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German Pages 439 [440] Year 2012
Kiyoshi Chiba Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit
Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger und Heiner F. Klemme
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De Gruyter
Kiyoshi Chiba
Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit Versuch einer anti-realistischen Interpretation der Kritik der reinen Vernunft
De Gruyter
ISBN 978-3-11-028068-5 e-ISBN 978-3-11-028079-1 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
” 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Die vorliegende Abhandlung ist die berarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Januar 2010 von der Philosophischen Fakultt der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universitt Bonn angenommen wurde. Bei der berarbeitung habe ich neue Forschungsliteratur bercksichtigt. Mein herzlicher Dank gilt zunchst Herrn Professor Wolfram Hogrebe, der als Doktorvater diese Dissertation angeregt und ihren Fortgang mit intensiven Diskussionen gefçrdert hat. Whrend der berarbeitungsphase habe ich viele Anregungen und hilfsreiche Kritik erhalten. Hierfr danke ich insbesondere den Herren Professoren Manfred Baum, Markus Gabriel, Christoph Horn, Dieter Sturma und Kenneth Westphal. Ich danke auch den Teilnehmerinnen und Teilnehmern an meinem Blockseminar am Institut fr Philosophie der Universitt Bonn (Wintersemester 2010/2011) fr fruchtbare Diskussionen ber die Themen der vorliegenden Abhandlung. Fr die mhsame Arbeit der sprachlichen Korrektur ist mehreren Personen zu danken, besonders Martin Brecher, Frank Grundmann, Dr. Christian Hofmann, Malte Kuhfuss, Judith Raß, Stefan Schmidt, Martin Sticker und Daniel Timme. Fr die finanzielle Untersttzung meiner Promotion mçchte ich mich bei der Rotary Foundation bedanken, die es mir ermçglicht hat, meine Forschung in Deutschland ohne materielle Besorgnis durchzufhren. Besonders geholfen haben mir hier als Betreuer Herr Professor Gçtz Schmitz (Rotary Club Siebengebirge) und Herr Tomio Kataoka (Rotary Club Kawasaki West). Der Kommission des Kant-Preises des Instituts fr Philosophie der Universitt Bonn danke ich fr den Dissertationspreis des akademischen Jahres 2009/2010. Dem Verlag Walter de Gruyter und den Herausgebern danke ich fr die Aufnahme dieser Abhandlung in die Serie Kant-Studien Ergnzungshefte. Bonn, im Oktober 2011
Kiyoshi Chiba
Zitierweise und Abkrzungen Die Kritik der reinen Vernunft (abgekrzt: „KdrV“) wird nach der von Raymund Schmidt herausgegebenen Ausgabe zitiert (Hamburg/Meiner 1990) und wie blich mit den Seitenangaben der ersten (A) und der zweiten (B) Originalausgabe zitiert. Die sonstigen verçffentlichten Schriften, Briefe und der handschriftliche Nachlass Kants und Vorlesungsmitschriften werden nach der Ausgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften (Kants gesammelte Schriften, Berlin, 1900 ff.) unter Angabe der Band- und Seitenzahl zitiert (z. B. Ak. 1, S. 234). Hervorhebungen mit Fettdruck stammen aus den zitierten Texten und die mit Kursivdruck sind von mir (K.C). Ich verwende noch folgende Abkrzungen der Titel von Kants Schriften: Nova dilucidatio: Principiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio (1755) Inauguraldissertation: De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis (1770) Prolegomena: Prolegomena zu einer jeden knftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten kçnnen (1783) Grundlegung: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (1785) Streitschrift: ber eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ltere entbehrlich gemacht werden soll (1790) Theorie und Praxis: ber den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht fr die Praxis (1793) Fortschritte: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wolffs Zeiten in Deutschland gemacht hat? (verfasst 1793; 1804 posthum verçffentlicht) Logik: Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen (hrsg. von G. B. Jsche, 1800)
Inhalt Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Teil I Was ist die anti-realistische Interpretation? . . . . . . . . . . . . . .
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit . . . . . . . . . 12 1.1 Ontologische Formulierung des Realismus/Anti-Realismus. 13 1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption 15 1.3 Realismusdebatte und Bivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.4 Weitere Bemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation . . . . . . . . . 38 2.1 Idealitt der Formen und Idealitt der Gegenstnde . . . . . . 39 2.2 Vorgnger und Gegner der anti-realistischen Interpretation 44 2.3 Denkbare Einwnde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/ Metaphysisch oder methodologisch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 3.1 Zwei-Welten- und metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation? . . . . . . . . . 72 3.3 Sonstige Optionen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.4 Diskussionsstrategie der nachfolgenden Untersuchung . . . . 89 Teil II Exegetische Bewhrung der anti-realistischen Interpretation .
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“ . 4.1 Vorbereitende Erluterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Erluterung der Grundbegriffe . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Indirekter Beweis und seine Erfolgsbedingungen . . . 4.1.3 berblick der nachfolgenden Untersuchung . . . . . . 4.2 Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien . . . . . . . . . . 4.2.1 Vorbemerkungen fr die Analyse der einzelnen Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Mathematische Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Einheitliche Struktur der Herleitungen der Antinomien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93 95 95 98 102 105 105 109 122
X
Inhalt
4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese zur Begrndung der anti-realistischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Anti-Realismus als „der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Realismus als der Ursprung der Reihenthese . . . . . . 4.3.3 Kritische berprfung der Interpretationsalternativen 4.4 Noch ausstehende Diskussionspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 5 Anti-Realismus im vierten Paralogismus (A) . . . . . . . . . . 5.1 Ausarbeitung der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus zur Begrndung der anti-realistischen Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.1 Schematische Darstellung der Hauptargumentation (Argumentation K) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2 Realismus als der Ursprung des skeptischen Idealismus 5.2.3 Ist der Anti-Realismus ein „materialer Idealismus“? . 5.2.4 Noch ausstehende exegetische Diskussionspunkte . . 5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation . . . . . . . . . 5.3.1 Probleme der Argumentation K . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2 Argumentation gegen den indirekten Realismus . . . . 5.3.3 Argumentation aus Kants Logik-Vorlesungen (Argumentation L) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken 6.1 Widerlegung des Idealismus (B) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Transzendentale sthetik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Problem des Doppelcharakters des Ichs . . . . . . . . . . . . . . .
130 131 137 146 153 158 159 163 164 169 179 188 194 195 198 201 211 213 225 234 246
Teil III Eingehende Erluterung von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit . . . . . . . . . . . . 251 Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Ausarbeitung der Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.1 Probleme der kantischen Auflçsung der Antinomien 7.1.2 Zwei inadquate Optionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1.3 berblick der nachfolgenden Untersuchung . . . . . . 7.2 Zeit-relative Version (ZR) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.1 Erluterung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.2.2 Kants anscheinende Befrwortung dieser Version . . . 7.2.3 Regressus in infinitum/in indefinitum . . . . . . . . . . .
252 254 255 265 271 273 274 275 278
Inhalt
XI
7.3 Zeit-neutrale Version (ZN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.1 Die Zeit-Relativitt aufheben (ZN–) . . . . . . . . . . . . 7.3.2 Verifizierbarkeit einfhren (ZN) . . . . . . . . . . . . . . . 7.3.3 Weitere Erluterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4.1 Determinismus und Bivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . 7.4.2 Mçglichkeit des Verlusts der Verifikation . . . . . . . . . 7.4.3 Problem der Verifikationssubjekte . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Problem der Anfechtbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.1 Ein inadquater Lçsungsvorschlag . . . . . . . . . . . . . . 7.5.2 Superassertibilitt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5.3 Anwendung der Superassertibilitt auf das kantische System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1 Vorbereitende Erluterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.1 „Dinge an sich“, „transzendentaler Gegenstand“ und „Noumena“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.1.2 Drei Theorien der Affektion . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.2 Erforderlichkeit der transzendentalen Affektion . . . . . . . . . 8.2.1 Die „kantische“ Argumentation und ihr Problem . . . 8.2.2 Modifizierte Argumentation (Argumentation T) . . . 8.3 Das traditionelle Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.3.1 Unerkennbarkeit der Dinge an sich . . . . . . . . . . . . . 8.3.2 Unanwendbarkeit der Kategorien auf Dinge an sich . 8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus . . . . . . . . . 8.4.1 Isomorphie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.4.2 Determination . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8.5 Verhltnis zwischen Erscheinungen und Dingen an sich . .
286 288 290 300 307 307 311 312 321 322 324
334 345 350 350 354 360 362 368 373 374 378 389
Schlusswort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Appendix: Ablehnung des Bivalenzprinzips in ZN . . . . . . . . . . . . . Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Personregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
397 402 409 423 425
329 332 333
Einleitung Die vorliegende Abhandlung behandelt die interpretatorische Debatte der folgenden Frage: Ist Kants transzendentaler Idealismus ein Realismus oder ein „Idealismus“ im blichen Sinne? Realismus bedeutet dabei, groß formuliert, dass die Gegenstnde unserer Erkenntnis unabhngig von uns (z. B. von unserer Vorstellung, Wahrnehmung, Erkenntnis, kognitiven Fhigkeit u. a.) existieren. Dem Idealismus nach hingegen sind sie von uns in irgendeiner Weise abhngig; der sogenannte „Phnomenalismus“ ist ein typisches Beispiel dafr. So formuliert scheint es vielmehr offensichtlich, dass Kant eine Variante des Idealismus vertritt. Nicht nur heißt seine Position „transzendentaler Idealismus“, er behauptet bekanntlich auch, dass der Gegenstand unserer Erfahrung „Erscheinung“ sei, deren Formen, Raum und Zeit, nichts Anderes als unsere Anschauungsformen seien. Dagegen erheben realistische Interpreten folgende Einwnde: Kant halte es fr selbstverstndlich, dass die Dinge selbst, die wir als raumzeitliche Gegenstnde erkennen, unabhngig von uns existieren; er behaupte lediglich, dass die Art und Weise, wie sie uns raumzeitlich erscheinen, von unseren Anschauungsformen abhngig ist. Realistische Interpreten fgen sogar mitunter hinzu: Sollte der transzendentale Idealismus ein Idealismus im obigen Sinn sein, kçnnte er von dem sogenannten Berkeleyanismus, den Kant ausdrcklich verneint, gar nicht unterschieden werden! – Darauf drften idealistische Interpreten entgegnen: Wie immer Kant die Position Berkeleys kritisieren mag, wenn die Thesen und Argumente, die er tatschlich vorlegt, richtig interpretiert werden, ist es unleugbar, dass sein transzendentaler Idealismus eine Variante des Idealismus ist. Ich werde zeigen, dass hinsichtlich dieses Punktes die idealistischen Interpreten Recht haben. Allerdings muss das oben nur grob formulierte Gegensatzschema des Realismus/Idealismus noch przisiert werden. Dafr verwende ich die Begrifflichkeit, die Michael Dummett fr die Analyse des Realismus und seines Gegners, „Anti-Realismus“, bereitgestellt hat. Die vorliegende Abhandlung hat zwei Aufgaben: (1) Ich stelle zuerst fest – den realistischen Kant-Interpreten entgegen –, dass Kants transzendentaler Idealismus in der Tat ein Anti-Realismus hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde ist. (2) Ich versuche dann, mithilfe von Dummetts analytischer
2
Einleitung
Methodik, den konkreten Gehalt von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit zu erhellen.1 Die zweite Aufgabe ist nicht weniger wichtig als die erste. Die Feststellung, dass Kant irgendeine Variante des Anti-Realismus (oder Idealismus) vertritt, liefert per se nicht viel Information darber, was er in concreto behauptet. Es steht außer Zweifel, dass Kant nicht solch eine extrem subjektivistische Position vertritt wie „Raumzeitliche Gegenstnde existieren nur dann, wenn sie von uns tatschlich wahrgenommen werden“. Was ist dann darunter zu verstehen, dass raumzeitliche Gegenstnde abhngig von unserer Erkenntnis sind? Bis dieser Punkt nicht erhellt wird, bleibt es im Dunkeln, was fr eine anti-realistische Ontologie Kants transzendentaler Idealismus bietet. Und dies ist die Aufgabe, die meines Erachtens von den bisherigen idealistischen Interpreten vernachlssigt worden ist. Einen Grund dafr sehe ich darin, dass es ihnen am analytischen Rstzeug mangelte, um verschiedene Deutungsmçglichkeiten des Terminus „Subjekt-“ bzw. „Erkenntnis-Unabhngigkeit“ auseinanderzuhalten und zu bewerten. Dabei beweist die dummettsche Begrifflichkeit ihre besondere Ntzlichkeit. Ich mçchte nun zuallererst betonen: Die Pointe meiner anti-realistischen Kant-Interpretation liegt nicht darin, eine bloße Verwandtschaft von Kants und Dummetts Denken aufzuzeigen, geschweige denn, das erstere als „Vorgnger“ des letzteren zu bezeichnen; so etwas wre als Interpretation eines klassischen Textes kaum fruchtbar. Mein Anliegen ist vielmehr, anhand der dummettschen Begrifflichkeit Kants Position klar herauszuarbeiten und zu erlutern. Die vorliegende Abhandlung wird also, trotz ihrer Verwendung einer gegenwrtigen Begrifflichkeit, in erster Linie durch ein exegetisches Motiv geleitet. An dieser Stelle mçchte ich einen naheliegenden Einwand gegen meine interpretatorische Position entkrften, der wohl am fatalsten sowie hartnckigsten unter allen Einwnden sein drfte. Es ist heutzutage ein weit verbreiteter Konsens (insbesondere in der analytischen Philosophie), dass so etwas wie Idealismus eine hoffnungslos unattraktive Position ist. Angesichts dessen drfte sich sofort der Verdacht erheben: Was fr eine 1
Die Idee, Kants transzendentalen Idealismus als einen Anti-Realismus im Sinne Dummetts zu deuten, ist eigentlich nicht ganz neu. Sie wurde schon in den 80er Jahren von Putnam (1981, S. 60 – 4) und auch von Dummett (1981, S. 471 f.) vorgeschlagen. Es gibt zudem schon einige Versuche, diese Idee zu konkretisieren; vgl. unten, 2.2 (A).
Einleitung
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philosophische Bedeutsamkeit kann es berhaupt haben, Kants transzendentalen Idealismus erneut als einen Idealismus zu interpretieren, wie gut dergleichen in exegetischer Hinsicht auch immer gerechtfertigt werden mag? Fhrt ein solcher Versuch nicht nur dazu, Kants Philosophie zu einem „bloß historischen Gegenstand“ herabzumindern?2 Ich halte diesen Verdacht fr nicht unbegrndet. Es ist daher gut verstndlich, dass viele heutige Interpreten danach streben, Kants transzendentalen Idealismus mçglichst weitgehend von als „idealistisch“ verdchtigten Elementen zu reinigen. – Man kçnnte sich hier jedoch umgekehrt fragen: Ist es nicht voreilig, dergleichen fr die ausschließliche Mçglichkeit zu halten, um die Kant-Interpretation philosophisch fruchtbar zu betreiben? Kann die Auslegung eines klassischen Textes nur dann philosophisch bedeutsam sein, wenn dadurch sofort ein aus unserer heutigen Sicht attraktives Ergebnis erreicht wird? Ich denke, dass dies nicht der Fall ist. Ich mçchte hier die philosophischen Hintergrundannahmen, welche die vorliegende exegetische Forschung leitet, darlegen. 2
Diese Ansicht wird von Kritikern der idealistischen Kant-Interpretation normalerweise nicht explizit geußert (weil ihnen dies in jedem Fall eine sehr große Beweislast auferlegen wrde). Arthur Collins ist eine Ausnahme, und wegen ihrer Khnheit lohnt es sich, die betreffende Textpassage hier ganz zu zitieren: „An interpretation that finds a kind of idealism in Kant, that ascribes to him a reduction of objects to mental representations, and that sees him confronted by the familiar agenda of solipsistic problems also fails to capture the originality, profundity, and merit of his thought. To see Kant as proposing that the „outer“ objects with which we are familiar in experience are really only mental constructions, and thus to see his philosophy as akin to the idealism of the British empiricists, is to ascribe to him a stale doctrine, already exhausted by his predecessors, and a philosophy that bears all the marks of a dead end. Such a reading makes Kant’s characteristic concepts merely a system of difficult abstractions that makes no noteworthy progress with the quandaries faced by his predecessors. If such were Kant’s philosophy, it would be a tiring exercise that ends by bringing us to the very problems by which we were stumped in the first place“ (ders. 1999, S. 3). Was seine – manchmal exegetisch unbefriedigende (vgl. unten, Kap. 5) – Argumentation fr die „non-idealistic“ Interpretation untersttzt, ist gerade diese berzeugung. Solch eine Antipathie gegen den „Idealismus“ war bereits zu Kants Zeit einflussreich. Um dies zu erkennen, muss man nur Kants anscheinend widersprchliche Bemhungen beobachten, zu zeigen, dass sein transzendentaler Idealismus kein Idealismus ist. Ich weise in 5.2.3 auf, dass dies keinen Gegenbeleg zur anti-realistischen Interpretation liefert. Allerdings spricht dieser Umstand dafr, dass Kant die damals gngige Konnotation des Terminus „Idealismus“ als abstoßend empfand.
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Einleitung
Was ich hierbei im Sinne habe, ist die Mçglichkeit, dass eine interpretatorische Einstellung, wie sie Hans-Georg Gadamer folgend als „hermeneutisch“ zu bezeichnen wre, philosophisch produktiv sein kann.3 Diese Einstellung lsst sich wie folgt charakterisieren: (1) Sie erkennt die Andersheit des auszulegenden klassischen Textes an. Sie hemmt nmlich eine „voreilige Angleichung der Vergangenheit an die eigenen Sinnerwartungen“ (Gadamer 1960, S. 310). (2) Dies soll jedoch nicht dazu fhren, den Text als einen bloß historischen Gegenstand zu behandeln. Er muss vielmehr „in seinem Wahrheitsanspruch ernst genommen“ werden (ibid., S. 302). (3) Dieses Ernstnehmen soll seinerseits auch nicht bedeuten, dass unser gngiges Vorurteil „einfach beiseite gesetzt wird und der andere oder das Andere sich an seiner Stelle unmittelbar zur Geltung bringt“ (ibid., S. 304). Zu beabsichtigen ist nicht eine sofortige Stellungnahme zu einer Frage, sondern vielmehr eine „Gewinnung des rechten Fragehorizontes fr die Fragen, die sich uns angesichts der berlieferung stellen“ (ibid., S. 308).4 Kurzum: Die hermeneutische Einstellung fordert, die Andersheit des Textes nicht aufzulçsen, dennoch seinen Wahrheitsanspruch ernst zu nehmen, um dadurch unsere Sensibilitt fr Fragen zu kultivieren. 3
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Es ist wohl wahr, dass Gadamer nicht beabsichtigt, eine „Methodenlehre“ fr die interpretatorische Forschung anzubieten. Sein Ziel ist vielmehr, das Strukturmoment des Verstehens berhaupt zu erhellen, das in jeder wissenschaftlichen Interpretation immer schon mitwirkt. Er wrde aber vermutlich nicht verneinen, dass diese Strukturanalyse einen Einfluss auf das interpretatorische Herangehen an einem Text zur Folge hat. Vgl. z. B. Folgendes: „Es wird also nicht gefordert, daß man die Wirkungsgeschichte als eine neue selbstndige Hilfsdisziplin der Geisteswissenschaften entwickeln solle, sondern daß man sich selber richtiger verstehen lerne und anerkenne, daß in allem Verstehen, ob man sich dessen ausdrcklich bewußt ist oder nicht, die Wirkung dieser Wirkungsgeschichte am Werke ist. Wo sie in der Naivitt des Methodenglaubens verleugnet wird, kann brigens auch eine tatschliche Deformation der Erkenntnis die Folge sein“ (Gadamer 1960, S. 306, kursiv von K.C.). Dies spricht dafr, dass die Anerkennung der Wirkungsgeschichte zumindest fçrderlich fr die Geisteswissenschaften sein soll. Eben deswegen kann Gadamer einige Zeilen spter fr das „wissenschaftliche Bewußtsein“ die „notwendige Forderung“ stellen, „sich dieser Wirkungsgeschichte bewußt zu werden“ (ibid.). Allerdings gilt diese Forderung nicht als eine „Methode“ im Sinne Gadamers, d. h. eine solche, durch deren Befolgung die Objektivitt der Erkenntnis automatisch garantiert wird. Deswegen habe ich hier das Wort „Einstellung“ gewhlt. Ein klassischer Text („berlieferung“) fçrdert dies dadurch, dass er unser eigenes Vorurteil „in seiner Geltung zu suspendieren“ trachtet (ibid., S. 304). Eben deswegen muss der obige Punkt (1) besonders beachtet werden.
Einleitung
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Meine Absicht, den idealistischen Aspekt in Kants Philosophie hervorzuheben, ist nicht, irgendeinen Idealismus (oder Anti-Realismus) parteiisch zu verteidigen. Was mich interessiert, ist vielmehr die Realismusdebatte selbst. Ist es nicht zu erwarten, dass gerade darin, dass der Realismus berhaupt in Frage gestellt werden kann, etwas philosophisch Interessantes liegt? Diese Erwartung drfte wohl von der geschichtlichen Tatsache noch untersttzt werden, dass verschiedene Rehabilitierungen des „Idealismus“, trotz dessen Kontraintuitivitt, in der abendlndischen Philosophie wiederholt versucht worden sind. Ich finde es daher nicht aussichtslos, dass eine ernsthafte Konfrontation mit dem klassischen „idealistischen“ Denken heute noch philosophisch bedeutsam gemacht werden kann. Ich hoffe, dass die vorliegende exegetische Forschung eine fruchtbare Basis fr die hermeneutische Wiederaneignung der Tradition der Realismusdebatte bildet. – Die vorgebrachten Argumente sind allerdings kein Beweis fr dieses weit angelegte Forschungsprogramm. Ob dieses in der Tat philosophisch fruchtbringend ist, lsst sich natrlich nur post festum beurteilen. An dieser Stelle wrde es schon gengen, festzuhalten, dass sich die philosophische Bedeutsamkeit der Auslegung eines klassischen Textes nicht unbedingt darin erschçpft wird, aus diesem eine in der Gegenwart sofort anwendbare Einsicht herauszuholen. Was aber innerhalb der vorliegenden Abhandlung ausgefhrt wird, ist vornehmlich die Exegese der kantischen Philosophie. Ich mçchte hier nher bestimmen, was ich darunter verstehe, um dadurch die dieser Arbeit zugrundeliegende Idee besser zu verdeutlichen. Die Exegese zielt primr auf eine Erhellung des Sinngehalts eines Textes. Sie steht im Gegensatz zu dem, was ich „Fortentwicklung“ nenne, nmlich zu demjenigen Stil der interpretatorischen Forschung, welcher, obschon im Text dargestellte Einsichten teilweise benutzend, vielmehr darauf abzielt, eine sachlich attraktive – oder zumindest aus unserer heutigen Sicht attraktiv aussehende – Theorie herauszuarbeiten. Die beiden sind natrlich nicht vollstndig trennbar. Die Exegese wird bei der Fortentwicklung vorausgesetzt. Sonst kçnnte man berhaupt nicht verstehen, was man dabei „fortzuentwickeln“ anstrebt. Die Exegese ist aber ebenfalls von der Fortentwicklung nicht vollstndig unabhngig. Die Exegese unterliegt z. B. der hermeneutischen Maxime, dass sie die Wahrheit und berzeugungskraft des auszulegenden Textes mçglichst vergrçßern soll.
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Einleitung
Dies berechtigt jedoch keineswegs zu dem vorschnellen Urteil, dass die Unterscheidung zwischen Exegese und Fortentwicklung zwecklos ist.5 Sie haben unterschiedliche Ziele und dementsprechend unterschiedliche Kriterien fr ihren Erfolg. Die Exegese ist durchaus daran gebunden, was der Autor des auszulegenden Textes damit beabsichtigt; selbst die oben erwhnte hermeneutische Maxime ist nur ein Prinzip, um dies festzustellen. Bei der Fortentwicklung verhlt es sich ganz anders. Bei ihr ist es eher ein sekundres Problem, ob sie den Gedanken, der im Text dargestellt wird, autorgetreu wiedergibt; sie wird vornehmlich daran gemessen, ob die Theorie, die durch sie herausgearbeitet wird, sachlich attraktiv ist. Wenn dieser Unterschied bersehen wird, ergibt sich eine interpretatorische Verwirrung. In der Literatur sieht man folgende Szene leider nicht selten: Eine These oder Argumentation, die durch manche ußerungen Kants deutlich nahegelegt wird und auch mit sonstigen Textstellen nicht besonderes kollidiert, wird bloß deswegen als „unkantisch“ disqualifiziert, weil sie fr uns in der Gegenwart sachlich unattraktiv aussieht. So kommt es dazu, dass man mit dem interpretatorischen „principle of charity“ den auszulegenden Text geradezu verzerrt. (In der nachfolgenden Untersuchung werde ich manche Bespiele dafr vorstellen.) Bei der Exegese muss man vor dergleichen immer Vorsicht walten lassen. Allerdings kann es manchmal vorkommen, dass eine Interpretation bloß mit der Auffindung mehrerer Inkonsistenzen im auszulegenden Text enden msste, sofern sie dem streng exegetischen Prinzip folgend ausgefhrt wrde. In diesem Fall wird es Aufgabe der Interpreten, eine einheitliche Theorie auszuarbeiten, die mçglichst viele in dem Text vorgebrachte Thesen sowie Argumentationen kohrent integrieren kann. Dieses Vorgehen nenne ich „rationale Rekonstruktion“. Diese muss aber ebenfalls von der Fortentwicklung unterschieden werden. Ihr Hauptziel ist nmlich nicht, eine sachlich attraktive Theorie herauszuarbeiten, sondern vielmehr, den auszulegenden Text als eine mçglichst konsistente Sinneinheit zu begreifen. In dieser Hinsicht gehçrt die rationale Rekonstruktion eher zur Exegese. 5
Diese Unterscheidung kollidiert meines Erachtens nicht mit Gadamers Ansicht. Es muss zwar anerkannt werden (ich verneine es auch nicht), dass „die sich aufdrngende Unterscheidung kognitiver, normativer und reproduktiver Auslegung keine grundstzliche Geltung hat, sondern ein einheitliches Phnomen umschreibt“ (ibid., S. 316). Dies schließt aber nicht aus, ein bestimmtes Moment dieses „einheitlichen Phnomens“ den Umstnden gemß hervorzuheben. Dergleichen ist sogar manchmal notwendig, und umso notwendiger in der interpretatorischen Debatte.
Einleitung
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Ich mçchte hier außerdem eine Bemerkung ber den Terminus „Ontologie“ beifgen, der im Titel der vorliegenden Abhandlung Verwendung findet. Es ist nicht meine Absicht, diesen Terminus in der gleichen Weise zu verwenden wie Kant.6 Vielmehr ist „Ontologie“ in der vorliegenden Abhandlung ein explicans fr Kants Thesen und Argumentationen. Unter der „Ontologie“ verstehe ich grob diejenige Theorie, die von dem Sein sowie der allgemeinen Beschaffenheit der Gegenstnde im Allgemeinen oder in einem bestimmten Theoriebereich handelt. Es ist daher legitim, von der „Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit“ zu sprechen. – In der heutigen Literatur verwendet man auch den Terminus „Metaphysik“. Ich ziehe aber „Ontologie“ vor, weil es in der vorliegenden Abhandlung besonders auf die Frage nach dem Sein der raumzeitlichen Gegenstnde ankommt, nmlich darauf, ob diese unabhngig von unserer Erkenntnis existieren oder nicht.7 Inhaltlich wichtiger ist die Unterscheidung der ontologischen von der erkenntnistheoretischen Fragestellung; dieses Thema kommt in 1.4 (F) zur Diskussion. Wenn man „Ontologie“ im obigen allgemeinen Sinn versteht, ist es vielmehr offensichtlich, dass Kants theoretische Philosophie eine Vielzahl von ontologischen Thesen beinhaltet.8 Dieser Umstand luft zudem der 6 7
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Eine erhellende Erklrung von Kants eigenen Gebrauch dieses Terminus findet man in Baum 2010, S. 63 – 6. Der Terminus „Metaphysik“ kann zudem besonders in der Kant-Forschung zu dem Missverstndnis fhren, dass sie transzendente Gegenstnde (wie Seele, Freiheit und Gott) behandelt. „Metaphysica generalis“ ist ebenfalls nicht geeignet, weil das Hauptanliegen der vorliegenden Abhandlung nicht das Seiende berhaupt, sondern spezifisch raumzeitliche Gegenstnde betrifft. In Kapitel 8 wird zwar auch die Problematik der „Dinge an sich“ erçrtert, aber nur in Bezug auf ihr Verhltnis zur raumzeitlichen Wirklichkeit. Ich nenne hier nur zwei Beispiele: (1) Die „zweite Analogie“: „Alle Vernderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknpfung der Ursache und Wirkung“ (B232). Dies stellt nicht nur eine erkenntnistheoretische These auf, wie „Die Kategorie der Kausalitt wird in unserer Erfahrung notwendigerweise verwendet“ (obwohl dies der Beweisgrund fr die „zweite Analogie“ ist), sondern vielmehr eine ontologische These, dass raumzeitliche Gegenstnde in der Tat dem Kausalgesetz unterliegen. (2) „[D]ie Bedingungen der Mçglichkeit der Erfahrung berhaupt sind zugleich Bedingungen der Mçglichkeit der Gegenstnde der Erfahrung“ (A158/B197). Wenn dies als eine lediglich erkenntnistheoretische These erachtet wrde, msste dies eine bloße Tautologie bedeuten. Es ist bemerkenswert, dass selbst Henry Allison, ein bedeutender Kritiker der metaphysischen/ontologischen Kant-Interpretation, seit neuestem zugesteht, dass die von ihm „methodologisch“ interpretierte kantische Doktrin ontologische
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Einleitung
berhmten Textpassage in A247/B303 nicht zuwider: „[D]er stolze Name einer Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen berhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z.E. den Grundsatz der Kausalitt) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes, Platz machen“. Was Kant damit ablehnt, ist nicht die Ontologie im obigen Sinn, sondern lediglich diejenige, welche ohne Kritik der Erkenntnisvermçgen behauptet, „Dinge berhaupt“ einsehen zu kçnnen; dieser unkritische Charakter ist kein definitorisches Moment der „Ontologie“ im Sinne der vorliegenden Abhandlung.9 Es sei außerdem angemerkt, dass ich, wie blicherweise in der heutigen Kant-Forschung, den Terminus „Erkenntnis“ derart verwende, dass er die Wahrheit derselben nicht begrifflich impliziert, so dass also eine Erkenntnis auch falsch sein kann. Die vorliegende Abhandlung hat drei Teile. In Teil I (Kapitel 1 – 3) definiere ich die Termini „Realismus“ und „Anti-Realismus“ und darauf basierend konkretisiere ich den Grundriss meiner anti-realistischen KantInterpretation, in Abgrenzung zu heutigen Interpretationsanstzen zu Kants transzendentalem Idealismus. In Teil II vollziehe ich den exegetischen Nachweis, dass Kants transzendentaler Idealismus ein Anti-Realismus der raumzeitlichen Wirklichkeit sei, anhand konkreter Textanalysen der Kritik der reinen Vernunft (und ggf. auch anderer diesbezglicher Schriften Kants). In Kapitel 4 und 5 untersuche ich das Kapitel „Die Antinomie der reinen Vernunft“ (fortan: „Antinomiekapitel“) und den „vierten Paralogismus“ der Erstauflage der Kritik der reinen Vernunft (fortan: „der vierte Paralogismus (A)“). Dass Kant in diesen Theoriestcken tatschlich einen Anti-Realismus vertritt, ist schon seiner eigenen Darstellung nach naheliegend. Ich werde darber hinaus zeigen, dass diese Theoriestcke mit dem Realismus unvertrglich sind, mithin nur anti-realistisch adquat ausgelegt werden kçnnen. In Kapitel 6 behandle ich Theoriestcke bzw. Aspekte, die vielmehr eine realistische Interpretation nahelegen; nmlich (1) die Widerlegung des Idealismus (B), (2) die Transzendentale sthetik, (3) Kants Doktrin des
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Konsequenzen im heutzutage blichen Sinn hat; vgl. ders. 2006, S. 19 f.; auch unten, 3.2, Anm. 114. Kant verwendet den Terminus „Ontologie“ sogar manchmal positiv; vgl. A845 f./ B873 f. Ein noch deutlicheres Beispiel findet sich in Fortschritten: „Sie [sc. die Ontologie] [. . .] wird Transscendental-Philosophie genannt, weil sie die Bedingungen und ersten Elemente aller unserer Erkenntniß a priori enthlt“ (Ak. 20, S. 260).
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Doppelcharakters des Ichs (die besonders fr seine Freiheitslehre relevant ist) und dazu auch (4) Kants Zwei-Aspekte-Redeweise (nmlich die Ausdrcke, die ußern oder suggerieren, dass „Erscheinung“ und „Ding an sich“ nicht zwei distinkte Entitten, sondern vielmehr zwei Aspekte ein und desselben Dings sind). Es erweist sich, dass das letzte Element in der Tat zu einem Realismus raumzeitlicher Gegenstnde fhrt. Dies bedeutet aber nicht das sofortige Scheitern der anti-realistischen Interpretation. Textbelege weisen vielmehr darauf hin, dass Kant selbst zwischen Realismus und Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde schwankt. Angesichts dessen wird die Aufgabe der Exegese auf die rationale Rekonstruktion umgestellt, nmlich darauf, von Kants terminologischer Inkonsistenz zunchst absehend vielmehr seine Argumentationen zu einer mçglichst kohrenten Sinneinheit zu bringen. Ich zeige an den ersten drei Theoriestcken, dass sie entweder eine anti-realistische Deutung problemlos erlauben oder zumindest zu einer anti-realistisch kompatiblen Theorie modifiziert werden kçnnen, ohne Kants dortige Argumentation wesentlich zu verletzen. Dadurch erweist sich die anti-realistische Interpretation als die einzig mçgliche Option, wenn Kants transzendentaler Idealismus berhaupt als eine kohrente Doktrin verstanden werden soll. Auf Grundlage dieses exegetischen Ergebnisses przisiere ich in Teil III den Gehalt von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit noch weiter. In Kapitel 7 stelle ich fest, welche konkrete Version des Anti-Realismus dem kantischen transzendentalen Idealismus angemessen ist. Es erweist sich, dass die naheliegenden drei Versionen, nmlich die zeit-relative, die peircesche und die standard-phnomenalistische Version, fr den kantischen Anti-Realismus inadquat sind. Angesichts dessen entwickle ich zunchst, vornehmlich im Hinblick auf Kants Argumentation fr die Auflçsung der Antinomien, eine Version des AntiRealismus, die mit dem mathematischen Intuitionismus verwandt ist. Es gibt aber einige schwerwiegende Probleme damit, den Intuitionismus auf den raumzeitlichen Bereich direkt anzuwenden. In Rcksicht auf diese Probleme verfeinere ich die gesuchte Version noch weiter und erreiche am Ende eine anti-realistische Position aufgrund der Superassertibilitt la Crispin Wright. In Kapitel 8 diskutiere ich die Problematik der „Dinge an sich“, vornehmlich deren Beziehung zur raumzeitlichen Wirklichkeit. Wegen dieser Zielsetzung tritt die Thematik der „Affektion“ in den Vordergrund. Ich verteidige die Theorie der sogenannten „transzendentalen Affektion“ (nmlich Affektion durch Dinge an sich). Ich zeige zuerst, dass diese Theorie, obschon mit einer Modifikation, von Kants theoretischer Phi-
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losophie erfordert wird. Es zeigt sich zudem, dass sie, dem Anschein entgegen, sowohl mit Kants berhmter Doktrin der Unerkennbarkeit der Dinge an sich als auch mit dem Anti-Realismus der raumzeitlichen Wirklichkeit als solchem vertrglich gemacht werden kann. Durch diese Untersuchung soll der Gehalt von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit noch konkreter dargelegt werden.
Teil I Was ist die anti-realistische Interpretation? In diesem ersten Schritt mçchte ich die Grundzge meiner anti-realistischen Interpretation darstellen. Konkrete Textanalysen werden hier noch nicht vorgenommen. Es ist ratsam, schon eingangs eine provisorische Charakteristik der Interpretation vorweg zu schicken: Die anti-realistische Interpretation handelt vom transzendentalen Idealismus (fortan: „TrI“), der in der Kritik der reinen Vernunft (fortan: „KdrV“) angelegt ist, insbesondere von ihm im Gegensatz zu seinem Konkurrenten, dem transzendentalen Realismus (fortan: „TrR“). Sie deutet den TrI und den TrR als Anti-Realismus bzw. als Realismus hinsichtlich rumlicher und/oder zeitlicher (fortan: „raumzeitlicher“) Gegenstnde10 im Sinne Michael Dummetts. Der Realismus entspricht der common-sense-orientierten Auffassung, dass die Wahr-/ Falschheit von Aussagen ber raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis bestimmt ist, so dass es fr die Wahrheit vçllig irrelevant ist, ob wir die Aussagen tatschlich verifizieren oder sogar berhaupt verifizieren kçnnen. Der Anti-Realismus lehnt diese Wahrheitskonzeption ab und macht dementsprechend Wahrheit in irgendeiner Weise verifikationsabhngig. Diese Skizze bedarf noch einer genaueren Erluterung und Ausformung, damit die anti-realistische Interpretation als eine respektable Option zur Auslegung des TrI gelten kann. Dies ist das Ziel des ersten Teils der vorliegenden Abhandlung. Dieser Teil hat drei Kapitel: Zunchst przisiere ich, was unter dem Terminus „Realismus/Anti-Realismus im dummettschen Sinne“ verstanden werden soll (Kapitel 1). Anhand dessen konkretisiere ich den Aufriss meiner anti-realistischen Interpretation, im Kontrast zu ihrem wichtigsten Opponenten, der realistischen Interpretation. (Kapitel 2). Danach gebe ich einen berblick der aktuellen Interpretationsmuster des TrI und klre deren Verhltnisse zur realistischen/anti-realistischen Interpretation (Kapitel 3). Erçrtert werden die sogenannte „Zwei-Welten-“ sowie die „Zwei10 Der Terminus „raumzeitliche Gegenstnde“ bezeichnet daher nicht nur rumliche Gegenstnde (d. h. Gegenstnde des ußeren Sinnes), sondern auch Gegenstnde des inneren Sinnes, die nur zeitlich sind.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Aspekte-Interpretation“ (welche ihrerseits die „metaphysische“ und die „methodologische“ Variante hat) und zudem auch neueste Abweichungsformen von ihnen. Was ich in der vorliegenden Abhandlung verteidigen werde, ist eine Variante der anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation.
Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit Das Ziel dieses Kapitels ist es, den Gehalt und die Implikationen der Formulierung des Realismus/Anti-Realismus von Michael Dummett insoweit zu klren, wie dies fr die nachfolgende Kant-Interpretation erforderlich ist. Es ist hierbei ein sekundres Problem, ob das im Nachfolgenden Ausgesagte eine getreue Wiedergabe von Dummetts eigener Ansicht ist oder nicht. Ich werde sogar einige seiner Auffassungen modifizieren oder so przisieren, wie Dummett dies nicht tut, damit sie sich zur Kant-Interpretation eignen. Diese Aufgabe ist insbesondere aus folgenden zwei Grnden wichtig: (1) Es gibt zwar schon einige gute Einfhrungstexte zu Dummetts Beitrag zur Realismusdebatte.11 Sie sind aber, obschon sie als Darstellung seiner Idee gerecht werden, nicht dafr geeignet, seine Begrifflichkeit auf die Auslegung eines klassischen Textes anzuwenden. Dafr bedarf es einer Darlegung, die besonders zu diesem Zweck arrangiert ist. (2) Es besteht bis heute selbst bei analytischen Fachleuten kein hinreichender Konsens darber, was genau unter dem dummettschen „AntiRealismus“ verstanden werden soll. Darber hinaus wird er manchmal in karikierter Weise dargestellt und darauf basierend kritisiert; dergleichen findet man nicht nur in der Fachliteratur der analytischen Philosophie, sondern auch in der Kant-Forschung. Wrde der „Anti-Realismus“ derart definiert, kçnnte man leicht zeigen, dass Kants TrI kein Anti-Realismus ist. Um meine anti-realistische Interpretation gegen solch eine „Kritik“ zu schtzen, muss im Voraus klargestellt werden, was ich in der vorliegenden Abhandlung unter den Termini „Realismus“ und „Anti-Realismus“ verstehe. Dieses Kapitel hat drei Abschnitte: In 1.1 wird zusammen mit der Einfhrung einiger Termini eine bliche Formulierung des Realismus/ 11 Zum Beispiel: Wright 1987c, „Introduction“, Hale 1997 und Weis 2002. Dummett 1963 und 1993b sind ebenfalls kompakte Einfhrungen zu dieser Problematik.
1.1 Ontologische Formulierung des Realismus/Anti-Realismus
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Anti-Realismus, nmlich die ontologische Formulierung, vorgestellt. In 1.2 wird Dummetts Alternative, die Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption, dargestellt und erlutert. In 1.3 wird der Zusammenhang des so formulierten Realismus/Anti-Realismus mit der formalen Logik, insbesondere mit dem Bivalenzprinzip, erçrtert. In 1.4 werden einige zu beachtende Punkte bezglich der dummettschen Formulierung des Realismus/Anti-Realismus und dazugehçrende Themen aufgezhlt. 1.1 Ontologische Formulierung des Realismus/Anti-Realismus In verschiedenen Theoriebereichen finden sich (wiederum verschiedenartige) Debatten zwischen dem Realismus und seinem jeweiligen Opponenten, „Anti-Realismus“; beispielsweise im Bereich von raumzeitlichen Gegenstnden berhaupt (z. B. „Common-Sense Realismus“ vs. „Phnomenalismus“), von unbeobachtbaren theoretischen Gegenstnden wie Elementarteilchen oder Quark („wissenschaftlicher Realismus“ vs. „Instrumentalismus“), von mathematischen Gegenstnden („Platonismus“ vs. „Intuitionismus“), auch von Vergangenheit/Zukunft, mentalen Zustnden, Universalien, mçglichen Welten, Moralitt und so fort.12 Dummett 1963 folgend bezeichne ich fortan den Theoriebereich, um den es sich in einer einzelnen Realismusdebatte handelt, als „strittige Klasse (disputed class)“. Es ist zuerst zu bemerken: Der Gegensatz von Realismus und AntiRealismus muss immer auf eine bestimmte strittige Klasse bezogen verstanden werden. Es ist vçllig unproblematisch, dass ein Philosoph, der hinsichtlich einer bestimmten strittigen Klasse den Realismus ablehnt, diesen doch fr andere strittige Klassen zugesteht oder sogar positiv vertritt. Arend Heyting z. B., einer der wichtigsten intuitionistischen Mathematiker, hatte keine Absicht, seinen anti-realistischen Ansatz auf außer-mathematische Bereiche zu erweitern (vgl. z. B. ders. 1971, Kap. 1). – Man kann zwar auch eine radikale Version des Realismus/Anti-Realismus denken, die unterschiedslos fr alle mçglichen strittigen Klassen gilt. Dergleichen wird in der Literatur „globaler Realismus/Anti-Realismus“ genannt.13 Dieser sollte aber gerade als eine spezifische Variante des Rea12 Vgl. Brock/Mares 2007 fr einen kompakten berblick der Mannigfaltigkeit der heutigen Realismusdebatten. 13 Dummetts eigene Position wird manchmal als derartiger Anti-Realismus verstanden, weil sein bedeutungstheoretisches Argument gegen den Realismus (wie
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
lismus/Anti-Realismus verstanden werden, die alle mçglichen strittigen Klassen in seiner strittigen Klasse macht. Die Bercksichtigung der strittigen Klassen ermçglicht die feinfhlige Analyse einer philosophischen Position. Manche interessanten philosophischen Systeme nehmen nicht entweder Realismus oder Anti-Realismus durchweg an, sondern beide in gemischter Weise. – Meine These ist z. B., dass Kants TrI hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde ein Anti-Realismus ist, whrend er fr „Dinge an sich“ Realismus zugesteht. – Daher muss bei der Anwendung der dummettschen Begrifflichkeit auf die philosophische Exegese immer beachtet werden, um welche strittige Klasse es sich dabei handelt. Realismus wird nun in manchen Bereichen (obschon nicht immer) wie folgt charakterisiert: Gegenstnde (der strittigen Klasse) existieren unabhngig von unserer Erkenntnis. Dies nenne ich fortan „ontologische Formulierung“ des Realismus.14 Sie enthlt zwei Sinnkomponenten: (1) Gegenstnde (der strittige Klasse) existieren in der Tat. (2) Ihre Existenz ist unabhngig von unserer Erkenntnis. Dementsprechend gibt es zwei verschiedene Weisen, den Realismus abzulehnen. Man mag zum einen behaupten, dass (1’) Gegenstnde (bzw. Tatsachen) der strittigen Klasse berhaupt nicht existieren,15 oder zum anderen behaupten, dass (2’) sie nur von unserer Erkenntnis abhngig existieren, ohne dabei ihre Existenz selber zu verneinen. Worauf es in der vorliegenden Abhandlung ankommt, ist die zweite Komponente, also auch die zweite Gegenbehauptung. Um der Verwechselung vorzubeugen, verwende ich fortan den Terminus „Anti-Realismus“ ausschließlich fr Opponenten zum Realismus in dem letzteren Sinn, und bezeichne die erstere Art der Gegenposition des Realismus als „Eliminativismus“. In manchen Theoriebereichen, insbesondere in Bezug auf raumzeitliche Gegenstnde, entspricht der Realismus der Position des Common„manifestation-argument“) einen Anti-Realismus aller (sprachlich beschreibbaren) strittigen Klasse zu befrworten scheint. Allerdings verneint Dummett selbst (z. B. in ders. 1993b), dass er den globalen Anti-Realismus intendiert. 14 Fr Przisierungen der ontologischen Formulierung, vgl. Devitt 1991, Kap. 2 und Willaschek 2003, Kap. II. 15 Zum Beispiel: Mackie 1977 in der Metaethik und Field 1980 in der Mathematik; vgl. auch Wright 1992, S. 5 f.
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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Sense, d. h. unseres vortheoretischen Grundverstndnisses der Wirklichkeit. Deswegen erscheint der Anti-Realismus tendenziell eher kontraintuitiv, gerade indem er einige Common-Sense-berzeugungen in Frage stellt. In Rcksicht darauf wird manchmal auch folgender epistemologischer Faktor zum definitorischen Moment des Realismus hinzugefgt, weil er ebenfalls zu unserem Common-Sense gehçrt: Gegenstnde (der strittigen Klasse) sind fr uns erkennbar (und wir haben tatschlich viele Kenntnisse darber).16 Demgemß wird auch der Skeptizismus als ein Opponent des Realismus klassifiziert. Ich verwende aber in der nachfolgenden Untersuchung nicht diese Charakteristik, weil besonders bei raumzeitlichen Gegenstnden, um die es sich in der vorliegenden Abhandlung in erster Linie handelt, Folgendes ein wichtiges Argument fr die Infragestellung des Realismus ist: Sofern eine realistische Ontologie gebilligt wird, ist der Skeptizismus unumgnglich. – In Kapitel 5 werde ich zeigen, dass dieses Argument von Kant selbst fr eine Rechtfertigung seines TrI vorgebracht wird. – Um also den Gegensatz von Realismus und Anti-Realismus genau herauszustellen, ist es von Vorteil, definitorische Momente der beiden mçglichst von erkenntnistheoretischen Faktoren freizuhalten.17 Dummetts Formulierung versucht, einen wesentlichen Punkt beim Gegensatz von Realismus und Anti-Realismus hervorzuheben und zum przisen Ausdruck zu bringen. Im nchsten Abschnitt erklre ich ihren konkreten Gehalt. 1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption In der nachfolgenden Ausarbeitung der „dummettschen Formulierung“ verwende ich nicht alle berlegungen Dummetts ber die Problematik der Realismusdebatten. Ich mçchte zunchst klarstellen, welche Teile ich nicht verwende. (A) Dummett bezieht bekanntlich seine Erçrterungen der Realismusdebatte auf die Thematik der allgemeinen Bedeutungstheorie sprachlicher Ausdrcke. Ich lasse jedoch in meiner Ausarbeitung der „dummettschen Formulierung“ seine spezifisch bedeutungstheoretischen 16 Vgl. Horwich 1996, S. 188 und Wright 1992, S. 1 f. 17 In dieser Hinsicht stimme ich Willaschek zu; vgl. ders. 2003, S. 47.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
berlegungen18 außer Acht. Ich nehme nmlich nicht an, dass eine philosophische Position, die zum Anti-Realismus im dummettschen Sinne zu zhlen ist, auch die dummettsche Bedeutungstheorie, ob explizit oder implizit, teilen muss. Diese selektive Bercksichtigung ist fr die Anwendung der dummettschen Begrifflichkeit auf die klassische Exegese erforderlich, da bei manchen klassischen Philosophen, z. B. bei Kant, die allgemeine Bedeutungstheorie gar kein Thema oder zumindest nicht zentral ist.19 (B) In Dummetts Schriften findet man drei verschiedene (nichtquivalente) Formulierungen des Realismus/Anti-Realismus: (1) Realismus nimmt die wahrheitskonditionale Bedeutungstheorie an, Anti-Realismus hingegen diejenige Bedeutungstheorie, welche nicht auf Wahrheits- sondern auf Verifikationsbedingungen rekurriert; es ist hierbei implizit vorausgesetzt, dass die Wahrheit selber realistisch im gleich zu erklrenden Sinn verstanden wird (z. B. Dummett 1959a). 18 Hierzu gehçren z. B. folgende: (a) Vorrang der Sprachanalyse vor der Gedankenanalyse (z. B. Dummett 1987a), (b) Vorrang der Bedeutungstheorie vor der Ontologie, und zwar derart, dass wenn einmal die Realismusdebatte in der ersteren beigelegt worden ist, danach kein nennenswertes Problem in der letzteren bestehenbleibt (z. B. ders. 1973 und 1978 „Preface“; diese Ansicht wird aber in ders. 1991 weitgehend abgeschwcht.), (c) bedeutungstheoretische Argumente gegen den Realismus wie „acquisition-“ und „manifestation-argument“ (fr diese ußerst kontroverse Thematik, vgl. z. B. Wright 1987c, „Introduction“ und Hale 1997) und (d) Kritik am bedeutungstheoretischen Holismus (z. B. Dummett 1973 und 1991, Kap. 10). 19 Lucy Allais, die ebenfalls einmal versuchte, die dummettsche Unterscheidung des Realismus und Anti-Realismus fr die Interpretation des kantischen TrI zu nutzen, schlug dabei vor, die dummettsche Bedeutungstheorie außer Acht zu lassen; vgl. dies. 2003, 378 f. – Zwei Bemerkungen ber Allais’ Versuch: (1) Ihre Charakterisierung des „dummettschen Anti-Realismus“ ist anders als meine; vgl. unten, Anm. 27. (2) In ihren spteren Aufstzen (bis dies. 2010) findet sich weder ein solcher Versuch noch eine Referenz auf diesen Aufsatz mehr (stattdessen verstrkt sie ihre „realistische“ Orientierung; vgl. unten, 2.2 (B)), es ist also nicht sicher, dass sie ihre interpretatorische Position in dies. 2003 immer noch befrwortet. Außerdem gibt es Interpreten, die versucht haben, die KdrV als eine allgemeine Bedeutungstheorie zu reformieren und weiterzufhren (z. B. Hogrebe 1974 und neuerlich Hanna 2001); dabei ließe sich wohl von Dummetts bedeutungstheoretischen Einsichten viel profitieren. Ich sympathisiere zwar mit diesem Projekt der Fortentwicklung, es gibt jedoch mehrere Aufgaben, die schon innerhalb der Exegese bewltigt werden mssen. Um sich auf diese Aufgaben zu fokussieren, soll die bedeutungstheoretische Problematik zunchst außer Acht gelassen werden.
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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(2) Realismus besteht in der Akzeptanz des Bivalenzprinzips (vgl. 1.3), Anti-Realismus hingegen in der Ablehnung desselben (z. B. ders. 1981, 1982 und 1993b). (3) Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption, die gleich dargestellt wird (z. B. ders. 1963, 1969, 1978 „Preface“ und 2004). Die erste war eine frhe Formulierung Dummetts und wurde spter von ihm selbst zurckgewiesen.20 Die zweite und die dritte hlt er auch in spteren Werken aufrecht. Obwohl er manchmal beide zugleich anfhrt, so als ob sie miteinander quivalent wren, gilt dies eigentlich nicht, wie im nchsten Abschnitt gezeigt wird. – Was ich im Nachfolgenden als „dummettsche Formulierung“ verwende, ist die letzte Variante.21 Diese Auswahl ist durch den Zweck der Kant-Interpretation motiviert, zumal die Thematik der wahrheitskonditionalen Bedeutungstheorie bzw. des Bivalenzprinzips Kants Philosophie fremd ist. Zudem fge ich Dummetts ursprnglicher Formulierung noch einige Ergnzungen und Modifikationen hinzu, um sie fr die Kant-Interpretation brauchbar zu machen. Die letzte Formulierung kann nun folgendermaßen dargestellt werden: (a) Strittige Klasse ist nicht die Klasse von Gegenstnden, sondern die Klasse von Aussagen. Demgemß wird der Gegensatz von Realismus/Anti-Realismus nicht durch Konzeption der Existenz der
20 Vgl. ders. 1978, „Preface“, S. xxi-xxiii. Dummett kritisiert zwar durchgehend die wahrheitskonditionale Bedeutungstheorie, aber außer einigen frheren Schriften wird dabei implizit oder explizit angenommen, dass die dabei kritisierte wahrheitskonditionale Semantik eine (gleich zu erklrende) verifikationsunabhngige Wahrheitskonzeption voraussetzt. Die wahrheitskonditionale Semantik als solche, ohne diese Qualifikation, verhlt sich neutral zum Realismus/Anti-Realismus; vgl. Wright 1987b und Tennant 1997, Kap. 2. Außerdem entspricht Carl Posys „assertabilism“, den er in seiner anti-realistischen Kant-Interpretation verwendet, dieser frheren Variante Dummetts; vgl. unten, 2.2 (A). 21 Crispin Wright, einer der wichtigsten Verteidiger des Anti-Realismus, versteht ebenfalls die letzte als spezifisch dummettsche Realismusformulierung; vgl. ders. 1992, S. 3 – 5. (Sein Verstndnis derselben ist aber in einem wichtigen Punkt anders als meines; vgl. unten, Anm. 27.) Neil Tennant fgt dazu noch das Moment des Bivalenzprinzips hinzu. Demgemß werden der Realismus und der dummettsche Anti-Realismus nicht kontradiktorisch entgegengesetzt; vgl. ders. 1997, Kap. 6.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Gegenstnde, sondern vielmehr durch Konzeption der Wahrheit der Aussagen22 charakterisiert. (b) Demgemß wird der Realismus als folgende Auffassung definiert: Aussagen der strittigen Klasse haben ihren Wahrheitswert („Wahr“, „Falsch“ oder mçglicherweise sonstige) vçllig verifikationsunabhngig, d. h., unabhngig davon, ob wir sie, selbst im Prinzip, verifizieren bzw. falsifizieren kçnnen. Der Anti-Realismus hingegen besteht in der Ablehnung dieser realistischen Wahrheitskonzeption. Ich fange mit Punkt (a) an. Mit dieser Behauptung beabsichtigt Dummett nicht, die Relevanz der ontologischen/metaphysischen Fragestellung fr die Realismusdebatte zu bestreiten. (Man denke an den Titel eines Hauptwerks Dummetts: The Logical Basis of Metaphysics.) Die Bedeutsamkeit der dummettschen Formulierung liegt meines Erachtens vielmehr darin, mithilfe der Wahrheitskonzeption die relevante ontologische Frage (ob nmlich Gegenstnde der strittigen Klassen unabhngig von unserer Erkenntnis existieren oder nicht) in prziser und fruchtbringender Weise behandelbar zu machen. Dies erfordert, dass zwischen der ontologischen Frage und der Wahrheitskonzeption ein gewisser Zusammenhang besteht. Dieser Zusammenhang ergibt sich nun aus folgendem Prinzip: quivalenzthese: Aussage „p“ ist wahr gdw. p. (Zum Beispiel: „Der Schnee ist weiß“ ist wahr gdw. der Schnee weiß ist.) Dadurch werden das ontologische Problem und die Wahrheitskonzeption folgendermaßen eng verknpft: Wenn ein Gegenstand unabhngig von 22 Ich fge zwei Bemerkungen ber Formalitt bei: (1) Ich whle Aussage als Wahrheitstrger. Darunter verstehe ich die Aussage (statement) in einem technischen Gebrauch in der Sprachphilosophie, nmlich Satz-Typ (im Sinne des Gegenstcks des Satz-Tokens) zusammen mit der Zuteilung der Referenz der deiktischen Ausdrcke (falls er solche beinhaltet); z. B. „Kiyoshi Chiba ist im Jahr 2005 in Deutschland“ statt „Ich war damals in Deutschland“; vgl. Dummett 1999, S. 265. Dadurch wird erlaubt, die besondere sprachphilosophische Problematik der deiktischen Ausdrcke, wie „dieses“, „hier“, „ich“, „jetzt“, außer Acht zu lassen. – Innerhalb der vorliegenden Abhandlung hat die Aussage keinen Vorzug gegenber anderen heutzutage auch gngigen Kandidaten fr Wahrheitstrger, wie Satz oder Proposition. Kants Lieblingskandidaten sind Erkenntnis und Urteil. Ich folge ihm aber in diesem Punkt nicht, weil sie gewisse erkenntnistheoretische Implikationen mit sich fhren. (2) Ich verwende den Terminus „Wahrheitskonzeption“ statt „Wahrheitskonzept (bzw. -begriff )“ in Rcksicht auf einen denkbaren Einwand vonseiten des Deflationismus der Wahrheit; vgl. unten, 1.4 (D).
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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unserer Erkenntnis existiert sowie seine Eigenschaften hat, dann mssen Aussagen ber ihn und seine Eigenschaften ebenfalls unabhngig von unserer Verifikation wahr sein, und auch vice versa. 23 Man mag sich fragen, wozu die neue Formulierung vorgeschlagen wurde, wenn sie im Endeffekt mit der herkçmmlichen quivalent ist. Darauf werde ich spter zurckkommen. Gehen wir zum Punkt (b) ber. Besonders wichtig ist hier der Begriff „verifikationsunabhngig“. Zunchst ist Folgendes zu bemerken: Der Realismus besagt nicht nur, dass die Aussagen (der strittigen Klasse) wahr sein kçnnen, auch wenn sie von uns nicht tatschlich verifiziert werden, bzw. auch wenn wir sie nicht in praxi verifizieren kçnnen (geschweige denn, dass Gegenstnde auch dann existieren, wenn sie von uns nicht wahrgenommen werden). Er stellt eine noch strkere Behauptung auf, nmlich, dass die Wahrheit der Aussagen selbst davon unabhngig ist, ob sie fr uns im Prinzip verifizierbar sind.24 Ich differenziere zudem die Verifikationsunabhngigkeit von der Verifikationstranszendenz. Ich verstehe unter der verifikationstranszendenten Wahrheitskonzeption diejenige, welche die Mçglichkeit solcher Aussagen einrumt, die zwar wahr aber nicht (einmal im Prinzip) verifizierbar sind. Die verifikationsunabhngige Wahrheitskonzeption (die ich mit dem Realismus identifiziere) besagt hingegen, dass der Faktor der Verifizierbar-/ Falsifizierbarkeit auf unserer Seite keine konstitutive Rolle fr die Wahr-/ Falschheit der Aussagen spielt. Mit anderen Worten: Welche Aussagen 23 Dagegen mag man fragen: Liegt die Pointe der dummettschen Realismusformulierung nicht darin, dass sie nicht ontologisch sondern semantisch ist? Hierbei muss man aber Folgendes beachten: Dass eine Realismusformulierung „semantisch“ ist, in dem Sinn, dass sie von der Wahrheitskonzeption handelt, widerspricht nicht dem, dass sie mit der ontologischen Problematik zusammenhngt. Ja sogar ist dieses Resultat unvermeidlich fr die Realismusformulierung anhand der Wahrheitskonzeption, wie die obige Diskussion gezeigt hat. 24 In folgender Passage drckt Bob Hale diesen Punkt mit voller Klarheit aus: „The realist [in Dummettian sense] is to be understood as holding not merely that a statement may be true or false without our actually knowing its truth-value, nor even that a statement may be true or false even though we are in fact or in practice unable to tell which, but that there can be a much more radical dislocation of truthvalue and our capacity for its recognition – a statement may possess a determinate truth-value without its being possible, even in principle, for us to come to know it“ (ders. 1997, S. 273). Wenn man diesen Punkt verkennt, gert man in ein Missverstndnis wie das von Blatnik 1994, Wyller 1997 und Abela 2002; vgl. unten, Anm. 45.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
wahr sind und welche nicht, ist gleichsam „an sich“, d. h. ohne Rcksicht darauf bestimmt, ob sie fr uns verifizierbar bzw. falsifizierbar sind, so dass die Verifizierbarkeit fr die Wahrheit vçllig irrelevant ist. Die beste Methode, um diesen Punkt verstndlich zu machen, wre ein konkretes Beispiel zu betrachten, das die letztere verneint doch die erstere befrwortet; vgl. folgenden dispositionalen Realismus der Farben: Fr Farben rumlicher Dinge gilt das folgende Bikonditional (und zwar a priori): Ding a ist rot gdw. wir es unter geeigneten Umstnden als rot erkennen wrden. Trotz dieses Bikonditionals sind Farben erkenntnisunabhngige Eigenschaften der (ihrerseits erkenntnisunabhngig existierenden) Dinge. Dass Ding a rot sei, wird nmlich so analysiert, dass es eine solche Disposition an sich selbst habe, dass es unter geeigneten Umstnden von uns als rot erkannt wrde. – Demgemß lsst sich nicht sagen, dass Ding a rot (und nicht grn) ist, weil 25 wir es unter geeigneten Umstnden als rot erkennen wrden. Was fr das Rotsein von a konstitutiv ist, ist vielmehr, dass a eine bestimmte erkenntnisunabhngige Eigenschaft (wie eine bestimmte Oberflchenstruktur) an sich selbst hat.26 Wie aus dem Bikonditional ersichtlich ist, verneint diese Theorie die Erkenntnistranszendenz der Farben, billigt jedoch deren Erkenntnisunabhngigkeit; dieser Sachverhalt lsst sich ohne weiteres auch mit dem Terminus „Verifikation“ paraphrasieren. Diese Theorie wird also auch meiner Charakterisierung nach zum Realismus hinsichtlich der Farben gezhlt. Der Realismus besteht nmlich in der Auffassung, dass die Wahrheitsbedingung jeder Aussage (der strittigen Klasse) unabhngig von unserer 25 Die hiesige Verwendung von „weil“ kann durch den berhmten Kontrast zwischen der Position Euthyphrons und der Sokrates’ (in Platons Euthyphron) am besten veranschaulicht werden. Beide billigen das Bikonditional: Eine bestimmte Handlung ist fromm gdw. sie von den Gçttern geliebt wird. Euthyphron aber erklrt dies weiter derart, dass fromme Handlungen deswegen fromm sind, weil sie von den Gçttern geliebt werden, Sokrates hingegen, dass sie eben deswegen von den Gçttern geliebt werden, weil sie fromm sind. D.h., Euthyphron erachtet die rechte Seite jenes Bikonditionals als konstitutiv fr die linke, whrend Sokrates dies bestreitet; vgl. Wright 1992, S. 79 – 82. 26 In der heutigen Terminologie ausgedrckt: Farben sind „response-dependent“. Pettit 1991 sowie Johnston 1993 argumentieren (obgleich in verschiedener Weise), dass die Response-Dependence mit dem Realismus (im blichen Sinn) vertrglich ist. – In der obigen Darstellung habe ich ihre Positionen weitgehend vereinfacht (so dass sie mit diesen nicht genau bereinstimmt).
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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Erkenntnis fixiert ist, so dass wahre Aussagen eben wegen solcher erkenntnisunabhngigen Umstnde wahr sind.27 Allerdings sind die Verifikationsunabhngigkeit und die Verifikationstranszendenz auch nicht vçllig beziehungslos. Die letztere impliziert die erstere; wenn nmlich eine Theorie die verifikationstranszendente Wahrheitskonzeption bejaht, wird sie ohne weiteres auf den Realismus im obigen Sinn festgelegt. Zudem gilt auch Folgendes: Wenn hingegen eine Theorie die verifikationstranszendente Wahrheitskonzeption verneint, muss sie ein Anti-Realismus sein, es sei denn, dass sie ein besonderes Argument vorbringt, das im Rahmen des Realismus die verifikationstranszendente Wahrheitskonzeption ablehnt. – Und ein solches Argument vorzubringen, ist keine leichte Aufgabe.28 – Die Verifikationstranszendenz dient also als ein (obgleich nicht hinreichendes) ntzliches Merkmal, um viele realistische Positionen als solche zu identifizieren. 27 In diesem Punkt weicht meine Charakterisierung der dummettschen Realismusformulierung von derjenigen Crispin Wrights ab. Dieser zufolge geht es in der „Dummettian debate“ um die Verifikationstranszendenz, whrend die „Euthyphro debate“ (die von der Verifikationsunabhngigkeit handelt) eine andersartige Unterscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus liefern soll (vgl. ders. 1992, S. 81); ebenso Allais 2003 (S. 379 – 82). Die wrightsche Charakterisierung lsst sich durch Dummetts bedeutungstheoretisches Argument gegen den Realismus gut untersttzen (worauf ich aber hier nicht eingehe). Allerdings mangelt es meiner Charakterisierung auch nicht an textlicher Untersttzung; vgl. z. B. Dummetts folgende Aussagen: „Realism I charakterise as the belief that statements of the disputed class possess an objective truth-value, independently of our means of knowing it: they are true or false in virtue of a reality existing independently of us“ (ders. 1963, S. 146). „The very minimum that realism can be held to involve is that statements in the given class relate to some reality that exists independently of our knowledge of it, in such a way that that reality renders each statement in the class determinately true or false, again independently of whether we know, or are even able to discover, its truth-value“ (ders. 1982, S. 230). Diese weisen darauf hin, dass die Verifikationstranszendenz nicht sowohl das definitorische Moment des Realismus, als vielmehr eine Konsequenz aus der Verifikationsunabhngigkeit ist. Es muss hier nicht entschieden werden, welche Lesart Dummetts Absicht nherkommt. Es kommt darauf an, dass meine Charakterisierung fr die nachfolgende Kant-Interpretation ntzlich ist. Der Hauptnachteil der wrightschen Charakterisierung zu meinem Zweck ist, dass sie einen Typ der realistisch-orientierten Kant-Interpretation wie die von Lucy Allais und Tobias Rosefeldt (vgl. unten, 2.2 (B)) als anti-realistisch klassifiziert. 28 Dem Anschein entgegen ist es schon im Fall der Farben (der der Kardinalfall fr die Response-Dependence ist) fragwrdig, dass das obige Bikonditional tatschlich gilt; ich erçrtere dieses Thema in 4.3.2.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Der Anti-Realismus hingegen wurde oben als Ablehnung der realistischen, verifikationsunabhngigen Wahrheitskonzeption charakterisiert. Dadurch wird irgendeine mittlere Position zwischen Realismus und Anti-Realismus ausgeschlossen29 (obwohl es natrlich mçglich ist, dass ein Philosoph sich nicht eindeutig dazwischen entscheidet). Dies erlaubt z. B. den „internen Realismus“ von Hilary Putnam30 sowie den „Pragmatizismus“ von Ch. S. Peirce (oder zumindest das, was blicherweise darunter verstanden wird) zum Anti-Realismus zu zhlen.31 Indem aber der Anti-Realismus so definiert wird, wird mitbewirkt, dass die Zuordnung einer philosophischen Position zum Anti-Realismus fr sich allein nicht besonders informativ ist. Denn sie kann nicht mehr bedeuten, als dass die betreffende Position die realistische Wahrheitskonzeption in irgendeiner Weise verneint und somit die Wahrheit in irgendeinem Sinne erkenntnisabhngig macht. Der Anti-Realismus rumt z. B. folgende Varianten ein (man beachte, dass in folgenden Bikonditionalen die rechte Seite als konstitutiv fr die linke Seite erachtet werden soll, wie oben erklrt wurde): Eine Aussage ist wahr – gdw. sie von mir bis jetzt verifiziert worden ist. 29 Es sei denn, dass solche mittleren Positionen nicht nur die verifikationsunabhngige Wahrheitskonzeption, sondern eben die Wahrheitsfhigkeit der Aussagen der strittigen Klasse bestreiten, wie der Expressivismus in der Metaethik (von Ayer, Stevenson, Hare u. a.). Von einer solchen Alternative ist jedoch in Kants Theorie der raumzeitlichen Wirklichkeit zweifelsohne keine Rede. 30 Dies gilt zumindest fr den internen Realismus, wie er in ders. 1978, 1981 und 1983 dargestellt ist. Putnam selbst beschrieb in ders. 1994 zurckblickend seinen (damals schon aufgegebenen) „internal realism“ als eine dem dummettschen AntiRealismus verwandte Auffassung; vgl. auch ders. 2001. Die Sachlage wird aber dadurch kompliziert, dass selbst innerhalb der 80er Jahre eine allmhliche nderung von Putnams Charakterisierung des internen Realismus erkennbar ist. Je spter, desto mehr neigte er dazu, diesen nicht mit der Wahrheitskonzeption sondern mit der begrifflichen Relativitt zu charakterisieren (vgl. Moran 2000, S. 93 f.) und es ist disputabel, ob der so formulierte interne Realismus einem dummettschen Anti-Realismus entspricht. 31 Diese Charakterisierung stammt nicht von Dummett selbst, sondern entspringt meiner Ausarbeitung. Sie passt aber meines Erachtens besser zu Dummetts ursprnglicher Absicht in seiner Charakterisierung des Realismus/Anti-Realismus. Denn er spricht çfter so, als ob der Realismus und der Anti-Realismus eine vollstndige Disjunktion ausmachen. Seine konkrete Formulierung des AntiRealismus lsst aber mitunter Raum fr mittlere Positionen. Ich habe es also einer eindeutigen Abgrenzung zuliebe vorgezogen, den Anti-Realismus von Anfang an als die Verneinung des Realismus zu definieren.
