singulär plural sein, 59: »Mit-Wesentlichkeit bedeutet wesentliche Teilung der Wesentlichkeit, Teilung als Ansammlung, wenn man so will.« 10 |  Günter Abel, Nietzsche - Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 162ff. 11 | Vgl. Martin Heidegger, Vorträge und Aufsätze, 200.

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Es ist das basale Agieren und Reagieren, positiv gewendet als Interpretieren, das bleibt, das übrig und bestehen bleibt hinter den Mauern und Masken von Moral, Religion, Psychologie und Metaphysik, eine bestimmte Form von Relativismus und Konstruktivismus aus allen Perspektiven. Er ist zugleich Methode und Erkenntnis eines genealogischen Prozesses, nicht nur im zu-Grunde-Gehen der Moral, in dem Zugehen auf ihren Grund, sondern potentielles Sezieren von allem, ein kurzes Lüften des Schleiers und das Entbergen eines dunklen Gesichtes, eines wandelbaren Gesichtsausdruckes, der eben der des Willens ist. Nietzsche schafft einen Begriff, wie es die Aufgabe des Philosophen ist. Er nimmt ihn aus der Tradition, wie es Spinoza und Leibniz tun, und formt, arbeitet, durchdringt ihn, er bestückt, besetzt, spaltet ihn, synchronisiert Willen und Kraft, taucht tief ein in die Gefilde der Naturwissenschaft, ohne darin selbst ganz aufzugehen, ganz exakt zu werden. Er bedient sich und wählt aus, tritt mit geschärften Sinnen, mit einer Ahnung, einem Vor-Wissen in das Gebiet der Experimente und der Mechanik, er sucht etwas und sucht etwas Bestimmtes, er sucht Richtung und Leben oder eben die Ausrichtung des Lebens selbst, seine a-teleologische Verfügung in den vielen kleinen, in den notwendig zu überwindenden Zielen, wie es die Praxis der Kunst ist. Das Schaffen ist ebenso Prinzip, wie das über-das-Geschaffene-Hinausgehen – die gegenseitige Beförderung von Künstler und Werk. Und der Wille zur Macht ist selbst das Prinzip der oder der Wille zur Kunst, er ist die tatsächliche Konkretion des apollinisch-dionysischen Streites, des Prinzips, das nicht mehr zwischen zwei Göttern, sondern in unendlich vielen Einzelnen waltet. Die Monas als Einheit12 wird getauft im Zeichen des Apollon als der Schein des Einen, die relative Schönheit des Waltens, so wie die Kraft und das Streben Werk und Tätigkeit des Dionysos sind. Jedes Atom und jeder Bestandteil des Atoms, jeder Gedanke, alles Elementare, alle scheinbaren Bestandteile der Welt sind eine Befruchtung des dichotomischen Prinzips und sind durch diese arché, sind Information als Materie und Ideen, als Wissen und Organe, Erbgut und Entfaltung, Evolution und Geschichte, sie spiegeln nicht die Welt, sondern verkörpern ihr Prinzip als selbst immer Werdende, als in die Unschuld und den Fluss des Werdens Verfügte.

2 E BENEN Der Weg hebt bei der Kunst an, bei der Stimmung des Schaffenden, in der Allgemeinheit einer Spannungsebene zwischen göttlichen Namen, im Zeichen 12 | Vgl. z.B. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, Zweiter Widerstreit der transzendentalen Ideen, B 468f, Werkausgabe IV, 424.

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des Göttlichen und stürzt sich damit in die Welt, zieht seine Kreise um den Menschen und die Natur, um alle Regungen und Gefühle, alles Profane und Heilige, entwickelt als Weg selbst einen Blick, eine Sensibilität, wird ein großes Auge, ein großes Panästhetikum, ein Aufsaugen der Impressionen und sieht in allem seinen eigenen Motor, der ihn hinabgezogen hat, der ihn angetrieben hat. »Dem Lebendigen gieng ich nach, ich gieng die grössten und kleinsten Wege, dass ich seine Art erkenne./Mit hundertfachem Spiegel fieng ich noch seinen Blick auf, wenn ihm der Mund geschlossen war: dass sein Auge mir rede. Und sein Auge redete mir./[…] Wo ich Lebendiges fand, da fand ich Willen zur Macht;«13 Daraus wird der Begriff des Philosophen als Dichter, darin dichtet sich und dichtet er die ganze Welt aus einer Perspektive, eben aus einer perspektivischen Perspektive: Der Wille zur Macht ist eine Öffnung, eine Perforation, eine Ambivalenz per se, er ist die Konkretion des schöpferischen Prinzips, der heraklitische Begriff, der sich selbst der begrifflichen Starrheit entzieht, der sich auflöst und auf bricht, ein Tanz auf vielen Ebenen. Aber es ist nur ein Teil des Weges, zu seinem Begriff hinunter zu kommen, die Welt zu relativieren, in den Abgrund zu blicken14 – das Ab-Gründige und Tief-Gründige zu sehen. »Wenn also der eine und vermeintlich als der einzig überhaupt nur mögliche Sinn geglaubte, der platonisch-christliche Sinn aus der Welt herausgezogen und alles Dasein damit ganz und gar sinnlos geworden scheint, dann vermag, wenn überhaupt, vor allem die Kunst diesen Nihilismus zu überwinden, sofern es ihr gelingt, an der leer gewordenen Sinnstelle schöpferisch tätig zu werden. Theoretische Erkenntnis und Wissenschaft sind hier eo ipso hilflos. Denn es geht nicht um ein Auffinden, sondern um ein Schaffen.«15

Es geht folglich um die Bestimmung des Wertes von Schaffen, um eine Annäherung des Schaffens an die Macht, darum, zu zeigen, wie der Schaffende zugleich zum Wertsetzenden, zum Bestimmenden wird, welche Wendung, welche Konsequenz das Schürfen um den Willen zur Macht für das Individuum, auch für den Menschen hat. Der Künstler wird nicht Philosoph und der Philosoph nicht zum Künstler. Es ist eine Frage der Distanz zu seiner Arbeit, 13 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra II, Von der Selbst-Ueberwindung, KSA 4, 147. 14 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie 9, KSA 1, 64: »[…]: und hier zeigt sich, dass die ganze Auffassung des Dichters nichts ist, als eben jenes Lichtbild, welches uns, nach einem Blick in den Abgrund, die heilende Natur vorhält.« 15 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 180.

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eine Frage der Empathie, nicht des Mitleidens, sondern des Mitwachsens. Träte die Kunst als Lehrmeisterin, als Allegorie einer Methode, als Wegweiser auf, so wäre ihre einzige Weisung eine Annäherung, sie selbst eine Brücke, eine Weichzeichnung zwischen dem Philosophen und seinem Begriff, dem Künstler und dem Menschen, dem Schaffenden und seinem Werk. Die Kunst ist gewissermaßen selbst ein a-peiron16 , eine Grenzenlose, sie verwirrt und verwischt die strengen Linien, sie ist die Methode des Perspektivismus, des Interpretierens und des Informationsgeschehens, sie kennt die Dichotomie nur als Prinzip des Schaffens. Und Nietzsche ist ihr Fürsprecher, ihr Paraklet, er wird zum großen Künstler der Ebenen und Personen, er exerziert den Weg des Schaffenden in vielerlei Hinsicht, in vielen Aspekten, aus vielen Perspektiven, er zieht aus seinem neuen Begriff seine Ebene der Immanenz, seinen Zirkel und betrachtet sich darin selbst: Er wird die Person als der Weg des Menschen, als die Geschichte des Menschen, als die Transformation und Selbstreflexion, er wird der Träumer einer neuen Metaphysik, einer Immanenzebene, die man sich als den schwersten Gedanken17 vorstellen, in der man die Blendung einer Sonne ertragen können muss, deren Strahlen bis weit vor und weit hinter den Menschen reichen, eine Vorstellung, von der man bereit sein muss, sie als Ebene der Immanenz ertragen zu können, als ein Gedankenexperiment. Das vierte Buch der Fröhlichen Wissenschaft endet mit der Aufforderung zu diesem Gedanken, dem größten Schwergewicht: »Wie, wenn dir eines Tages oder eines Nachts, ein Dämon in deine einsame Einsamkeit nachschliche und dir sagte: ›Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; und es wird nichts Neues daran sein, sondern jeder Schmerz und jede Lust und jeder Gedanke und Seufzer und alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens muss dir wiederkommen, und Alles in der selben Reihe und Folge – und ebenso diese Spinne und dieses Mondlicht zwischen den Bäumen, und ebenso dieser Augenblick und ich selber. Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!‹ – Würdest du dich nicht niederwerfen und mit den Zähnen knirschen und den Dämon verfluchen, der so redete? Oder hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt, wo du ihm antworten würdest: ›du bist ein Gott und nie hörte ich Göttlicheres!‹«18

Das Schwerwiegende, das große Gewicht, die Schwere ist die Konsequenz, die der Wille zur Macht, die die Vorstellung oder Interpretation der Welt als geschehenslogischen Zirkel offenbart, die Textur, in der er sich selbst nieder-schreibt, der zirkuläre Rahmen, den er sich selbst gibt. Chaos und Lógos, die großen 16 | Vgl. Anaximander, DK 12 A 1, in: Die Vorsokratiker, I. 17 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 27 [23], KSA 11, 281. 18 | Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 341, KSA 3, 570.

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Gegensätze, das dunkle und das helle Reich, der apollinische Sinn und der dionysische Wahn-Sinn erfahren eine Annäherung: Die Welt ist Chaos und Lógos, sie ist keine Ordnung an und für sich, sie hat kein Ziel, keinen Sinn, und doch sind die Sinne in ihr und sie ist durch die Sinne, durch die Ordnungen, durch die Arrangements, die Organismen, durch ihre Wirklichkeiten. Sie ist ein Gesamt an Energie, Energie ist überall – vielleicht das einzige Fixum, das mit dem Willen zur Macht verträglich, das mit dem Gedanken, dem Einbruch des Willens zur Macht in Einklang zu bringen wäre – der Erhaltungssatz vielleicht nicht als ein Lüften, sondern ein Beschreiben des großen Schleiers19. Information geschieht als Interpretation, als Formwerdung, als ständige Bewegung, als das Fließen Heraklits: Sie ist die als Begriff selbstreferentielle Tätigkeit – bedarf keiner Weisung und keiner Teleologie. Oberflächlich formuliert hätte Spinoza nur die causa sui streichen müssen und er hätte die gleiche Last zu tragen gehabt, den gleichen, schweren Gedanken. Aber ebenso, wie der Wille zur Macht ein künstlerischer, ein narzisstischer Begriff ist, eine Bewegung, die sich selbst betrachtet, so ist er auch ein sprechender, geheimnisvoller, ein Text, eine Mitteilung, die seinen Rahmen beinhaltet – enigmatisch –, die seine Sphäre einschließt und mit zum Ausdruck bringt, seinen eigentlichen Vollzugsraum und seine Vollzugszeit: Er spricht die Ewigkeit aus als der größte Fürsprecher des Lebendigen, er fördert das ewige Leben und das ewige Sterben, den großen Kreis, das große Rad zu Tage, er enthüllt die Sphäre seiner Wirkungen, seiner Formen, die immer nur Eins bedeuten, nicht Eins sind, die immer differentielle Formen, niemals selbstident sind, die den Begriff des Selben gar nicht kennen – immer das Gleiche hervor- oder zum Ausdruck bringen, und das – jenseits von Gut und Böse, jenseits von allem Heilsgeschehen – bis in alle Ewigkeit. Die Ewige Wiederkehr des Gleichen ist die Immanenzebene, deren Begriff der Wille zur Macht ist, der Rahmen oder die amorphe Form, in dem sich die Willen-zur-Macht-Prozesse vollziehen, sie ist die tatsächlich chaotische Struktur, die allein von der Präposition »in« Gebrauch machen kann: Sie hat keinen Anfang, kein Ende und gibt kein Ziel vor, als der Schleier oder der Mantel des Werdens, in dem sich die Differentialprozesse gegenseitig produzieren. Der Gedanke des mit-sich-selbst-Gleichbleibens verliert sich in der Ewigkeit des Ungleichen, der Anti-Stagnation, die Selbsterhaltung wandelt sich in die Energieerhaltung, die nur ein anderes Wort, ein Synonym für Bewegung, für die Willen-zur-Macht-Prozesse ist. Die Individualität kennt ihrer Natur nach, oder die Natur, die phýsis kennt kein Erhaltungsprinzip als Prinzip, nur als Mittel zum bestimmten Zweck, der immer die konkrete Machtsteigerung ist. Es ist

19 | Vgl. Einsteins Kommentar zur Dissertation von Louis de Broglie: »Er hat einen Zipfel des großen Schleiers gelüftet.«, in: Anton Zeilinger, Einsteins Schleier, 96.

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die Welt oder das Prinzip der Kräfte20, die den Gedanken der Wiederkehr mit sich bringen, in sich tragen, der Widerstreit der Interpreten als allem Leben, jeder Form, jeder Materie zu Grunde liegend, aus dem sich die Ewige Wiederkehr als induktiver Schluss ergibt, als der Aufstieg, das Zurück zur Sonne, nachdem sich der Erdkern offen gezeigt hat. Das ist eine Notwendigkeit, eine stringente Deutung, die sich aus der Interpretation des Geschehens als Kräfte-Geschehen ergibt: Wenn man den Weg, die Argumentation mitgehen, mittragen, die Konsequenzen auf sich nehmen möchte, muss man auch noch die vermeintliche Schwere ertragen, der Welt ihren Lauf lassen und sich selbst darin sehen. »Wenn die Welt überhaupt erstarren, vertrocknen, absterben, N i c h t s werden könnte, oder wenn sie überhaupt irgendein Ziel hätte, das die Dauer, die Unveränderlichkeit, das Ein-für-alle-Mal in sich schlösse (kurz, metaphysisch geredet: wenn das Werden in ein Sein oder ins Nichts münden k ö n n t e ) so müßte dieser Zustand erreicht sein. Aber er ist nicht erreicht: woraus folgt … Das ist unsere einzige Gewißheit, die wir in Händen halten, um als Correktiv gegen eine große Menge an sich möglicher Welt-Hypothesen zu dienen.«21

Diese Gewissheit resultiert zumindest daraus, dass man noch nie mit Gewissheit das Gegenteil behaupten konnte und der Glaube an die Schöpfung ist dann die Projektion der Ewigkeit in die Transzendenz, die Vorstellung einer emanierenden Endlichkeit aus dem ewig Göttlichen. Es gibt kein Hindernis, keinen Widerspruch in der Vorstellung, man könnte von jetzt in der Zeit zurückrechnen und niemals an ein Ende kommen, und ebenso in die andere Richtung: Der regressus in infinitum ist als Gedankenexperiment möglich – kein Widerspruch. Der vermeintliche Endzustand ist nicht erreicht, wurde es nie und wird es demzufolge auch nie werden: Der gegenwärtige Augenblick, als ein vorübergehender, beweist es – sein Vergehen, die Sicherheit seines Vergehens ist uns die einzige Gewissheit, die Zeit demnach ein Beweis der Ewigkeit. In der Unendlichkeit nach hinten, der möglichen Rückrechnung in infinitum »ist nur ausgesprochen, daß das Werden nicht hat anfangen können zu werden, daß es nichts Gewordenes ist. Nun, wenn es nichts Gewordenes ist, so noch weniger ein Zu-etwas-Werden. Wenn es nicht geworden ist, wäre es immer schon, was es wird, wenn es etwas würde.«22 Und man kann dergleichen weiterargumentieren, dass durch die Existenz eines Finalzustandes jener 20 | Vgl. Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 193. 21 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1887 – 1889, 14 [188], KSA 13, 375, Hervorhebung i.O. 22 | Gilles Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, 53.