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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– gdw. sie von uns (aber wem genau?) bis jetzt verifiziert worden ist. – gdw. sie bis jetzt effektiv verifizierbar gewesen ist.32 – gdw. sie im Prinzip verifizierbar ist. – Aber was bedeutet „im Prinzip verifizierbar“? Z.B.: Eine Aussage ist im Prinzip verifizierbar, – gdw. sie bis jetzt verifiziert worden ist oder irgendwann verifiziert werden wird. – gdw. sie superassertibel ist (Crispin Wright; vgl. 7.5.2). – gdw. man sie verifizieren wrde, wenn man sich in eine passende Situation versetzte (Standard-phnomenalistische Version; vgl. 7.1.2). – gdw. man sie verifizieren wrde, wenn man in einer „idealen Erkenntnislage“ wre, in der alles Erkennbare vollstndig erkannt wrde (Peircesche Version; vgl. 7.1.2). Daher muss man nach der Feststellung, dass eine philosophische Doktrin ein Anti-Realismus ist, diese noch dahingehend untersuchen, welche konkrete Variante ihr angemessen ist und in welchem Sinne der Kernbegriff „Verifizierbarkeit“ (bzw. „Erkennbarkeit“) zu verstehen ist. Diese Untersuchung werde ich im Kapitel 7 fr Kants TrI vornehmen. Um die Position des Anti-Realismus noch zu verdeutlichen, verfahre ich nach dem Ausschlussprinzip und klre, welche Thesen mit ihm nicht in Widerspruch stehen. (1) Der Anti-Realismus einer strittigen Klasse bestreitet als solcher nicht, dass der Realismus vielleicht fr sonstige strittige Klassen gilt. Er muss nmlich nicht behaupten, dass es erkenntnisunabhngige Entitten bzw. Tatsachen (fr Aussagen, fr die die realistische Wahrheitskonzeption gelten soll) berhaupt nicht gibt. Man erinnere sich daran, dass der Realismus/Anti-Realismus immer auf eine bestimmte strittige Klasse bezogen verstanden werden muss. Relevant ist also nur die jeweilige strittige Klasse. (2) Die Annahme, dass zwischen Gegenstnden bzw. Tatsachen der strittigen Klasse und der erkenntnisunabhngigen Realitt eine strukturelle Entsprechung bestehe, wird manchmal als ein Moment des Realismus angesehen. Der Anti-Realismus im oben definierten dummettschen Sinn 32 Diese drei machen die Wahrheit zeit-relativ; nach ihnen ist es nmlich mçglich, dass eine Aussage vorher nicht wahr war aber spter wahr wird. Die nachfolgenden ergeben hingegen zeit-neutrale Wahrheitskonzeptionen; vgl. 7.1.1 fr Details. – Was ich in Kapitel 7 als die adquateste Option fr den kantischen TrI herausarbeite, ist die zeit-neutrale Wahrheitskonzeption aufgrund der wrightschen Superassertibilitt.
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muss aber nicht bestreiten, dass eine solche Entsprechung zuflligerweise bestehen mag.33 Was er verneint, ist nur, dass eine solche Entsprechung konstitutiv (somit das normative Moment) fr die Wahrheit der strittigen Klasse ist. Sofern es gesichert wird, dass die Wahrheit ausschließlich im Kontext der Erkenntnis bestimmt werden soll, ist es fr den Anti-Realismus irrelevant, was sonst im Bereich der erkenntnisunabhngigen Realitt vorkommt. (3) Der Anti-Realismus muss auch nicht alle Arten der Beeinflussung erkenntnisunabhngiger Faktoren auf die Wahrheit verneinen. Dieser Punkt ist besonders wichtig im empirischen Bereich. Es scheint unleugbar, dass man fr empirische Erkenntnis irgendeinen Input (wie Empfindung oder Sinnesdatum) von etwas Erkenntnisunabhngigem empfangen muss; sonst verfiele unsere Erkenntnis einem bloßen „Kohrenzspiel“. Diese Idee ist mit dem Anti-Realismus empirischer Aussagen vertrglich. Denn sie sagt per se nicht, dass das empirisch zu Erkennende gerade dieses Erkenntnisunabhngige sein soll; der betreffende Input bestimmt wohl, welche Aussagen anhand dessen zu verifizieren sind, aber nicht, welche Aussagen, auch wenn unverifizierbar, wahr sind.34 (4) Der Anti-Realismus in der obigen Definition kçnnte „Konstruktivismus“ genannt werden. Dies bedeutet aber natrlich nicht, dass er darauf festgelegt ist, die Wahrheit einer Aussage abhngig von unserer Willkr zu machen. Wie der kantische Anti-Realismus die Willkrlichkeit der Wahrheit vermeidet, wird in 8.4.2 konkret erçrtert. Ich erwhne hier nur den Fall des mathematischen Intuitionismus; dieser ist ein reprsentativer Fall des Konstruktivismus, er macht aber die Wahrheit mathematischer Aussagen freilich nicht willkrlich. Dieses Beispiel spricht wohl 33 Man denke z. B. folgendes Szenario: Wir zielen bei der empirischen Erkenntnis nicht darauf ab, die aufseiten der erkenntnisunabhngigen Realitt obwaltende Struktur (selbst in unvollstndiger bzw. deformierter Weise) zu reprsentieren; wenn eine Erkenntnis unseren epistemischen Kriterien nach hinreichend gerechtfertigt wird, bedeutet es eben, dass sie wahr ist. Indessen besteht zwischen unseren wohl begrndeten Erkenntnissen und der erkenntnisunabhngigen Realitt de facto eine perfekte Entsprechung wie die sogenannte „pretablierte Harmonie“; allerdings kennt nur Gott diese Tatsache und ob solch eine Entsprechung in der Tat besteht oder nicht, verndert unsere Konzeption der Wahrheit nicht. 34 Ich werde zudem in 8.4.2 – Dummett entgegen – dahingehend argumentieren, dass der Anti-Realismus auch mit folgender These („Determinationsthesis“) vertrglich ist: Der Wahrheitswert jeder Aussage ist bereits vor aller tatschlichen Durchfhrung unserer Erkenntnis durch davon unabhngige Faktoren determiniert.
1.2 Dummetts Formulierung anhand der Wahrheitskonzeption
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gengend dafr, dass man nicht ohne weiteres behaupten kann, dass der Anti-Realismus zu einer solchen katastrophalen Konsequenz fhren muss. Wenn man sich so viel vor Augen hlt, drfte man sich wohl fragen, was fr eine „realistische“ Ansicht dann vom Anti-Realismus verneint wird. Ich mçchte hier wiederum betonen: Der Unterschied zwischen Realismus und Anti-Realismus besteht gerade darin, dass der letztere die Verifizierbarkeit fr konstitutiv fr die Wahrheit selbst hlt. Der Anti-Realismus schließt daher die verifikationstranszendente Wahrheitskonzeption jeder Art begrifflich aus. Was den Anti-Realismus auszeichnet, ist diese enge Verknpfung der Wahrheit (bzw. Wirklichkeit) mit epistemischen Momenten auf unserer Seite. Es gilt allerdings, dass der Unterschied zwischen Realismus und AntiRealismus nicht in den Vordergrund tritt, sofern es um sogenannte „entscheidbare (decidable)“ Aussagen geht. Diese sind Aussagen, fr die es bis jetzt schon festgestellt worden ist, dass wir dazu fhig sind, sie entweder zu verifizieren oder zu falsifizieren. Diejenigen Aussagen, fr welche dies bis jetzt noch nicht festgestellt worden ist, werden hingegen „unentscheidbare (undecidable)“ Aussagen genannt („unentscheidbar“ bedeutet hierbei nicht etwa „absolut unentscheidbar“).35 – Daraus gewinnt man folgende methodische Lehre: Bei der Analyse einzelner anti-realistischer Theorien muss vor allem bercksichtigt werden, wie unentscheidbare Aussagen in ihnen behandelt werden. Dummett fhrt drei typische Sorten fr solche Aussagen an: (a) Aussagen mit dem subjunktiven Konditional, (b) Aussagen ber die weit entfernte Vergangenheit und (c) Aussagen mit der Quantifikation ber unendliche Totalitten (vgl. Dummett 1976, S. 60 und 1991, S. 315). Fr die nachfolgende Untersuchung besonders wichtig sind Aussagen vom 35 Zu beachten ist, dass „entscheidbar/unentscheidbar sein“ ein zeit-relatives Prdikat ist. Es ist nmlich mçglich, dass eine Aussage zurzeit nicht, aber in der Zukunft (z. B. durch Erfindung einer neuen Messtechnik) entscheidbar wird. Dies gilt nicht fr das Prdikat „verifizierbar sein“ in manchen Versionen des Anti-Realismus („zeit-neutrale Versionen“; vgl. 7.1.1). Vgl. Shieh 1997 fr eine weitere Przisierung des Begriffs „Entscheidbarkeit“. Ich stelle hier vier Beispiele vor, die im Nachfolgenden mehrmals verwendet werden: (1) „1000010000+1 ist eine Primzahl“ ist eine Aussage, die wohl bis jetzt weder verifiziert noch falsifiziert worden, dennoch entscheidbar ist. (2) Goldbachs Vermutung („Jede gerade Zahl ist die Summe von zwei Primzahlen“) ist ein typisches Beispiel fr (im Jahr 2011 noch) unentscheidbare Aussagen. (3) Fermats letztes Theorem (das im Jahr 1994 von Andrew Wiles bewiesen wurde) ist ein Beispiel, das lange unentscheidbar blieb, es aber jetzt nicht mehr ist. (4) „Whrend Csar den Rubikon berschritt, nieste er dreimal“ ist hingegen ein Beispiel, das damals wohl entscheidbar war, es aber jetzt nicht mehr ist.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Typ (c), vor allem Aussagen ber mçglicherweise unendliche Gegenstnde wie „die Welt“, von denen Kants Antinomienlehre handelt. Es wurde oben herausgestellt, dass das ontologische Problem, das fr die Realismusdebatte relevant ist, und dasjenige der Wahrheitskonzeption derart miteinander zusammenhngen, dass das erstere durch die quivalenzthese zu dem letzteren paraphrasiert wird. Dies ruft folgende Frage hervor: Worin liegt dann die Pointe einer neuen Realismusformulierung, wenn sie nur eine quivalente Paraphrase der ontologischen ist? Dummetts eigene Absicht ist, die traditionelle Realismusdebatte als Debatte um die allgemeine Bedeutungstheorie zu verstehen. Dies korrespondiert aber nicht mit meiner Absicht, weil es in der vorliegenden Abhandlung nicht um die Bedeutungstheorie geht. Ich begrnde die Bedeutsamkeit der dummettschen Begrifflichkeit vielmehr in der Hinsicht ihrer Anwendung fr die Kant-Interpretation. Kant ist der Ansicht, dass raumzeitliche Gegenstnde – zumindest ihre raumzeitlichen Eigenschaften – in irgendeinem Sinn subjektabhngig sind; dies drfte wohl von den meisten Kant-Interpreten (außer radikal realistischen Interpreten wie Rae Langton; vgl. unten, 3.1, Anm. 105) zugestanden werden. Es kommt daher bei der Auslegung des TrI darauf an, den Gehalt der hierbei gemeinten „Subjektabhngigkeit“ korrekt und przise festzustellen.36 Fr diese Aufgabe ist es ratsamer, die Wahrheit der Aussagen zu analysieren als die Existenz der Gegenstnde. Gerade aus diesem Grund zogen Phnomenalisten des letzten Jahrhunderts (wie Carnap und Ayer) vor, anstatt rumliche Gegenstnde auf Sinnesdaten, vielmehr Aussagen ber Erstere auf Aussagen ber Letztere zurckzufhren. Ich fhre hier zwei Beispiele an: (1) Damit wird die bikonditionale Darstellung einer realistischen oder anti-realistischen Position verfgbar. Dies erlaubt mit der Unterscheidung zwischen der Verifikationsunabhngigkeit und der Verifikationstranszendenz zusammen, den Gehalt der fraglichen Positionen – nicht nur Kants eigener, sondern auch der ihm von Interpreten zugeschriebenen Positionen – przise zu analysieren. 36 Damit meine ich nicht, dass die ontologische Formulierung generell unprzise ist. Devitt 1991 und Willaschek 2003 zeigen in berzeugender Weise, dass der Realismus damit przise definiert wird. Ihre Realismusformulierungen fhren jedoch dazu, jede Position, die die Subjektabhngigkeit der Gegenstnde in irgendeinem Sinne anerkennt, automatisch zum Anti-Realismus zu zhlen. Sie sind also fr die Kant-Interpretation nicht geeignet.
1.3 Realismusdebatte und Bivalenzprinzip
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(2) Man kann sich eine anti-realistische Position vorstellen, die besagt: „Ein Gegenstand existiert gdw. sein Existenz bis jetzt erkannt worden ist“. Wie verhlt sie sich zu dem Fall, dass bis jetzt weder die Existenz noch die Nicht-Existenz des Gegenstandes erkannt worden ist? In derartigen Fllen erweist sich die wahrheitskonzeptionelle Begrifflichkeit als besonders ntzlich. Mit ihr wird diese Position folgendermaßen przisiert: „Eine Aussage ist wahr gdw. sie bis jetzt verifiziert worden ist“; in diesem Fall werden Aussagen, die bis jetzt weder verifiziert noch falsifiziert worden sind, als „weder wahr noch falsch“ bewertet. – Allerdings ist diese Position nicht es, was ich in Kapitel 7 als mçgliche Option fr Kants TrI qualifiziere, sie ist aber von verschiedenen Versionen des Anti-Realismus die am leichtesten formulierbare. Um raffiniertere Versionen auszuarbeiten, ist eine noch subtilere und sorgfltigere berlegung erforderlich, die anhand des ontologischen Vokabulars unmçglich wre. Es ist fr die Kant-Interpretation ohnehin von großem Belang, dass mithilfe der wahrheitskonzeptionellen Formulierung der Terminus „Realismus“ genau definiert wird. Dieser ist bei manchen Kant-Interpreten, die den „Realismus“ oder „Idealismus“ besprechen, unprzise gelassen, was manche Verwirrungen in der interpretatorischen Debatte verursacht. Ihm eine genaue Bestimmung zu verleihen, ist also schon fr sich allein eine nicht ignorierbare exegetische Ntzlichkeit der dummettschen Begrifflichkeit. Aus diesen Grnden verwende ich die dummettsche Begrifflichkeit bei der nachfolgenden Kant-Interpretation. Kant selbst bespricht jedoch meistens nicht gerade die Wahrheit der Aussagen sondern vielmehr die Existenz der Gegenstnde in Raum und Zeit. Ich gebrauche demnach fortan auch den Terminus „Realismus/Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde“. Man beachte, dass er mit der Bezeichnung „Realismus/AntiRealismus der Aussagen ber raumzeitliche Gegenstnde“ austauschbar ist. 1.3 Realismusdebatte und Bivalenzprinzip In diesem Abschnitt geht es um das Verhltnis zwischen dem oben definierten Realismus/Anti-Realismus und dem sogenannten „Bivalenzprinzip“. Entgegen manchen von Dummetts Darstellungen ist es eigentlich nicht der Fall, dass der Realismus/Anti-Realismus jeweils die Akzeptanz/ Ablehnung des Bivalenzprinzips impliziert. Gleichwohl besteht dazwischen ein nicht zu ignorierender Zusammenhang. Diese Einsicht ist meines
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Erachtens einer der grçßten Beitrge Dummetts zur Philosophie und ist zudem auch in der Kant-Interpretation beachtenswert. Das Bivalenzprinzip (oder „Prinzip der Bivalenz“) lautet wie folgt: Jede Aussage ist entweder als wahr oder als falsch bestimmt. Das ist ein Grundprinzip fr die Standard-Logik, die man im Logik-Kurs zuerst lernt, nmlich fr die klassische Logik mit der klassischen Semantik.37 Dies bedeutet aber nicht, dass das Bivalenzprinzip eine bloße „Voraussetzung“ ist, die ein logisches System rein konventional als Axiom aufstellen kann. Es beruht vielmehr auf unserem vortheoretischen Grundverstndnis der Wirklichkeit, dass jeder Sachverhalt entweder besteht oder nicht besteht. Daher trgt die Infragestellung dieses Prinzips meistens die Last des Kontraintuitiven. Hierbei sind folgende Punkte anzumerken: (1) Ich verstehe das Bivalenzprinzip fortan derart, dass es auf eine bestimmte strittige Klasse bezogen ist (so wie Realismus/Anti-Realismus), und nicht als Prinzip, das fr Aussagen jeder Art unterschiedslos gelten soll. (2) Das Bivalenzprinzip als solches hat keine erkenntnistheoretische Implikation wie „Man kann fr jede Aussage (der strittigen Klasse) erkennen, dass sie wahr bzw. falsch ist“. – Wenn es aber im Rahmen der antirealistischen Wahrheitskonzeption verstanden wird (und nur dann), wird es, wie gleich gezeigt wird, um eine solche Implikation erweitert. (3) Das Bivalenzprinzip besagt nicht nur, dass die Anzahl mçglicher Wahrheitswerte zwei ist (nmlich „Wahr“ und „Falsch“), sondern berdies noch, dass der Wahrheitswert jeder Aussage bestimmt ist.38 Daraus geht 37 Die „klassische Logik“ ist nicht die Logik vor Frege; diese wird in der heutigen Literatur der Logik vielmehr „traditionelle Logik“ genannt. Unter der klassischen Logik versteht man alle Prdikatenlogiken, deren Theoremen mit denjenigen der Standard-Prdikatenlogik bereinstimmen. Die „klassische Semantik“ ist die Standard-Semantik fr die klassische Logik, die außer dem Bivalenzprinzip noch die Existenz-Prsupposition (dass nmlich alle Individuenkonstanten ihre Referenzobjekte haben) annimmt; aus der Ablehnung der letzteren ergibt sich die sogenannte „freie Logik“ (vgl. Lambert 1997), die von einigen Forschern auf die Kant-Interpretation angewandt wird (z. B. Brittan 1974, 1979 und Posy 1981). Es ist auch zu bemerken, dass die klassische Semantik kein definitorisches Moment fr die klassische Logik ist; es gibt nmlich einige nicht-klassische Semantiken fr die klassische Logik, die das Bivalenzprinzip nicht voraussetzen. 38 Gerade fr die Hervorhebung dieses Punktes habe ich die obige Formel ausgewhlt statt der blichen: „Jede Aussage ist entweder wahr oder falsch“. Dummetts Formel des Bivalenzprinzips lautet: „Every statement is determinately true or false“. Damit
1.3 Realismusdebatte und Bivalenzprinzip
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hervor, dass die Ablehnung des Bivalenzprinzips nicht notwendigerweise zur Einfhrung eines zustzlichen Wahrheitswertes (wie „Weder-wahrnoch-falsch“) fhrt. Ein Beispiel dafr – und das ist fr Dummett besonders wichtig – ist die intuitionistische Logik.39 (4) Man verwechsle das Bivalenzprinzip nicht mit dem Satz des Widerspruchs. In manchen alternativen Logiken, z. B. in der intuitionistischen Logik wiederum, kann Ersteres nicht von Letzterem abgeleitet werden (obwohl das Umgekehrte natrlich gilt).40 Es liegt nun auf den ersten Blick nahe, dass Realismus und Anti-Realismus zur Akzeptanz bzw. Ablehnung des Bivalenzprinzips fhren. Ich exemplifiziere dies anhand der Realismusdebatte zwischen „Platonismus“ und „Intuitionismus“ in der Mathematik. Platonisten, die aufseiten des Realismus stehen, nehmen an, dass mathematische Gegenstnde von unserer Erkenntnis vçllig unabhngig „an sich“ existieren. Demgemß ist eine mathematische Aussage genau
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wird das Moment der Bestimmtheit des Wahrheitswerts mit der Qualifikation „determinately“ ausgedrckt; vgl. ders. 1991, S. 75 – 81. 39 Der Grund ist, dass die intuitionistische Logik trotz der Ablehnung des Bivalenzprinzips doch zugesteht, dass keine Aussage weder wahr noch falsch sein kann. Es ist aber nicht ganz unumstritten, wie dies im Rahmen der intuitionistischen Wahrheitskonzeption ausgefhrt wird. Dieses Thema werde ich im Appendix erçrtern. 40 Brittan 1974 suggeriert aber, dass diese Verwechselung in der Tradition der Philosophie vielmehr blich war. Das Bivalenzprinzip wird in der heutigen Logik noch vom Satz vom ausgeschlossenen Dritten („Jede Aussage der Form „A{ A“ sei wahr“) unterschieden. Ein Grund dafr ist, dass es einige alternative Semantiken gibt, die jenes verneinen, diesen jedoch bejahen (z. B. „supervaluation-semantics“ la van Fraassen 1966 und 1968). Da aber dieser Unterschied fr die folgende Kant-Interpretation nicht relevant ist, lasse ich ihn außer Acht. In Mechtenberg 2006 findet man ein berraschendes Missverstndnis des Bivalenzprinzips. Sie formuliert das Bivalenzprinzip folgendermaßen: „Es kann keine sinnvolle Aussage geben, die weder wahr noch falsch ist“ (S. 26). Ihre nachfolgende Diskussion (vgl. auch ibid., S. 100) zeigt, dass sie darunter versteht, dass Aussagen, die weder wahr noch falsch sind, sinnlos sind; sie denkt nmlich, dass das Bivalenzprinzip ein Kriterium der Sinnhaftigkeit der Aussagen liefern soll. Dieses Missverstndnis fhrt ihre Charakterisierung sowie Kritik des „semantischen AntiRealismus“ zu einer katastrophalen Verwirrung. Dagegen muss festgehalten werden, dass das Bivalenzprinzip nichts damit zu tun hat, so etwas wie „Kriterien der Sinnhaftigkeit“ anzubieten. (Bei der Rede von „Aussagen“ in der Logik ist vielmehr vorausgesetzt, dass Aussagen sinnvoll sind.)
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dann wahr, wenn es eine derart „an sich“ bestehende Tatsache gibt, die sie aussagt; sonst falsch. Das Bivalenzprinzip ist hier eher selbstverstndlich. Bei Intuitionisten verhlt es sich anders: Sie nehmen anti-realistisch an, dass mathematische Aussagen nur insofern wahr sind, als sie fr uns Menschen mit allenfalls endlicher Fhigkeit beweisbar sind. Die Falschheit wird nun im Allgemeinen wie folgt definiert (wie blich in heutigen alternativen Logiken): Eine Aussage ist falsch gdw. ihre Negation wahr ist.41 (Ich sage demgemß, eine Aussage werde „falsifiziert (widerlegt)“, wenn ihre Negation verifiziert (bewiesen) wird.) Dann wird das Bivalenzprinzip nicht mehr zu Recht vertretbar, geschweige denn als ein semantisches Prinzip vorausgesetzt. Denn das Bivalenzprinzip wrde nach der antirealistischen Wahrheitskonzeption des Intuitionismus bedeuten, dass jede mathematische Aussage entweder beweisbar oder widerlegbar sei, wofr wir natrlich keine Garantie haben.42 Intuitionisten kçnnen folglich das Bivalenzprinzip allenfalls fr entscheidbare Aussagen (vgl. oben, 1.2) einrumen. Der oben suggerierte Zusammenhang zwischen dem Realismus/AntiRealismus und der Akzeptanz/Ablehnung des Bivalenzprinzips ist aber nicht so strikt wie ein quivalenzverhltnis. Es sind nmlich sowohl realistische Positionen ohne Bivalenzprinzip als auch anti-realistische Positionen mit diesem denkbar. Ein Beispiel fr die ersteren ist Strawsons sogenannte „Prsuppositionstheorie“ (vgl. ders. 1950 und 1952, Kap. 6). Ihr gemß ist z. B. die Aussage „Der Kçnig von Frankreich im Jahr 1950 hatte eine Glatze“ weder wahr noch falsch. Dieser Umstand hat aber Strawsons Ansicht nach nichts mit dem Anti-Realismus zu tun. Jede
41 Man mag sich fragen, ob diese Definition nicht zirkulr ist, weil der Negationsoperator blicherweise (z. B. in Einfhrungstexten zur Logik) anhand der Falschheit definiert wird (wie in einer „Wahrheitstafel“). Dagegen ist zu beachten, dass dergleichen nur unter der Annahme der wahrheitsfunktionalen Semantik der aussagenlogischen Konstanten mçglich ist. Bei der Diskussion um alternative Logiken bedarf es einer neutralen Definition der Falschheit, die die wahrheitskonditionale Semantik nicht voraussetzen muss. 42 Die intuitionistische Ablehnung des Bivalenzprinzips wird nicht dadurch begrndet, dass es einige weder beweisbare noch widerlegbare Aussagen gibt, sondern vielmehr dadurch, dass das Bivalenzprinzip – im intuitionistischen Rahmen verstanden – nicht vertretbar ist; vgl. unten, 7.3.3 (B).
1.3 Realismusdebatte und Bivalenzprinzip
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Aussage soll nmlich unabhngig von unserer Erkenntnis entweder wahr, falsch oder weder wahr noch falsch sein. Die Mçglichkeit der zweiten Positionen verdient eine nhere Betrachtung. Die obige Diskussion weist darauf hin, dass die intuitionistische Ablehnung des Bivalenzprinzips zumindest so weit zu verallgemeinern ist: Das Bivalenzprinzip ist aus Perspektive des Anti-Realismus inakzeptabel, es sei denn, dass von vornherein garantiert wird, dass jede Aussage der strittigen Klasse entweder verifizierbar oder falsifizierbar ist. Dies spricht aber zugleich fr Folgendes: Wird eine solche Garantie irgendwie erreicht, wird das Bivalenzprinzip auch anti-realistisch legitimiert. Dergleichen kçnnte z. B. folgendermaßen realisiert werden: (1) Es ist mçglich, die strittige Klasse derart einzuschrnken, dass sie nur entscheidbare Aussagen beinhaltet; z. B. dadurch, statt der Klasse von Aussagen der elementaren Arithmetik berhaupt, deren Subklasse von quantorfreien Aussagen43 zur strittigen Klasse zu machen. – Diese Strategie ist nur dann anwendbar, wenn solch eine Einschrnkung nicht zu einer wesentlichen Deformation der thematisierten anti-realistischen Position fhrt. (2) Es mag durch erkenntnistheoretische bzw. ontologische Untersuchung festgestellt werden, dass jede Aussage der strittigen Klasse, zumindest im Prinzip, entscheidbar ist; wie z. B. in der Annahme des „laplaceschen Dmons“. – Diese Strategie hngt davon ab, dass dergleichen in der Tat bewiesen wird, was in jedem Fall eine schwierige Aufgabe ist. (3) Man kçnnte auch den Sinn des Terminus „verifizierbar“ derart abschwchen, dass jede Aussage der strittigen Klasse als entscheidbar qualifiziert wird; z. B. indem man ihn folgendermaßen stipuliert: „Es ist verifizierbar, dass p“ heiße „Man wrde verifizieren, dass p, wenn man in idealer Erkenntnislage wre, in der alles prinzipiell Erkennbare vollstndig erkannt wrde“ (die peircesche Version; vgl. 7.1.2). – Diese Strategie ist nur dann erfolgreich, wenn der so stipulierte Sinn sowohl immanent konsistent als auch der thematisierten anti-realistischen Position angemessen ist. Die Kombination von Anti-Realismus und Bivalenzprinzip ist also nicht absolut unmçglich. 43 Zum Beispiel Aussagen der Form „a + b = c“. Jedoch sind alle mathematisch interessanten Aussagen eigentlich quantorhaft (wie Goldbachs Vermutung).
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Diese berlegung legt das Augenmerk zugleich auf einen noch wichtigeren Punkt: Um das Bivalenzprinzip im Rahmen des Anti-Realismus zu legitimieren, ist eine besondere Strategie nçtig, die ihrerseits einer berzeugenden Begrndung bedarf. Das bedeutet: Das Bivalenzprinzip ist im Rahmen des Anti-Realismus inakzeptabel, es sei denn, dass irgendein besonderer Grund dagegen vorgegeben wird. Das Parallele gilt auch fr Realismus: Er muss das Bivalenzprinzip akzeptieren, es sei denn, dass es irgendeinen besonderen Grund dagegen gibt. Gerade darin besteht die wesentliche Einsicht Dummetts ins Verhltnis zwischen Realismusdebatte und Bivalenzprinzip. Dass Realismus/AntiRealismus jeweils zur Akzeptanz/Ablehnung des Bivalenzprinzips fhrt, ist nmlich die Grundtendenz. Diese ist zwar nicht so strikt wie ein quivalenzverhltnis, hat aber insofern einen Vorrang, als jede Abweichung von ihr eine besondere Begrndung erfordert. Mit anderen Worten: Sie ist respektabel in dem Sinn, dass es unvernnftig ist, sie ohne besonderen Grund in Zweifel zu ziehen. Daraus kann man eine Lehre ziehen, die auch fr die Kant-Interpretation ratsam ist. Sie lautet: Das Vorurteil, die formale Logik sei ein absolut themenneutrales Medium des Denkens, muss abgeschafft werden; sie mag von Hause aus wohl eine bestimmte Ontologie (bzw. Wahrheitskonzeption) implizieren. Es steht außer Zweifel, dass Kant selbst in diesem Vorurteil befangen ist. Es ist jedoch eben bei der Analyse seines Gedankengangs erforderlich, mit diesem Vorurteil umsichtig umzugehen. Denn eine blinde Voraussetzung der traditionellen Logik mit Bivalenzprinzip fhrt mçglicherweise dazu, Kants ontologische berlegung, die – wenn ich dabei Recht habe – anti-realistisch geprgt ist, grundstzlich zu verkennen. Das lsst sich z. B. an der Untersuchung von Kants Antinomienlehre in Kapitel 7 sehen. 1.4 Weitere Bemerkungen In diesem Abschnitt zhle ich zunchst vier Punkte auf, die in Bezug auf die oben definierte dummettsche Formulierung des Realismus/Anti-Realismus zu beachten sind. Am Ende erçrtere ich die fr die vorliegende Abhandlung wichtige Unterscheidung zwischen der ontologischen und der erkenntnistheoretischen Fragestellung. (A) Anti-Realismus im dummettschen Sinn kçnnte wegen seiner Wahrheitskonzeption wohl „Verifikationismus“ genannt werden. Diese Be-
1.4 Weitere Bemerkungen
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zeichnung ist aber irrefhrend, denn sie erinnert an das sogenannte „Verifikationsprinzip der kognitiven Bedeutung“ von ehemaligen logischen Positivisten (oder an Strawsons „principle of significance“; vgl. ders. 1966, S. 16 f.), das lautet: Aussagen, fr die keine Verifikationsmethode verfgbar sei, seien sinnlos. Mit dergleichen darf der Anti-Realismus im dummettschen Sinne nicht verwechselt werden.44 Bei Dummett ist davon keine Rede, solch ein Kriterium fr die Sinnhaftigkeit/-losigkeit vorzuschlagen. (B) Ich habe den Anti-Realismus als Ablehnung des Realismus definiert, und demgemß kann zwischen Realismus und Anti-Realismus keine mittlere Position bestehen. D.h. alle philosophischen Positionen, die die realistische Wahrheitskonzeption ablehnen (ohne dabei die Wahrheitsfhigkeit der Aussagen der strittigen Klasse zu verneinen; vgl. oben, Anm. 29), werden insgesamt zum „Anti-Realismus“ im oben definierten dummettschen Sinn klassifiziert, also auch so etwas wie der „Pragmatizismus“ von C. S. Peirce und der „interne Realismus“ von Hilary Putnam. Manche Forscher (insbesondere Kritiker von Dummett) identifizieren den dummettschen Anti-Realismus mit irgendwelchen spezifischen Varianten des Anti-Realismus, die Dummett in seinen Schriften vereinzelt aufgreift (und gegebenenfalls verteidigt), und hufig besonders mit denjenigen, bei welchen die subjektivistische Tendenz auffllig ist, wie z. B.: „Aussagen kçnnen nicht wahr sein, wenn sie nicht jetzt fr uns in praxi verifizierbar sind“.45 Man halte aber fest, dass dergleichen nicht mit dem „Anti-Realismus“ im Sinne der vorliegenden Abhandlung identisch ist. (C) Der sogenannte Phnomenalismus ist, sofern er die realistische Wahrheitskonzeption ablehnt (was allerdings bei seinen Vertretern nicht immer eindeutig ist), eine Variante des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. Meine anti-realistische Interpretation des TrI weist also eine 44 Eine derartige Verwechselung findet man in der Kant-Literatur in der Tat; vgl. z. B. Clark 1985 und Mechtenberg 2006, S. 26 f. 45 Beispiele in der Kant-Literatur sind Blatnik 1994, Wyller 1997 und Abela 2002, und aufgrund dieser Identifizierung konkludieren sie, dass Kants TrI kein AntiRealismus im dummettschen Sinn ist. Sie lehnen sich dabei vermutlich an einige einflussreiche Schriften von Hilary Putnam (z. B. ders. 1983, „Preface“ und Kap. 4) an. (Vgl. aber dagegen Davidson 1988, S. 187.) Dabei bersehen sie, dass ein Kardinalfall des Anti-Realismus bei Dummett der mathematische Intuitionismus ist; dieser kann anerkennen, dass Goldbachs Vermutung wahr sein kann, obwohl wir sie jetzt nicht effektiv beweisen kçnnen.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Verwandtschaft mit der sogenannten phnomenalistischen Interpretation auf; den Unterschied klre ich in 2.2 (A). Es ist aber zu beachten, dass das Umgekehrte nicht gilt; der Anti-Realismus muss nicht unbedingt ein Phnomenalismus sein (vgl. z. B. Dummett 1963, 1982 und 1991, Kap. 15). Phnomenalismus wird in der heutigen Kant-Literatur manchmal als eine hoffnungslos unattraktive Position karikiert, insbesondere von Kritikern der phnomenalistischen Interpretation. Da diese Karikatur auch die Leser beim Verstndnis des Anti-Realismus negativ beeinflussen mag, halte ich es fr ratsam, sie an dieser Stelle nachhaltig zurckzuweisen. Phnomenalismus hat verschiedene mçgliche Varianten und fr seine gegenwrtigen Varianten (die auch die heutigen phnomenalistischen Interpreten dem TrI zuschreiben) gilt nicht, rumliche Dinge mit Empfindungen bzw. Sinnesdaten einfach gleichzusetzen (geschweige denn zu sagen, dass raumzeitliche Gegenstnde nicht existieren, wenn sie von niemandem beobachtet werden).46 Eine typische Variante (wie die von Carnap 1928 oder Ayer 1936) behauptet, dass Aussagen ber rumliche Dinge auf Aussagen ber Sinnesdaten zu reduzieren sind, und zwar, indem dabei auch die Verwendung des kontrafaktischen Konditionals erlaubt wird.47 Demgemß werden rumliche Dinge als „logische Konstrukte“ aus mentalen Entitten (wie Empfindungen oder Sinnesdaten) oder (wie bei Van Cleve) aus mentalen Zustnden aufgefasst. Es gibt auch eine andere Variante, die sie vielmehr als „intentionale Objekte“ charakterisiert (vgl. Aquila 1975, 1982, 1983 und Robinson 1996).48 46 Dieser Punkt wurde schon von Ayer ausdrcklich betont; vgl. ders. 1941, Kap. 5 (vor allem S. 231 f.); vgl. auch Bennett 1966, S. 127 f. Angesichts dessen ist es erstaunlich, dass dieser Punkt immer noch weitgehend ignoriert ist; vgl. z. B. Allais 2004, S. 663 f. und 2007, S. 460 f. (in Bezug darauf, vgl. auch unten, Kap. 6, Anm. 307) und Ameriks 2006, S. 79 ff. – Außerdem missreprsentiert Ameriks dort auch Van Cleves Unterscheidung zwischen dem „ontological“ und dem „analytical phenomenalism“. Ameriks denkt nmlich, dass sich die beiden an der direkten Reduktion rumlicher Gegenstnde auf mentale Entitten (ob nun wirkliche oder mçgliche) beteiligen; vgl. ibid., S. 80. Bei Van Cleve ist es aber wichtig, dass dies nur fr den „ontological phenomenalism“ gilt; vgl. ders. 1999, S. 71, 123 u. a. Ameriks bersieht, oder zumindest unterschtzt, diese fr den gegenwrtigen Phnomenalismus zentral wichtige Unterscheidung. 47 Vgl. folgende Darstellung Michael Friedmans: „[T]o say that there are inhabitants on the moon is simply to say that if I were put in the proper circumstances, I would obtain the relevant sense experiences“ (ders. 1995, S. 606). 48 Allison unterscheidet „collections of sense data“ und „logical constructs out of sense data“; vgl. ders. 1984, S. 30. Ich hege doch Zweifel, ob er diesen Unterschied
1.4 Weitere Bemerkungen
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An dieser Stelle sollte auch Van Cleves Unterscheidung zwischen „traditional idealism“ (der den Phnomenalismus in sich einschließt) und „contemporary antirealism“, die in ders. 1999, S. 12 – 4 vorgeschlagen wird, kurz betrachtet werden. Van Cleve zufolge betrifft der „idealism“ die „mind-dependence“, der „antirealism“ hingegen die „evidence-dependence“. Die erstere besagt, dass die Wirklichkeit eines Gegenstandes von mentalen Akten abhngt, die nicht unbedingt von anderen Subjekten und zu anderen Zeiten erkennbar sein mssen; die letztere bedeutet hingegen, dass die Wirklichkeit eines Gegenstandes von der Existenz der zurzeit verfgbaren Zeugnisse dafr abhngt, die nicht unbedingt einen mentalen Charakter haben mssen. Demzufolge werden z. B. Tatsachen ber gegenwrtige mentale Zustnde von Anderen oder ber vergangene eigene mentale Zustnde mçglicherweise als „mind-dependent“ aber nicht „evidence-dependent“ qualifiziert. Zu bemerken ist, dass der „idealism“ in diesem Sinne meiner Definition zufolge als eine spezifische Variante des Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde 49 zu klassifizieren ist, denn er behauptet ohnehin, dass die Existenz rumlicher Gegenstnde von unseren mentalen Akten, nmlich unseren Erkenntnissen, abhngig ist. Ich finde es sachgemß adquat, den Anti-Realismus derart als umfassende Position zu charakterisieren, denn Van Cleves „idealism“ stellt sich ohnehin dem Realismus im blichen Sinne entgegen. – Es ist aber eine andere Frage, ob Van Cleves partikulare Version des Anti-Realismus fr Kants TrI adquat ist. Meine Antwort fllt negativ aus (vgl. unten, 7.3.2). (D) Der Gegensatz vom Realismus/Anti-Realismus ist zwar nicht vçllig losgelçst von der traditionellen Thematik der Wahrheitstheorien wie richtig verstanden hat, wenn ich sehe, dass er gegen die phnomenalistische Interpretation Folgendes sagt: „Sensible intuitions are, indeed, „mere representations,“ but we must not conflate what we intuit (the phenomenal object) with our intuition of it. Moreover, this is true even though Kant himself frequently insists that the object represented is nothing apart from our representation of it. The point of such locution is not to identify, in phenomenalistic fashion, the object represented with a given set of representations; [. . .]“ (ders. 1987, S. 159; vgl. auch ibid., S. 157). Gegenwrtige Phnomenalisten kçnnen die Unterscheidung zwischen „what we intuit“ und „intuition of it“ natrlich anerkennen; das logische Konstrukt oder das intentionale Objekt ist eben ein Instrument dafr. – In Allisons Kritik an der phnomenalistischen Interpretation findet sich noch eine andere Merkwrdigkeit; vgl. unten, 6.1, Anm. 325. 49 Dieser „idealism“ vertritt aber einen Realismus hinsichtlich mentaler Akte; dieser Umstand wird in 7.3.2 erklrt.
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Kapitel 1 Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit
Korrespondenz-/Kohrenztheorie oder Deflationismus (bzw. Minimalismus) usw., er steht jedoch nicht in einem direkten Zusammenhang dazu. Der Deflationismus verhlt sich freilich neutral zum Realismus/AntiRealismus, weil er eben behauptet, dass das Konzept der Wahrheit, um das allein es sich in der Wahrheitstheorie eigentlich handeln soll, von der quivalenzthese ausgeschçpft wird, so dass es per se keine ontologische Implikation hat. Er rumt zwar ein, dass man weiterhin fragt, ob z. B. mathematische Aussagen unabhngig von unserer Beweisfhigkeit wahr sein kçnnen oder nicht, aber ihm zufolge gehçrt diese Fragestellung nicht zur Problematik der Wahrheitstheorie als solcher (vgl. Paul Horwichs Kritik an Dummett in ders. 1996; auch ders. 1998, S. 52 – 60). In Rcksicht darauf benutzte ich in 1.2 den Terminus „Wahrheitskonzeption“ statt „Wahrheitskonzept“ (bzw. „-begriff“), um die dummettsche Realismusformulierung darzulegen.50 Whrend die Korrespondenztheorie gut mit dem Realismus harmoniert, ist die Kohrenztheorie mit ihm nicht vereinbar, weil diese die Wahrheit als Kohrenz mit dem ganzen System der berzeugungen charakterisiert und somit die kohrent zusammenhngenden Erkenntnisse als konstitutiv fr die Wahrheit ansieht.51 Ob die Korrespondenztheorie mit dem Anti-Realismus unvertrglich ist, hngt davon ab, was man unter ihr genau versteht. Ich werde dieses Thema in 2.3 (D) erçrtern und zeigen, dass einige Varianten der Korrespondenztheorie anti-realistisch akzeptabel sind.52 Wichtig ist außerdem der Unterschied zwischen der Fragestellung des Realismus/Anti-Realismus und derjenigen der Korrespondenz-/Kohrenztheorie. Die erstere Fragestellung fokussiert sich primr darauf, ob die Wahrheit unabhngig von unserer Erkenntnis ist oder nicht, und sagt hierbei nichts darber aus, ob sie in der Korrespondenz oder in der Kohrenz oder in Sonstigem besteht. Die erstere Problematik kann daher
50 Diese Idee habe ich von Wright 1999 bernommen. Er unterscheidet zwischen „project of analysis of the concept of truth“ (von dem der Deflationismus handelt) und „debate about the structure and objectivity of the property of truth“ (ibid., S. 261) und verwendet den Terminus „conception of truth“ in Bezug auf die letztere Fragestellung, an der auch die dummettsche Realismusdebatte beteiligt ist. 51 Fr Details, vgl. Walker 1989a, Kap. 1 und Kirkham 1992, Abschnitt 3.5. 52 Walker identifiziert den Anti-Realismus mit einer radikalen Variante der Kohrenztheorie der Wahrheit („pure coherence theory“); vgl. ders. 1989a, Kap. 1. Diese Gleichsetzung wird von Wright 1995, meines Erachtens zu Recht, zurckgewiesen.
1.4 Weitere Bemerkungen
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zunchst abgetrennt von der letzteren (und umso mehr davon, ob der Deflationismus im Recht ist oder nicht) erçrtert werden. (E) Zuletzt mçchte ich die im Nachfolgenden besonders wichtige Unterscheidung zwischen der wahrheitskonzeptionellen und der erkenntnistheoretischen Fragestellung hervorheben. In 1.2 wurde gezeigt, dass die (fr die Realismusdebatte relevante) ontologische Fragestellung und die wahrheitskonzeptionelle durch die quivalenzthese zueinander paraphrasiert werden kçnnen. Auch die Erkenntnistheorie hngt mit diesen zwei gewissermaßen zusammen, aber dieser Zusammenhang ist nicht direkt. Ich klre zunchst, worin dieser Zusammenhang besteht.53 Der Common-Sense (d. h. unser vortheoretisches Grundverstndnis der Wirklichkeit) besitzt ein besonderes theoretisches Primat. Je weitergehend ein philosophisches System von ihm abweicht, desto unplausibler wird es. Es ist also philosophisch wnschenswert, mçglichst vielen berzeugungen des Common-Sense Rechenschaft geben zu kçnnen; sie drfen ohnehin nicht in Frage gestellt werden, es sei denn, dass es einen besonderen Grund dagegen gibt. Der Common-Sense schließt nun nicht nur die realistische Ontologie (somit auch die realistische Wahrheitskonzeption) ein, sondern auch die Annahme der Erkennbarkeit der Gegenstnde (vgl. oben, 1.1).54 Die beiden zu bejahen, mag sich aber vielleicht als unmçglich herausstellen. In diesem Fall kann man jede von beiden in Frage stellen. Im Common-Sense gibt es kein absolut privilegiertes Element, das von vornherein gegen diese Hinterfragung immun wren. Gerade deswegen kann die realistische Ontologie/Wahrheitskonzeption – wie selbstverstndlich sie immer aussehen mag – mit guten Grnden in Frage gestellt werden, falls sie die Annahme der Erkennbarkeit der Gegenstnde in fataler Weise aufzuheben droht. Dieser Zusammenhang berechtigt jedoch nicht zur Verwechslung, es besteht natrlich zwischen der wahrheitskonzeptionellen und der erkenntnistheoretischen Fragestellung ein offensichtlicher Unterschied. Die erstere handelt davon, was es bedeutet, dass eine Aussage wahr sei, die letztere hingegen davon, wie wir wissen kçnnen, dass eine Aussage wahr sei. Zu beachten ist, dass die Frage nach dem „Kriterium der Wahrheit“ (A58/ B82) ebenfalls zur Erkenntnistheorie gehçrt. Denn es handelt sich in ihr 53 Bei der folgenden Darstellung orientiere ich mich an Alexander Miller 2003; vgl. auch Khlentzos 2004, Kap. 1. 54 Alexander Miller fgt noch die wahrheitskonditionale Konzeption der Bedeutung hinzu; vgl. ibid., S. 207.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
gerade darum, wie wir wahre Aussagen von falschen im Kontext der Erkenntnis unterscheiden kçnnen. Der Unterschied zwischen den beiden Fragestellungen versteht sich von selbst, vermute ich. Indessen findet in der philosophischen Literatur die Verwechslung dazwischen leider nicht selten statt.55 Ich warne vor dieser Verwechslung gerade deswegen, weil sie die Gefahr birgt, dass man sich in dem Bereich, in dem es eigentlich um die antirealistische Wahrheitskonzeption geht, bloß mit der Frage nach dem „Kriterium der Wahrheit“ zufrieden gibt und dadurch die herkçmmliche realistische Wahrheitskonzeption im Endeffekt intakt lsst. Man muss also fr den betreffenden Unterschied sensibel sein, umso mehr, wenn von der anti-realistischen Wahrheitskonzeption die Rede ist.
Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation Auf der Basis der vorhergehenden Erluterung der dummettschen Begrifflichkeit besteht das Ziel dieses Kapitels darin, die Grundzge der antirealistischen Interpretation zu konkretisieren. In Abschnitt 2.1 zeige ich durch eine vorlufige Betrachtung von Kants Definition des TrI, dass dieser zwei auseinanderzuhaltende Sinnkomponenten hat, die ich „Idealitt der Formen“ und „Idealitt der Gegenstnde“ nenne. Dabei handelt meine anti-realistische Interpretation hauptschlich von dieser letzteren Idealitt. In 2.2 stelle ich die Vorgnger und Konkurrenten der anti-realistischen Interpretation dar, um im Vergleich dazu meine interpretatorische Position hervorzuheben. Schließlich greife ich in 2.3 sieben denkbare Einwnde gegen anti-realistische Interpretationen auf und entkrfte sie vorlufig. 55 Kirkham fhrt einige Beispiele an; vgl. ders. 1992, S. 27 f. und S. 352, Anm. 26. Diese Verwechslung findet man in der Kant-Literatur besonders hufig. Dies verdankt sich teilweise Kants eigener Darstellung. Seine Diskussion ber die Wahrheit in der Einleitung der Transzendentalen Logik (A57 – 62/B82 – 86) ist ein typisches Beispiel dafr. Dort fngt er mit der „Namenerklrung der Wahrheit“ an, geht aber sofort zum erkenntnistheoretischen Problem ber mit der ußerung, „[M]an verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei“ (A58/B82), als ob es mit der Wahrheitskonzeption als solcher kein nennenswertes Problem mehr gbe. Trotz allem kann eine derartige Verwechslung vonseiten der Interpreten nicht nachgesehen werden. Gerade um Kants Thesen und Argumentationen korrekt und genau zu begreifen, muss man sich den Unterschied zwischen den Fragestellungen klar machen, ja klarer, als Kant selbst es tat.
2.1 Idealitt der Formen und Idealitt der Gegenstnde
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2.1 Idealitt der Formen und Idealitt der Gegenstnde Kants eigene Definition des TrI und des TrR findet sich in folgenden zwei Textpassagen: „Ich verstehe aber unter dem transzendentalen Idealism aller Erscheinungen den Lehrbegriff, nach welchem [1] wir sie insgesamt als bloße Vorstellungen, und nicht als Dinge an sich selbst, ansehen, und demgemß [2] Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung, nicht aber fr sich gegebene Bestimmungen, oder Bedingungen der Objekte, als Dinge an sich selbst sind. Diesem Idealism ist ein transzendentaler Realism entgegengesetzt, der [2’] Zeit und Raum als etwas an sich (unabhngig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes ansieht. [1’] Der transzendentale Realist stellet sich also ußere Erscheinungen (wenn man ihre Wirklichkeit einrumt) als Dinge an sich selbst vor, die unabhngig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren, also auch nach reinen Verstandesbegriffen außer uns wren.“ (A369, Nummerierung von K.C.) „Wir haben in der transzendentalen sthetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im Raume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Vernderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegrndete Existenz haben. Diesen Lehrbegriff nenne ich den transzendentalen Idealism. Der Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus diesen Modifikationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistierende Dinge, und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst.“ (A490 f./B518 f.)
Daraus sind zunchst folgende zwei Punkte ersichtlich: (a) TrI und TrR sind in erster Linie Theorien ber raumzeitliche Gegenstnde. Mit anderen Worten: Die strittige Klasse der kantischen Realismusdebatte ist die Klasse raumzeitlicher Gegenstnde. Gerade deswegen charakterisiere ich den TrI nicht einfach als „Anti-Realismus“, sondern als „Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde“. (b) Der TrI ist nicht mit dem ganzen System der KdrV gleichzusetzen. Er ist vielmehr eine grundlegende Theorie, auf deren Basis Kant seine weiteren berlegungen (wie die Deduktion der Kategorien und die Auflçsung der Antinomien sowie des vierten Paralogismus) entwickelt.56 – Es ist jedoch nicht zu verneinen, dass der TrI den zentralen Grundstein der 56 Die KdrV beinhaltet auch Theoriestcke, die Kant ohne Rekurs auf den TrI begrndet, z. B. die der Unmçglichkeit der Gottesbeweise. Manche heutigen KantInterpreten behaupten zudem, dass einige Argumentationen, fr die Kant den TrI anscheinend verwendet, auch ohne Verweis auf diesen rekonstruierbar sind; vgl. unten, Anm. 67.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
kantischen Philosophie bildet, so dass die Interpretation desselben auf diejenige der KdrV im Ganzen einen wesentlichen Einfluss ausben muss. Ich gehe nun kurz auf den Gehalt der eben zitierten Textpassagen ein. Das erste Zitat weist darauf hin, dass sich Kants TrI in folgenden zwei Punkten vom TrR unterscheidet (wobei im zweiten Zitat nur der erste Punkt explizit erwhnt ist). Der erste Punkt betrifft raumzeitliche Gegenstnde: Whrend der TrR diese als „Dinge an sich selbst [. . .], die unabhngig von uns und unserer Sinnlichkeit existieren“, erachtet [1’], sind sie dem TrI nach „bloße Vorstellungen“ [1]. Der zweite Punkt handelt von Raum und Zeit selbst: Whrend der TrR diese als „etwas an sich (unabhngig von unserer Sinnlichkeit) Gegebenes“ erachtet [2’], sind sie dem TrI nach „nur sinnliche Formen unserer Anschauung“ [2], also etwas, was uns a priori innewohnt. Dies gilt nicht nur fr Raum und Zeit, sondern auch fr kategoriale Bestimmungen (d. h. diejenigen, welche mit den kantischen Kategorien vorgestellt werden), denn diese grnden laut Kant ebenfalls auf unserem (diskursiven) Verstand. Ich nenne fortan die oben genannten Sinnkomponenten des TrI „Idealitt der Gegenstnde“57 und „Idealitt der Formen“. Kants Darstellung in den obigen Zitaten legt nun folgende Deutung nahe: Der TrR ist die realistische Doktrin, dass raumzeitliche Gegenstnde „unabhngig von uns und unserer Sinnlichkeit“, nmlich unabhngig von unserer Erkenntnis, existieren. Dies ist „realistisch“ auch im dummettschen Sinne, denn demzufolge soll es fr die Wahrheit der Aussagen ber raumzeitliche Gegenstnde vçllig irrelevant sein, ob sie fr uns berhaupt verifizierbar sind oder nicht. Kants TrI, insbesondere das Moment der Idealitt der Gegenstnde, entspricht hingegen dem Anti-Realismus, der raumzeitliche Gegenstnde als „bloße Vorstellungen“ oder zumindest als etwas von unserer Erkenntnis Abhngiges ansieht. Realistische Kant-Interpreten schlagen dagegen z. B. folgende alternative Deutung vor: Kant hlt es hierbei eher fr selbstverstndlich (oder stellt es zumindest nicht in Frage), dass raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. Seine Charakterisierung der raumzeitlichen Gegenstnde als „bloße Vorstellungen“ bedeutet lediglich, dass ihnen (oder besser: den Dingen, die wir als raumzeitliche Gegenstnde erkennen) raumzeitliche Eigenschaften nur insofern zukommen, als sie 57 Kant nennt dieses Moment z. B. „transzendentale Idealitt der Erscheinungen“ (A506/B534) oder einfach „Idealitt aller Erscheinungen“ (A378).
2.1 Idealitt der Formen und Idealitt der Gegenstnde
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von uns vermittelst unserer Anschauungsformen vorgestellt werden (vgl. z. B. Allison 1983, S. 26 f. und 2004, S. 36). Was die oben angefhrten Zitate allein angeht, so erscheint diese Deutung allzu artifiziell. Jedoch kçnnten realistische Interpreten viele andere Textpassagen zur Untersttzung anfhren. Allerdings kçnnte man auch fr eine anti-realistische Interpretation noch weitere textliche Belege als die obigen beiden vorbringen (vgl. 6.2). Nur einzelne Textpassagen anzufhren, ist in dieser interpretatorischen Debatte ziemlich unfruchtbar, denn jede Partei kann solche „Indizienbeweise“ fr die andere endlos anfechten, indem sie argumentiert, dass solche Textpassagen auch ihrer Position gemß deutbar sind oder, falls dies nicht mçglich ist, der Kohrenz zuliebe eher als Beispiele fr Kants „terminologische Nachlssigkeit“ (Vaihinger 1922, Bd. 1, S. 454, Anm. 1) behandelt werden sollten. Wie kann dann diese interpretatorische Debatte zum Erfolg fhren? Dafr ist es meines Erachtens erforderlich, Kants TrI vor allem im Kontext der Argumentationen (die ihn entweder beweisen oder als eine substantielle Voraussetzung verwenden) zu analysieren, und zwar dahingehend, welches Moment des TrI dabei relevant ist. Wenn auf diese Weise nachgewiesen wird, dass einige zentrale Argumentationen in der KdrV in der Tat einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde erfordern, dann gewinnt die anti-realistische Kant-Interpretation damit eine sichere exegetische Grundlage. Dieser Aufgabe widme ich mich in Teil II der vorliegenden Abhandlung. Bevor ich fortfahre, mçchte ich noch vier Punkte anmerken: (A) Die Idealitt der Gegenstnde und die Idealitt der Formen werden von Kant selbst nicht explizit auseinandergehalten. Wenn aber die antirealistische Interpretation damit Recht hat, die erstere als Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde zu deuten, dann sind sie in der Folge als distinkte, voneinander unabhngige Sinnkomponenten des TrI anzusehen. Dies lsst sich zunchst folgendermaßen begrnden: Weder impliziert der Anti-Realismus als solcher die Idealitt der Formen, noch umgekehrt. Ein Beispiel fr den ersteren Fall ist der Phnomenalismus einiger logischer Positivisten (wie Carnap 1928 oder Ayer 1936);58 diese standen bekanntlich dem kantischen „synthetisch a priori“, dessen Mçglichkeit auf 58 Der Phnomenalismus wurde nicht von allen logischen Positivisten akzeptiert; selbst Carnap und Ayer gaben ihn spter auf.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
der Idealitt der Formen grndet, ablehnend gegenber. Ein Beispiel fr den letzteren Fall ist die realistische Position, die oben als eine mçgliche Deutung des TrI erwhnt wurde. (Ich nehme zunchst an, dass eine solche Position zumindest kohrent ist.) Die Tatsache, dass keine von beiden Positionen nicht schlechterdings inkonsistent ist, spricht dafr, dass zwischen dem Anti-Realismus und der Idealitt der Formen kein Implikationsverhltnis besteht, so dass sie voneinander inhaltlich unabhngig sind. Daraus ergibt sich zugleich, dass der TrR und der TrI, Kants eigenem Bekunden entgegen, keine vollstndige Disjunktion bilden. Gilt es nicht vielleicht doch, dass die Argumentation, die Kant fr den TrI vorbringt, den Anti-Realismus sowie die Idealitt der Formen gleichzeitig beweist, so dass die beiden zumindest bei Kant nicht eigens unterschieden werden mssen? – In Teil II werde ich zeigen, dass genau das Gegenteil der Fall ist. An dieser Stelle schicke ich die dortigen Ergebnisse kurz voraus: In der KdrV finden sich drei verschiedene Argumentationen fr den TrI: der direkte Beweis in der Transzendentalen sthetik, der indirekte Beweis im Antinomiekapitel und eine indirekte Rechtfertigung im vierten Paralogismus (A). Der erste richtet sich primr auf die Idealitt der Formen und die sich daraus ergebene Position ist, sofern sie Kants dortiger Argumentation nach betrachtet wird, sowohl mit dem Anti-Realismus als auch mit dem Realismus vertrglich (vgl. unten, 6.3). Was die beiden letztgenannten Argumente anbelangt, so beziehen diese sich nur auf die Idealitt der Gegenstnde als Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, und zwar dergestalt, dass sie die Idealitt der Formen weder beweisen noch voraussetzen (vgl. unten, 4.4 (A) und 5.2.4 (B)).59 Dies alles ist ohnehin erst durch konkrete Textanalysen, die ich in Teil II unternehme, zu entscheiden. Wenn dies sich aber hinreichend besttigt, spricht es dafr, dass die Unterscheidung zwischen der Idealitt der Formen und der Idealitt der Gegenstnde eben darum von großer Bedeutung ist, um den Gehalt des TrI korrekt und przise zu begreifen. Worauf meine anti-realistische Interpretation fokussiert, ist die Idealitt der Gegenstnde. Die Idealitt der Formen wird nur insofern thematisiert, als das fr die Auslegung der anderen relevant ist. Damit in59 Damit widerspreche ich der berhmten „Short Argument“-Herausforderung von Karl Ameriks, die nmlich als Bedingung fr die richtige Interpretation des TrI vorschreibt, dass „[Kant’s Idealism] is first and most fundamentally a thesis about the ideality of space and time“ (ders. 2006, S. 70; vgl. auch ders. 1992, 2001 u. a.). Ich habe nichts dagegen, dass dies Kants eigenes Selbstverstndnis treu reprsentiert. Meine Behauptung ist vielmehr, dass Kants dieses Selbstverstndnis zu seiner tatschlichen Durchfhrung einiger Argumentationen nicht passt.
2.1 Idealitt der Formen und Idealitt der Gegenstnde
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tendiere ich natrlich nicht abzustreiten, dass die Idealitt der Formen ebenfalls zu Kants TrI gehçrt, geschweige denn, die kantische Philosophie von ihr zu befreien. Meine Absicht ist nur, das Moment der Idealitt der Gegenstnde zu pointieren, um die fr die vorliegende Abhandlung relevante interpretatorische Debatte zu behandeln. (B) Die strittige Klasse der kantischen Realismusdebatte ist, wie oben konstatiert wurde, die Klasse von raumzeitlichen Gegenstnden; in der dummettschen Begrifflichkeit, die Klasse von Aussagen ber raumzeitliche Gegenstnde. Der Praktikabilitt zuliebe bezeichne ich solche Aussagen fortan als „raumzeitbezgliche Aussagen“. Ich gebe zu, dass dieser Terminus sprachlich unschçn ist. Die Alternative, auf die man wohl am leichtesten verfiele, wre „empirische Aussagen“. Dieser Terminus ist aber fr die vorliegende Abhandlung nicht geeignet, denn die kantische Realismusdebatte handelt nicht nur von Aussagen ber bliche raumzeitliche Gegenstnde, wie sie empirisch erkennbar sind, sondern auch von rational-kosmologischen Aussagen ber den „Inbegriff aller Erscheinungen“ (oder „die Welt“). Die letzteren Aussagen handeln immerhin ber raumzeitliche Gegenstnde (vgl. unten, 4.1.1) und sind ebenfalls fr die kantische Realismusdebatte nicht unwesentlich, weil der TrI eben in diesem Bereich indirekt bewiesen werden soll. Der Terminus „empirische Aussagen“ wrde dazu fhren, solche Aussagen begrifflich auszuschließen. Deswegen ziehe ich den Ausdruck „raumzeitbezgliche Aussagen“ vor. (C) Die anti-realistische Interpretation vertrgt sich problemlos mit der Annahme der Existenz von „Dingen an sich“ als erkenntnisunabhngigen Entitten; nur dass sie behauptet, dass Gegenstnde ihrer strittigen Klasse (nmlich raumzeitliche Gegenstnde) nicht sie seien. Wie gesagt, ist der Realismus/Anti-Realismus in der dummettschen Formulierung immer auf eine bestimmte strittige Klasse bezogen. In der lteren Kant-Literatur wurde manchmal die Position, die ber bloße Denkbarkeit hinaus auch Existenz der „Dinge an sich“ anerkennt, als „realistisch“ bezeichnet.60 Es muss aber beachtet werden, dass dies zumindest nicht dem Sinn des „Realismus“ in der vorliegenden Abhandlung entspricht. Der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist auch mit folgenden Mçglichkeiten bezglich der „Dinge an sich“ vereinbar: (1) Zwischen ihnen und raumzeitlichen Gegenstnden besteht zuflligerweise eine strukturelle Entsprechung. (2) Dinge an sich affizieren uns, um in unserem Gemt „Empfindungen“ hervorzubringen; vgl. oben, 1.2. – Diese Ver60 Vgl. Adickes 1924, Paton 1936 und Allison 1968.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
einbarkeit bedeutet allerdings nicht automatisch, dass dergleichen auch Kants Ansicht entspricht. Welche konkrete Theorie der „Dinge an sich“ dem kantischen TrI angemessen ist, diskutiere ich in dem letzten Kapitel der vorliegenden Abhandlung. (D) Meine anti-realistische Interpretation deutet den Gegensatz von TrR und TrI als Gegensatz um die Wahrheitskonzeption fr raumzeitbezgliche Aussagen. Damit behaupte ich aber nicht, dass Kant seinen TrI wissentlich mit Rekurs auf die Wahrheitskonzeption ausgearbeitet hat. Die dummettsche Begrifflichkeit soll nur ein analytisches Rstzeug sein, um Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit klar und przise auszulegen. Sofern sie dieser Zielsetzung gerecht wird, ist die Anwendung der Begrifflichkeit der heutigen Philosophie sowie Logik auf die Kant-Interpretation kein Anachronismus. Ob sie dafr tatschlich fruchtbringend ist oder nicht, ist allerdings nur post festum zu bewerten. 2.2 Vorgnger und Gegner der anti-realistischen Interpretation Um meine interpretatorische Position klarzustellen, ist es ratsam, sie mit ihren Vorgngern und mit konkurrierenden Interpretationsmustern zu vergleichen; darin besteht das Ziel dieses Abschnitts. In (A) greife ich die Vorgnger auf und zeige, in welcher Hinsicht sich meine anti-realistische Interpretation von ihnen unterscheidet. In (B) stelle ich den wichtigsten Konkurrenten derselben dar, nmlich die realistische Interpretation. Zuletzt erçrtere ich in (C) die neutrale Interpretation und sonstige denkbare Optionen. (A) Folgende Interpretationsmuster lassen sich als Vorgnger der antirealistischen Interpretation klassifizieren: (a) Die sogenannte phnomenalistische Interpretation, die dem TrI die Ansicht zuschreibt, dass raumzeitliche Gegenstnde etwas Mentales oder zumindest etwas von unserer Erkenntnis abhngig Existierendes (wie „intentionale Objekte“ oder „logische Konstrukte aus Sinnesdaten“) sind.61
61 Z.B. Bennett 1966, 1974, Aquila 1975, 1979, 1983 und Van Cleve 1999; auch Turbayne 1955 und Kalter 1975, obwohl sie den Terminus „Phnomenalismus“ nicht verwenden.
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(b) Interpretationsanstze, die dem TrI eine Kohrenztheorie der Wahrheit zuschreibt.62 Diese beiden Anstze sind anti-realistisch, insofern sie gemeinsam verneinen, dass der TrI zugesteht, dass raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von der Erkenntnis existieren bzw. raumzeitbezgliche Aussagen unabhngig von der Verifikation wahr sein kçnnen. Der Unterschied zwischen ihnen und der von mir vertretenen antirealistischen Interpretation liegt darin, dass diese einen generelleren interpretatorischen Rahmen liefert, der jene mit einschließt. Die anti-realistische Interpretation ist nmlich in folgenden zwei Hinsichten genereller: Sie lsst erstens außer ihnen noch andere Varianten zu. Man erinnere daran, dass sich der Anti-Realismus im dummettschen Sinne nicht unbedingt mit einem Phnomenalismus bzw. der Kohrenztheorie der Wahrheit einhergehen muss. Zweitens wird – was noch wichtiger ist – der Gehalt des Phnomenalismus bzw. der Kohrenztheorie nicht von ihrem Anti-Realismus ausgeschçpft, sondern sie stellen noch zustzliche Behauptungen auf, nmlich dass Aussagen ber raumzeitliche Gegenstnde auf Aussagen ber Sinnesdaten reduzierbar seien bzw. die Wahrheit der Aussage in der Kohrenz mit dem ganzen System der berzeugungen bestehe. Sie mssen also, um sich zu bewhren, auch solche zustzlichen Behauptungen rechtfertigen. Im Vergleich dazu ist die anti-realistische Interpretation sparsamer, indem sie solche Themen vielmehr unentschieden lsst und sich stattdessen ausschließlich auf die spezifisch anti-realistische Komponente konzentriert. Diese Einschrnkung ist zweckmßig, wenn es sich um die Debatte zwischen der realistischen und der anti-realistischen Interpretation handelt.63 Es gibt schon einige Interpreten, die Kants TrI explizit mithilfe der dummettschen Begrifflichkeit auszulegen versuchen.64 Da aber jeder dieser 62 Z.B. Kemp Smith 1918, Prauss 1980, Wolfgang Becker 1984, Walker 1983 und 1989a, Grau 2001 und Heidemann 2010. Interessanterweise schrieb auch Allison in seinem frhen Aufsatz 1968 dem TrI die Kohrenztheorie der Wahrheit zu. 63 Die phnomenalistische und die kohrenztheoretische Interpretation werden manchmal genau an diesen zustzlichen Punkten kritisiert. Ein interessantes Beispiel ist Van Cleve 1999. Er kritisiert die kohrenztheoretische Interpretation aus der Perspektive seiner phnomenalistischen Interpretation; vgl. ibid., S. 214 – 7. 64 Der wichtigste Vertreter ist Carl Posy; vgl. ders. 1981, 1983, 1984a, 1984b, 1991 und 2008. Außerdem Stevenson 1983, Walker 1983, Rogerson 1993, 1996 und Allais 2003. (Fr die letzte, vgl. oben, Anm. 19 und 27.)
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Anstze nicht ber einen einzelnen Aufsatz hinausgeht, bleiben sie verstndlicherweise in manchen Hinsichten unzulnglich; vor allem gelingt es ihnen nicht, (1) ihre anti-realistischen Interpretationen so stabil zu begrnden, dass sie gegen denkbare Einwnde vonseiten der realistischen Interpreten verteidigt werden kçnnten, und (2) die Fruchtbarkeit der dummettschen Begrifflichkeit fr die Kant-Interpretation hinreichend auszuweisen. In der vorliegenden Abhandlung strebe ich an, diesen Mangel zu beheben und fr das weitere Forschungsprogramm der anti-realistischen Interpretation der kantischen Philosophie eine substantielle Basis zu errichten. Es ist außerdem zu bedenken, dass der „Anti-Realismus“ in meiner obigen Definition nicht immer mit dem bereinstimmt, was solche Interpreten unter diesem Terminus verstehen. Dies ist z. B. bei Carl Posy der Fall. Seine Definition lautet, der Realismus nehme als Kriterium fr „semantic success“ die Wahrheit der Aussagen, der Anti-Realismus – mit seinem Wort: „assertabilism“ – hingegen die Verifizierbarkeit („assertability“) derselben (vgl. ders. 1981, S. 316 f. und 1983, S. 83); diese Definition entspricht ungefhr Dummetts frher Formulierung (vgl. oben, 1.2). Ich gehe nicht darauf ein, was Posy mit „semantic success“ meint und wie seine assertabilistische Bedeutungstheorie in concreto aussieht (was er im brigen selbst nicht ausfhrlich erklrt). Der zu beachtende Punkt ist folgender: In seiner Definition wird im Allgemeinen, also selbst aufseiten des „assertabilism“, vorausgesetzt, dass die Wahrheit verifikationsunabhngig ist. Der „assertabilism“ schließt also die Mçglichkeit mit ein, dass unverifizierbare Aussagen doch wahr sein mçgen. Er hat somit keine wahrheitskonzeptionelle und somit auch keine ontologische Konsequenz.65 Insofern entspricht Posys „assertabilism“ vielmehr dem Realismus in der Definition der vorliegenden Abhandlung, selbst wenn er statt der klassischbivalenten die intuitionistische Logik verwendet. Ich nehme eine Kritik an Posys derartiger Interpretation des TrI in 4.3.3 (B) vor, mçchte aber hier zunchst Folgendes betonen: Was in der vorliegenden Abhandlung „Anti65 Vgl. ders. 1981, S. 319. Er erachtet dies gerade als einen Vorteil seiner Interpretation, weil dies ermçglichen wrde, Kants TrI vom Phnomenalismus abzugrenzen; vgl. ders. 1981 und 1983. Dagegen werde ich in 4.3.3 (B) zeigen, dass dies kein Vorteil, sondern gerade das ist, was seine Interpretation zum Scheitern bringt. Posys Ansicht ist jedoch in diesem Punkt nicht stabil. Oben Dargestelltes entspricht seiner Ansicht in ders. 1981, 1983 und 1984a. In ders. 1984b wird der „semantic success“ mit der Wahrheit gleichgesetzt (vgl. ibid., S. 121). Letztlich in ders. 1990 widerruft er seine assertabilistische Interpretation, mit dem Zugestndnis, dass „Kant’s anti-realism is explicitly ontological“ (ibid., S. 73).
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Realismus“ genannt wird, ist der im Sinne der Definition des vorigen Kapitels und nichts Anderes! (B) Was hingegen zur „realistischen Interpretation“ gerechnet wird, sind Anstze, die Kants TrI eine realistische Wahrheitskonzeption bzw. eine entsprechende realistische Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit zuschreiben; eine explizite Erwhnung von Dummett ist fr eine realistische Interpretation nicht notwendig.66 In der Literatur findet man auch solche Arbeiten, welche nicht „realistische Interpretation“, sondern vielmehr „realistische Fortentwicklung“ genannt werden sollten. Sie stimmen zwar zu, dass der TrI einen AntiRealismus (bzw. eine entsprechende idealistische Ontologie) vertritt. Da sie ihn aber eben deswegen fr unattraktiv halten, streben sie danach, aus Kants Einsichten besonders diejenigen Elemente zu isolieren, die ohne Rekurs auf den TrI entwickelt werden kçnnen, und derart – Kants Ansicht entgegen – ein realistisches System herauszuarbeiten.67 Als „realistische Interpretation“ sind hingegen nur diejenigen Anstze zu bezeichnen, welche sich als exegetische Forschungsarbeiten verstehen und somit behaupten, dass Kant mit dem TrI wissentlich einen Realismus zu vertreten beabsichtigt. Ein typisches Beispiel fr die realistische Interpretation ist die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation,68 die dem TrI folgende Auffassung – die bereits in der Einleitung und 2.1 erwhnt wurde – zuschreibt: 66 Es gibt auch solche Interpreten, die mit einer expliziten Erwhnung von Dummett oder dem Terminus „Anti-Realismus“ behaupten, dass Kants TrI kein Anti-Realismus ist; z. B. Clark 1985, Blatnik 1994, Wyller 1997, Van Cleve 1999, Hanna 2000, Abela 2002, Howell 2004 und Mechtenberg 2006. Da aber ihre Definition des „Anti-Realismus“ nicht identisch mit meiner ist, stellen sie kein Problem fr meine Version der anti-realistischen Interpretation dar, auch wenn sie innerhalb ihrer Terminologie Recht haben sollten. – Davon abgesehen beruhen solche Behauptungen manchmal auf bloßen Missverstndnissen oder zu wenig wohlwollenden Deutungen von Dummetts Ansichten; vgl. oben, Anm. 44 und 45. 67 Zum Beispiel: Strawson 1966, Guyer 1986, Westphal 2004; und vermutlich auch Langton 1998 (vgl. unten, Anm. 105). Ich lehne solche Unternehmen keineswegs ab. Sie sind an sich vçllig legitim und sogar hufig fr die Exegese einzelner Textstellen sehr fçrderlich. Denn die Information, dass eine Argumentation gemß ihrer argumentativen Kraft nicht vom TrI abhnge, leistet einen wichtigen Beitrag dazu, diese Argumentation selbst inhaltlich korrekt zu verstehen. Wichtig ist nur, dass die Fortentwicklung mit der Exegese nicht verwechselt werden darf. 68 Der Grund fr die Bezeichnung „Zwei-Aspekte-Interpretation“ liegt darin, dass diese interpretatorische Option im Endeffekt mit dem bereinstimmt, was in der
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Raumzeitliche Gegenstnde (genauer: Dinge, die wir als solche erkennen) existieren unabhngig von unserer Erkenntnis; nur dass die Art und Weise, wie sie uns raumzeitlich erscheinen, von uns (in concreto: von unserer Sinnlichkeit) abhngig ist. (Man beachte, dass „unabhngig von unserer Erkenntnis existieren“ hierbei nicht lediglich bedeutet, dass die Gegenstnde auch dann existieren, wenn sie von uns nicht tatschlich wahrgenommen werden; vgl. oben, 1.2.) Was soll es aber genau bedeuten, dass raumzeitliche Gegenstnde erkenntnisunabhngig existieren, ihre raumzeitlichen Eigenschaften jedoch subjektabhngig sind? Die in meinen Augen beste Methode, dies zu veranschaulichen, besteht darin, von folgendem groben Modell auszugehen und dieses Schritt fr Schritt zu verfeinern: Farbenbrillenmodell: Falls wir ein Ding durch eine Farbenbrille sehen, sehen wir dabei gerade dieses Ding selbst (und nicht so etwas wie ein mentales Bild, das wir durch die Farbenbrille erhalten), aber die Farbe, die wir dabei wahrnehmen, ist nicht die wahre Farbe dieses Dings, sondern bloß diejenige, wie diese uns durch die Farbenbrille erscheint. – Analog erkennen wir in unserer empirischen Erkenntnis in der Tat ein unabhngig von unserer Erkenntnis existierendes Ding selbst, aber die raumzeitliche Beschaffenheit, die wir dabei von diesem Ding erkennen, ist nicht die Beschaffenheit, wie dieses an sich selbst ist, sondern nur diejenige, wie es uns durch unsere Anschauungsformen erscheint.69
heutigen Literatur blicherweise „metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation“ genannt wird; ich erklre diesen Umstand in 3.1. 69 Dem Farbenbrillenmodell wird das Konstruktionsmodell der anti-realistischen Interpretation entgegengesetzt, das sich wie folgt beschreiben ließe: Raumzeitliche Gegenstnde sind nichts Anderes als dasjenige, was wir aufgrund der sinnlichen Materie, die uns durch Affektion gegeben wird, durch Erkenntnis konstruieren. Unabhngig von dieser Konstruktion existieren raumzeitliche Gegenstnde berhaupt nicht; nicht nur in dem Sinne, dass unabhngig davon Dinge nicht als raumzeitliche Gegenstnde existieren, sondern in eben dem strkeren Sinne, dass es unabhngig davon berhaupt nichts gibt, fr was gesagt werden kann, dass es als ein raumzeitlicher Gegenstand erscheint. Dieses Modell fhrt ebenfalls ungnstige Implikationen mit sich, z. B., dass (1) die konkrete Beschaffenheit der raumzeitlichen Welt weitgehend unserer willkrlichen Entscheidung berlassen wird, oder dass (2) raumzeitliche Gegenstnde erst dann zur Existenz gebracht werden, wenn sie von uns tatschlich erkannt worden sind. Diese Implikationen kçnnen aber durch Verfeinerung aufgehoben werden; damit beschftige ich mich in Teil III.
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Es gibt zwei naheliegende Probleme mit diesem Modell, die aber bewltigt werden kçnnen. Betrachten wir sie der Reihe nach: (1) Das erste Problem lautet, dass dieses Modell anscheinend dazu fhrt, die kantische „Erscheinung“ zum Schein zu verwandeln (was aber Kant in B69 f. und Prolegomena, §13, Anmerkung III ausdrcklich verneint). Denn im Fall der Farbenbrille gilt eben, dass die Farbe, die durch sie wahrgenommen wird, nicht die wahre Farbe des Dings ist. Dagegen mag man einfach sagen, dass Kant in der Tat akzeptiert, dass „Erscheinungen“ niedrigeren ontologischen Status besitzen als „Dinge an sich“ (wie Ameriks 1992, S. 334), dass dies aber nicht sofort zwingt, Erscheinung „Schein“ zu nennen. – Diese Erwiderung ist jedoch aber wohl exegetisch unzulnglich, weil sie nicht positiv erklrt, warum so verstandene „Erscheinung“ nicht „Schein“ genannt werden muss. Das Problem lsst sich folgendermaßen entschrfen: Denken wir hier an den Fall, dass uns ein weißes Ding durch eine rote Farbenbrille als rot erscheint. Dieser Umstand kann auf zweierlei Weise gedeutet werden: (a) Es scheint nur – aber in Wahrheit ist es nicht der Fall –, dass dieses Ding rot ist. (b) Dieses Ding hat wirklich eine solche Eigenschaft – genauer: Disposition –, dass es, wenn es durch die rote Farbenbrille gesehen wrde, uns als rot erschiene. Nur die erstere Deutung fhrt das obige Modell zu der misslichen Konsequenz, Erscheinungen fr bloßen Schein ansehen zu mssen. Die letztere Deutung hingegen erçffnet eine Mçglichkeit, diese Konsequenz zu vermeiden. Wenn man nun die „Disposition“ als explicans verwendet, kann man die Erwhnung der Farbenbrille weglassen, weil schon die Farbe selbst folgende dispositionale Analyse erlaubt: An dieser Stelle mçchte ich klarstellen: Mit der hiesigen Erklrungsstrategie, die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation als Nachfolger des heutzutage meistens heruntergemachten Farbenbrillenmodells darzustellen, verfolge ich nicht die Absicht, sie als unattraktive Option zu prsentieren. Ich bin vielmehr davon ausgegangen, dass dieses Modell zu einer attraktiven Option verfeinert werden kann. Die Pointe der Verwendung eines Modells liegt darin, dass es die Grundintuition, die durch Verfeinerung unumgnglich verdunkelt wird, ans klare Licht bringt. – Man vergesse zudem nicht, dass auch das Konstruktionsmodell weitere Verfeinerungen zulsst. Oftmals stellen realistische Interpreten ihre Gegenposition so dar, als ob sie das Konstruktionsmodell in der groben Form implizieren msste. Solange sich jedoch eine solche Karikierung breitmacht, ist eine fruchtbare interpretatorische Debatte kaum zu erwarten.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
Dass ein rumliches Ding rot sei, wird so analysiert, dass es eine solche Disposition habe, dass es von uns unter geeigneten Umstnden (z. B. unter gengender Beleuchtung) als rot wahrgenommen wrde. In Analogie zu einer solchen dispositionalen Analyse der Farben (aufgrund des verwandten interpretatorischen Ansatzes von Lucy Allais) hat Tobias Rosefeldt neulich eine dispositionale Analyse der kantischen „Erscheinung“ wie folgt vorgeschlagen: Farbenmodell: Dass ein Ding eine raumzeitliche Eigenschaft F habe, wird so analysiert, dass dieses Ding (das seinerseits unabhngig von unserer Erkenntnis existiert) eine solche Disposition an sich selbst habe, dass es unter geeigneten Umstnden von uns als F erkannt wrde.70 (Obwohl die Varianten von Rosefeldt und von Allais sich in einigen konkreten Punkten unterscheiden,71 differenziere ich die beiden Anstze hier nicht. Was mich interessiert, ist ihre Gemeinsamkeit.) Diese Analyse ermçglicht es, jene missliche Konsequenz, die kantische „Erscheinung“ zum bloßen Schein zu verwandeln, bis zu einem gewissen 70 Mit seinen Worten: „[Der Satz „Diese Rose ist ausgedehnt“ wird folgendermaßen umformuliert werden:] Es gibt einen Gegenstand x, der so beschaffen ist, daß dadurch in mir diese Anschauung von ihm als Rose verursacht wird, und so, daß dadurch in Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlcher Anschauung unter geeigneten Umstnden Anschauungen von ihr als ausgedehnt verursacht werden“ (Rosefeldt 2007, S. 200 f.). In der obigen Darstellung habe ich dies vereinfacht und fgt eine Modifikation, nmlich das subjunktive Konditional, hinzu. Dies ist nçtig, weil Rosefeldt wohl nicht verneinen wollte, dass ein Ding raumzeitliche Eigenschaften hat, auch wenn es nicht tatschlich erkannt wird (d. h. auch wenn es in uns keine Anschauung von ihm tatschlich verursacht). 71 Anders als Rosefeldt verweigert Allais z. B., die raumzeitliche Beschaffenheit als eine Disposition zu analysieren. Es ist aber nicht klar, auf was dann ihre Analyse hinausluft. Ich stimme Rosefeldt darin zu, dass ihre Analyse im Endeffekt zur dispositionalen Analyse la Rosefeldt oder etwas Verwandtem fhren muss (vgl. Rosefeldt 2007, S. 184 ff.). – Allais 2006 deutet darauf hin, dass ihre Ablehnung der dispositionalen Analyse dadurch motiviert wird, dass sie anders als Rosefeldt denkt, dass unsere Begriffe der raumzeitlichen Eigenschaften nicht auf Dispositionen, dass uns Dinge so-und-so erschienen, sondern auf Basiseigenschaften solcher Dispositionen referieren. (Eine terminologische Erklrung: Zucker ist wasserlçslich aufgrund seiner bestimmten Molekularstruktur. Hierbei ist die Molekularstruktur die Basiseigenschaft fr die Disposition „Wasserlçslichkeit“; vgl. Pettit 1998 fr Details.) Ich werde auf diesen Punkt unten, 3.1, Anm. 104, zurckkommen. Dieser Unterschied berhrt allerdings nicht den Grund, aus dem ich ihre Interpretationen letztlich zurckweise.
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Grad72 zu vermeiden. Sie sichert nmlich, dass raumzeitliche Eigenschaften (die ihr zufolge kantischen „Erscheinungen“ entsprechen) objektive Eigenschaften sind, die den erkenntnisunabhngig existierenden Dingen wirklich zukommen. Sie bietet zudem eine konsequente Erklrung dafr an, dass raumzeitliche Eigenschaften trotz allem in einem Sinn subjektabhngig sind.73 Ein weiterer Vorteil dieser Analyse besteht darin, dass sie – zumindest auf den ersten Blick – eine Ablehnung der verifikationstranszendenten Wahrheitskonzeption (fr raumzeitliche Gegenstnde) nach sich zieht, denn sie scheint, wiederum in Analogie zum Fall der Farben, folgendes Bikonditional a priori gelten zu lassen: Ein Ding hat eine raumzeitliche Eigenschaft F gdw. dies erkennbar ist, in dem Sinne, dass wir es unter geeigneten Umstnden als F erkennen wrden – genauso wie im Fall der Farben folgendes Bikonditional a priori gilt: Ein Ding ist rot gdw. wir es unter geeigneten Umstnden als rot wahrnehmen wrden.74 Dieses Ergebnis ist exegetisch wnschenswert, denn zum einen lassen sich viele Textpassagen finden, in denen Kant von so etwas wie der Erfahrungsimmanenz der raumzeitlichen Wirklichkeit spricht,75 und zum anderen spielt sie eine zentrale Rolle in Kants Auflçsung der kosmologischen Antinomien. (Wie in Kapitel 4 geklrt wird, ist es gerade die Antinomienlehre, die der realistischen Interpretation die grçßte Schwierigkeit be72 Ich glaube jedoch nicht, dass sich die genannte Konsequenz auf diese Weise vollstndig vermeiden lsst; vgl. unten, 6.3. 73 Rosefeldts Erklrung besagt, dass raumzeitliche Eigenschaften als Dispositionen diejenigen seien, welche er als „Subjekten relativierte Eigenschaften“ definiere; vgl. ders. 2007, S. 175 – 84 und S. 192. Er hat meines Erachtens auch die exegetischen Probleme weitgehend erfolgreich bewltigt, die sich fr eine Deutung der kantischen „Erscheinung“ in Analogie zu sekundren Qualitten stellen; vgl. ibid., S. 192 f. 74 Rosefeldt selbst spricht nicht von solch einem Bikonditional, doch es lsst sich aus seiner dispositionalen Analyse unmittelbar folgern. Allais erwhnt es ebenfalls nicht explizit, aber sie weist darauf hin, dass im Fall der Farben, mit dessen Analogie sie Kants TrI interpretiert, die „experience-transcendence“ nicht gilt (dies. 2003, S. 380 f.). Ihre Auffassung, dass Kant (hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde) die „experience-transcendence“ ablehnt, spielt die zentrale Rolle in ihrer Auslegung der kantischen Auflçsung der Antinomien (sowohl in ibid. als auch in dies. 2004 und 2010); dieses Thema erçrtere ich unten, 4.3.2. 75 „Es sind demnach die Gegenstnde der Erfahrung [. . .] nur in der Erfahrung gegeben, und existieren außer derselben gar nicht“ (A492/B521); viele derartige Aussagen lassen sich im 6. Abschnitt des Antinomiekapitels finden.
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reitet.) Wenn also die betreffende interpretatorische Option wirklich dazu fhig ist, einen Realismus beizubehalten und gleichzeitig die verifikationstranszendente Wahrheitskonzeption abzulehnen, erweist sie sich wohl schon damit allein als ein sachlich sowie exegetisch attraktives Interpretationsmodell, das verschiedene scheinbar einander widersprechende Theoriestcke der KdrV zu einer kohrenten Einheit integrieren kann. Allerdings erscheint es fragwrdig, ob die betreffende interpretatorische Option die oben erwhnten Vorteile wirklich aufweist. Zunchst ist jedoch zuzugestehen, dass Allais’ und Rosefeldts Ausarbeitungen der realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation viele herkçmmliche Probleme derselben gelçst oder zumindest weitgehend abgeschwcht haben. (2) Das Farbenbrillen- sowie das Farbenmodell legen auch folgende Konsequenz nahe: Einzelne Dinge, die wir als raumzeitliche Gegenstnde erkennen, individuieren sich als Substanzen unabhngig von unserer empirischen Erkenntnis.76 Denn die beiden Modelle suggerieren, dass die Dinge, den die Farben zukommen, unabhngig von ihrer Relation zum Beobachter schon „an sich selbst“ als einzelne Dinge existieren. (Was den Fall der Farben angeht, so individuieren sich die Dinge durch ihre primren Qualitten.) Warum ist diese Konsequenz problematisch? Was in Absehung von der Relation zu allen empirischen Erkenntnissen noch eine Substanz bleibt, ist nichts Anderes als eine noumenale Substanz. Die betreffende Konsequenz fhrt also dazu, dass, wenn wir einzelne Dinge empirisch erkennen, wir dabei eben die Einzelheit noumenaler Substanzen erkannt haben; dies wi76 Es ist zu beachten, dass hier mit „sich individuieren“ nicht gemeint ist, dass einzelne Dinge als einzelne erkannt werden, sondern vielmehr, dass sie berhaupt einzelne Dinge sind. Man mag nun denken, dass diese Konsequenz einfach dadurch vermieden wird, statt einzelner raumzeitlicher Gegenstnde (d. h. einzelner Dinge, die uns als solche Gegenstnde erscheinen), vielmehr etwas, was als die raumzeitliche Welt erscheint, aufzugreifen und zu sagen, dass dieses „etwas“ erkenntnisunabhngig existiert und zwei Aspekte hat. – Dadurch lsst sich zwar die betreffende Konsequenz vermeiden, aber die sich daraus ergebende Position (die in 3.3 weiter erçrtert wird) kçnnte nicht mehr als eine realistische Zwei-Aspekte-Interpretation angesehen werden, denn man kçnnte nicht mehr sagen, dass einzelne raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren (und somit auch nicht, dass jede einzelne raumzeitbezgliche Aussage unabhngig von unserer Verifikation wahr bzw. nicht wahr ist).
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derspricht ohnehin Kants berhmter These der Unerkennbarkeit der Dinge an sich.77 Diese Konsequenz lsst sich aber vermeiden, wenn die Modelle wie folgt verfeinert werden: Was wir als eine einzelne phnomenale Substanz erkennen (mit anderen Worten, was uns als eine solche erscheint), muss nicht unbedingt eine einzelne noumenale Substanz sein; sie mag auch (a) eine Summe einiger noumenaler Substanzen oder (b) ein Teil einer noumenalen Substanz oder (c) eine Eigenschaft derselben oder (d) eine Relation zwischen noumenalen Substanzen oder (e) eine Mischform von (a) bis (d) sein.78 Diese Verfeinerung luft darauf hinaus, dass von unserer Erkenntnis einzelner phnomenaler Substanzen nichts darber gefolgert (also erkannt) werden, wie sich die Substanzen auf der noumenalen Ebene individuieren. Jedoch bleibt selbst nach dieser Verfeinerung folgende Konsequenz bestehen:
77 Außerdem kollidiert die betreffende Konsequenz auch mit einer Textpassage in der Streitschrift, wo Kant ußert, dass seine Ansicht nicht so etwas ist wie „es liege dem Kçrper als Erscheinung ein Aggregat von so viel einfachen Wesen als reinen Verstandeswesen zum Grunde“ oder „das bersinnliche Substrat der Materie werde eben so nach seinen Monaden getheilt, wie ich die Materie selbst theile“ (Ak. 8, S. 209 Anm.). Karl Ameriks behauptet in ders. 1982, S. 11, dass die Zwei-Aspekte-Interpretation nur soviel zugestehen msse, dass „the mere fact that a thing appears to us in an F-way would tell us something about a thing in itself, namely that it is an Fappearing thing in itself“, was aber selbst im kantischen Rahmen harmlos sei. (Allison stimmt dem zu; vgl. ders. 1987, S. 162.) Dies ist jedoch angesichts der obigen Diskussion nicht harmlos genug. Denn die Beschreibung, dass es „a thing“ ist, das in F-Weise erscheint, legt nahe, dass dieses „thing“ dasjenige ist, was auch unabhngig von seinem Erscheinen zu uns „a thing“, nmlich eine Substanz ist. 78 Diese Verfeinerung verdanke ich Allison 2004, S. 52 f.; vgl. aber unten, 3.1, Anm. 107. (Weitere Komplikationen ergeben sich, wenn noch das zeitliche Moment bercksichtigt wird; darauf gehe ich aber hier nicht ein.) Sie ist eine weitere substantielle Verfeinerung der interpretatorischen Option von Allais/Rosefeldt. Allais lsst das Problem der Individuation unberhrt. In Rosefeldt 2007 (Abschnitt IV) findet man eine Erçrterung dieses Problems, aber was er darin darstellt, ist meines Erachtens nicht sowohl eine Lçsung dieses Problems, als vielmehr eine Dekonstruktion seiner realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation als solcher; ich erçrtere diesen Umstand in 5.2.2.
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Individuationsthesis: Das „Etwas“, was wir als einen einzelnen raumzeitlichen Gegenstand erkennen, individuiert sich unabhngig von unserer empirischen Erkenntnis. Nennen wir dieses „Etwas“ (das eine Summe einiger noumenaler Substanzen oder ein Teil einer noumenalen Substanz usw. sein kann) „noumenalen Bezirk“. Die eben vorgenommene Verfeinerung lsst es immerhin gltig, dass die noumenalen Bezirke, die jeweils als phnomenale Substanzen a und b erscheinen, an sich selbst distinkte noumenale Bezirke sind. a und b sind eben deswegen distinkte phnomenale Substanzen, weil die ihnen zugrundeliegenden noumenalen Bezirke (die ohnehin unabhngig von unserer Erkenntnis so sind, wie sie sind) an sich selbst distinkt sind; in unserer empirischen Erkenntnis der Distinktheit auf der phnomenalen Ebene verhalten wir uns gleichsam „unterwrfig (servilely)“79 zu der Distinktheit auf der noumenalen Ebene, und es ist nicht so, dass wir die erste Distinktheit hervorbringen und sie dann auf die erkenntnisunabhngige Realitt projizieren. – Wird dies mit dem Farbenmodell kombiniert, wird die raumzeitliche Eigenschaft eines Dings letztlich als Disposition des als dieses erscheinenden noumenalen Bezirks erklrt. Man mag denken, dass die Idee der erkenntnisunabhngigen Individuation phnomenaler Einzeldinge dem Geist der KdrV deutlich zuwiderluft. Es lohnt sich also zu fragen: Ist vielleicht nicht eine weitere Verfeinerung mçglich, die die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation auch die Individuationsthesis vermeiden lsst? – Dergleichen ist definitiv unmçglich. Denn, wenn der Individuationsthesis entgegen angenommen wird, dass selbst die Einzelheit der raumzeitlichen Gegenstnde von unserer Erkenntnis abhnge, kann man freilich nicht mehr behaupten, dass einzelne raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. (Das Resultat wre vielmehr ein Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, der besagt, dass jede raumzeitbezgliche Aussage, die unserem immanenten epistemischen Kriterium nach hinreichend verifiziert wird, gerade deswegen wahr ist, egal wie die erkenntnisunabhngige Realitt beschaffen ist. 80) Das heißt, die Individuationsthesis ist gerade das ent79 Das Wort „servilely“ habe ich von Pettit 1991 (S. 611 – 6) bernommen, wo er die „epistemic servility“ als ein Merkmal des Realismus vorbringt. 80 Allerdings ist die erkenntnisunabhngige Realitt selbst fr den Anti-Realismus nicht vçllig irrelevant. Sie gibt uns durch Affektion die sinnliche Materie, aufgrund deren wir die raumzeitliche Wirklichkeit konstruieren sollen, und in diesem Sinn ist sie fr den Anti-Realismus relevant. Doch der Realismus erfordert noch mehr, dass nmlich jeder einzelne raumzeitliche Gegenstand etwas Noumenalem ent-
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scheidende Moment, das die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation niemals aufgeben kann, ohne sich selbst aufzuheben. Ein besserer Zug fr Vertreter dieser interpretatorischen Option besteht wohl darin, dahingehend zu argumentieren, dass die Individuationsthesis eigentlich harmlos ist. In der Tat bringt sie nur in etwa folgendes Resultat mit sich: Eine empirische Erkenntnis, dass zwei raumzeitliche Gegenstnde existieren, informiert uns darber, dass es so erscheinende noumenale Bezirke gibt. Daraus wird nichts darber geschlossen, wie solche noumenalen Bezirke beschaffen sind (außer dem, dass sie in irgendeinem Sinn81 distinkt sind). Und nicht weniger wichtig ist Folgendes: Wenn man vom Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ausgeht,82 ist die Individuationsthesis vielmehr eine direkte Folge daraus. Denn dass raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, impliziert geradezu, dass sie unabhngig von unserer Erkenntnis einzelne Dinge sind.83 – Eben deswegen wird realistischen Interpreten immer ein sprechen muss, was gleichsam darauf wartet, von uns als einen gewissen raumzeitlichen Gegenstand erkannt zu werden. – Ralph Walker (1985 und 2010) behauptet, dass die Annahme einer solchen Entsprechung unentbehrlich ist, um zu sichern, dass die erkenntnisunabhngige Realitt fr unsere empirische Erkenntnis nicht irrelevant ist. Ich argumentiere dagegen in 8.4.1. 81 Man mag hier einen Verdacht hegen: Ist diese ganze Aussage nicht leer, sofern dieser „irgendein Sinn“ nicht konkret stipuliert wird? Allerdings, ich mçchte aber diese Erklrungspflicht nicht bernehmen. (Ich selbst bin kein Anhnger der realistischen Interpretation!) Es kommt indessen hier darauf an, dass realistische Interpreten ohnehin zugestehen mssen, dass noumenale Bezirke, die einzelnen raumzeitlichen Gegenstnden zugrundeliegen, in irgendeinem nicht-trivialen Sinne distinkt sind. Denn sonst wrde ihre Behauptung, dass raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, alles Sinnes beraubt. 82 Manche heutigen Kant-Interpreten – selbst Kritiker der Zwei-Aspekte-Interpretation – gehen in der Tat davon aus, indem sie – ohne eingehende Erçrterung – die „idealistische“ oder „phnomenalistische“ Interpretation als allzu subjektivistisch oder als zu nah dem Berkeleyanismus disqualifizieren. 83 Daraus erweist sich, dass Allen Woods Darstellung der realistischen Zwei-AspekteInterpretation (in ders. 2005, S. 69 f.) – Dennis Schultings Kritik (in ders. 2010b, S. 174 f.) entgegen – nicht besonders problematisch ist, sofern es vorausgesetzt wird, dass Kant ein Realist hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde sei (was Schulting innerhalb seiner Kritik an Wood nicht in Frage stellt). Schulting kritisiert nmlich, dass Wood die Identittsrelation „between the concept or the thinking of the thing in itself ‘as an object of pure understanding’ and the thing in itself“ und diejenige „between the appearance and the thing in itself“ gleichsetzt, aber „what he thereby effectively achieves isn’t establishing the identity of appearance and thing in itself across the conceptual gulf, but merely the trivial truth that a thing is the same as itself and thus different from something else, for what is an appearance without
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Raum gelassen, einer solchen Kritik folgendermaßen zu entgegnen: Welche Ansicht Kants immer als unvertrglich mit der Individuationsthesis erscheinen mag, es ist vielmehr diese Ansicht und nicht die realistische Zwei-Aspekte-Lehre, die dabei preisgegeben werden muss, weil Kant selbst zwei-aspekt-artig redet und er ohnehin einen Realismus hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde akzeptiert! Ich meine jedenfalls nicht, dass die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation eine so instabile Position ist, dass sie bloß durch Erwgung ihrer innerlichen Kohrenz oder Anfhrung einiger anscheinender Gegenbelege widerlegt werden kann. Wenn sie berhaupt zurckgewiesen werden kann, ist dies nur mçglich durch eine ausfhrliche Diskussion auf der Basis konkreter Textanalysen, wie sie in Teil II der vorliegenden Abhandlung vorgenommen wird. Das Spektrum mçglicher Varianten der realistischen Interpretation wird nicht von der gerade erçrterten Variante ausgeschçpft. Wichtig ist, dass meiner Definition nach jeder Typ der Interpretation, der dem TrI im Endeffekt den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde unterstellt, als „realistische Interpretation“ klassifiziert wird. In Teil II weise ich diese insgesamt zurck, indem ich gerade ihr realistisches Moment angreife. (C) Außerdem ist auch ein Interpretationstyp denkbar, demzufolge Kants TrI sowohl mit dem Realismus als auch mit dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde vertrglich ist. Ich bezeichne ihn als „neutrale“ Interpretation. Ihr kommt eine sehr große Beweislast zu, nmlich nicht nur festzustellen, dass Kant selbst zum Realismus/Anti-Realismus keine explizite Stellung nimmt, sondern vielmehr, dass sich alle Thesen und Argumentationen Kants, und zwar inhaltlich, zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhalten. Angesichts dieser enormen Beweislast darf man wohl bezweifeln, ob sie berhaupt eine aussichtsreiche interpretatorische Option sein kçnnte; soweit mir bekannt ist, ist solch eine extreme Option
its ‘appearance’ features?“ (ibid.) Was Schulting hier meines Erachtens bersieht, ist, dass Wood – sofern sein Realismus intakt bleibt – in der Tat nichts mehr als diese „trivial truth“ braucht. Denn wenn man einen raumzeitlichen Gegenstand erkennt und zudem realistisch angenommen wird, dass dieser unabhngig von unserer Erkenntnis existiere, dann ist es vçllig unproblematisch zu sagen, dass gerade dieser Gegenstand außer dem Erscheinungsaspekt noch den „an sich“-Aspekt hat, so dass er als Erscheinung mit ihm als Ding an sich identisch ist (aus dem Grund, dass er mit sich selbst identisch ist).
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bis dato von niemandem ernsthaft vertreten worden.84 Sie wird im Nachfolgenden ohnehin zurckgewiesen, durch den Nachweis, dass Kant explizit auf eine anti-realistische Ontologie rekurriert. Rein logisch gesehen sind noch zwei weitere interpretatorische Optionen denkbar: (1) Der TrI sei weder mit Realismus noch mit AntiRealismus vertrglich. (2) Er beteiligt sich sowohl am Realismus als auch am Anti-Realismus. Was (1) betrifft, wird diese Mçglichkeit von vornherein ausgeschlossen, weil es meiner Charakterisierung des Realismus/ Anti-Realismus gemß keine mittlere Position zwischen beiden geben kann (vgl. oben, 1.2). Die Option (2) fhrt dazu, dass Kant selbst inkonsequent ist. Diese Ansicht verneine ich nicht, zumindest auf der Ebene von Kants bloßen Redeweisen. Ich verteidige jedoch die anti-realistische Interpretation als rationale Rekonstruktion, d. h., als die einzig mçgliche Option, die Kants verschiedene Argumentationen in ein kohrentes System integrieren kann (vgl. unten, 6.2). 2.3 Denkbare Einwnde In diesem Abschnitt werde ich sieben denkbare Einwnde gegen die antirealistische Interpretation aufgreifen und sie vorlufig entkrften. Alle diese Einwnde argumentieren dahingehend, dass die Unhaltbarkeit der antirealistischen Interpretation schon angesichts einiger textlicher Gegenbelege offensichtlich sei. Wie zu zeigen sein wird, beruhen die meisten dieser Einwnde lediglich auf Eindrcke, die mçglicherweise durch Kants Terminologie hervorgerufen werden. Sie sollten aber trotz ihrer Oberflchlichkeit nicht unterschtzt werden, denn es mangelt ihnen nicht an Anhngern und manchmal allerdings wird man leider durch Eindrcke mehr „berzeugt“ als durch mhsame Textanalyse. Es scheint mir daher ratsam, vor den spter durchzufhrenden konkreten Textanalysen den Scheincharakter solcher Eindrcke zu entlarven. Der erste Einwand drfte einem wohl am leichtesten einfallen: Einwand A: Der TrI ist zugleich der empirische Realismus, also kein Anti-Realismus. 84 Die „neutralistische Interpretation“ von Mechtenberg 2006 scheint prima facie der hiesigen neutralen Interpretation zu entsprechen. Da sie aber im Endeffekt den Anti-Realismus (ob nun ontologischen oder semantischen) verneint, kann sie nicht im oben stipulierten Sinne „neutral“ sein.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
Die Grundlosigkeit dieses Einwandes wird offensichtlich, wenn man einmal genau betrachtet, wie der „empirische Realismus“ (bzw. der „empirische Realist“) von Kant selbst charakterisiert wird.85 Dieser Terminus findet nur dreimal Verwendung in der KdrV, und zwar nur im vierten Paralogismus (A).86 Ich zitiere hier das erstmalige Vorkommen: „Der transzendentale Idealist kann hingegen ein empirischer Realist, mithin, wie man ihn nennt, ein Dualist sein, d.i. die Existenz der Materie einrumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum, anzunehmen.“ (A370)87
Der „Dualismus“ ist „die Behauptung einer mçglichen Gewißheit von Gegenstnden ußerer Sinne“ (A367). Daraus wird erkannt, dass der „empirische Realismus“ in erster Linie eine anti-skeptizistische Position ist, die behauptet, dass wir gewiss sein kçnnen, dass rumliche Gegenstnde existieren.88 Besonders zu beachten ist, dass im obigen Zitat kein Hinweis auf den ontologischen Status rumlicher Gegenstnde, deren Erkenntnis „gewiss“ sein soll, gegeben ist. (Dasselbe gilt auch fr die brigen beiden 85 Dieser Punkt wird manchmal ignoriert, und zwar gerade von Interpreten, die Kants „empirischen Realismus“ thematisieren; vgl. z. B. Wyller 1997, Collins 1999 und Abela 2002. 86 Nach einer elektronischen Textrecherche mit Kant im Kontext III bin ich zu dem Schluss gekommen, dass die Termini „empirischer Realism“ und „empirischer Realist“ im Gesamtkorpus von Kants Gesammelten Schriften nur an diesen drei Stellen der Erstauflage der KdrV vorkommen. Angesichts dessen finde ich es grundstzlich fragwrdig, diesen Termini eine allzu große exegetische Relevanz zuzuschreiben. 87 Die anderen beiden lauten: (1) „Also ist der transzendentale Idealist ein empirischer Realist und gesteht der Materie, als Erscheinung, eine Wirklichkeit zu, die nicht geschlossen werden darf, sondern unmittelbar wahrgenommen wird“ (A371). (2) „Alle ußere Wahrnehmung also beweist unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst, und insofern ist also der empirische Realismus außer Zweifel, d.i. es korrespondiert unseren ußeren Anschauungen etwas Wirkliches im Raume“ (A375). 88 Dagegen behauptet Allison: „Kant defines empirical realism as the doctrine that we are as immediately aware of bodies in space as ourselves in time“ (ders. 1973, S. 51). Dies kann jedoch nicht als definitorische Bestimmung des „empirischen Realismus“ verstanden werden, sondern vielmehr als eine Explikation des Mechanismus, dem gemß der TrI den empirischen Realismus ermçglicht. Denn der „empirische Idealismus“, der sich dem „empirischen Realismus“ entgegensetzt, charakterisiert Kant als die Position, die die Existenz rumlicher Gegenstnde bezweifelt, und nicht als die These, dass sie nicht unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen; vgl. unten, 5.2.3, Anm. 260.
2.3 Denkbare Einwnde
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Textstellen.) Dies spricht dafr, dass der „empirische Realismus“, zunchst Kants eigener Charakterisierung gemß, gar keine Implikationen besitzt, die mit dem Anti-Realismus im dummettschen Sinne kollidieren kçnnten.89 Im vierten Paralogismus (A) argumentiert Kant sogar im Gegenteil so, dass der „empirische Realismus“ nur aufgrund eines Anti-Realismus mçglich ist; dies werde ich in Abschnitt 5.2 durch eine konkrete Textanalyse nachweisen. Die obige Betrachtung drfte aber schon ausreichen, um die Haltlosigkeit des betreffenden Einwands zu entlarven. Der nchste Einwand betrifft ein damit eng zusammenhngendes Thema: Einwand B: Der dummettsche Anti-Realismus ist ein „materialer Idealismus“ (bzw. Idealismus la Berkeley), den Kant selbst ausdrcklich ablehnt. Der TrI ist also kein Anti-Realismus. Dieser Einwand wird hufig gegen die phnomenalistische Interpretation erhoben; er ist mittlerweile so populr geworden, dass er von manchen Interpreten fr offensichtlich gehalten wird. Fr ihn gilt aber dasselbe wie fr den letzten Einwand: Wenn einmal genau betrachtet wird, wie Kant selbst den abzulehnenden „Idealismus“ bzw. die Position Berkeleys charakterisiert, dann verflchtigt sich die scheinbare Kraft dieses Arguments fast vollstndig.90 89 Der Umstand ndert sich nicht, auch wenn man den Terminus „empirische Realitt“ beobachtet; vgl. A28/B44, A35/B52, A36/B53, A37/B54, A582/B610 (zweimal) und A675/B703. (Ich betone wiederum, dass auch dieser Terminus an keiner anderen Textstelle in der ganzen Akademieausgabe auftaucht.) Auch an diesen Textstellen ist nichts darber entschieden, ob raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. Kants Ansicht weist meines Erachtens eine gewisse Verwandtschaft auf mit der Zielsetzung des „quasi-realism“ von Simon Blackburn (vgl. ders. 1980). Kant denkt nmlich, dass sein TrI, trotz dessen anti-realistischer Ontologie, den meisten unserer Common-Sense-berzeugungen Rechenschaft geben kann. (Ich zçgere allerdings, diese Ansicht als „empirischen Realismus“ zu bezeichnen, wegen des Mangels der textlichen Belege dafr.) – Dergleichen ist aber eigentlich nichts fr Kant Eigentmliches, sondern gerade dasjenige, auf was jeder Vertreter des Idealismus/Phnomenalismus/Anti-Realismus (selbst Berkeley!) zumindest abgezielt hat. 90 In Bezug auf den vierten Paralogismus (A) sagt Graham Bird: „[I]f Kant’s aim is to reject a traditional idealist skepticism, it is puzzling that some commentators think of the passage as a Kantian commitment to that idealist view“ (ders. 2005, S. 639). Es ist mir aber viel rtselhafter, wie solche Interpreten wie Bird sich damit zufrieden geben konnten, Kants eigene Charakterisierung des materialen Idealismus
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
Ich werde dieses Thema in 5.2.3 ausfhrlich erçrtern, mçchte aber hier das Ergebnis der dortigen Untersuchung kurz vorannehmen: Die definitorische Bestimmung des „materialen Idealismus“ erschçpft sich darin, dass er diejenige Position ist, die die Existenz rumlicher Gegenstnde „bezweifelt“ („skeptischer Idealismus“) oder „leugnet“ („dogmatischer Idealismus“). Kant identifiziert zudem die Position Berkeleys nicht mit der berhmten These „esse est percipi“, sondern mit dem dogmatischen Idealismus im obigen Sinne. Solche Positionen haben aber offensichtlich nichts mit dem Anti-Realismus im dummettschen Sinne zu tun, sogar auch nichts mit dem Phnomenalismus. Dass die anti-realistische Interpretation auch mit Kants Argumentation gegen den materialen Idealismus vereinbar ist, lsst sich allerdings nur durch konkrete Textanalyse nachweisen (in Kapitel 5). Klar ist aber: Kants Ablehnung des „Idealismus“ bloß anzufhren, ist ohnehin unzulnglich, um die anti-realistische Interpretation zu disqualifizieren. (Außerdem beruhen derartige Einwnde hufig bloß auf der Karikatur des Phnomenalismus; vgl. oben, 1.4 (C).) Einwand C: Kant billigt, was man heutzutage „wissenschaftlichen Realismus“ nennt. Der TrI ist also kein Anti-Realismus. Dabei wird mçglicherweise auf Kants Beispiel der „magnetischen Materie“ (A226/B273) zurckgegriffen, das dafr spricht, dass er der Ansicht ist, dass unbeobachtbare Dinge ebenso wie beobachtbare existieren.91 Hierbei muss zuerst gefragt werden, was unter „wissenschaftlichem Realismus“ verstanden wird; vor allem in Abgrenzung zu seinem Gegenspieler, dem „Instrumentalismus“. Ein Streitpunkt ist nmlich, ob unbeobachtbare „theoretische“ Gegenstnde (wie Atome oder Elektronen) existieren oder nicht. Wenn man nun, unter ausschließlicher Bercksichtigung dieses Streitpunktes, den „wissenschaftlichen Realismus“ als Billidurchweg zu ignorieren und stattdessen ihr eigenes Verstndnis von „Idealismus“ bzw. Berkeley auf Kant zu projizieren. 91 Derartiger Einwand (samt diesem Beispiel) wird hufig gegen die phnomenalistische Interpretation erhoben; vgl. Langton 1998, S. 143 f., Allais 2003, S. 383, dies. 2004, S. 663, Ameriks 2006, S. 82 und Rosefeldt 2007, S. 168, Anm. 7. Angesichts dessen kann ich mich einer berraschung nicht erwehren. Glauben solche Interpreten wirklich, dass Phnomenalisten des letzten Jahrhunderts wie Carnap und Ayer die Existenz der Atome oder Elektronen verneinten? – In diesem Punkt finde ich Allisons Verfahren viel adquater. Er gesteht zu, dass Kants Beispiel der magnetischen Materie vielmehr, zumindest anscheinend, einen Phnomenalismus nahelegt; vgl. ders. 2004, S. 41.
2.3 Denkbare Einwnde
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gung der Existenz theoretischer Gegenstnde definiert, dann erweist sich Kant zweifelsohne als ein wissenschaftlicher Realist in diesem Sinn. Ein derartiger wissenschaftlicher Realismus ist aber fr Anti-Realisten problemlos. Sie wrden sagen: Sowohl beobachtbare als auch unbeobachtbare Gegenstnde „existieren“ natrlich, aber eben nur abhngig von unserer Erkenntnis! Dem „wissenschaftlichen Realismus“ wird aber blicherweise noch die in Kapitel 1 dargelegte realistische Implikation beigelegt, dass nmlich fragliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren.92 Wenn man ihn in diesem Sinne versteht, wird es durchaus fragwrdig, ob Kant ihn tatschlich befrwortet. Diese Frage lsst sich ohnehin nicht mit einer bloßen Anfhrung von Kants Beispiel der magnetischen Materie entscheiden.93 Nachlssige Verwendung nicht-kantischer Termini (wie „Realismus“, „Phnomenalismus“, „Kohrenztheorie“ usw.) sieht man bei Kant-Forschern leider nicht gerade selten. Der nchste Einwand liefert ebenfalls ein Zeugnis davon ab: Einwand D: Die Wahrheit ist, Kants berhmter „Namenerklrung“ zufolge, „die bereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (A58/B82; vgl. auch A191/B236, A237/B296, A642/B670 und A820/B848). Dies spricht dafr, dass Kant die sogenannte Korrespondenztheorie der Wahrheit vertritt. Diese ist aber die wahrheitstheoretische Gegenposition zum Anti-Realismus. Der TrI ist also kein Anti-Realismus. Hierbei ist ußerst wichtig, was unter „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ verstanden wird. Dies ist jedoch nicht eindeutig, nicht nur in Arbeiten zu Kant, sondern in der philosophischen Literatur berhaupt. Es gibt z. B. folgende Deutungsvarianten:
92 Vgl. z. B. Horwich 1996, S. 189: „He [sc. scientific realist] holds, moreover, that the theoretical facts are, in various senses, independent of us“; und auch die Definition des „scientific realism“ von van Fraassen 1980, S. 8: „Science aims to give us, in its theories, a literally true story of what the world is like“ (kursiv von K.C.). 93 Die Fragwrdigkeit wird dadurch noch erhçht: Kants Erwhnung der magnetischen Materie findet sich gerade im Kontext der „Postulate des empirischen Denkens berhaupt“, wo behauptet wird, dass die Wirklichkeit eines raumzeitlichen Gegenstandes den „Zusammenhang desselben mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung“ erfordert (A225/B272); vgl. unten, 6.1.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
(1) quivalenzthese schlechthin: Aussage „p“ ist genau dann wahr, wenn p. 94 (2) Definition der Wahrheit mit Rekurs auf Tatsachen: Dass eine Aussage wahr sei, bedeutet, dass es eine Tatsache gebe, die mit ihr korrespondiere.95 (3) Definition der Wahrheit mit Rekurs auf Tatsachen, und zwar realistisch: Dass eine Aussage wahr sei, bedeutet, dass es eine erkenntnisunabhngige Tatsache gebe, die mit ihr korrespondiere. (4) Realistische Wahrheitskonzeption schlechthin.96 Es sind nun nur die letzten beiden Deutungen der Korrespondenztheorie, die mit dem dummettschen Anti-Realismus unvertrglich sind. Es gibt aber keinen berzeugenden Grund dafr, dass jene „Namenerklrung“ 94 Z.B. ist Alfred Tarski der Ansicht, dass die quivalenzthese (sein Wort: „Criterion for the Material Adequacy of the [Truth-]Definition“) die Intuition der herkçmmlichen Korrespondenztheorie wiedergibt (vgl. ders. 1944, Teil I, § 3; auch Popper 1963, Kap. 10). Seine sogenannte „semantische Theorie der Wahrheit“ ist in der Tat realistisch, aber nicht wegen der quivalenzthese, sondern vielmehr deswegen, weil er dabei den Realismus mit der klassisch-bivalenten Logik voraussetzt. William Alston behauptet, dass schon aus der quivalenzthese allein eine gewisse realistische Wahrheitskonzeption abzuleiten sei; vgl. ders. 1996, Kap. 1. Jedoch erscheint diese Ableitung nur deshalb mçglich zu sein, weil er von Anfang an die realistische Ontologie implizit voraussetzt; vgl. Khlentzos 2004, S. 38 – 42. 95 Vgl. z. B. Kirkham 1992, Wright 1995 und 1999. Zu beachten ist, dass es in dieser Deutung unentschieden bleibt, ob „Tatsachen“ unabhngig von unserer Erkenntnis bestehen sollen oder nicht. Sie lsst also auch eine anti-realistische Korrespondenztheorie zu. Kirkham fhrt solche Beispiele an; vgl. ibid., S. 133 f. 96 Klassische Vertreter von (3) sind z. B. Russell 1912, Wittgenstein 1922 und Austin 1950. Rohs 2001 hingegen vertritt ausdrcklich die Deutung (4). Die beiden werden jedoch hufig nicht strikt unterschieden; vgl. z. B. Putnam 1978, 1981, BonJour 1985, Walker 1989a und 1997. Es kommt bei ihnen lediglich darauf an, dass die „Korrespondenztheorie“ eine realistische Wahrheitskonzeption ist. Philosophen, die die Deutung (3) wissentlich vertreten, intendieren vielmehr, die „Korrespondenztheorie“ deswegen zu kritisieren, weil sie die berchtigte „Ontologie der Tatsachen“ voraussetzte; vgl. Davidson 1990 und Horwich 1998. (Ein prgnanter berblick ber die Problematik der „Ontologie der Tatsachen“ findet sich in Neale 2001, Kap. 1.) Ich finde folgende Bemerkung Kirkhams zutreffend: Wenn ein Philosoph die Mçglichkeit der nicht-realistischen Version der Korrespondenztheorie nicht erwhnt, ist es wahrscheinlich, dass er nur eine realistische Version im Sinne hat; vgl. ders. 1992, S. 192 f. – Es ist daher verstndlich (obzwar nicht berechtigt), dass manche Kant-Interpreten jene „Namenerklrung“ realistisch verstanden haben. Bei der Exegese muss man jedoch in diesem Punkt sorgfltig sein.
2.3 Denkbare Einwnde
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derart verstanden werden muss.97 Die nachfolgende Untersuchung von Kants konkreten Argumentationen wird herausstellen, dass der TrI zumindest fr raumzeitbezgliche Aussagen die realistische Wahrheitskonzeption nicht einrumt. Ob Kant eine Korrespondenztheorie oder eine Kohrenztheorie der Wahrheit vertritt, wird in der vorliegenden Abhandlung nicht entschieden. Ich konzentriere mich vielmehr auf den Punkt, dass die Wahrheitskonzeption des TrI (hinsichtlich des raumzeitlichen Bereichs) anti-realistisch ist. Einwand E: Kant erkennt das Bivalenzprinzip bzw. den Satz vom ausgeschlossenen Dritten an. Kants TrI ist also kein dummettscher Anti-Realismus (vgl. z. B. Hanna 2000, S. 239 und Allais 2003, S. 385 f.). Dieser Einwand berhrt meine Version der anti-realistischen Interpretation nicht unmittelbar, denn der Anti-Realismus in meiner Definition schließt das Bivalenzprinzip nicht von vornherein aus. Dies ist ein Grund dafr, dass ich den Realismus/Anti-Realismus nicht mittels des Bivalenzprinzips, sondern anhand der Wahrheitskonzeption definiert habe. Es steht nun außer Zweifel, dass Kant selbst den Satz vom ausgeschlossenen Dritten akzeptiert (vgl. Logik, Ak. 9, S. 53, S. 116 f. und S. 130). Ich werde jedoch in Kapitel 7 nachweisen, dass sich das uneingeschrnkte Bivalenzprinzip mit Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit nicht vertrgt. Darauf stehen Interpreten folgende drei Alternativen offen. Sie kçnnen (1) bloß auf diese Inkonsistenz hinweisen und damit enden; oder (2) Kants Ansicht der formalen Logik erhellen, indem sie seine ontologischen berlegungen, zumindest teilweise, außer Acht lassen; oder (3) Kants ontologische berlegungen zu erhellen, indem sie Kants Akzeptanz der traditionellen Logik, zumindest teilweise, außer Acht lassen. Die Alternative (1) ist allzu drftig, selbst in exegetischer Hinsicht. Denn sie wrde viele Einsichten Kants unentwickelt lassen. Die Entscheidung zwischen (2) und (3) hngt eigentlich nur davon ab, ob der jeweilige In97 Darauf wurde schon von Putnam 1981, S. 63, hingewiesen. Ralph Walker macht zudem darauf aufmerksam, dass soviel selbst von der Kohrenztheorie der Wahrheit zugestanden wird; vgl. ders. 1983. S. 160 und 1989a, S. 2 f.
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Kapitel 2 Grundriss der anti-realistischen Interpretation
terpret bei seiner Interpretation das grçßere Gewicht entweder Kants ontologischen berlegungen oder seiner formalen Logik zumisst. Ich whle dabei die Alternative (3), weil der Schwerpunkt der vorliegenden Abhandlung auf Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit liegt. Einwand F: Kant sagt aus, dass „Vorstellung an sich selbst (denn von deren Kausalitt, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede,) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringt“ (A92/B125). Damit verneint er explizit, dass die Existenz raumzeitlicher Gegenstnde abhngig von uns ist (vgl. Allais 2004, S. 665). Ich gebe zu, dass Kants derartige Aussagen (die z. B. auch in A179/B221, A633/B661 und im Brief an Herz vom 21. Febr. 1772, Ak. 10, S. 131, gefunden werden) nicht nur der phnomenalistischen Interpretation entgegenstehen, sondern mehr noch der anti-realistischen Interpretation in meinem Sinn, insofern diese dem TrI eine Art des Konstruktivismus zuschreibt. Ich mçchte aber zunchst betonen, dass es fr die Zurckweisung der anti-realistischen Interpretation nicht ausreicht, lediglich einige textliche Gegenbelege anzufhren; keine einzelne Textpassage ist exegetisch entscheidend. Man kçnnte z. B., wie Prauss 1991, dahingehend argumentieren, dass Kant an den betreffenden Textstellen seinen eigentlichen „kritischen“ Begriff der Wirklichkeit nicht durchhalten konnte. Allerdings ist solch eine radikale „Kant-Kritik“ gar nicht notwendig. Worauf es an den betreffenden Textstellen ankommt, ist der Unterschied zwischen Erkenntnis und Handlung, nmlich, dass man fr die erstere nicht in gleichem Sinn fr die letztere sagen kann, dass sie ihren Gegenstand hervorbringe. Wenn also die anti-realistische Interpretation einen spezifischen Sinn der „Konstruktion der raumzeitlichen Wirklichkeit“ ausarbeiten kann, die von der Handlung im blichen Sinne unterschieden wird, kann sie mit Kants genannter Aussage vertrglich gemacht werden; ich werde dies in 8.4.2 vornehmen. – „Konstruktion“ ist ohnehin bloß eine Metapher. Wenn man sie hinreichend przisiert, dient sie mçglicherweise als ein ntzliches explicans, auch wenn sie Kants eigener Terminologie nicht exakt passt. Einwand G: Kant ist zweifelsohne der Ansicht, dass Gegenstnde der Erfahrung „çffentlich“ sind, in dem Sinne, dass mehrere Erkenntnissubjekte auf denselben Gegenstand referieren kçnnen. Dies kann aber der Phnomenalismus/Anti-Realismus nicht akzeptieren, indem er
2.3 Denkbare Einwnde
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raumzeitliche Gegenstnde zu mentalen Entitten macht, die nur privat sind (vgl. Rosefeldt 2001, S. 265 und Allais 2004, S. 662).98 Anders als die vorherigen stellt dieser Einwand eine echte Herausforderung fr die anti-realistische Interpretation dar. Ich versuche hier nur zu zeigen, dass er fr die anti-realistischen Interpretation nicht sofort fatal ist. Zunchst ein exegetischer Punkt: Auch wenn sich die ffentlichkeit der Gegenstnde als absolut unvereinbar mit dem Anti-Realismus erweisen sollte, bedeutet diese Konsequenz nicht sofort das Scheitern der phnomenalistischen bzw. anti-realistischen Interpretation. Man frage sich: Beabsichtigten tatschliche Phnomenalisten, wie Berkeley, Hume, Carnap, Ayer usw., mit ihrem Phnomenalismus wissentlich, die ffentlichkeit rumlicher Gegenstnde zu verneinen? Natrlich nicht! Diese Konsequenz zeigt also allenfalls, dass ihre Positionen nicht konsequent waren, aber nicht, dass sie keine Phnomenalisten waren; dasselbe gilt auch fr die phnomenalistische Interpretation des kantischen TrI. Indessen ist die betreffende Konsequenz schon an sich fragwrdig. Ich zeichne hier eine Skizze der Argumentation, die sie im Rahmen des AntiRealismus zurckweist. Es ist instruktiv zu beachten, dass auch im Rahmen des Realismus rumlicher Gegenstnde folgende erkenntnistheoretische Frage gestellt wird: Wie kann ich epistemisch rechtfertigen, dass ich dasselbe Ding erkenne, das die Anderen ebenfalls als dieses identifizieren? Diese Frage muss sowieso beantwortet werden (sonst ergbe sich ein Skeptizismus der Referenz auf çffentliche Gegenstnde). Und wenn eine Antwort gegeben wird – nennen wir sie „“ –, kann sie mutatis mutandis auf die anti-realistische Ontologie angewandt werden, und zwar wie folgt: Ein çffentliches Ding existiert gdw. irgendein Subjekt es in -Weise erkennen kann; dadurch wird die Existenz einzelner raumzeitlicher Gegenstnde nicht durch Erkenntnisse einer Einzelperson, sondern auf unsere – von Grund aus sozialen – Erkenntnispraxen fundiert.99 Fr die Ausarbeitung dieses Lçsungsansatzes bedarf es einer ausfhrlichen sachlichen Untersuchung, die den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen wrde. Die obige Betrachtung wrde aber schon dafr 98 Willaschek stellt diesen Diskussionspunkt (unter anderem) als ein allgemeines Problem fr den idealistischen Anti-Realismus dar; vgl. ders. 2003, S. 22 f. 99 Man beachte, dass diese Strategie selbst fr den Phnomenalismus verfgbar ist, weil er sich nicht daran beteiligen muss, rumliche Gegenstnde mit mentalen Entitten gleichzusetzen; vgl. oben, 1.4 (C).
66 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? gengen, um den betreffenden Einwand, der prima facie entscheidend aussah, in sachlicher Hinsicht zu entkrften.
Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/ Metaphysisch oder methodologisch? In diesem Kapitel beschftige ich mich mit den aktuellen Interpretationsmustern wie der Zwei-Welten- und der Zwei-Aspekte-Interpretation (die ihrerseits die metaphysische und die methodologische Variante hat). Das Ziel ist es, Standpunkte der jeweiligen Positionen sowie deren Verhltnisse zur realistischen/anti-realistischen Interpretation zu verdeutlichen. Die Notwendigkeit, diesem Thema ein Einzelkapitel zu widmen, ergibt sich nicht nur aus seiner Wichtigkeit fr die gegenwrtige Interpretation des TrI, sondern auch aus der Verstndnisschwierigkeit dessen, worum es sich in der Debatte zwischen verschiedenen Interpretationsmustern eigentlich handelt. Schon um den Gehalt der in dieser Debatte vertretenen Positionen klarzumachen, bedarf es einer sorgfltigen Untersuchung. Dieses Kapitel hat drei Abschnitte: In 3.1 stelle ich die Zwei-WeltenInterpretation und die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation dar. Dabei erweist sich, dass die letztere mit der in 2.2 (B) dargestellten realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation bereinstimmt. In 3.2 erçrtere ich die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation. Ich werde zeigen, dass deren Varianten von Henry Allison sowie Gerold Prauss, die jeweils der realistischen und der anti-realistischen Interpretation entsprechen, in je eigener Weise inkonsistent sind; bei der ersteren kollidiert ihr Realismus mit ihrem „methodologischen“ Charakter und die letztere fllt mit der Zwei-Welten-Interpretation zusammen. Die konsequent durchgefhrte methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation luft auf einen radikalen AntiRealismus hinaus, der das erkenntnisunabhngig Existierende aller Art verneint, sie ist aber deswegen exegetisch unplausibel. In 3.3 betrachte ich noch brige Alternativen und biete anschließend ein Argument an, das den Rahmen der aussichtsreichen Interpretationsoptionen im Voraus einschrnkt. Die These ist: Die vertretbaren Optionen werden von der realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation und der anti-realistischen Interpretation ausgeschçpft; sonstige Optionen sind entweder innerlich inkonsistent oder exegetisch deutlich unattraktiv oder fallen im Endeffekt
3.1 Zwei-Welten- und metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation
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mit einer von jenen zusammen. Am Ende, in 3.4, stelle ich meine Diskussionsstrategie fr die nachfolgende Untersuchung dar. Im brigen unterscheide ich hier nicht „Dinge an sich“, „transzendentalen Gegenstand“ und „Noumena“; dieses Thema wird in 8.1.1 ausfhrlich erçrtert. 3.1 Zwei-Welten- und metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation Die Zwei-Welten- und die Zwei-Aspekte-Interpretation beziehen sich auf Kants transzendentale Unterscheidung zwischen „Erscheinung“ und „Ding an sich“. Beiden ist gemeinsam, dass sie die Konzeption der „Dinge an sich“ als einen konsistenten sowie respektablen Bestandteil von Kants Philosophie beibehalten wollen; in dieser Hinsicht unterscheiden sie sich von der interpretatorischen Einstellung, wie sie von deutschen Idealisten und NeuKantianern geteilt wurde, nmlich „Dinge an sich“ als Rckstand der vorkritischen Denkart abzulehnen. Der Gegensatz zwischen der Zwei-Welten- und der Zwei-AspekteInterpretation handelt von der Frage, ob „Erscheinung“ und „Ding an sich“ zwei Aspekte ein und desselben einzelnen Dings (das wir empirisch erkennen) sind oder nicht. Die erstere (die manchmal auch „Zwei-ObjekteInterpretation“ genannt wird) beantwortet diese Frage negativ und behauptet, dass „Erscheinung“ und „Ding an sich“ zwei distinkte Entitten sind (oder zumindest nicht zwei Aspekte ein und desselben Dings sind). Die Bezeichnung „Zwei-Welten“ ist allerdings irrefhrend. Die ZweiWelten-Interpretation behauptet nicht, dass die phnomenale und die noumenale Welt ohne Zusammenhang bloß nebeneinander stehen; außerdem kçnnte selbst die Zwei-Aspekte-Lehre „Zwei-Welten-Lehre“ genannt werden, in dem Sinne, dass ein und dasselbe Ding zu zwei andersartigen Seinsordnungen, d. h. zu zwei Welten, gehçrt. Angesichts dessen hat Allen Wood neulich die Bezeichnung „non-identity“ statt „twoworld“ vorgeschlagen (ders. 2005, S. 64).100 Obwohl ich diese Bezeich-
100 Eigentlich zieht er die Bezeichnung „causality interpretation“ vor, diese ist aber ohnehin zu eng, um mehrere Varianten der Zwei-Welten-Interpretation unter sich subsumieren zu kçnnen (denn es gibt auch solche Varianten, die sich an der „nonidentiy“-Interpretation beteiligen und doch die Affektion durch Dinge an sich verneinen). Außerdem finde ich die Bezeichnung „non-identity“ passender auch wegen des Kontrasts zur Zwei-Aspekte-Interpretation, die Wood „identity interpretation“ nennt.
68 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? nung passender finde, verwende ich in der vorliegenden Abhandlung den herkçmmlichen Terminus. Wie Walker 2010 suggeriert, ist die Bezeichnung „Zwei-Welten“ bloß eine Metapher. Man halte bitte immer meine obige Definition fest, wenn im Nachfolgenden „Zwei-Welten-Interpretation“ besprochen wird. Die Zwei-Welten-Interpretation harmoniert gut mit der anti-realistischen Interpretation; demgemß wird die „Erscheinung“ als etwas Erkenntnisabhngiges wie Vorstellung, intentionales Objekt, logisches Konstrukt aus Sinnesdaten usf. verstanden, das „Ding an sich“ hingegen als etwas von unserer Erkenntnis unabhngig Existierendes.101 – Indessen sind auch realistische Varianten der Zwei-Welten-Interpretation (oder diejenigen, welche in meinem Sinne als realistisch zu bezeichnen sind aber dennoch die Zwei-Aspekte-Interpretation verneinen) zumindest denkbar; ich erçrtere diese Option im bernchsten Abschnitt. Ich fge hier zwei Bemerkungen hinzu: (1) Die Zwei-Welten-Interpretation muss nicht unbedingt annehmen, dass die Erscheinungen eine zustzliche Klasse der Entitten neben der Klasse der Dinge an sich ausmachen. James Van Cleve, ein neuester Vertreter der Zwei-Welten-Interpretation, behauptet z. B., dass die ersteren logische Konstrukte aus den letzteren sind, so dass es streng genommen nur „a world whose only denizens are things in themselves“ gibt (ders. 1999, S. 150). (2) Die Zwei-Welten-Interpretation wird blicherweise derart verstanden, dass sie die Existenz der Dinge an sich bejaht. Indessen ist auch diejenige Position denkbar, welche den oben dargestellten Begriff der „Dinge an sich“ teilt und sich dennoch enthlt, die Existenz solcher Dinge positiv zu behaupten; dies ist z. B. die Position der „Two Concept Theory“ von Hanna 2001 (S. 110 – 3; vgl. auch Rescher 1972 und 1981).
Die Zwei-Welten-Interpretation wird manchmal, besonders von ihren Kritikern, von Anfang an als eine deutlich unattraktive Option definiert (z. B. Robinson 1994; vgl. unten, Anm. 133). So definiert, wrde es eine leichte Arbeit, die ZweiWelten-Interpretation zurckzuweisen. Ich finde ein solches Verfahren wesentlich unfruchtbar in der interpretatorischen Debatte. Man erinnere sich daran, dass auch die Zwei-Welten-Interpretation verschiedene Verfeinerungen erlaubt. 101 Z.B.: Bennett 1966, 1974, Aquila 1979, 1983 und Van Cleve 1999 (sie sind auch Vertreter der phnomenalistischen Interpretation); auch Turbayne 1955, Strawson 1966, Klemme 1996 und Schulting 2010b.
3.1 Zwei-Welten- und metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation
69
Die Zwei-Aspekte-Interpretation wird weiterhin in eine metaphysische 102 und eine methodologische (bzw. „metaphilosophische“) Variante103 unterteilt. Letztere ist ihrem Inhalt nach schwer zu greifen. Ich stelle also zunchst Erstere dar. Vertreter der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation verteidigen folgende These: „Erscheinung“ (oder besser: der Erscheinungsaspekt eines Dings) bezeichnet diejenige Eigenschaft104 (nmlich Seinsweise im Kontrast zur Betrachtungsweise) eines von uns erfahrenen Dings, die diesem insofern 102 Z.B.: Adickes 1924, Paton 1936, Sellars 1968, Howell 1979 und 1981, Ameriks 1992 u. a., Collins 1999, Rogerson 1999, Allais 2004 u. a., Wood 2005 und Rosefeldt 2007. – Paul Guyer ist manchmal als Vertreter der Zwei-Welten-Interpretation angesehen worden, er hat aber neulich (in Wood/Guyer/Allison 2007, S. 12) bekannt, dass seine Position vielmehr der metaphysischen Zwei-AspekteInterpretation entspricht. 103 Als ihre reprsentativen Vertreter werden blicherweise Gerold Prauss und Henry Allison genannt; außerdem Pogge 1991, Grier 2001 und Quarfood 2004. Der Gegensatz „metaphysisch/methodologisch“ ist in der Literatur noch nicht lange in dieser Deutlichkeit bewusst hervorgetreten. Hoke Robinson z. B. unterscheidet die beiden nicht und klassifiziert als Zwei-Aspekte-Interpreten sowohl Prauss und Allison als auch Adickes und Paton; vgl. ders. 1994, Anm. 22. 104 Es ist zwar fragwrdig, ob die Darstellung mit dem Wort „Eigenschaft“ fr Lucy Allais’ Variante der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zutrifft. Denn sie sagt in dies. 2006 (S. 158 – 63) explizit, es handle sich bei Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich nicht um zwei andersartige Eigenschaften, sondern vielmehr um „two ways of knowing things“ (allerdings in einem anderen Sinn als bei Allisons methodologischen Interpretation; vgl. ibid., S. 163 f.). Ich bin aber nicht sicher, ob dies ihre letztendliche Position ist. Wie Langton in ihrer Kritik an Allais suggeriert (dies. 2006, S: 180), kann man anscheinend auch sagen, dass zwei andersartige „ways of knowing“ in der Tat zwei andersartige Eigenschaften stipulieren. Dieses Thema bezieht sich auf die große Frage, wie das Verhltnis zwischen Eigenschaften und Begriffen (bzw. Weise zu erkennen) von diesen verstanden werden soll, was z. B. in der heutigen Literatur ber die Response-Dependence oft zur Diskussion kommt; als eine erleuchtende Erçrterung darber, vgl. Sveinsdttir 2010. (Die Ansicht von Allais 2006 entspricht ungefhr der Position Philip Pettits (vgl. ders. 1991 u. a.), die besagt, dass die Response-Dependence nicht von Eigenschaften, sondern von Begriffen handelt, Langtons Ansicht hingegen entspricht der Position Sveinsdttirs.) Ich finde es allerdings nicht so sehr problematisch in der hiesigen einfhrenden Erluterung, zwei Aspekte bei der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation als zwei andersartige Eigenschaften zu erklren, denn auf das obige Problem einzugehen ist nicht nçtig, um die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation von der methodologischen zu differenzieren. Das obige Problem gehçrt vielmehr zum Kontext der Ausarbeitung einzelner Varianten der metaphysischen Zwei-AspekteInterpretation.