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eben erreicht sein oder ihm ein Anfangszustand vorausgehen müsste, den die Welt niemals verlassen hätte, etc. Dass sich das Werden aber selbst gegen die Verbindung mit einem Zustand wendet, dass es sich per se der Zuständlichkeit entzieht, immer ein Sein und Nicht-Sein, ein noch-nicht- und ein schon-gewesen-Sein suggeriert, ist der Beweis für die Unverträglichkeit des Werdens mit jeder Vorstellung von Teleologie, mit jeder Stringenz, mit jeder Richtung. Es geht darum, den Gegensatz von Sein und Werden aufzuheben anhand der einzigen Sicherheit, der einzigen Gewissheit, die wir haben, und die ist jene des verstreichenden Augenblicks, des werdenden Gedankens, mit dem wir Sein und Werden denken, mit dem wir die Gegensätze machen, mit der sich das Geschehen bewegt, vollzieht, mit der es notwendig immer irgendetwas wird und notwendig niemals, in keinem Augenblick mit sich selbst gleich bleibt, sich niemals zur Gänze erhält. Das Gesamt der Energie ist unveränderbar, es ist ein Maß, das sich nicht auf bestimmte Systeme, sondern auf die ganze Welt, den ganzen Kosmos bezieht, der ganze Kosmos ist, und darin bestimmt eine Ökonomie der Organisationen den Lauf, den Prozess, ein Widerstreit der Kräfte, die dieses Maß an konstanter Energie sind, die das Gesamt sind als Quanten, als Machtgebilde. » – mechanistisch betrachtet, bleibt die Energie des Gesammt-werdens constant; ökonomisch betrachtet, steigt sie bis zu einem Höhepunkt und sinkt von ihm wieder herab in einem ewigen Kreislauf; dieser ›Wille zur Macht‹ drückt sich in der A u s d e u t u n g , in der Art des K r a f t v e r b r a u c h s aus – Verwandlung der Energie in Leben und Leben in höchster Potenz erscheint demnach als Ziel. Dasselbe Quantum Energie bedeutet auf den verschiedenen Stufen des Lebens Verschiedenes: […] – daß die Welt nicht auf einen Dauerzustand hinauswill, ist das Einzige, w a s b e w i e s e n i s t . Folglich m u ß man ihren Höhezustand so ausdenken, daß er kein Gleichgewichtszustand ist…«23

Die Konzeption der ewigen Wiederkunft ist die höchste Annäherung an eine Welt des Werdens24, an einen Begriff des Werdens, der das Sein inhaliert, der es in sich aufnimmt, alles Sein in einen Fortlauf, in eine Veränderung verfügt. Sie ist die Entfaltung dessen, der Entwurf der Komprimierung, die im Willen zur Macht veranlagt ist. Wie die Immanenzebene ihre Begriffe beherbergt, ihnen Raum gibt, so schließen die Begriffe ihre Ebene in sich, gleich der Monade, die die Welt in sich trägt, aber eben in einer virtuellen oder metaphysischen Dimension, auf Begriffsebene, als Kunstwerk der Philosophie. Die Immanenz wird in den Begriff hineingedichtet und entfaltet sich aus ihm, aus seiner Anwendung. 23 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 10 [138], KSA 12, 535, Hervorhebung i.O.; vgl. hierzu auch: Pierre Klossowski, Nietzsche und der circulus vitiosus deus, 169f. 24 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885 – 1887, 7 [53], KSA 12, 312.

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Das ist der genetische Zusammenhang, die innere gegenseitige Notwendigkeit, das gegenseitige Bedürfnis von Willen zur Macht und ewiger Wiederkehr: Die Vorstellung eines ewigen Prozesses verbindet Werden und Sein, lässt sie ineinander fließen, ihre Gegensätze einbrechen, verschmelzen, und : »dem Werden den Charakter des Seins a u f z u p r ä g e n – das ist der höchste W i l l e z u r M a c h t . «25 Es ist ein Akt der Interpretation oder des Willens, sich sein Werden als das Sein zu denken, das Sein als Werden, den Charakter- oder Wesenszug der Ewigkeit dem ständig gleichen Spiel der Interpretation zukommen zu lassen. Anders formuliert: Es ist in der Aufprägung eine Tätigkeit impliziert, ein Agieren mitgeschrieben, fast ein Auftrag oder eine Aufforderung, ein dem Willen zur Macht als Begriff innewohnendes Memento, ein Mantra – aber auch dies als eine schlüssige Folge, als eine Notwendigkeit. Wenn Nietzsche den Willen als die grundlegende – oder vielleicht einzige – Charakteristik jeder Existenz, nicht als Bedingung und Voraussetzung, sondern als das immanente Gleichheitszeichen Existenz = Wille geltend macht, so hebt er eo ipso jede Distanz des Willens zur Macht zu sich selbst und zu jedem anderen auf: Er charakterisiert jede Singularität, jedes Individuum als Willen-zur-Macht-Komplex und eben damit auch seine eigene Person, er transformiert sich selbst als Autor, als Philosoph, Philologe, Dichter in den dichtenden und philosophierenden Willen, in eine Art Selbstreflexion des Willens, ähnlich wie es Kant als die Stimme der Vernunft vollzieht. Es ist eine produzierende, produktive Tätigkeit in der Darstellung einer Selbstanalyse – ein maskierter Trieb, der das Wort ergreift und der sein eigenes Schema, seinen eigenen Raum, seine eigene unendliche Wüste präsentiert: eine Ewigkeit, die ihren absoluten Herrscher, ihre Persönlichkeit, ihren Gott verloren hat, in der man nicht mehr so recht – auf blicken kann, die in ihrer chaotischen Sein/Werden-Struktur unzählige Gefahren beherbergt. Glaubt man der Lehre vom Willen zur Macht, nimmt man die Interpretation der Welt als einen Interpretationslauf an, so ist darin implizit auch der Glaube an einen Kreislauf veranlagt, an eine Schwere, an eine und viele Lasten, an einen lasterhaften Zirkel, einen circulus vitiosus deus 26. Wenn Nietzsche den Tod Gottes verkündet, ist das für ihn ebenso, wie für das christliche Heilsgeschehen vor allem eines: eine Erlösung, eine Befreiung, ein Herauslösen und Auflösen der personellen, der einheitlichen Vorstellung, der Hineindichtung des Göttlichen, des alles übersteigend Großen, Mächtigen in die Attribution einer Singularität, eines Wesens, wie Spinoza es tut, wie es selbst Gottes Sohn vollzieht. Die Transsubstantiation des letzten Abendmahles ist das Ergießen, das Übergehen des Göttlichen in die Körper, in die Leiber der Menschen, Fleisch 25 | Ebd., Hervorhebung i.O. 26 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse 56, KSA 5, 75.

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und Blut der Inkarnation Gottes, des göttlichen Körpers fließen als Nahrung in und unter die Menschen, Gott ist Fleisch geworden und hat sein Fleisch, sein Blut nicht nur hin-, sondern hergegeben, er ist das Weizenkorn, der Keim, der in die Erde fallen und sterben muss, um das Leben, um reiche Frucht zu schenken27. Und Spinoza füllt die ganze Sphäre des Daseins, die ganze Welt, den Kosmos, das Denken, er füllt alles an mit Gott, er lässt alles Gott werden; es ist fast zu viel Gott 28 bei Spinoza, aber es bleibt das Prinzip der Einheit, die logische Stringenz: Gott bleibt Gott als die Notwendigkeit eines Kulminationspunktes, einer Vorstellung, in der alle Stränge zusammenlaufen und von der alles ausgeht. Es fehlt der letzte Mut, das neu bestellte Land ist nicht ganz neu: Es gibt einen Kompass. Gegen diese »Naivität Spinozas«29 richtet sich Nietzsches Polemik, als dieser nicht bereit ist, das Eine, die Einheit aus der Hand zu geben, als die Angst noch zu groß ist, die Welt könnte sich nicht weiter drehen, könnte alles verlieren ohne einen Punkt, um den sie sich dreht, ohne die Vorstellung eines Zentrums. In jedem Fall bringt der Tod Gottes immer einen Schleier des Göttlichen und eine Aufwertung des Diesseits – eine Vergöttlichung des Daseins und ist darin selbst immer eine Wertsetzung.

3 E NT ZÜGE Trotz aller Kritik gegen die Tradition bleibt Nietzsche aber Philosoph: Er deutet die Welt und wird nicht müde, diesen Anspruch zu erheben, wird auch nicht müde, ihn zu begründen. Er spricht von Sicherheiten, von Gewissheiten, von Ruinen und Überbleibseln, an denen sich das Denken in der destruktiven Flut der Relativierungen, der Untergrabung aller für wahr gehaltenen Vorstellungen, aller Werte festhalten kann. Er induziert, wie es auch andere tun, er schließt und folgt einer Logik in der Entfaltung seiner Immanenzebene, im Darlegen des Bodens, auf dem sich seine Begriffe, sein Begriff, auf dem sich er selbst und alle anderen bewegen. Er ist »Phýsis-Philosoph« 30 und Metaphysiker, gibt der phýsis einen Rahmen, indem er ihr das Ziel vorenthält, er folgt einem Interpretationsschema, er legt aus, und eben darin trifft die Charakteristik der Welt als globaler Deutungsprozess so zielsicher in die Forderung einer Gemeinsamkeit, einer gemeinsamen Verfahrensweise aller Vorgänge. 27 | Vgl. Joh. 12, 24. 28 | Vgl. G.W.F. Hegel, Geschichte der Philosophie III, Werke 20, 163. 29 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1885-1887, 9 [26], KSA 12, 348. 30 | Günter Abel, Nietzsche – Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wie derkehr, 254.

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Wenn wir uns selbst betrachten, wenn wir den Mut, die Kraft aufbringen, nicht automatisch einen Schritt vor – sondern hinter uns selbst zu machen, zu sehen, nach welchen Prinzipien wir selbst arbeiten, denken, funktionieren, unsere Teile und Bestandteile kommunizieren und den Anschein einer Einheit suggerieren, dann ist der Schluss zumindest ein zulässiger, alles außer uns eben nach ähnlichen Mustern zu deuten, nach einem Prinzip, das allen in ihrer Singularität selbst zukommt, das sich als größere Vernunft als der rationale Mechanismus versteht. Nietzsche ist Philosoph und er arbeitet demgemäß: Er schafft seinen Begriff im Schürfen und Analysieren, er fügt zusammen und kleidet aus, er sprengt noch den Begriff des Begriffs, indem er die Einheit unterläuft und entwirft aus dieser Begriffslehre seine Ebene, oder anders: Die Ebene drängt sich auf, sie wird notwendig, sie überfällt all jene, die sich so tief mit der Interpretation des Willens zur Macht, der Welt als Willen zur Macht beschäftigt, auseinandergesetzt, die die Lehre angenommen haben. Sie ist eine Stellung, und vielleicht eben die »metaphysische Grundstellung Nietzsches«31 als das Grund-Verändernde, das Grund-Entziehende, indem sie eine grund-lose Ebene wird, eine Schlange, die sich entzieht, davonschleicht in allem Festmachen, auch in allem Fest-Stellen, die keine Feststellung, sondern sowohl Antizipation, wie auch Schluss – ein Zirkelschluss – ist. Und wenn vom Grund die Rede ist, so ist die Ewige Wiederkehr das Tief- und Abgründige, die Dunkelheit, in die man blicken muss, wenn man dem Willen zur Macht, dem streitenden, künstlerischen Prinzip auf den Grund gehen möchte. Dennoch, der Gedanke, ob Eingebung oder Folgerung, ob kosmologisch oder ethisch gedeutet, ist eine Lehre, Folge und Voraussetzung einer Interpretation der Welt und darin ist sie notwendig – kein Wille ohne Wiederkehr und vice versa. Sie ist demgemäß nicht nur Stellung, nicht nur Einstellung, sondern auch die »Grundlehre« in Nietzsches Philosophie, die Lehre vom Grund, vom sich entziehenden, sich windenden, krümmenden, sich inkarnierenden und postulativen Grund. Sie richtet sich auf und an das Seiende, das Werdende im Ganzen oder in seiner Streuung, in seiner Diffusion, sie will überall und nirgends gehört werden, aber sie reiht sich in bestimmter Art, auf ihre außerordentliche Weise ein in die Reihe der großen Weltkonzepte – ihrer Deutungen. Jeder große Begriff, jeder ein philosophisches Werk tragende Gedanke bringt seine ganze Heimat, seine Herkunft, vielleicht sogar seine Tradition, seine Sprache mit und es ist die ewige Wiederkehr, die den Willen zur Macht beheimatet, die ihm – seine Freiheit lässt. Eben wie Platon die Ideenwelt in den Himmel, in eine andere Sphäre setzt, wie die christliche Tradition einen persönlichen Geist als Schöpfergott denkt, so erhebt die Lehre von der ewigen Wiederkehr diesen unbescheidenen, mäch31 | Martin Heidegger, Nietzsche I, 225.

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tigen, allermächtigsten Anspruch – sie will sich ausbreiten, will stürzen, will eine lange Geschichte und eine tiefgreifende Vorstellung wenden. »Die platonische und die christliche Lehre über das Seiende im Ganzen sind im Verlauf der abendländischen Geschichte mannigfache Verschmelzungen eingegangen und haben dabei verschiedene Wandlungen erfahren. Beide Lehren haben für sich sowohl als auch in ihren Vermischungen zunächst den Vorrang, daß sie durch eine zweitausendjährige Überlieferung zu einer Gewohnheit des Vorstellens geworden sind. Diese Gewöhnung bleibt auch dort maßgebend, wo die ursprüngliche platonische Philosophie längst nicht mehr gedacht wird, auch dort, wo der christliche Glaube abgestorben ist und einer nur noch vernunftmäßigen Vorstellung von einem ›allmächtigen‹ Weltregierer und einer ›Vorsehung‹ Platz gemacht hat.« 32

Die platonisch-christliche Lehre mit ihren grammatischen Wurzeln des Einheitsdenkens, einer Subjekt-Objekt-Relation, hat sich selbstständig gemacht, hat sich dynamisiert, sie hat das Denken nicht in seiner Konkretion, sondern in seiner Allgemeinheit, hat die Kultur geprägt, nicht zuletzt aus Gründen der Nützlichkeit, vor allem aber aus Gründen der Macht. In diesem Sinne ist die Lehre von der ewigen Wiederkunft eine Anti-These auf Augenhöhe, sie will als selbstentfaltende Ebene des Selbstbe- und Selbstentzugs das Denken beeinflussen, sie will auf dem Rücken ihres Trägers, getragen von dem Willen zur Macht, beeinflussen, sie ist auch, und vielleicht vor allem: ein Imperativ, wie ihn der böse Geist am Ende des Vierten Buches der Fröhlichen Wissenschaft noch in Form einer Vorstellung in das Ohr des halbwachenden Lesers flüstert, wie er ihn noch nahelegt, als die Verführung eines Gedankenexperiments. Nietzsches Lehre ist ein Versuch der Usurpation, des Umbruchs, ist eine Palastrevolution im Hoheitsgebiet des Denkens, vielleicht selbst ein Weizenkorn, über das Schichten von Erde geschüttet werden müssen, das erst einmal begraben werden muss, um Wuzeln zu schlagen. Der Philosoph wird Genealoge und kennt die Herkunft der Schemata, der Moral und des Einheitsdenkens, er weiß, dass selbst noch Christentum und Platonismus Wurzeln, Vorfahren und Ahnherren haben, doch er weiß ebenso um die destruierende Kraft der Vorstellung, der Interpretation des Willens zur Macht, um seine Konsequenz, die die Naturwissenschaft nicht zu Ende gedacht, nicht zu Ende zu denken gewagt hat – nämlich die universelle interne Bestimmung der Bezüglichkeit, die innere Welt, die jedem Quantum Kraft, jeder Kraft als singulärer, relativer Wirkungseinheit zugeschrieben werden muss, durch die jede ontologische Einheit, jedes Fixum selbst in die Sphäre einer Behelfsstruktur, einer gedachten Eins verschoben und mit dem Charakter eines Modells, der Vereinfachung zur Berechenbarkeit, behaftet werden muss. 32 | Ebd. 227.

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Die Naturwissenschaft als exakte Wissenschaft wagt mit anderen Worten eben jenen Schritt nicht, der ihr die Selbstattribuierung der Exaktheit notwendig wieder entziehen33, der ihre eigenen grammatischen, d.i. zeichengebundenen und zeichenlogischen Strukturen zu Tage fördern würde. Die Lehre von der Ewigen Wiederkunft ist nicht Illusion und Träumerei, sondern vor allem ein schwerer und schwer zu entfaltender Gedanke, ein eigenartiger und eigenwilliger Gedanke, der etwas erzeugen will, der sich einnisten möchte als ein Bild des Denkens, sich als eine Ebene manifestieren möchte, der von sich selbst zugibt, beeinflussen und verändern zu wollen. Bezüglich dieses Anspruches verlaufen und verstricken sich die Interpretationen der Lehre weniger in Widersprüche, sondern in einem grundsätzlichen Missverständnis34, nämlich die ewige Wiederkunft selbst als einen philosophischen Begriff deuten zu wollen, als eine Dichtung dessen, wie sich die Welt verhält, welchen Weg die Abläufe oder der Lauf der Welt nehmen. Aber eben gegen diese Konkretion verwehrt sich der Gedanke – sowohl seiner Weite, als auch seiner Höhe nach. Er ist keine Aussage darüber, wie sich Dinge verhalten35, wie Ereignisse stattfinden, nach welchen Regeln oder Nicht-Regeln sich Prozesse vollziehen, er denkt – als Gedanke – überhaupt nicht daran und entspräche eben darin auch nicht seiner Bestimmung. Das Bild des Denkens ist das apeiron, es kennt keine Grenze, sondern immer nur die begrifflichen Grenzen oder die Grenzen durch den Begriff, die ihm immanent gezogen werden, wie auch die Vorstellung einer zweigeteilten Welt schon die Konkretion einer gewissen Vorstellung, einer Grund-Stellung ist, die platonische und christliche Lehre Ausformungen, Varianten eines grundlegenden und tieferen Verständnisses, einer ursprünglicheren Öffnung sind und sich eben darin Ebene und Begriff in einer eigenwilligen Verschränkung gegenseitig bedingen. Der Weinstock braucht den Boden, in den er gepflanzt wird, ebenso, wie der Boden nach dem Weinstock, nach seiner Nutzung, nach seiner Verwendung und Umsetzung verlangt – er fließt ein in seine Bestimmungen. Die Lehre von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen ist vielleicht das beste Beispiel für die von Deleuze beschriebene Immanenzebene – nicht in dem, was sie ist, sondern in dem, was sie werden möchte. Sie möchte sich entwickeln und entfalten, sie möchte als Lehre blühen und aufgehen. Es geht darin 33 | Erst die Heisenberg’sche Bestimmung der Unschärfebeziehung erhebt eine gewisse Varianz, die Notwendigkeit einer Abweichung selbst zu einem Dogma, einem Gesetz der Wissenschaft. 34 | Vgl. hierzu Alexander Nehamas, Nietzsche – Leben als Literatur, 199ff. 35 | Vgl. hierzu z.B. den Unterschied zwischen lokutionärer und illokutionärer Aussage bei John L. Austin, Zur Theorie der Sprechakte (How to do things with Words), Einleitung, S 8, oder die elfte Vorlesung, S 153ff.

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nicht um eine Beschreibung des Universums, und eben deshalb ist die disziplinäre Aufspaltung ihrer etwaigen Deutungsmöglichkeiten oder Bedeutungen weitgehend obsolet, indem der Ansatz, das Grundverständnis in eine der Lehre widersprechende Richtung zielt. »Gewöhnlich wird die ewige Wiederkehr als kosmologische Hypothese interpretiert. Danach behauptet sie, daß alles, was im Universum schon geschehen ist, alles, was gerade geschieht, und alles, was in Zukunft geschehen wird, bereits geschehen ist und wieder geschehen wird, daß ihm genau dieselben Ereignisse in genau derselben Reihenfolge vorangehen und folgen werden, unzählige Male.« 36

Dass sich also dasselbe Ereignis, dieselbe Begebenheit, das Selbe prinzipiell wiederholen und auf ewig wiederholen würde; aber es wäre eine Beleidigung der semantischen Bildung Nietzsches, tatsächlich zu glauben, er hätte nicht um den Bedeutungsunterschied von Selbigkeit und Gleichheit gewusst; nichtsdestoweniger gibt es Stellen in den Nachlassaufzeichnungen, in denen Nietzsche ebensolche Überlegungen, auch anhand des von ihm proklamierten endlichen Quantums an Gesamtenergie und einer damit verbundenen endlichen Zahl an Zuständen, anstellt, z.B.: »Wenn das Gleichgewicht möglich wäre, so müßte es eingetreten sein. – Und wenn dieser augenblickliche Zustand da war, dann auch der, der ihn gebar und dessen Vorzustand zurück – daraus ergiebt sich, daß er auch ein zweites drittes usw. Mal schon d a w a r – ebenso daß er ein zweites drittes Mal da sein wird – unzählige Male, vorwärts und rückwärts. D.h. es bewegt sich alles Werden in der Wiederholung einer bestimmten Zahl vollkommen gleicher Zustände.« 37

Jedoch fallen die meisten dieser Aufzeichnungen – und diese textphilologische Randbemerkung muss an dieser Stelle gemacht werden – in die Zeit der Vorbereitung und Konzeption der »Fröhlichen Wissenschaft«, die in ihrer ersten Auflage mit dem oben genannten Aphorismus »Das größte Schwergewicht« und »Incipit tragoedia«38 endet, in der ersten Formulierung der ewigen Wiederkunft als einem Auftrag, einem virtuellen Imperativ ihre Kulmination und ihren Abschluss findet. Es ist die Frage, welche Konsequenzen der Gedanke haben könnte, dieselben Begebenheiten, dieselben Ereignisse, man selbst und das individuelle Leben könnten sich bis in alle Ewigkeit wiederholen, ob man die Kraft hätte, die 36 | Ebd. 200. 37 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1880 – 1882, 11 [245], KSA 9, 534, Hervorhebung i.O. 38 | Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft 342, KSA 3, 571.

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Schwere, die Ausweglosigkeit, die Sinnlosigkeit dieses Gedankens ertragen zu können. Ist es möglich, den von Hoffnung und Zuversicht, von Erlösungsvorstellungen genährten und geleiteten Blick plötzlich in einem Spiegel enden zu lassen, in dem man nur die Reflexion seiner selbst, mit einem Spiegel hinter sich, und so alle Bedingungen und alles Umfeld bis in die Unendlichkeit vervielfacht sieht – ist diese Vorstellung mit allen Konsequenzen und in ihrer ganzen aporetischen, in ihrer destruktiven Struktur für einen Menschen überhaupt tragbar, oder müsste jeder Geist beim Anhören einer solchen Vorstellung, beim Gedanken an solch einen Gedanken gemeinsam mit allen Wünschen und Träumen, gemeinsam mit der Linie, dem Vektor, der auf einen Ausweg, ein Ziel, ein Ende, eine Vollendung verweist, unter der Last des Schwergewichtes zusammenbrechen. Mit anderen Worten: Das, was als Horizont einer möglichen oder unmöglichen Verifikation der ewigen Wiederkunft in der Betrachtung der Welt, des Universums kosmologisch gedeutet wird, ist eigentlich Bestandteil der psychologischen Interpretation als der Aufforderung, sich eine Wiederkehr desselben vorzustellen, mit der einzigen Bedeutung, den Wert und die Bewertung des Momentanen, Vergangenen und Zukünftigen des individuellen Lebens zu überdenken, ihre Art und Weise und vor allem ihr Ziel in Frage zu stellen. Die Proklamation der Wiederholung derselben singulären Ereignisse auch bei einem endlichen Gesamtmaß der Kraft oder Energie hält keiner argumentativen, logischen Prüfung stand. »Ein System besitzt vielleicht nur eine begrenzte Menge an Energie, doch kann diese Gesamtmenge auf unbegrenzt viele Weisen verteilt werden, wodurch die Wiederholung, die Nietzsche im Auge haben dürfte, verhindert würde.«39 Aber es tut unter der Perspektive eines hypothetischen Experiments nichts weiter zur Sache, es geht gar nicht darum, ob sich die Welt und das Leben tatsächlich wiederholen, sondern rein darum, den Versuch zu wagen, sich einen derartigen Zirkel vorzustellen, denn: Wenn sich der Wert des Lebens auf eine transzendente Zielsetzung bezieht, wenn er aus ihr ihren Wert zieht, dieses Ziel aber negiert oder in dem ewigen Kreislauf ad absurdum geführt wird, dann verliert das Leben selbst notwendig seinen Wert. Gelingt es hingegen, das Leben zu bejahen, es wertzuschätzen, den Wert im Diesseits und Dasein zu verankern, dann verliert die Vorstellung von der Ewigkeit per se ihre Bedeutung, ihre Schwere, dann verliert sie – ihre Last. Demzufolge ist die scheinbare Kosmologie der Lehre ihre psychologische Propädeutik; sie ist nicht mehr und nicht weniger als ein Imperativ – nicht gebun-

39 | Alexander Nehamas, Nietzsche – Leben als Literatur, 202; [Nehamas glaubt nicht an die Legitimation einer kosmologischen Deutung. Vgl. auch Arthur C. Danto, Nietzsche als Philosoph, 237ff, v.a. 249ff; Walter Kaufmann, Nietzsche – Philosopher, Psychologist, Antichrist, 307ff.

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den an eine Kategorie, sondern an einen Konjunktiv, an ein »als ob« 40, insofern die Wertsetzung des und im Leben nach der Prämisse, nach der Maxime der Ewigkeit lauten sollte: »Lebe und bewerte dein Leben, als ob du es noch unzählige Male leben müsstest, als ob es sich in Ewigkeit in genau derselben Form wiederholen würde, etc.!« Dass Nietzsche selbst nicht an eine kosmologische Begründung der Ewigen Wiederkehr geglaubt hat, ergibt sich aus der Semantik des Gedankens selbst, und eine entsprechendere Deutung oder Aufspaltung der Deutungen wäre diejenige in eine Į) ethisch-psychologische, und eine ȕ) ontologischmetaphysische Dimension, insofern sich die Zweite auf den Begriff des Willens zur Macht bezieht. Nietzsches Arbeit, sein Schaffen folgt – trotz aller Polemik und trotz aller Kritik – einer gewissen philosophischen Tradition, nämlich der schon angesprochenen Entwicklung des spezifischen Begriffes, der Dichtung der realen Welt oder dem Versuch des Fassens der wirklichen Erscheinung. Das Reale und Singuläre sind immer die Kraftquanten als Willen-zurMacht-Quanten, die unaufhörlich wirken und sich verändern, die Gebilde, Formen, Lebendiges begründen und produzieren. Es gibt nichts außerdem: Jeder Körper, jeder Gedanke, jede biologische, psychische, soziologische, politische, chemische Einheit ist Willen zur Macht als Wirkungseinheit, als ein Werdendes und dieses Werden vollzieht sich unaufhörlich, immer und immer wieder. Jede Aktion und auch jede Reaktion, jeder Prozess, ob es sich um eine momentan vollzogene Handlung, um einen Atemzug, einen Schritt, ob es sich um eine Neigung oder einen Wunsch, um die Vererbung oder die ganze Evolution handelt: es ist überall das Prinzip des mehr-Wollens, der Steigerung, der Unterwerfung am Wirken. Überall und immer handelt es sich um Interpretationen, Deutungen, um Formwerdung, Formgebung, Formbestimmung zum Zwecke der Machtvergrößerung, als Ausdruck einer Macht-Ökonomie – und diese gleichen Prozesse wiederholen sich immer wieder: Sie waren immer, es gab sie immer, sie gibt es und sie wird es immer geben; sie sind ewig, sie wiederholen sich, sie sind die Differenz als die Wirkungsdifferenz in ihrer Wiederholung, und sie kehren immer wieder – ewige Wiederkehr des Gleichen. Die spinozistische Wendung zur Univozität des Seins behält sich noch die Indifferenz, die Identität der Substanz vor. Ihre eigentliche Konsequenz ist jene der Immanentisierung41, jedoch bleibt eine gewisse Unabhängigkeit des Einen von seinen Vielen, von seinen Modi bestehen.