70 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? zukommt, als es uns durch unsere Formen der Anschauung erscheint, also in diesem Sinn subjektabhngig ist. „Dinge an sich“ (oder besser: der „an sich“-Aspekt des Dings) bezeichnet hingegen die Eigenschaft desselben Dings, die es unabhngig von unserer Erkenntnis „an sich selbst“ hat. Im Nachfolgenden klassifiziere ich nur diese Denkrichtung als „metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation“, obwohl man in der Literatur auch andersartige Varianten findet, denen diese Bezeichnung zugewiesen wird.105
105 Ich fhre hier zwei Beispiele an: (1) Rae Langton 1998 legt eine eigentmliche Zwei-Aspekte-Interpretation vor. Ihr zufolge bezeichnen „Erscheinung“ und „Ding an sich“ jeweils relative und nicht-relative Eigenschaften der Dinge und – anders als in der oben dargestellten Standerdversion der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation – nicht nur die letzteren sondern auch die ersteren sind in keinem Sinn subjektabhngig. Obgleich diese Interpretationsrichtung zu Recht als „metaphysisch“ sowie als eine „Zwei-Aspekte-Interpretation“ qualifiziert werden kçnnte, lasse ich sie im Folgenden außer Acht, denn ihr radikaler Realismus kollidiert deutlich mit manchen Theoriestcken der KdrV, insbesondere mit der Transzendentalen sthetik, wie Langton selbst zugesteht; vgl. auch Ameriks 2001 und Falkenstein 2001 fr berzeugende Kritik an Langton. Ihre „Interpretation“ sollte meines Erachtens besser als Versuch zur Fortentwicklung des kantischen Denkens verstanden werden. Langton selbst schwankt manchmal zwischen Exegese und Fortentwicklung. In dies. 2001 nennt sie Strawson und Guyer als ihre Vorgnger, die „think it possible in principle to take the sweets of the Analytic without the bitters of idealism“ (S. 66). Ich finde diesen Vergleich verfehlt. Strawson und Guyer besitzen ein klares Bewusstsein ber den Unterschied zwischen Exegese und Fortentwicklung, und das ist gerade, woran es Langton mangelt. (2) Kenneth Westphals „metaphysical dual aspect“-Interpretation (in ders. 2004, Kap. 2) versteht unter dem „an sich“-Aspekt nicht Eigenschaften, die die Dinge unabhngig von unserer Erkenntnis haben. Westphal nimmt vielmehr an, dass raumzeitliche Gegenstnde, die unter zwei Aspekten zu betrachten sind, nur abhngig von unserer Erkenntnis existieren (vgl. ibid. S. 59 f.), so dass sie keinen erkenntnisunabhngigen Aspekt haben kçnnen. (Ich danke Kenneth Westphal fr diesen Hinweis in einer privaten Gesprch; Schulting 2010a, S. 8 f., missreprsentiert Westphals exegetische Position in diesem Punkt.) Westphals exegetische Position ist vielmehr mit der gleich zu erçrternden methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation verwandt, besonders in ihrer Behauptung, dass „[the double aspect] is due to two ways of regarding or considering things [. . .]“ (ibid., S. 58). Was sie als „metaphysisch“ auszeichnet, ist, dass Westphal bewusst anerkennt, dass ein solcher Interpretationsansatz, der Ansicht der methodologischen Interpreten entgegen, auf eine „idealist metaphysics“ (ibid.) festgelegt wird. (Im nchsten Abschnitt verteidige ich diese Auffassung Westphals.) Wegen dieses
3.1 Zwei-Welten- und metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation
71
Manche Vertreter dieser Option intendieren wissentlich eine realistische Interpretation,106 es kann aber auch nachgewiesen werden, dass die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation ohnehin auf die realistische Interpretation in meinem Sinne festgelegt wird: Sie nimmt an, dass ein und demselben Ding, das wir als einen raumzeitlichen Gegenstand erkennen, auch erkenntnisunabhngige Eigenschaften zukommen; aber dasjenige, was solche Eigenschaften berhaupt haben kann, muss als solches unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, auch wenn ihm zustzlich irgendeine erkenntnisabhngige Eigenschaft zukommt (denn es wre absurd zu denken, dass eine nur abhngig von unserer Erkenntnis existierende Entitt eine erkenntnisunabhngige Eigenschaft haben kann). So luft dieser Interpretationsansatz auf die in 2.2 (B) dargestellte realistische ZweiAspekte-Interpretation hinaus. Wiederum zwei Bemerkungen: (1) Wie in 2.2 (B) diskutiert, muss diese interpretatorische Option nicht unbedingt annehmen, dass dasjenige, dem zwei Aspekte zugeschrieben werden, eine noumenale Substanz ist.107 Sie muss jedoch ohnehin zugestehen, dass dergleichen sich unabhngig von unserer Erkenntnis individuiert. (2) Kant charakterisiert „Ding an sich“ manchmal als „Gegenstand des Denkens (oder Verstandes)“. Die metaphysische und die methodologische Variante der Zwei-Aspekte-Interpretation geben dieser Charakteristik andersartige Deutungen. Der ersteren gemß ist „Ding an sich“ (nmlich der „an sich“-Aspekt des Dings) deswegen ein „Gegenstand des Denkens“, weil wir es (zumindest im Rahmen der theoretischen Philosophie) nicht erkennen, sondern allenfalls ohne Wissensanspruch bloß denken kçnnen. Wichtig ist, dass damit nicht gemeint ist, dass der „an sich“-Aspekt in irgendeiner Weise abhngig von unserem Denken ist. Der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zufolge sollen Dinge, die uns als raumzeitlich Umstandes klassifiziere ich Westphals interpretatorische Option vielmehr als eine Variante der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation. 106 Vgl. z. B. Allais 2006 und 2007. Rosefeldt (2007, S. 169 u. a.) ußert ebenfalls, dass seine Interpretation ermçglichen soll, raumzeitliche Gegenstnde als etwas „Außergeistiges“ zu verstehen, in einem fr die phnomenalistische Interpretation inakzeptablen Sinn. (Man beachte, dass selbst diese befrworten kann, dass rumliche Gegenstnde im „empirischen Sinne“ außer unserem Geist sind; vgl. unten, 5.2.2.) 107 Allison findet diese Annahme eigentmlich fr die metaphysische Zwei-AspekteInterpretation und bringt sie als ein Unterscheidungskriterium zwischen der metaphysischen und seiner methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation vor (ders. 2004, S. 52 f.). Ich sehe aber keinen zwingenden Grund dafr, weder in Allisons Argumentation noch in sachlicher Hinsicht.
72 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? erscheinen, solch einen Aspekt gerade „an sich selbst“ tragen, und dafr muss es irrelevant sein, ob sie von uns derart gedacht (bzw. „betrachtet“) werden oder nicht. Es wurde in der obigen Darstellung angenommen, dass es einzelne Dinge sind, denen die zwei Aspekte zugeschrieben werden. Indessen ist auch eine solche Option denkbar, die die zwei Aspekte nicht auf einzelne Dinge, sondern vielmehr die ganze Welt (oder kollektiv betrachtete Gegenstnde der Erfahrung im Ganzen) bezieht (z. B. „Two Perspective View“ von Robinson 1994 und Onof 2010). Ich erçrtere diese Option im bernchsten Abschnitt. In der Literatur findet man auch eine Mischform der Zwei-Weltenund der Zwei-Aspekte-Interpretation. Sie vertritt die erstere fr normale Gegenstnde der Erfahrung, die letztere hingegen fr menschliche Handlungssubjekte (z. B. Hanna 2001, S. 56, Anm. 39). Die Motivation zu dieser Option ist zwar verstndlich (weil Kants Doktrin des Handlungssubjekts den krftigsten Gegenbeleg zur Zwei-Welten-Interpretation liefert, wie in 6.4, expliziert wird), aber die Lçsung als solche ist allzu ad hoc, denn es ist in ontologischer Hinsicht hçchst dubios, fr Menschen eine Ausnahme zu machen.108 Ich lasse daher diese Option außer Acht. 3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation? Im Vergleich zu den gerade vorgefhrten Optionen ist die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation deutlich schwerer aufzufassen. Die Schwierigkeit nimmt noch dadurch zu, dass die reprsentativsten Vertreter derselben, Henry Allison und Gerold Prauss, in Wahrheit drastisch unter108 Vgl. auch Westphals Kritik an Hanna in ders. 2004, S. 56, Anm. 39. Adams 1997 (S. 821 – 5) kommt ebenfalls zu einem hnlichen Schluss. Er verneint die Zwei-Aspekte-Interpretation fr Gegenstnde der Erfahrung außer Menschen und behauptet zudem, dass es im theoretischen Rahmen nicht (und erst in der praktischen Philosophie) entschieden werden kann, dass „minds are identical with something noumenal and ultimately real“ (ibid., S. 824). Diese Position fllt aber im Endeffekt mit der obigen zusammen, denn selbst nur um als Mçglichkeit zu denken, dass Handlungssubjekte einen „an sich“-Aspekt berhaupt haben kçnnen, muss man annehmen, dass sie erkenntnisunabhngig existieren, und dann ist die Konsequenz unvermeidlich, dass sie in der Tat den „an sich“-Aspekt haben. Adams bersieht nmlich, dass man, schon um die Unentscheidbarkeit der betreffenden Identitt billigen zu kçnnen, eine gewisse Entscheidung auf der theoretischen Ebene zu treffen braucht.
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
73
schiedliche Varianten vorlegen. Was Allison Kants TrI zuschreibt, ist ein Realismus raumzeitlicher Gegenstnde im Sinne der vorliegenden Abhandlung: „Since [Kant’s transcendental idealism] maintains that we know real, mind independent objects (although not considered as they are in themselves), the position is not phenomenalistic; [. . .].“ (Ders. 1996, S. 3)109 „The mistake [of the transcendental realism] is not in assuming that things exist independently of their relation to the conditions of human sensibility (Kant likewise assumes this); it is rather in assuming that things existing in this way retain their spatiotemporal properties and relations.“ (Ders. 2004, S. 24 f.)
Im Gegensatz dazu ist die Kant-Interpretation von Prauss deutlich antirealistisch: „Zu behaupten, daß hier oder dort ein bestimmtes Ding existiert oder ein bestimmtes Ereignis stattfindet, hat daher nach Kant fr uns nur Sinn als die Behauptung, daß dieses Ding oder Ereignis hier oder dort in der genannten Weise durch uns erdeutet oder erdeutbar110 ist. Und daß ein bestimmtes Ding einstmals existiert hat oder dereinst existieren wird, oder daß ein bestimmtes Ereignis einstmals stattgefunden hat oder dereinst stattfinden wird, kann nach Kant fr uns entsprechend sinnvollerweise nur heißen, daß dieses Ding oder Ereignis einmal auf die genannte Weise durch uns erdeutet oder erdeutbar war bzw. sein wird.“ (Ders. 1974, S. 63; vgl. auch ibid., S. 64 f, 67, 185 und 206) „[Kants kritischem Begriff von Wirklichkeit nach] ist sie gerade nicht als ein „Ansichsein“ fr Erkenntnis als bloße Vergegenstndlichung schon immer „vorgegeben“, sondern als „Erscheinung“ von Erkenntnis als Verwirklichung vielmehr auch immer erst „Produkt“ derselben.“ (Ders. 1991, S. 73)
Es ist erstaunlich, dass dieser Unterschied in der Literatur kaum beachtet worden ist.111 Dieses Unterlassen kçnnte zwar mit Nachsicht behandelt werden, wenn dieser Unterschied den Gehalt der methodologischen ZweiAspekte-Interpretation nicht berhrte, aber das ist eben nicht der Fall. Ich 109 Aus diesem Zitat wird ersichtlich, dass Allison mit „mind independent“ mehr meint, als dass Dinge auch dann existieren, wenn sie von niemandem wahrgenommen werden. Denn so einer schwachen Deutung wrde der gegenwrtige Phnomenalismus ohne Probleme zustimmen. 110 „Erdeuten“ ist ein praussscher Terminus fr „Erkennen“; vgl. Prauss 1971, 1974 und 1981. 111 Beide werden meistens unter dem Titel „methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation“ (oder einfach „Zwei-Aspekte-Interpretation“) einerlei behandelt; vgl. z. B. Collins 1999, S. 173, Grier 2001, S. 86, Anm. 25, Willaschek 2001, S. 214, Bird 2006, S. xii und 12. Ich hege den Verdacht, dass auch Allison selbst diesen Unterschied nicht bemerkt; er hat zumindest nicht explizit darauf hingewiesen.
74 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? werde berdies zeigen, dass die allisonsche und die prausssche Variante nicht nur unterschiedlich, sondern auch beide – obgleich in je eigener Weise – inkonsistent sind. Es muss zunchst festgestellt werden, was unter der Bezeichnung „methodologisch“ (oder „metaphilosophisch“) zu verstehen ist. Die These der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation wird blicherweise folgendermaßen dargestellt: Kants Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich handelt von zwei unterschiedlichen Betrachtungsweisen. Dinge „als Erscheinung“ zu betrachten heißt, sie in Relation zu unserer Sinnlichkeit zu betrachten. Dinge „an sich selbst“ zu betrachten heißt hingegen, sie in Absehung von dieser Relation zu betrachten.112 Indessen ist diese Formel per se kaum informativ, um die methodologische von der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zu differenzieren, denn sie (samt dem „Betrachtungs“- Jargon) kann auch von der letzteren problemlos akzeptiert werden;113 nur dass die letztere zustzlich behauptet, das, was man bei dieser „an sich“-Betrachtung zu denken (obschon nicht zu erkennen) intendiere, sei gerade jener „an sich“-Aspekt, nmlich die Seinsweise, die die betrachteten Dinge von unserer Erkenntnis unabhngig „an sich“ htten. Diese Lesart ist sogar vielmehr naheliegend, sofern die obige Formel, wie bei Allison, im Rahmen des Realismus raumzeitlicher Gegenstnde verstanden wird. Denn wenn die Dinge, die auf zweierlei Art zu betrachten sind, unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, mssen sie auch erkenntnisunabhngige Eigenschaften an sich selbst haben. Angesichts dessen wird es fragwrdig, ob die methodologische Zwei-AspekteInterpretation berhaupt ein konkurrierendes Interpretationsschema liefert.114 112 Z.B. Allison 2004, S. 16 f., 52, 56 und 2006, S. 1; vgl. auch Grier 2001, S. 86 – 90, Willaschek 2001, S. 214 f. und Rosefeldt 2007, S. 170 f. 113 Dieser Punkt ist schon von eigenen Kritikern der methodologischen Interpretation aufgewiesen worden; vgl. z. B. Rogerson 1999, S. 8, Allais 2004, S. 681 und Schulting 2010a, S. 2. Außerdem geht daraus auch Folgendes hervor: Das berhmte Argument von Prauss fr die Zwei-Aspekte-Interpretation aufgrund der hçheren Hufigkeit des Ausdrucks „Ding an sich selbst“ statt einfach „Ding an sich“ (vgl. ders. 1974, §1), auch wenn es berhaupt stichhaltig sein sollte (daran zweifle ich; vgl. unten, 6.2, Anm. 328), dient allenfalls zur Rechtfertigung der Zwei-Aspekte-Interpretation im Allgemeinen und nicht spezifisch zu deren methodologischer Variante. 114 Allison erklrt den „metaphilosophischen“ Charakter seiner Interpretation in ders. 2004, S. xv. Diese Erklrung ist aber ebenfalls nicht informativ, denn daraus
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
75
Was unter „methodologisch“ (oder „metaphilosophisch“) verstanden werden soll, ist am deutlichsten sichtbar in Allison 2004, S. 45 – 9, wo er die metaphysische Interpretation im Allgemeinen zurckzuweisen und damit seine methodologische Interpretation zu verteidigen versucht. (Eine wesentlich gleiche Diskussion findet sich auch in ders. 1996, S. 17 – 21.) Die dortige Argumentation lsst sich folgendermaßen zusammenfassen: In der metaphysischen Interpretation wird außer „Erscheinungen“ noch eine Seinsebene (ob als distinkte Entitt oder als Aspekt) angenommen, die von uns unabhngig, „an sich“ wirklich ist. Unter dieser Annahme kann man nicht umhin, die letztere als die echte Wirklichkeit zu erachten, und im Vergleich damit den ersteren einen niedrigeren ontologischen Status (wie „Schein“) zuzuteilen. Dies kollidiert aber mit Kants „empirischem Realismus“. Um dies zu vermeiden, muss man Kants TrI „deontologisieren“. Demgemß werden sowohl Erscheinung als auch Ding an sich auserfhrt man allenfalls, dass Allison zufolge Kants TrI nicht eine „substantive metaphysical doctrine“, sondern vielmehr einen allgemeineren theoretischen Rahmen liefert, in dem mehrere konkrete metaphysische Positionen entwickelt werden kçnnen. Aber den Gegensatz „allgemein/konkret“ bloß anzufhren, ist noch kein Argument; jede Theorie kann sich in irgendeinem Sinne als „allgemein“ bezeichnen. Es bleibt vor allem im Dunkeln, welches Moment der metaphysischen Interpretation Allison besonders ablehnt. – Davon abgesehen hat Allisons dortige Erklrung schon in sich etwas Merkwrdiges. Er behauptet, dass der TrI kein Phnomenalismus ist (den Allison als ein typisches Beispiel fr „substantive metaphysical doctrine“ erachtet). Wre aber der TrI keine metaphysische Doktrin, kçnnte er den Phnomenalismus nicht verneinen; er msste vielmehr mit diesem vertrglich sein. In ders. 2006 und Wood/Guyer/Allison 2007 gibt Allison eine neue Erklrung dafr, warum seine Interpretation nicht metaphysisch bzw. ontologisch ist. Demzufolge soll „Ontologie“ im traditionellen wolffschen Sinne verstanden werden, nmlich derart, dass sie von Dingen berhaupt handelt; der TrI ist daher keine Ontologie, sondern eine radikale Alternative dazu, indem es bei ihm nicht um Dinge berhaupt, sondern um raumzeitliche Gegenstnde geht. – Wenn Allison persçnlich den Terminus „Ontologie/Metaphysik“ so stipulieren mçchte, habe ich nichts dagegen. Eins ist aber klar: Dieses Verstndnis (auch wenn es einen guten historischen Hintergrund hat) hat nichts damit zu tun, was man darunter im Kontext der metaphysischen Kant-Interpretation blicherweise versteht; jede (im blichen Sinne) metaphysische Interpretation (selbst die phnomenalistische Interpretation!) kann in diesem allisonschen Sinne „nicht-ontologisch“ sein, nur wenn sie die strittige Klasse des TrI auf raumzeitliche Gegenstnde einschrnkt. Dadurch wird der Verdacht, ob Allison berhaupt eine Alternative zur metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation anbietet, noch verstrkt.
76 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? schließlich in der Relation zu unserem kognitiven Vermçgen charakterisiert; die erstere nmlich als Gegenstand unserer sinnlichen Erkenntnis, und das letztere als Gegenstand des reinen Verstandes. Dadurch wird verhindert, etwas ontologisch Privilegiertes wie „standpoint-independent fact of the matter“ zu setzen. Diese Deontologisierung ist fruchtbar auch fr Kants praktische Philosophie. Sie erlaubt zu vermeiden, Kants Auffassung der Willensfreiheit derart zu verstehen, wie „Wir sind nur scheinbar kausal determiniert aber in Wahrheit frei“, was mit dem empirischen Realismus kollidiert. Ihr zufolge ist die Aussage „Wir sind (transzendental) frei“ nur insofern wahr, als sie vom praktischen Standpunkt aus gerechtfertigt wird. Es ist aber nicht der Fall, dass man dadurch irgendein „standpoint-independent fact of the matter“ kennenlernt, denn dergleichen soll bei der Deontologisierung berhaupt nicht eingerumt werden. Ich stelle es hier nicht in Frage, ob diese Argumentation Allisons exegetisch zutreffend bzw. sachlich attraktiv ist. Zu beachten ist vielmehr: Was Allisons interpretatorische Position als „methodologisch“ auszeichnet, ist gerade ihre deflationistische Einstellung, Kants anscheinend ontologische Behauptungen zu deontologisieren und demgemß so etwas wie „standpoint-independent fact of the matter“ berhaupt zu verneinen (oder zumindest in der kantischen Philosophie ohne Annahme desselben auszukommen).115 So gesehen luft die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation auf einen radikalen Anti-Realismus hinaus, der alles Wirkliche, nicht nur phnomenale Tatsachen sondern auch diejenigen ber Dinge an sich, von unserer (ob theoretischen oder praktischen) Erkenntnis irgendwie abhngig macht.116 Im Rahmen dieses radikalen Anti-Realismus kçnnte die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich z. B. wie folgt 115 Obschon von Allison selbst nicht betont, muss die Deontologisierung, wie sie oben dargestellt wurde, die Mçglichkeit nicht unbedingt ausschließen, dass es vielleicht im Bereich, der berhaupt keinen Bezug zu uns hat, irgendwelche standpunktunabhngigen Tatsachen geben mag. Sie muss aber solche ablehnen, sofern es um dasjenige geht, was berhaupt irgendeinen Bezug zu unserer (ob raumzeitlichen oder praktischen) Wirklichkeit hat; dergleichen umfasst eigentlich alles, was fr die kantische Philosophie relevant ist. (Selbst Gott ist keine Ausnahme; er wird in Kants praktischer Philosophie eben fr unsere Moralitt postuliert.) 116 Eric Watkins suggeriert in der Tat, dass die „epistemological interpretation“ la Allison kongenial mit dem gegenwrtigen Anti-Realismus ist; vgl. ders. 2005, S. 319.
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
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noch weitergefhrt werden (beide setzen anti-realistisch voraus, dass „Dinge“ abhngig von unserer Erkenntnis existieren): (a) Subtraktionsmodell: Dinge „als Erscheinung“ zu betrachten bedeutet, ihre raumzeitlichen Eigenschaften zu konzipieren, und diese sind alles, was wir berhaupt erkennen kçnnen. Dinge „an sich selbst“ zu betrachten heißt hingegen, dasjenige zu konzipieren, was bestehenbleibt, nachdem man von dem, was man ber sie empirisch erkannt hat, die sinnlichkeitsbezogenen Elemente abzieht. – Dieses brigbleibende ist allenfalls eine leere Form von „Gegenstand berhaupt“, die unser Verstand anhand der Kategorien konzipiert, und als solche weder irgendein Einzelding noch eine reale Eigenschaft.117 (b) Additionsmodell: Dinge als „Erscheinung“ zu betrachten bedeutet, ihre raumzeitlichen Eigenschaften zu konzipieren, und diese sind alles, was wir im theoretischen Kontext erkennen kçnnen. Dinge „an sich selbst“ zu betrachten heißt hingegen, zu ihnen nicht-sinnliche Eigenschaften (wie etwa einen intelligiblen Charakter) hinzuzudenken. – Dieses Hinzudenken bleibt zwar im theoretischen Kontext eine bloße Fantasie ohne Wissensanspruch, erweist sich aber im praktischen Kontext mçglicherweise als wahr. Aber auch in diesem Fall ist diese „Wahrheit“ abhngig von unserer Erkenntnis, diesmal von der praktischen.118 Es ist jedoch klar, dass keine von beiden Allisons interpretatorischer Position entspricht, denn was er Kants TrI unterstellt, ist, wie bereits besttigt wurde, der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. (Man beachte zudem, dass die obigen beiden selbst mit der phnomenalistischen Interpretation vereinbar sind.) Wie steht es dann um die Position Allisons? 117 Dies ist die Ansicht, auf die man wohl verfllt, wenn man folgende Erklrung Willascheks liest (obwohl er damit meines Erachtens nicht dergleichen meint; vgl. unten, Anm. 123): „Einen Gegenstand in diesem Sinn [sc. im Sinne des „Noumenon in negativer Bedeutung“] als Ding an sich zu betrachten heißt gerade nicht, ihm irgendeine fr uns unerkennbare Beschaffenheit zuzuschreiben, sondern nur, von der fr uns erkennbaren (subjektabhngigen) Beschaffenheit abzusehen. Es handelt sich daher um den Begriff eines bloßen „Etwas=x“ (A250), ber das wir nichts weiter sagen kçnnen, weil es ber dieses etwas als Noumenon nichts weiter zu sagen gibt“ (ders. 2001, S. 215). Ein derartiges Verstndnis der allisonschen Interpretation (das die „anodyne interpretation“-Herausforderung erregt) findet man auch in Langton 1998, Rogerson 1999, Allais 2004 und Rosefeldt 2007. 118 Dies ist die Ansicht, zu der man wohl gelangt, wenn man Allisons obige Argumentation allein betrachtet.
78 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? Meine Antwort: Es ist vergeblich, nach einem konsequenten Verstndnis von Allisons interpretatorischer Position zu streben, denn sie ist an sich inkonsistent, indem ihre Deontologisierung ihrem Realismus zuwiderluft. Der Beweis ist folgender: Stufe 1: Dem Realismus zufolge sollen Dinge, die uns als raumzeitlich erscheinen, unabhngig von uns existieren, auch wenn ihre raumzeitlichen Eigenschaften von unserer Sinnlichkeit abhngen. Stufe 2: Daraus resultiert aber direkt, dass diese Dinge auch eine Beschaffenheit haben mssen, die sie unabhngig von uns „an sich selbst“ haben – es sei denn, dass man positiv behauptet, dass das erkenntnisunabhngig Existierende keine Beschaffenheit an sich selbst hat (nicht nur, dass eine solche Beschaffenheit fr uns unerkennbar ist), was absurd ist. Stufe 3: Die letztere Beschaffenheit der Dinge ist das „standpoint-independent fact of the matter“ schlechthin. D.h., jene Deontologisierung ist mit dem Realismus unvertrglich. Kurzum: Der Realismus impliziert schon in sich, dass es irgendeine standpunktunabhngige Tatsache gibt, fr die es vçllig irrelevant ist, ob wir sie erkennen, sogar irgendwie „betrachten“. Daraus versteht sich, dass Allison eben seines Realismus wegen jene Deontologisierung nicht durchhalten kann.119 – So schwankt er unvermeidlicherweise zwischen dem 119 Dagegen mag man einwenden, dass Allison nicht beabsichtigt, die Existenz der erkenntnisunabhngigen Tatsachen zu verneinen, sondern nur zu behaupten, dass dergleichen kein Objekt fr uns ist; vgl. Folgendes: „In other words, the claim is not that things transcending the conditions of human cognition cannot exist (this would make these conditions ontological rather than epistemic) but merely that such things cannot count as object for us“ (Allison 2004, S. 12). Hier versteckt sich eine Zweideutigkeit von „object for us“. Bedeutet das, dass „such things“ fr uns unerkennbar, also keine mçglichen Objekte unserer Erkenntnis sind? Dies wre eher eine exegetisch vçllig unumstrittene These, die auch Anhnger der metaphysischen Interpretation ohne Probleme akzeptieren kçnnen. Bedeutet es dann vielmehr, dass erkenntnistranszendente Dinge (bzw. Tatsachen) berhaupt nicht Objekte fr uns, nicht einmal Objekte unseres Denkens sein kçnnen? Dann wre die obige Aussage Allisons einfach falsch. Natrlich kann man solche Dinge denken (man kann z. B. darber verschiedene Vermutungen ohne Wissensanspruch aufstellen), und zwar, dass das, was man bei diesem Denken zu denken intendiert, durch dieses Denken in keiner Weise standpunktabhngig gemacht wird. Wenn man darauf entgegnet, dass bei diesem Denken auf die zu denkenden Dinge nicht konkret referiert werden kann, dann kommt man nur auf die erstere Bedeutung zurck. – Die betreffende Maßnahme lçst also nicht die oben genannte Inkonsistenz zwischen dem Realismus und der Deontologisierung auf.
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
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common-sense-orientierten Realismus und dem radikalen Anti-Realismus hin und her.120 Ich kann nicht entscheiden, ob entweder der Realismus oder der „methodologische“ Charakter fr Allisons Interpretation maßgeblicher ist. Eines steht aber fest: Sofern er auf dem Realismus raumzeitlicher Gegenstnde besteht, muss seine methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation innerlich inkonsistent bleiben, ungeachtet dessen, ob sie in sonstigen Punkten exegetisch gut begrndet oder sachlich attraktiv ist. Die obige Diskussion spricht zugleich dafr: Die methodologische ZweiAspekte-Interpretation, sofern konsequent ausgefhrt, luft nicht bloß auf einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, sondern auf einen radikalen Anti-Realismus hinaus, der das Erkenntnisunabhngige aller Art abstreitet.121 Denn, wenn auch nur einiges Erkenntnisabhngiges zugestanden wrde, wrde es unleugbar, dass darber irgendein „standpointindependent fact of the matter“ bestnde. Dieser radikale Anti-Realismus ist zum einen sachlich sehr fragwrdig. Zum anderen, und das wiegt deutlich schwerer, gibt es auch einige exegetische Grnde dagegen, dem TrI diese Position zuzuschreiben. (1) In manchen Textstellen (und zwar schon innerhalb der theoretischen Philosophie) bejaht Kant explizit, ber eine bloße Denkbarkeit hinaus, eben die Existenz der Dinge an sich (bzw. des transzendentalen Grundes der Erscheinungen); vgl. z. B. folgende:
120 Allisons derartige Inkonsistenz ist schon von Guyer (1992, S. 105 f. und Wood/ Guyer/Allison 2007, S. 15 f.) und Westphal 2001 aufgewiesen worden. Die Pointe des obigen Beweises ist, dass sie nicht etwa bloß durch Allisons Unvorsichtigkeit bei seiner Diskussion verursacht wird, sondern gerade die unumgngliche Folge daraus ist, dass er den Realismus und den anti-metaphysischen Charakter seiner Interpretation zusammen befrworten will. Eine derartige Ambiguitt findet sich auch in Grier 2001 und Quarfood 2004. Man kann ihnen allerdings die „Inkonsistenz“ nicht ohne weiteres unterstellen, dies aber nur deswegen, weil es bei ihnen nicht explizit ist, dass sie den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde befrworten. Wenn sie davon ausgehen, dass Dinge, die zur „Betrachtung“ bzw. „Reflektion“ zu stellen sind, unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, geraten sie ohnehin in dieselbe Inkonsistenz wie die bei Allison. 121 Soweit ich recherchiert habe, ist Pogge 1991 der einzige, der die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation explizit in dieser radikal anti-realistischen Form vertritt. Wie gleich gezeigt wird, ist der Interpretationsansatz von Gerold Prauss kein solches Beispiel.
80 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? „Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Wrdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori, daß sie nmlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als fr sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse.“ (BXIXf.) „Fragt man denn also (in Absicht auf eine transzendentale Theologie) erstlich: ob es etwas von der Welt Unterschiedenes gebe, was den Grund der Weltordnung und ihres Zusammenhanges nach allgemeinen Gesetzen enthalte, so ist die Antwort: ohne Zweifel. Denn die Welt ist eine Summe von Erscheinungen, es muß also irgendein transzendentaler, d.i. bloß dem reinen Verstande denkbarer Grund derselben sein.“ (A695 f./B723 f.) „Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, [. . .].“ (Prolegomena, Ak. 4, S. 315)
Es gibt auch viele Textpassagen, in denen dergleichen zwar nicht explizit geußert wird, es aber sehr naheliegend ist, dass Kant dort die Existenz der Dinge an sich implizit annimmt.122 (2) Damit zusammenhngend gibt es auch viele Textpassagen, die die sogenannte „transzendentale Affektion“, nmlich Affektion durch Dinge an sich bzw. den „transzendentalen Gegenstand“, affirmieren oder zumindest dafr sprechen, dass etwas Erkenntnisunabhngiges uns affiziert. Dergleichen kann von der (konsequent ausgefhrten) methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation nicht zugestanden werden. Denn diese erachtet selbst „Ding an sich“ als etwas von unserem Denken oder praktischer Erkenntnis Abhngiges, und auch ihrer „Deontologisierung“ zufolge kçnnte so etwas wie Erkenntnisunabhngiges eigentlich nicht zur Sprache kommen. – Allison billigt zwar die transzendentale Affektion, aber nur um den Preis, dass er dabei zu der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zurckkehrt.123 122 Adickes 1924, Abschnitt 1 – 3, sammelt eine Vielzahl solcher Textpassagen. 123 Vgl. z. B.: „Accordingly, if appearances are understood as mind-independent entities, considered as they appear in virtue of the subjective conditions of human sensibility, this whole line of objection [to the transcendental affection la Jacobi] dissolves“ (ders. 2004, S. 67, kursiv von K.C.). Es ist instruktiv, hier eine Merkwrdigkeit von Willascheks Erluterung und Kritik der (allisonschen) methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation in ders. 2001 kurz zu betrachten. Er macht zuerst darauf aufmerksam, dass diese mit der transzendentalen Affektion vereinbar ist (ibid., S. 218 – 22). Dabei meint er vermutlich eine realistische Variante der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation; sonst kçnnte er nicht zu Recht sagen, dass Dinge – ob als Erscheinungen oder an sich selbst betrachtet – uns affizieren. Das heißt, er erkennt an, dass der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation zufolge die uns affizierenden Dinge, die zweierlei zu betrachten sind, unabhngig von unserer Erkenntnis
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
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(3) Der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation mangelt es an Textbelegen, die sie direkt und selektiv, nmlich im Gegensatz zur metaphysischen Variante, untersttzen. Man erinnere daran, dass ihr „methodologischer“ Charakter gerade in ihrer deflationistischen Einstellung besteht, so etwas wie „standpoint-independent fact of the matter“ berhaupt zu verneinen, und nicht bloß in ihrem Gebrauch des „Betrachtungs“Jargons. Daraus geht hervor, dass die Textpassagen, welche manchmal als „Belege“ fr die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation angegeben werden,124 nur als Nachweise der Zwei-Aspekte-Interpretation im Allgemeinen dienen.125 Solche Textpassagen untersttzen sogar, in ihrer naheliegenden Lesart, vielmehr deren metaphysische Variante. Dies alles ist freilich noch kein entscheidendes Argument gegen die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation. Diese lsst sich z. B. noch verteidigen, indem man folgendermaßen argumentiert: Mit Rcksicht auf existieren. Aber anschließend kritisiert er diese Interpretation aus dem Grund, dass sie Folgendes nicht affirmieren kann: „Wir mssen die affizierenden Dinge vielmehr selbst als in sich strukturiert betrachten, auch wenn wir ihre Struktur, da nicht raumzeitlicher Art, nicht erkennen kçnnen“ (ibid., S. 225). Sie kann aber, sofern sie realistisch verstanden wird, dergleichen problemlos billigen! Denn es ist eher eine Banalitt, dass das Erkenntnisunabhngige „in sich strukturiert“ ist, egal ob wir diese Struktur konkret erkennen kçnnen oder nicht. – Dies ist ja eigentlich die Position der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation. Was Willaschek bersieht, ist meines Erachtens, dass die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation, wenn sie berhaupt von der metaphysischen unterschieden werden sollte, so etwas wie die affizierenden Dinge als erkenntnisunabhngige Entitten nicht zugestehen kann. 124 Allison (1996, S. 4, Anm. 2) fhrt z. B. folgende Textstellen an (Ergnzung bzw. Korrektur mit „[]“ von K.C.): Bxx, A34/B[51], B55, A39/B56, A43/B60, B69, A149/B188, A190/B235, A251 f., B307, [A256/]B312, B307, A276/B332, A [285]/B341, B430, A496/B524, und A566/B594; Prolegomena, Ak. 4, S. 284, 286 und 287. 125 Viele Textbelege fr die Zwei-Aspekte-Interpretation im Allgemeinen stehen sogar deren methodologischer Variante vielmehr entgegen; z. B. diejenigen, in welchen die Qualifikation „an sich selbst“ nicht auf unsere Betrachtungsweise, sondern deutlich auf die Beschaffenheit bzw. Existenz des Dings bezogen ist. Vgl. Folgendes: „Wenn wir [. . .] die Gegenstnde nehmen, so wie sie an sich selbst sein mçgen, [. . .]“ (A35/B51). „[. . .]; was die Gegenstnde an sich selbst sein mçgen, wrde uns [. . .] niemals bekannt werden“ (A43/B60). „[. . .] so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, [. . .] kennen“ (Prolegomena, Ak. 4, S. 314 f.). Es ist eine natrliche Lesart, dass Kant hier annimmt, dass Dinge (bzw. Gegenstnde) eine Beschaffenheit mçglicherweise an sich selbst haben, ungeachtet dessen, ob sie von uns „betrachtet“ wird oder nicht. Vgl. auch Aquila 1979, S. 296 f.
82 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? die Unerkennbarkeit der Dinge an sich stellt es sich vielmehr heraus, dass die Existenzbehauptung der Dinge an sich oder die transzendentale Affektion im kantischen Rahmen unvertretbar ist, also die „kohrent gemachte“ kantische Philosophie vielmehr davon befreit werden muss. Sie kann nmlich vielleicht noch als eine rationale Rekonstruktion (vgl. oben, Einleitung) verteidigt werden. Dagegen werde ich in 8.2 feststellen: Die Existenz der Dinge an sich sowie die transzendentale Affektion werden gerade von der kantischen Konzeption der Rezeptivitt her erfordert, so dass sie von der kantischen Philosophie nicht weggeschafft werden kçnnen; sie sind berdies nicht nur eine rein „kantische“ Voraussetzung, sondern vielmehr dasjenige, was von jeder Theorie der Erfahrung anerkannt werden muss, es sei denn, dass sie ihre Plausibilitt aufzuopfern wagt. Wenn dies erfolgreich nachgewiesen wird, geht daraus hervor, dass die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation selbst als rationale Rekonstruktion unhaltbar ist. Ich habe bisher die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation in verschiedenen Hinsichten kritisch betrachtet. Ich zweifle aber eigentlich schon daran, ob man diese interpretatorische Option berhaupt verteidigenswert findet, wenn man erst einmal realisiert hat, dass sie, konsequent ausgefhrt, zu dem oben dargestellten radikalen Anti-Realismus fhren muss.126 Eine solche ist in jedem Fall ganz anders als das, was normalerweise unter dem Titel „methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation“ verstanden und verteidigt wird. Man mag sich nun fragen: Ist vielleicht eine nicht-methodologische Variante der anti-realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation mçglich? – Diese Option finde ich aussichtslos. Sie wrde behaupten, raumzeitliche Gegenstnde seien durchaus abhngig von unserer Erkenntnis und sie seien auf zweierlei Arten, nmlich „als Erscheinung“ sowie „an sich selbst (ob im Sinne des Subtraktions- oder des Additionsmodell oder sonst wie), zu betrachten; es msse aber außer raumzeitlichen Gegenstnden noch etwas Erkenntnisunabhngiges (oder zumindest die Mçglichkeit, dass dergleichen existieren mag) zugestanden werden. Wenn man aber einmal etwas Erkenntnisunabhngiges anerkannt htte, wre es im kantischen Rahmen 126 Pogge 1991 ist eine Ausnahme. Ihm zufolge ist Kant der Ansicht, dass selbst der Begriff des Erkenntnisunabhngigen (mit seinem Wort: „Letztrealitt“) sinnlos ist, so dass die Behauptung, dass so etwas existiert, „nicht einmal als Ausgangspunkt fr hypothetische Spekulationen dienen [kçnne]“ (ders. 1991, S. 508). Man fragt sich wohl, warum er einen solchen radikalen Anti-Realismus berhaupt als eine „theoretisch so attraktive Position“ (ibid., S. 509) erachten konnte. Die theoretische Unattraktivitt dieser Position werde ich in 8.2 verdeutlichen.
3.2 Methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation?
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viel plausibler, dieses Erkenntnisunabhngige als „Ding an sich“ zu bezeichnen, wie dies die Zwei-Welten-Interpretation tut.127 Die betreffende Option fhrt nmlich nur eine unnçtige Komplikation ein. Ich lasse sie also in der folgenden Diskussion beiseite. Bei Prauss nun ist die Lage folgendermaßen: Seine Interpretation stimmt mit meiner dahingehend berein, dass sie dem kantischen TrI einen AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde zuschreibt. Aber interessanterweise gert sie nicht in die oben genannte Schwierigkeit. Wegen ihrer Billigung des Anti-Realismus kann sie nicht nur nicht positiv behaupten, dass raumzeitliche Gegenstnde auch erkenntnisunabhngige Eigenschaften haben, sondern nicht einmal die Mçglichkeit einrumen, dass dergleichen vielleicht der Fall sein mag (denn es wre absurd zu denken, dass das erkenntnisabhngig Existierende auch erkenntnisunabhngige Eigenschaften haben kann). Der von Prauss verwendete Ausdruck „Dinge an sich selbst zu betrachten“ bedeutet weder eine leere Form von „Gegenstand berhaupt“ zu konzipieren (wie im „Subtraktionsmodell“) noch zum empirisch Erkannten noch nicht-phnomenale Eigenschaften hinzuzudenken (wie im „Additionsmodell“). Seine Erklrung lautet wie folgt: „Heißt Objekte „als Erscheinungen“ betrachten, sich ihre Subjektabhngigkeit bewußt zu machen, so heißt Objekte „an sich selbst“ betrachten lediglich, von dieser ihrer Subjektabhngigkeit auch wieder abzusehen, um zu versuchen, sich dadurch bewußt zu machen, daß wir an ihnen zwar notwendig beteiligt sein mssen, aber ebenso notwendig auch wieder nicht die einzigen Beteiligten sein kçnnen.“ (Ders. 1974, S. 134) „Eben dies jedoch, daß die empirischen Objekte gerade als das ObjektivAndere des Subjekts jeweils nur Verwirklichung seines Entwurfs sein kçnnen – nur die reine Faktizitt, daß seinem bloßen Versuch ein Erfolg geschenkt wird, der auch ausbleiben, daß seinem reinen Wagnis eine Belohnung zuteil wird, die ihm auch versagt bleiben kçnnte – eben dies erzwingt zugleich die weitere Einsicht, daß wir an diesen Dingen, obzwar notwendig beteiligt, doch ebenso notwendig nicht die einzigen Beteiligten sind. Derselbe Grund, der uns mit Notwendigkeit zur Erkenntnis unserer Beteiligung daran fhrt, zwingt uns zugleich die Anerkennung ab, daß wir dabei aber auch nur, und das heißt: nur unter anderem beteiligt sind. Und eben dies ist, wenn auch in Umschreibung, der Sinn jener Reflexion, das Empirische nicht nur „als Erscheinung“, sondern 127 Dieses Erkenntnisunabhngige „Noumena“ bzw. „transzendentalen Gegenstand“ zu nennen, um es von Dingen an sich zu differenzieren, ist ebenfalls exegetisch problematisch, weil Kant in manchen Textstellen „Dinge an sich“ mit „Noumena“ und dem „transzendentalen Gegenstand“ identifiziert; vgl. unten, 8.1.1.
84 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? auch „an sich selbst“, nmlich „nicht als Erscheinung“ zu betrachten: seinen Erscheinungscharakter, seine Subjektabhngigkeit und mithin unsere Beteiligung an ihm ebenso zu sehen wie auch wieder davon ab- und damit eben einzusehen, daß wir Beteiligte daran nur unter anderem sind.“ (Ibid., S. 145; vgl. auch ibid., S. 146 und 226)
Er behauptet nmlich: Raumzeitliche Dinge sind zwar hinsichtlich ihrer Existenz abhngig von unserer Erkenntnis; sie sind sozusagen „Produkte“ unserer Konstruktion (vgl. Prauss 1991, zitiert oben, S. 73). Was aber an dieser Konstruktion beteiligt ist, ist nicht nur das Erkenntnissubjekt, sondern auch etwas „anderes“, was nicht von seiner Spontaneitt, also auch nicht von seiner Erkenntnis abhngt. „Dinge an sich selbst zu betrachten“ heißt, sich gerade diesen Umstand bewusst zu machen. So bestreitet Prauss nicht das Erkenntnisunabhngige und somit vermutlich auch nicht die Mçglichkeit, dass so etwas wie „standpoint-independent fact of the matter“ ber ein solches Erkenntnisunabhngiges besteht. Daraus geht zugleich hervor: Dieses „andere“ kann nicht mit raumzeitlichen Gegenstnden identisch sein. Denn diese existieren nach Prauss gerade „subjektabhngig“ und das subjektabhngig Existierende kann freilich nicht mit dem subjektunabhngig Existierenden identisch sein.128 Damit ist klar, dass er außer raumzeitlichen Gegenstnden als Erkenntnisabhngigen noch etwas Erkenntnisunabhngiges, das an unserer Erfahrung beteiligt ist, anerkennt. Das letztere ist aber kaum anders als dasjenige, was Zwei-Welten-Interpreten unter uns affizierenden Dingen an sich verstehen; der Unterschied wre allenfalls, dass Prauss dieses Erkenntnisunabhngige nicht „Ding an sich“ nennt. 129 So verstanden stellt es sich heraus, dass Prauss’ sogenannte „Zwei-Aspekte-Interpretation“ im Endeffekt mit der traditionellen Zwei-Welten-Interpretation zusammenfllt.130 128 Dies ist von Prauss selbst zugestanden; vgl. ibid., S. 145 f. 129 Dagegen mag man einwenden: (1) Prauss lehnt die Hypostasierung des betreffenden „anderen“ ab; vgl. ders. 1974, S. 145 f. (2) Er verneint die transzendentale Affektion, vertritt stattdessen ausdrcklich die empirische; vgl. ibid., Kap. III. Dagegen werde ich in 8.2.2 zeigen, dass die beiden selbst im prausschschen Rahmen unhaltbar sind; vgl. unten, Anm. 503 und 504. 130 Es ist auch zu bemerken, dass das, was Prauss „Dinge an sich selbst zu betrachten“ nennt, berhaupt nichts damit zu tun hat, dieses oder jenes einzelne Ding irgendwie zu betrachten. Egal was „an sich selbst betrachtet“ wird (egal ob z. B. die Tomate vor mir oder das Hauptgebude der Universitt Bonn oder sogar ein Handlungssubjekt so betrachtet wird), hat als Ergebnis einerlei zur Folge, nmlich, dass an unserer Konstruktion der raumzeitlichen Wirklichkeit etwas Anderes beteiligt ist. Was Prauss dadurch ausfhrt, ist eigentlich eine Strukturanalyse der
3.3 Sonstige Optionen?
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3.3 Sonstige Optionen? In der Literatur findet man auch diejenigen Optionen, die sich anscheinend zu keinem von den bisher erçrterten Interpretationsmustern klassifizieren lassen. Ein Beispiel ist diejenige, welche am Ende des vorletzten Abschnitts erwhnt wurde, die nmlich „Erscheinung“ und „Ding an sich“ nicht als zwei Aspekte einzelner Dinge, sondern vielmehr als zwei Aspekte der ganzen Welt (oder kollektiv betrachteter Gegenstnde der Erfahrung im Ganzen) versteht; z. B. „Two-Perspective View“ von Robinson 1994 (neulich auch von Onof 2010).131 Es ist aber fragwrdig, ob diese Option in der Tat eine Alternative zu der Zwei-Welten- und der Zwei-Aspekte-Interpretation bildet. Ihre Vertreter beabsichtigen damit vielleicht bloß, den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde beizubehalten und nur den Punkt abzustreiten, dass das, was uns als ein phnomenales Einzelding erscheint, eine einzelne noumenale Substanz ist. Ich habe aber gezeigt, dass die metaphysische Zwei-AspekteInterpretation dergleichen nicht annehmen muss (vgl. oben, 2.2 (B)). Die betreffende Option fllt dann mit der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zusammen.132 Oder vielleicht intendieren ihre Vertreter eine anti-realistische Interpretation, wie bei Robinson 1994 zu finden ist. So verstanden ist aber diese Option von der anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation kaum zu unterscheiden. Denn (1) sie verneint dann zumindest hinsichtlich der empirischen Erkenntnis berhaupt. Ich finde daher seine Terminologie „Dinge . . . zu betrachten“ selbst zu seinem eigenen Zweck inadquat (und ohnehin irrefhrend). 131 Seltsamerweise rekurriert auch Allison an einer Stelle auf eine solche Auffassung; vgl. ders. 2004, S. 459, Anm. 19. Dort erçrtert er Hoke Robinsons Einwand, dass die Zwei-Aspekte-Interpretation im Allgemeinen „a highly implausible one-to-one mapping of the phenomenal and noumenal“ annehmen msse, und versucht ihm zu begegnen mit dem Hinweis darauf, dass es nicht einzelne Dinge sondern vielmehr „things (taken collectively)“ sind, die seiner Zwei-Aspekte-Interpretation nach auf zweierlei Arten (nmlich „als Erscheinung“ und „an sich selbst“) zu betrachten sind. Es wre in Ordnung, wenn Allison diese Ansicht durchsetzen wrde, was aber offensichtlich nicht der Fall ist. Man denke z. B. daran, dass dieser Ansicht nach Kants Doktrin, dass einzelne Handlungssubjekte auf zweierlei Art zu betrachten sind (was auch fr Allisons Zwei-Aspekte-Interpretation ein wichtiger Textbeleg ist) nicht mehr wçrtlich gedeutet werden kçnnte. Hier findet sich somit eine weitere Inkonsistenz bei Allison. 132 Ich vermute, dass dies fr Onof 2010 gilt. Ich bin mir diesbezglich aber nicht sicher, weil es in seiner Darstellung nicht eindeutig klar ist, dass er den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde in meinem Sinne billigt.
86 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? Einzeldinge, dass diese sich selbst unabhngig von unserer Erkenntnis, also schon auf der noumenalen Ebene, individuieren, und (2) selbst die ZweiWelten-Interpreten kçnnen problemlos akzeptieren, dass der phnomenalen Welt die noumenale Welt zugrundeliegt (indem die letztere uns durch Affektion die sinnliche Materie fr die erstere gibt) und in diesem Sinn die erstere die „Erscheinung“ der letzteren genannt werden kann. Zudem bietet die betreffende Option bezglich ihrer Textbelege keinen Vorteil gegenber der Zwei-Welten-Interpretation, denn Kants manche Aussagen, die diese problematisch machen (somit die Zwei-Aspekte-Interpretation untersttzen), besagen, dass eben einzelne Gegenstnde auf zweierlei Art zu betrachten sind (vgl. unten, 6.2). Ich finde es daher kaum fruchtbar, die betreffende Option als eine Alternative zur Zwei-Weltenund Zwei-Aspekte-Interpretation anzusehen.133 Darber hinaus mag es noch andere Optionen geben, zumal damit zu rechnen ist, dass in Zukunft weitere Optionen entwickelt werden. Ein weiteres Problem betrifft die saubere Distinktion der Optionen, denn nicht selten passiert es, dass man seine interpretatorische Option nicht klar und ausfhrlich genug darstellt (bzw. deren Konsequenzen nicht hinreichend entwickelt) und sie eben deswegen so erscheint, als ob sie bloß selektiv die Vorteile der vorherigen Interpretationsoptionen – die eigentlich nicht in eine kohrente Einheit htten integriert werden kçnnen – in die eigene Position eingebunden hat. Angesichts dessen ist es wohl wnschenswert, wenn ein Argument verfgbar ist, das den Umfang beachtenswerter Interpretationsoptionen im Voraus einschrnken kann. Ich versuche hier ein derartiges Argument vorzulegen, das Folgendes nachweist: Die vertretbaren Optionen werden von der realistischen (also metaphysischen) ZweiAspekte-Interpretation und der anti-realistischen Interpretation ausgeschçpft; was sich als eine Alternative zu den beiden angibt, stellt sich
133 Hoke Robinson differenziert in ders. 1994 seine interpretatorische Position von der Zwei-Welten-Interpretation, dies verfhrt er aber nur dadurch, dass er „associating the appearance with the representation“ (ibid., S. 428) als ein definitorisches Moment der Zwei-Welten-Interpretation stipuliert, und zwar so, dass er dieses „associating“ zu einer deutlich unattraktiven Form des Idealismus einschrnkt und keine Mçglichkeit der Verfeinerung einrumt (ibid., S. 428 – 32). Was er als seine Position darstellt, sollte meines Erachtens besser als eine Verfeinerung der traditionellen Zwei-Welten-Interpretation angesehen werden. (Außerdem haftet seiner Position in ders. 1994 als solcher ein gravierendes sachliches Problem; dieses wird in 7.5.1 erçrtert.)
3.3 Sonstige Optionen?
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entweder als exegetisch unattraktiv oder als innerlich inkonsistent hinaus oder fllt im Endeffekt mit einer von jenen beiden zusammen. Ich stelle dafr zunchst zwei Voraussetzungen fest, die wohl von den meisten Interpreten ohne weiteres akzeptiert werden drften: (1) Kant zufolge sind raumzeitliche Eigenschaften in irgendeinem Sinn subjektabhngig. – Dadurch werden radikal realistische Interpretationen wie Langton 1998 ausgeschlossen.134 (2) Der TrI verhlt sich nicht neutral zum Realismus/Anti-Realismus hinsichtlich raumzeitlicher Gegenstnde. – Dadurch wird die neutrale Interpretation (vgl. oben, 2.2 (C)) ausgeschlossen. Das gesuchte Argument ist nun eine Erweiterung desjenigen, das im letzten Abschnitt fr die Kritik an der allisonschen methodologischen Interpretation vorgebracht wurde: Stufe 1: Jede vertretbare Interpretation muss entweder realistisch oder anti-realistisch sein (aus (2)). Stufe 2: Nehmen wir an, dass eine Interpretation realistisch ist. Diese muss dann zumindest behaupten, dass Dinge, die wir als einzelne raumzeitliche Gegenstnde erkennen (egal ob sie selbst raumzeitlich sind oder sie vielmehr an sich selbst nicht raumzeitlich sind und nur uns als raumzeitlich erscheinen), unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. Stufe 3: Es muss aber dann angenommen werden, dass diesen Dingen außer raumzeitlichen Eigenschaften, die (1) nach subjektabhngig sein sollen, noch diejenige Beschaffenheit zukommt, wie die Dinge unabhngig von unserer Erkenntnis „an sich selbst“ sind (denn es wre absurd zu denken, dass ein erkenntnisunabhngig existierendes Ding keine erkenntnisunabhngige Beschaffenheit hat).135 Dabei handelt es sich aber um nichts Anderes als die realistische, also metaphysische, Zwei-Aspekte-Interpretation. Stufe 4: Also muss jede interpretatorische Option, die sich als realistische versteht (oder zumindest die anti-realistische Interpretation bestreitet) trotzdem aber auch die metaphysische Zwei-AspekteInterpretation abzulehnen angibt, entweder sich als exegetisch 134 Dies wird auch von Allais 2004 als eine Erfolgsbedingung der Interpretation des TrI aufgestellt. ber Langton 1998, vgl. oben, Anm. 105. 135 Wenn umgekehrt anti-realistisch angenommen wird, dass raumzeitliche Gegenstnde abhngig von unserer Erkenntnis existieren, wird es absurd zu denken, dass sie eine subjektunabhngige Beschaffenheit haben kçnnen.
88 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? deutlich unattraktiv (etwa durch Ablehnung vom obigen (1), oder in anderen Weisen; vgl. unten) oder als innerlich widersprchlich herausstellen oder im Endeffekt ihrem Selbstverstndnis entgegen mit der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zusammenfallen. D.h., die realistische (also metaphysische) Zwei-AspekteInterpretation und die anti-realistische Interpretation sind einzig vertretbare Optionen. Um die Aussagekraft dieses Arguments zu besttigen, betrachten wir eine in 3.1 erwhnte Option, nmlich die realistische Zwei-Welten-Interpretation. Diese mag wiederum nur behaupten, dass das, was uns als ein phnomenales Einzelding erscheint, nicht unbedingt eine einzelne noumenale Substanz sein muss; in diesem Fall fllt sie, wie die obige Stufe 3 sagt, mit der metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation zusammen.136 Sie mag aber vielleicht eher folgende Behauptung aufstellen: „Erscheinungen“ sind Dinge, die unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, jedoch fr uns empirisch erkennbar sind. Und außer solchen Dingen kçnnen wir noch so etwas wie „Dinge an sich“ oder „Noumena“ (wie Seele und Gott) denken.137 Diese Option wird nun dem obigen Argument gemß folgendermaßen beurteilt: Sie wird dazu gezwungen, gerade fr die Dinge, die sie „Erscheinungen“ nennt, ihren subjektabhngigen raumzeitlichen Aspekt und ihren subjektunabhngigen „an sich“-Aspekt zu unterscheiden. Indem sie aber außer diesen Dingen noch andersartige Entitten setzt, fhrt sie zu dem, was gleichsam „Drei-Welten-Interpretation“ (ja besser: „Zwei-Aspekte-und-noch-eine-Welt-Interpretation“) genannt werden sollte. Aber in diesem Fall wre es adquater, so wie die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation verfhrt, die Bezeichnung „Dinge an sich“ dem erkenntnisunabhngigen somit fr uns unerkennbaren „an sich“ Aspekt der Dinge zuzuteilen und zu sagen, dass auch solche Dinge denkbar sind, die nur den „an sich“-Aspekt haben und uns nicht erscheinen. Ich denke, dass das obige Argument universal anwendbar ist. Noch wichtiger ist, dass das obige Argument zumindest verdeutlicht, dass die Entscheidung „realistisch/anti-realistisch“ fr die Charakteristik einer in136 Es scheint, dass die Zwei-Welten-Interpretation von Walker 2010 dieser Variante entspricht. 137 Ich vermute, dass dies der interpretatorischen Position Hannas 2001 entspricht. Allerdings bin ich mir diesbezglich nicht sicher, weil es in seiner Darstellung nicht klar ist, ob er den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde in meinem Sinne akzeptiert.
3.4 Diskussionsstrategie der nachfolgenden Untersuchung
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terpretatorischen Option die zentrale Relevanz hat. Ich mçchte Interpreten vorschlagen, zuerst zu diesem Punkt explizite Stellung zu nehmen. Durch dieses Kriterium wrde wohl die Flut heutiger Interpretationsoptionen weitgehend reduziert. Es wurde gezeigt, dass die einzig vertretbare Option fr die realistische Interpretation lediglich die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation ist. Kann man nun auch sagen, dass diejenige fr die anti-realistische Interpretation nur die Zwei-Welten-Interpretation ist (angenommen, die konsequent durchgefhrte methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation sei unattraktiv)? Dessen bin ich mir nicht sicher. Die anti-realistische Interpretation ist heutzutage ziemlich unbeliebt, so dass ihre Potenz meines Erachtens in der bisherigen Literatur noch nicht ausreichend berprft und entwickelt worden ist. Obwohl ich in der vorliegenden Abhandlung letztlich eine Variante der anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation (mit Existenzbehauptung der Dinge an sich) verteidige, mçchte ich mich vielmehr enthalten, sonstige Mçglichkeiten von vornherein auszuschließen. 3.4 Diskussionsstrategie der nachfolgenden Untersuchung Was die Entscheidung der Debatte zwischen der Zwei-Welten- und der Zwei-Aspekte-Interpretation besonders schwierig macht, ist der Umstand, dass man in Kants Schriften sowohl die Zwei-Welten- als auch die ZweiAspekte-Redeweise findet. (Diese entsprechen jeweils dem, was Stephen Barker in seinem berhmten Aufsatz (ders. 1967) „language of appearances“ und „language of appearing“ nannte; sie werden in 6.2. erçrtert.) Fr die Entscheidung dieser Debatte ist es ebenfalls erforderlich, nicht nur Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit, sondern auch seine Theorie der Dinge an sich konkret zu untersuchen. In Rcksicht darauf wende ich folgende Diskussionsstrategie an: Ich fokussiere mich zunchst auf Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit und versuche dadurch darzulegen, dass der TrI den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ablehnt und stattdessen irgendeine Version des Anti-Realismus derselben annimmt. Wenn dies erfolgreich nachgewiesen wird, dann wird der Mçglichkeitsraum der angemessenen Interpretationsoptionen weitgehend eingeschrnkt; dadurch lsst sich z. B. die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation, die der wichtigste Gegner der antirealistischen Interpretation ist, zurckweisen. Erst danach widme ich mich im letzten Kapitel der Problematik der Dinge an sich.
90 Kapitel 3 Zwei Welten oder zwei Aspekte/Metaphysisch oder methodologisch? Diese Strategie hat auch folgenden Vorzug: Sie behlt ihre Kraft, auch wenn meiner bisherigen Erçrterung entgegen eine anti-realistische Variante der metaphysischen oder eine realistische Variante der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation oder sonstige brandneue Mischformen mçglich sind. Denn wenn die obige Strategie erfolgreich durchgefhrt wird, werden dadurch Interpretationen aller Arten, die dem TrI eine realistische Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit zuschreiben, insgesamt zurckgewiesen. Außerdem ist das Thema der „Dinge an sich“ bekanntlich sehr problematisch, daher erscheint es ratsam (und umso ratsamer bei der interpretatorischen Debatte), ein Problem, das ohne Rcksicht hierauf behandelt werden kann, zuerst zu lçsen. Die vollstndige Bewhrung der anti-realistischen Interpretation bedarf der Erfllung folgender beider Aufgaben: (1) Aufweisen der positiven und selektiven Belege: Es muss zuerst an einigen zentralen Theoriestcken der KdrV, die Kants Billigung des Anti-Realismus nahelegen, festgestellt werden, dass sie nur im Rahmen des Anti-Realismus adquat verstndlich sind, und dass sie nicht realistisch umgedeutet werden kçnnen, ohne Kants dortige Argumentationen wesentlich zu verletzen. (2) Aufweisen der Vertrglichkeit: Es muss noch nachgewiesen werden, dass diejenigen Theoriestcke, die vielmehr den Realismus nahelegen, in Wahrheit mit dem Anti-Realismus vertrglich sind, oder zumindest anti-realistisch umgedeutet werden kçnnen, ohne Kants dortige Argumentationen wesentlich zu verletzen. Diese beiden Aufgaben zu erfllen, ist zwar anspruchsvoll, die Diskussion in Teil II wird jedoch zeigen, dass dies realisierbar ist. Dabei lege ich Kants Argumentationen mehr Gewicht bei als seinen bloßen Ausdrcken.138 Sofern man sich an die letzteren hlt, fhrt es wohl nur dazu, auf die Inkonsistenz der kantischen Position hervorzuheben (vgl. 6.2). Die Bevorzugung der Argumentationen trgt dazu bei, zentrale Behauptungsmomente von peripheren zu unterscheiden, um den TrI als ein konsequent verstndliches System darzustellen. 138 Damit impliziere ich nicht, ausschließlich dasjenige dem TrI zuzuerkennen, was durch seine Argumentationen erfolgreich, nmlich mit sachlich berzeugenden Argumenten, bewiesen worden ist. Manche Defekte bzw. Unzulnglichkeiten mssen bei der Interpretation beiseite gelassen werden. Die Bercksichtigung der Argumentation richtet sich vielmehr darauf, zu entscheiden, welche Elemente fr die KdrV zentral und welche zweitrangig sind.
3.4 Diskussionsstrategie der nachfolgenden Untersuchung
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Soweit mir bekannt ist, ist das Unternehmen, die realistische (bzw. antiidealistische/anti-phnomenalistische) Interpretation in paralleler Weise zu begrnden, bis dato nicht gelungen, ja sogar nicht einmal versucht worden. Eine typische Taktik, die ihre Vertreter stattdessen anwenden, ist folgende: Anstatt positive Belege im obigen Sinne aufzuweisen, geben sie solche Textpassagen, welche den Realismus bloß nahelegen, als „Belege“ fr ihre Interpretation an, ohne aber dabei zu bercksichtigen, dass solche Textpassagen vielleicht auch anti-realistische Deutungen erlauben. Was vielmehr anti-realistisch scheinende Textpassagen angeht, so versuchen sie zwar dafr die geforderte Vertrglichkeit nachzuweisen, ohne aber zu klren, wie dann die Argumentationen, in denen fragliche Textpassagen erscheinen, im Ganzen folgerichtig gedeutet werden; ihre Aufweisung der Vertrglichkeit wird nmlich gerade dadurch ausgefhrt, fragliche Textpassagen von deren argumentativen Kontexten zu isolieren.139 Die Unzulnglichkeit dieses Vorgehens wrde sich eigentlich von selbst verstehen. Dass dergleichen heutzutage trotzdem geschieht, beruht vermutlich auf folgender verbreiteter berzeugung, die in der Einleitung erwhnt wurde: Es steht außer Zweifel, dass so etwas wie Idealismus, Phnomenalismus, Anti-Realismus usf. sachlich unattraktiv ist (allerdings sind es wir in der Gegenwart, die so urteilen); deshalb muss man anstreben, Kants TrI mçglichst realistisch zu deuten, es sei denn, dass man ihn zum „bloß historischen Gegenstand“ herabmindern mçchte. – Indessen muss man, vor allem bei der Exegese, immer die Mçglichkeit in Betracht ziehen, dass gerade ein derartiges „principle of charity“ hufig zur Verzerrung des auszulegenden Textes fhrt.
139 Ein Beispiel ist Rae Langtons Behandlung der den Phnomenalismus nahelegenden Aussage von Kant ber „Einwohner im Monde“ (A493/B521). Langton behauptet: „Kant does not think that it is because we would have certain experiences that a thing counts as existing, and being a part of our world: rather, it is because the thing exists, and is already a part of our would“ (ders. 1998, S. 144 f.). Diese Deutung trgt nur dann eine scheinbare Plausibilitt, wenn die betreffende Aussage vom Kontext isoliert beobachtet wird. Sie macht es nmlich vçllig unverstndlich, warum Kant diese Aussage gerade im Kontext der Auflçsung der Antinomien darstellt; dieser Punkt ist in Langtons Diskussion vçllig ignoriert.
Teil II Exegetische Bewhrung der anti-realistischen Interpretation In diesem Teil vollziehe ich den Nachweis, dass Kants TrI ein Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist, mittels konkreter Textanalyse. In den ersten zwei Kapiteln beschftige ich mich mit besonders positiven Belegen dafr. In Kapitel 4 untersuche ich das Antinomiekapitel der KdrV, vornehmlich den dortigen „indirekten Beweis“ des TrI, der Folgendes nachweisen soll: TrR fhrt unvermeidlich zu den Antinomien; diese kçnnen nur durch TrI vermieden werden. Kapitel 5 behandelt den vierten Paralogismus (A), vornehmlich die dortige Argumentation, die Folgendes nachweisen soll: TrR fhrt unvermeidlich zu einem Skeptizismus rumlicher Gegenstnde (dem „skeptischen Idealismus“); dieser kann nur durch TrI vermieden werden. Dadurch erweist sich, dass es gerade der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde (im oben definierten Sinne) ist, der fr die Antinomien sowie fr den Skeptizismus verantwortlich ist. Der TrI, der diese beiden vermeiden soll, muss folglich ein Anti-Realismus sein. Worauf ich in diesen beiden Kapiteln abziele, ist nicht bloß zu zeigen, dass die betreffenden Theoriestcke auch eine anti-realistische Deutung einrumen, sogar nicht einmal, dass eine derartige Deutung „plausibel“ ist. Beabsichtigt wird vielmehr, entgegen der realistischen Interpretation jeder Art definitiv festzustellen, dass diese Theoriestcke nur anti-realistisch gebhrend verstanden werden kçnnen. In dieser Hinsicht weisen diese beiden Kapitel einen wesentlich polemischen Charakter auf; gerade zu diesem Zweck werden ausfhrliche Diskussionen erfordert. Kapitel 6 hingegen behandelt diejenigen Elemente der KdrV, die vielmehr den Realismus nahelegen, nmlich (1) die Widerlegung des Idealismus (B), (2) Kants Zwei-Aspekte-Redeweise, (3) die Transzendentale sthetik und (4) Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs (die besonders fr seine Freiheitslehre relevant ist). Es stellt sich heraus, dass (2) mit dem Anti-Realismus schwer zu vereinen ist. Dies bedeutet aber nicht das sofortige Scheitern der anti-realistischen Interpretation; es wird gezeigt, dass Kant selbst zwischen Realismus und Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde schwankt. Angesichts dessen ist die Mçglichkeit noch offen, zugunsten der anti-realistischen Interpretation dahingehend zu argumen-
Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
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tieren, dass diese, ob nicht mit jener Redeweise, doch mit Kants substantiellen Argumentationen durchaus vereinbar ist. Ich zeige dies fr die sonstigen drei Theoriestcke. Durch diese Untersuchungen wird der exegetische Vorrang der antirealistischen Interpretation sichergestellt. Sie kann nmlich durchaus leisten, was die realistische Interpretation nicht kann, nmlich Kants Argumentationen in der KdrV in eine kohrente Einheit zu integrieren. Damit wird die anti-realistische Interpretation eine stabile Begrndung erhalten, wie ich sie in 3.4 gefordert habe.
Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“ Das Ziel des Kapitels ist es, die anti-realistische Interpretation am Antinomiekapitel zu belegen. Dies ist von entscheidender Bedeutung fr die Begrndung der antirealistischen Interpretation. Die Antinomienlehre soll Kants eigener Ansicht nach ein wesentlicher, unabdingbarer Grundstein der KdrV sein. Nicht nur, dass sie – anders als der vierte Paralogismus (A) – in der Zweitauflage der KdrV nicht revidiert wurde, Kant selbst betonte ihre systematische Relevanz (vgl. Prolegomena, § 50 und § 52b Anm.). Darber hinaus nderte er diese berzeugung auch in seinen spteren Jahren nicht.140 Dies spricht dafr, dass eine Interpretation des TrI, die an der Antinomienlehre scheitert, in exegetischer Hinsicht niemals als adquat angesehen werden kann. Wenn also die anti-realistische Interpretation an der Antinomienlehre besttigt wird, ist dies ein schlagkrftiges Argument fr sie, das in keiner exegetischen Fragestellung ignoriert werden kann. Kant widmet nun der Erluterung seines TrI einen einzelnen Abschnitt des Antinomiekapitels (nmlich den 6. Abschnitt: „Der transzendentale Idealismus, als der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“). 140 Vgl. Kants Brief an Garve, am 21. September 1798: „Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V.: [. . .]; dies war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben“ (Ak. 12, S. 257 f.). Es ist zudem zu bemerken, dass Kant, selbst in den Reflexionen in den 90er Jahren, wo Guyer zufolge Kants Neigung zum Realismus auffllig ist, das Ergebnis des Antinomiekapitels positiv anfhrt; vgl. Refl. 6317, Ak. 18, S. 626 f.
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
Man mag vielleicht erwarten, dass durch eine Betrachtung dieses Abschnitts allein bereits der geforderte Beleg fr die anti-realistische Interpretation ereicht werden kann; dort finden sich ja in der Tat viele Aussagen, die deutlich auf einen Anti-Realismus hinweisen. Dennoch ist ein derartiges interpretatorisches Vorgehen nicht zulnglich, weil einzelne Textpassagen, fr sich allein betrachtet, mçglicherweise mehrere Lesarten einrumen, also wohl auch realistische. Was ich intendiere, ist vielmehr eine stichhaltige Begrndung, die jede realistische Interpretation der Antinomienlehre ein fr allemal widerlegt. Zu diesem Zweck soll nicht bloß auf einzelne Textpassagen, sondern in erster Linie auf den Argumentationsgang rekurriert werden. Es soll nachgewiesen werden, dass Kants Argumentation im Antinomiekapitel nur anti-realistisch interpretierbar und nicht mit dem Realismus vertrglich ist. Erst ein derartiger Nachweis erbringt die geforderte Stichhaltigkeit. Der Hauptgegenstand der Untersuchung dieses Kapitels ist der indirekte Beweis des TrI im Antinomiekapitel, der aus Herleitungen der Antinomien unter Voraussetzung des TrR sowie einer generellen Auflçsung derselben anhand des TrI besteht. Grob skizziert, verluft dieser indirekte Beweis wie folgt: Kant leitet zunchst im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels („Antithetik der reinen Vernunft“) unter Voraussetzung des TrR vier Antinomien her. Daraus ergibt sich, dass der TrR einen immanenten Widerspruch enthlt, somit zurckgewiesen werden muss. Im 7. Abschnitt („Kritische Entscheidung des kosmologischen Streits der Vernunft mit sich selbst“) hinterfragt Kant den Grund, der den TrR unvermeidlich zu den Antinomien fhrt, und demgemß zeigt er in generellen Form, wie die Antinomien durch seinen TrI aufgelçst werden. Dadurch wird der TrI als die einzig mçgliche Option, die die Antinomien vermeiden kann, indirekt bewiesen. (Spezifische Auflçsungen einzelner Antinomien werden spter im 9. Abschnitt gegeben.) In diesem Kapitel kommt es vorrangig darauf an, das Kernelement herauszuarbeiten, das den TrR zu den Antinomien fhrt und somit vom TrI zurckgewiesen werden soll. Der argumentative Schwerpunkt dieses Kapitels wird demnach auf die Auslegung des 7. Abschnitts des Antinomiekapitels gelegt. Dadurch wird sich erweisen, dass das gesuchte Kernelement gerade der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist, und dass der TrI daher einen Anti-Realismus annimmt. – Welche konkrete Version des Anti-Realismus dem TrI angemessen ist, wird innerhalb dieses Kapitels noch nicht thematisiert, sondern erst in Kapitel 7. Dieses Kapitel hat vier Abschnitte: Ich erlutere zunchst in 4.1 einige wichtige Termini fr die Interpretation des Antinomiekapitels. In 4.2
4.1 Vorbereitende Erluterungen
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untersuche ich Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien, und in 4.3 die generelle Auflçsung derselben. (Ein berblick dieser beiden Abschnitte wird in 4.1.3 gegeben.) Damit wird der exegetische Nachweis der antirealistischen Interpretation in diesem Kapitel vollendet. In 4.4 werden drei noch ausstehende Probleme erçrtert, die in diesem Kapitel besonders erwhnenswert sind. 4.1 Vorbereitende Erluterungen Die „Antinomie der reinen Vernunft“ ist eine Notlage des TrR, in die er im Bereich der „rationalen Kosmologie“ – laut Kant – unvermeidlich gert; die Lage nmlich, dass unter der Voraussetzung des TrR widersprchliche Aussagenpaare bewiesen werden. Dies bedeutet, dass der TrR einen immanenten Widerspruch beinhaltet, also zurckgewiesen werden muss. Kants Alternative zum TrR, durch die die Antinomie aufgelçst werden soll, ist der TrI.141 Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: In 4.1.1 erlutere ich einige Grundbegriffe fr die Antinomienlehre. In 4.1.2 expliziere ich den indirekten Beweis und seine Erfolgsbedingungen in formaler Hinsicht. In 4.1.3 stelle ich das „dialektische Argument“ vor, das Kant als den Ursprung der Antinomie identifiziert, und gebe auf dieser Basis einen berblick der nachfolgenden Untersuchung. 4.1.1 Erluterung der Grundbegriffe Die rationale Kosmologie handelt von der absoluten Totalitt der Reihe der Bedingungen (vgl. A334/B391, A340/B398, A409 f./B436 f., A416 f./ B443 f., u. a.). 141 Man mag hierbei Bedenken hegen, dass es Kants ußerung nach nicht bloß der TrR, sondern gerade die „Vernunft“ selbst ist, die in die Antinomie „von selbst und zwar unvermeidlich gert“ (A407/B434). Es ist aber klar, dass diese ußerung nicht wçrtlich genommen werden soll, zumal Kant ausdrcklich behauptet, dass die Antinomie durch seinen TrI aufgelçst wird. In Anlehnung an Grier 2001 schlage ich folgende Schwchung von Kants dieser ußerung: Damit meint Kant eigentlich nur, dass die transzendentale Illusion, die die Antinomie verursacht, fr die Vernunft im Allgemeinen unvermeidlich ist, so dass die Antinomie eine unvermeidliche Problematik fr die Vernunft berhaupt ist. Die Unvermeidlichkeit dieser Illusion bedeutet aber nicht, dass die durch diese Illusion nahegelegte Antinomie absolut unlçsbar ist. (Grier hat berzeugend gezeigt, dass die „Illusion“ bei Kant einen Urteilsfehler nicht impliziert; vgl. ibid., Kap. 4, besonders S. 128 – 30.)
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
Die Reihe der Bedingungen wird folgendermaßen eingefhrt: Zunchst ist uns etwas Bedingtes gegeben; z. B. Dinge in unserer nahen Umgebung. Dann muss es ex hypothesi zumindest eines geben, von dem dieses Bedingte bedingt ist. Wenn nun das Bedingende seinerseits bedingt ist, muss es wieder etwas geben, von dem es seinerseits bedingt ist, . . . usf. Die Bedingenden – Kants Wort: „Bedingungen“ – bilden eine Reihe, deren erstes Glied das zunchst gegebene Bedingte ist. Diese ist die „Reihe der Bedingungen“. Ich bezeichne sie fortan als „Bedingungsreihe“. Hierbei ist besonders zu beachten: Die Bedingungsreihe ist, zumindest in ihrem primren Sinne, nicht etwa eine Reihe der Entdeckung immer weiterer Bedingungen (die Kant „Regressus“ nennt), sondern vielmehr eine Reihe der Objekte, die dadurch erkannt werden sollen.142 – Kant argumentiert zwar letztlich, wie sich in 4.3 zeigen wird, dass bei seinem TrI die beiden Reihen gleichgesetzt werden. Dies gilt aber eben nicht fr den TrR, bei dem die Antinomie stattfindet. Bei der Darstellung der Antinomie darf daher diese Gleichsetzung, die nur beim TrI gilt, nicht vorweggenommen werden. Diesen Punkt zu ignorieren fhrt dazu, Kants Argumentation sowie ihre folgenschweren ontologischen Konsequenzen zu verdunkeln.143 Die absolute Totalitt einer Bedingungsreihe ist das vollstndige Ganze derselben, das bereits vor aller unserer Durchfhrung des Regressus aufseiten der Objekte komplett bestanden haben soll. – Wie aber in 4.3 einsichtig wird, argumentiert Kant letztlich, dass es so etwas wie die absolute Totalitt der Bedingungsreihe in Wahrheit nicht geben kann. Kant ist der Ansicht, dass die absolute Totalitt alle mçgliche Erfahrung berschreitet. Die rationale Kosmologie wird demnach nicht der empirischen Wissenschaft, sondern der metaphysica specialis zugeordnet. Zu beachten ist aber, dass die absolute Totalitt der Bedingungsreihe doch eine Summe von raumzeitlichen Gegenstnden, somit selbst ein raumzeitlicher Gegenstand sein soll (falls sie berhaupt existiert) und nicht so etwas wie „Noumenon“, das per definitionem nicht raumzeitlich ist.144 142 Diese Unterscheidung entspricht derjenigen von Strawson zwischen „exploring sequence“ und „explored sequence“; vgl. ders. 1966, S. 194 f. 143 Kants eigene Darstellung verdunkelt manchmal den Unterschied zwischen der Bedingungsreihe und der Reihe der Entdeckung, wie Malzkorn 1999, S. 77, richtig bemerkt. Falkenburg kritisiert Malzkorn daran (vgl. dies. 2000, S. 180, Anm. 5), dies spricht aber nur dafr, dass sie dabei, um Kant gegen Malzkorns Kritik zu verteidigen, die bençtigte Unterscheidung vernachlssigt. 144 „In Betracht dessen, daß berdem [die kosmologischen] Ideen insgesamt transzendent sind, und, ob sie zwar das Objekt, nmlich Erscheinungen, der Art nach nicht berschreiten, sondern es lediglich mit der Sinnenwelt (nicht mit Noumenis)
4.1 Vorbereitende Erluterungen
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Die rationale Kosmologie hat vier Themen, ber die jeweils zwei entgegengesetzte Behauptungen, „Thesis“ und „Antithesis“, aufgestellt werden; daraus ergeben sich vier „Widerstreit[e] der transzendentalen Idee“ (A426 f./B454 f., A434 f./B462 f., A444 f./B472 f. und A452 f./ B480 f.). Um den konkreten Gehalt einzelner Thesen und Antithesen genau zu beschreiben, bedarf es einer umfangreichen Untersuchung; damit befasse ich mich in 4.2. Kant argumentiert, dass sich unter Voraussetzung des TrR beide Thesen beweisen lassen, diese Sachlage nennt er die „Antinomie der reinen Vernunft“. Kant spricht meistens ber die Antinomie im Singular und dies deutet darauf hin, dass er die „Antinomie der reinen Vernunft“ nicht mit einzelnen kosmologischen Widerstreiten, sondern vielmehr mit der gesamten Problematik derselben identifiziert.145 Ich bezeichne aber im Nachfolgenden, wie blich in der Kant-Literatur, auch einzelne kosmologische Widerstreite als „Antinomie“. Trotz dieser Bezeichnung muss der Punkt, dass die verschiedenen „Antinomien“ zu einer einheitlichen Problematik gehçren, immer bercksichtigt werden (vgl. unten, 4.1.3). Nun noch ein wichtiger Terminus: „Welt“. Kants Verwendung dieses Terminus ist nicht immer kohrent. Er charakterisiert die Welt zunchst im 1. Abschnitt des Antinomiekapitels als „Inbegriff aller Erscheinungen“ (A419/B447) d. h. als das vollstndige Ganze aller raumzeitlichen Gegenstnde. Dieser Inbegriff soll, wie die „absolute Totalitt“, bereits vor aller mçglichen Erkenntnis vollstndig bestanden haben. Kant lehnt zwar einen solchen Inbegriff letztendlich ab, verwendet aber den Terminus „Welt“ im 7. und 9. Abschnitt in einer anderen Bedeutung; vgl. z. B. folgende Textpassage: „Sie [sc. die Welt] ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und fr sich selbst gar nicht anzutreffen.“ (A505/B533)
Zu beachten ist, dass Kant hier nicht behauptet, dass es so etwas wie die Welt nicht gebe. Sie existiert, und zwar „im empirischen Regressus“.146 „Welt“ wird hier als ein Oberbegriff verwendet, der nicht nur die absolute zu tun haben, dennoch die Synthesis bis auf einen Grad, der alle mçgliche Erfahrung bersteigt, treiben, [. . .]“ (A420/B447). Vgl. auch A416/B443 und A478 f./B506 f. 145 Hinske 1966 bekrftigt dies durch Anfhrung mehrerer Textstellen, auch von außerhalb der KdrV. Vgl. auch Heimsoeth 1967, S. 199 und Grier 2001, S. 173 f. 146 Der Ausdruck „anzutreffen sein“ bedeutet hier nicht etwa „zu erkennen sein“, sondern vielmehr „existieren“. Im ersteren Fall wrde der betreffende Satz zu einer bloßen Trivialitt fhren, dass die Welt nur durch Erkenntnis zu erkennen sei.
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
Totalitt, sondern auch diejenige Sammlung der Gegenstnde umschließt, welche die absolute Totalitt nicht ausmacht und somit fr den TrI akzeptabel ist. – Es stellt sich heraus, dass eine derartige Sammlung potentiellunendlich ist. Dieser Begriff soll hier noch nicht przisiert werden; damit beschftige ich mich im Kapitel 7. Es reicht zurzeit schon aus, die Zweideutigkeit des Terminus „Welt“ im Auge zu behalten. 4.1.2 Indirekter Beweis und seine Erfolgsbedingungen Laut Kant soll die Antinomienlehre einen indirekten Beweis seines TrI liefern (A506/B534; vgl. auch Fortschritte, Ak. 20, S. 290 f.). Zu beachten ist zunchst, dass „indirekter Beweis“ ein Terminus technicus ist, der eine apagogische Beweisart bezeichnet (vgl. z. B. Logik, Ak. 9, S. 52, S. 71, Logik Philippi, Ak. 24, S. 444, Logik Busolt, Ak. 24, S. 628, S. 650 und Logik Dohna-Wundlacken, Ak. 24, S. 748). Er bedeutet nicht etwa einen Nebenbeweis, der das zu Beweisende hçchstens plausibel macht.147 Der indirekte Beweis ist folgendermaßen strukturiert: Unter der Voraussetzung, dass entweder A oder B wahr sein muss, beweist man A, indem man aufweist, dass unter Annahme von B ein Widerspruch deduzierbar ist [A{B, B!QS A]. Der Erfolg des indirekten Beweises hngt demnach davon ab, dass A{B und B!Q erfolgreich nachgewiesen werden. Was die Antinomienlehre angeht, beweist Kant den TrI dadurch, dass er unter Voraussetzung des TrR die Antinomien herleitet (d. h., die Thesen sowie die Antithesen beweist).148 Der Beweis hngt also davon ab, dass Folgendes nachgewiesen wird: 147 Kristina Engelhard missreprsentiert den indirekten Beweis, indem sie ihn als „ein sekundres Verfahren mit geringerer Beweiskraft“ charakterisiert (dies. 2005, S. 313, Anm. 27). Kant gesteht sogar zu, dass indirekte Beweise „einen Vorzug der Evidenz vor den direkten Beweisen“ haben (A790/B818). Allen Wood (in Wood/Guyer/Allison 2007, S. 8 f.) erhebt den Verdacht, dass der indirekte Beweis des TrI im Antinomiekapitel mit Kants ablehnender Schtzung des indirekten Beweises in der Philosophie (vgl. A789 ff./B817 ff.) kollidiert. Ich rume diesen Verdacht in 6.1 (Anm. 321) aus. 148 Der indirekte Beweis des TrI wird in A506 f./B534 f. anders dargestellt. Demgemß ist er folgendermaßen strukturiert: Aus dem TrR folgt, dass (1) entweder die Thesis oder die Antithesis wahr sein muss. Unter der Annahme des TrR wird aber des Weiteren bewiesen, dass (2) die erste sowohl als die zweite falsch sind. So wird aus dem TrR ein Widerspruch hergeleitet, folglich muss der TrR falsch sein. Also ist der TrI wahr. Dies unterscheidet sich jedoch von meiner Darstellung nicht wesentlich, denn man kann aus (1) und (2) in trivialer Weise ableiten kann, dass die Thesis sowohl als die Antithesis wahr sind, was die Antinomie bedeutet.
4.1 Vorbereitende Erluterungen
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(A) Entweder muss TrI oder TrR wahr sein. Mit anderen Worten: Beide sind kontradiktorisch entgegengesetzt. (B) Die Antinomien sind unter der Voraussetzung des TrR tatschlich herleitbar. Das Konzept des „indirekten Beweises“ zwingt nun der Argumentation fr (B) weiterhin folgende zwei Bedingungen auf.149 (B1) Sie darf nicht auf Argumente rekurrieren, die nur unter der Voraussetzung des TrI gerechtfertigt werden kçnnen. 150 Sonst wre die Argumentation ein bloßer Zirkelschluss, der die Wahrheit des zu Beweisenden fr die Beweisfhrung selbst voraussetzte. Diese Bedingung wird nicht davon tangiert, dass sich der TrI auch durch andere Argumentationen, z. B. die der Transzendentalen sthetik, beweisen lsst. Die Pointe dieser Bedingung ist, dass ein Nichterfllen derselben das Projekt des indirekten Beweises selbst zunichte macht. Diese Bedingung ist nicht nur sachlich notwendig, sondern auch von Kant selbst anerkannt: „Man sieht daraus, daß die obigen Beweise der vierfachen Antinomie nicht Blendwerke, sondern grndlich waren, unter der Voraussetzung nmlich, daß Erscheinungen oder eine Sinnenwelt, die sie insgesamt in sich begreift, Dinge an sich selbst wren.“ (A507/B535, kursiv von K.C.)151
(B2) Die geforderte Herleitung der Antinomie muss unter der Voraussetzung des TrR absolut schlssig sein. Sie soll nmlich nicht nur plausibel, sondern so stichhaltig sein, dass sie die Mçglichkeit aller Einwnde vonseiten des TrR von vornherein ausschalten kann. Dies ist zwar eine extrem starke Forderung, aber fr den Erfolg des ganzen indirekten Beweises konstitutiv, denn sonst wrde durch diesen Beweis bestenfalls dargelegt, dass einige defekte Versionen des TrR zu den Antinomien fhren, und nicht, dass der TrR als solcher einen innerlichen
149 Malzkorn stellt solche Bedingungen noch prziser dar; vgl. ders. 1999, S. 116 – 8. (B1) unten entspricht seinem (VI), und (B2) seinem (II), (III), (IV) und (V). 150 Dies schließt nicht aus, dass einige der Argumente, die (B) beweisen, nicht nur beim TrR, sondern mçglicherweise auch beim TrI unverndert gelten; ich werde in 7.1.1 zeigen, dass Kant tatschlich so denkt. 151 Vgl. auch A521/B549 Anm., Prolegomena, Ak. 4, S. 339 f., und Fortschritte, Ak. 20, S. 288. Diese Textpassagen werden von Schmucker 1990, S. 191 – 6 ausfhrlich erçrtert.
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Widerspruch beinhaltet. Gerade das Letztere nachzuweisen, ist die Aufgabe des indirekten Beweises.152 Diese Bedingung ist wiederum nicht nur sachlich notwendig, sondern auch von Kant selbst anerkannt. Der allerdeutlichste Beleg findet sich in Prolegomena § 52: „Wenn wir [. . .] uns die Erscheinungen der Sinnenwelt als Dinge an sich selbst denken [. . .]: so thut sich ein nicht vermutheter Widerstreit hervor, der niemals auf dem gewçhnlichen, dogmatischen Wege beigelegt werden kann, weil sowohl Satz als Gegensatz durch gleich einleuchtende klare und unwiderstehliche Beweise dargethan werden kçnnen – denn fr die Richtigkeit aller dieser Beweise verbrge ich mich –, [. . .].“ (Ak. 4, S. 339 f., kursive von K.C.; vgl. auch ibid., S. 340, S. 341 Anm. und gerade zitierte A507/B535: „nicht Blendwerke, sondern grndlich“)
Kant ist nun zweifelsohne davon berzeugt, dass er sowohl (A) als auch (B) erfolgreich nachgewiesen hat, und zwar derart, dass dabei (B1) und (B2) erfllt werden. Man kann aber diese berzeugung freilich in sachlicher Hinsicht in Frage stellen.153 152 Dagegen ist Falkenburg: „Fr Kants Beweisanliegen in einer Logik des transzendentalen Scheins ist es hinreichend, wenn die Prmissen vom Standpunkt des transzendentalen Realismus als erfllbar und wahr erscheinen – sie mssen es nicht sein“ (dies. 2000, S. 216, Anm. 82; vgl. auch Bird 2005, S. 666 f.). Dieses Urteil aber kollidiert sowohl mit dem Konzept des „indirekten Beweises“ als auch mit Kants Selbstverstndnis. Fragwrdig wre vielmehr, wie Falkenburg auf eine solche Ansicht berhaupt verfallen konnte. Sie bietet allerdings dafr keine explizite Rechtfertigung an. Diese Ansicht drfte vermutlich durch folgendes „principle of charity“ motiviert sein: Es ist leider unleugbar, dass Kants Herleitungen der Antinomien nicht stichhaltig sind. Um Kants Argumentation trotzdem zu verteidigen, sollte man unterstellen, dass Kant dabei keinen stichhaltigen Beweis beabsichtigt. – Eine derartige „charity“ ergibt aber nur eine Verzerrung von Kants eigener Argumentation. Al-Azm 1972 macht auf die Parallelitt zwischen Kants Herleitungen der Antinomien und den kosmologischen Debatten in der bekannten Leibniz-Clarke Korrespondenz aufmerksam. Dieser historische Umstand darf aber, wie Grier richtig bemerkt (in dies. 2001, S. 182 f.), nicht berschtzt werden. In der Antinomienlehre handelt es sich, Kants Absicht nach, nicht bloß um tatschlich gefhrte kosmologische Widerstreite, sondern vielmehr um diejenigen, in welche der TrR unvermeidlich verwickelt wird. 153 Ich habe bereits in 2.1 suggeriert, dass dies im Fall von (A) nicht geschehen ist. Der Grund war, dass der TrR von Kants TrI mindestens in zwei unterschiedlichen Punkten, nmlich der Idealitt der Gegenstnde und der Idealitt der Formen, abweicht. Die Lage ist eigentlich noch schlimmer. Der 2. Abschnitt des Antinomiekapitels legt nahe, dass Kant dem TrR noch andere Behauptungselemente unterstellt, die
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Indessen gehe ich auf diesen Punkt nicht ein. Ich nehme stattdessen, zum Zweck der Interpretation, den Erfolg von Kants eigener Beweisfhrung einfach an. Dieses Vorgehen wird von der Zielsetzung dieses Kapitels gerechtfertigt: Mein hiesiges Anliegen ist nicht, die Antinomienlehre per se in systematischer Hinsicht zu berprfen (geschweige denn, sie gegen bisher erhobene Einwnde zu verteidigen) sondern vielmehr den fr die Antinomienlehre relevanten Sinngehalt des TrI zu enthllen. Es kommt dabei vorrangig darauf an, wie Kant im indirekten Beweis des TrI tatschlich argumentiert und welche Schlussfolgerungen sich dadurch fr den TrI ergeben. Die Bercksichtigung der oben erwhnten Erfolgsbedingungen ist gerade darum erforderlich, weil ohne sie Kants Argumentation als solche nicht korrekt begriffen werden kann. Diese Bedingungen geben uns nmlich einen Hinweis darauf, wie Kant selbst einzelne Argumente, auf die er fr den indirekten Beweis des TrI rekurriert, versteht. Außerdem hat auch (A) eine Konsequenz, die fr die Exegese wichtig ist. Die von Kant angenommene kontradiktorische Entgegensetzung von TrR und TrI fhrt dazu, dass jede mçgliche philosophische Position als eine fr dessen Hauptthese, dass raumzeitliche Gegenstnde Dinge an sich seien, nicht konstitutiv zu sein scheinen. Zum Beispiel: (1) Die Annahme, dass die Welt „totum syntheticum“ sein soll (fr den Thesis-Beweis der ersten Antinomie; vgl. Al-Azm 1972, S. 11 – 13, Allison 2004, S. 369 f.). (2) Die Annahme eines „rationalistischen“ Substanzbegriffs (fr den Thesis-Beweis der zweiten Antinomie; vgl. Falkenburg 2000, S. 230 f.). (3) Die eines „naturalistisch verstandenen Prinzips des zureichenden Grundes“ (fr den Thesis-Beweis der dritten Antinomie; vgl. Falkenburg 2000, S. 242), usw. Hier sehen sich Interpreten mit einem Dilemma konfrontiert: Wenn man einerseits solche Behauptungselemente nicht zu konstitutiven Momenten des TrR zhlt, muss man zugestehen, dass Kants Herleitungen der Antinomien die Bedingung (B2) nicht erfllen. Wenn man andererseits solche Behauptungselemente doch als definitorische Momente des TrR erachtet, wird es hoffnungslos unmçglich, das obige (A) zu verteidigen, weil es allzu leicht ist, sich diejenigen Positionen vorzustellen, die zwar solche Behauptungselemente nicht teilen, aber auch mit dem TrI unvertrglich sind; derart sind vermutlich die meisten realistischen Positionen in der Gegenwart. In beiden Fllen muss Kants indirekter Beweis scheitern. Meine Strategie der nachfolgenden Untersuchung wird von diesem Dilemma nicht tangiert, denn sie zielt nicht darauf ab, den vollstndigen Gehalt des TrI festzustellen, sondern nur darauf, einen solchen, der fr die Antinomienlehre relevant ist, als einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde hervorzuheben. Dafr ist die Annahme der sachlichen Schlssigkeit des indirekten Beweises nicht erforderlich.
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
Variante entweder vom TrR oder vom TrI zu klassifizieren ist. Daraus resultiert des Weiteren: Wenn eine These sowohl im Rahmen des TrR als auch in dem des TrI beweisbar ist, dann bedeutet dies fr Kant zugleich, dass sie in jedem Fall, nmlich aus jeder mçglichen philosophischen Perspektive, beweisbar ist. In 4.2.3 werde ich zum exegetischen Zweck auf diese Konsequenz zurckgreifen. 4.1.3 berblick der nachfolgenden Untersuchung Das zentrale Thema dieses Kapitels ist die Herausstellung desjenigen Moments des TrR, welches die Antinomien unumgnglich macht. Kant stellt nun am Anfang des 7. Abschnitts des Antinomiekapitels fest, dass „die ganze Antinomie der reinen Vernunft“ auf folgendem „dialektischen Argumente“ grnde: „[Obersatz] Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: [Untersatz] nun sind uns Gegenstnde der Sinne als bedingt gegeben, [Schluss] folglich usw.“ (A497/B525)
Es bedarf zweier Bemerkungen: (a) Das Wort „gegeben sein“ muss in diesem Kontext nicht etwa „von uns erkannt werden“, sondern vielmehr „existieren“ bzw. „bestehen“ bedeuten. Sonst liefe der Obersatz auf eine abstruse These hinaus, wie „Wenn man einmal das erste Glied einer Bedingungsreihe erkennt, hat man damit schon diese im Ganzen erkannt“; dies wre absurd egal von welchem philosophischen Standpunkt aus.154 – Der Obersatz ist demnach folgendermaßen zu paraphrasieren: Aus dem Gegebensein eines Bedingten kann man darauf schließen, dass „die ganze Reihe aller Bedingungen desselben“, d. h. die Bedingungsreihe desselben als eine absolute Totalitt existiert (obgleich daraus allein keine Konsequenzen fr die Antwort auf die Frage, wie sie in concreto existiert, gezogen werden kçnnen). (b) Der Untersatz dieses Syllogismus wird innerhalb des Antinomiekapitels nicht in Frage gestellt, sondern sowohl vom TrR als auch vom TrI akzeptiert.155 Daraus geht hervor, dass die ganze Antinomie von dem 154 Vgl. auch folgende Textpassage: „Hier [sc. beim TrR, der das „dialektische Argument“ unumgnglich macht] ist die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des bloßen Verstandes, welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob, und wie wir zur Kenntnis derselben gelangen kçnnen“ (A498/B526 f., kursiv von K.C.). 155 Wenn der Untersatz verneint wrde, kme die Antinomie berhaupt nicht zu Stande; dies kçnnte wohl bei dem „dogmatischen Idealismus“ (vgl. unten, 5.2.3)
4.1 Vorbereitende Erluterungen
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Obersatz abhngt (vgl. auch A307 f./B364 und A409/B436); den Obersatz bezeichne ich fortan als „Reihenthese“. Kant ist nmlich der Auffassung, dass der TrR gerade deswegen in die Antinomien gert, weil er die Reihenthese impliziert; der TrI hingegen weist die Reihenthese zurck und vermeidet dadurch die Antinomien.156 Fr das Ziel dieses Kapitels soll noch herausgearbeitet werden, welches spezifische Moment des TrR die Reihenthese erzwingt. Damit beschftige ich mich im bernchsten Abschnitt (4.3). Ich werde dort feststellen, dass das gesuchte Moment nichts Anderes als der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist; demnach besteht Kants Auflçsung der Antinomien gerade darin, den Realismus abzulehnen und dadurch die Reihenthese zurckzuweisen. Damit erhlt die anti-realistische Interpretation eine substantielle Begrndung durch die Antinomienlehre. Dafr muss jedoch im Vorfeld verdeutlicht werden, wie die Reihenthese per se die Antinomien erzwingt. Kant erklrt dies im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels. Hierbei muss nun folgender Umstand bercksichtigt werden: Kant sieht dort von den Eigentmlichkeiten einzelner Antinomien ab und fhrt stattdessen den Ursprung aller Antinomien einheitlich auf das oben genannte „dialektische Argument“ (besonders die daraus resultierende Annahme der absoluten Totalitt der Bedingungsreihe) zurck.157 Dass eine solche einheitliche Erklrung berhaupt mçglich ist, setzt nun seinerseits voraus, dass die Herleitungen einzelner Antinomien, die bereits im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels vorgebracht wurden, eine einheitliche Struktur teilen, die jene einheitliche Erklrung erlaubt, und zwar so, dass bei ihr das Konzept der Bedingungsreihe eine zentrale Rolle spielt. Die Aufgabe, diese einheitliche Struktur zu extrahieren, ist unentbehrlich, um die Antinomienlehre in toto gebhrend zu verstehen. Denn erst dadurch wird es verstndlich, dass die Herleitungen sowie die Auflçsungen einzelner Antinomien unter dem singulren Titel „Antinomie der der Fall sein. Da aber Kant diese Mçglichkeit zumindest im Antinomiekapitel gar nicht bercksichtigt, lasse ich sie in diesem Kapitel gleichfalls außer Acht. 156 Allen Wood erhebt den Einwand gegen Kants Auflçsung der Antinomien, dass der TrI dafr berhaupt nicht relevant ist (vgl. ders. 2005, S. 95 f.). Dies spricht aber vielmehr nur dafr, dass sein Verstndnis des kantischen TrI irgendwie verfehlt oder unzulnglich ist. – Trotz dessen steht diese Beurteilung Woods in einem interessanten Einklang mit meinem Schluss dieses Kapitels; dies erçrtere ich in 4.4 (A), Anm. 227. 157 Kant greift zwar in A503 – 6/B531 – 4 einzelne Antinomien auf, aber gerade um die Tatsache hervorzuheben, dass jede Antinomie in der gleichen Weise aufgelçst wird.
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reinen Vernunft“ organisch zusammenhngen. Diese Aufgabe ist jedoch, soweit mir bekannt ist, in der Literatur noch nicht ausreichend bewltigt worden.158 Dieser Aufgabe stehen folgende zwei exegetische Schwierigkeiten im Weg: (1) Im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels tritt die Thematik der Bedingungsreihe nicht in den Vordergrund. Um also die gefragte einheitliche Struktur zu extrahieren, wird bençtigt, Kants dortige Formulierungen sowie Herleitungen einzelner Antinomien so umzuformulieren, dass sie explizit auf diese Thematik bezogen werden.159 (2) Kant selbst gibt eine Erklrung der gefragten einheitlichen Struktur. Sie lsst sich folgendermaßen zusammenfassen; ich nenne dies fortan „Schema K“: Stufe 1 [Grundvoraussetzung des TrR]: Thesis und Antithesis sind kontradiktorisch entgegengesetzt. Stufe 2: Unter Annahme der Antithesis wird ein Widerspruch hergeleitet. D.h., Antithesis ist falsch. Stufe 3: Unter Annahme der Thesis wird ein Widerspruch hergeleitet. D.h., Thesis ist falsch. Stufe 4: Aus den Stufen 1 und 2 wird die Thesis, aus den Stufen 1 und 3 die Antithesis bewiesen; Antinomie.160 Wie sich aber im Nachfolgenden zeigen wird, gilt dieses Schema nicht genau fr alle von Kants Beweisfhrungen im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels. Dies bedeutet, dass Kants eigene Erklrung irrefhrend ist.161 Angesichts dessen stellt sich die Aufgabe, (1) die gesuchte einheitliche Struktur erneut – teilweise Kants eigener Erklrung entgegen – heraus158 Die gefragte einheitliche Struktur wird z. B. durch die ausfhrlichen sowie tiefgehenden Textanalysen von Malzkorn 1999 und Falkenburg 2000 vielmehr verdunkelt. Grier 2001 versucht die einheitliche Struktur von den Auflçsungen der einzelnen Antinomien zu klren, aber nicht von den Herleitungen derselben. 159 Dieser Punkt wird auch von Strawson bemerkt; vgl. ders. 1966, S. 185. 160 Vgl. Folgendes: „[I]ch schließe daraus, daß ich von der unbedingten synthetischen Einheit der Reihe auf einer Seite, jederzeit einen sich selbst widersprechenden Begriff habe, auf die Richtigkeit der entgegenstehenden Einheit, [. . .]“ (A340/ B398; vgl. auch A502 – 5/B530 – 3). Kants Beweisstrategie ist demnach, Thesis und Antithesis jeweils dadurch zu beweisen, unter Annahme der anderen einen Widerspruch herzuleiten. Dafr bedarf es aber der Voraussetzung, dass Thesis und Antithesis (zumindest unter Annahme des TrR) tatschlich kontradiktorisch entgegengesetzt seien. So erreicht man das oben dargestellte Schema K. 161 Sie hat in der Tat einige Interpreten zu Missverstndnissen verfhrt; vgl. z. B. Wolff 1981, Guyer 1987 und Wagner 1996.
4.2 Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien
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zustellen, und zwar mit besonderer Rcksicht auf die Thematik der Bedingungsreihe, und (2) darauf basierend zu verdeutlichen, in welchem Sinn die Reihenthese der Ursprung der „ganzen Antinomie der reinen Vernunft“ ist. Damit beschftige ich mich im nchsten Abschnitt. 4.2 Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien In diesem Kapitel geht es um Kants Beweisfhrungen bei den Herleitungen der Antinomien im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels. Es kommt hier vornehmlich darauf an, diese Herleitungen derart zu rekonstruieren, dass dadurch die oben erwhnte einheitliche Struktur sowie deren Zusammenhang mit der Reihenthese einsichtig gemacht werden. Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: In 4.2.1 mache ich allgemeine Bemerkungen fr die Analyse der einzelnen Antinomien, vor allem fr die korrekte Formulierung der Thesis und der Antithesis. In 4.2.2 untersuche ich die mathematischen Antinomien im Einzelnen und zeige, wie die Reihenthese in den Herleitungen derselben fungiert, sowie dass Schema K fr den Raum-Teil der ersten Antinomie und die zweite Antinomie nicht gilt. Aufgrund dessen schlage ich in 4.2.3 ein alternatives Schema vor und konstatiere seine generelle Gltigkeit durch eine Untersuchung der Flle der dynamischen Antinomien. Darauf basierend stelle ich zuletzt fest, dass die Reihenthese tatschlich der Ursprung der Antinomien ist, und zwar nicht bloß deswegen, weil sie eine notwendige Voraussetzung fr die Herleitungen der Antinomien ist, sondern in eben dem strkeren Sinn, dass die Antinomien unvermeidlich sind, sofern die Reihenthese gebilligt wird. 4.2.1 Vorbemerkungen fr die Analyse der einzelnen Antinomien Fr die Untersuchung eines Beweises muss zunchst sein Beweisziel korrekt begriffen werden. Es ist also eine unentbehrliche Voraussetzung fr die nachfolgende Untersuchung, jede „Thesis“ und „Antithesis“ korrekt zu formulieren. Dazu sind folgende drei Punkte anzumerken: (1) Mit Rcksicht auf die Reihenthese sollen jede Thesis und Antithesis anhand des Konzepts der Bedingungsreihe reformuliert werden. (2) Kant behauptet, zumindest fr die mathematischen Antinomien explizit, dass seinem TrI gemß sowohl die Thesen als auch die Antithesen fr falsch erklrt werden (vgl. z. B. A531/B559 und Prolegomena, Ak. 4, S. 341). Daraus ergibt sich folgendes Kriterium: Die Thesen sowie die
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Antithesen der mathematischen Antinomien mssen dergestalt formuliert werden, dass sie vom TrI als falsch beurteilt werden; sonst mssen die Formulierungen inkorrekt (oder unzulnglich) sein. – Dasselbe gilt in Wahrheit auch fr die dynamischen Antinomien; dieser Umstand wird im bernchsten Unterabschnitt erklrt. (3) Wie gleich gezeigt wird, vertritt die Thesis-Seite jeder Antinomie die Position der Endlichkeit, die Antithesis-Seite hingegen die der Unendlichkeit. Es ist ratsam, Kants Begriffe der Endlichkeit und der Unendlichkeit im Voraus in genereller Hinsicht zu erlutern. Dass eine Bedingungsreihe endlich sei, heißt, dass die Gesamtanzahl ihrer Glieder endlich sei. Kant setzt dies damit gleich, dass eine Bedingungsreihe ein letztes Glied habe (vgl. z. B. A417 f./B445 f.). Diese Gleichsetzung ist, sachlich betrachtet, nicht ganz unproblematisch.162 Ich stelle sie aber zum Zweck der Interpretation nicht in Frage, und setze sie stattdessen Kant folgend einfach voraus. Die Unendlichkeit der Antithesen verdient hingegen besondere Aufmerksamkeit. Sie kann nicht bloß mit der Negation der Endlichkeit gleichgesetzt werden. Denn, wie sich zeigen wird, erkennt Kants TrI ebenfalls an, dass Bedingungsreihen nicht endlich sein kçnnen. Was soll dann die Unendlichkeit bedeuten, die in den Antithesen gesagt wird? Folgende Textpassage gibt einen Hinweis darauf: „Dieses Unbedingte kann man sich nun gedenken, entweder als bloß in der ganzen Reihe bestehend, in der also alle Glieder ohne Ausnahme bedingt und nur das Ganze derselben schlechthin unbedingt wre, und denn heißt der Regressus unendlich. [. . .] [In diesem Fall] ist die Reihe a parte priori ohne Grenzen (ohne Anfang), d.i. unendlich, und gleichwohl ganz gegeben, [. . .].“ (A417 f./B445 f., kursiv von K.C.)163 162 Denn es ist nicht offensichtlich, dass folgende Mçglichkeit ausgeschlossen werden muss: Eine Bedingungsreihe habe ein letztes Glied, obzwar die Gesamtanzahl ihrer Glieder doch unendlich sei (mengentheoretisch przisiert: Eine unendliche linear geordnete Menge mit einem Anfang habe auch ein letztes Glied). Diese Mçglichkeit wird von den Standard-Mengenlehren (z. B. der sogenannten „naiven“ Mengenlehre sowie ZF) erlaubt. Man denke z. B. an (a) eine gemß der Grçßenrelation linear geordnete Menge der rationalen Zahlen von 0 bis 1 oder (b) Wohlordnung: (1, 2, 3, . . . ; 0). – Es ist vielleicht mçglich, Kants betreffende Gleichsetzung zu verteidigen, indem man fr das Konzept der Bedingungsreihe weitere Restriktionen stipuliert. Da aber dergleichen fr die exegetische Begrndung der anti-realistischen Interpretation nicht nçtig ist, gehe ich darauf nicht ein. 163 Direkt daran schließt folgender Satz an: „[. . .] der Regressus in ihr aber ist niemals vollendet, und kann nur potentialiter unendlich genannt werden“. Dies kann nicht derart gedeutet werden, dass die Bedingungsreihe als solche bestenfalls „potentia-
4.2 Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien
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Die Unendlichkeit der Antithesen ist nmlich das Quantum desjenigen Ganzen, das nicht nur nicht-endlich ist, sondern als ein solches auch vollstndig gegeben ist.164 Dies entspricht der sogenannten „aktualen Unendlichkeit“.165 Sie schließt nicht nur die Endlichkeit, sondern auch die potentielle Unendlichkeit aus.166 – Es ist nicht leicht, die Bedeutung der letzten przise zu bestimmen; damit beschftige ich mich im Kapitel 7. Es reicht hier schon aus, sie als Alternative zur Endlichkeit und zur aktualen Unendlichkeit zu verstehen. Zuletzt sei noch eine Bemerkung betreffs der Logik, die in der nachfolgenden Textanalyse verwendet wird, beigefgt: Es ist wohl davon auszugehen, dass Kant bei seinen Argumentationen die traditionelle Logik mit dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten voraussetzt. Ich enthalte mich dennoch im Nachfolgenden der Verwendung der besonders traditionelllogischen Schlussregeln. Denn, wie in 1.3 erklrt, sind Logik und Ontologie eng miteinander verknpft. Wenn man daher bei der Textanalyse eine liter unendlich“ sein kçnne. Denn sonst widersprche diese Textpassage der vorigen, wo die unendliche Reihe als „ganz gegeben“ charakterisiert wurde. Der hiesige „Regressus“ muss also vielmehr als Reihe unserer sukzessiven Erkenntnis der objektiv bestehenden Bedingungsreihe verstanden werden. 164 Dies wird durch folgende Reflexion ber die Antinomienlehre verdeutlicht: „Unendlich bedeutet mehr als nicht endlich oder begrentzt, sondern auch im Gantzen genommen ber alle Maaße groß“ (Refl. 5338, Ak. 18, S. 155). 165 Obwohl Kant den Terminus „aktual-unendlich“ in der KdrV nicht verwendet, ist es nicht der Fall, dass er diesen nicht kennt; vgl. folgende: Refl. 4046 (Ak. 17, S. 397), 4194 (ibid., S. 452), 4726 (ibid., S. 689), 4836 (ibid., S. 741); ber Kstners Abhandlungen, Ak. 20, S. 421; Metaphysik Mrongovius, Ak. 29, S. 854 und 856. Es stellt sich die Frage, warum Kant den Terminus „aktual unendlich“ in der KdrV nicht verwendet. Dies tut er wohl deswegen nicht, weil er in der KdrV die Thesis und die Antithesis derart darstellen will, dass die beiden mçglichst kontradiktorisch entgegengesetzt aussehen. Wird der Terminus „aktual-unendlich“ verwendet, fllt einem sofort eine mittlere Position ein, in der die Bedingungsreihe potentiell-unendlich ist. – Diese Wortwahl ist zwar nicht illegitim, weil Kants Argumentation im Endeffekt nachweist, dass die Option der potentiellen Unendlichkeit fr den TrR unverfgbar ist (vgl. unten, Anm. 208), ist aber ohnehin irrefhrend in unignorierbarem Maße. 166 Es gibt auch Autoren, die die potentielle Unendlichkeit bloß als Nicht-Endlichkeit definieren; z. B. Hallett 1984, S. 12. Demgemß soll die potentielle Unendlichkeit die aktuale Endlichkeit nicht ausschließen. Ich bestreite diese Definition nicht; wichtig ist nur, dass sie der Bedeutung der „potentiellen Unendlichkeit“ in der vorliegenden Abhandlung nicht entspricht.
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
bestimmte Logik voraussetzt, transportiert man mçglicherweise ungewollt bestimmte ontologische Vorannahmen.167 Es wre aber ein hoffnungsloses Unternehmen, mit „absolut neutralen“ Schlussregeln, wie sie fr alle mçglichen Logiken akzeptabel wren, auskommen zu wollen. Ich bercksichtige also in diesem Abschnitt besonders drei Logiken, nmlich die traditionelle, die klassische und die intuitionistische Logik168 und strebe an, Kants Argumentation mithilfe der fr sie gemeinsam akzeptablen Schlussregeln zu rekonstruieren. Wichtig ist vor allem, dass das Bivalenzprinzip (bzw. der Satz vom ausgeschlossenen Dritten) nicht als eine logische Wahrheit vorausgesetzt wird. Im Nachfolgenden muss manchmal festgestellt werden, dass entweder A oder nicht-A der Fall ist. In diesem Fall erklre ich dies nicht als eine bloße Instanz des Bivalenzprinzips, sondern motiviere dies vielmehr mit außerlogischen Grnden. Es ist hier besonders zu betonen, dass dieses asketische Verfahren gegen Kants Billigung der traditionell-logischen Schlussregeln nicht verstçßt. Es impliziert als solches nicht, das Bivalenzprinzip abzulehnen. Mein Ver167 Hierbei habe ich folgenden denkbaren Einwand im Sinne: Ich werde spter nachweisen, dass der Ursprung der Reihenthese, also auch der der ganzen Antinomien, der Realismus ist. Wenn aber bei diesem Nachweis die Logik mit Bivalenzprinzip verwendet wird, liegt der Verdacht nahe, dass dieses Ergebnis nur deswegen zustande kommt, weil ich bei der Auslegung zusammen mit dieser Logik den Realismus heimlich herbeigefhrt habe. Um diesen Verdacht im Voraus auszurumen, setze ich das betreffende asketische Verfahren hinsichtlich der Logik ein. Wolfgang Malzkorn stellt auch eine hnliche Regel wie meine auf: „Die [fr die Interpretation] verwendete Logik soll jeweils so elementar wie mçglich, jedoch so komplex wie nçtig sein, um Kants Argumentation adquat reprsentieren und fruchtbringend analysieren zu kçnnen“ (ders. 1999, S. 120). Er erklrt aber nicht, welche Logik dieses Kriterium befriedigt. Er verwendet sogar ohne Rechtfertigung einfach die klassische Prdikatenlogik, was aus dem gerade erwhnten Grund eigentlich problematisch ist. – Dieses Vorgehen erweist sich zwar letztlich als nicht besonders schdlich fr Malzkorns Analyse der Herleitungen der Antinomien im Rahmen des TrR, weil dieser (wie in 4.3 gezeigt wird) den Realismus impliziert, so dass er mit der klassisch-bivalenten Logik gut harmoniert. Es schadet jedoch seine Analyse von Kants Auflçsung der Antinomien durch den TrI, der als ein AntiRealismus die bivalente Logik problematisch macht. 168 Brittan 1978 und Posy 1981 behaupten, dass bei der Kant-Interpretation auch die freie Logik bercksichtigt werden muss. Diese kann aber im Nachfolgenden außer Acht gelassen werden, da in meiner folgenden Analyse von Kants Argumentationen Aussagen mit den singulren Termen, die mçglicherweise kein Referenzobjekt haben, nicht vorkommen. Fr sonstige Aussagen muss die Eigentmlichkeit der freien Logik nicht bercksichtigt werden.
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fahren ist nur durch eine interpretatorische Umsichtigkeit motiviert und sowohl mit der Ablehnung als aber auch mit der Akzeptanz des Bivalenzprinzips vertrglich. 4.2.2 Mathematische Antinomien Untersuchen wir nun Kants Herleitungen der einzelnen Antinomien. Die erste Antinomie besteht aus dem Zeit-Teil und dem Raum-Teil, die ich fortan jeweils „Zeit-Antinomie“ und „Raum-Antinomie“ nenne. Zeit-Antinomie Thesis: „Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, [. . .].“ (A426/454) Antithesis: „Die Welt hat keinen Anfang, [. . .] sondern ist [. . .] in Ansehung der Zeit [. . .] unendlich.“ (A427/B455)
Von welcher Bedingungsreihe ist bei dieser Antinomie die Rede? Kant bezeichnet einen frheren Weltzustand als „Bedingung“ eines spteren (vgl. A411 f./B438 f.). Demzufolge kann man sich vorstellen, dass einzelne Weltzustnde insgesamt eine einzige linienfçrmige Reihe bilden, die sich vom jetzigen Weltzustand ausgehend zu immer frheren Weltzustnden als seinen „Bedingungen“ erstreckt. Diese Reihe nenne ich fortan die „zeitliche Bedingungsreihe“. In der oben zitierten Darstellung der Zeit-Antinomie finden sich nun zwei Diskussionspunkte: (a) Hat die Welt einen Anfang oder nicht und (b) ist die Welt ihrer vergangenen Zeitlnge nach (das Alter der Welt, sozusagen) endlich oder unendlich? Um diese beiden Diskussionspunkte anhand der zeitlichen Bedingungsreihen hinreichend ausdrcken zu kçnnen, bedarf es noch zweier Przisierungen: (1) Zunchst muss zum Konzept der zeitlichen Bedingungsreihe folgendes Postulat hinzugefgt werden: Die Dauer desjenigen Weltzustandes, der ein Glied der zeitlichen Bedingungsreihe sein soll, darf nicht unbegrenzt kurz sein. Ohne dieses Postulat wrde die Mçglichkeit eingerumt, dass, obzwar die zeitliche Bedingungsreihe unendlich viele Glieder hat, dennoch ihre Gesamtsumme endlich ist.169 In diesem Fall ginge es bei dieser Antinomie 169 Man denke hier an diejenige Zahlreihe als ein Analogon, die zwar unendlich viele Glieder hat, aber die Gesamtsumme derselben konvergiert; z. B. 1, 1/2, 1/4, 1/8, … Die Notwendigkeit eines solchen Postulats wird auch von Bennett 1971, S. 176, erklrt. Vgl. auch Strawson 1966, S. 176 und Posy 1983, S. 93, Anm. 8.
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nicht um das Alter der Welt, sondern bloß um die Teilbarkeit desselben. Diese ist aber freilich nicht Kants Problem bei dieser Antinomie.170 Kraft dieses Postulats stimmen zunchst zwei Behauptungen der Thesis miteinander berein, nmlich dass die Welt einen Anfang habe, und dass das Alter der Welt endlich sei. (2) Die Formel, die zeitliche Bedingungsreihe sei nicht endlich, ist jedoch als Ausdruck des vollstndigen Gehalts der Antithesis noch nicht hinreichend. Denn diese Formel ist damit quivalent, dass die Welt keinen Anfang habe, aber soviel wird auch von Kants TrI als wahr akzeptiert.171 Die Antithesis muss vielmehr die strkere172 Behauptung sein, dass die zeitliche Bedingungsreihe im oben erluterten Sinne unendlich, nmlich aktualunendlich sei.173 Diese Behauptung impliziert ihrerseits, dass die Welt keinen Anfang hat. So wird der Diskussionspunkt (a) letztlich in (b) integriert. Diese Betrachtung fhrt zu folgender Formulierung: Thesis: Die zeitliche Bedingungsreihe ist endlich. Antithesis: Die zeitliche Bedingungsreihe ist aktual-unendlich. Nunmehr soll geklrt werden, in welcher Weise die Reihenthese an der Herleitung dieser Antinomie beteiligt ist. Dafr mssen nicht alle Stufen des Thesis- und des Antithesis-Beweises untersucht werden. Es reicht aus, wenn die basale Struktur dieser Herleitung einsichtig gemacht wird. Be170 Malzkorn behauptet, dass die Zeit-Antinomie nicht von der Endlichkeit bzw. Unendlichkeit des Weltalters handelt, sondern lediglich davon, ob die Anzahl der mçglichen Zeitpunkte im Weltalter endlich oder unendlich ist (ders. 1999, S. 129 f.). Diese artifizielle Umdeutung – ihre exegetische Schwche ist von Malzkorn selbst zugestanden – wird dadurch motiviert, „den von Kant angegebenen Beweis als logisch korrekt zu rekonstruieren“ (ibid., S. 130). Man findet hier ein Beispiel fr die Verzerrung des auszulegenden Textes aus dem interpretatorischen „principle of charity“. Wenn eine Interpretation das ursprngliche Beweisziel ndert, gilt sie nicht mehr als Auslegung von Kants Beweis! 171 Vgl. Kants Auflçsung der ersten Antinomie im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels. Zum Beispiel: „Auf die kosmologische Frage also, wegen der Weltgrçße, ist die erste und negative Antwort: die Welt hat keinen ersten Anfang der Zeit und keine ußerste Grenze dem Raume nach“ (A520/B548). 172 Wenn B von A impliziert wird aber nicht vice versa, dann ist A strker als B. Wenn also die strkere These bewiesen wird, kann man damit die schwchere in trivialer Weise beweisen. Daraus ergibt sich zugleich, dass die Negation der schwcheren Behauptung strker ist als die Negation der strkeren. 173 Vgl. z. B.: „[D]ie Welt ist also kein unbedingtes Ganzes, existiert also auch nicht als ein solches, weder mit unendlicher, noch endlicher Grçße“ (A505/B533, kursiv von K.C.).
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trachten wir die letzten Stufen der beiden Beweise, um zu sehen, welche Mçglichkeit Kant negiert, um auf die Thesis bzw. die Antithesis zu schließen. Das im Thesis-Beweis Negierte ist die Annahme „eine[r] unendliche[n] verflossene[n] Weltreihe“ (A426/B454). Darin zeigt sich, dass das im Thesis-Beweis eben die Antithesis selbst, nmlich die Behauptung, dass die zeitliche Bedingungsreihe aktual-unendlich sei, negiert wird. Die im Antithesis-Beweis negierte Mçglichkeit ist hingegen, dass die Welt einen Anfang habe (A427/B455), d. h., dass die zeitliche Bedingungsreihe endlich sei, was gerade die Behauptung der Thesis ist. Jedoch stimmt weder die Negation der Antithesis mit der Thesis noch die Negation der Thesis mit der Antithesis berein.174 Dennoch schließt Kant die Thesis sowie die Antithesis direkt aus gegenseitigen Negierungen derselben. Dies weist darauf hin, dass Kant beiden Beweisen implizit eine weitere Voraussetzung zugrundelegt. Es ist gerade diese implizite Voraussetzung, an der die Reihenthese beteiligt ist. Die Reihenthese hat nmlich folgende Konsequenz: (a) Die zeitliche Bedingungsreihe ist entweder endlich oder aktual-unendlich. Ich beweise hier, dass das Gleiche nicht nur fr die zeitliche Bedingungsreihe, sondern fr jede linienfçrmige Bedingungsreihe gilt: Stufe 1: Aus der Reihenthese folgt: Jede Bedingungsreihe – also auch jede linienfçrmige Bedingungsreihe – ist als ein vollstndiges Ganzes gegeben. Stufe 2: Daraus resultiert zunchst: Jede linienfçrmige Bedingungsreihe muss entweder als endlich oder als nicht-endlich bestimmt sein. Denn ein vollstndiges Ganzes muss eine bestimmte Grçße haben, diese ist aber entweder endlich oder nicht-endlich. Fr diese Bestimmtheit ist es irrelevant, dass diese Grçße mçglicherweise so groß ist, dass es fr uns unentscheidbar ist, ob sie endlich ist oder nicht.175
174 Die Negation der Antithesis und die der Thesis besagen jeweils nur, dass die zeitliche Bedingungsreihe nicht aktual-unendlich bzw. nicht endlich ist. Keine der beiden schließt aus, dass die zeitliche Bedingungsreihe potentiell-unendlich ist. 175 Wenn hier die traditionelle oder klassische Logik vorausgesetzt wird, lsst sich diese Stufe einfach als eine Instanz des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten erklren. Ich setze aber diese Logiken hier nicht voraus, deswegen habe ich versucht, diese Stufe aus einem außerlogischen Grund (dass nmlich der Reihenthese nach die Bedingungsreihe ein vollstndiges Ganzes bilden msse) zu rechtfertigen.
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Stufe 3: Aus Stufe 1 resultiert des Weiteren: Wenn eine linienfçrmige Bedingungsreihe nicht endlich ist, dann muss sie aktual-unendlich sein. Denn ein nicht-endliches Ganzes ist per definitionem aktualunendlich (vgl. oben, S. 107). Stufe 4: Aus Stufe 2 und 3 folgt, dass jede linienfçrmige Bedingungsreihe entweder endlich oder aktual-unendlich ist. Also gilt (a), weil die zeitliche Bedingungsreihe linienfçrmig ist. (a) fhrt nun im Fall der Zeit-Antinomie dazu, dass die Thesis und die Antithesis kontradiktorisch entgegengesetzt sind. Dies gilt jedoch nicht fr alle Antinomien, was sich an den nchsten zwei Antinomien zeigen wird. Es ist nun leicht einzusehen, dass sich mit Rekurs auf die von der Reihenthese gezogene Konsequenz (a) sowohl die Thesis durch die Negierung der Antithesis als auch die Antithesis durch die Negierung der Thesis beweisen lassen. Dies ist die Rolle der Reihenthese in der Herleitung der Zeit-Antinomie. Daraus ist zugleich ersichtlich, dass diese Beweisstrategie dem Schema K entspricht. Betrachten wir kurz Kants Auflçsung dieser Antinomie. Wie bereits besttigt, werden die Thesis sowie die Antithesis auch im Rahmen des TrI fr falsch erklrt; demnach negiert Kant die Voraussetzung (a), um diese Antinomie aufzulçsen (vgl. z. B. A504 f./B532 f.). Raum-Antinomie Thesis: „Die Welt [. . .] ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.“ (A426/454) Antithesis: „Die Welt hat [. . .] keine Grenzen im Raume, sondern ist, [. . .] in Ansehung [. . .] des Raums, unendlich.“ (A427/B455)
Ich rume zuerst ein exegetisches Randproblem aus: Die riemannsche Geometrie und die allgemeine Relativittstheorie erçffnen die Mçglichkeit, dass der Raum keine Grenze hat, aber seiner Ausdehnung nach endlich ist. Kant hat aber zumindest im Antinomiekapitel eine solche Mçglichkeit nicht im Sinne.176 Da ich hier nicht intendiere, Kants Beweisfhrung kritisch zu berprfen, sondern vielmehr, sie so zu verstehen, wie er selbst sie verstanden hat, lasse ich diese Mçglichkeit, Kant hierin folgend, außer Acht. 176 D.h., Kant setzt bei der Herleitung dieser Antinomie die Euklidizitt des Raums voraus; vgl. Mittelstaedt/Strohmeyer 1990, S. 153. – Es ist umstritten, ob diese Voraussetzung auch fr Kants Diskussionen an anderen Textstellen, z. B. in der Transzendentalen sthetik, relevant ist; darauf gehe ich aber hier nicht ein.
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In obiger Darstellung der Raum-Antinomie finden sich nun analog zur Zeit-Antinomie zwei verschiedene Diskussionspunkte. Der eine ist, ob die Welt begrenzt ist oder nicht, und der andere, ob sie ihrer rumlichen Ausdehnung nach endlich oder unendlich ist (fortan abgekrzt: „rumlich endlich/unendlich“).177 Bei dieser Antinomie ist es ebenfalls (und diesmal noch radikaler als bei der Zeit-Antinomie) nicht der Fall, dass der eine Diskussionspunkt mit dem anderen bereinstimmt, denn die Mçglichkeit, dass die Welt zwar rumlich unendlich, aber irgendwo begrenzt ist (wie z. B. Bild 1 zeigt), wird sowohl von der Thesis als auch von der Antithesis ausgeschlossen.178 Dies wird schon von der oben zitierten Darstellung suggeriert, aber durch Betrachtung des Thesis- und des Antithesis-Beweises noch verdeutlicht. Zu bercksichtigen ist wiederum, welche Mçglichkeit Kant tatschlich negiert, um auf die Thesis bzw. die Antithesis zu schließen. Das in dem Thesis-Beweis Negierte ist die rumliche Unendlichkeit der Welt. Dies zeigt sich in folgendem Satz, aus dem Kant die Thesis direkt herleitet: „Demnach kann ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge, nicht als ein gegebenes Ganzes, mithin auch nicht als zugleich gegeben, angesehen werden. 177 Malzkorn 1999, S. 152, behauptet, dass es sich bei dieser Antinomie nicht um die rumliche Ausdehnung der Welt, sondern vielmehr um die Kardinalitt der mçglichen Teilrume der Welt handelt. Diese ist jedoch offensichtlich nicht Kants Problem bei dieser Antinomie. Vgl. auch oben, Anm. 170. 178 Dieser Punkt wird hufig bersehen, selbst von den sonst sehr umsichtigen Forschungen von Malzkorn sowie Falkenburg. Die betreffende Mçglichkeit wird von Malzkorns Formulierung der Thesis (vgl. ders. 1999, S. 147 – 52) und Falkenburgs Formulierung der Antithesis (vgl. dies. 2000, S. 219 f.) nicht ausgeschlossen. Strawsons vereinfachtes Reformulierung (vgl. ders. 1966, S. 186 f.) schließt die beiden Mçglichkeiten erfolgreich aus, aber anhand der ad hoc Annahme, dass „if finite in extent, [the world] has the shape of a sphere and, if infinite in extent, it extends infinitely in all directions from any sub-region of itself“ (ibid., S. 186). Meine Formulierung versucht diese ad hoc Annahme aufzuheben.
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Eine Welt ist folglich, der Ausdehnung im Raume nach, nicht unendlich, [. . .].“ (A428/B456, kursiv von K.C.)
Dadurch wird die von Bild 1 reprsentierte Mçglichkeit tatschlich ausgeschlossen, weil die rumliche Grçße einer derartigen Welt unendlich sein muss. – Diese Textpassage weist außerdem darauf hin, dass das im ThesisBeweis Negierte nicht nur die Nicht-Endlichkeit, sondern vielmehr die aktuale Unendlichkeit der rumlichen Ausdehnung der Welt ist (vgl. die Qualifikation „als ein gegebenes Ganzes“). Was hingegen im Antithesis-Beweis negiert wird, ist wiederum nicht die Thesis selbst, sondern „die Begrenzung der Welt durch den leeren Raum“ (A429/B457), d. h. die Mçglichkeit, dass die Welt irgendwo begrenzt ist. Auch dadurch wird die von Bild 1 reprsentierte Mçglichkeit ausgeschlossen, weil eine derartige Welt in einigen Richtungen begrenzt ist. Aus dieser Betrachtung wird zunchst Folgendes ersichtlich: Die Thesis besagt, dass die Welt, von einem Zentrum her gesehen, in allen (radialen) Richtungen begrenzt ist; daraus resultiert direkt, dass die Welt rumlich endlich ist. Die Antithesis hingegen beinhaltet zumindest die Behauptung, dass die Welt in keiner Richtung begrenzt ist. – Schon daraus ist es klar, dass diese Thesis und Antithesis nicht kontradiktorisch entgegengesetzt sind, so dass ihre Beweise dem Schema K nicht unterliegen kçnnen. Was die Antithesis angeht, ist das oben Gesagte als Ausdruck ihres vollstndigen Behauptungsgehalts noch nicht hinreichend, denn soviel wird auch von Kants TrI als wahr akzeptiert (vgl. oben, Anm. 173). Die Antithesis behauptet dazu noch, dass die rumliche Ausdehnung der Welt aktual-unendlich ist. Nunmehr sollen die Thesis und die Antithesis anhand des Konzepts der Bedingungsreihe formuliert werden. Was fr eine Bedingungsreihe kommt bei dieser Antinomie zur Sprache? Dies erklrt Kant im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels: „Weil indessen ein Teil des Raumes nicht durch den anderen gegeben, sondern nur begrenzt wird, so mssen wir jeden begrenzten Raum insofern auch als bedingt ansehen, der einen anderen Raum als die Bedingung seiner Grenze voraussetzt, und so fortan.“ (A413/B440)
Demzufolge wird ein erfllter Raumteil als „Bedingung“ eines anderen erfllten Raumteils bezeichnet, wenn dieser von jenem begrenzt ist.179
179 Das Wort „begrenzt“ muss nicht wie „vollstndig umschlossen“ gedeutet werden; vgl. Kants Beispiel der „Fße in einer Rute“ (A412/B439).
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Mit Rcksicht darauf, dass die von Bild 1 reprsentierte Mçglichkeit sowohl von der Thesis als auch der Antithesis ausgeschlossen wird, schlage ich vor, die ganze Bedingungsreihe nicht als eine Einheit, sondern als ein Aggregat mehrerer linienfçrmiger Reihen zu behandeln, die, von einem Zentrum ausgehend, sich in radialen Richtungen erstrecken (vgl. Bild 2). Ihre Glieder sind erfllte Raumteile, die in einer Richtung linienfçrmig geordnet sind; ein entfernteres Glied in dieser Richtung ist die Bedingung der Summe der Glieder, die vom Zentrum her nher liegen als es. (In Bild 2 ist B die Bedingung von A, und C die Bedingung von A[B). Eine einzelne dieser Reihen bezeichne ich fortan als „rumliche Bedingungsreihe“. Es wurde oben festgestellt: Die Thesis besagt, dass die Welt in allen Richtungen begrenzt ist; dies impliziert, dass sie rumlich endlich ist. Die Antithesis behauptet hingegen, dass die Welt in keiner Richtung begrenzt ist, und noch dazu, dass sie aktual-unendlich ist. Um nun die Behauptung von Thesis und Antithesis anhand des Konzepts der rumlichen Bedingungsreihe zu reformulieren, bedarf es noch folgendes Postulats, welches parallel mit dem Fall der Zeit-Antinomie ist: Die Glieder der rumlichen Bedingungsreihen drfen nicht unbegrenzt klein sein. Dadurch wird die Mçglichkeit ausgeschlossen, dass einige rumliche Bedingungsreihen unendlich viele Glieder haben, dennoch die rumliche Ausdehnung der Welt endlich ist. Diese Betrachtung fhrt zu folgender Formulierung: Thesis: Alle rumlichen Bedingungsreihen sind endlich. Antithesis: Alle rumlichen Bedingungsreihen sind aktual-unendlich.
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Nunmehr soll geklrt werden, in welcher Weise die Reihenthese an der Herleitung dieser Antinomie beteiligt ist. Es kommt auch diesmal nur darauf an, die basale Struktur dieser Herleitung einsichtig zu machen. Der Thesis- und der Antithesis-Beweis wurden bereits betrachtet. Das im Thesis-Beweis Negierte ist, dass die Welt rumlich aktual-unendlich ist, und das im Antithesis-Beweis Negierte ist, dass die Welt irgendwo begrenzt ist. Negierungen dieser beiden ergeben jeweils: (a) Keine rumliche Bedingungsreihe ist aktual-unendlich 180 und (b) keine rumliche Bedingungsreihe ist endlich. Um mit (a) und (b) jeweils die Thesis und die Antithesis zu beweisen, bedarf es einer Voraussetzung, die Kant nicht explizit macht. Es ist gerade diese implizite Voraussetzung, an der die Reihenthese beteiligt ist. Diese Voraussetzung ist aber diesmal nicht die kontradiktorische Entgegensetzung der Thesis und der Antithesis als solcher, dass nmlich alle rumlichen Bedingungsreihen entweder insgesamt endlich oder insgesamt aktualunendlich sind [8x Ex{8x AUx], denn die Reihenthese schließt fr sich allein nicht die Mçglichkeit aus, dass einige endliche und einige aktualunendliche Bedingungsreihen zusammen bestehen. Was aber linienfçrmige rumliche Bedingungsreihen im Einzelnen angeht, kann man aus der Reihenthese darauf schließen, dass jede von ihnen entweder endlich oder aktual-unendlich sein muss. Die Reihenthese impliziert nmlich Folgendes: (c) Jede einzelne rumliche Bedingungsreihe ist entweder endlich oder aktual-unendlich [8x (Ex{AUx)]. (Das Gleiche gilt auch fr Aggregate linienfçrmiger Bedingungsreihen jeder Art.) Es ist leicht einzusehen, dass das von der Reihenthese implizierte (c) ermçglicht, mit (a) und (b) jeweils die Thesis und die Antithesis zu beweisen. Dies ist die Rolle der Reihenthese in der Herleitung der RaumAntinomie. Betrachten wir nun kurz Kants transzendental-idealistische Auflçsung dieser Antinomie. Kant sagt nicht nur, dass die Thesis und die Antithesis dieser Antinomie gemeinsam falsch seien, sondern stellt eine noch strkere Behauptung auf, dass nmlich auch (a) und (b) vom TrI akzeptiert werden. Kants Zustimmung zu (a) zeigt sich z. B. in folgender Textpassage: „Ich kann demnach nicht sagen: die Welt ist [. . .] dem Raume nach unendlich. Denn dergleichen Begriff von Grçße, als einer gegebenen Unend180 Wenn selbst nur einige rumliche Bedingungsreihen aktual-unendlich sind, muss die Gesamtausdehnung der Welt schon damit aktual-unendlich sein.
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lichkeit, ist empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt, als eines Gegenstandes der Sinne, schlechterdings unmçglich.“ (A520/B548)
Hier behauptet Kant, dass die Ausdehnung der Welt nicht aktual-unendlich ist. Dies stimmt damit berein, dass keine rumliche Bedingungsreihe aktual-unendlich ist, d. h. (a). Kants Zustimmung zu (b) wird z. B. durch folgende Textpassage belegt: „Ich werde [. . .] auch nicht [sagen]: sie [sc. die Welt] ist endlich; denn die absolute Grenze ist gleichfalls empirisch unmçglich.“ (Ibid.)