40 | Vgl. das kantische »als ob«, Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, Einleitung IV, B XXVIII, Werkausgabe X, 89. 41 | Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari, Was ist Philosophie, 57.

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»Die Substanz müßte sich selbst von den Modi, und nur von den Modi aussagen. Eine derartige Bedingung kann nur um den Preis einer allgemeineren kategorischen Umkehrung erfüllt werden, der zufolge sich das Sein vom Werden, die Identität vom Differenten, das Eine vom Vielen usw. aussagt. Daß die Identität nicht primär ist, daß sie als Prinzip, aber als sekundäres Prinzip, als gewordenes Prinzip existiert; daß sie um das Differente kreist – dies ist die Natur einer kopernikanischen Revolution, die der Differenz die Möglichkeit ihres eigenen Begriffs eröffnet, anstatt sie unter der Herrschaft eines Begriffs überhaupt festzuhalten, der bereits als identisch gesetzt ist. Mit der ewigen Wiederkunft wollte Nietzsche nichts anderes sagen.« 42

4 Z USAMMENHÄNGE Die Identität ist als Voraussetzung abgelöst, untergraben, gespalten. Sie ist selbst in den Riss, den Ur-Sprung abgetaucht und eingebrochen, der Wille zur Macht hat den Begriff selbst gespalten, er ist der philosophische Begriff, der selbst nicht mehr dem Bild eines Begriffes entspricht, der auf keine Einheit mehr schließen lässt, er ist »Wille_zur_Macht«, er trägt die Differenz in sich, er suggeriert die Differenz. »Die Ewige Wiederkunft kann nicht die Wiederkehr des Identischen meinen, da sie im Gegenteil eine Welt (die Welt des Willens zur Macht) voraussetzt, in der alle vorgängigen Identitäten abgeschafft und aufgelöst sind. Wiederkehren ist das Sein, aber nur das Sein des Werdens. Die ewige Wiederkunft läßt nicht ›das Selbe‹ wiederkehren, die Wiederkehr bildet vielmehr das einzig Selbe dessen, das wird. Wiederkehren ist das Identisch-Werden des Werdens selbst. Wiederkehren ist folglich die einzige Identität, die Identität aber als sekundäre Macht [puissance], die Identität der Differenz, das Identische, das sich vom Differenten aussagt, um das Differente kreist.« 43

Darin ist der schwere Gedanke das Feld oder die Ebene, auf der und als die sich der Begriff entwickelt und vollzieht. Sie ist ihm immanent und er ist die Verdichtung des Daseins, das konkret Seiende als immer Werdendes wird in ihm zum Ausdruck gebracht und drückt sich in ihm aus. Ebenso ist die Ebene in ihm, sie ist ihm eingeschrieben, wird von ihm mitgetragen, sie lebt in ihm und als er und sie ist das Gesamt aller Konkretionen, ähnlich, wie die spinozistische Substanz in einer ersten Modifikation das Gesamt aller Modifikationen als die facies totius universi 44 ist.

42 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 64f. 43 | Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, 65. 44 | Vgl. Baruch de Spinoza, Brief 63, Briefwechsel, 247.

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Die Ewige Wiederkehr ist die Energie, das Gesamtmaß der Energie, die Kraft, die sich in der konkreten Form als sekundärer Identität manifestiert, und generell ist die Energie immer in Formation, sie formiert sich unentwegt zum Konkreten, sie ist Information. Das ist das Miteinander und Ineinander der philosophischen Dimensionen, die auch das Ineinander von Denken und Sein selbst sind: denn die Immanenzebene ist das Bild des Denkens als das Sein – »Wenn das Denken von Thales aufschießt, so kehrt es als Wasser wieder. Wenn das Denken Heraklits zum polemos wird, so kehrt gerade das Feuer zu ihm zurück.«45 – Die ontologische Trennung hebt sich auf, wird obsolet, bricht zusammen, oder erscheint als das, was sie ist: als nachgesetzt, als Konkretion, selbst schon als Äußerung eines bestimmten Willens. Und das ist die Dimension der ewigen Wiederkunft als des Rahmens, als des Bildes, in dem sich ihr Begriff entwickelt, respektive, als der sie sich aus dem Begriff des Willens zur Macht entwickelt – sie gehören zusammen und ineinander in der Deutung und der Interpretation der Welt als Interpretationsgeschehen und Werden, als das grundlegende Werden, das immer wiederkehrende Werden, als die Aufprägung des Seinsbegriffes auf das Werden oder umgekehrt. Aus diesem Konzept, aus dieser Interpretation der Welt resultiert oder folgt ein Anspruch, ergibt sich eine Konkretion der Lehre und eine Erweiterung ihrer Bedeutung, vielleicht etwas, das in dieser Form der Metaphysik und Ontologie als in einem direkten Zusammenhang stehend eher fremd, eher ungeheuer ist, nämlich eine Anwendung, nicht nur eine theoretische, sondern eine praktische Konkretion, obwohl es kein geringerer als Kant ist, der eine ähnliche Verbindung zwischen Ethik und theoretischer Philosophie vollzieht46, allerdings mit der Erleichterung, dass er das Bild des Denkens nicht zu ändern, sondern nur genau zu beschreiben, zu analysieren brauchte (der Schöpfungsgedanke projiziert auf eine ins Subjekt verlegte, transzendente Einheit – die Vernunft). Die Proklamation einer Immanenzebene, der Versuch, das Bild des Denkens zu denken, ist die eine Sache – dazu braucht es den Philosophen. Ihre Anwendung und ihre Induktion – tatsächlich als Einführung verstanden – verlangt allerdings nach etwas anderem, sie braucht Adepten und Hohepriester, Prediger, sie braucht – als Lehre – ihren Lehrer. So greift man zurück auf eine Figur, eine Person, eine Instanz, auf eine Vergangenheit, die – als eine Wirkungsgeschichte – noch hinter die Entstehung der platonisch-christlichen Tradition zurückreicht47, der Wille, als Schrift- und Wortführer maskiert sich ein weiteres Mal, wird persisch und beginnt, seine 45 | Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie, 45. 46 | Vgl. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Vorrede, A 3 ff, Werkausgabe VII, 107ff. 47 | Vgl. Volker Gerhardt, Die Erfindung eines Weisen, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 1ff.

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Geschichte zu dichten48. Man kann es Ahnung oder Vor-Ahnung nennen, in jedem Fall aber Stimmung, eine Gestimmtheit durch die Kunst, eine Geisteshaltung, aus der die »Geburt der Tragödie« 49 entsprungen ist, eine Geistes- und Geisterschau, die den Boden des tragischen Gedankens untersucht, die die Zerrissenheit der Welt und darin die Tragödie selbst als die Form der Gespaltenheit erkennt, den Geist der Musik, das Dionysische, das Aufreißende und Reißerische, den Dualismus der Kunstgottheiten, den gespaltenen Gott selbst, die Spur als Differenz, die sich durch alles zieht, die alles – vorwegnimmt. Aber die Ahnung formt sich, wird Form, umkreist die Dichotomie, sie wird bestimmter, fester, sie dehnt sich aus, ähnlich dem Weg der aristotelischen Form aus der Physik zur Metaphysik – sie erhebt neue, weitere Ansprüche, sie hat die Gespaltenheit umschlossen, in sich aufgenommen, sie wird ein Begriff der Differenz, wird der Wille zur Macht, die Bewegung der Welt und die Kunst von einer Perspektive zu einer Erkenntnis. »Die Kunst zu sehen unter der Optik des Lebens« – heißt: aus dem Leben blicken auf die Kunst, die Perspektivität des Lebens kennen, sie nützen, die Perspektiven zulassen und überall einen Blick auf den Glanz zu finden, auf die schöpferische Tätigkeit, die sich dahinter, darunter befindet, die sich überall und notwendig verbirgt. Das göttliche Prinzip der Spannung hat sich inkarniert, ist Wille geworden, hat die ganze Welt erfasst: Es ist herabgestiegen auf den Boden der Welt und damit zum Höchsten, Erhabensten geworden, zu einem Begriff als Trope, als Metapher, zu einem Adler, der seine Immanenzebene, seine Bestimmung, die Schlange als Ewige Wiederkehr um den Hals trägt. »Und siehe! Ein Adler zog in weiten Kreisen durch die Luft, und an ihm hieng eine Schlange, nicht einer Beute gleich, sondern einer Freundin: denn sie hielt sich um seinen Hals geringelt./›Es sind meine Tiere!‹ sagte Zarathustra und freute sich von Herzen.«50 Es sind Zarathustras Tiere, Nietzsches treueste Begleiter, der Wille zur Macht und die ewige Wiederkehr, der höchste Begriff und der schwerste Gedanke, die er mit sich führt, bei sich trägt, und der Prozess der Entwicklung, der Schaffens- und Entfaltungsprozess des Philosophen ist zugleich sein Werdegang, er interpretiert das Leben und muss selbst Teil dieses Lebens sein, er dichtet das Leben, und sein Begriff, sein Prinzip muss ihm innerlich werden, es muss in ihn übergehen. Der Philosoph hat das Prinzip der Kunst in seinem Begriff gedichtet, hat es sich einverleibt, er hat sich selbst mit in das Prinzip genommen, er hat den Willen gefunden, den Willen zum Werk, den Willen 48 | Vgl. Friedrich Kaulbach, Sprachen der ewigen Wiederkunft, 49ff. 49 | Vgl. zum Zusammenhang der Tragödienschrift mit dem Zarathustra: Sylvain de Bleeckere, »Also sprach Zarathustra«: Die Neugestaltung der »Geburt der Tragödie«, in: Nietzsche Studien 8, 270ff. 50 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra’s Vorrede 10, KSA 4, 27.

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zur Kunst, und die Kunst will nur eines: Sie will zeigen, sie will setzen, sie will schaffen, sie will ihren Grundgedanken – d.i. »der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e «51 zu Tage fördern, sie will scheinen und glänzen und darin das Tiefste, ihr Innerstes zum Ausdruck bringen. Nietzsche fühlt die Tiefe der Kunst, er wird zum Philosophen der Kunst, er eignet sich ihre Perspektive an, schafft aus ihrer Perspektive neues, neue Begriffe, schafft aus ihrer Perspektive auf die Wissenschaft eine neue, eine »Fröhliche Wissenschaft« und verinnerlicht die Kunst so weit, um selbst vom Philosophen zum Künstler, zur Begriffsperson ൯൬ zu werden, zurückzukehren, die Philosophie zu leben und die Kunst aus der Optik des Lebens zu sehen. »Der Begriff Offenbarung, in dem Sinn, dass plötzlich, mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit, Etwas s i c h t b a r , hörbar wird, Etwas, das Einen im Tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach den Thatbestand. Man hört, man sucht nicht; man nimmt, man fragt nicht, wer da giebt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Nothwendigkeit, in der Form ohne Zögern, – ich habe nie eine Wahl gehabt. Eine Entzückung, deren ungeheure Spannung sich mitunter in einem Thränenstrom auslöst, bei der der Schritt unwillkürlich bald stürmt, bald langsam wird; ein vollkommenes Ausser-sich-sein mit dem distinktesten Bewusstsein einer Unzahl feiner Schauder und Überrieselungen bis in die Fusszehen;« 53

Das Verinnerlichte will – es muss – nach außen, es muss sich manifestieren, es ist sein Wille und der Wille selbst, und es ist die Form einer Geschichte, die Geschichte des Werdens und des Werdenden, des Zweifels und des Zweifelnden, eine Geschichte von Trennung und von Schmerz, von Heiterkeit und Gesundheit und alles in allem eine Erzählung davon, wie man wird, was man ist 54. Nietzsche nimmt sich selbst, sein ganzes Leben, seine Erinnerungen, seine Empfindungen mit – sie sind ihm nichts Privates mehr, die Kunst kennt keine Zurückhaltung: Sie hat keine Geheimnisse, sondern Masken, sie kennt keine Ebene der Entwicklung, wie sie die Philosophie braucht – als eine Wissenschaft; keinen Argumentationsgang, sondern nur eine Vielheit, ein Springen auf den Ebenen, über die Ebenen, ein ständiges Wechseln, sie ist ein Lichtund Schattenspiel, sie lässt alles different, verborgen, gespalten, vervielfacht

51 | Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, 335, Hervorhebung i.O. 52 | Gilles Deleuze/Felix Guattari, Was ist Philosophie?, 73: »Es ist das Schicksal des Philosophen, seine Begriffsperson(en) zu werden, während zugleich diese Personen zu etwas anderem werden als das, was sie geschichtlich, mythologisch oder landläufig sind […].« 53 | Friedrich Nietzsche, Ecce Homo, KSA 6, 339, Hervorhebung i.O. 54 | Vgl. den Untertitel zu Ecce Homo: Wie man wird, was man ist., KSA 6, 255.