Was Kant hier behauptet, ist nicht nur, dass die Ausdehnung der Welt nicht endlich ist, sondern zudem auch, dass die Welt nirgendwo begrenzt ist. Dies besagt nichts Anderes als (b), dass nmlich keine rumliche Bedingungsreihe endlich ist. Da Kant sowohl (a) als auch (b) billigt, negiert er (c), indem er die Reihenthese zurckweist. Dies ist Kants Auflçsung der Raum-Antinomie. Zweite Antinomie Thesis: „Eine jede zusammengesetzte Substanz in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert berall nichts als das Einfache, oder das, was aus diesem zusammengesetzt ist.“ (A434/B462) Antithesis: „Kein zusammengesetztes Ding in der Welt besteht aus einfachen Teilen, und es existiert berall nichts Einfaches in derselben.“ (A435/ B463)
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Dass eine Substanz „zusammengesetzt“ ist, bedeutet, dass sie (echte) Teile hat. Dass eine Substanz „einfach“ ist, bedeutet, dass sie keine Teile hat. Wenn also eine Substanz nicht zusammengesetzt ist, dann ist sie einfach, und auch vice versa. Die oben zitierte Thesis-Darstellung hat zwei Teilstze. Der erste Teilsatz besagt, dass jede raumzeitliche Substanz, wenn sie zusammengesetzt ist, aus einfachen Teilen besteht [8x (Zx!Ex)], der zweite Teilsatz hingegen, dass jede raumzeitliche Substanz entweder einfach (d. h. nicht zusammengesetzt) ist oder aus einfachen Teilen besteht [8x ( Zx{Ex)]. Es ist zunchst klar, dass der erste Teilsatz aus dem zweiten folgt. Kant denkt nun darber hinaus, dass auch das Umgekehrte gilt. Im ThesisBeweis beweist Kant zuerst den ersten Teilsatz und folgert aus diesem direkt den zweiten Teilsatz (vgl. „Hieraus folgt unmittelbar, [. . .]“ (A436/B464)). Daraus wird ersichtlich, dass Kant denkt, dass beide, zumindest unter der
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gemeinsamen Voraussetzung der Herleitung dieser Antinomie, quivalent sind.181 Die oben zitierte Antithesis-Darstellung hat ebenfalls zwei Teilstzen. Der erste besagt, dass keine zusammengesetzte raumzeitliche Substanz aus einfachen Teilen besteht, der zweite hingegen, dass es berhaupt keine einfache raumzeitliche Substanz gibt. Wie Kant im Antithesis-Beweis bemerkt (A437/B465), stellt der zweite Teilsatz eine strkere Behauptung dar als der erste, denn die Mçglichkeit, dass es einige einfache Substanzen gibt, wird zwar vom zweiten, aber nicht vom ersten Teilsatz ausgeschlossen. In diesem Fall kann der vollstndige Gehalt dieser Antithesis von der strkeren Behauptung allein vertreten werden, da die schwchere Behauptung aus der strkeren in trivialer Weise abgeleitet wird. Ich bercksichtige daher fortan nur den zweiten Teilsatz. Wie kann man nun die Thesis und Antithesis als Problem der Bedingungsreihe begreifen? Kant bezeichnet Teile eines Dinges als „Bedingungen“ desselben: „Zweitens, so ist die Realitt im Raume, d.i. die Materie, ein Bedingtes, dessen innere Bedingungen seine Teile, und die Teile der Teile die entfernten Bedingungen sind, [. . .].“ (A413/B440)
Demzufolge kann man sich folgende Bedingungsreihe vorstellen: Man greife zuerst beliebig ein Ding auf. Wenn es Teile hat, sind diese seine Bedingungen. Wenn nun einer dieser Teile weiterhin Teile hat, sind diese seine Bedingungen. Wenn einer der letztgenannten Teile weiterhin Teile hat, . . . usf. Solche Bedingungen bilden insgesamt eine verzweigte Bedingungsreihe, wie sie in Bild 3 gezeigt ist. In diesem Fall ist es zweckmßiger fr die Analyse, diese verzweigte Bedingungsreihe nicht in toto, sondern stattdessen als Aggregat linienfçrmiger Bedingungsreihen zu behandeln. Eine einzelne dieser Reihen nenne ich fortan „mereologische Bedingungsreihe“. Nunmehr sollen die Thesis und die Antithesis anhand des Konzepts der mereologischen Bedingungsreihe formuliert werden.
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181 Wenn man hier die traditionelle bzw. klassische Logik voraussetzt, kann man die betreffende quivalenz als eine logische Konsequenz besttigen, so wie Falkenburg 2000, S. 228, tut. In der intuitionistischen Logik ist zwar der Schluss vom zweiten auf den ersten Teilsatz gltig, aber der umgekehrte nicht. Fr den letzteren bedarf es einer zustzlichen Annahme: Jede raumzeitliche Substanz ist entweder zusammengesetzt oder nicht zusammengesetzt [8x (Zx{ Zx)]. Deswegen habe ich oben versucht, die betreffende quivalenz besonders als Kants Ansicht zu erklren.
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Die Thesis besagt nicht lediglich, dass es einige einfache raumzeitliche Substanzen berhaupt gibt (d. h. dass einige mereologische Bedingungsreihen endlich sind), sondern vielmehr, dass jede raumzeitliche Substanz entweder einfach ist oder aus einfachen Teilen besteht. Dies bedeutet nun, dass jede mereologische Bedingungsreihe ein letztes Glied hat; dies wird aber Kants Konzept der Endlichkeit zufolge (vgl. oben, 4.2.1) damit gleichgesetzt, dass alle mereologischen Bedingungsreihen endlich sind. Was die Antithesis anbelangt, so stellt ihr zweiter Teilsatz als solcher nur die negative These dar, dass es keine einfache raumzeitliche Substanz gibt, d. h., dass keine mereologische Bedingungsreihe endlich ist. Dies kann jedoch noch nicht hinreichend fr den vollstndigen Gehalt der Antithesis sein, denn soviel wird auch von Kants TrI akzeptiert (vgl. A505/B533). Die Antithesis muss daher als noch strkere Behauptung verstanden werden. Im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels stellt Kant den von ihm abzulehnenden Gehalt der Antithesis noch konkreter dar: „Annehmen, daß in jedem gegliederten (organisierten) Ganzen ein jeder Teil wiederum gegliedert sei, und daß man auf solche Art, bei Zerlegung der Teile ins Unendliche, immer neue Kunstteile antreffe, mit einem Worte, daß das Ganze ins Unendliche gegliedert sei, will sich gar nicht denken lassen, obzwar wohl, daß die Teile der Materie, bei ihrer Dekomposition ins Unendliche, gegliedert werden kçnnten.“ (A526/B554, kursiv von K.C.; vgl. auch A505 f./B533 f.)
Der vollstndige Gehalt der Antithesis ist nicht bloß die Negierung der Existenz der einfachen Substanz, sondern vielmehr, dass eine unendliche
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Gliederung aufseiten der Gegenstnde vollstndig besteht.182 Dies bedeutet, dass jede mereologische Bedingungsreihe ein unendliches Ganzes ausmacht, d. h. aktual-unendlich ist.183 Die bisherige Betrachtung fhrt zu folgender Formulierung: Thesis: Alle mereologischen Bedingungsreihen sind endlich. Antithesis: Alle mereologischen Bedingungsreihen sind aktual-unendlich. Schon aus ihren logischen Formen allein wird ersichtlich, dass die Herleitung dieser Antinomie nicht dem Schema K unterliegen kann, weil die Thesis und die Antithesis nicht kontradiktorisch entgegengesetzt sind. Auch Kants tatschliche Beweisfhrung fr diese Antinomie folgt nicht dem Schema K. Ich erlutere nun die basale Struktur seiner Beweisfhrung, und zwar derart, dass dadurch die Beteiligung der Reihenthese an der Beweisfhrung einsichtig gemacht wird. Zu bercksichtigen ist wiederum, welche Mçglichkeit Kant negiert, um auf die Thesis bzw. die Antithesis zu schließen. Da Kant, wie oben gezeigt, beide Teilstze der Thesis-Darstellung fr quivalent hlt, findet sich im Thesis-Beweis ein einziger Beweis. Darin negiert er die Annahme: „[D]ie zusammengesetzten Substanzen bestnden nicht aus einfachen Teilen“ (A434/B462). Damit dieser Beweis berhaupt die Thesis beweisen kann, muss diese Annahme als Satznegation der Thesis verstanden werden, nmlich derart: Es ist nicht der Fall, dass jede zu-
182 Kant beschreibt diese Antithesis zwar manchmal derart, dass eine raumzeitliche Substanz aus unendlich vielen Teilen besteht (A487/B515, A505/B533 und A524/ B552, vgl. auch A525/B553). Kants dieser Ausdruck ist aber irrefhrend. Wie Falkenburg bemerkt, ist das Thema dieser Antinomie nicht die „Anzahl der Teile eines gegebenen Ganzen“, sondern die „Anzahl der gedanklichen Teilungsschritte“ desselben (dies. 2000, S. 234, Anm. 117); die letztere entspricht nach meiner Terminologie der Lnge der mereologischen Bedingungsreihen. 183 Bennett missversteht Kants Ansicht, wenn er behauptet, dass „[Kant] does offer some heavy hints that the Thesis ought to be rejected and the palm given to the Antithesis“ (ders. 1974, S. 166). Dieses Urteil wird dadurch verursacht, dass Bennett die Relevanz der Unendlichkeitsproblematik in der zweiten Antinomie unterschtzt; er behauptet sogar, dass Kants Hinweis auf diese Problematik bezglich der zweiten Antinomie „misrepresents the actual antinomy“ (ibid., S. 177). In diesem Punkt ist Bennett falsch, und wenn die Relevanz der Unendlichkeitsproblematik durch die ganze Antinomie festgehalten wird, wird Bennetts Zweifel an der Einheit der Problematiken einzelner Antinomien (vgl. z. B. ibid., S. 114 – 6) weitgehend ausgerumt.
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sammengesetzte Substanz aus einfachen Teilen besteht.184 Dessen Negierung ergibt nun: (a) Keine mereologische Bedingungsreihe ist nicht-endlich, d. h. die doppelte Negation der Thesis. Daraus lsst sich auf die Thesis schließen, wenn dabei die Eliminierung der doppelten Negation [ AS A] gebilligt wird, wie in der traditionellen sowie klassischen Logik. – Den Fall, in dem diese Schlussregel nicht vorausgesetzt wird (wie in der intuitionistischen Logik), erçrtere ich gleich. Der Antithesis-Beweis enthlt zwei Teilbeweise, die jeweils den ersten und den zweiten Teilsatz der Antithesis-Darstellung beweisen sollen. Wie oben erklrt wurde, muss hier nur der Beweis fr den zweiten Teilsatz bercksichtigt werden. Was dieser negiert, ist die Annahme: „[E]s ließe sich fr diese transzendentale Idee [sc. die des schlechthin Einfachen] ein Gegenstand der Erfahrung finden“ (A437/B465). Wie sich nun in dem ersten Satz des zweiten Absatzes des Antithesis-Beweises zeigt,185 hlt Kant diese Annahme fr gleichbedeutend mit: Es gibt in der Welt einige einfache Substanzen. Die Negierung dessen ergibt: (b) Keine mereologische Bedingungsreihe ist endlich. Um damit die Antithesis zu beweisen, bedarf es einer Voraussetzung, die Kant nicht explizit macht. Sie ist gerade dasjenige, was sich aus der Reihenthese ergibt, und sie besagt diesmal: (c) Jede mereologische Bedingungsreihe ist entweder endlich oder aktual-unendlich. Es ist nun leicht einzusehen, dass das von der Reihenthese implizierte (c) ermçglicht, mit (b) die Thesis zu beweisen. – Es erlaubt zudem, ohne Rekurs auf die Eliminierung der doppelten Negation aus (a) auf die Thesis 184 Rein sprachlich gesehen erlaubt die betreffende Annahme auch folgende Lesart: Keine zusammengesetzte Substanz besteht aus einfachen Teilen. Aber durch dessen Negierung wrde allenfalls beweisen, dass einige Substanzen aus einfachen Teilen bestehen, was fr die Behauptung der Thesis nicht ausreicht; vgl. Malzkorn 1999, S. 175. 185 „Der zweite Satz der Antithesis, daß in der Welt gar nichts Einfaches existiere, soll hier nur so viel bedeuten, als: Es kçnne das Dasein des schlechthin Einfachen aus keiner Erfahrung oder Wahrnehmung [. . .] dargetan werden, [. . .]“ (A435 f./ B463 f., kursiv von K.C.). Diese Textpassage erregt wohl den Verdacht, dass in diesem Beweis ein Verifikationismus vorausgesetzt wird, an dem der TrR nicht beteiligt werden muss. Es ist vermutlich mçglich, den betreffenden Beweis ohne verifikationistische Voraussetzung zu rekonstruieren (z. B. mithilfe des Beweises fr den ersteren Teilsatz der Antithesis). Ich gehe aber darauf nicht ein. Wichtig ist hier vielmehr, dass Kant selbst in diesem Antithesis-Beweis, anstatt bloß die Unerfahrbarkeit des „schlechthin Einfachen“ festzustellen, daraus tatschlich auf dessen Nichtsein schließt.
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zu schließen. – Dies ist die Rolle der Reihenthese in der Herleitung der zweiten Antinomie. 4.2.3 Einheitliche Struktur der Herleitungen der Antinomien In diesem Unterabschnitt schlage ich ein alternatives Schema vor, das, anders als das Schema K, fr die Herleitungen aller Antinomien generell gelten soll. Ich konstatiere anschließend seine generelle Gltigkeit durch eine kurze Erçrterung der Flle der dynamischen Antinomien. Aufgrund dieser Vorbereitung wird es schließlich einsichtig, in welchem Sinne die Reihenthese der Ursprung der Antinomien ist. Damit wird das Ziel des ganzen Abschnitts 4.2 erreicht. Schema D Die bisherige Untersuchung ermçglicht, die Formulierungen sowie Herleitungen einzelner mathematischer Antinomien in folgendem Schema einheitlich zu verstehen: [Formulierung] Thesis: Alle (linienfçrmigen) Bedingungsreihen sind endlich. Antithesis: Alle Bedingungsreihen sind aktual-unendlich. [Herleitung der Antinomie] Der TrR impliziert die Reihenthese und aus dieser folgt, dass (I) jede Bedingungsreihe entweder endlich oder aktual-unendlich ist. – Dies ist die Grundvoraussetzung bei jedem Thesis- sowie Antithesis-Beweis. Im Thesis-Beweis wird festgestellt, dass (II) keine Bedingungsreihe aktual-unendlich ist. Im Antithesis-Beweis wird festgestellt, dass (III) keine Bedingungsreihe endlich ist. Aus (I) und (II) wird die Thesis, aus (I) und (III) die Antithesis bewiesen; Antinomie. Dieses Schema unterscheidet sich vom Schema K besonders darin, dass es als seine Grundvoraussetzung nicht die kontradiktorische Entgegensetzung von Thesis und Antithesis als solcher, sondern vielmehr die Disjunktion zwischen der Endlichkeit und der aktualen Unendlichkeit einzelner linienfçrmiger Bedingungsreihen annimmt; ich nenne das obige Schema fortan „Schema D“. Es bedarf hier zweier Bemerkungen:
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(1) Das Schema D gilt ohne weiteres fr die Raum Antinomie (vgl. oben, S. 116); den Fall der Zeit-Antinomie erçrtere ich gleich. Ich zeige hier zuerst, dass es auch fr die zweite Antinomie gilt. Es wurde oben konstatiert, dass Kant in der zweiten Antinomie die Thesis direkt aus der doppelten Negation derselben beweist. Dieser Umstand erzwingt aber keine Modifikation des Schemas D, denn unter Annahme von (I) ist die Doppelnegation der Thesis („Keine mereologische Bedingungsreihe ist nicht-endlich“) gleichbedeutend damit, dass keine mereologische Bedingungsreihe aktual-unendlich ist, was dem obigen (II) entspricht. – Eine derartige Modifikation ist zwar nicht nçtig, um den Thesis-Beweis als solchen zu analysieren, aber doch um Kants Herleitungen und seine transzendental-idealistischen Auflçsungen der Antinomien in einheitlicher Weise zu begreifen, was seinerseits dafr erforderlich ist, die Rolle der Reihenthese in der ganzen Antinomieproblematik klarzumachen. (2) Schema D gibt uns zu verstehen, warum Schema K nur fr die ZeitAntinomie, und nicht fr die anderen zwei mathematischen Antinomien gilt. Schema D subsumiert nmlich Schema K als einen Sonderfall, in dem es um nur eine einzige linienfçrmige Bedingungsreihe geht. Dies ist z. B. an der Zeit-Antinomie leicht zu besttigen. In dieser stimmen die obigen (I), (II) und (III) jeweils mit (I’) der kontradiktorischen Entgegensetzung der Thesis und der Antithesis, (II’) der Negation der Antithesis und (III’) der Negation der Thesis berein. Das Gleiche gilt natrlich nicht fr die Antinomien, die vielmehr von mehreren linienfçrmigen Bedingungsreihen handeln. Daraus geht hervor, dass Schema D qua Wiedergabe von Kants tatschlicher Beweisfhrung bei den Herleitungen der Antinomien, vornehmlich wegen seiner Generalitt, adquater als Schema K ist. Vorbemerkung zu den dynamischen Antinomien Es soll nun gezeigt werden, dass Schema D auch fr die dynamischen Antinomien gilt. Ich mçchte zuerst auf folgenden Punkt aufmerksam machen, der in der Literatur manchmal bersehen wird: Die Thesen und Antithesen der dynamischen Antinomien sollen in ihren ursprnglichen Formen, in den Formen nmlich, wie die beiden im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels dargestellt wurden, Kants Ansicht nach als falsch beurteilt werden. Kant sagt zwar im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels, dass bei den dynamischen Antinomien sowohl die Thesen als auch die Antithesen mçglicherweise wahr seien. Aber hierbei darf seine sorgfltige Einschrnkung nicht bersehen werden.
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„Dagegen das Durchgngigbedingte der dynamischen Reihen, welches von ihnen als Erscheinungen unzertrennlich ist, mit der zwar empirischunbedingten, aber auch nichtsinnlichen Bedingung verknpft, dem Verstande einerseits und der Vernunft andererseits Genge leisten, und, indem die dialektischen Argumente, welche unbedingte Totalitt in bloßen Erscheinungen auf eine oder andere Art suchten, wegfallen, dagegen die Vernunftstze, in der auf solche Weise berichtigten Bedeutung, alle beide wahr sein kçnnen; [. . .].“ (A531 f./B559 f., kursiv von K.C.)
Dies weist darauf hin, dass die Thesen und die Antithesen („Vernunftstze“) der dynamischen Antinomien sich zwar als wahr erweisen kçnnen, aber nicht in ihrer ursprnglichen Bedeutung, sondern nur dann, wenn sie in bestimmter Weise modifiziert („berichtigt“) werden. Die geforderte Berichtigung besteht laut Kant in der Anerkennung, dass „die dynamische Reihe sinnlicher Bedingungen doch noch eine ungleichartige Bedingung zulßt, die nicht ein Teil der Reihe ist, sondern, als bloß intelligibel, außer der Reihe liegt“ (A530/B558). Dies setzt seinerseits die kantische Unterscheidung zwischen „Erscheinung“ und „Ding an sich“ voraus; denn sonst bliebe kein Raum fr die geforderte „ungleichartige Bedingung“ brig. Diese Unterscheidung ist aber gerade diejenige, welche der TrR nicht akzeptiert. Deswegen ist es unter Annahme des TrR unvermeidlich, dass es sich bei den dynamischen Antinomie, ebenso wie bei den mathematischen, um die „Synthesis des Gleichartigen“ (ibid.) handelt. Daraus geht hervor, dass die dynamischen Antinomien zwei verschiedene Auflçsungen haben. Die eine gleicht der Auflçsung der mathematischen Antinomien; diese nenne ich „generelle Auflçsung“. Dabei tritt die Problematik der Bedingungsreihen in den Vordergrund und die Thesis sowie die Antithesis werden gemeinsam als falsch erklrt. Es ist diese Auflçsung, die Kant in der zweiten Hlfte des 7. Abschnitts des Antinomiekapitels darlegt.186 Die andere Auflçsung ist fr die dynamischen 186 Vgl. A505 f./B533 f. (diese Textpassage zitiere ich unten, S. 129). Hier behandelt Kant die dynamischen Antinomien parallel zu den mathematischen. Kant hat den Unterschied zwischen ihnen natrlich nicht einfach bersehen. Dieses Zitat zeigt vielmehr die oben genannte generelle Auflçsung der Antinomien. Eine derartige Auflçsung der dritten Antinomie wird auch in der Metaphysik Mrongovius, Ak. 29, S. 859 – 61, dargestellt. Vgl. auch folgende Textpassage aus der Auflçsung der dritten Antinomie im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels: „Ob es aber gleich hierbei lediglich nach einer Kette von Ursachen aussieht, die im Regressus zu ihren Bedingungen gar keine absolute Totalitt verstattet, so hlt uns diese Bedenklichkeit doch gar nicht auf; denn sie ist schon in der allgemeinen Beurteilung der Antinomie der Vernunft, wenn sie in der Reihe der Erscheinungen aufs Unbedingte
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Antinomien eigentmlich. Demzufolge wird behauptet, dass die Thesis sowie die Antithesis, obschon „in der berichtigten Bedeutung“, zusammen wahr sein kçnnen. Hierbei tritt die Problematik der Bedingungsreihe zurck. Diesen Umstand im Auge behaltend, soll nunmehr die dritte Antinomie untersucht werden. Es kommt hier darauf an, die Generalitt des oben vorgeschlagenen Schemas D zu konstatieren. Demnach stelle ich hier die Thesis und die Antithesis in ihrer unberichtigten, ursprnglichen Bedeutung dar, so wie die beiden im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels prsentiert werden. Dritte Antinomie Thesis: „Die Kausalitt nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden kçnnen. Es ist noch eine Kausalitt durch Freiheit zur Erklrung derselben anzunehmen notwendig.“ (A444/B472) Antithesis: „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (A445/B473)
Die Bedingungsreihe dieser Antinomie lsst sich wie folgt beschreiben: Man greife zuerst ein beliebiges raumzeitliches Ereignis heraus. Wenn es bedingt ist, dann hat es einige direkte Ursachen. Wenn eine von diesen bedingt ist, dann hat sie ihrerseits weitere direkte Ursachen. Wenn eine von den letztgenannten weiterhin bedingt ist, dann . . . usf. So ergibt sich eine verzweigte Bedingungsreihe. Ich behandle diese, wie bei der Raum- sowie der zweiten Antinomie, als Aggregat linienfçrmiger Bedingungsreihen. Eine einzelne von diesen nenne ich fortan „kausale Bedingungsreihe“. Sie ist genau dann endlich, wenn sie ein letztes Glied hat, das durch die „Kausalitt durch Freiheit“ verursacht wird. Die Antithesis kann zunchst als folgende negative These charakterisiert werden: Keine kausale Bedingungsreihe ist endlich. Jedoch ist so viel auch fr den TrI akzeptabel. Wie aber oben gesagt, soll die Antithesis, in ihrer unberichtigten Bedeutung, derart formuliert werden, dass sie vom TrI
ausgeht, gehoben worden. Wenn wir der Tuschung des transzendentalen Realismus nachgeben wollen: so bleibt weder Natur, noch Freiheit brig“ (A543/B571, kursiv von K.C.).
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fr falsch erklrt wird.187 Die Antithesis wird daher letztlich folgendermaßen formuliert: Alle kausalen Bedingungsreihen sind aktual-unendlich. Fr die Thesis bedarf es besonderer Aufmerksamkeit. Sie besagt nicht nur, dass es Freiheit gibt, d. h. dass es einige endliche kausale Bedingungsreihen gibt. Sie stellt vielmehr die strkere These auf, dass alle kausalen Bedingungsreihen endlich sind. Obwohl dies in der zitierten ThesisDarstellung nicht explizit ist,188 ist dies aus dem Thesis-Beweis ersichtlich. Dessen zentraler Beweisgrund ist das Prinzip, „daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe“ (A446/B474). Dieses Prinzip soll die Mçglichkeit ausschließen, dass es nicht-endliche kausale Bedingungsreihen berhaupt gibt, denn wenn dies vorkme, msste es Ereignisse geben, die „ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache“ geschehen wren. Die obige Betrachtung fhrt zu folgender Formulierung: Thesis: Alle kausalen Bedingungsreihen sind endlich. Antithesis: Alle kausalen Bedingungsreihen sind aktual-unendlich. Betrachten wir nun die Beweise der Thesis sowie der Antithesis. Im ThesisBeweis wird, wie oben gesehen, die Mçglichkeit negiert, dass einige kausale Bedingungsreihen nicht-endlich sind. Das im Antithesis-Beweis Negierte ist hingegen: „[E]s gebe eine Freiheit im transzendentalen Verstande“ (A445/B473), d. h., einige kausale Bedingungsreihen sind endlich. Um nun durch diese zwei Negierungen die (oben reformulierten) Thesis sowie Antithesis zu beweisen, bedarf es der Voraussetzung, dass jede kausale Bedingungsreihe entweder endlich oder aktual-unendlich ist. Unter dieser Voraussetzung wird die im Thesis-Beweis negierte Mçglichkeit letztlich darauf zurckgefhrt, dass einige kausale Bedingungsreihen aktual-unendlich sind, weil unter der betreffenden Voraussetzung „aktual-unendlich“ und „nicht-endlich“ miteinander zusammenfallen (wie im Fall der zweiten Antinomie). So wird die Herleitung dieser Antinomie ebenfalls unter Schema D subsumiert. Nun steht allein die vierte Antinomie aus. Da das Thema der kosmologischen Theologie fr die vorliegende Abhandlung nicht relevant ist, 187 Es ist zudem zu bemerken, dass auch Kant selbst in A505 f./B533 f. in Bezug auf diese Antithesis von der Bedingungsreihe spricht, die im vom TrI abzulehnenden Sinne „unendlich“ ist. 188 Dieser Punkt wird sogar von manchen Darstellungen, die Kant von der Thesis gibt, vielmehr versteckt; vgl. z. B. Kants Darstellung dieser Thesis in Prolegomena: „Es giebt in der Welt Ursachen durch Freiheit“ (Ak. 4, S. 339).
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untersuche ich diese Antinomie nur kurz, und nur soweit sich dadurch die Gltigkeit von Schema D erkennen lsst. Vierte Antinomie Thesis: „Zu der Welt gehçrt etwas, das, entweder als ihr Teil, oder ihre Ursache, ein schlechthin notwendiges Wesen ist.“ (A452/B480) Antithesis: „Es existiert berall kein schlechthin notwendiges Wesen, weder in der Welt, noch außer der Welt, als ihre Ursache.“ (A453/B481)
Es geht bei dieser Antinomie um die Bedingungsreihe, die von einem gegebenen „Zuflligen“ ausgehend sich auf immer weitere Bedingungen erstreckt (vgl. A415/B442). Diese Bedingungsreihe ist zumindest Kants eigener Konzeption nach diejenige, die zu einem einzigen „schlechthin notwendigen“ Wesen fhren soll (falls es ein solches gibt).189 Dies weist darauf hin, dass sie sich nicht verzweigt, sondern eine einzige linienfçrmige Reihe bildet; ich nenne sie fortan die „modale Bedingungsreihe“. Daraus ergibt sich folgende Formulierung: Thesis: Die modale Bedingungsreihe ist endlich.190 Antithesis: Die modale Bedingungsreihe ist aktual-unendlich.191 Da es hier um nur eine einzige linienfçrmige Bedingungsreihe geht, ist es zu erwarten, dass die Herleitung dieser Antinomie dem Schema K unterliegt wie die der Zeit-Antinomie. Es bedarf jedoch hierbei einiger Vorsicht. 189 Kant bercksichtigt bei dieser Antinomie nicht die polytheistische Mçglichkeit, dass mehrere schlechthin notwendige Wesen existieren. Man mag dies vielleicht rechtfertigen kçnnen, indem man den Begriff eines „schlechthin notwendigen Wesens“ untersucht. Darauf gehe ich aber nicht ein. 190 Man mag denken, dass die Existenz des schlechthin notwendigen Wesens nicht impliziert, dass die modale Bedingungsreihe endlich ist. Dies ist wohl sachlich wahr (besonders in dem Fall, in welchem das schlechthin notwendige Wesen die Welt im Ganzen ist), wird aber Kants Konzeption der Endlichkeit der Bedingungsreihe gemß negiert, denn Kant denkt, dass eine Bedingungsreihe endlich ist, nur wenn sie ein letztes Glied hat; vgl. oben, 4.2.1. (Dass er unter dieser Thesis tatschlich die Behauptung der Endlichkeit der Bedingungsreihe versteht, wird auch durch A505 f./B533 f. belegt.) Ich folge dieser Konzeption, weil es hier darauf ankommt, wie Kant diese Antinomie versteht. 191 Angesichts von Kants Antithesis-Darstellung kçnnte man denken, dass die Antithesis nur aussagt, dass die betreffende Bedingungsreihe nicht-endlich ist. Bei dieser Antinomie gilt aber das Gleiche wie bei der zweiten und der dritten Antinomie. – Im brigen versteht Kant in A505 f./B533 f. diese Antithesis tatschlich als Behauptung der Unendlichkeit im von TrI abzulehnenden Sinn, nmlich der aktualen Unendlichkeit.
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Im Thesis- und Antithesis-Beweis werden jeweils folgende Mçglichkeiten negiert: Fr den Thesis-Beweis: (a) Das schlechthin notwendige Wesen existiert gar nicht (bis „[. . .] wenn eine Vernderung als seine Folge existiert“ (A452/B480)). (b) Es existiert außerhalb der Welt (danach). Fr den Antithesis-Beweis: (c) Das schlechthin notwendige Wesen existiert entweder in der Welt oder als die Welt im Ganzen (im ersten Absatz). (b) Es existiert außerhalb der Welt (im zweiten Absatz). Die Mçglichkeit (b) wird sowohl im Thesis- als auch im Antithesis-Beweis negiert, und zwar kraft eines im Wesentlichen gleichen Arguments.192 Dies weist darauf hin, dass Kant denkt, dass diese Mçglichkeit unter der Voraussetzung des TrR schlechthin abgelehnt wird. Danach bleiben fr den TrR nur die Alternativen (a) und (c) bestehen. Diese stimmen mit der Antithesis bzw. mit der Thesis berein. Daraus ist ersichtlich, dass die Herleitung dieser Antinomie Schema K unterliegt. Schema K ist aber, wie geklrt, ein Sonderfall des Schemas D, in dem es um eine einzige Bedingungsreihe geht. Damit ist die Generalitt von Schema D fr alle Antinomien besttigt worden. Reihenthese als Ursprung aller Antinomien Es soll nunmehr geklrt werden, in welchem Sinn die Reihenthese der Ursprung der Antinomien ist. Aus dem Schema D wird zunchst ersichtlich, dass die Reihenthese eine notwendige Voraussetzung fr die Herleitungen der Antinomien darstellt. Es kann aber darber hinaus gezeigt werden, dass die Antinomien (unter der Annahme, Kants Herleitungen der Antinomien seien stichhaltig) absolut unvermeidlich sind, sofern die Reihenthese gebilligt wird. Dafr muss noch eins festgestellt werden: (II) und (III) im Schema D (d. h. „Keine Bedingungsreihe ist aktual-unendlich“ bzw. „Keine Bedingungsreihe ist endlich“) besitzen nicht nur fr den TrR, sondern auch fr den TrI Gltigkeit.
192 Dieses Argument ist, dass ein Wesen außerhalb der Welt (also außerhalb der Zeit) keinen Einfluss auf die Welt bzw. Gegenstnde in ihr ausben kann.
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Dies wurde schon im letzten Unterabschnitt hinsichtlich der Zeit- und der Raum-Antinomie besttigt. Dass dasselbe auch fr die anderen Antinomien gilt, wird durch folgende Textpassage belegt: „Was hier von der ersten kosmologischen Idee [. . .] gesagt worden, gilt auch von allen brigen [. . .]. Daher werde ich auch sagen mssen: die Menge der Teile in einer gegebenen Erscheinung ist an sich weder endlich, noch unendlich, weil Erscheinung nichts an sich selbst Existierendes ist, und die Teile allererst durch den Regressus der dekomponierenden Synthesis, und in demselben, gegeben werden, welcher Regressus niemals schlechthin ganz, weder als endlich noch als unendlich gegeben ist. Eben das gilt von der Reihe der ber einander geordneten Ursachen, oder der bedingten bis zur unbedingt notwendigen Existenz, welche niemals weder an sich ihrer Totalitt nach als endlich, noch als unendlich angesehen werden kann, weil sie als Reihe subordinierter Vorstellungen nur im dynamischen Regressus besteht, vor demselben aber, und als fr sich bestehende Reihe von Dingen, an sich selbst gar nicht existieren kann.“ (A505 f./B533 f.)
Was Kant hier sagt, kann in der Terminologie der Bedingungsreihe wie folgt paraphrasiert werden: Die Bedingungsreihen der brigen drei Antinomien bestehen nur im Regressus, dieser kann aber weder als ein endliches noch als ein unendliches Ganzes gegeben werden. Daraus folgt, dass auch die Bedingungsreihen selbst weder endlich noch aktual-unendlich sein kçnnen. Dies ist gerade die Konjunktion von (II) und (III).193 193 Die dynamischen Antinomien haben, wie oben erwhnt, noch eine andersartige Auflçsung. Diese behauptet, dass die Thesis sowie die Antithesis, obgleich in der „berichtigten Bedeutung“, wahr sein kçnnen. Ich stelle hier fr den Fall der dritten Antinomie kurz dar, wie diese Berichtigung aussieht. Die Antithesis muss, sofern sie als eine bloß negative Behauptung wie „Keine kausale Bedingungsreihe ist endlich“ verstanden wird, auch von Kant als wahr beurteilt werden, denn sie ist dann nichts Anderes als das Prinzip der Kausalitt, welches Kant selbst (in der Zweiten Analogie der Erfahrung) bewiesen hat. Daraus geht hervor, dass die Thesis, sofern sie als Behauptung der Endlichkeit der kausalen Bedingungsreihen verstanden wird, in keinem Fall wahr sein kann. Kant rumt trotzdem die Mçglichkeit der Freiheit ein. Seine Strategie lsst sich folgendermaßen skizzieren: Obgleich es unmçglich ist, dass innerhalb der raumzeitlichen Wirklichkeit Beispiele fr die „Kausalitt aus Freiheit“ anzutreffen sind (d. h. es kausale Bedingungsreihen gibt, die mit aus Freiheit generierten Ereignissen terminieren), ist es doch denkbar, dass naturkausal regulierte Ereignisse zugleich „ungleichartige“, noumenale Grnde haben. Diese Auflçsung ist, sowohl in exegetischer als auch in sachlicher Hinsicht, mit immensen Schwierigkeiten behaftet. Darauf gehe ich aber nicht ein. Zu beachten ist vielmehr folgender Punkt: Kants spezifische Auflçsung der dynamischen Antinomien basiert gerade darauf, die Mçglichkeit der Freiheit (bzw. des schlechthin notwendigen Wesens) von der Problematik der Endlichkeit/Unendlichkeit der
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Damit sind alle Vorbereitungen abgeschlossen. Wie gerade gezeigt, ist Kant tatschlich der Ansicht, dass (II) und (III) nicht nur fr den TrR, sondern auch fr den TrI Gltigkeit besitzen. Man erinnere sich noch daran, dass Kant auch denkt, dass TrR und TrI kontradiktorisch entgegengesetzt sind (vgl. oben, 4.1.2). Unter dieser Voraussetzung fhrt Kants erstere Ansicht dazu, dass (II) und (III) in jedem Fall, d. h. aus jeder mçglichen philosophischen Perspektive, Gltigkeit besitzen, also schlechthin anerkannt werden mssen. Demgegenber hat die Grundvoraussetzung (I), die sich aus der Reihenthese ergibt, keinen solchen Status; sie wird durch Kants TrI ohnehin zurckgewiesen. Daraus geht hervor: Die Reihenthese spielt nicht nur eine Rolle fr die Herleitungen der Antinomien. Sie ist darber hinaus gerade fr dasjenige Moment verantwortlich, welches nicht vom TrI anerkannt wird, also nicht unbedingt anerkannt werden muss. Die Antinomien sind also insofern unvermeidlich, als die Reihenthese gebilligt wird. Die Reihenthese ist in eben diesem strkeren Sinne der Ursprung der Antinomien. 4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese zur Begrndung der anti-realistischen Interpretation Im letzten Abschnitt wurde geklrt, in welchem Sinne die Reihenthese der Ursprung der Antinomien ist. Das Thema dieses Abschnitts ist der Ursprung der Reihenthese selbst. Laut Kant gert der TrR in die Antinomien, weil er die Reihenthese impliziert; der TrI hingegen vermeidet die Antinomien, indem er die Reihenthese zurckweist. Es soll nun herausgearbeitet werden, welches spezifische Moment des TrR fr die Reihenthese verantwortlich ist und somit vom TrI abgelehnt werden muss.194 Bedingungsreihen abzulçsen. Freiheit kann im Rahmen des TrI ohnehin nicht dasjenige sein, was ein Glied einer kausalen Bedingungsreihe bildet und somit diese terminieren kann. Dies spricht dafr, dass die generelle Auflçsung auch fr die dynamischen Antinomien unentbehrlich ist, sofern diese berhaupt in der Problematik des „Inbegriffs aller Erscheinungen“ besprochen werden. 194 Grier 2001 ist zwar soweit gekommen, die Reihenthese (ihre Bezeichnung: „P2“) als der Ursprung der Antinomien zu identifizieren, fragt aber nicht weiter danach, warum sie eben beim TrR unumgnglich ist. So bleibt ihre Auslegung des Ursprungs der Antinomie wesentlich unzulnglich.
4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese
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Es wird sich erweisen, dass dieses Moment nichts anders als der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist. Dadurch wird der TrI zunchst negativ derart charakterisiert, dass er den Realismus ablehnt und somit einen Anti-Realismus annimmt. Dies gerade ist die Implikation des TrI, die fr Kants Auflçsung der Antinomien relevant ist. Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: In 4.3.1 untersuche ich die erste Hlfte des 7. Abschnitts des Antinomiekapitels, vor allem A498 f./ B526 f., wo Kant den Ursprung der Reihenthese und seine transzendentalidealistische Zurckweisung derselben erklrt. Damit wird zunchst exegetisch festgestellt, dass „der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“ (A491/B519), d. h. das Argument, kraft dessen Kant die Reihenthese zurckweist (und dadurch die ganze „kosmologische Dialektik“ auflçst), in der Tat ein Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist. In 4.3.2 weise ich zudem nach, dass die Reihenthese insofern unvermeidlich ist, als der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde gebilligt wird. Daraus ergibt sich, dass der Rekurs auf einen Anti-Realismus auch sachlich notwendig ist, um die Reihenthese zurckzuweisen. Dadurch gewinnt die anti-realistische Interpretation eine substantielle Begrndung durch die Antinomienlehre. In 4.3.3 diskutiere ich denkbare Interpretationsalternativen, um dadurch das Ergebnis der bisherigen Diskussion zu untermauern. 4.3.1 Anti-Realismus als „der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“ Kant erklrt in folgender Textpassage den Umstand, dass der TrR auf die Billigung der Reihenthese festgelegt wird: [Zitat 1] „Ferner: wenn das Bedingte sowohl, als seine Bedingung, Dinge an sich selbst sind, so ist, wenn das Erstere gegeben worden, nicht bloß der Regressus zu dem Zweiten aufgegeben, sondern dieses ist dadurch wirklich schon mit gegeben, und, weil dieses von allen Gliedern der Reihe gilt, so ist die vollstndige Reihe der Bedingungen, mithin auch das Unbedingte dadurch zugleich gegeben, oder vielmehr vorausgesetzt, daß das Bedingte, welches nur durch jene Reihe mçglich war, gegeben ist. Hier ist die Synthesis des Bedingten mit seiner Bedingung eine Synthesis des bloßen Verstandes, welcher die Dinge vorstellt, wie sie sind, ohne darauf zu achten, ob, und wie wir zur Kenntnis derselben gelangen kçnnen.“ (A498/B526 f.)
Daran schließt er an, dass sein TrI die Reihenthese zurckweist: [Zitat 2] „Dagegen wenn ich es mit Erscheinungen zu tun habe, die, als bloße Vorstellungen, gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu ihrer Kenntnis (d.i. zu ihnen selbst, denn sie sind nichts, als empirische Kenntnisse,) gelange, so
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kann ich nicht in eben der Bedeutung sagen: wenn das Bedingte gegeben ist, so sind auch alle Bedingungen (als Erscheinungen) zu demselben gegeben, und kann mithin auf die absolute Totalitt der Reihe derselben keineswegs schließen. Denn die Erscheinungen sind, in der Apprehension, selber nichts anders, als eine empirische Synthesis (im Raume und der Zeit) und sind also nur in dieser gegeben. Nun folgt es gar nicht, daß, wenn das Bedingte (in der Erscheinung) gegeben ist, auch die Synthesis, die seine empirische Bedingung ausmacht, dadurch mitgegeben und vorausgesetzt sei, sondern diese findet allererst im Regressus, und niemals ohne denselben, statt.“ (A498 f./B527, kursiv von K.C.)
Diese Textpassagen weisen auf Folgendes hin: Der Grund dafr, dass der TrR auf die Reihenthese festgelegt wird, ist gerade seine Billigung einer realistischen Ontologie, d. h. der Auffassung, dass es fr die Existenz raumzeitlicher Gegenstnde irrelevant ist, „ob, und wie wir zur Kenntnis derselben gelangen kçnnen“. (Es wird im Zitat 1 nicht erklrt, warum die Reihenthese beim Realismus unumgnglich ist; dies wird das Thema des nchsten Unterabschnitts.) – Der TrI hingegen weist die Reihenthese mit einem anti-realistischen Argument zurck, dem nmlich, dass raumzeitliche Gegenstnde „gar nicht gegeben sind, wenn ich nicht zu ihrer Kenntnis [. . .] gelange“, bzw., „nur in [einer empirischen Synthesis] gegeben [sind]“; dies nenne ich fortan einfach „Hauptargument“.195 Im Zitat 2 findet sich auch eine Erklrung dessen, wie die Reihenthese kraft des Hauptarguments zurckgewiesen wird. Sie lsst sich folgendermaßen rekonstruieren: Stufe 1 [Hauptargument]: Jeder raumzeitliche Gegenstand kann nur in einer „empirischen Synthesis“ (bzw. „im Regressus“) gegeben werden. Stufe 2: Dasselbe gilt auch fr Glieder einer Bedingungsreihe, weil sie ebenfalls raumzeitliche Gegenstnde sind. Stufe 3: Daraus ergibt sich, dass „alle Bedingungen“, d. h. alle Glieder der Bedingungsreihe, nicht vollstndig gegeben werden kçnnen.
195 Wie in 4.1.3 bemerkt wurde, kann in diesem Kontext „gegeben sein“ nichts Anderes als „existieren“ bedeuten. Sollte es hingegen etwa „erkannt werden“ bedeuteten, msste Zitat 2 auf eine bloße Tautologie hinauslaufen, wie: „Erscheinungen werden nur in der Apprehension, d. h. in der Erkenntnis, erkannt“. Es ist außerdem zu beachten, dass das Hauptargument mit dem Realismus unvertrglich ist, denn der Realismus behauptet eben, dass ein epistemischer Faktor wie die „empirische Synthesis“ fr die Existenz der zu erkennenden Gegenstnde irrelevant ist.
4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese
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Stufe 4: „[M]ithin“ kann die absolute Totalitt der Bedingungsreihe ebenfalls nicht gegeben werden. Stufe 5: Folglich kann man von dem Gegebensein eines Bedingten nicht auf dasjenige der absoluten Totalitt einer Bedingungsreihe schließen. Es ist nicht klar, wie der bergang von der Stufe 2 zu 3 gerechtfertigt wird. Er kçnnte zunchst folgendermaßen erklrt werden: Die Bedingungsreihe ist so groß, dass man durch den Regressus ihre Glieder nicht vollstndig durchlaufen kann; diese kçnnen also, der Stufe 1 zufolge, nicht vollstndig gegeben werden. – In Wahrheit ist diese Erklrung in sachlicher Hinsicht nicht ganz unproblematisch; dieses Problem wird in 4.4 (B) vorgestellt (und in Kapitel 7 gelçst). Da es aber unleugbar ist, dass Kant den betreffenden bergang bejaht, lassen wir uns zunchst hier mit der obigen Erklrung zufrieden stellen. Ich diskutiere nun zwei denkbare Einwnde gegen die obige Rekonstruktion, um dadurch deren exegetische Korrektheit zu untermauern. Der erste Einwand lautet: Zitat 2 lsst sich auch derart deuten, dass Kant nur das Schließen von der Gegebenheit eines Bedingten auf die absolute Totalitt der Bedingungsreihen ablehnt, und nicht verneint, dass die absolute Totalitt derselben existiert. Dieser Einwand wird dadurch widerlegt, dass Kant das Letztere tatschlich verneint; vgl. folgende Textpassage: „[W]eil die Welt gar nicht an sich (unabhngig von der regressiven Reihe meiner Vorstellungen) existiert, so existiert sie weder als ein an sich unendliches, noch als ein an sich endliches Ganzes. Sie ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und fr sich selbst gar nicht anzutreffen.“ (A505/B533; vgl. auch ibid. (den nchsten Absatz) und A524/B552)
Kant argumentiert hier, dass die Bedingungsreihe deswegen nicht als ein „Ganzes“ (d. h. als eine absolute Totalitt) existieren kçnne, weil sie nur im Regressus gegeben sei. Der zweite Einwand lautet: Kant lehnt kraft des Hauptarguments nur die absolute Totalitt der Bedingungsreihen ab und verneint der obigen Stufe 3 entgegen nicht, dass alle Glieder derselben vollstndig gegeben sind. Henry Allison, z. B., vertritt eine solche Deutung explizit: Ihm zufolge ist das Problem der Glieder der Bedingungsreihen fr die Antinomienlehre irrelevant; es komme ausschließlich darauf an, dass die absolute Totalitt der
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Kapitel 4 Anti-Realismus in der „Antinomie der reinen Vernunft“
Bedingungsreihen nicht gesetzt werden darf, selbst wenn alle Glieder derselben vollstndig gegeben sind.196 Diese Deutung wird zunchst exegetisch widerlegt. Wenn sie richtig wre, htte Kant das Schließen von der Gegebenheit eines Bedingten auf das vollstndige Gegebensein aller Glieder der Bedingungsreihen nicht zurckgewiesen. Dies luft jedoch deutlich dem obigen Zitat 2 zuwider. Dort weist Kant ausdrcklich dieses Schließen zurck und erst dadurch (mit dem Wort „mithin“) das Schließen auf die absolute Totalitt. Diese Deutung lsst sich auch aus einem sachlichen Grund zurckweisen. Eine Betrachtung dieses Punktes ist instruktiv, um Kants Argumentation korrekt zu begreifen.
196 Vgl. ders. 2004, S. 504, Anm. 31: „An interesting misinterpretation of Kant on this point is found in [Swinburne 1968], pp. 282 – 83. Although he recognizes that the difficulty that Kant is raising involves talking about the universe as a whole, he mistakenly assumes this to be a worry about the general impossibility of making a claim about all the members of a class. Having construed it in this way, he is obviously able to dismiss it easily, simply by pointing out that we can talk about, for example, all swans. Clearly, however, this has nothing to do with Kant’s argument, for talk about universe as Kant construe it is about high-order individual, not about the members of a class“ (kursiv von K.C). Zu beachten ist, dass Allison mit Swinburne darin einig ist, dass die positive Behauptung ber alle Glieder der Welt als solche unproblematisch ist. Sein Einwand richtet sich vielmehr dagegen, dass dieser Punkt, Swinburne entgegen, fr Kants Antinomienlehre irrelevant ist; relevant ist lediglich, ob unter der Voraussetzung, dass alle Glieder vollstndig gegeben sind, auch die Setzung eines „high-order individual“ zugelassen wird oder nicht; vgl. auch ibid., S. 385, 389 und 390 f. Ich vermute, dass eine derartige Deutung eigentlich von vielen Interpreten geteilt ist. Dessen verdchtig sind Interpretationen, die z. B. folgende Auffassungen enthalten: (1) Die Verwendung des Wortes „Welt“ als singulres Terms sei fr Formulierung der Thesis und der Antithesis der ersten Antinomie konstitutiv (Bird 1982, S. 79 und Malzkorn 1999, S. 122, 126 und 148 und Falkenburg 2000, S. 219 f.). (2) Die Antinomie ergebe sich gerade daraus, Glieder der Bedingungsreihe insgesamt als eine „Menge“ oder „Kollektion“ zu betrachten (Grier 2001, S. 185). (3) Die Antinomie beruhe auf dem Kategorienfehler, der die Summe von raumzeitlichen Gegenstnden als solche mit einem raumzeitlichen Gegenstand identifiziere (Hallet 1984, S. 227, Falkenburg 2000, S. 199 – 204 und Bird 2005, S. 668). Es ist bei all diesen Interpreten allerdings nicht eindeutig, ob wirklich gemeint ist, dass die Antinomienlehre mit dem Problem der Glieder der Bedingungsreihe nichts zu tun hat. Allison hingegen behauptet dies explizit, deswegen ist seine Deutung fr die kritische berprfung besonders geeignet.
4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese
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Allison billigt ebenfalls, dass Kants Zurckweisung der absoluten Totalitt auf so etwas wie dem obigen Hauptargument197 grndet. Obwohl er nicht konkret erklrt, wie damit die absolute Totalitt abgelehnt wird, ist folgende Erklrung leicht vorstellbar: Sie ist so groß, dass sie nicht vollstndig synthetisierbar ist; sie kann folglich, aufgrund des Hauptarguments, berhaupt nicht „gegeben“ werden. Diese Erklrung als solche ist zwar akzeptabel. Allisons Fehler besteht aber gerade darin, dass er Folgendes bersieht: Wenn man die absolute Totalitt in obiger Weise ablehnt, kann man nicht umhin, damit zusammen auch die Vollstndigkeit der Glieder der Bedingungsreihen zu verneinen. Denn, wenn die absolute Totalitt so groß ist, dass sie nicht synthetisiert werden kann, dann muss die Anzahl der Glieder derselben ebenfalls so groß sein, dass diese nicht vollstndig durchlaufen werden kçnnen. Dies bedeutet aber dem Hauptargument nach geradezu, dass auch die Glieder nicht vollstndig gegeben werden kçnnen. Die Vollstndigkeit der Glieder muss also ohnehin verneint werden. Ich fge hier noch eine allgemeine Erwgung hinzu: Dass eine Bedingungsreihe als ein vollstndiges Ganzes gegeben ist, ist eigentlich damit quivalent, dass alle Glieder derselben vollstndig gegeben sind; beide Stze mssen entweder zusammen bejaht oder zusammen verneint werden. Dass aus dem Ersteren das Letztere folgt, ist klar. Nun gilt auch das Umgekehrte als eine Instanz von folgender Selbstverstndlichkeit: Vorausgesetzt, dass gewisse gleichstufige Entitten vollstndig gegeben seien, ist es ebenfalls mçglich, auch vom „Ganzen“ dieser Entitten zu reden.198 197 Mit Allisons Worten: „[T]he objects are only given in and through the regress from conditioned to its condition, that is, through an empirical synthesis, [. . .]“ (ders. 2004, S. 386). 198 In seiner Kritik an Allison bemerkt Malzkorn denselben Punkt: „Zum anderen lßt sich selbstverstndlich auf der Basis von (gegebenen) Gegenstnden a1, a2, a3, . . ., die eine Eigenschaft V gemeinsam haben, die Gesamtheit M={xj V(x)}={a1, a2, a3, . . .} definieren, so daß M per definitionem mit seinen Elementen a1, a2, a3, . . . gegeben ist“ (ders. 1999, S. 258, Anm. 36). Es ist zwar disputabel, ob dieses „Ganze“ auch als ein eigenstndiges Individuum anzuerkennen ist; dies ist ein Streitpunkt der Nominalismusdebatte. Jedoch wird die Rede vom „Ganzen“ als solchem nicht davon tangiert, denn sie muss dieses „Ganze“ nicht unbedingt als ein hochstufiges Individuum im umstrittenen Sinne postulieren. (Es ist ebenfalls zu beachten, dass Kant selbst nicht behauptet, dass „die Welt“ nicht existiert; vgl. oben, 4.1.1.) Michael Hallett behauptet, dass gerade diese Nominalismusproblematik fr Kants Antinomienlehre relevant ist: „For Kant, there is no harm in „aggregating“ or
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Es ist zunchst anzumerken, dass eine derartige Rede vom „Ganzen“ mit mengentheoretischen Paradoxen wie dem Russells berhaupt nichts zu tun hat. Denn diese ergben sich nur im Fall der Selbstreferenz, d. h. nur dann, wenn dieses „Ganze“ sich selbst zu seinem Element htte. Von dieser Mçglichkeit ist hier keine Rede.199 Die oben genannte Selbstverstndlichkeit ist selbst fr den mathematischen Intuitionismus problemlos akzeptabel. Er lehnt zwar unendliche Totalitten (wie „Menge aller natrlichen Zahlen“ oder „vollstndige dezimale Entwicklung von p“) ab, er negiert aber zugleich, dass Glieder derartiger Totalitten vollstndig gegeben sind, aus dem Grund, dass sie nicht vollstndig konstruiert werden kçnnen. – Hier findet sich eine interessante Verwandtschaft zwischen Kants TrI und dem Intuitionismus. – Da aber dadurch eben die Voraussetzung der obigen Selbstverstndlichkeit negiert wird, wird diese als solche intakt gelassen. Es wre vielmehr erstaunlich, wenn Kant diese Selbstverstndlichkeit verneint htte. Es ist ohnehin nicht der Fall, dass Anhnger der fraglichen Deutung bisher ein gutes exegetisches Argument dafr aufgezeigt haben.200 „collecting together“ as such (see his [Inaugraldissertation, Ak. 2, S. 387 f.]); so one might, for example, want to use „the world“ or „the universe“ as convenient rhetorical devices, as terms referring to mere collections. What is wrong is to assume that they refer to „totalities“, objects of the same kind as the elements which constitute them“ (ders. 1984, S. 227). – Es ist wahr, dass Kant die Welt selbst (qua die absolute Totalitt) fr unexistent erklrt. Um aber die betreffende Deutung zu rechtfertigen, braucht man noch einen zustzlichen Beleg dafr, dass Kant so verfhrt, ohne dabei das vollstndige Gegebensein der Glieder der Bedingungsreihe in Frage zu stellen. Und das ist deutlich nicht der Fall, wie oben besttigt wurde. 199 Martin 1969, S. 62 – 4, bezieht Kants Antinomienlehre auf das mengentheoretische Paradox Russells. Dies ist nicht nur in mathematischer Hinsicht fragwrdig, sondern auch aus folgendem Grund irrefhrend: Es verstrkt den Eindruck, dass es in Kants Antinomienlehre nur auf „den Begriff der Totalitt“ ankme, was aber, wie oben geklrt, nicht Kants eigener Absicht entspricht. Kants Auflçsung der Antinomien sollte daher nicht mit der axiomatischen Auflçsung des mengentheoretischen Paradox la Zermelo/Fraenkel, sondern vielmehr mit der intuitionistischen Ablehnung der unendlichen Totalitt verglichen werden. (Martin weist zwar in ibid., S. 26, auf eine Verwandtschaft der kantischen Theorie der Geometrie mit dem Intuitionismus hin, geht aber nicht soweit zu behaupten, dass eine solche Verwandtschaft gerade bei Kants Auflçsung der Antinomien relevant ist; vgl. ibid., S. 63.) 200 Es gibt eine Textpassage, welche Anhnger dieser Deutung scheinbar als Beleg benutzen kçnnen: „Nehmet an, die Natur sei ganz vor euch aufgedeckt; euren Sinnen, und dem Bewußtsein alles dessen, was eurer Anschauung vorgelegt ist, sei nichts verborgen; so werdet ihr doch durch keine einzige Erfahrung den Gegenstand eurer Ideen in concreto erkennen kçnnen, (denn es wird, außer dieser voll-
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Wie oben nachgewiesen wurde, kann Kants Auflçsung der Antinomien verstanden werden, ohne ihm eine solche extravagante Position zu unterstellen. Damit sollten die Unhaltbarkeit des zweiten Einwands sowie die exegetische Korrektheit meiner obigen Rekonstruktion von Kants Argumentation klar geworden sein. 4.3.2 Realismus als der Ursprung der Reihenthese Im letzten Unterabschnitt wurde exegetisch erwiesen, dass Kant bei seiner Zurckweisung der Reihenthese tatschlich auf einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde rekurriert. Außerdem wurde durch das eingangs angefhrte Zitat 1 suggeriert, dass Kant eine realistische Ontologie als den Ursprung der Reihenthese erachtet. Dieser exegetische Nachweis ist jedoch noch nicht stichhaltig genug. Denn er allein ließe noch den Raum dafr, dass Anhnger der realistischen Interpretation Folgendes erwidern: Kant rekurriert bei seiner Zurckweisung der Reihenthese zwar de facto auf einen Anti-Realismus. Dieser Rekurs ist aber, sachlich bewertet, fr die geforderte Zurckweisung nicht unentbehrlich; man kçnnte diese auch ohne ihn vollziehen, und zwar ohne dabei Kants berlegungen im Antinomiekapitel wesentlich zu verletzen. – stndigen Anschauung, noch eine vollendete Synthesis und das Bewußtsein ihrer absoluten Totalitt erfordert, welches durch gar kein empirisches Erkenntnis mçglich ist,) [. . .]“ (A482 f./B510 f.; kursiv von K.C.). Dies legt zunchst nahe, dass Kant hier meint, dass auch wenn uns alle raumzeitlichen Gegenstnde vollstndig gegeben seien, dies nicht sofort bedeute, dass uns die absolute Totalitt derselben gegeben sei; fr Letzteres werde noch eine „vollendete Synthesis“ gegebener Gegenstnde erfordert. – Dagegen spricht: (1) Es ist nicht zwingend, diese Textpassage so zu deuten; sie erlaubt noch harmlosere Lesarten, wie „Das vollstndige Gegebensein aller Glieder der Bedingungsreihe garantiert fr sich allein nicht, dass man erkennen kann, wie die Bedingungsreihe in concreto ist“. (2) Noch wichtiger, auch wenn die betreffende Deutung Kants dortiger Ansicht entsprechen sollte, verwendet Kant sie ohnehin nicht in dem Kontext seiner Zurckweisung der Reihenthese (nmlich im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels), wie oben festgestellt wurde. Es gibt also keinen vernnftigen Grund dafr, zugunsten dieser Textpassage die oben dargestellte Rekonstruktion abzustreiten (zumal die Ansicht, die diese Textpassage zunchst nahelegt, in sachlicher Hinsicht hçchst dubios ist und auch von Kant selbst nicht gut begrndet worden ist). Zu fragen ist vielmehr, warum die betreffende Deutung, die Kant eine abstruse Ansicht unterstellt, doch in der Literatur manchmal (nicht nur von Allison) vertreten worden ist. Das Motiv ist vermutlich, Kants TrI von der zunchst kontraintuitiv aussehenden idealistischen bzw. anti-realistischen Ontologie fernzuhalten; darauf werde ich in 4.3.3 zurckkommen.
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Wenn dies nachgewiesen werden kçnnte (und zudem angenommen wrde, dass die realistische Interpretation der KdrV bereits durch einige positive und selektive Belege untersttzt worden sei), kçnnte man wohl sagen, dass Kants anscheinende Billigung des Anti-Realismus im Antinomiekapitel keine substantielle Rolle fr seine dortige Argumentation spielt, so dass sie, mit Rcksicht auf die Folgerichtigkeit seines ganzen philosophischen Systems, vielmehr als ein Erzeugnis seiner nicht seltenen „terminologischen Nachlssigkeit“ oder bestenfalls als ein bloß peripherer Faktor ignoriert werden sollte.201 Das Ziel dieses Unterabschnittes ist, die Mçglichkeit einer derartigen Entgegnung vonseiten der realistischen Interpreten endgltig abzuschließen. Ich werde zeigen, dass der Realismus tatschlich die Reihenthese unumgnglich macht, so dass Kants Rekurs auf den Anti-Realismus kein peripheres, ignorierbares Moment ist, sondern vielmehr sachgemß erforderlich fr seine Zurckweisung der Reihenthese und somit fr die Auflçsung der Antinomien berhaupt. Damit wird festgestellt, dass die realistische Kant-Interpretation jeder Art, gerade ihres realistischen Wesens wegen, der Antinomielehre nicht gerecht sein kann. Da die Reihenthese der Ursprung der Antinomien ist, kann sie keine inhaltslose Aussage, sondern muss vielmehr substantiell bedeutsam sein. Trotz allem ist sie, an sich selbst betrachtet, auch keine extraordinre These, wie sie erst durch irgendeine transzendente Metaphysik erdichtet wrde, sondern eine Behauptung, die, wie Kant selbst zugesteht, „so natrlich einleuchtend scheint“ (A497/B529). Diese Natrlichkeit resultiert daraus, dass die Reihenthese eine direkte Konsequenz des Realismus ist, der seinerseits tief in unserem Common-Sense wurzelt. Sie ist so naheliegend, dass jedes Unternehmen, sie zu verneinen, als kontraintuitiv erscheint.202 – Demgemß sieht sich der Versuch, die Reihenthese berhaupt als Konsequenz des Realismus zu erweisen, mit einer eigentmlichen Schwierigkeit konfrontiert. Es ist nmlich dafr erforderlich, etwas so Selbstverstndliches, dass wir uns dessen sonst gar nicht als solches bewusst werden, als argumentativ notwendiges Moment hervorzuheben. Dies versuche ich mit folgendem Beweis zu leisten: 201 Diese Strategie ist gerade diejenige, welche ich auf die Theoriestcke in der KdrV, die den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde nahelegen, anwende; vgl. unten, 6.2. 202 Dieser Punkt wird von Kants Diagnose des „dialektischen Arguments“ als „Sophisma figurae dictionis“ eher verdeckt; vgl. unten, Anm. 220.
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Annahme: Etwas Bedingtes existiert (und wir haben dergleichen tatschlich erkannt). Voraussetzung des Realismus: Raumzeitliche Gegenstnde existieren davon unabhngig, dass sie fr uns, selbst im Prinzip, erkennbar sind. Fr ihre Existenz kçnnen solche epistemischen Faktoren berhaupt keine Relevanz besitzen. Stufe 1: Aus der Annahme folgt, dass es ein das gegebene Bedingte Bedingendes und auch ein dieses Bedingendes usf. gibt; diese Bedingenden bilden eine Bedingungsreihe (wie sie in 4.2 dargestellt wurde). – Auf dieser Stufe ist noch nicht entschieden, ob diese Bedingungsreihe auch als ein vollstndiges Ganzes existiert oder nicht. Stufe 2: Glieder der Bedingungsreihe sind raumzeitliche Gegenstnde. Daraus folgt unter der Voraussetzung des Realismus zunchst, dass jedes von ihnen existiert, egal ob es fr uns erkennbar ist oder nicht. Stufe 3: Dies bedeutet aber fr den Realismus nichts Anderes, als dass alle solchen Glieder vollstndig existieren. Stufe 4: Daraus folgt, dass die Bedingungsreihe als ein vollstndiges Ganzes existiert. Stufe 5: Man kann also unter der Voraussetzung des Realismus von der Existenz eines Bedingten darauf schließen, dass die Bedingungsreihe als ein vollstndiges Ganzes existiert; dies ist gerade, was die Reihenthese besagt. Die Stufe 1, 2 und 5 stehen wohl außer Frage. Die Validitt der Stufe 4 wurde schon im letzten Unterabschnitt erçrtert. Betrachten wir nun die Stufe 3 noch nher, um die Schlssigkeit des ganzen Beweises sicherzustellen. Dort ist folgendes Prinzip verwendet: „Jedes S existiert“ ist unter der Voraussetzung des Realismus gleichbedeutend mit „Alle Ss existieren (vollstndig)“.203 Z.B.: „Jede natrliche Zahl existiert“ ist unter der Voraussetzung des Realismus (mathematischer Gegenstnde) gleichbedeutend mit „Alle natrlichen Zahlen existieren (vollstndig)“. 203 Die Qualifikation „vollstndig“ ist eigentlich berflssig; denn es wre absurd zu sagen, „Zwar existieren alle Ss, aber nicht vollstndig“. Da aber der Unterschied zwischen „jedes“ und „alle“ ein sehr subtiler Punkt ist, fge ich diese Qualifikation bei, um diesen Unterschied hervorzuheben.
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Dieses Prinzip sieht prima facie so aus, als ob es bloß aus der Bedeutung von „jedes“ und „alle“ resultiert, so dass es egal von welchem philosophischen Standpunkt aus akzeptiert werden muss. Indessen gilt es im Rahmen des Anti-Realismus nicht allgemein. Eine nhere Betrachtung dieses Punktes hilft uns zu begreifen, warum das betreffende Prinzip im Rahmen des Realismus unleugbar ist. Dem Anti-Realismus zufolge soll die Existenz der Gegenstnde abhngig von unserer Erkenntnis sein. „Jedes S existiert“ bedeutet dann, dass jedes S erkennbar ist, „Alle Ss existieren (vollstndig)“ hingegen, dass alle Ss (vollstndig) erkennbar sind. Nun besteht folgender epistemischer Umstand: Selbst wenn es garantiert ist, dass jedes S erkennbar ist, kann es doch der Fall sein, dass man nicht alle Ss (vollstndig) erkennen kann. Zum Beispiel: Wenn es um unendlich viele Gegenstnde geht, kann man nicht alle vollstndig erkennen, selbst wenn jeder im Einzelnen prinzipiell erkennbar ist.204 – Man denke hier z. B. an folgendes Analogon in der Mathematik: Obwohl jede einzelne natrliche Zahl konstruierbar ist, kann man nicht alle vollstndig konstruieren; dieser Umstand fhrt Intuitionisten zur Ablehnung der Totalitt aller natrlichen Zahlen.205 – Das be204 Es sei denn, dass man annimmt, dass so etwas wie „super-task“ mçglich ist. Das ist eine fiktive Leistung, mit der man eine unendliche Menge doch vollstndig durchlaufen soll. Zum Beispiel: Nehmen wir an, dass eine Person natrliche Zahlen folgendermaßen aufzhlt: In einer halben Minute zhlt sie „1“. Dann zhlt sie in der nchsten viertel Minute „2“, dann in der nchsten achtel Minute „3“, . . . usf. Durch diese Leistung muss sie nach einer Minute alle natrlichen Zahlen durchgezhlt haben; fr Details, vgl. Moore 2001, S. 213 – 6. – Theoretisch gesehen darf diese Mçglichkeit nicht einfach ignoriert werden. Da aber Kant eine solche Mçglichkeit zweifelsohne nicht im Sinne hat, lasse ich sie im Nachfolgenden außer Acht. 205 Jonathan Bennett bersieht diese intuitionistische Denkart; vgl. seinen folgenden Hinweis: „Dretske finds nothing incoherent in the supposition that someone has begun to count the natural-number series 0, 1, 2, . . . , and will continue at a steady rate without ever stopping, in which case he will count all the natural numbers. He will never have counted them all, but given any natural number he will eventually have counted it. If you dislike saying that our man will count all the natural numbers, say instead that he will count each of them – it makes no real difference“ (ders. 1974, S. 121). Dies spricht dafr, dass seine Kant-Interpretation, trotz ihres phnomenalistischen Charakters, von der realistischen Denkart noch nicht ganz befreit ist. Was er bei seiner Kritik an Kants Unendlichkeitslehre verwendet, ist in der Tat eine realistische Konzeption der Menge la Cantor. Angesichts dessen ist es gut verstndlich, warum er in Kants Unendlichkeitslehre lediglich berholte
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treffende Prinzip gilt demnach im Rahmen des Anti-Realismus nicht allgemein.206 Dieser epistemische Umstand kann aber dem Realismus zufolge keine Relevanz fr die Existenz der strittigen Gegenstnde haben, da es gerade das Wesensmoment des Realismus ist, dass die Existenz unabhngig von epistemischen Faktoren auf unserer Seite ist. Das betreffende Prinzip muss also unter der Annahme des Realismus ohnehin gebilligt werden.207 – Damit ist der oben gefhrte Beweis im Ganzen untermauert worden.208 Ansichten gefunden zu haben glaubt. Ich vermute, dass er wohl eine ganz andere Beurteilung erreicht haben drfte, wenn er den mathematischen Intuitionismus mit bercksichtigt htte. Im brigen deutet das hiesige Beispiel der intuitionistischen Behandlung der natrlichen Zahlen auf die Mçglichkeit einer interessanten Version des AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde hin: Diese Version weist zwar rationalkosmologische Behauptungen deswegen zurck, weil diese von allen raumzeitlichen Gegenstnden handeln, erkennt aber dennoch an, dass jeder einzelne raumzeitliche Gegenstand im Prinzip erkennbar ist. Was ich in 7.1.2 als „standardphnomenalistische Version“ darstellen werde, entspricht der hier genannten Version. – Es ist aber hier zu beachten, dass diese eben eine anti-realistische Position ist, und nicht mit dem Realismus raumzeitlicher Gegenstnde verwechselt werden darf, denn sie behauptet anti-realistisch, dass jeder raumzeitliche Gegenstand abhngig von unserer Erkenntnis ist; nur dass sie hinsichtlich einzelner Gegenstnde zugesteht, dass sie im Prinzip erkennbar sind; vgl. auch unten, Anm. 223. 206 Indessen gibt es auch solche Varianten des Anti-Realismus, die dieses Prinzip gelten lassen; z. B. die „peircesche Version“, die in 7.1.2 zur Diskussion kommt. Der obige Beweis zeigt, dass solche Varianten des Anti-Realismus ebenfalls auf die Billigung der Reihenthese festgelegt werden. 207 Ich behaupte nicht, dass sich Kant selbst des betreffenden Unterschieds zwischen „jedes“ und „alle“ voll bewusst war. Meine Behauptung ist lediglich, dass die Bercksichtigung dieses Unterschieds ermçglicht, einige von Kants sonst enigmatisch bleibenden Gedankengngen verstndlicher zu machen. 208 Daraus geht zugleich hervor, dass unter der Voraussetzung des Realismus raumzeitlicher Gegenstnde die Mçglichkeit ausgeschlossen wird, dass eine Bedingungsreihe bloß potentiell-unendlich ist, denn der Realismus muss ohnehin annehmen, dass jede Bedingungsreihe als ein vollstndiges Ganzes existiert (kontra Posys Ansicht: „Realism about physical objects is perfectly compatible with denying actual infinity“ (ders. 1984b, S. 117)). Dieses Ergebnis stimmt mit folgender Idee berein, die Michael Hallett als Auffassung von Georg Cantor herausgestellt hat: Im Rahmen des Realismus setzt die Billigung einer potentiellen Unendlichkeit jeder Art eine korrespondierende aktuale Unendlichkeit voraus (vgl. Hallett 1984, S. 12 – 32, insbesondere S. 26 – 9; da Cantor den Realismus mathematischer Gegenstnde annimmt, behauptet er, dass die aktuale Unendlichkeit im Sinne des Transfiniten ein legitimer Gegenstand der Mathematik sein soll). – Es ist zwar als eine historische Beschreibung wahr, dass
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Lucy Allais ist der Ansicht, dass ihre – in meinem Sinne realistische – ZweiAspekte-Interpretation (vgl. oben, 2.2 (B)) dennoch Kants transzendentalidealistische Auflçsung der Antinomien nachvollziehen kann. Es lohnt sich, diesen Gedanken hier explizit zurckzuweisen, wodurch die Kraft des oben dargestellten Beweises noch deutlicher gemacht werden soll. Es scheint prima facie offensichtlich, dass der Realismus, den Allais Kant unterstellt, keine Ausnahme vom obigen Beweis ist, weil er ohnehin annimmt, dass einzelne raumzeitliche Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. Man denke an einzelne Glieder einer Bedingungsreihe. Allais’ Interpretation zufolge existiert jedes einzelne von ihnen (besser gesagt: was uns als solches erscheint) unabhngig von unserer Erkenntnis, selbst wenn seine raumzeitliche Eigenschaft (im von Allais stipulierten Sinn) subjektabhngig ist. Sie muss demnach zugestehen, dass aus der Banalitt, dass jedes einzelne Glied der Bedingungsreihe existiere, sofern es existiere, in der Tat darauf zu schließen ist (genauso wie der obige Beweis zeigte), dass alle solchen Glieder vollstndig existierten, selbst wenn sie fr uns nicht vollstndig erkennbar seien, was zur Setzung der absoluten Totalitt derselben fhrt. Indessen denkt Allais, dass ihre wesentlich realistische Interpretation doch die „experience-transcendence“ der raumzeitlichen Gegenstnde verneint, und dass sie damit die Setzung der absoluten Totalitt der Bedingungsreihe vermeiden kann (vgl. dies. 2004, S. 675 f. und 2010, S. 25 – 8; vgl. auch 2003, S. 386 f.). Es kommt hier darauf an, dass ihre Interpretation, eben ihres realistischen Charakters wegen, nicht dazu fhig ist, die „experience-transcendence“ zu leugnen. Es muss zunchst gefragt werden: Wie versucht Allais die „experiencetranscendence“ im Rahmen ihrer wesentlich realistischen Interpretation zu verneinen? Leider enthlt ihre Diskussion keine Erklrung dafr. (Sie sagt dazu allenfalls, dass die kantische Erscheinung „not (entirely) independent of our experience“ (dies. 2010, S. 27) bzw. „(partly) mind-dependent“ (ibid., S. 28) und deswegen nicht experience-transcendent sei.) Aber mit Rcksicht darauf, dass ihre Interpretation auf der Analogie zu Farben
manche Philosophen, die grundstzlich den Realismus annahmen, dennoch die Mçglichkeit der aktualen Unendlichkeit (zumindest fr die Mathematik sowie die irdische Welt) verneinten und bloß mit der potentiellen Unendlichkeit auskommen wollten. Solche Positionen sind jedoch sowohl aus der cantorschen (realistischen) als auch aus der kantischen (anti-realistischen) Perspektive halbfertig und auch in sachlicher Hinsicht unhaltbar.
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grndet (wie in 2.2 (B) erçrtert wurde), ließe sich wohl folgendes Argument rekonstruieren: Genauso wie es fr Farben a priori gilt, dass ein Ding rot ist gdw. es unter geeigneten Umstnden von uns als rot wahrgenommen wrde, so gilt auch fr raumzeitliche Gegenstnde (d. h. kantische Erscheinungen) folgendes Bikonditional a priori: Ein raumzeitlicher Gegenstand existiert gdw. er erkennbar ist, in dem Sinn, dass er unter geeigneten Umstnden von uns erkannt wrde. Daraus wird geschlossen, dass es keinen raumzeitlichen Gegenstand gibt, der unerkennbar ist; so wird die „experience-transcendence“ der raumzeitlichen Gegenstnde verneint. Nher berprft aber stellt sich dieses Argument als unhaltbar heraus. Es ist hier besonders instruktiv, zu betrachten, dass ein derartiges Bikonditional selbst fr Farben – auf der Analogie zu denen Allais’ Interpretation grndet – nicht gilt. Nehmen wir an, dass es eine unendlich große Flche gebe.209 Nehmen wir nun zudem an, dass sie berall rot sei. Ist dann dieser Sachverhalt (wenn er wirklich der Fall ist) fr uns erkennbar? Mit anderen Worten: Gibt es „geeignete Umstnde“, unter denen man erkennen kann, dass diese unendlich große Flche berall rot ist? – Sicherlich nicht, zumindest in dem Sinne, wie in der Farbenanalogie von den „geeigneten Umstnden“ blicherweise gesprochen wird.210 (Dieser Punkt wird in der Farbenanalogie verdunkelt, weil diese meistens in einem Kontext angefhrt wird, in dem die Erkennbarkeit der primren Qualitten der Dinge nicht besonders in Frage gestellt wird.) Es ist ebenfalls nicht mçglich, diese 209 Es ist hier irrelevant, dass der heutigen Kosmologie nach das Universum endlich ist, so dass es dergleichen nicht wirklich gibt. Es kommt hier darauf an, dass diese Annahme als solche im Rahmen des Realismus rumlicher Dinge (an der sich die gegenwrtige Farbenanalogie meistens beteiligt) keinen begrifflichen Widerspruch enthlt. 210 Es ist zwar nicht vçllig unmçglich, einen „geeigneten Umstand“ zu erdichten, unter dem wir die unendliche Flche vollstndig erkennen kçnnen. Man kçnnte ihn z. B. mit der „idealen Erkenntnislage“ (die in der in 7.1.2 zu erçrternden peirceschen Version angenommen wird) identifizieren, in der alle in Einzelnen erkennbaren Tatsachen, auch wenn sie unendlich viel wren, vollstndig erkannt wrden. Wenn aber dergleichen auf den Fall der kantischen „Erscheinung“ angewandt wrde, ergbe es sich daraus vielmehr, dass wir unter solch einem „geeigneten Umstand“ alle Glieder der Bedingungsreihe, somit die Bedingungsreihe im Ganzen, vollstndig erkennen kçnnten, was zur Bejahung der Reihenthese fhrt. Dass also ein derartiger „geeigneter Umstand“ mçglich ist, ist nutzlos im hiesigen Kontext, wo die Zurckweisung der Reihenthese angestrebt wird.
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Flche vollstndig zu erkennen, indem man ihre hçchstens endlich großen Teile – fr jeden einzelnen von denen allerdings ein „geeigneter Umstand“, unter dem wir ihn erkennen kçnnen, ohne Probleme gedacht werden kann – sukzessiv durchluft (weil die Anzahl solcher Teile unendlich ist). Dies spricht dafr, dass das betreffende Bikonditional nicht einmal fr Farben gilt.211 Ist es nicht vielleicht mçglich, auf die Gltigkeit dieses Bikonditionals zu bestehen und zu sagen, dass die Mçglichkeit, dass eine unendlich große Flche berall rot sei, a priori ausgeschlossen wird? – Eine solche Erwiderung ist eben im realistischen Verstndnis der Farbe (wie es Allais annimmt) unmçglich. Demzufolge soll das Rotsein eines Dings auf der diesem an sich zukommenden Eigenschaft grnden, die es uns unter geeigneten Umstnden als rot erscheinen lsst, und demnach muss es eigentlich vçllig unproblematisch sein, dass die betreffende unendliche Flche berall (d. h. das Ganze aller endlichen Teile derselben) rot ist, nur wenn sie an jeder Stelle (d. h. an jedem endlichen Teil derselben) eine solche Eigenschaft hat. Es muss daher fr das Rotsein dieser Flche gerade irrelevant sein, dass sie weder einmal noch sukzessiv vollstndig erkennbar ist. Die Lehre aus dieser berlegung ist folgende: Unter der Annahme des Realismus lsst sich die rechte Seite des betreffenden Bikonditionals nicht als die linke Seite restringierend verstehen. Das heißt, im Rahmen des Realismus kann man dieses Bikonditional nicht verwenden, um daraus, dass etwas unerkennbar sei, darauf zu schließen, dass dergleichen nicht wirklich sein kçnne. Wenn man hierbei unbedingt auf die Gltigkeit dieses Bikonditionals bestnde, msste dieses vielmehr darauf hinauslaufen, dass alles, was wirklich sei, auch erkennbar sei. (Das heißt, im Rahmen des Realismus wird die Restriktion nur in der Richtung von der linken zu der rechten Seite legitimiert.) Und was in dem Fall, dass die Erkennbarkeit der thematisierten Sachverhalte problematisch wird, in Frage gestellt werden sollte, ist nicht die Wirklichkeit dieser Sachverhalte, sondern vielmehr das betreffende Bikonditional selbst. Daraus erweist sich, dass der Realismus la Allais ebenfalls durch den oben dargestellten Beweis auf die Akzeptanz der Reihenthese festgelegt wird. – Und dies gilt nicht nur fr Allais’ par211 In der Tat sind heutige Theoretiker der Response-Dependence darin einig, dass ein derartiges Bikonditional selbst fr den Fall der Farben, der ihr Standardfall ist, nicht gilt. Angesichts dessen versuchen sie, das Bikonditional zu modifizieren; vgl. z. B. „provisional equations“ von Wright 1992, S. 117 – 20 und Hinzufgung der Qualifikation „denominably“ von Pettit 1998, S. 114 und Jackson/Pettit 2002, S. 101 f.
4.3 Enthllung des Ursprungs der Reihenthese
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tikulare Entwicklung der realistischen Interpretation. Was der obige Beweis nachgewiesen hat, ist gerade, dass jede Art des Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ohnehin die Reihenthese akzeptieren muss, auch wenn seine Vertreter angeben, so etwas wie „experience-transcendence“ fr raumzeitliche Gegenstnde abzulehnen. Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen. Es ist nun an der Zeit, eine vollstndige Begrndung der anti-realistischen Interpretation der Antinomienlehre vorzufhren. Durch die bisherige Diskussion hindurch sind folgende Punkte festgestellt worden: (1) Unter der Annahme, dass Kants Herleitungen der Antinomien im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels schlssig seien, sind die Antinomien insofern unvermeidlich, als die Reihenthese gebilligt wird. (2) Die Reihenthese ist insofern unvermeidlich, als der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, egal in welcher konkreten Version, angenommen wird. Daraus wird Kants Rekurs auf einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, der im letzten Unterabschnitt exegetisch konstatiert wurde, auch aus einem sachlichen Grund gerechtfertigt. Der Anti-Realismus ist nmlich kein peripheres, somit entbehrliches Moment fr den TrI, sondern vielmehr sachgemß notwendig, um die Reihenthese zurckzuweisen, was seinerseits Kants Ansicht nach erforderlich ist, um die Antinomien aufzulçsen. Darauf basierend wird zugleich die realistische Interpretation endgltig widerlegt. Daraus folgt nmlich zunchst, dass jede realistische Interpretation des TrI, egal wie sie in concreto ausgefhrt wird, zumindest der Antinomienlehre ungerecht sein muss. Denn der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, den sie dem TrI unterstellt, ist ohnehin auf die Zustimmung zur Reihenthese festgelegt, diese macht aber ihrerseits, Kants Ansicht nach, die Antinomien unvermeidlich. Das heißt: Sofern man dem TrI den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde unterstellt, muss man zugestehen, dass die Antinomien selbst fr Kants TrI unvermeidlich sind. Allerdings kann man in systematischer Hinsicht auch dahingehend argumentieren, dass der Realismus nicht in die Antinomien geraten msse, indem man Kants Herleitungen der Antinomien im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels fr sachlich unschlssig erklrt. Indessen msste man in diesem Fall vielmehr sagen, dass die „Antinomie der reinen Vernunft“ berhaupt nicht stattfinde; sie sei eine bloß scheinbare Problematik, fr
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deren Lçsung die Analyse des „dialektischen Arguments“ und damit in Zusammenhang stehender Themen eigentlich nicht nçtig gewesen wre. – Wie gut immer diese „Diagnose“ in systematischer Hinsicht gerechtfertigt werden mag, steht es außer Zweifel, dass sie keine richtige Reprsentation dessen sein kann, was Kant im Antinomiekapitel tatschlich meint und beabsichtigt; sie fhrt also nur dazu, die Antinomienlehre selbst zunichte zu machen. Der letzte mçgliche Zug fr realistische Interpreten wre es, die Antinomienlehre im Ganzen als ein peripheres Element fr die kantische Philosophie zu ignorieren. Dass jedoch dieses Vorgehen zumindest in exegetischer Hinsicht unzulssig ist, wurde am Eingang dieses Kapitels konstatiert; Widerlegung vollendet. – So scheitert die realistische Interpretation an der Antinomielehre in jedem Fall und verliert somit ihre Plausibilitt auch als Auslegung des TrI im Ganzen.212 Damit ist von der Antinomienlehre her ein sicherer, und zwar positiver sowie selektiver Beleg fr die anti-realistischen Interpretation des TrI gewonnen worden. Im nchsten Unterabschnitt weise ich drei denkbare Interpretationsalternativen zurck, um das bisherige Ergebnis noch klarer und sicherer zu machen. 4.3.3 Kritische berprfung der Interpretationsalternativen Der Anti-Realismus, wie er bisher dargestellt wurde, muss allerdings zu Spannungen mit dem Common-Sense fhren und somit die Last des Kontraintuitiven tragen. Angesichts dessen drfte man es wohl als wnschenswert erachten, die Antinomienlehre derart auszulegen, dass sich ein solcher Anti-Realismus vermeiden lsst. In diesem Abschnitt werden folgende drei Interpretationsalternativen erçrtert, die als solche Vermeidungsversuche angesehen werden kçnnen: (A) Bloß-erkenntnistheoretische Interpretation: Die Antinomienlehre fhrt allenfalls zu einem Agnostizismus hinsichtlich der rationalen Kosmologie, der die Behauptungen derselben bloß fr unbeweisbar erklrt. Sie hat daher keine ontologische Konsequenz. (B) Carl Posys assertabilistische Interpretation: Die Antinomienlehre erzwingt zwar eine anti-realistische Bedeutungstheorie (mit seinem Wort: 212 Dadurch wird zugleich auch die neutrale Kant-Interpretation zurckgewiesen. Der TrI ist nicht, so wie sie unterstellt, gleichgltig gegenber der dummettsch formulierten Realismusdebatte. Der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde muss vom TrI in jedem Fall abgelehnt werden.
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„assertabilism“), diese impliziert aber keine anti-realistische Wahrheitskonzeption sowie Ontologie. (C) Bloß-kosmologische Interpretation: Die Antinomienlehre erlaubt ausschließlich, spezifisch rational-kosmologische Behauptungen (d. h. positive Behauptungen ber „die Welt“ bzw. die absolute Totalitt) als falsch zurckzuweisen. Sie tangiert daher nicht die Ontologie der sonstigen raumzeitlichen Gegenstnde. Diese drei Alternativen behaupten gemeinsam, dass das Ergebnis der Antinomienlehre weniger radikal ist als im letzten Unterabschnitt gezeigt wurde. Sie haben eine gewisse Attraktivitt, weil sie zumindest anstreben, den TrI als weniger kontraintuitiv zu prsentieren. Im Nachfolgenden weise ich nach, dass sie trotz aller scheinbaren Attraktivitt exegetisch unhaltbar sind. Damit wird die exegetische Rechtfertigung der anti-realistischen Interpretation in diesem Kapitel abgeschlossen. (A) Bloß-erkenntnistheoretische Interpretation Es bedarf zunchst einer Einschrnkung: Bei einigen Kant-Interpreten (z. B. Guyer 1987, Kap. 18) findet sich die Auffassung, dass Kants Argumentation im Antinomiekapitel sachlich defekt bzw. unzulnglich sei, so dass sie ihr eigentliches Ziel nicht erreichen, sondern bestenfalls einen Agnostizismus hinsichtlich der kosmologischen Themen erbringen kçnne. Derartige Auffassung klassifiziere ich nicht als „bloß-erkenntnistheoretische Interpretation“. Was ich unter diesem Titel verstehe, ist nur diejenige, die explizit behauptet, dass Kant selbst in der Antinomienlehre nur einen solchen Agnostizismus intendiert.213 Diese Art der Interpretation ist aus folgenden zwei Grnden unhaltbar: (1) Sie luft zunchst deutlich der textlichen Tatsache zuwider, dass Kant die Thesen und Antithesen der mathematischen Antinomien nicht bloß fr unbeweisbar, sondern eben fr falsch erklrt. Die Bewertung, dass eine gewisse Behauptung falsch sei, erfordert ohnehin eine substantielle Einsicht in den thematisierten Gegenstand.214 213 Zum Beispiel: Brittan 1974, S. 97 und 1978, S. 39 f. und Bird 2005, S. 674 – 7. 214 Es ist gerade Kant selbst, der die Wichtigkeit der Unterscheidung dazwischen betont, eine Behauptung einerseits als falsch und andererseits als unbegrndet zurckzuweisen. Er bezeichnet in A388 diese zwei Arten von Zurckweisung jeweils als „dogmatischen“ und „kritischen Einwurf“. Dieser Bezeichnung zufolge erhebt Kant in der Antinomienlehre eben den „dogmatischen Einwurf“ gegen die rational-kosmologischen Thesen und Antithesen.
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(2) Diese Interpretation bersieht auch folgenden Punkt: Kant selbst stellt fest, dass die Eigentmlichkeit der Antinomienlehre darin liegt, dass man hinsichtlich der kosmologischen Fragen „mit Recht eine genugtuende Antwort, die die Beschaffenheit des Gegenstandes betrifft, fordern kann“ (vgl. A478 f./B506 f.), und dies nicht fr die Paralogismenlehre und das „Ideal der reinen Vernunft“ gilt. Bezglich der letzteren beiden ist laut Kant der Agnostizismus betreffs der thematisierten Gegenstnde die richtige Lçsung, nicht jedoch fr die Antinomienlehre. Von daher muss die bloß-erkenntnistheoretische Interpretation als unhaltbar betrachtet werden, mit der Folge, dass sich die Antinomienlehre ontologisch nicht indifferent verhlt. (B) Carl Posys assertabilistische Interpretation Posy ist der wichtigste Vorgnger, der mit einer konkreten Textanalyse nachgewiesen hat, dass die dummettsche Begrifflichkeit (mit seinem Wort: „assertabilism“) fr die Auslegung des TrI ntzlich ist. Die vorliegende Abhandlung (insbesondere Kapitel 7) verdankt seiner bahnbrechenden Forschung viel. Trotz allem ist sein „assertabilism“ in einem wesentlichen Punkt unterschiedlich von dem Anti-Realismus in meiner Definition und dieser Unterschied macht meines Erachtens Posys Interpretation der Antinomienlehre im Endeffekt unhaltbar. Seine assertabilistische Begrifflichkeit sowie Interpretation der Antinomienlehre sind sehr kompliziert.215 Anstatt sie konkret darzulegen, konzentriere ich mich hier ausschließlich darauf, die Fragwrdigkeit seiner Interpretation der Antinomienlehre hervorzuheben. Zu Posys Assertabilismus sind folgende zwei Punkte zu bemerken: (1) Er besagt, dass fr die Bedeutung die Verifikationsbedingung „dominanter“ ist als die Wahrheitsbedingung.216 Daraus resultiert, dass die Bedeutungen der logischen Konstanten, so wie in der intuitionistischen Logik, durch die Verifikationsbedingung bestimmt werden. Wichtig ist im hiesigen Kontext Posys Definition der Negation. Sie lsst sich – abgesehen von 215 Der Assertabilismus als solcher ist in Posy 1981 am ausfhrlichen erlutert (obwohl er noch in mancher wichtigen Hinsicht unklar bleibt; vgl. die nchste Anmerkung). Seine assertabilistische Interpretation der Antinomienlehre ist in ders. 1983 am konkretesten entwickelt; sie findet sich auch in ders. 1984a und 1984b. 216 Vgl. Posy 1983, S. 83 und 1984a, S. 38. Es ist nicht klar, was Posy damit genau meint; er erklrt dies nicht ausfhrlich, deswegen bleibt unklar, was fr eine konkrete Bedeutungstheorie er im Sinne hat. – Zum Zweck der nachfolgenden Diskussion reicht aber schon aus, dass dieser Ansatz Posys eine intuitionistische Definition der logischen Konstanten erzwingt.
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Posys Begrifflichkeit der „evidential situations“ – wie folgt paraphrasieren: Die Negation einer Aussage gilt gdw. diese Aussage nicht verifiziert werden kann, nicht einmal in der Zukunft.217 (2) Wie in 2.2 (A) bemerkt, lehnt Posys Assertabilismus die realistische Wahrheitskonzeption in meinem Sinn nicht ab, sondern nimmt sie vielmehr an. Er gesteht daher die Mçglichkeit zu, dass eine Aussage, die unverifizierbar ist, dennoch wahr sein kann. Damit lçst er sich von der Wahrheits- sowie der ontologischen Problematik.218 – In dieser Hinsicht kçnnte Posys Deutungsvorschlag als „bloßbedeutungstheoretische Interpretation“ bezeichnet werden. Das Problem seiner Interpretation der Antinomienlehre liegt nun darin, dass sie, seiner Ansicht entgegen, nicht befrworten kann, dass die Thesis und Antithesis (der Zeit-Antinomie, die er erçrtert) falsch sind. Er erklrt zwar erfolgreich, dass sowohl die Negation der Thesis als auch die der Antithesis bewiesen werden (vgl. ibid., S. 86 f.; dies stelle ich nicht in Frage). Daraus kann jedoch im Rahmen des Assertabilismus die von Posy beabsichtigte Konsequenz, dass sowohl die Thesis als auch die Antithesis falsch seien (ibid., S. 90), nicht gezogen werden, denn dass die Negation einer Aussage gilt, bedeutet im Assertabilismus nur, dass diese Aussage unverifizierbar ist, und dieser lsst die Mçglichkeit offen, dass eine unverifizierbare Aussage doch wahr sein kann. Dass z. B. die Negation der Antithesis bewiesen wird, kann daher, obschon dies seltsam klingt, nicht bedeuten, dass die Falschheit der Antithesis bewiesen ist. Daraus ergibt sich, dass Posys Interpretation der Antinomienlehre im Endeffekt mit der gerade zurckgewiesenen bloß-erkenntnistheoretischen Interpretation zusammenfllt. Sie kann nmlich nur behaupten, dass die rational-kosmologischen Widerstreite unentscheidbar sind. Um diese Konsequenz zu vermeiden, msste Posy seine Billigung der realistischen Wahrheitskonzeption widerrufen. Dies wre jedoch so gut wie die assertabilistische Interpretation als solche preiszugeben, denn ihre Pointe besteht gerade darin, von der Wahrheitsproblematik abzusehen (somit die gngige realistische Wahrheitskonzeption intakt zu lassen), um dadurch Kants TrI von einer anti-realistischen Ontologie fernzuhalten.
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217 Dies entspricht der blichen Definition der intuitionistischen Negation mit dem Kripke- bzw. Beth-Modell; vgl. Troelstra/van Dalen 1988, S. 75 – 8. Posys Darstellung lautet: „ A holds at a node just in case A does not hold at that or any subsequent node. (Evidence that no imagined increase in information can support A suffices assertabilistically to support A)“ (ders. 1983, S. 84). 218 Posy sieht (zumindest bis zu 1984a) dies als den Vorteil seines Assertabilismus an, weil damit Kants TrI von der phnomenalistischen Ontologie ferngehalten wird; vgl. oben, 2.2, Anm. 65. d
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Damit wird geschlossen, dass Posys assertabilistische Interpretation ebenfalls unhaltbar ist, mit der Folge, dass die Antinomienlehre nicht nur eine anti-realistische Bedeutungstheorie, sondern gerade eine anti-realistische Wahrheitskonzeption sowie Ontologie erfordert.219 (C) Bloß-kosmologische Interpretation Dieser Typ der Interpretation strebt an, die Tragweite der Antinomienlehre auf die kosmologischen Gegenstnde einzuschrnken, um die realistische Ontologie, die wir zunchst und zumeist fr selbstverstndlich halten, fr die sonstigen raumzeitlichen Gegenstnde (welche ich im Folgenden als „empirische Gegenstnde“ bezeichne) intakt zu lassen. Fr diese Art der Interpretation sind drei Varianten denkbar. (1) Die erste Variante tritt auf, wenn man bersieht, dass die Reihenthese einen bestimmten ontologischen Hintergrund hat. Durch dieses bersehen wird die Reihenthese derart verstanden, als ob sie sich ohne Rcksicht auf die ontologische Problematik zurckweisen ließe. – Dann verfllt man z. B. in das Missverstndnis, dass das „dialektische Argument“ (vgl. 4.1.3) bloß auf einem Schlussfehler beruhe, der in rein logischer Hinsicht, von der ontologischen Erwgung isoliert, beseitigt werden kçnnte.220 219 Angesichts dessen ist es gut verstndlich, dass Posy in ders. 1991 seine assertabilistische Interpretation des TrI widerruft; vgl. oben, Anm. 65. 220 Kants eigene Erklrung des dialektischen Arguments als „Sophisma figurae dictionis“ (vgl. A499 ff./B527 ff.) legt leider ein solches Missverstndnis nahe, denn sie erweckt den Anschein, als ob das dialektische Argument nur deswegen vorgebracht wrde, weil man dabei „gleichsam unbesehen“ „einen merkwrdigen Unterschied zwischen den Begriffen bersehen“ htte (A500/B528). Dies kann aber nicht wahr sein, denn sonst kçnnte man die Antinomien einfach dadurch vermeiden, dass man hinsichtlich der Mehrdeutigkeit der Begriffe zureichende Umsicht walten ließe, ohne dabei den TrR als solchen abzulehnen; dies wre eine allzu leichte „Auflçsung“ der Antinomien, die auch Kants eigener Ansicht, dass die Antinomienlehre einen indirekten Beweis des TrI liefern solle, widerspricht. – Man muss festhalten, dass dem Konzept des „indirekten Beweises“ gemß das dialektische Argument insofern unumgnglich sein muss, als der TrR gebilligt wird. So irrefhrend Kants Erklrung mit „Sophisma figurae dictionis“ ist, so ist sie doch nicht vçllig verfehlt. Kant hat im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels schon unter der Voraussetzung des TrR die Antinomien hergeleitet. Dadurch ist er befugt, im 7. Abschnitt vorauszusetzen, dass der TrR falsch ist; in concreto, dass raumzeitliche Gegenstnde, dem TrR entgegen, nicht Dinge an sich sind. Unter dieser Voraussetzung wird Kant berechtigt zu behaupten, dass beim „dialektischen Argument“ die Reihenthese, die allenfalls fr Dinge an sich gilt (wenn sie berhaupt fr etwas gelten sollte), irrtmlicherweise auf raumzeitliche Gegenstnde ange-
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(2) Die zweite Variante verneint, dass der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde die Reihenthese implizieren muss. Diese beiden Varianten lassen sich schon durch die Diskussion bis zum letzten Unterabschnitt allein invalidieren; ich wiederhole dies hier nicht. Die dritte hingegen verdient eine nhere Betrachtung. (3) Diese Variante greift auf eine besondere Einteilung der strittigen Klassen221 innerhalb raumzeitlicher Gegenstnde zurck. Sie ordnet einerseits den kosmologischen Gegenstnden eine distinkte strittige Klasse zu, hinsichtlich deren der Anti-Realismus gilt, und lsst anderseits fr empirische Gegenstnde den Realismus in Geltung.222 Dieser Versuch scheitert aber gerade an der betreffenden Einteilung der strittigen Klassen. Zu beachten ist, dass die kosmologischen Gegenstnde nichts Anderes als Inbegriff von empirischen Gegenstnden sind. Kant selbst erkennt an, dass jene von diesen nicht „der Art nach“ unterschieden sind, sondern nur dem „Grad“ nach, d. h. dergestalt, dass sie so groß sein sollen, dass sie „alle mçgliche Erfahrung“ bertreffen (vgl. A420/B447, zitiert oben, Anm. 144). Da jedoch dieser Unterschied bloß von epistemischer Natur ist, kann er fr den Realismus keine ontologische Relevanz haben. Wenn also einzelne raumzeitliche Gegenstnde von unserer Erkenntnis unabhngig existieren sollen, muss es auch ihr Inbegriff tun. – So scheitert die geforderte Einteilung der strittigen Klassen, somit auch diese Variante selbst.223 wandt wird. Dies ist aber kein bloß logischer Fehler, sondern ein Fehler in Bezug auf die Ontologie raumzeitlicher Gegenstnde berhaupt. Kants kurze Darstellung der Auflçsung der Antinomien in Prolegomena (Bd. 4, S. 340 f.) ist in hnlicher Weise irrefhrend, weil sie den Eindruck erweckt, als ob die Antinomie sich auflçste, wenn man nur eine Widersprchlichkeit des Begriffs „Welt“ bemerkt, ohne dabei die anti-realistische Ontologie zu akzeptieren. Es ist wahr, dass Kants Auflçsung der Antinomie den Begriff „Welt“ fr widersprchlich erklrt. Zu beachten ist aber wiederum, dass dieser nur unter der Annahme des TrI, insbesondere dessen anti-realistischer Ontologie, widersprchlich ist. 221 Fr den Terminus „strittige Klasse“, vgl. oben, 1.1. 222 Diese Maßnahme erscheint zunchst angesichts folgenden Umstandes als plausibel: Auch wenn der Realismus die Reihenthese impliziert, berechtigt dies allein nicht dazu, aus der Verneinung der Reihenthese die Ablehnung des Realismus fr jeden raumzeitlichen Gegenstand zu folgern. 223 Die Version des Anti-Realismus, die oben, Anm. 205, dargestellt wurde, darf nicht mit der fraglichen Variante der bloß-kosmologischen Interpretation verwechselt werden. Sie ist, wie gesagt, eine Version des Anti-Realismus, und hat nichts mit der Behauptung gemein, dass die Existenz empirischer Gegenstnde unabhngig von unserer Erkenntnis ist. – Die angeblich „realistische“ Interpretation von Abela
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Man kann nunmehr folgende Textpassage, die auf den ersten Blick die bloß-kosmologische Interpretation zu untersttzen scheint, ins rechte Licht rcken: „Nur in anderweitiger Beziehung, wenn eben diese Erscheinungen zur kosmologischen Idee von einem absoluten Ganzen gebraucht werden sollen, und, wenn es also um eine Frage zu tun ist, die ber die Grenzen mçglicher Erfahrung hinausgeht, ist die Unterscheidung derart, wie man die Wirklichkeit gedachter Gegenstnde der Sinne nimmt [nmlich ob sie als Erscheinungen oder als Dinge an sich zu erachten seien], von Erheblichkeit, um einem trglichen Wahne vorzubeugen, welcher aus der Mißdeutung unserer eigenen Erfahrungsbegriffe unvermeidlich entspringen muß.“ (A496 f./B524 f.)224
Da sich die bloß-kosmologische Interpretation als unhaltbar erwiesen hat, sollte nun diese Textpassage vielmehr folgendermaßen ausgelegt werden: Der TrI erzwingt in der Tat eine Revision der Ontologie raumzeitlicher Gegenstnde im Allgemeinen. Diese ontologische Revision tangiert aber unsere Behandlung der empirischen Aussagen nur peripher. 225 Ihr revisionrer Charakter tritt in den Vordergrund erst bei der kosmologischen Problematik, die „ber die Grenzen mçglicher Erfahrung hinausgeht“. Dies ist aber ganz anders als zu sagen, dass bezglich empirischer Gegenstnde zwischen Realismus und Anti-Realismus kein Unterschied besteht. Der Unterschied zwischen beiden, der bei der kosmologischen Problematik in den Vordergrund tritt, ist vielmehr, obgleich versteckterweise, bereits auf der Ebene der generellen Ontologie raumzeitlicher Gegenstnde vorhanden. Eben dieses Zusammenhangs wegen konnte Kant behaupten, dass sein TrI, der eine Ontologie raumzeitlicher Gegenstnde im Allgemeinen liefert, durch die Untersuchung der rational-kosmologischen Themen indirekt bewiesen wird.
2002 fllt mit dieser Version des Anti-Realismus zusammen; vgl. unten, 7.1.2 (B), Anm. 395. 224 Allison rekurriert auf diese Textpassage, um zu zeigen, dass die Antinomienlehre keine ontologische Konsequenz hinsichtlich empirischer Gegenstnde hat; vgl. ders. 2004, S. 395. 225 Es wird z. B. auch dieser ontologischen Revision gemß als unproblematisch anerkannt, dass ein Gegenstand existiert, ohne dass er von uns tatschlich wahrgenommen wird. Wie sehr der kantische Anti-Realismus unseren Common-Senseberzeugungen entgegenkommen kann, wird im Kapitel 7 erçrtert.
4.4 Noch ausstehende Diskussionspunkte
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4.4 Noch ausstehende Diskussionspunkte Ich beende dieses Kapitel mit der Erçrterung von Punkten, deren Explikation in diesem Zusammenhang sinnvoll erscheint: (A) Die Irrelevanz der Idealitt der Formen fr Kants Auflçsung der Antinomien, (B) ein sachliches Problem der kantischen Argumentation fr die Zurckweisung der Reihenthese und (C) die Indifferenz der bisherigen Diskussion bezglich der Problematik der Revision der Logik. (A) In 2.1 wurde darauf hingewiesen, dass der TrI durch zwei distinkte Sinnelemente charakterisiert ist, nmlich die Idealitt der Formen und die Idealitt der Gegenstnde.226 Das erste Sinnelement entspricht der Doktrin, dass der Raum, die Zeit und die Kategorien auf dem menschlichen Subjekt grnden und uns deswegen a priori zugnglich sind. Dies fhrt des Weiteren zu der Auffassung, dass die Gltigkeit der euklidischen Geometrie fr den wirklichen Raum oder der Satz der Kausalitt usf. a priori beweisbar ist. Das zweite Sinnelement hingegen entspricht der Auffassung, wie sie durch Kants Charakterisierung der Gegenstnde als „bloßer Vorstellungen“ suggeriert wird. Das Ergebnis der bisherigen Diskussion, dass der TrI ein Anti-Realismus ist, bezieht sich primr auf das zweite Sinnelement. Des Weiteren wurde in 2.1 suggeriert, dass es in der KdrV Argumentationen gibt, die sich vorrangig auf die Idealitt der Gegenstnde und nicht besonders auf die Idealitt der Formen beziehen. Nunmehr soll der angekndigte Nachweis dessen vorgebracht werden, dass Kants Auflçsung der Antinomien gerade eine derartige Argumentation ist. Kant lçst die Antinomien dadurch auf, dass er die Reihenthese zurckweist. Nun stellte sich durch Kants Argumentation dafr (vgl. oben, 4.3.1) heraus, dass die Idealitt der Formen dabei keine besondere Funktion erfllt. Dieser Umstand lsst sich wie folgt verdeutlichen: Einerseits ist die Idealitt der Formen fr diese Argumentation nicht notwendig, denn auch wenn man sie nicht billigt, kann man die Reihenthese schon allein mit dem anti-realistischem Argument zurckweisen. Anderseits ist die Idealitt der Formen allein auch nicht hinreichend, denn sofern der Realismus gebilligt wird, ist die Zustimmung zur Reihenthese 226 Dass die beiden inhaltlich unterschieden werden mssen, wurde bereits in 2.1 besttigt. Der Grund dafr war, dass das Implikationsverhltnis sich gegenseitig sprengt; die Idealitt der Gegenstnde, nmlich der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, impliziert nicht die Idealitt der Formen und auch nicht umgekehrt.
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ohnehin unumgnglich (vgl. 4.3.2), egal ob die Idealitt der Formen zustzlich anerkannt wird oder nicht. Daraus wird ersichtlich, dass die Idealitt der Formen fr die Zurckweisung der Reihenthese keine substantielle Funktion hat.227 Kant erwhnt zwar auch innerhalb des Antinomiekapitels „Raum“ und „Zeit“. Man muss aber hier darauf achten, dass solche Erwhnungen nicht automatisch garantieren, dass es bei ihnen um die Idealitt der Formen geht. – Eine Betrachtung folgender Textpassage macht diesen Punkt einsichtig: „Dagegen ist die empirische Synthesis und die Reihe der Bedingungen in der Erscheinung (die im Untersatze [des dialektischen Arguments] subsumiert wird,) notwendig sukzessiv und nur in der Zeit nacheinander gegeben; folglich konnte ich die absolute Totalitt der Synthesis und der dadurch vorgestellten Reihe hier nicht ebensowohl, als dort voraussetzten, [. . .].“ (A500/B528 f.)
Diese Textpassage gehçrt in den Kontext der Kritik des „dialektischen Arguments“ im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels. Der hier relevante Aspekt der „Zeit“ ist lediglich, dass die „empirische Synthesis“, d. h. unsere empirische Erkenntnis, nur „sukzessiv“ „in der Zeit“ stattfinden kann. Dies per se ist zwar eine triviale Feststellung (denn wie sonst kçnnte unsere empirische Erkenntnis berhaupt stattfinden?), es fhrt aber mit dem antirealistischen Argument des TrI kombiniert zu der schwerwiegenden Konsequenz, dass die „Reihe der Bedingungen“ nicht als eine absolute Totalitt existieren kann, wie in 4.3.1 dargestellt wurde. Zu beachten ist, dass die betreffende Trivialitt unabhngig davon behauptbar ist, ob man zustimmt oder nicht, dass die Zeit die Form unseres inneren Sinnes sei; Letzteres ist keine Trivialitt, sondern eine philosophisch interessante These, die wohl nicht von jeder mçglichen philosophischen Position gebilligt wird. Dies bedeutet aber, dass jene Trivialitt als solche von der Idealitt der Formen vçllig unabhngig ist. Es ist wohl wahr, dass Kant selbst der Ansicht ist, dass eben derselbe TrI, der in der Transzendentalen sthetik direkt bewiesen wurde, nun im Antinomiekapitel indirekt bewiesen wird (vgl. A506/B534; auch A490/ 227 Dieses Ergebnis steht in einem merkwrdigen Einklang mit Allen Woods Beurteilung, dass der TrI fr Kants Auflçsung der Antinomien nicht relevant ist (vgl. oben, Anm. 156). Er gelangt zu dieser Beurteilung eben deswegen, weil er – als Anhnger der metaphysischen (also realistischen) Zwei-Aspekte-Interpretation – Kants TrI von der anti-realistischen Ontologie fernhlt und somit lediglich die Idealitt der Formen als Bestandteil des TrI anerkennt. Sofern der TrI so verstanden wird, ist diese Beurteilung gut verstndlich, ja sogar unumgnglich, wie oben gezeigt wurde.
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B518). Dieser textliche Umstand aber invalidiert nicht die Unterscheidung von den zwei distinkten Sinnelementen des TrI. Er deutet allenfalls darauf hin, dass Kant glaubt, dass er in der Transzendentalen sthetik nicht nur die Idealitt der Formen, sondern zugleich auch die Idealitt der Gegenstnde bewiesen hat. Oder besser gesagt: Kant vermengt die beiden Idealitten einfach, ohne dabei den inhaltlichen Unterschied zwischen ihnen zu bercksichtigen. – Hier ist aber nicht der Ort, Kant deswegen zu kritisieren. In exegetischer Hinsicht kommt es vielmehr darauf an, festzuhalten, dass der TrI tatschlich zwei distinkte Sinnelemente beinhaltet und die Antinomienlehre ausschließlich die Idealitt der Gegenstnde behandelt. Die Bercksichtigung dieses Punktes ist eben darum von Belang, da er uns dazu hilft, den Gehalt des TrI przise zu begreifen.228 (B) In 4.3.1 wurde Kants Argumentation fr die Zurckweisung der Reihenthese dargestellt; sie negiert es in Rekurs auf ein anti-realistisches Argument, dass die absolute Totalitt der Bedingungsreihe gegeben werden kçnne. Die exegetische Angemessenheit dieser Darstellung wurde sichergestellt. Wie aber dort auch suggeriert wurde, haften an jener Argumentation noch sachliche Probleme. Die vollstndige Darstellung und Lçsung dieser Probleme werde ich in Kapitel 7 geben. Ich skizziere diese Probleme hier lediglich in aller Krze: (1) Es scheint selbst aus der Perspektive des Anti-Realismus kein prinzipielles Problem damit zu geben, eine Bedingungsreihe als die absolute Totalitt zu konzipieren, falls sie endlich ist. Was kraft jenes antirealistischen Arguments zurckgewiesen wird, ist nur die Alternative, dass die Bedingungsreihen aktual-unendlich sind. Im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels, um den es in 4.3.1 ging, bercksichtigt Kant diesen Punkt seltsamerweise gar nicht. – In Wahrheit schließt Kant die Alternative der Endlichkeit kraft eines metaphysischen Arguments aus, das nicht auf den Anti-Realismus zurckgreift. Bis aber ein derartiges Argument ergnzt wird, muss die in 4.3.1 wiedergegebene Zurckweisung der Reihenthese sachlich unzulnglich bleiben. 228 Das hiesige Ergebnis ist noch nicht dafr hinreichend, der „Short-Argument“Herausforderung von Karl Ameriks (vgl. oben, Anm. 59) komplett zu begegnen, denn es lsst noch die Mçglichkeit offen, dass die Argumentation, die die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit beweist, damit zusammen auch einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde rechtfertigt. Diese Mçglichkeit wird erst in 6.3 zurckgewiesen; vgl. unten, Anm. 350. Dasselbe gilt auch fr ein verwandtes Ergebnis in 5.2.4 (B) in Bezug auf den vierten Paralogismus (A).
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(2) In der bisherigen Diskussion ist noch nicht festgestellt worden, auf welche konkrete Version des Anti-Realismus Kant bei seiner Zurckweisung der Reihenthese rekurriert. Dieser Punkt ist in sachlicher Hinsicht wichtig fr den Erfolg der kantischen Auflçsung der Antinomien, weil nicht alle Versionen des Anti-Realismus dazu taugen. Wenn z. B. folgende Version (wie sie durch Kants Darstellung im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels nahegelegt wird) angenommen wird, erzwingt sie die Konsequenz, dass jede Bedingungsreihe jeweils endlich ist, was der kantischen Auflçsung der Antinomien zuwiderluft: Dass ein raumzeitlicher Gegenstand existiert (bzw. existierte), ist zum Zeitpunkt t der Fall gdw. seine Existenz bis t erkannt worden ist. Mit anderen Worten: Eine raumzeitbezgliche Aussage ist zu t wahr gdw. sie bis t verifiziert worden ist. Dieser Umstand spricht dafr, dass bis die kantische Version des AntiRealismus feststeht, es in sachlicher Hinsicht offen bleibt, ob Kants TrI wirklich dazu fhig ist, die Reihenthese zurckzuweisen. Die bisherige Diskussion hat diese Probleme zurckgestellt. Es ist aber hier zu betonen, dass sie durch die Anwesenheit dieser Probleme nicht beeintrchtigt wird. Denn ihr Ziel war, folgende zwei Punkte zu verdeutlichen; erstens, dass Kant bei seiner Zurckweisung der Reihenthese tatschlich auf einen Anti-Realismus rekurriert – obwohl diese Zurckweisung in sachlicher Hinsicht noch unzulnglich ist, – und zweitens, dass es in sachlicher Hinsicht unleugbar ist, dass der Realismus auf die Billigung der Reihenthese festgelegt ist, so dass Kants TrI zumindest irgendeine Version des Anti-Realismus annehmen muss, um die Reihenthese zurckzuweisen – auch wenn nicht alle Versionen des Anti-Realismus dazu taugen. Diese beiden Punkte sollten durch die Untersuchung in 4.3.1 und 4.3.2 hoffentlich hinreichend nachgewiesen worden sein. Die oben genannten sachlichen Probleme tangieren nicht die exegetische Angemessenheit der bisherigen Diskussion. – Dazu noch eine Ergnzung. (C) Dass Kants TrI ein Anti-Realismus ist, legt gemß der Grundtendenz des Anti-Realismus (vgl. 1.3) nahe, dass er hinsichtlich raumzeitbezglicher Aussagen das Bivalenzprinzip (oder den Satz von ausgeschlossenen Dritten) ablehnt. Ob dies tatschlich der Fall ist, ist in der bisherigen Diskussion noch nicht entschieden worden. Diese Unentschiedenheit bedeutet jedoch nicht eine Unzulnglichkeit der bisherigen Diskussion, sondern vielmehr einen Vorzug. Dies verdient eine gesonderte Betrachtung.
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Es ist zu betonen, dass ich die bisherige Diskussion wissentlich derart gefhrt habe, dass sie das Thema der Revision der Logik nicht berhrt (vgl. 4.2.1). Ich habe z. B. Kants Auflçsung der Zeit-Antinomie nicht folgendermaßen dargelegt: Der TrR gert in diese Antinomie, weil er den Satz vom ausgeschlossenen Dritten (bzw. die ganze traditionelle Logik) billigt; der TrI hingegen vermeidet sie, indem er ihn ablehnt.229 Im Gegenteil argumentierte ich vielmehr folgendermaßen, diesmal mithilfe des Terminus „Satz vom ausgeschlossenen Dritten“ ausgedrckt: Der TrR gert in die Zeit-Antinomie, weil er den Gegensatz von Thesis und Antithesis als kontradiktorisch, d. h., fr eine Instanz des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten hlt; der TrI hingegen vermeidet sie, indem er eben diesen Punkt verneint.230 Wie dadurch exemplifiziert ist, erbrachte die bisherige Diskussion per se keine explizite Infragestellung der Gltigkeit des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Dies erhellt, warum die bisherige Diskussion nicht mit dem Grund kritisiert werden kann, dass der Anti-Realismus den Satz vom ausgeschlossenen Dritten in Frage stelle, aber Kant nicht. Sie inkludiert nmlich nichts, was mit Kants Billigung dieser Schlussregeln kollidieren wrde. Sie hat ihre Ergebnisse eben aus Kants eigener Argumentation her gezogen, und zwar derart, dass sie auch mit der traditionellen Logik, die Kant sehr wahrscheinlich voraussetzt, vertrglich ist. Indem ich in diesem Kapitel bewusst vermied, auf das Thema der Revision der Logik einzugehen, verfolgte ich vielmehr das Ziel, die anti-realistische Interpretation des TrI in exegetisch unproblematischer Weise sicherzustellen. Es ist natrlich eine andere Frage, ob der TrI, den Kant durch die Antinomienlehre indirekt bewiesen hat, in der Tat den Satz vom ausgeschlossenen Dritten als allgemeingltig aufrecht erhalten kann. Das heißt: Kants unhinterfragtes Vertrauen in die traditionelle Logik (als Lehre des logischen Schließens) mag sich vielleicht gerade durch seine ontologische Argumentation im Antinomiekapitel als unhaltbar herausstellen. 229 Es gibt Kant-Interpreten, die tatschlich derart argumentieren; z. B. Brittan 1978 und Posy 1983. 230 Eine derartige Erklrung gilt allerdings nur fr die Zeit- und die vierte Antinomie, bei welchen es sich um nur eine einzige linienfçrmige Bedingungsreihe handelt; vgl. oben, 4.2.3.
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Kapitel 5 Anti-Realismus im vierten Paralogismus (A)
Im Kapitel 7 werde ich argumentieren, dass dies in der Tat der Fall ist. Bevor aber dieses Thema erçrtert wird, bleiben noch die Aufgaben bestehen, die im Voraus auf spezifisch exegetischer Ebene erledigt werden mssen; nmlich, erstens die anti-realistische Interpretation durch einen anderen positiven Beleg noch zu bekrftigen, und zweitens nachzuweisen, dass sie auch mit Theoriestcken der KdrV, die vielmehr den Realismus nahelegen, vertrglich gemacht werden kann. Werden diese Aufgaben erfllt, wird die anti-realistische Interpretation die vollstndige exegetische Bewhrung erhalten.
Kapitel 5 Anti-Realismus im vierten Paralogismus (A) Das Ziel dieses Kapitels ist es, die anti-realistische Interpretation des TrI durch eine Untersuchung des vierten Paralogismus (A) zu untermauern. Es ist eigentlich nicht schwer zu zeigen, sogar eher offensichtlich, dass der vierte Paralogismus (A) eine anti-realistische Deutung nahelegt. Trotzdem gibt es Interpreten, die ihn fr vertrglich mit dem Realismus halten. In der folgenden Diskussion geht es also hauptschlich darum, die Unhaltbarkeit einer solchen Deutung offen zu legen. Nachzuweisen ist nmlich, dass der vierte Paralogismus (A), entgegen der Erwartung von realistischen Kant-Interpreten, folgerichtig nur anti-realistisch ausgelegt werden kann. Um dies zu begrnden, wird eine ausfhrliche Diskussion erfordert. Es gibt einen Sachverhalt, der vor der konkreten Textanalyse kurz besprochen werden sollte: Kant hat bekanntlich den vierten Paralogismus (A) in der Zweitauflage der KdrV gestrichen.231 Ist dies ein Indiz dafr, dass er die Position, die er im vierten Paralogismus (A) vertreten hatte, spter als inadquat preisgegeben hat? Es gibt einen exegetischen Grund, der deutlich dagegen spricht: Kant ußert explizit, dass zwischen den beiden Auflagen der KdrV keine wesentliche Abweichung besteht.232 Wenn diese ußerung Kants ernst zu 231 Der vierte Paralogismus auf der Zweitauflage handelt von einem ganz anderen Thema, ob nmlich das Selbstbewusstsein auch ohne Dinge außer dem Bewusstsein mçglich ist (vgl. B409). Das Thema der Widerlegung des Außenweltskeptizismus wird zwar von der Widerlegung des Idealismus (B) bernommen, aber die dortige Argumentation ist grndlich anders als die des vierten Paralogismus (A); dies erçrtere ich in 6.1. 232 „In den Stzen selbst und ihren Beweisgrnden, imgleichen der Form sowohl als der Vollstndigkeit des Plans, habe ich nichts zu ndern gefunden; [. . .]“
5.1 Ausarbeitung der Frage
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nehmen ist, kann die exegetische Relevanz des vierten Paralogismus (A) nicht geleugnet werden. Ich behaupte nicht kategorisch, dass dieses Argument zwingend ist. Dementsprechend rume ich gerne einen Vorbehalt ein: Die Begrndung der anti-realistischen Interpretation in diesem Kapitel behlt ihre Kraft nur unter der Voraussetzung, dass Kant, so wie er es selbst ußert, seine Position zwischen den beiden Auflagen nicht wesentlich gendert hat. Indessen steht zumindest soviel fest: Wer die exegetische Relevanz des vierten Paralogismus (A) verneinen mçchte, muss den Wandel von Kants Position exegetisch belegen, und zwar entgegen seiner expliziten Verneinung derselben; dafr ist es ohnehin unzulnglich, bloß auf das Fehlen des vierten Paralogismus (A) in der Zweitauflage hinzuweisen. – Mit dieser Einschrnkung des Geltungsanspruchs der hiesigen Untersuchung beabsichtige ich nmlich, die Beweislast auf die Seite der Leugner der Relevanz des vierten Paralogismus (A) zu verlagern. Ich kann mich hier mit diesem eingeschrnkten Ergebnis zufrieden geben, weil die anti-realistische Interpretation schon durch die Antinomienlehre ohne eine solche Einschrnkung begrndet wurde. Da außerdem viele Kant-Interpreten verstndlicherweise nicht so radikal sind, die Relevanz des vierten Paralogismus (A) gnzlich zu verneinen, drfte die nachfolgende Untersuchung wohl fr solche Interpreten ihre komplette Beweiskraft behalten. Dieses Kapitel hat drei Abschnitte. Im Abschnitt 5.1 wird das Ziel der Hauptargumentation des vierten Paralogismus (A) erklrt und die Aufgabe dieses Kapitels noch konkreter dargelegt. Ein berblick der nachfolgenden Untersuchung wird am Ende dieses Abschnitts gegeben. 5.1 Ausarbeitung der Frage Im vierten Paralogismus (A) wird ein Skeptizismus hinsichtlich rumlicher Gegenstnde thematisiert. Diesen nennt Kant dort den „empirischen Idealismus“ und, noch konkreter, den „skeptischen Idealismus“. Da aber der erstere eigentlich eine Gattung bezeichnet, die außer dem letzteren auch
(BXXXVII). „[. . .] meiner, wie ich hoffe, jetzt faßlicheren Darstellung [der zweiten Auflage] [. . .], die im Grunde in Ansehung der Stze und selbst ihrer Beweisgrnde schlechterdings nichts verndert, [. . .]“ (BXLII). „Dieser kleine Verlust, der ohnedem, nach jedes Belieben, durch Vergleichung mit der ersten Auflage ersetzt werden kann, [. . .]“ (ibid.).
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Kapitel 5 Anti-Realismus im vierten Paralogismus (A)
den „dogmatischen Idealismus“ unter sich hat (vgl. unten, 5.2.3), spreche ich fortan vom „skeptischen Idealismus“ statt vom „empirischen“. Der skeptische Idealismus behauptet, dass die Existenz rumlicher Gegenstnde „zweifelhaft“ ist (A367); Kants „empirischer Realismus“ hingegen behauptet, dass wir der Existenz rumlicher Gegenstnde gewiss sein kçnnen (vgl. oben, 2.3 (A)). – Ich werde in 5.2.3 zeigen, dass diese Charakteristik die definitorische Bestimmung des „skeptischen Idealismus“ erschçpft. Indessen setze ich dies bis dahin nicht voraus. Der „skeptische Idealismus“ soll also vorlufig derart verstanden werden, dass er in jedem Fall den betreffenden Skeptizismus inkludiert, aber mçglicherweise auch andere Implikationen haben mag. Es ist zwar nicht ganz falsch zu sagen, dass es im vierten Paralogismus (A) um die Widerlegung des skeptischen Idealismus geht. Dies ist aber nur die halbe Wahrheit. Die dortige Argumentation lautet vielmehr folgendermaßen: Kant stellt fest, dass der Ursprung des skeptischen Idealismus gerade der TrR ist, und erklrt im Kontrast dazu, dass (und wie) sein TrI den skeptischen Idealismus vermeidet und den empirischen Realismus ermçglicht (vgl. A371 – 3). Demnach soll Folgendes nachgewiesen werden: Der TrR fhrt unvermeidlich zum skeptischen Idealismus; dieser kann nur durch den TrI vermieden werden. Diese Argumentation hat eine bemerkenswerte Verwandtschaft mit dem indirekten Beweis des TrI im Antinomiekapitel. Nur dass der skeptische Idealismus, anders als die Antinomien, in sich keinen Widerspruch beinhaltet, so dass die betreffende Argumentation nicht stricto sensu als Beweis des TrI fungiert.233 Dennoch ist ein solcher Skeptizismus immerhin eine schwer hinzunehmende Konsequenz, deren Vermeidung wnschenswert ist. Hieraus ergibt sich wiederum ein gutes Motiv, dem TrR den TrI vorzuziehen. – Wegen dieses Umstandes bezeichne ich diesen Argumentationstyp als „indirekte Rechtfertigung“.
233 Vgl. Davidson 1990, S. 302 f. Es gibt jedoch in Wirklichkeit keinen Realisten (Davidson selbst eingeschlossen), der sich bloß damit zufrieden gibt, die Herausforderung des Skeptizismus als ontologisch/wahrheitstheoretisch irrelevant zu erledigen; vgl. Devitt 1991, Kap. 5, Alston 1996, Kap. 3, und Willaschek 2003, Kap. IV.
5.1 Ausarbeitung der Frage
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Dass Kant selbst im vierten Paralogismus (A) intendiert, eine indirekte Rechtfertigung des TrI vorzunehmen,234 zeigt sich z. B. in folgender Textpassage: „Wenn wir ußere Gegenstnde fr Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmçglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns bekommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung sttzen, die in uns ist. [. . .] Also nçtigt uns der skeptische Idealism, die einzige Zuflucht, die uns brig bleibt, nmlich zu der Idealitt aller Erscheinungen zu ergreifen, [. . .].“ (A378)
Hier wird gesagt: Durch den Nachweis, dass der TrR zum skeptischen Idealismus fhren muss, erweist sich der TrI (die „Idealitt aller Erscheinungen“) als die zu begnstigende Position (sogar als die „einzige Zuflucht“). Wegen dieser Rolle bezeichnet Kant skeptische Idealisten auch als „Wohltter der menschlichen Vernunft“ (A377). Ich fge noch zwei Bemerkungen ber diese indirekte Rechtfertigung des TrI bei: (1) Eine Einschrnkung ist nçtig: Es gibt eine Variante des TrR, die (auch Kant zufolge) nicht zum skeptischen Idealismus fhrt; nmlich diejenige, welche die Existenz rumlicher Gegenstnde nicht bloß „bezweifelt“, sondern vielmehr gnzlich „leugnet“; diese Variante des TrR wird „dogmatischer Idealismus“ genannt (vgl. A377). In diesem Fall kann der Skeptizismus ber rumliche Gegenstnde verstndlicherweise nicht vorkommen. Trotz dieser Einschrnkung kçnnte man zumindest so viel behaupten: Nach Kant luft jede mçgliche Variante des TrR mit Ausnahme des dogmatischen Idealismus unvermeidlich auf den skeptischen Idealismus hinaus. Kants Argumentation im vierten Paralogismus (A) hat tatschlich diese starke Konsequenz, wie in 5.2.1 gezeigt wird.235 – Der Prgnanz zuliebe spreche ich in diesem Kapitel (außer in 5.2.3, wo der dogmatische Idealismus diskutiert wird) einfach vom „TrR“, damit meine ich aber den TrR in dieser Einschrnkung. 234 Diese Sachlage ist in der Literatur selten reflektiert; Stroud 1984 (Kap. 4) und Klemme 1995 (S. 343) sind Ausnahmen. 235 Allison behauptet, dass es noch weitere Varianten des TrR gibt, die nicht zum skeptischen Idealismus fhren mssen, wie z. B. die Positionen Newtons und Leibniz’; vgl. ders. 2004, S. 25. Dagegen muss gesagt werden: Dass Newton und Leibniz den skeptischen Idealismus weder intendierten noch akzeptierten, ist wohl wahr, aber hier irrelevant. Es kommt hier vielmehr darauf an, dass ihre Positionen, entgegen ihren eigenen Ansichten, auf den skeptischen Idealismus hinauslaufen mssen (angenommen, Kants Argumentation sei schlssig).
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(2) Daraus, dass der vierte Paralogismus (A) eine indirekte Rechtfertigung des TrI liefern soll, ergeben sich folgende zwei Erfolgsbedingungen fr die dortige Argumentation, die zu denjenigen fr den indirekten Beweis des TrI im Antinomiekapitel parallel laufen (vgl. 4.1.2). Bedingung (a): Die Teilargumentation der indirekten Rechtfertigung, die den skeptischen Idealismus als unvermeidliche Konsequenz des TrR erweisen soll, darf nicht auf diejenigen Argumente rekurrieren, die nur aufgrund des TrI akzeptabel sind; z. B., dass Dinge an sich unerkennbar seien oder dass die Kategorie der Kausalitt nicht auf Dinge an sich angewandt werden kçnne. Jene Teilargumentation muss vielmehr enthllen, dass der TrR gerade seines eigenen Charakters wegen in den skeptischen Idealismus gert.236 Bedingung (b): Diese Teilargumentation muss ebenfalls, zumindest unter Annahme des TrR, vollkommen stichhaltig sein. – Sonst kçnnte sie nicht nachweisen, dass der Ursprung des skeptischen Idealismus gerade der TrR als solcher ist und dieser folglich durch den TrI ersetzt werden sollte. Ob Kants eigene Argumentation diese Erfolgsbedingungen tatschlich erfllt oder nicht, kann man in sachlicher Hinsicht in Frage stellen. Die Bercksichtigung derselben ist aber eben dafr erforderlich, seine Argumentation korrekt zu verstehen. Nach dieser Vorbereitung kann die Aufgabe der nachfolgenden Untersuchung genauer gefasst werden. In 5.2 wird zunchst unter der Annahme, dass Kants Argumentation fr die indirekte Rechtfertigung des TrI im vierten Paralogismus (A) schlssig sei, herausgearbeitet, welches spezifische Sinnelement des TrR fr den skeptischen Idealismus verantwortlich ist, mithin von Kants TrI abgelehnt werden muss. Ich werde zeigen, dass dieses Element nichts Anderes als der Realismus rumlicher Gegenstnde (im Sinne der vorliegenden Abhandlung) ist. Damit wird festgestellt, dass die fr diese indirekte Rechtfertigung relevante Sinnkomponente des TrI ein Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde ist. Dadurch erhlt meine anti-realistische In236 Den TrI im vierten Paralogismus (A) vorauszusetzen, ist zwar an sich nicht illegitim, weil Kant ihn schon in der Transzendentalen sthetik direkt bewiesen hat. Zu beachten ist jedoch, dass diese Voraussetzung nicht im Kontext der indirekten Rechtfertigung des TrI verwendet werden kann, da dies auf einen bloßen Zirkelschluss hinausliefe.
5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus
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terpretation durch den vierten Paralogismus (A) noch einen positiven sowie selektiven Beleg. Es ist aber leider nicht zu leugnen, dass Kants dortige Argumentation sachlich betrachtet unhaltbar ist. Und dies ist nicht etwa deswegen, weil sie nicht stichhaltig genug ist, um gegenwrtige Erkenntnistheoretiker zu berzeugen, sondern vielmehr, weil ihr ein fataler Defekt anhaftet, den selbst Sympathisanten der Grundstrategie der skeptizistischen Infragestellung des Realismus nicht bersehen kçnnen. In 5.3 verdeutliche ich, in welchem genauen Punkt sie defekt ist, und versuche, sie zu einer ordentlichen Argumentation zu rekonstruieren, indem ich eine sachliche berlegung sowie Kants eigene, an weiteren Stellen ausgefhrte berlegungen mit einbeziehe. Eins muss an dieser Stelle aber betont werden: Dass Kants eigene Argumentation sachlich defekt ist, bedeutet nicht, dass sie nicht als exegetischer Beleg fr die anti-realistische Interpretation dient. Sie informiert uns ohnehin darber, was und wie Kant tatschlich gedacht hat. Gerade dies ist das Anliegen der Exegese, somit auch der Debatte zwischen der realistischen und der anti-realistischen Kant-Interpretation. – Und wenn zudem noch nachgewiesen wird, dass eine alternative Argumentation, die Kants dortige Hauptabsicht erfllt, angeboten werden kann, drfte wohl dadurch auch die systematische Relevanz des vierten Paralogismus (A) fr die KdrV noch bekrftigt werden.237 5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus zur Begrndung der anti-realistischen Interpretation Wie eingangs erwhnt, ist es eigentlich leicht zu zeigen, dass der vierte Paralogismus (A) eine anti-realistische Deutung nahelegt. Was ich in diesem Abschnitt zu bewhren versuche, ist eine noch strkere These: Der vierte Paralogismus (A), vor allem seine Hauptargumentation, erlaubt keine realistische Lesart, so dass er in jedem Fall anti-realistisch gedeutet werden muss. Eben um dies nachzuweisen, wird eine ausfhrliche und sorgfltige Diskussion erfordert.
237 Ich werde außerdem in 6.1 zeigen, dass die Widerlegung des Idealismus (B), Kants Konzeption des philosophischen Beweises zufolge, nicht als Ersatz des vierten Paralogismus (A) dient, sondern vielmehr durch eine solche Argumentation, wie sie in diesem typischerweise prsentiert wird, ergnzt werden muss.
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Dieser Abschnitt hat vier Unterabschnitte: In 5.2.1 stelle ich, zunchst zur Vorbereitung, Kants dortige Argumentation fr die indirekte Rechtfertigung des TrI schematisch dar, ohne dabei auf interpretatorisch besonders umstrittene Diskussionspunkte einzugehen. Ich beabsichtige hiermit, die basale Struktur der betreffenden Argumentation auf einer weniger kontroversen Ebene festzustellen, um die exegetische Grundlage fr die nachfolgende Diskussion des umstrittenen Themas einzurichten. Dadurch wird zunchst konstatiert: Der Ursprung des skeptischen Idealismus ist die Annahme des TrR, dass rumliche Gegenstnde im transzendentalen Sinne ußerlich seien. Es stellt sich dann die Frage, was der Terminus „im transzendentalen Sinne ußerlich“ bedeutet. In 5.2.2 beschftige ich mich mit dieser Frage und zeige, dass die betreffende Annahme des TrR nichts Anderes als der Realismus rumlicher Gegenstnde (im Sinne der vorliegenden Abhandlung) ist. Der skeptische Idealismus ist nmlich, Kants Argumentation nach, insofern unvermeidlich, als der Realismus gebilligt wird. Daraus folgt: Kants Billigung des Anti-Realismus, die seine Darstellung suggeriert, wird nicht etwa durch eine unglckliche Ausdrucksweise irrefhrenderweise nahegelegt, sondern ist gerade argumentativ unentbehrlich fr seine Widerlegung des skeptischen Idealismus im vierten Paralogismus (A). Indessen erregt dieses Ergebnis wohl den Verdacht, dass eine solche anti-realistische Interpretation des vierten Paralogismus (A) nur dazu fhrt, Kants TrI zu einem „materialen Idealismus“ (bzw. Idealismus la Berkeley) herabzumindern. In 5.2.3 werde ich dagegen zeigen, dass dieser Verdacht nur auf einem Missverstndnis des von Kant abgelehnten „Idealismus“ beruht. In 5.2.4 erçrtere ich dann zwei noch ausstehende exegetische Diskussionspunkte des vierten Paralogismus (A). 5.2.1 Schematische Darstellung der Hauptargumentation (Argumentation K) Kant legt zuerst ohne Erwhnung des TrR eine Argumentation vor, durch die der skeptische Idealismus als zwangslufig erscheint. Sie wird am Anfang des vierten Paralogismus (A) vereinfacht in Form des Syllogismus, danach im 1. und 2. Absatz der „Kritik des vierten Paralogismus der transzendentalen Psychologie“ (A367 f.) noch ausfhrlicher dargestellt. Betrachten wir die letztere Darstellung.238
238 Der ersteren Darstellung haftet ein interpretatorisches Problem an, das im Zu-
5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus
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Die Argumentation lsst sich wie folgt zusammenfassen (fortan: „Argumentation K“): Stufe 1: „Wir kçnnen mit Recht behaupten, daß nur dasjenige, was in uns selbst ist, unmittelbar wahrgenommen werden kçnne“. Stufe 2: [Skeptische Idealisten nehmen an:] Rumliche Gegenstnde sind „in intellektueller Bedeutung“ außer uns. – Die „intellektuelle Bedeutung“ entspricht dem „transzendentalen Sinn“ in A373.239 Stufe 3: Aus Stufe 1 und 2 wird gefolgert, dass rumliche Gegenstnde nicht unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen. Stufe 4: Was nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann, kann nur vermittelst des Kausalschlusses vom direkt Wahrgenommenen zu seiner bestimmten Ursache erkannt werden (falls es berhaupt erkennbar ist). Stufe 5: Der Kausalschluss ist aber „jederzeit unsicher“. Stufe 6: Aus Stufe 3, 4 und 5 wird gefolgert, dass die Erkenntnis der Existenz rumlicher Gegenstnde zweifelhaft ist, was der skeptische Idealismus behauptet. Stufe 3 und 6 sind bloß logische Konsequenzen aus den vorigen Stufen, deshalb zumindest in argumentativer Hinsicht unproblematisch. Stufe 1, 2, 4 und 5 stellen hingegen substantielle Voraussetzungen dar, deren Legitimitt mçglicherweise in Frage zu stellen ist. Es kommt nun darauf an, welche Voraussetzung Kant als die fr den TrR eigentmliche betrachtet. Dies erlutert er in folgender Textpassage am ausfhrlichsten: „Dagegen kommt der transzendentale Realismus notwendig in Verlegenheit, und sieht sich gençtigt, dem empirischen Idealismus Platz einzurumen, weil er die Gegenstnde ußerer Sinne fr etwas von den Sinnen selbst Unterschiedenes und bloße Erscheinungen fr selbstndige Wesen ansieht, die sich außer uns befinden; da denn freilich, bei unserem besten Bewußtsein unserer Vorstellung von diesen Dingen, noch lange nicht gewiß ist, daß, wenn die Vorstellung existiert, auch der ihr korrespondierende Gegenstand existiere; dahingegen in unserem System diese ußeren Dinge, die Materie nmlich, in allen ihren Gestalten und Vernderungen, nichts als bloße Erscheinungen, d.i. Vorstellungen in uns sind, deren Wirklichkeit wir uns unmittelbar bewußt werden“. (A371 f.; vgl. auch A372) sammenhang mit den anderen Paralogismen interessant ist; vgl. Powell 1988. Dieses ist aber fr meine Fragestellung nicht relevant. 239 Synonyme Ausdrcke sind „nach reinen Verstandesbegriffen außer uns“ (A369), „an sich selbst ußere“ (A370), „im transzendentalen Verstande außer uns“ (A372) und „außer uns (in strikter Bedeutung)“ (A375 f.).