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erscheinen. Sie ist bedeutend und überall gefüllt von Bedeutungen, von Interpretationen und Möglichkeiten der Interpretation. »In diesem Sinne also ist ein Kunstwerk, eine in ihrer Form eines vollkommen ausgewogenen Organismus vollendete und geschlossene Form, doch auch offen, kann auf tausend verschiedene Arten interpretiert werden, ohne daß seine irreduzible Einmaligkeit davon angetastet würde. Jede Rezeption ist so eine Interpretation und eine Realisation, da bei jeder Rezeption das Werk in einer originellen Perspektive neu auflebt.« 55

Aber der Offenheit der Interpretationen liegt noch eine Absicht zu Grunde: das Werk Zarathustras. »Also sprach Zarathustra« als das Werk Nietzsches will nicht nur für den Moment glänzen, es will sich nicht nur im Augenblick 56, nicht plötzlich entfalten, sondern es will auf kontroversen, auf versteckten Wegen selbst zu etwas werden, es will hinter seiner Größe etwas transportieren, will noch hinter den Lehren ihres Protagonisten etwas vermitteln, als einen schleichenden Imperativ, als ein suggestives Umdenken, als eine Botschaft für die Nachwelt. Die ewige Wiederkehr soll als Schlange langsam, mit der Zeit in jeden Hals, soll in den Hals der Kultur kriechen, sie soll sich ausbreiten, zuerst als eine Antithese, als eine Möglichkeit: Man soll um sie wissen, sie braucht Präsenz, sie kümmert sich nicht um Annahme oder Ablehnung: Es geht ihr um das Vorhaben, eine Jahrtausende alte Vorstellung zu stürzen, um eine neue Sprache, eine neue Grammatik, sie will sich langsam und stetig ausbreiten, will sich als Gedankenexperiment, als Dämon allen Schlafenden oder Halb-Schlafenden nähern, ihnen die Vorstellung ins Ohr flüstern, sie will etwas vorbereiten. Und Zarathustra muss seinen Weg gehen, er muss selbst Denker, Zweifler, Schlafender und Wachender, Kranker und Genesender sein, er muss Lehrer sein und in seinem Lehren, in seinem Überfluss wieder Lernender werden, er muss viele Wege beschreiten, viele Höhen erklimmen und in viele Tiefen zurückfallen, es geschieht alles einer großen Notwendigkeit folgend, er beschreibt sein eigenes Schicksal, das Schicksal einer Individualität, die Fügung, in der sich jedes Dasein, jedes Menschen-Dasein wiederfindet, jedes Selbst, das irgendwann auf sich gestellt, das irgendwann alleine ist, das irgendwann alleine sein muss. Und er ist, er war alleine, war lange in seiner Zurückgezogenheit, in der Einsamkeit des Weisen, er hat mit seiner Weisheit, seinem Adler und seiner Schlange gelebt, er ist wie die Sonne, derer er schon sehnsüchtig

55 | Umberto Eco, Das offene Kunstwerk, 30. 56 | Vgl. Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Der Tragödie erster Teil, Vorspiel auf dem Theater, 5.

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jeden Morgen harrt: Sie ähneln sich in ihrem Reichtum. »›Du grosses Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest! […]‹ «57 So richtet Zarathustra das Wort an die Sonne und fühlt sich ihr verbunden, er will anfangs selbst den Menschen leuchten, er will geben, will seinen Reichtum, seine Weisheit loswerden, schenken, er will seine Lehre unter die Menschen bringen, auf dass sie sie nicht bestaunen, sondern annehmen, dass sie nicht mit ihr, sondern die Lehre in ihnen und durch sie lebe; auf dass sie Gelerntes, Gelehrtes vergessen, selbst denken, selbst werden, selbst das Werden erkennen und denken lernen, dass sie den Wert des Wertes sehen und bewerten lernen; auf dass sie den einen und die vielen Willen verstehen, empfinden lernen, sich selbst sehen und ihr Selbst sehen als ein großes Kunstwerk, ihren Leib wieder schätzen, wieder fühlen lernen, entgegen dem anerzogenen Dogma der Verachtung und Geringschätzung alles dessen, was Körper heißt 58. Er will – ganz allgemein – den Wert jedes einzelnen, die Individualität, die große Kunst des Individuellen zeigen, er will den Sinn dafür fördern, den Blick schärfen, ihn erziehen, als Potential herausziehen aus den Menschen in Form einer Lehre, die stark genug ist, »um z ü c h t e n d zu wirken.«59 Das Problem60, das sich hier ergibt und aufdrängt, ist die Frage, ob diese Individualität, die für Nietzsche von solch großer Bedeutung zu sein scheint, ob die individuelle Lebensführung gelehrt, anerzogen werden kann, ob ein Individuum – verschärft formuliert – gemacht werden kann, oder ob man hierin in einen grundsätzlichen Widerspruch tritt und das Prinzip der Individualität sich immer schon gegen die Indoktrination, gegen Vorgaben verwehrt, vielleicht erst dann zu Tage tritt und präsent wird, wenn sich diese Vorgaben entziehen, wenn man gelernt hat, zu Gunsten der eigenen Schaffenskraft die Konventionen abzulegen – zu vergessen. Doch Zarathustra sucht zu Beginn seiner Erzählung nach Schülern, nach Zuhörern und Lernwilligen, nach jenen, denen er seine Weisheit, seine Erkenntnisse mitteilen kann, sein Verständnis der Welt und des Lebens, das in so deutlichem Kontrast zu allen anderen Weltbildern, allen früheren Lehren und Werten steht; es ist sein Weg der Umwertung, den er den Menschen zeigen möchte, dem sie folgen sollen. In der Offenlegung dieses Weges sieht Zarathustra seinen Lebenssinn, im Schenken seiner Weisheit liegen sein Ziel und 57 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra’s Vorrede I, KSA 4, 11. 58 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra I, Von den Verächtern des Leibes, KSA 4, 39ff. 59 | Friedrich Nietzsche, Nachlaß 1884 – 1885, 25 [211], KSA 11, 69, Hervorhebung i.O. 60 | Vgl. zu den folgenden Ausführung auch meinen Aufsatz: Alexander Nehamas, For whom the Sun shines – A Reading of Also sprach Zarathustra, in: http://www.univie. ac.at/performanz/fwf/site/wp-content/pdf/Nehamas_Auhser.pdf.

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sein Glück. Auch wenn er weiß, dass es jedem selbst gelingen muss, diesen Weg zu erkennen, ihn einzusehen und nachzuvollziehen, so ist es doch das Bedürfnis, zu geben, das ihn immer wieder unter die Menschen treibt, das ihn antreibt und motiviert. »Wie für die Sonne wäre auch für ihn sein Glück nichts, hätte er nicht jene, für die er scheint.«61 Allerdings ist dieses Dasein als Lehrer, als Übermittler der großen Weisheit, die er für sich selbst gefunden hat, geprägt von Enttäuschungen und Rückschlägen, von Missverständnissen und Fehldeutungen durch jene, die profitieren und lernen sollten, denen die Lehre dienen will. Es ist ihnen nicht möglich, den Sinn zu begreifen, der hinter dem neuen Weg steht, den Grundsatz, derjenige werden zu sollen, der man ist, zu sich selbst zu finden als einem Individuum, einer einzigartigen Existenz, die sich gegen alle Grenzen verweigert, die sich der Konvention entzieht, indem sie Neues schafft, aus sich hinaus schafft, indem sie aus sich hinaus rollt. Und darum beginnt Zarathustra immer mehr, an seinem Weg zu zweifeln – nicht an seiner Wahrheit, die er für sich selbst gefunden hat, nicht an seiner Weisheit und seinem Blick auf die Welt, sondern an seinem Weg als Lehrer und im weiteren an den Sinn des Lehrers überhaupt. Er sieht die Nutzlosigkeit im Überbringen seiner Botschaft und die Unmöglichkeit, seine innere Gestimmtheit, seine Verfassung nach außen zu tragen, zu präsentieren, in einen Rahmen zu zwängen, in Worte zu fassen; er erschaudert beim Anblick seiner eigenen Bilder, beim monotonen Wiederkäuen seiner eigenen Worte durch die Zuhörer, sieht, dass in der starrsinnigen Wiedergabe eben der Sinn selbst verloren geht, dass er sich als Lehrer eben dagegen wendet, wofür er plädiert, dass darin die Individualität sich niemals entfalten62 und dass – im weiteren – er selbst seine Harmonie mit dem Leben nicht finden können wird, wenn er unentwegt darum bemüht ist, dem Leben eine Form zu geben, um diese Form weiterzugeben.

61 | Alexander Nehamas, For whom the Sun shines, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 170. 62 | Vgl. Arno Böhler, The Time of Drama in Nietzsche and Deleuze, in: Deleuze Studies, Vol. 4.1., 77: »While Zarathustra freed himself with a resolute bite from the historic burden of his own ›it was‹ – that beast, about whom he said that it smothered him with a great weariness – his animals merely watched this dramatic display, almost as if they did not have any historic burden that strangled them. Almost as if the notion of the ›eternal recurrence of the same‹ did not burden or bother them at all in their own animalistic existence. Almost as if they, his animals, could tolerate this idea without being ashamed of the eternal return of their own animalistic existence.«, oder: Arno Böhler, Nietzsche – On the Regenerative Character of Dispositions, in: James Luchte (Hrsg.), Nietzsche’s Thus Spoke Zarathustra: Before Sunrise, 141 - 151.

5 Geister

Er glaubt nicht mehr an den Weg und erkennt, dass es auf seinem Weg den Weg gar nicht geben kann, dass der Glaube an den Weg seinem Weg notwendig zuwider läuft, dass er sich geirrt hat in der Frage, wie er sein Glück finden kann. »›Das – ist nun m e i n Weg, – wo ist der eure?‹ so antwortete ich Denen, die mich ›nach dem Wege‹ fragten. D e n Weg nämlich – den giebt es nicht.«63 Und so gibt es auch nicht die eine Lehre, es gibt sie nicht als etwas Feststehendes, wie sich auch alles andere dieser Kategorie entzieht. Fest-Stellungen sind das Gegenüber des Feststehenden, sie sind der Wandel und das Bewegte, der Kreislauf der Formen, der Individuen – Kreislauf der Kunst. Und der schwere Gedanke, die Lehre, die Begriffe, die Erkenntnisse? – bleiben schwer, bleiben wichtig, sie verlieren darin nicht ihr Gewicht, nicht einmal ihren Anspruch. Die ewige Wiederkunft, die Wiederkehr als eine ontologische Basis der Willen-zur-Macht-Prozesse, als das Wiederkehren der Differenz, als der Kreislauf des Begriffes, der die Differenz umkreist – sie bleibt als Prinzip der ewigen Spaltung, als der dionysische Zug des Werdens, als die Aufprägung, die Verschmelzung von Sein und Werden: Der heraklitische Fluss verebbt nicht, er gefriert nicht und trocknet nicht aus, im Gegenteil: er nimmt auch noch seinen Begriff mit in die Bewegung, in die Veränderung, er reißt alles an sich. Und das Wiederkehren als Psychologie wird gespenstisch, es wird gespalten, trügerisch, ein Spiel der Vorstellungskraft – wird ein Strudel, ein Sog der Verwirrung, der Abwesenheit, des Selbstentzuges. Es ist ihr Anspruch, ihr Bedürfnis – als ein Bild des Denkens, als Immanenzebene – einzudringen und durchzudringen, sich zu entfalten und zu bestimmen, sie will nicht singulär, nicht momentan, sondern bestimmend, dauernd, weiterwirkend sein, sie erhebt den Anspruch, die Ebene der Kultur, die Immanenzebene der Kultur abzulösen, sie ist die Antithese des Einheits- und Seelen-Denkens, der schwere Gedanke, das Experiment als großes, niederschmetterndes »Als-ob«, der konjunktivische Imperativ, das furchtbare »Denke dein Leben, als ob es immer wiederkehren würde!«

5 G EISTER Die Dualität und die Zerrissenheit müssen sich festsetzen in den Köpfen und Körpern, müssen angenommen werden, man muss lernen, dass alles Erlernte relativ, alle Götter tot, alle Götter erfunden, aller Glaube nur Träumerei, nur Verschwendung, nur Täuschung waren – so stellt man sich den Hammer vor, den zerstörerischen Schlag der Philosophie, eine Vernichtung, die Öffnung gegen den Nihilismus, der Glaube an ein: »Lieber keine, als falsche Werte!«, an 63 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Geist der Schwere 2, KSA 4, 245, Hervorhebung i.O.

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dem man notgedrungen, an dem alles zerbrechen muss, ein tiefes, schwarzes Loch, in das alles zurückfällt, in dem alles untergeht. Aber die Ewige Wiederkehr ist nicht die Revolution, nicht die Umwertung, nicht die Neubesetzung, sie will nicht Wert durch Wert, nicht Ebene durch Ebene, auch nicht ein Bild durch ein anderes ersetzen, sondern an die Stelle von Werten die Wertsetzung selbst stellen, sie will auch die grundlegendsten Vorstellungen in einen Prozess verfügen, sie will nicht eine Leier, kein Leier-Lied der Ewigkeit sein, sondern ein Gedanke, eine Schwere, selbst etwas zu Überwindendes, sie will die Ebene der Immanenz dynamisieren. Zarathustra ist aus der Einsamkeit zurückgekehrt, er ist unter die Menschen gegangen, um zu schenken und sie teilhaben zu lassen, er hat ihnen seine höchsten Erkenntnisse und schwersten Gedanken unterbreitet, er hat versucht, sie zu erziehen, er, der selbst seine Einsichten gewinnen, der hoch hinauf und tief hinunter kommen hat müssen, der Berge und Abgründe bezwungen hat, um zu seiner Weisheit durchzukommen, um sie mitzubringen. Er ist der Verneiner, der Ungläubige, der Unbeugsame, jener, der alles in Zweifel, alles in Frage stellt, der nicht Halt macht, der den gefährlichen, den unbekannten Weg jenem der Gewohnheit vorzieht, der Odysseus des Geistes, und er wendet sich an seinesgleichen – nicht mehr mit einer Erkenntnis, nicht mit einer Wahrheit, sondern mit einer Einsicht, einem Rätsel –, er spricht zu den Seeleuten: »Euch, den kühnen Suchern, Versuchern, und wer je sich mit listigen Segeln auf furchtbare Meere einschiffte, –/euch, den Räthsel-Trunkenen, den Zwielicht-Frohen, deren Seele mit Flöten zu jedem Irr-Schlunde gelockt wird:/– denn nicht wollt ihr mit feiger Hand einem Faden nachtasten; und, wo ihr e r r a t h e n könnt, da hasst ihr es, zu e r s c h l i e s s e n –/euch allein erzähle ich das Räthsel, das ich s a h , – das Gesicht des Einsamsten. –« 64

Und er erzählt von seinem Weg, von der Last, die er mit sich tragen muss, vom Geist der Schwere, der auf seinen Schultern sitzt, der ihm sein eigenes Schicksal, der ihm seine eigene Lehre ist, seine Weisheit, die ihn so hoch fliegen, die ihn tanzen lassen hat, die er geben wollte. »›Oh Zarathustra, raunte er höhnisch Silb’ um Silbe, du Stein der Weisheit! Du warfst dich hoch, aber jeder geworfene Stein – muss fallen!/Oh Zarathustra, du Stein der Weisheit, du Schleuderstein, du Stern-Zertrümmerer! Dich selber warfst du hoch, – aber je-

64 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 197, Hervorhebung i.O.

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der geworfene Stein – muss fallen! Verurtheilt zu dir selber und zur eigenen Steinigung: oh Zarathustra, weit warfst du ja den Stein, – aber auf d i c h wird er zurückfallen!‹« 65

Das ist sein Los – er hat das Wissen, die Überzeugung, er hat seine Lehre und seine Weisheit, er hat sie verinnerlicht, er hat und liebt die Ewigkeit, er liebt, er schätzt das Leben und im Geben, im Schenken seiner Liebe, seiner höchsten Güter fällt alles auf ihn zurück, es lastet auf seinen Schultern und zieht ihn zurück in den Abgrund, in die Einsamkeit; es macht ihn leer. Der Geist der Schwere ist der Geist der Einsamkeit und zugleich der Gedanke der Schwere, er ist auch der schwerste Gedanke als die Ewige Wiederkehr in ihrer Allgemeinheit, als eine a-personale, eine überindividuelle Lehre, als ein Leier-Lied, das an der Ewigkeit als einer Allgemeinheit festhält. Sie ist amorph und trüb, ebenso trübsinnig, sie tötet jeden Sinn, erstickt jeden Sinn, solange man sie teilen muss. Und das ist eine Erkenntnis, zu der Zarathustra, der Suchende, der Gebende und Lehrende erst selbst, auf seinem Weg, in seinem Gespräch mit seinem Geist, seiner Lehre, kommen muss – er kann sein Wissen nicht mit sich tragen, nicht mitschleppen und auch nicht weitergeben – es eignet sich nicht zur Allgemeinheit, und vor allem: Es eignet nicht der Allgemeinheit, es ist etwas anderes, etwas persönliches, es ist vor allem – ein Geheimnis. Es gehört mir, es muss sich vor allem in mir entfalten, ich muss es mir zu eigen machen, man muss den Schritt wagen, den Suizid an der sokratischen Haltung zu begehen, und auch Zarathustra weiß: »Es giebt etwas in mir, das ich Muth heisse: das schlug bisher mir jeden Unmuth todt. Dieser Muth hiess mich endlich stille stehen und sprechen: ›Zwerg! Du! Oder ich!‹ –/ Muth nämlich ist der beste Todtschläger, – Muth, welcher a n g r e i f t : denn in jedem Angriffe ist klingendes Spiel./Der Mensch aber ist das muthigste Thier: damit überwand er jedes Thier. Mit klingendem Spiele überwand er noch jeden Schmerz; Menschen-Schmerz aber ist der tiefste Schmerz./Der Muth schlägt auch den Schwindel todt an Abgründen: und wo stünde der Mensch nicht an Abgründen! Ist Sehen nicht selber – Abgründe sehen? […] ›Halt! Zwerg! sprach ich! Ich! Oder du! Ich aber bin der Stärkere von uns Beiden –: du kennst meinen abgründlichen Gedanken nicht! D e n – könntest du nicht tragen!‹« 66

Das ist der Mut zu sich selbst, das Ja-Sagen zu sich selbst und zu alledem, das zu diesem Selbst gehört – auch zu der Lehre, zu dem schwersten Gedanken, zu dem abgründlichen und eigensinnigen Gedanken, zu dem, der den Menschen selbst an den Rande des Abgrundes bringt, der der Abgrund selbst ist. Zarathustra begegnet hier seiner eigenen Lehre, der ewigen Wiederkunft, als 65 | Ebd. 198, Hervorhebung i.O. 66 | Ebd. 198f, Hervorhebung i.O.

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etwas anderem, als einem Etwas, das ihn bedrückt, das seinen Weg erschwert, als sein Eigentum, das sich – gelöst von ihm – selbstständig macht und ihm die Konsequenzen der Loslösung, der Ab-Gabe und Her-Gabe aufzeigt: Es kommt auf ihn zurück, der Stein der Weisen, der er selbst sein wollte, der seine Lehre sein sollte, fällt auf ihn zurück als etwas anderes, Bedrohliches, Gefährliches, es nagt an ihm und es ist nicht mehr sein abgründlicher Gedanke. Dies zu erkennen ist zugleich die Erleichterung, der Moment, in dem der Zwerg von den Schultern Zarathustras springt, der Moment, in dem er ihn nicht mehr tragen muss – es ist nicht sein Gedanke, es ist die Allegorie des allgemeinen Gedankens, einer allgemeinen Ebene, eines Leier-Liedes oder ganz einfach dessen, das für den Einzelnen uninteressant, unwichtig, klein, zwergenhaft ist. »›Alles Gerade lügt, murmelte verächtlich der Zwerg. Alle Wahrheit ist krumm, die Zeit selber ist ein Kreis.‹/›Du Geist der Schwere! Sprach ich zürnend, mache es dir nicht zu leicht! Oder ich lasse dich hocken, wo du hockst, Lahmfuss, – und ich trug dich h o c h !‹«67 Denn die ewige Wiederkehr ist kein Kreis für alle, sondern ein Gut des Einzelnen, sie ist nicht die Ablöse der großen Ebene, der einen Ebene, sie enthält nicht – gleich der Denkfigur der abendländischen Geschichte, der platonisch-christlichen Tradition, eine »Aussage über das Seiende im Ganzen« 68, sie ist keine Aussage über das Seiende im Ganzen, sondern sie entzieht dem Denken sein Fundament, indem sie es relativiert, indem sie zeigt, unter welchen Bedingungen und Voraussetzungen es wachsen hat können, sie ist ein Gedankenexperiment, das mit dem Fehlen des Fundamentes spielt, das eine Vorstellung suggeriert, wie es denn wäre, wenn das ganze Dasein nicht einem Ziel, sondern nur sich selbst nachliefe bis in alle Ewigkeit. Sie will an den Ort dieser Ebene und sie will ihn ausfüllen als ein Gespenst, sie entzieht sich selbst den neuen Gebäuden als deren Fundament und lehrt den Einzelnen, sein Dasein zu schätzen und seine Individualität, seine genealogische Individualität69, als das Höchste, als das Einzige, dem er den Wert und zugleich sein Vertrauen schenken kann, zu würdigen. Sie ist das Gespenst, das Nicht-Sein einer tatsächlichen Ebene, sie ist eben die Ebene des Werdens, die sich einschleicht als eine Lehre, aber nur als ein eigener, als ein persönlicher Gedanke ertragen werden kann: Als eine Allgemeinheit wird sie zunehmend schwer, ist sie die negative Schwere – als etwas Eigenes ist sie die positive Schwere als das Bedeutung- und Sinnstiftende, als die Erlöserin des Sinns von seiner Richtung und seiner Bindung, insofern sie

67 | Ebd. 200. 68 | Martin Heidegger, Nietzsche I, 226. 69 | Vgl. Arno Böhler, Politiken der Re-Signation: Derrida – Adorno, in: Eva Waniek/Erik M. Vogt (Hg.), Derrida und Adorno, 167ff.

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etwas Besonderes wird, insofern sie sich tatsächlich entfaltet als der Grund des Individuums und seiner Fähigkeit. Zarathustras Erkenntnis ist das Wiederentdecken dessen, das er schon hatte, als Wiedererkennen seiner Lehre und seines Gedankens, als das zusich-Kommen im Aneignen seines Gedankens und im Erkennen, dass sein Gedanke nicht Gedanke eines anderen werden kann, dass genau darin nicht der Sinn des Schaffenden und der Schaffenden liegt, dass das Bewusstsein des Selbst, des eigentlich Mächtigen, aus dem selbst-Tun, aus dem selbst-Schaffen kommt, ebenso aus dem Bewusstsein seiner Geschichte, seiner Genealogie, dass das Selbst als ein künstlerisches Selbst, als eine Willenskomposition nichts anderes will, als schaffen, als Herr werden auch über die Gedanken und Erkenntnisse, die es leiten, und dass eben eine Lehre, die die Einheit leugnet, nicht zu einem Prinzip der Allgemeinheit erhoben werden kann, dass sie sich nur in ihrem jeweiligen Entzug, in ihrer jeweiligen Aneignung entfalten kann als der Blick auf das Konkrete, als das Ja-Sagen zu dem, was ist, was wird, als eine ewige Fürsprache des Augenblicks, als ein Wollen und wollen Können der Ewigkeit. So sieht Zarathustra, nachdem er sich des Geistes, des Zwerges entledigt hat, nachdem er ihn sich – als seinen Gedanken – wieder angeeignet hat, erst das eigentliche Bild, das er als Rätsel den Seefahrern, den Mutigen und Unerschrockenen, den Pionieren aufgegeben hat, mit dem er ihnen zu denken geben möchte: »Und, wahrlich, was ich sah, desgleichen sah ich nie. Einen jungen Hirten sah ich, sich windend, würgend, zuckend, verzerrten Antlitzes, dem eine schwarze schwere Schlange aus dem Munde hieng./Sah ich je so viel Ekel und bleiches Grauen auf Einem Antlitze? Er hatte wohl geschlafen? Da kroch ihm die Schlange in den Schlund – da biss sie sich fest./Meine Hand riss die Schlange und riss: – umsonst! sie riss die Schlange nicht aus dem Schlunde. Da schrie es aus mir: ›Beiss zu! Beiss zu! Den Kopf ab! Beiss zu!‹ – so schrie es aus mir, mein Grauen, mein Hass, mein Ekel, mein Zorn, mein Erbarmen, all mein Gutes und Schlimmes schrie mit Einem Schrei aus mir. –/Ihr Kühnen um mich! Ihr Sucher, Versucher, und wer von euch mit listigen Segeln sich in unerforschte Meere einschiffte! Ihr Räthsel-Frohen!/So rathet mir doch das Räthsel, das ich damals schaute, so deutet mir doch das Gesicht des Einsamsten! Denn ein Gesicht war’s und ein Vorhersehen: – w a s sah ich damals im Gleichnisse? Und w e r ist, der einst noch kommen muss?/W e r ist der Hirt, dem also die Schlange in den Schlund kroch? W e r ist der Mensch, dem also alles Schwerste, Schwärzeste in den Schlund kriechen wird?«70

70 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201f, Hervorhebung i.O.

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Und Nietzsche oder Zarathustra oder Nietzsche und Zarathustra 71 lösen das Rätsel selbst einige Passagen später in dem Abschnitt »Der Genesende« 72, in dem sich Zarathustra selbst als der Hirte oder Schäfer entpuppt, als derjenige, der an der Schlange, an einem Gewundenen, in den Hals Gekrochenen zu würgen hat, der Herr werden muss über das abgründliche Tier, den schweren Gedanken. Aber genauso ist es auch jeder Mensch, sind es jene Menschen, die noch kommen müssen, die mutigen und mutigsten Tiere, die sich an diesen Abgrund wagen, die sich so weit vorwagen, die sich bis an den Gedanken der ewigen Wiederkehr heranwagen, es sind die Seefahrer und Rätselfrohen selbst in der Zukunft, da sie den Gedanken an sich herangelassen, den Spruch des Dämonen gehört haben im Schlaf oder Halbschlaf, die erst das Eigenwillige als das Abgründige erkennen müssen, die ihn sich zu eigen machen müssen, die die Schwere umdeuten müssen, um darin Deuten und Bedeutung neu zu verstehen, um das Lachen, das Ja-Sagen zu lernen. Das Schlimmste wäre, den Gedanken misszuverstehen, ihn einen Gedanken sein zu lassen, ihn nur anzunehmen, bei seinem Anblick den Mut zu verlieren. Er verweigert sich dagegen, wiedergekäut und nachgesagt zu werden, er wird, er ist gefährlich in seiner Allgemeinheit, ist zerstörerisch, brechend, aufbrechend – er wird zu einem Leier-Lied der kalten, distanzierten Repetition, wie es nicht dem Stolz, nicht der Tätigkeit des Menschen, des über sich hinauswollenden Menschen entspricht 73 – es ist seiner und des Gedankens nicht würdig –, beide, sowohl der Mensch, wie auch die Essenz der Lehre, als der Gipfel der Individualität, würden in ihrer Verflachung, in der Verflachung als allgemeine Lehre, zerbrechen, untergehen, zu Grunde gehen, ersticken. »Der Hirt aber biss, wie mein Schrei ihm rieth; er biss mit gutem Bisse! Weit weg spie er den Kopf der Schlange–: und sprang empor. –/Nicht mehr Hirt, nicht mehr Mensch, – ein Verwandelter, ein Umleuchteter, welcher l a c h t e ! Niemals noch auf Erden lachte je ein Mensch, wie e r lachte./Oh meine Brüder, ich hörte ein Lachen, das keines Menschen Lachen war, – – und nun frisst ein Durst an mir, eine Sehnsucht, die nimmer stille wird./

71 | Vgl. Volker Gerhardt, Die Erfindung eines Weisen, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 5f. 72 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Der Genesende 2, KSA 4, 273. 73 | Ebd: Zarathustra zu seinen Tieren: »– Oh ihr Schalks-Narren und Drehorgeln! antwortete Zarathustra und lächelte wieder, wie gut wisst ihr, was sich in sieben Tagen erfüllen musste: –/– und wie jenes Unthier mir in den Schlund kroch und mich würgte! Aber ich biss ihm den Kopf ab und spie ihn weg von mir./Und ihr, – ihr machtet schon ein Leier-Lied daraus?.«

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Meine Sehnsucht nach diesem Lachen frisst an mir: oh wie ertrage ich noch zu leben! Und wie ertrüge ich’s, jetzt zu sterben! –«74

Das Gesicht und das Rätsel zu deuten, gibt Zarathustra den Seefahrern zur Aufgabe, hinter dem Gesicht eine Person und hinter dem Täter noch die Tat zu sehen, das Individuum zu erkennen und seinen Schritt der Aneignung, seine Aktivität im Zubeißen, das Ergreifen der Möglichkeit, die es hat, die es in sich trägt, die es zur Entfaltung bringen muss, um der Schlange Herr zu werden. Sie ist nicht die Ewige Wiederkunft, oder nicht nur, sondern sie ist ebenso der Nihilismus, der mit der falschen Deutung, der falschen Interpretation des Gedankens einher geht: Und er kommt – irgendwann, unangekündigt, unvorbereitet, er überfällt den Menschen, er macht sich bemerkbar, er kommt in der Dämmerung, im Schlaf, er flüstert sich ins Ohr, leise, unbemerkt, er ist der aufkeimende Zweifel ebenso, wie die aufkeimende Hoffnung, er ist eine Hybris, eine Züchtung, eine Notwendigkeit, ist Sokrates, ist Descartes, verschleiert, als Injektion der Kultur, als eine Impfung, heilend oder tötend, eine Flüssigkeit, die sich ausbreitet: de omnibus dubitandum est, scio nescio, etc. sind Vorboten und Wegbereiter, sie kündigen etwas an mit Vorbehalten, mit Hinterhalten und Hintertüren, aber es sind in jedem Fall ungläubige Gedanken, die unheiligen Tafeln und Siegeszeichen der Wissenschaft, die relativieren und alles immer auch Un-Heimlich, Un-Gewohnt erscheinen lassen, die selbst immer Auf brüche und Auf brechen, Zerbrechen von Tafeln sind. Die ewige Wiederkunft als ein Gedankenexperiment ist das Schwerste und Gefährlichste, weil sie die konsequenteste Form des Auf bruchs darstellt, weil sie sich keine Hintertür offenlässt, sich den Spiegel unverblümt vorhält als die Aufforderung, sich der Aufgabe zu stellen: »Denke dir dein Leben, als ob es immer wiederkehrte, als ob alles schon dagewesen, und alles ebenso wiederkommen würde« – »Deute das Leben, deute dein Leben diesem Gedanken folgend!« – »Deute dein Leben nicht mit dem Blick und nicht in der Hoffnung auf etwas Entferntes, Anderes!« – und daraus folgend »Lerne den Blick auf dein Leben neu zu richten, lerne, das Leben nicht aus der Perspektive einer objektivierenden, abstrakten Distanz zu bewerten, zu entwerten, etc.« und in diesem Annehmen und Aufnehmen des Gedankens, in diesem Umlegen und Umdeuten, in der Aneignung des Gedankens wird er verinnerlicht, entzieht er sich jeglicher Starrheit und Präformation, wird die Ewigkeit keine Vorstellung der Verzweiflung, sondern etwas Positives, etwas, das man will und wollen kann, und das Leben selbst wird zu einem Prozess, den man will, den man bejaht, den man als seinen eigenen und als seine eigene Möglichkeit anerkennt – man beißt der Schlange der Ewigen Wiederkehr als der Entwertung aller Werte, als 74 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 202, Hervorhebung i.O.

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etwas Fremdem, das sich einschleicht, das Herr über das Individuum werden möchte, den Kopf ab, man beißt der Ewigkeit ihren Kopf ab als der Vorstellung, an der man notwendig zu Grunde gehen, verzweifeln muss. Deshalb ist die Schlange auch das klügste Tier unter der Sonne75, das Heilige und der Teufel, das Todbringende und das ewige Leben – sie ist zweideutig, listig, still, schleichend, sie kommt unerwartet und schlingt sich durch die Geschichte, sie ist die positive und die negative Seite der ewigen Wiederkunft, sie ist eine allgemeine, fehlgedeutete Ebene der Immanenz als einer Lehre und sie ist das Auf blitzen des individuellen Lebens, eine Lehre, durch die man die Werte neu lernt, durch die man Werte setzen lernt, durch die man das Ja-Sagen zum ewigen Spiel der Differenz, der Differenzen nicht nur annimmt, sondern freudig annimmt, durch die man die Ewigkeit, die tiefe Ewigkeit will. Das ist die Seite, der Wesenszug der Lehre, den Zarathustra, der Weise und Weiseste, selbst erst erlernen muss, in dessen Erfahrung er untergehen, an dessen Erkenntnis er selbst zerbrechen muss, in dessen Ahnung alles wieder düster und schwer, drückend und bedrückend wird für jenen, der glaubte, aus der Fülle, aus dem Überfluss schenken und geben zu müssen, dem die Einsamkeit und das Bei-sich-sein als eine Verschwendung gegolten hat, der verschwenden wollte, Darbringen im Zureichen, im Schaffen einer neuen Welt, dazu allein seine Lehre, seine Wahrheit die Kraft, die Macht hat. Aber eben diese Wahrheit entzieht sich dem Attribut Wahrheit, sie wertet tatsächlich noch das Letzte, den letzten Rest an Starrheit und Glauben um, sie ist als eine Ebene der Immanenz, der Selbstentzug einer Allgemeinheit, oder: als eine allgemeine Perspektive der Geist der Schwere, als etwas Fixes, Feststehendes, als ein Ersatz, als Statthalter der Teufel, der Tod, sie ist die Botschaft des Perspektivismus, die Perspektive des Perspektivismus, die unendlichen Farben und Schattierungen des interpretativen und perspektivischen Spektrums oder das Bejahen der Individualität.

6 I NFORMATIONEN Leben ist für Nietzsche immer Interpretation, Deutung, Bedeutung schaffen, ist immer Bewegung, und Neuformung und diese Ansicht spiegelt sich auch in Zarathustras Wandlung wieder. Er entwickelt sich weiter, nicht durch das Leugnen aller Lehren, durch das Erkennen einer ursprünglichen Sinnlosigkeit allen Aufnehmens und Erfahrens, allen Weitergebens und Mitteilens, sondern das tragende Moment im Prozess seiner Selbstfindung liegt darin, zu erkennen, dass auch sein Weg nur Interpretation und Deutung ist, dass diese Deutung für niemanden die gleiche Bedeutung haben kann. Es gibt den Gedanken 75 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Zarathustra’s Vorrede 10, 27.

6 Informationen

der ewigen Wiederkunft, es gibt ihn als eine Gabe, als ein Geschenk, aber nicht als Anleitung und nicht als Doktrin. »Ich bin ein Geländer am Strome: fasse mich, wer mich fassen kann! Eure Krücke aber bin ich nicht. –« 76 Denn das Leben verweigert sich gegen die Starrheit und gegen die Starrheit von Bedeutungen, die es zu fassen bekommen wollen, es entzieht sich immer schon dort, wo das Bedürfnis nach einer derartigen Fixierung auftritt und hinterlässt einen leblosen Ort, einen Ort, an dem das Leben verachtet wird. Die belebte Welt ist jene Welt, in der Deutungen nebeneinander existieren und einander beeinflussen, in der Bewegung herrscht, und selbst Zarathustra muss diesen Schritt erst lernen, muss erkennen, dass sein Weg in diese Interpretationswelt führt und eben dadurch nur für ihn gangbar wird, dass er sich damit selbst als Lehrer im klassischen Sinn obsolet macht, dass er immer geben wird und immer geben muss, jedoch nicht um der anderen, sondern um seiner selbst willen – für die Möglichkeit, sich und die Welt bejahen zu können. Aus dieser Perspektive fällt das Bedürfnis, das Prinzip des Lebens zu modellieren, zu kategorisieren, unentwegt mit der Begriffspeitsche auf etwas einzuschlagen, das man niemals treffen wird können, das in seinen Bedeutungen so vielfältig und ungreif bar ist, das man nur in sich selbst und für sich selbst finden kann. Zarathustras Weisheit wandelt sich von einer Weisheit über das Leben zu einer, die das Leben kennt, die dem Leben begegnet ist. In dieser Begegnung mit dem Leben in Gestalt einer Frau 77 erkennt er die Nutzlosigkeit seiner Bemühungen, immerfort durch Erkenntnis Herr werden zu wollen und diese Erkenntnis weiterzugeben, eine bestimmte Form der Lebensführung zu finden und sie anderen als die einzig mögliche, die einzig erfüllende mitteilen zu wollen. Er braucht die Peitsche nicht mehr, mit der er sich das Leben untertan machen wollte. »Das Leben zu unterwerfen bedeutet, so glaube ich, eine Metapher für Zarathustras Bemühung, eine grundsätzliche Methode dafür zu finden, wie das Leben gelebt, oder – wie es heißt – geführt werden kann. Das Tragen der Peitsche repräsentiert seine Fehler. Erst wenn er auf einer gleichen Basis an das Leben herantritt – Auge in Auge – gelingt es ihm, ihr Freund zu werden. Der Versuch, das Leben in eine Form zu peitschen, ein Modell zu formulieren, mit dem alle Leben konform gehen, ebenso, wie die Bemühung, sich die Frauen zu formen, sie sich zu Untergebenen zu machen und sie nicht als gleichrangig zu akzeptieren, führt zu unvermeidbarem Scheitern. Die Bedeutung des Bildes von der Peitsche ist dahingehend das genaue Gegenteil davon, was gemeinhin daraus gemacht wird. Die gefährliche Missinterpretation ist das Ergebnis des Versuches, Nietzsche – 76 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Vom bleichen Verbrecher, KSA 4, 47. 77 | Vgl. Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra III, Das andere Tanzlied, KSA 4, 282ff.

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den schlausten und vorsichtigsten aller Schriftsteller – auf ›pikareske‹ Art und Weise zu lesen.«78

In dieser Einsicht und dem bescheidenen Rückzug von seinen einstigen Idealen wird auch Zarathustras Stimme, die er zuvor noch an seine Schüler und Zöglinge gerichtet hat, immer leiser und zurückhaltender, wird innerlicher und geheimnisvoller, und am Ende der Begegnung flüstert Zarathustra dem Leben etwas ins Ohr, das für keinen Zuhörer und keinen Leser bestimmt zu sein scheint – und aus der neu gewonnenen Perspektive auch nicht bestimmt sein kann, ja, nicht einmal interessant sein kann, denn es handelt sich eben um die Innerlichkeit der individuellen Beziehung, die er und er allein zum Leben hat, die er für sich gefunden hat, um seinen Weg, den er dem Leben allein mitteilen kann, der vielleicht sein Leben ist. Es geht hier nicht darum, zu erraten, zu spekulieren, was Zarathustra dem Leben ins Ohr flüstert, sondern vielmehr um die Innigkeit, die Unmöglichkeit, die Antwort nachzuvollziehen. Im Grunde ist der Inhalt – außer für Zarathustra – für niemanden von Bedeutung, denn sein Weg, der Weg, den jemand für sich gefunden hat, kann von niemandem in seiner Individualität nachvollzogen werden. Im Flüstern und Verbergen der Antwort, die Zarathustra dem Leben gibt, liegt die implizite Aufforderung an alle, ihren eigenen Weg, ihre eigene Antwort zu finden – keine Doktrin, aber ein Beispiel für alle, das von keinem in dieser Weise wiederholt werden kann, das Vorleben eines Weges, der von niemandem gegangen werden kann, der mit jedem Schritt, der auf ihm getan wird, die Spuren wieder verschluckt und sich selbst entzieht, Platz schafft für neue Spuren und neue Wege. Seine Erzählung ist eine in seinen Reden manifeste Geschichte der Selbstfindung und Überwindung, eine Geschichte von Erfolgen und Rückschlägen, die ihn prägen und seinen Weg mitzeichnen, ist der exemplarische Fall eines Weisen, der seine Weisheit neu zu greifen lernt, eines Freundes der Menschen, der zu einem Freund des Lebens wird, eines Lehrers, der seine Lehre immer mehr für sich selbst findet und langsam vom Lehrer zum Künstler wird. Die größte Hürde, die es im Prozess dieser Genese für ihn zu überwinden gilt, ist das immer wieder aufflackernde Bedürfnis, der Trieb, der schon zu Beginn der Erzählung zu seinem vermeintlichen Glück führen soll, der Wille, den Menschen zu helfen, sein Mitgefühl und sein Mitleid mit jenen, die seine Weisheit noch nicht erringen konnten, und in diesem Mitteilen zugleich unter Menschen, unter seinesgleichen zu sein. Zarathustra will wieder Mensch werden, heißt es zu Beginn, er will wieder zu denen, die er einst verließ, um bei sich selbst sein zu können, will in ihre Mitte treten und sie Teil haben lassen an seinen Erkenntnissen. Doch er ver78 | Alexander Nehamas, For whom the Sun shines, 178.

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kennt die Härte seiner Weisheit und die Opfer, die es darzubringen gilt, um zu seiner Weisheit, die nunmehr keine allgemeine, sondern eine individuelle ist, durchzudringen. Er verkennt die Mühen, die er selbst auf sich nehmen muss, die Mühen, die seine eigene Geschichte mitprägen und darin die größte aller Überwindungen: das Mitleiden mit jenen, die seine Weisheit nicht verstehen, indem sie eben seine Weisheit annehmen und seinem Weg folgen möchten, Mitleid mit jenen, die ihn essentiell missverstehen, jene höheren Menschen, die im vierten Buch auftreten und Zarathustra noch einmal verführen, Mitgefühl mit ihrer Unwissenheit zu empfinden. »Das Gefühl des Mitleidens ist essentiell verbunden mit einem Gefühl von Verantwortung dafür, was man sagt und macht und was andere daraus machen. Es schafft das Bedürfnis, richtig verstanden zu werden; und wenn richtig verstanden zu werden sich als ausnehmend schwer herausstellt (wie in Zarathustras Fall), kann daraus ebenso das Bedürfnis erwachsen, sich zur Gänze zurückzuziehen, die Aktivitäten einzustellen, die den Rest der Welt in die falsche Richtung, in die Irre führen. Dieses Mitleiden ist Zarathustras ›letzte Verführung‹.« 79

Es ist die Lächerlichkeit, das Antlitz des höheren Menschen als Karikatur – hervorgerufen durch das Missverstehen von Zarathustras Lehre oder Botschaft – die ihn zum Mitleiden verführt, die ihn drängt, eben diese Missverständnisse auszuräumen, doch er muss erkennen, dass alles Mitleiden ihn selbst erniedrigt, seinen Wert verringert, dass darin eine Veräußerung seiner selbst liegt, die weder ihm, noch jenen, die den Notschrei an ihn richten, helfen kann. Er darf die Hilfesuchenden nicht verschonen, darf ihnen keine Hand reichen, die sie führt, denn darin liegt weder sein Glück, noch das ihre... Auf die Frage seiner Tiere, ob er nach dem Glücke schaue, antwortet Zarathustra: »Was liegt am Glücke! [...] Ich trachte lange nicht mehr nach meinem Glücke, ich trachte nach meinem Werke.«80 Er erkennt, dass er keiner Schüler bedarf, dass seine Weisheit keine Hörer braucht, sondern dass eben sie in sein Schaffen fließen muss, dass nur der Schaffende das aus sich rollende Rad sein kann, das nicht um eines anderen Willen existiert, das seine Bestimmung nicht in einem Schaffen für jemand anderen liegt, sondern das Schaffen selbst ist seine Bestimmung, sein Scheinen, seine Strahlung und seine Ausstrahlung. In diesem Sinne wird Zarathustra selbst das Kind, das am Ende der drei Verwandlungen steht, er selbst ist es, der sich transformiert, der sich entwickelt, der den Geist der Schwere auf seinen Schultern trägt, der sein Mitteilungsbedürfnis auf seinem Rücken trägt und den Berg hinabsteigt zu seinen vermeintlichen Jüngern; er ist es, der sich vom Joch des Mitfühlens und Mit79 | Alexander Nehamas, For whom the Sun shines, 182. 80 | Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra IV, Das Honig-Opfer, KSA 4, 295.

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leidens befreien muss, der erkennen muss, dass dieses Mitleiden niemandem zu seiner Bestimmung verhilft, niemandes Bestimmung sein kann, denn nur derjenige, der einsam geworden ist und zu sich selbst gefunden hat, der den Versuchungen der Nivellierung widerstanden hat, kann seinen eigenen Weg finden, seine Individualität und Schaffenskraft, kann ein lachender Gott neben anderen Göttern werden, ein Kind und ein Künstler. Diese Einsicht, dass er keiner Schüler bedarf, dass seine ursprüngliche Einschätzung eine falsche war und auch die Sonne nicht derer bedarf, für die sie scheint, hilft Zarathustra, seiner »letzten Versuchung« zu widerstehen. Und Nietzsche – der Philosoph, der Forscher, Genealoge, der Interpret, Philologe, der Fürsprecher des Willens, der Schriftführer des Willens? – Er hat sich als der altpersische Gelehrte selbst seines Gedankens bemächtigt, er hat seine Ebene offengelegt und sogleich wieder verborgen, hat seine Büchse, seine Schatulle der Weisheit für einen Augenblick geöffnet, in Rätseln, Schemen, Allegorien, in Tieren und vielen Bedeutungen, einer Bedeutungsflut und Fülle, er hat gespielt mit Bildern und Vorstellungen, mit Bekanntem und Neuem, er hat sich seiner selbst, seines Wissens, er hat sich der Kultur bedient und hat geformt, geschaffen; keine Bibel, kein neues »Neues Testament«81 – ein Testament vielleicht, eine Hinterlassenschaft, ein Erbe, ein Buch mit vielen Siegeln und vielen, vielen Interpreten, mit Möglichkeiten zur Interpretation, ein Buch, das sich an die Menschheit richtet, eine Gefahr, eine prometheische Botschaft, die Kunde des Feuers und der Kultur, die frohe und die schreckliche Botschaft der ewigen Wiederkunft, eines Gedankens, einer Lehre, einer göttlichen Botschaft, geschrieben und verfasst von einem dionysischen Willen – oder ein Buch für keinen, als die Anti-These jeder Doktrin, all dessen, das man sich behalten, das man niedrig oder hoch halten könnte, ein Buch, das sich allem Halten, das sich jedem Griff entzieht, das sich verweigert, das gar nicht verstanden werden will. Denn es ist auch der Wille zur Macht, der selbst das Wort ergriffen hat, das schöpferische Prinzip, das Halt- und Formlose, die dýnamis des Aristoteles, die so viele Wendungen und Sprünge, selbst so viele Umformungen durchmachen muss, bis sie – zu ihrer Form, ihrer Wirklichkeit, zu ihrer Wirkung kommt. Es ist die Kraft Leibnizens, die die ganze Welt durchwaltet, die ein Prinzip, vielleicht das – metaphysisch – stärkste Prinzip der Individualität überhaupt ist, eine Kraft, die zusammenhält, die unentwegt Individuen hervorbringt, die die Welt in die Ewigkeit weiterträgt – eine stolze, eigensinnige Kraft, die kein Außen, keine Fenster braucht, die für sich ist, für die die Welt ist, die sich abschließt, einschließt, die alles schon gesehen, alles schon in sich trägt. Und es ist der conatus in Spinozas substantieller Herrlichkeit, ein die ganze Welt der 81 | Vgl. Volker Gerhardt, Die Erfindung eines Weisen, in: Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, hrsg. von Volker Gerhardt, 1.

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Immanenz durchdringendes Streben, zu sich selbst zu kommen, ein Wille, der den Blick auf die Verbindung, auf das Gemeinsam-Göttliche sucht, ein Anspruch, der die vielen zu dem Einen zurückführt, der sie von ihrer Unwissenheit auf gewisse Art erlösen will – in jedem Fall ein stolzer Wille, etwas Großes, Undurchsichtiges, ein Künstler der Formen und der Masken, ein Meister der Verschleierung, ein Gespenst, das mit Nietzsche die Feder führt, das seine Memoiren als eine Poetik niederschreibt, ein Wille zur Kunst und ein Wille der Kunst, der sich verbirgt und in seiner Verborgenheit einen Blick freigeben möchte, eine Sicht und die Vielfalt der Sichtweisen entfalten möchte, eine Welt der Interpretationen, der Formationen, der Perspektiven. Der Anfang ist schwer, aller Anfang ist schwer, vor allem auch der Anfang der Philosophie, des Philosophen, damit zu beginnen, dass es keinen Anfang gibt, dass aller Anfang arché ist, ein Ur-Sprung, ein Grund-Riss, eine Ur-Teilung, und darin ist der Anfang die Schwere als die Bedeutungslast, die Bedeutung, die dem ewigen Kreislauf der Deutungen innewohnt, die Energie, die sich immer schon in Form gebracht, die sich immer formiert hat, die der Wille zur Form und zur Aneignung von Formen ist, die Energie, die als Prinzip demjenigen der Information gleich ist, wie es Aristoteles schon in der Metaphysik nahelegt. Die Wirklichkeit ist Energie und die Energie ist in Formation – das ist ein Anfang als Prinzip oder arché, eine Deutung der Deutungen, Interpretation des Interpretationskreislaufes, eine Möglichkeit, in der sich das Prinzip der Kunst lesen, in der es sich erahnen ließe, in dem sich die Götter Apollon und Dionysos, oder alle Götter immer schon inkarniert, in dem sie immer schon niedergekommen sind um etwas zu befördern, etwas zu bewegen, eine ursprüngliche Bewegung zu verfügen, die das Staunen, die Angst, die Furcht und die Verzweiflung aller hervorruft, die Sprache und Grammatik, die Religionen und Kriege entstehen lässt – unbeeindruckt, unablässig, unmoralisch – jenseits von Gut und Böse, diesseits aller Transzendenz. Und sie lässt auch keine Wahl, man ist angehalten, man ist aufgefordert, dem Fluss zu trotzen, hier und dort Inseln und Rettungsinseln zu errichten, Tempel und Burgen, Zufluchtsstätten, man ist nicht in der Lage, sich zur Gänze hinzugeben, einzutauchen in den Fluss – das wäre ein unmenschliches, übermenschliches Vorhaben –, das Prinzip ist dichotomisch und will seine Formen, will seine Lehren und seine Begriffe, will das Schaffen der Formen, es will die Individuation, in der es sich verflüchtigt, in der das Werden eben kein Prinzip, keine regulative Verfügung – eher eine Fuge, ein Stück, Musik, eine Art kompositorischer Auftrag ist, sie will Neues, Krieg und Frieden, Leben und Tod, Schaffen und Zerstören und vor allem ihre Formen, die glänzen und scheinen, die dazu da sind, um in den Horizont des Scheinens zu treten, die Organe, Organismen, die Kreisläufe und die Vernunft – die Philosophie will ihre Begriffe und Ebenen, sie braucht sie und schafft diese Begriffe, sie schafft Werke als die Ex-

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altation ihrer Begriffe, und sie ist eben in diesem Schaffen und Hervorbringen kein Trabant, keine Begleiterin der Wirklichkeit, sondern ihre Dichterin und Ausdruck ihres Wesens – die Wirklichkeit wirkt, sie ist die energetische Form und das Prinzip der energetischen Formen, ihre ewige Deutung, Umdeutung, Bedeutung, die Vielfalt ihrer Bedeutungen, und die Philosophie ist in ihrem Schaffen, in ihrem Hervorbringen – wie die Kunst, als Kunst – nicht nur Repräsentantin, sondern der Ausdruck dieser ursprünglichen Dynamik, einer – ontologischen Dynamik. Sie bringt Begriffe und Werke hervor, entwirft Ebenen, sie dichtet und bringt aus der Dichte des Begriffs die Perspektiven zu ihrer Entfaltung – die Kunst und die Philosophie gebären Sonnen, sie haben die Kraft, Sonnen zu gebären, ihre Individuen, das Individuum hat die Kraft, zu schaffen, aus sich zu rollen, das Chaos zu dichten und Sonnen zu gebären, die leuchten, scheinen, die gesehen und gehört werden, Sterne, die gedeutet werden, und darin vollzieht sich die Ewigkeit als das Auf- und Untergehen der Sterne, als die Liebe und die Lust zur Ewigkeit, als das Lied eines Nachtwandlers, der seine Liebe zum Leuchten, zu den Strahlen der Sonne gefunden hat, der das Leben bejaht und dem Dämmern der Sonne harrt, der dem Heraufkommen des Morgens entgegenblickt als einem neuen Morgen und einem neuen Licht, einer neuen Perspektive und einem neuen Tag, bis in alle Ewigkeit…

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Die Macht der Form

Georg SIMMEL, Schopenhauer and Nietzsche, translated by Helmut Loiskandl, Deena Weinstein and Michael Weinsteen, University of Illinois Press, 1991. Baruch de SPINOZA, Briefwechsel, übersetzt von Carl Gebhardt, hrsg. von Manfred Walther, Felix Meiner Verlag, Frankfurt am Main, 1986. Baruch de SPINOZA, Werke in drei Bänden, hrsg. von Wolfgang Bartuschat, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 2006. Band 1, Kurze Abhandlung von Gott, dem Menschen und dessen Glück; Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Band 3, Descartes’ Prinzipien der Philosophie in geometrischer Weise dargestellt, Abhandlung über die Verbesserung des Verstandes, Politischer Traktat. Josef STALLMACH, Dynamis und Energeia – Untersuchungen am Werk des Aristoteles zur Problemgeschichte von Möglichkeit und Wirklichkeit, Verlag Anton Hain, Meisenheim am Glan, 1959. Ludwig STEIN, Leibniz und Spinoza – Ein Beitrag zur Entwicklungsgeschichte der Leibnizischen Philosophie, Georg Reimer, Berlin, 1890 (Reprint: University of California). Jakob von UEXKÜLL/Georg KRISZAT, Streifzüge durch die Umwelten von Tieren und Menschen, Fischer, Frankfurt am Main, 1983. Die VORSOKRATIKER I, Griechisch – Deutsch, hrsg. von Jaap Maansfeld, Reclam, Stuttgart, 2005. Die VORSOKRATIKER II, Griechisch – Deutsch, hrsg. von Jaap Maansfeld, Reclam, Stuttgart, 2000. Carl Friedrich von WEIZSÄCKER, Die Einheit der Natur, DTV, München, 1974. Wolfgang WIELAND, Die aristotelische Physik, Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1992. Anton ZEILINGER, Einsteins Spuk – Teleportation und weitere Mysterien der Quantenphysik, C. Bertelsmann, München, 2005. Anton ZEILINGER, Einsteins Schleier – Die neue Welt der Quantenphysik, Wilhelm Goldmann Verlag, München 2005.

Edition Moderne Postmoderne Stefan Deines Situierte Kritik Modelle kritischer Praxis in Hermeneutik, Poststrukturalismus und Pragmatismus Juni 2015, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-3018-3

Christian W. Denker Vom Geist des Bauches Für eine Philosophie der Verdauung August 2015, ca. 450 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-3071-8

Gerhard Gamm, Andreas Hetzel (Hg.) Ethik – wozu und wie weiter? April 2015, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2916-3

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Edition Moderne Postmoderne Angelo Maiolino Politische Kultur in Zeiten des Neoliberalismus Eine Hegemonieanalyse Oktober 2014, 448 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2760-2

Sandra Markewitz (Hg.) Grammatische Subjektivität Wittgenstein und die moderne Kultur September 2015, ca. 300 Seiten, kart., ca. 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2991-0

Marc Rölli (Hg.) Fines Hominis? Zur Geschichte der philosophischen Anthropologiekritik März 2015, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2956-9

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Edition Moderne Postmoderne Daniel Bogner Das Recht des Politischen Ein neuer Begriff der Menschenrechte Juli 2014, 336 Seiten, kart., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2605-6

Filipe Campello Die Natur der Sittlichkeit Grundlagen einer Theorie der Institutionen nach Hegel März 2015, ca. 230 Seiten, kart., ca. 28,99 €, ISBN 978-3-8376-2666-7

Martin Eichler Von der Vernunft zum Wert Die Grundlagen der ökonomischen Theorie von Karl Marx März 2015, 218 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2803-6

Daniel Martin Feige, Judith Siegmund (Hg.) Kunst und Handlung Ästhetische und handlungstheoretische Perspektiven Juli 2015, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2796-1

Franz Bockrath Zeit, Dauer und Veränderung Zur Kritik reiner Bewegungsvorstellungen Oktober 2014, 520 Seiten, kart., 39,99 €, ISBN 978-3-8376-2911-8

Steffi Hobuß, Nicola Tams (Hg.) Lassen und Tun Kulturphilosophische Debatten zum Verhältnis von Gabe und kulturellen Praktiken September 2014, 264 Seiten, kart., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2475-5

Miriam Mesquita Sampaio de Madureira Kommunikative Gleichheit Gleichheit und Intersubjektivität im Anschluss an Hegel Februar 2014, 216 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-1069-7

Matthias Mayer Objekt-Subjekt F. W. J. Schellings Naturphilosophie als Beitrag zu einer Kritik der Verdinglichung Februar 2014, 386 Seiten, kart., 38,99 €, ISBN 978-3-8376-2586-8

Martin Müller Private Romantik, öffentlicher Pragmatismus? Richard Rortys transformative Neubeschreibung des Liberalismus Januar 2014, 784 Seiten, kart., 49,99 €, ISBN 978-3-8376-2041-2

Tilman Reitz Sprachgemeinschaft im Streit Philosophische Analysen zum politischen Zeichengebrauch Oktober 2014, 202 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2889-0

José M. Romero (Hg.) Immanente Kritik heute Grundlagen und Aktualität eines sozialphilosophischen Begriffs September 2014, 200 Seiten, kart., 26,99 €, ISBN 978-3-8376-2581-3

Annika Schlitte, Thomas Hünefeldt, Daniel Romic, Joost van Loon (Hg.) Philosophie des Ortes Reflexionen zum Spatial Turn in den Sozial- und Kulturwissenschaften April 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2644-5

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