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Der Schwerpunkt der hiesigen Entgegensetzung von TrR und TrI ist auf die Frage gelegt, ob rumliche Gegenstnde als selbststndige Entitten außer uns, oder als Vorstellungen in uns erachtet werden sollen. Der TrR ist zur ersten Alternative verpflichtet, eben deswegen folgt aus ihm der skeptische Idealismus. Der TrI hingegen steht fr die zweite Alternative, der gemß rumliche Gegenstnde unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen; dies ist, Kants hiesiger Darstellung zufolge, auch hinreichend fr die Ermçglichung des empirischen Realismus. Es bedarf hier einer Zwischenbetrachtung des „empirischen“ und „transzendentalen Sinns“ der Inner-/ußerlichkeit. Im empirischen Sinne ußerliche Gegenstnde sind, A373 zufolge, „Dinge [. . .], die im Raume anzutreffen sind“. Dadurch wird zunchst klar, dass der Ausdruck „in/ außer uns“ im obigen Zitat nicht im empirischen, sondern im transzendentalen Sinn verstanden werden soll; sonst wrde Kants TrI zu der Ungereimtheit fhren, dass rumliche Gegenstnde nicht im Raum seien. Diese Betrachtung erlaubt, Kants Behauptung im obigen Zitat weiter zu przisieren: Der TrR fhrt zum skeptischen Idealismus, weil er empirisch ußerliche (d. h. rumliche) Gegenstnde als auch im transzendentalen Sinne ußerlich erachtet. Der TrI hingegen ermçglicht den empirischen Realismus, indem er sie als transzendental innerlich erachtet. Was die transzendentale Inner-/ußerlichkeit genau bedeutet, ist das Thema des nchsten Abschnitts. Diese schematische Zusammenfassung macht dennoch schon so viel deutlich: Was Kant als fr den skeptischen Idealismus besonders verantwortlich erachtet, ist die Stufe 2. Es ist berdies nachzuweisen, dass die anderen Stufen, mit adquater Przisierung, auch von Kants TrI akzeptiert werden. Ich berprfe sie im Einzelnen dahingehend. Ad Stufe 1: Sofern der hiesige Ausdruck „in uns“ im transzendentalen Sinne verstanden wird, wird diese Stufe auch vom TrI akzeptiert.240 Es ist sogar gerade Kants Strategie gegen den skeptischen Idealismus, rumliche Gegenstnde als transzendental innerlich zu erachten.241 – Der TrR hin240 Vgl. Kants Ausdruck der Stufe 1: „Wir kçnnen mit Recht behaupten“; vgl. auch Heidemann 1999, S. 56 ff. 241 Vgl. z. B. Folgendes: „Der transzendentale Idealist kann [. . .] die Existenz der Materie einrumen, ohne aus dem bloßen Selbstbewußtsein hinauszugehen, und etwas mehr, als die Gewißheit der Vorstellungen in mir, mithin das cogito, ergo sum, anzunehmen“ (A370).
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gegen unterscheidet nicht zwischen dem empirischen und dem transzendentalen Sinn. Das empirisch ußerliche wird demnach mit dem transzendental ußerlichen gleichgesetzt. Ad Stufe 4: In der „Betrachtung ber die Summe der reinen Seelenlehre“ behauptet Kant, dass drei „Systeme“, und keine weiteren, mçglich sind, die im Rahmen des TrR (bzw. „transzendentalen Dualism“) die Mçglichkeit der ußeren Erkenntnis erklren; nmlich „die [Systeme], des physischen Einflusses, der vorher bestimmten Harmonie und der bernatrlichen Assistenz“ (A389 f.). Das erste wird auf dieser Stufe erçrtert, aber die anderen werden innerhalb des vierten Paralogismus (A) gar nicht bercksichtigt.242 Dies ist jedoch fr die indirekte Rechtfertigung des TrI nicht besonders schdlich, weil man folgendermaßen argumentieren kann: Die letzten zwei Systeme setzen voraus, dass die Existenz Gottes, der fr die geforderte Harmonie bzw. Assistenz sorgt, bewiesen wird (und zwar bereits vor der Erklrung, dass ußere Erkenntnis mçglich ist). Die Unmçglichkeit eines solchen Beweises wird aber im Kapitel „Ideal der reinen Vernunft“ festgestellt, und zwar ohne besonderen Rekurs auf den TrI.243 Demnach bleibt der physische Einfluss als die einzige untersuchenswerte Alternative. Wenn man berdies mit Kant annimmt, dass die oben genannten drei Systeme tatschlich die mçglichen Alternativen erschçpfen, lsst sich schließen: Dass der skeptische Idealismus im Rahmen des physischen Einflusses unvermeidlich sei, bedeutet zugleich, dass er unter Annahme des TrR berhaupt unvermeidlich sei. Die Argumentation K beweist explizit das Erstere und dadurch bewhrt sich auch das Letztere. Demnach hat die Argumentation K wirklich diese strkere Konsequenz, die zur indirekten Rechtfertigung des TrI fungiert. Lucy Allais behauptet, Kant verneine, dass „experience is immediately of what is inner or mental“ (dies. 2007, S. 468, Anm. 46). Sie bersieht hierbei (oder sieht darber absichtlich hinweg), dass Kant zumindest im vierten Paralogismus (A) bejaht, dass dies fr das Innerliche im transzendentalen Sinne gilt. 242 In A390 f. findet sich zwar eine Kritik an diesen zwei Systemen. Da sie aber die Legitimitt des TrI voraussetzt, ist sie fr die Argumentation K, die die indirekte Rechtfertigung des TrI liefern soll, nicht verfgbar. 243 Die Option der pretablierten Harmonie ohne Gott ist in diesem Kontext zwecklos. Denn die erkenntnistheoretische Ntzlichkeit des Rekurses auf die pretablierte Harmonie liegt gerade darin, dass die Existenz Gottes unabhngig von der empirischen Erkenntnis bewiesen wird (z. B. durch den ontologischen Beweis), und der so bewiesene Gott die Mçglichkeit dieser garantiert (z. B. dank seines begrifflich notwendigen Wohlwollens).
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Ad Stufe 5: Die These dieser Stufe ist, dass der Kausalschluss „jederzeit unsicher“ ist. Kants Begrndung dafr lautet, dass dies so sei, „weil die Wirkung aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann“ (A368; vgl. auch A372).
Demnach soll die „Unsicherheit“ des betreffenden Kausalschlusses nur soviel wie Fallibilitt desselben bedeuten. So verstanden – und Kant bringt ohnehin keine andere Begrndung dafr vor – bezeichnet diese Stufe nur eine selbstverstndliche Tatsache. Dies spricht dafr, dass Kant der Ansicht ist, dass die These dieser Stufe allgemein, also auch im Rahmen des TrI, gelte. – In 5.3.1 werde ich zeigen, dass gerade dieser Punkt die Argumentation K sachlich unhaltbar macht. Dies ndert aber nichts an der Tatsache, dass Kant tatschlich dieser Ansicht ist, und es ist diese Tatsache, die im hiesigen exegetischen Kontext relevant ist. Es ist besonders zu betonen, dass Kant hierbei nicht dahingehend argumentiert, dass der betreffende Kausalschluss besonders unter der Voraussetzung des TrR unsicher sein msse, weil dieser rumliche Gegenstnde als Dinge an sich ansehe, aber die Kategorie der Kausalitt auf Dinge an sich nicht angewandt werden kçnne.244 Es ist wohl verstndlich, warum Kant nicht so verfhrt. Denn dafr msste er auf ein vom TrI abhngiges Ergebnis zurckgreifen, wodurch das Projekt der indirekten Rechtfertigung des TrI zerstçrt wrde. Daraus folgt: Es ist gerade und ausschließlich die Stufe 2, die Kant in der Argumentation K fr fragwrdig hlt. Mit anderen Worten: Kants Ansicht nach ist gerade diese Stufe der Ursprung des skeptischen Idealismus, und zwar eben in dem starken Sinne, dass dieser unvermeidlich ist, sofern die Stufe 2 zugestanden wird.245 244 Bird 2005 (S. 640 f.) unterstellt dem vierten Paralogismus (A) eine solche Argumentation. Dies fhrt ihn zu einer grndlichen Missreprsentation der Argumentationsstruktur des vierten Paralogismus (A). 245 Kalter 1975 ist der Ansicht, dass der vierte Paralogismus (A) so inkonsequent ist, dass er besser als eine bedenkenlose Zusammenstellung von zu verschiedenen Zeiten niedergeschrieben Textstcken gedeutet werden sollte. Diese Einschtzung wird durch die bisherige Betrachtung zurckgewiesen. Kalters negative Einschtzung entspringt vermutlich daraus, dass er die Struktur der indirekten Rechtfertigung des TrI bersehen hat. Eben deswegen stellt er die verfehlte Frage, ob so etwas wie die Argumentation K Kants eigener Ansicht entspricht oder nur eine bliche cartesianische Argumentation wiedergibt (vgl. ibid., S. 157 – 9). Kant akzeptiert die Argumentation K natrlich nicht in toto. Er ist jedoch der Ansicht, dass sie unter der Annahme des TrR schlssig ist.
5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus
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5.2.2 Realismus als der Ursprung des skeptischen Idealismus Im letzten Unterabschnitt wurde konstatiert: (1) Die Argumentation K (angenommen, jede ihrer Stufen sei schlssig) liefert tatschlich eine indirekte Rechtfertigung des TrI; sie beweist nmlich, dass der TrR zum skeptischen Idealismus fhren muss. (2) Der Ursprung des skeptischen Idealismus ist die Annahme des TrR, dass rumliche Gegenstnde transzendental ußerlich sind; Kants anti-skeptizistische Strategie besteht darin, diese Annahme abzulehnen und rumliche Gegenstnde als transzendental innerlich zu erachten. Es muss nunmehr geklrt werden, was unter der transzendentalen Inner-/ußerlichkeit zu verstehen ist. Gerade dies ist der entscheidende, und zugleich besonders umstrittene Punkt bei der Interpretation des vierten Paralogismus (A). Ich werde zeigen, dass die betreffende Annahme des TrR gerade dem Realismus rumlicher Gegenstnde entspricht. Um dies entgegen mçglichen Einwnden vonseiten der realistischen Interpretation festzustellen, klre ich im Nachfolgenden die Implikationen, die Kant der transzendentalen Inner-/ußerlichkeit aufldt, Schritt fr Schritt. Es sei daran erinnert, warum der Argumentation K zufolge die Erkenntnis des transzendental ußerlichen zweifelhaft sein muss. Das ist zunchst deswegen so, weil ein solcher Gegenstand nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann (Stufe 3). Um also die Bedeutung der transzendentalen Inner-/ußerlichkeit noch detaillierter zu begreifen, muss klargestellt werden, was genau Kant hier mit der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit meint. Dafr muss zuerst beachtet werden, dass man von „Unmittelbarkeit“ in verschiedenen Kontexten sprechen kann.246 Zum Beispiel: ber das momentane Befinden eines Freundes von diesem mndlich unterrichtet zu werden, ist wohl eine „unmittelbare“ Kenntnisnahme im Vergleich zu derjenigen vermittelst eines Briefs von ihm. Indessen kçnnte auch das Letztere als „unmittelbar“ bezeichnet werden, im Vergleich mit derjenigen durch Hçrensagen. Es ist nicht nçtig, alle mçglichen Kontexte bezglich der „Unmittelbarkeit“ zu bercksichtigen.247 Einzig relevant ist hier, in welchem Kontext 246 Es sei denn, dass von einer schlechthinnigen Unmittelbarkeit die Rede ist; vgl. unten, 6.1, Anm. 319. 247 Eine ausfhrliche Erçrterung dieses Themas findet man z. B. in Austin 1962, Kap. 2.
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Kapitel 5 Anti-Realismus im vierten Paralogismus (A)
Kant selbst, und zwar im vierten Paralogismus (A), von „unmittelbarer Wahrnehmung“ spricht. – Dieser Punkt verdient eine besondere Betonung, zumal er von realistischen Kant-Interpreten manchmal ignoriert wird.248 Es ist ohnehin eine Implikation der kantischen „unmittelbaren Wahrnehmung“, dass diese nicht durch einen Kausalschluss vermittelt ist. Dies schçpft jedoch noch nicht aus, was Kant im vierten Paralogismus (A) im Blick hat; vgl. z. B. folgende Textpassage: „Denn ich bin mir doch meiner Vorstellungen bewußt; also existieren diese und ich selbst, der ich diese Vorstellungen habe. Nun sind aber ußere Gegenstnde (die Kçrper) bloß Erscheinungen, mithin auch nichts anderes, als eine Art meiner Vorstellungen, deren Gegenstnde nur durch diese Vorstellungen etwas sind, von ihnen abgesondert aber nichts sind. Also existieren ebensowohl ußere Dinge, als ich Selbst existiere, und zwar beide auf das unmittelbare Zeugnis meines Selbstbewußtseins, [. . .]. Ich habe in Absicht auf die Wirklichkeit ußerer Gegenstnde ebensowenig nçtig zu schließen, als in Ansehnung der Wirklichkeit des Gegenstandes meines inneren Sinnes, (meiner Gedanken), denn sie sind beiderseitig nichts als Vorstellungen, deren unmittelbare Wahrnehmung (Bewußtsein) zugleich ein gengsamer Beweis ihrer Wirklichkeit ist.“ (A370 f., kursiv von K.C.)
Hier wird der Status rumlicher Gegenstnde mit dem der Gegenstnde des inneren Sinnes parallelisiert (vgl. auch A385 f.). Kant behauptet nmlich, dass erstere gleich wie letztere unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen.249 Soviel drfte wohl auch von realistischen Kant-Interpreten zugestanden werden.250 Jedoch findet sich im obigen Zitat noch ein weiterer Hinweis: Das unmittelbar Wahrnehmbare ist „nur durch [meine] Vorstellungen etwas [. . .], von ihnen abgesondert aber nichts“. – Eine solche Implikation ist in folgender Textpassage noch deutlicher geußert: „[. . .]; denn diese [sc. Materie und kçrperliche Dinge] sind lediglich Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungsarten [. . .], deren Wirklichkeit auf dem 248 Vgl. z. B. Collins 1999, Kap. 6 und 7, und Abela 2002, S. 29 – 31. Sie verknpfen mit dem vierten Paralogismus (A) eine realistische Position (im Sinne der vorliegenden Abhandlung), die in den gegenwrtigen Wahrnehmungstheorien als „direkter Realismus“ bezeichnet wird, dabei vernachlssigen sie aber, Kants eigene Charakterisierung der unmittelbaren Wahrnehmbarkeit zu bercksichtigen. 249 Die unmittelbare Wahrnehmbarkeit bedeutet daher im vierten Paralogismus (A) etwas Anderes als in der Widerlegung des Idealismus (B), in der vielmehr behauptet wird, dass die ußere Erfahrung unmittelbarer als die innere ist. Dies spricht aber nicht fr eine Inkonsistenz zwischen beiden Theoriestcken; vgl. unten, 6.1, Anm. 319. 250 Vgl. z. B. Collins 1999, S. 71, und Abela 2002, S. 42 f.
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unmittelbaren Bewußtsein ebenso, wie das Bewußtsein meiner eigenen Gedanken beruht.“ (A372)251
Was hier als „auf dem unmittelbaren Bewußtsein beruhend“ angesprochen ist, ist nicht eine Erkenntnis der Materie (was eine bloße Trivialitt wre), sondern vielmehr deren Existenz („Wirklichkeit“). Hierfr bedarf es einer Anmerkung: Kant formuliert seine Ansicht, sowohl innerhalb als auch außerhalb des vierten Paralogismus (A), manchmal so, als ob er rumliche Gegenstnde mit „Vorstellungen“ identifizierte (vgl. unten, 6.2, Anm. 332). Es gibt jedoch gute Grnde dafr, solche Formulierungen nicht wçrtlich zu nehmen. Schon im soeben zitierten A370 f. findet man ein Beispiel fr Kants Unterscheidung zwischen der Vorstellung und deren Gegenstnde (vgl. den Ausdruck „eine Art meiner Vorstellung, deren Gegenstnde“).252 – Ein solcher Gegenstand kçnnte als ein intentionales Objekt verstanden werden (d. h. als ein Noema, das zwar von der Noesis nicht abgetrennt existiert, jedoch davon unterschieden wird) verstanden werden.253 – Die Notwendigkeit einer derartigen Unterscheidung ist auch sachlich gut nachvollziehbar. Selbst im Traum stellen wir uns Dinge vor, und nicht deren Vorstellungen; der Traum ist keine Meta-Vorstellung. Ebenso wenig sind rumliche Gegenstnde mit Vorstellungen einfach gleichzusetzen. Das im vierten Paralogismus (A) maßgebliche Moment ist vielmehr, dass die Existenz rumlicher Gegenstnde auf unserem Bewusstsein bzw. unserer Erkenntnis grndet, auch 251 Vgl. auch A375: „Alle ußere Wahrnehmung also beweist unmittelbar etwas Wirkliches im Raume, oder ist vielmehr das Wirkliche selbst, [. . .]“ (kursiv von K.C.). 252 Außerhalb des vierten Paralogismus (A), vgl. A189 f./B234 f.: „Nun kann man zwar alles, und sogar jede Vorstellung, sofern man sich ihrer bewußt ist, Objekt nennen; allein was dieses Wort bei Erscheinungen zu bedeuten habe, nicht, insofern sie (als Vorstellungen) Objekte sind, sondern nur ein Objekt bezeichnen, ist von tieferer Untersuchung“. 253 Vgl. Aquila 1983, S. 97 f., Robinson 1994, S. 429 und ders. 1996. Oder vielleicht sollte dieser Gegenstand besser als „logisches Konstrukt“ aus unseren kognitiven Zustnden verstanden werden, wie Van Cleve 1999 (S. 8 – 12) vorschlgt. Dies zu entscheiden, ist aber im hiesigen Kontext, nmlich fr die Widerlegung der realistischen Interpretation des vierten Paralogismus (A), nicht nçtig. Es reicht hier schon aus, dass der vierte Paralogismus (A) irgendeine anti-realistische Wahrnehmungstheorie erfordert. Karl Ameriks kritisiert die „subjectivist interpretation“ in seiner Auslegung des vierten Paralogismus (A) in ders. 2000, S. 113 f., er stipuliert sie dabei aber derart, dass sie die betreffende Unterscheidung gar nicht zulsst. Solch eine primitive Position hat freilich mit dem gegenwrtigen Phnomenalismus nichts zu tun.
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wenn diese Gegenstnde von unseren Erkenntnisakten in irgendeiner Weise zu unterscheiden sind. Aus der bisherigen Betrachtung ergibt sich Folgendes: Das transzendental Innerliche/ußerliche definiert sich dadurch, dass es von unserer Erkenntnis abhngig/unabhngig existiert, und eben deswegen von uns unmittelbar/nicht unmittelbar wahrgenommen werden kann. Darin zeigt sich, dass die Annahme des TrR, die der Argumentation K zufolge fr den skeptischen Idealismus besonders verantwortlich ist, nmlich die Annahme, dass rumliche Gegenstnde transzendental ußerlich seien, nichts Anderes als der Realismus rumlicher Gegenstnde ist. Das heißt, Kant argumentiert tatschlich folgendermaßen: Sofern der Realismus rumlicher Gegenstnde gebilligt wird, ist der skeptische Idealismus unvermeidlich. Der TrI vermeidet diesen gerade dadurch, dass er rumliche Gegenstnde als erkenntnisabhngig existierend ansieht, d. h. einen AntiRealismus rumlicher Gegenstnde vertritt. Der Leser mag vielleicht einen Verdacht hegen: Ist dieses Ergebnis nicht bloß dadurch erreicht, dass ich absichtlich nur solche Textpassagen aufgegriffen habe, die eine anti-realistische Interpretation begnstigen (so wie manche realistischen Interpreten in umgekehrter Wiese nur die fr sie vorteilhaften Stellen behandeln)? – Einen solchen Vorwurf weise ich jedoch entschieden zurck. Wenn man den vierten Paralogismus (A) selbst untersucht, wird man wohl bestenfalls solche Textpassagen finden, die vom Kontext abgetrennt auch mit dem Realismus rumlicher Gegenstnde vertrglich zu sein scheinen, und selbst dieser Anschein drfte verscheucht werden, wenn solche Textpassagen hinsichtlich ihrer argumentativen Funktionen fr den Gesamtkontext des vierten Paralogismus (A) berprft werden. Ich erçrtere nun zwei denkbare Einwnde, die von einer realistischen Interpretation aus erhoben werden kçnnten: (1) Der erste Einwand lautet: Auch wenn der oben durchgefhrten Textanalyse zugestimmt wird, hat die Argumentation K nicht zur Folge, dass alle Varianten des Realismus rumlicher Gegenstnde zum skeptischen Idealismus fhren mssen. Sie betrifft lediglich die rckhaltlose Variante des Realismus, die rumliche Gegenstnde samt ihren raumzeitlichen Eigenschaften als erkenntnisunabhngig erachtet, nicht aber moderatere Varianten, die nur fr die Existenz rumlicher Gegenstnde Erkenntnisunabhngigkeit annehmen. Dieser Einwand scheint besonders von Tobias Rosefeldts Version der realistischen Zwei- Aspekte-Interpretation, die in 2.2 (B) vorgestellt wurde,
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gesttzt zu werden. Ihr zufolge sind raumzeitliche Eigenschaften der Dinge Dispositionen, die die erkenntnisunabhngig existierenden Dinge haben. Genauer ausgedrckt: Dass ein Ding eine raumzeitliche Eigenschaft F habe, wird so analysiert, dass es eine solche Disposition an sich selbst habe, dass es unter geeigneten Umstnden von uns als F erkannt wrde. Demgemß scheint man folgende Konsequenz ziehen zu kçnnen: Wenn man unter geeigneten Umstnden ein Ding als F erkannt hat,254 bleibt kein Raum mehr bestehen, zustzlich danach zu fragen, ob dieses Ding tatschlich eine entsprechende Disposition an sich selbst hat. Denn der rosefeldtschen Stipulierung der betreffenden Disposition nach folgt daraus, dass dieses Ding unter geeigneten Umstnden als F erkannt werde, ohne weiteres, dass es tatschlich eine solche Disposition an sich selbst habe. Bedeutet dies nicht, dass der rosefeldtsche dispositionale Realismus, genauso wie der oben dargestellte Anti-Realismus, die empirische Erkenntnis raumzeitlicher Gegenstnde vçllig erkenntnisimmanent entscheidbar macht und dafr gar keine Erkenntnis des Erkenntnisunabhngigen (nmlich des transzendental ußerlichen) erfordert? Diese prima facie aussichtsreiche Maßnahme ist aber in Wirklichkeit nicht durchzusetzen. Sie scheitert zunchst an dem Problem der Individuation. Dieses Problem war folgendes (vgl. 2.2 (B) fr Details): Die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation muss annehmen (sofern sie ihren Realismus nicht preisgibt), dass jedes Ding, das wir als einen einzelnen rumlichen Gegenstand erkennen, sich unabhngig von unserer Erkenntnis individuiert. D.h., wenn man z. B. zwei Dinge zunchst als phnomenale Einzeldinge erkannt hat und diese Erkenntnis wahr ist, dann mssen auch zwei distinkte erkenntnisunabhngige Dinge, oder besser, zwei distinkte noumenale Bezirke (vgl. oben, S. 54), existieren (obgleich es doch unerkennbar bleibt, wie diese an sich selbst beschaffen sind). Daraus ergibt sich nun, dass im Rahmen der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre die epistemische Rechtfertigung der empirischen Erkenntnis eines rumlichen Dings in der Tat vor eine zustzliche Aufgabe gestellt ist. Denn es ist fr die geforderte Rechtfertigung noch nicht hinreichend, raumzeitliche Eigenschaften eines Dings (die ex hypothesi abhngig von 254 Rosefeldt drfte wohl annehmen, dass es eine unseren erkenntnisimmanenten epistemischen Kriterien nach entscheidbare Frage sein soll, ob man sich jeweils tatschlich unter geeigneten Umstnden befindet oder nicht; dies mçchte ich nicht in Frage stellen. Wenn er hingegen dies verneinen sollte (wie Anhnger des epistemologischen Externalismus), ergbe sich daraus nur, dass seine interpretatorische Option berhaupt keine Kraft dafr hat, die Argumentation K zu entkrften.
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uns, und daher im kantischen Sinne „gewiss“ erkennbar sind) zu erkennen. Dafr muss zustzlich festgestellt werden, dass dasjenige, welches uns als dieses Ding erscheint, ein distinkter noumenaler Bezirk ist, der von denjenigen noumenalen Bezirken, welche als andere phnomenale Einzeldinge erscheinen, numerisch verschieden ist.255 Um diese zustzliche Aufgabe zu erfllen, muss ohnehin die Beschaffenheit der erkenntnisunabhngigen Realitt (d. h. des transzendental ußerlichen) erkannt werden. Aber der Argumentation K zufolge ist diese letzte Erkenntnis „zweifelhaft“. Daraus folgt, dass die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde in toto ebenfalls „zweifelhaft“ sein muss, indem die dafr erforderliche Teilerkenntnis „zweifelhaft“ bleibt. Daher bildet die realistische Zwei-Aspekte-Lehre keine Ausnahme von der Argumentation K. Ist das eine Kleinigkeit? Hat die obige Diskussion vielleicht bloß gezeigt, dass der rosefeldtsche dispositionale Realismus eine erfolgreiche Erklrung fr raumzeitliche Eigenschaften anbietet und nur das Problem der Individuation unlçsbar lsst? – Nein. Zu beachten ist hier, dass das Scheitern der rosefeldtschen Interpretation an dem Problem der Individuation das Scheitern eben ihrer ganzen Erklrung bedeutet. Denn, wenn die Idee der erkenntnisunabhngigen Individuation einzelner raumzeitlicher Gegenstnde einmal zurckgezogen wird, wird die Behauptung, dass raumzeitliche Eigenschaften Dispositionen erkenntnisunabhngig existierender einzelner Dinge seien, jedes Sinnes beraubt (vgl. oben, 2.2 (B), S. 54 f.); jene Zurckziehung fhrt also nicht zu einer Verfeinerung der realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation, sondern vielmehr zu ihrer Dekonstruktion.256 – Es ist noch zu betonen, dass dies nicht nur fr Rosefeldts 255 Eine empirische Erkenntnis von zwei raumzeitlichen Gegenstnden kann sich nmlich im Rahmen der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre auch dann falsch sein, wenn beide auf der „an sich“-Ebene nicht distinkte noumenale Bezirke sind, da vielmehr ein und dasselbe „Etwas“ als zwei raumzeitliche Gegenstnde erscheint. 256 Der letzte Abschnitt von Rosefeldt 2007 (S. 195 ff.) weist auf diese Denkrichtung hin, die vielmehr zur Dekonstruktion seiner realistischen Zwei-Aspekte-Interpretation fhrt. Dort erçrtert Rosefeldt die Frage, „wie wir uns auf Gegenstnde beziehen kçnnen, wenn alle Eigenschaften, von denen wir wissen kçnnen, nichts als Dispositionen sind, in Subjekten wie uns bestimmte Vorstellungen zu verursachen“ (S. 200). Er antwortet darauf nun in Rekurs auf A108 f. wie folgt: „Dieser Bezug auf einen Gegenstand besteht nicht darin, daß wir diesen anschauen und seine nicht-subjektrelativierten Eigenschaften wahrnehmen – so wie im Rahmen der traditionellen Unterscheidung zwischen primren und sekundren Qualitten der Bezug auf den Gegenstand, dem wir die sekundren Qualitten zuschreiben, durch die Wahrnehmung des Gegenstandes und seiner primren Qualitten erklrt werden kann. Der Gegenstand, dem wir die von uns sinnlich wahrnehmbaren
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partikulare Ausarbeitung der realistischen Interpretation gilt. Da die Annahme der erkenntnisunabhngigen Individuation einzelner raumzeitlicher Gegenstnde ein unabdingbares Moment des Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ist, so muss die realistische Interpretation jeder Art, egal wie immer sie verfeinert werden mag, in dieselbe Crux geraten. Damit kann man konkludieren: Die Argumentation K (angenommen, dass sie schlssig sei) hat tatschlich die starke Konsequenz, dass jede Variante des Realismus rumlicher Gegenstnde in den skeptischen Idealismus geraten muss.
Eigenschaften zuschreiben, wird allein durch den Verstand reprsentiert und sozusagen zu den wahrgenommenen Eigenschaften hinzugedacht“ (ibid., kursiv von K.C.). Er behauptet nmlich, dass die Einzelheit einzelner raumzeitlicher Gegenstnde, die wir empirisch erkennen, ausschließlich darauf grndet, dass unser Verstand diese so oder so reprsentiert, und nicht auf der erkenntnisunabhngigen Selbstindividuation dieser Gegenstnde (weil es unabhngig von unserer Reprsentation solche einzelnen Gegenstnde berhaupt nicht geben kann). Rosefeldt fgt zwar anschließend den Vorbehalt hinzu, dass wir bei diesem Hinzudenken doch wissen, dass von uns derart individuierte Gegenstnde „diejenigen Charakteristika haben, die etwas haben muß, damit wir es berhaupt als einen von uns unabhngigen Gegenstand bezeichnen“ (ibid., S. 201). Dies kann aber mit seiner obigen Antwort nicht zusammenstimmen. Wenn wir wissen, dass einzelne Gegenstnde solche Charakteristika haben, kçnnen wir nicht sagen, dass die Einzelheit dieser Gegenstnde nur von uns (durch den Verstand) hinzugedacht worden ist; in diesem Fall gilt vielmehr, dass wir fr dieses Hinzudenken bereits erkannt haben mssen, dass das, was wir als einen einzelnen raumzeitlichen Gegenstand erkennen, sich selbst bereits auf der „an sich“-Ebene in irgendeiner Weise individuiert hat. So gert Rosefeldt in das Dilemma, entweder die erkenntnisunabhngige Individuation zuzugestehen und dadurch seiner Interpretation der Gefahr des skeptischen Idealismus auszusetzen, oder sie explizit abzulehnen und dadurch den realistischen Charakter seiner Interpretation aufzuheben. Rosefeldts Diskussion im betreffenden letzten Abschnitt deutet vielmehr darauf hin, dass sich Kant stufenweise von der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre entfernt. Er zeigt nmlich, dass Kant in der Inauguraldissertation eine naive Form der Selbstindividuation akzeptiert hat, sie aber in der Transzendentalen Deduktion revidiert. Dieser Umstand kçnnte folgendermaßen gedeutet werden: Die realistische Zwei-Aspekte-Lehre in der Transzendentalen sthetik, die Rosefeldt mithilfe der Analogie zu Farben verfeinert hat – ich finde seine Deutung exegetisch adquat, sofern sie die Transzendentale sthetik betrifft –, ist immer noch unter Einfluss der Denkart der Inauguraldissertation formuliert und sie wird durch Kants fortgeschrittene berlegung in der Transzendentalen Deduktion aufgehoben. – Um dergleichen als reale Entwicklungsgeschichte des kantischen Denkens festzustellen, bedarf es allerdings einer ausfhrlichen Erwgung. Interessant ist aber, dass Rosefeldt selbst, vermutlich von sachlichen berlegungen geleitet, seiner realistischen Tendenz entgegen die betreffende Lçsung erreicht hat.
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(2) Es wurde gezeigt, und zwar durch Anfhrung deutlicher textlicher Belege, dass Kant im vierten Paralogismus (A) voraussetzt, dass wir nur dasjenige, dessen Existenz auf unserem Bewusstsein bzw. unserer Erkenntnis beruht, unmittelbar wahrnehmen kçnnen. Daraus wurde gefolgert, dass Kants TrI rumliche Gegenstnde, die ihm zufolge unmittelbar wahrnehmbar sein sollen, als von unserer Erkenntnis abhngig existierend erachtet, d. h., dass Kant einen Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde vertritt und gerade dadurch den skeptischen Idealismus ablehnt. Wie gesagt, kann dieser Anti-Realismus noch verfeinert werden, z. B. derart, dass eine schlichte Gleichsetzung rumlicher Gegenstnde mit Vorstellungen vermieden wird. – Man mag dagegen folgenden Einwand erheben: Wie auch immer dieser Anti-Realismus verfeinert werden mag, so wird er doch vom „materialen Idealismus“, den Kant ausdrcklich ablehnt, nicht unterschieden. Demnach muss die oben ausgefhrte anti-realistische Deutung des vierten Paralogismus (A) Kants Auffassung irgendwie verfehlt haben.257 Dieser Einwand beruht auf zwei Fehlern. Der eine ist ein Missverstndnis von Kants Begriff des „materialen Idealismus“. Der andere ist ein bersehen einer nicht zu ignorierenden argumentativen Funktion des Anti-Realismus fr Kants Zurckweisung des skeptischen Idealismus im vierten Paralogismus (A). Der erste Punkt wird im nchsten Unterabschnitt thematisiert. Hier erçrtere ich den zweiten Punkt. Egal wie man Kants Argumentation im vierten Paralogismus (A) realistisch umzudeuten versucht, msste man zumindest zugestehen, dass Kant dort behauptet, dass rumliche Gegenstnde unmittelbar wahrnehmbar seien. Wenn er aber soviel behauptet, dann muss er in jedem Fall eine Erklrung dafr vorbringen, wie eine solche unmittelbare Wahrnehmung mçglich ist; sonst wrde die betreffende Behauptung eine bloße petitio principii gegen den skeptischen Idealismus bleiben. Der Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde liefert gerade diese Erklrung. Ich mçchte hier nicht so weit gehen zu behaupten, dass der Anti-Realismus sachlich gesehen die einzig mçgliche Erklrung dafr ist. Es muss jedoch beachtet werden, dass Kant selbst im vierten Paralogismus (A) keine andersartige Erklrung vorbringt. Daraus resultiert: Ohne den Anti-Realismus msste die Argumentation des vierten Paralogismus (A) wesentlich unvollendet 257 Adrian Bardon, z.B, hlt es fr offensichtlich (allerdings ohne eingehende Erçrterung), dass die Auffassung, wie ich sie hier als Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde bezeichne, vom empirischen Idealismus nicht unterschieden wird und daher nicht Kants tatschliche Ansicht sein kann; vgl. ders. 2004, S. 63.
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bleiben (nicht nur: unberzeugend). Dies spricht dafr, dass der AntiRealismus gerade seiner argumentativen Funktion wegen aus dem vierten Paralogismus (A) nicht eliminierbar ist, wie problematisch auch immer er sachlich erscheinen mag.258 Daraus geht zugleich hervor, dass die realistische Deutung des vierten Paralogismus (A), egal welcher Art, vçllig aussichtslos ist. Sie ist nicht nur unplausibel und defekt, weil sie der naheliegenden Lesart der dortigen Textpassagen widerspricht und zudem bersieht (oder besser: darber hinwegsieht), wie Kant selbst dort die Mçglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung erklrt. Am fatalsten ist gerade, dass sie dazu fhrt, den Argumentationsgang im vierten Paralogismus (A) zu zerstçren, indem sie ein argumentativ nicht eliminierbares Moment, nmlich den Anti-Realismus, von ihm abzuziehen versucht. Angesichts dessen mçgen realistische Interpreten dazu neigen, den vierten Paralogismus (A) in toto, oder zumindest dessen Hauptargumentation (nmlich die indirekte Rechtfertigung des TrI durch so etwas wie die Argumentation K), als ein von Kant selbst preisgegebenes Element zu ignorieren. Im Unterschied zum Antinomiekapitel ist eine solche Maßnahme hier nicht definitiv ausgeschlossen. Realistische Interpreten mssen aber dafr die Beweislast bernehmen, den angeblichen Wandel von Kants Position zwischen der Erst- und der Zweitauflage der KdrV, seiner expliziten Verneinung desselben entgegen, exegetisch zu belegen. Solange diese Aufgabe nicht erfllt wird, kann die realistische Interpretation nicht als dasjenige Interpretationsmuster angegeben werden, welches die KdrV in toto konsequent auszulegen ermçglicht. Damit spricht ohnehin schon viel gegen die realistische Interpretation.
258 Anhnger des gegenwrtigen direkten Realismus oder des epistemischen Externalismus mçgen dagegen sagen: Die Mçglichkeit der unmittelbaren Wahrnehmung von erkenntnisunabhngig existierenden Gegenstnden fr besonders erklrungsbedrftig zu halten, ist schon ein cartesianischer Fehler. Nçtig ist vielmehr, die Wahrnehmung dergestalt umzudeuten, dass eine solche Problematik nicht mehr vorkommt. – Ich erçrtere hier nicht die sachliche Unzulnglichkeit einer derartigen „Auflçsung“ des Skeptizismus. Eine Bemerkung reicht schon aus: Um diese Umdeutung zu motivieren, bedarf es schon einer Begrndung, und eine solche wird zumindest von Kant selbst nicht gegeben. Dies ist ein deutlicher Beleg dafr, dass Kant den skeptischen Idealismus nicht in der Weise des direkten Realismus bzw. des epistemischen Externalismus zurckzuweisen intendiert.
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Die bisherige Untersuchung erlaubt nun des Weiteren, Kants Unterscheidung zwischen dem „transzendentalen“ und dem „empirischen“ Sinn der Inner-/ußerlichkeit konkreter zu erfassen. Wie oben geklrt, handelt es sich bei der transzendentalen Inner-/ ußerlichkeit um die Frage, ob die Existenz rumlicher Gegenstnde von unserer Erkenntnis abhngig ist oder nicht. Dies ist eine spezifisch ontologische Frage, die man im außer-philosophischen Kontext, im Alltag sowie in den Einzelwissenschaften, wohl nicht stellt. Hingegen besteht die Eigentmlichkeit des „empirischen“ Sinnes gerade darin, dass es sich dabei nicht um diese ontologische Frage handelt, sondern nur darum, wie ein Gegenstand von uns vorgestellt wird, nmlich, ob als rumlich oder als bloß zeitlich;259 vgl. z. B. folgende Textpassage: „[. . .]; denn diese [sc. Materie und kçrperliche Dinge] sind lediglich Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungsarten, die sich jederzeit in uns befinden, [. . .]. Der transzendentale Gegenstand [sc. „was im transzendentalen Verstande außer uns sein mag“] ist, sowohl in Ansehung der inneren als ußeren Anschauung, gleich unbekannt. Von ihm aber ist auch nicht die Rede, sondern von dem empirischen, welcher alsdann ein ußerer heißt, wenn er im Raume, und ein innerer Gegenstand, wenn er lediglich im Zeitverhltnisse vorgestellt wird; [. . .].“ (A372 f., kursiv von K.C.; vgl. auch A370 f.)
Demgemß wird ein Gegenstand ohne weiteres als „empirisch ußerlich“ qualifiziert, nur wenn er als „im Raume“ seiend vorgestellt wird; also auch wenn er sich im transzendentalen Sinn „in uns befindet“, d. h. seine Existenz abhngig von unserer Erkenntnis ist. Wie bereits angemerkt, sollte Kants anscheinende Gleichsetzung rumlicher Gegenstnde mit Vorstellungen nicht wçrtlich genommen werden. Das maßgebliche Moment in solchen Formulierungen ist nicht etwa diese Gleichsetzung, sondern vielmehr die Auffassung, dass rumliche Gegenstnde nur abhngig von unserer Erkenntnis existieren. Interpretatorisch empfiehlt es sich, die Unterscheidung des empirischen/transzendentalen Sinns auch fr den Terminus „Vorstellung“ ein259 Graham Bird (1972, S. 37 – 43) gelangt zum gleichen Ergebnis durch eine Untersuchung des Gegensatzes von „empirisch“ und „transzendental“ im Allgemeinen; vgl. auch ders. 2005, S. 37 – 43. – Er behauptet in ders. 2005 weiter: „The ambiguities in „outer“ and „inner“ at the heart of the resolution of the fourth Paralogism carry over to the notion of „mind-(in)dependence“. Transcendental mind-dependence is not to be identified with an empirical mind-dependence which contrasts empirically mental and physical phenomena“ (S. 642). Was er bersieht, ist, dass dergleichen auch fr die phnomenalistische Interpretation, die er kritisiert, akzeptabel ist.
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zufhren. Im empirischen Sinne referiert er auf mentale Entitten wie Erkenntnisse, Gedanken und Gefhle, d. h. das empirisch Innerliche. Wenn er hingegen im transzendentalen Sinne verwendet wird, wird dabei lediglich die Idee jener Erkenntnisabhngigkeit rumlicher Gegenstnde ausgedrckt. – Diese Unterscheidung beseitigt nicht nur das Problem von Kants scheinbarer Gleichsetzung rumlicher Gegenstnde mit Vorstellungen, sondern auch manche Inkonsistenzen in Kants Ausdrcken. Ein Beispiel wird in 6.1 gegeben, im Zusammenhang mit der Untersuchung der Widerlegung des Idealismus (B). 5.2.3 Ist der Anti-Realismus ein „materialer Idealismus“? Im letzten Unterabschnitt wurde festgestellt, dass der fr den vierten Paralogismus (A) relevante Sinngehalt des TrI gerade der Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde ist. Man mag nun einen Verdacht hegen: Ist der Anti-Realismus berhaupt etwas Anderes als ein „materialer Idealismus“ (bzw. Idealismus la Berkeley), den Kant selbst ausdrcklich ablehnt? Da dieser Verdacht wohl hartnckig sein drfte, verdient er eine besondere Erçrterung. In diesem Unterabschnitt zeige ich, dass dieses Bedenken nur auf einem Missverstndnis des von Kant abgelehnten „Idealismus“ beruht. Wesentlich ist hierfr, wie in 2.3 erwhnt wurde, Kants eigene Charakterisierung des abzulehnenden „Idealismus“ zu bercksichtigen. Im Folgenden greife ich relevante Textstellen auf, auch von außerhalb des vierten Paralogismus (A), um klarzustellen, dass sie die anti-realistische Interpretation nicht tangieren. Es ist ratsam, allererst auf eine Abnormitt der kantischen Terminologie aufmerksam zu machen. Vermutlich versteht man unter „Idealismus“ die Auffassung, dass Gegenstnde abhngig von etwas Mentalem seien. Folgende Textpassage sollte allerdings stutzig machen: „[. . .] (die Bezweifelung derselben [sc. der Existenz der Sachen] aber macht eigentlich den Idealism in recipirter Bedeutung aus), [. . .].“ (Prolegomena, Ak. 4, S. 293)
Das ist ein Indiz dafr, dass man das gegenwrtige Verstndnis auf Kants Begrifflichkeit nicht einfach projizieren kann. Die wichtigste Charakteristik ist nun diejenige, welche die Termini „materialer“ (bzw. „empirischer“), „skeptischer“ (bzw. „problematischer“) und „dogmatischer Idealismus“ betrifft. Der erste bezeichnet die Gattung,
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die die letzten zwei unter sich hat (vgl. B275, A491/B519, B519 Anm.).260 Die kanonische Charakterisierung der letzten beiden findet sich in folgenden Textpassagen: „Der dogmatische Idealist wrde derjenige sein, der das Dasein der Materie leugnet, der skeptische, der sie bezweifelt, weil er sie fr unerweislich hlt. Der erstere kann es nur darum sein, weil er in der Mçglichkeit einer Materie berhaupt Widersprche zu finden glaubt, [. . .].“ (A377) „Der Idealismus (ich verstehe den materialen) ist die Theorie, welche das Dasein der Gegenstnde im Raum außer uns entweder bloß fr zweifelhaft und unerweislich, oder fr falsch und unmçglich erklrt; der erstere ist der problematische des Cartesius, der nur Eine empirische Behauptung (assertio), nmlich: Ich bin, fr ungezweifelt erklrt; der zweite ist der dogmatische des Berkeley, der den Raum, mit allen den Dingen, welchen er als unabtrennliche Bedingung anhngt, fr etwas, was an sich selbst unmçglich sei, und darum auch die Dinge im Raum fr bloße Einbildungen erklrt.“ (B274)261
Dadurch wird zunchst folgende Charakteristik erreicht: Der skeptische Idealismus ist ein Skeptizismus, der die Existenz rumlicher Gegenstnde „bezweifelt“, und der dogmatische Idealismus hingegen ein Eliminativismus, der sie (als unmçglich) „leugnet“. Es ist des Weiteren bemerkenswert, dass in den obigen Zitaten keine weitere Bestimmung genannt ist. (Die Bezugnahme auf die Positionen Descartes’ und Berkeleys kann nicht als substantielle Bestimmung erachtet werden, denn Kants Verstndnis derselben ist eben durch sein Konzept des „skeptischen“ und „dogmatischen Idealismus“ bestimmt; diesen Umstand erçrtere ich gleich.) Dies spricht dafr, dass die gerade dargestellte Cha-
260 Allison deutet den Unterschied zwischen dem „empirischen“ und dem „skeptischen Idealismus“ als den zwischen einer grundlegenderen Auffassung (dass rumliche Gegenstnde nicht unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen) und einer Konsequenz daraus (nmlich dem Skeptizismus); vgl. ders. 2004, S. 21 f. Es gibt aber keinen textlichen Beleg dafr, dass Kant die beiden Idealismen derart unterscheidet. Kants eigene Wendung weist vielmehr darauf hin, dass er sie gerade als Gattung und Art unterscheidet; vgl. auch Beiser 2001, S. 149 Anm. 3. 261 Vgl. auch folgende Textpassagen: (1) „[. . .] den [. . .] empirischen Idealismus [. . .], der, indem er die eigene Wirklichkeit des Raumes annimmt, das Dasein der ausgedehnten Wesen in demselben leugnet, wenigstens zweifelhaft findet, [. . .]“ (A491/B519). (2) „Ich habe ihn [sc. TrI] auch sonst bisweilen den formalen Idealism genannt, um ihn von dem materialen, d.i. dem gemeinen, der die Existenz ußerer Dinge selbst bezweifelt oder leugnet, zu unterscheiden“ (B519 Anm.).
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rakteristik die definitorische Bestimmung des „skeptischen“ und „dogmatischen Idealismus“ schon erschçpft.262 Es ist hierbei besonders wichtig, dass diese definitorische Bestimmung ber die ontologische Frage, ob die Existenz rumlicher Gegenstnde abhngig von unserer Erkenntnis ist oder nicht, berhaupt nichts aussagt. Das heißt: Der skeptische und der dogmatische Idealismus (somit der materiale Idealismus insgesamt) verhalten sich als solche zum Realismus/ Anti-Realismus neutral. – Dieser Punkt wird von der im letzten Unterabschnitt erçrterten Implikation des Terminus „empirisch“ noch bekrftigt. Verwendung dieses Terminus ist nmlich ein Zeichen dafr, dass beim „empirischen Idealismus“ von der betreffenden ontologischen Frage keine Rede ist; diese Frage soll vielmehr auf der transzendentalen Ebene thematisiert werden.263 So ist der dummettsche Anti-Realismus nicht mit dem materialen Idealismus gleichzusetzen. Ebenfalls besteht kein Grund zu sagen, dass er diesen Idealismus implizieren muss. Kant argumentiert sogar umgekehrt, dass dieser nur von jenem vermieden werden kann, wie im letzten Unterabschnitt geklrt wurde. Die anti-realistische Interpretation verstçßt also nicht gegen Kants Ablehnung des materialen Idealismus. Betrachten wir nun noch zwei weitere Aspekte des abzulehnenden „Idealismus“. (1) In Prolegomena, § 13 Anmerkung II, charakterisiert Kant „Idealismus“ als „Behauptung, dass es keine andere als denkende Wesen gebe“ (Ak. 4, S. 288).264 Diese Behauptung entspricht dem „dogmatischen 262 Bloß begrifflich gesehen, soll jede philosophische Position, egal welche sonstigen Eigenschaften sie noch hat, als „materialer Idealismus“ klassifiziert werden, sofern sie den betreffenden Skeptizismus bzw. Eliminativismus zur Folge hat. Dies luft nicht Kants Ansicht zuwider, dass der skeptische und der dogmatische Idealismus (in ihren eigenen Weisen) aus dem TrR entspringen. Eben deswegen, weil dies nicht bloß begrifflich (d. h. aus der definitorischen Bestimmung des „skeptischen“ und des „dogmatischen Idealismus“) entschieden werden kann, musste Kant hierfr eine substantielle Argumentation ausarbeiten. 263 Dietmar Heidemann bezeichnet den empirischen Idealismus als „metaphysischen Idealismus“; er begrndet dies damit, dass der empirischen Idealismus von der metaphysica generalis handelt (vgl. ders. 1999, S. 37). Diese Bezeichnung ist zwar verstndlich, aber meines Erachtens irrefhrend, da sie den Eindruck erweckt, als ob der dem empirischen Idealismus entgegengesetzte TrI nichts mit Metaphysik, sondern ausschließlich mit Erkenntnistheorie zu tun htte. 264 Vgl. auch Nova dilucidatio, Ak. 2, S. 411 f. und Metaphysik Herder, Ak. 28, S. 42. – Diese Charakteristik stammt von der Schulphilosophie; vgl. Folgendes aus
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Idealismus“ im oben erçrterten Sinne. Anschließend argumentiert Kant dahingehend, dass sein TrI von diesem „Idealismus“ unterschieden werde, indem ersterer, letzterem entgegen, so etwas wie „Dinge an sich“ anerkenne.265 Dieser Aspekt ist fr die anti-realistische Interpretation vçllig problemlos (vgl. oben, 2.1). (2) Kant schlgt vor, seinen TrI als „formalen (bzw. kritischen) Idealismus“ zu bezeichnen, um ihn vom „materialen Idealismus“ zu unterscheiden (vgl. Prolegomena, Ak. 4, S. 293 f., S. 337, S. 375 und B519 Anm.). In Bezug darauf sagt er an einigen Stellen, dass sein TrI nicht die „Existenz“, sondern nur die „Form“ betrifft; vgl. z. B. Folgendes: „Hrn Eberhards und Garven Meynung von der Identitt des Berkleyschen Idealisms mit dem critischen, den ich besser das Princip der Idealitt des Raumes und der Zeit nennen kçnnte, verdient nicht die mindeste Aufmerksamkeit: denn ich rede von der Idealitt in Ansehung der Form der Vorstellung: jene aber machen daraus Idealitt derselben in Ansehung der Materie d.i. des Objects und seiner Existenz selber.“ (Brief an Beck, am 4. Dez. 1792, Ak. 11, S. 395; vgl. auch Prolegomena, Ak. 4, S. 293 und Reflexionen im Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft (A), XXVI, Ak. 23, S. 23)
Zuerst muss eines betont werden: Es wre vorschnell, zu denken (wie z. B. Ameriks 2005, S. 73), dass der bloße Hinweis auf einige solche Textpassagen fr die Widerlegung der anti-realistischen Interpretation ausreicht. Ohnehin gibt es andere Textpassagen, in denen Kant im Gegenteil behauptet, dass rumliche Gegenstnde nur abhngig von unserer Erkenntnis existieren bzw. wirklich sind;266 noch wichtiger aber ist, dass die antirealistische Interpretation nicht bloß durch Kants okkasionelle Aussagen, sondern durch seine Argumentationen belegt worden ist. Die Aufgabe ist nun, die oben genannten scheinbaren Gegenbelege dahingehend zu prfen, ob sie vielleicht als mit der anti-realistischen Interpretation vertrglich gedeutet werden kçnnen. Zu beachten ist hierfr, Baumgartens Metaphysica, § 402: „Solos in hoc mundo spiritus admittens est IDEALISTA“ (Kants gesammelte Schriften, Bd. 17, S. 111). 265 Einige Interpreten behaupten dagegen, dass die betreffende Textpassage nicht von Dingen an sich, sondern von der Existenz rumlicher (d. h. empirisch ußerlicher) Gegenstnde handelt; vgl. Bird 1962, S. 27 f. und Stadelmann 1999, S. 65 f. Obwohl ich diese Deutung allzu artifiziell finde, muss hier dieses Thema nicht entschieden werden, denn auch wenn diese Deutung richtig sein sollte, folgt daraus allenfalls, dass der TrI kein dogmatischer Idealismus ist. Diese Konsequenz ist fr die anti-realistische Interpretation ohnehin harmlos, wie bereits gezeigt wurde. 266 Vgl. oben, S. 170 f.. Dies gilt außerdem nicht nur fr den vierten Paralogismus (A); vgl. unten, 6.2, S. 229.
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was Kant damit genau meint, dass sein TrI nicht die „Existenz“ (bzw. die „Materie“) betreffe. Dieser Punkt ist im obigen Zitat nicht eindeutig genug. Folgende Textpassage gibt einen Hinweis: „Denn dieser von mir sogenannte Idealism [sc. TrI] betraf nicht die Existenz der Sachen ([. . .]), denn die zu bezweifeln, ist mir niemals in den Sinn gekommen, [. . .].“ (Prolegomena, Ak. 4, S. 293)
Dies legt folgende Interpretationshypothese nahe: Mit derartigen Redeweisen, dass der TrI „nicht die Existenz der Sachen betrifft“, behauptet Kant lediglich, dass sein TrI weder bezweifelt noch leugnet, dass raumzeitliche Gegenstnde existieren; hierbei ist aber keine Rede davon, mit welchem ontologischen Status sie existieren.267 So verstanden kann man ohne Probleme sagen, dass auch der Anti-Realismus in diesem Sinne „nicht die Existenz der Sachen betrifft“. Ich will nicht behaupten, dass die vorgeschlagene Lesart fr die betreffenden Textpassagen zwingend ist. Es gibt jedoch auch keinen textlichen Beleg, der diese Lesart ausdrcklich ausschließt. Dass diese Textpassage eine anti-realistische Deutung nicht sofort ausschließt, reicht zum hiesigen Zweck schon aus, weil die anti-realistische Interpretation durch zwei substantielle Argumentationen sowie mehrere andere Textstellen positiv belegt wird. Wie verhlt es sich nun mit Kants Kritik an Descartes und Berkeley? Diese Frage ist in diesem Kontext ohnehin nicht zu ignorieren. Dabei muss auch hier beachtet werden, wie Kant selbst die Positionen dieser Philosophen charakterisiert.268 267 Diese Hypothese wird dadurch noch bekrftigt, dass es der „materiale Idealismus“ in diesem Sinn ist, von dem Kant in B519Anm. (Zitat (2) in der obigen Anm. 261) seinen „formalen Idealismus“ unterscheidet. In diesem Zusammenhang sollte auch Kants eigenartige Verwendung des Terminus „Idealitt“ bercksichtigt werden. Dieser Terminus wird manchmal verwendet, um nicht die Idee der Subjektabhngigkeit, sondern vielmehr etwas Negatives wie „nicht gelten“ bzw. „nicht dem Wirklichen korrespondieren“ auszudrcken; vgl. unten, 6.3, Anm. 344. Demgemß wird es plausibel, dass die „Idealitt in Ansehung der Materie“ eher der Behauptung, dass die Materie nicht existiere, entspricht. 268 Fr diese Fragestellung ist das in der Literatur hufig debattierte Thema, ob Kant Berkeleys Werke wirklich gelesen hat, peripher. Kants Konzeption der Position Berkeleys soll primr von seiner eigenen Darstellung her abgelesen werden, egal ob er eine korrekte Kenntnis ber Berkeleys tatschliche Position hatte oder nicht. – Man denke hier an folgendes Analogon: Der sogenannte „Cartesianismus“ ist von
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Eins muss zunchst bemerkt werden: Die Position Descartes’ (hinsichtlich der Außenweltproblematik) kann mit dem skeptischen Idealismus nicht schlechthin gleichgesetzt werden, denn dieser bedeutet, wie oben geklrt, nur einen Aspekt eines philosophischen Systems, nmlich den Außenweltskeptizismus als Konsequenz. Die Position Descartes’ hingegen beinhaltet zudem auch die Erklrung des Grundes, aus dem sich dieser Skeptizismus ergibt. Das Gleiche gilt auch fr die Position Berkeleys. Die Position Descartes’ ist im vierten Paralogismus (A) am ausfhrlichsten dargestellt: (a) Sie nehme den TrR an, (b) fhre daher zu der Auffassung, dass rumliche Gegenstnde nicht unmittelbar wahrgenommen werden kçnnten, und (c) laufe deswegen auf den skeptischen Idealismus hinaus.269 Es ist klar, dass der Anti-Realismus mit dem so verstandenen Cartesianismus berhaupt nichts zu tun hat. Was die Position Berkeleys angeht, sind die Umstnde noch komplizierter.270 Betrachten wir zunchst Kants Charakterisierung derselben in der KdrV. Der Name von Berkeley wird in der ersten Auflage an keiner Stelle erwhnt, sondern nur in der zweiten, und zwar nur an zwei Stellen, nmlich in B71 und B274.271 Dort wird die Position Berkeleys folgendermaßen charakterisiert: Er bemerke, gleich wie Kant selbst, dass der Raum, sofern dieser als „Eigenschaft, die den Dingen an sich selbst zukommen soll“ (B274) verstanden werde, ein „Unding“ sein msse. Er bestehe dennoch insoweit auf den TrR, dass er denke, dass der Raum, falls es ihn berhaupt gbe, eine Beschaffenheit der Dinge an sich sein msste. Deshalb habe er geschlossen, dass der Raum, somit auch rumliche Gegenstnde berhaupt, unmçglich seien. – Dies ist eben die These des dogmatischen Idealismus. verschiedenen Philosophen kritisiert worden, z. B. von Heidegger, Gilbert Ryle und Tyler Burge. Der Kritikpunkt ist aber je nach den Kritikern unterschiedlich, wird also nur daraus richtig erkannt, wie die jeweiligen Kritiker den zu kritisierenden „Cartesianismus“ charakterisieren. 269 In der Widerlegung des Idealismus (B) wird das Moment (a) nicht explizit erwhnt. Dies spricht aber nicht dafr, dass Kant seine Ansicht ber die Position Descartes’ bzw. des „skeptischen Idealismus“ gendert hat (wie Heidemann 1998, S. 104, suggeriert). Es reflektiert vielmehr den Umstand, dass die dortige Argumentation den skeptischen Idealismus ohne Voraussetzung des TrI widerlegt; vgl. unten, 6.1. 270 Fr diese Problematik, vgl. z. B. Stbler 1935, Walker 1989b, Stadelmann 1999 und Beiser 2001. 271 Beiser 2001, Kap. 4, hat in berzeugender Weise gezeigt, dass der „dogmatische Idealismus“ der Erstauflage der KdrV nicht die Position Berkeleys, sondern diejenige Leibniz’ ist; vgl. auch George Miller 1971.
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Daraus wird ersichtlich: Berkeley wird hier nicht dafr kritisiert, rumliche Gegenstnde als von Vorstellungen („ideas“) abhngig existierend zu erachten; seine berhmte These: „Esse est percipi“ ist hier gar nicht zur Diskussion gestellt. Kants Kritik richtet sich vielmehr dagegen, dass Berkeley nicht soweit gegangen ist, die transzendental-realistische Raumkonzeption gnzlich aufzugeben. Gerade dies ist, Kants dortiger Ansicht gemß, der Grund fr Berkeleys dogmatischen Idealismus. Es ist klar, dass eine derartige Kritik an Berkeley mit der anti-realistischen Interpretation gar nicht kollidiert. Laut Kant im Kontext III finden sich Kants Erwhnungen von Berkeley außerhalb der KdrV noch an folgenden Textstellen: Prolegomena: (1) Berkeleys Position luft auf den dogmatischen Idealismus hinaus (Ak. 4, S. 375; vgl. auch ibid., S. 293). (2) Der Idealismus „von der Eleatischen Schule an bis zum Bischof Berkeley“ besteht in der Auffassung, dass die Wahrheit „nur in den Ideen des reinen Verstandes und Vernunft“ liege. Kants TrI behauptet dagegen, dass sie „nur in der Erfahrung“ liege. (S. 374, vgl. auch Vorarbeit zu Prolegomena, Ak. 23, S. 53 f.). (3) Weil er die Aprioritt von Raum und Zeit nicht anerkennt, kann „die Erfahrung bei Berkeley keine Kriterien der Wahrheit haben“; Kants TrI billigt jene, kann also „das sichere Kriterium“ abgeben (S. 374 f.). Sonstige Texte: (4) (5)
(6) (7)
Metaphysik Herder (1762 – 4), Ak. 28, S. 42 f.: Berkeley wird als ein Beispiel des „Idealist[en]“ genannt, der behauptet, dass „es blos eine Geisterwelt gbe“. Metaphysik Mrongovius (1782 – 3), Ak. 29, S. 928: Berkeleys Position wird als der „dogmatische oder grobe Idealismus“ vorgestellt, der besagt, „daß außer uns keine Kçrper existirten, sondern daß die Erscheinungen nichts wren und bloß in unsern Sinnen und unserer Einbildungskraft lgen“. Vorarbeit zu Prolegomena, Ak. 23, S. 58: Berkeley musste, um das Kriterium der empirischen Erkenntnis zu erhalten, auf „die mystische [Anschauung] der gottlichen Ideen“ rekurrieren. Refl. 6311, Ak. 18, S. 610: Der dogmatische Idealismus Berkeleys „leugnet das Daseyn aller Dinge außer dem des Behauptenden“.
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(8) (9)
Brief an Beck, am 4. Dez. 1792 (erçrtert oben, S. 133). Metaphysik Dohna (1792 – 3), Ak. 28, S. 680: „Berkeley war Idealist insoweit er sagte Kçrper als solche existiren nicht (blos auf die Form sah er) Dies ist der transcendente Idealismus, ihm steht der psychologische entgegen“. (10) Metaphysik K2 (1794 – 5), Ak. 28, S. 770: „Kçrper als solche sind nicht Dinge an sich selbst, wollte Berkeley sagen, aber er drckte sich falsch aus, und daher scheint er ein Idealist zu sein“.272 Es geht in (1), (4), (7) und (9) (zudem vermutlich auch (8), wie oben erçrtert) um denselben Diskussionspunkt (nmlich den dogmatischen Idealismus), der bereits geklrt wurde.273 Die sonstigen berhren ebenfalls nicht den Anti-Realismus als solchen; dieser muss z. B. die Aprioritt von Raum und Zeit nicht verneinen (und meine anti-realistische Interpretation bestreitet sie tatschlich nicht), und vom Rekurs auf die „mystische Anschauung der gottlichen Ideen“ ist freilich keine Rede. Damit ist klar, dass Kants ablehnende Hinweise auf Berkeleys Position, in ihren Kontexten korrekt verstanden, gar keine Implikationen enthalten, die mit der antirealistischen Interpretation kollidieren.274 Wie Kant selbst den abzulehnenden „Idealismus“ charakterisiert, wird von Interpreten, die Kants Ablehnung des „Idealismus“ als Gegenbeleg zur idealistischen (oder phnomenalistischen) Interpretation angeben, seltsamerweise vçllig ignoriert. Ich hege den starken Verdacht, dass sich bei solchen Interpreten folgendes „principle of charity“ verbirgt: (1) Der „Idealismus“ ist in jedem Fall sachlich unattraktiv. Es ist also wnschenswert, den TrI von „idealistisch“-schmeckenden Thesen mçglichst fernzuhalten.275 272 Kants Ansicht in (9) und (10) ist nicht klar. Interessant ist aber, dass diese Textstellen darauf hindeuten, dass der spte Kant seine Antipathie gegen Berkeley allmhlich abschwchte; vgl. Mattey 1983, S. 174 f. 273 An (5) direkt anschließend stellt Kant Berkeleys „dogmatischem Idealismus“ seinen „critischen oder transcendentalen Idealism“ entgegen, der anerkannt, dass Erscheinungen „etwas unbekanntes zum Grunde liegt“. Die Harmlosigkeit dieser Ansicht fr die anti-realistische Interpretation wurde ebenfalls schon erklrt; vgl. oben, S. 181 f. 274 Vgl. Mattey 1983, Stadelmann 1999 und Beiser 2001 fr ausfhrlichere Erçrterungen der betreffenden Stellen. Ich habe auch in ihren Auslegungen nichts gefunden, was mit meiner anti-realistischen Interpretation kollidiert. 275 Dieses Motiv wird in Collins 1999, S. 3 (zitiert oben, Einleitung, Anm. 2), explizit geußert.
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(2) Kants TrI ist hufig wegen seiner scheinbaren Verwandtschaft mit dem Idealismus Berkeleys kritisiert worden. Um Kant gegen solche Einwnde zu verteidigen, ist es wnschenswert, den TrI von „berkeleysch“-riechenden Thesen mçglichst fern zu halten. Wie ernsthaft auch immer diese „charity“ sein mag, so berechtigt sie Interpreten keinesfalls dazu, ber Kants eigene Charakterisierung hinwegzusehen und sich bloß darauf zu berufen, was sie selbst unter „Idealismus“ (bzw. der Position Berkeleys) verstehen. Daraus ergbe sich nur eine als „charity“ getarnte Verzerrung von Kants eigener Auffassung. Die adquate kantische Zurckweisung des Idealismus-Vorwurfs (dessen Paradigma die berhmte „Gçttinger Rezension“ ist) drfte vielmehr folgender Art sein: Wenn man „Idealismus“ als These der Erkenntnisabhngigkeit rumlicher Gegenstnde definiert, ist Kants TrI in der Tat ein solcher Idealismus. Indessen liegt der Irrtum dieses Vorwurfs gerade darin, den Idealismus in diesem Sinne mit der These des Nichtseins dieser Gegenstnde einfach gleichzusetzen. Dahinter versteckt sich ein transzendental-realistisches Vorurteil, dass nmlich die Gegenstnde, falls sie berhaupt existieren sollten, unabhngig von unserer Erkenntnis sein mssen; dies ist aber gerade die Auffassung, die Kant durch seinen TrI abzulehnen strebt.276 Man kann immerhin einwenden: Die Strategie, den skeptischen Idealismus anhand eines Anti-Realismus zu widerlegen, ist sachlich betrachtet hçchst problematisch, weil der Anti-Realismus nicht weniger kontraintuitiv ist als der zu widerlegende Skeptizismus selbst.277 – Wie stark auch immer dieser Einwand sein mag, eines ist klar: Er kann nur auf eine Kritik an Kant aus sachlicher Perspektive hinauslaufen278 und nicht den 276 Collins erledigt eine derartige Zurckweisung des Idealismus-Vorwurfs einfach als ein „bad joke“ (ders. 1999, S. 61). Es muss aber betont werden, dass sie nur dann als „bad joke“ erscheint, wenn die Richtigkeit des Realismus fr selbstverstndlich gehalten wird, was eben bei Kant nicht der Fall ist. 277 Vgl. z. B. Stroud 1984, S. 167 f. Laurence BonJour erçrtert dies in allgemeiner Hinsicht; vgl. ders. 1985, Kap. 8. 278 Um Kants TrI dagegen zu verteidigen, msste man zum einen die scheinbare Kontraintuitivitt des kantischen Anti-Realismus mçglichst abschwchen und zum anderen die theoretische Attraktivitt (sogar Verbindlichkeit) desselben erweisen. Mit der ersten Aufgabe beschftige ich mich in Teil III. Zur zweiten hingegen msste man mçgliche Argumentationen – auch nicht-kantischer Art – fr den Anti-Realismus in systematischer Hinsicht berprfen bzw. selbst ausarbeiten. (Dafr drften Dummetts „acquisition-argument“ sowie „manifestation-argument“ wohl gute Anhaltspunkte bieten.) Dieses Thema zu erçrtern, wrde jedoch den Rahmen der vorliegenden Abhandlung weitgehend berschreiten.
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Umstand umwerfen, dass Kant tatschlich derart argumentiert. Es wre wohl unnçtig zu betonen, dass es bei der Exegese (und der interpretatorischen Debatte) gerade auf die letztere exegetische Tatsache ankommt. 5.2.4 Noch ausstehende exegetische Diskussionspunkte In diesem Unterabschnitt erçrtere ich noch zwei Punkte, deren Explikation im jetzigen Kontext sinnvoll erscheint: (A) Ein andersartiges Argument gegen skeptischen Idealismus im vierten Paralogismus (A), und (B) die Irrelevanz der Idealitt der Formen fr Kants Argumentation in demselben. (A) Im 10. und 12. Absatz der „Kritik des vierten Paralogismus“ (A373 – 5 und A377) findet sich noch ein anderes Argument gegen den skeptischen Idealismus (fortan: „Argument E“279): „[…]: daß ohne Wahrnehmung selbst die Erdichtung und der Traum nicht mçglich sind, […].“ (A377)280
Arthur Collins behauptet, dass dieses Argument „anti-idealist“ sei, gerichtet nicht nur gegen den skeptischen Idealismus, sondern auch gegen den „idealism“ berhaupt (vgl. ders. 1999. S. 74 – 6). – Er definiert den von ihm abgelehnten „idealism“ allerdings nicht, aber zhlt auch Putnams internen Realismus zu diesem (ibid., Kap. 15). Daraus geht hervor, dass der „idealism“ im Sinne Collins’ auch den Anti-Realismus in meiner Definition einschließt. – Dagegen zeige ich, dass sich das Argument E zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt, so dass es nicht als Beleg fr die anti-idealistische Interpretation la Collins dient. Betrachten wir den Gehalt des Arguments E. Folgende Lesart ist zunchst denkbar:
279 Dieses Argument wird von Adrian Bardon unter dem Namen „argument from empiricism“ erçrtert; vgl. ders. 2004, S. 64 – 9. 280 Vgl. auch folgende Stellen: (1) „Allein dieses Materielle oder Reale, dieses Etwas, was im Raume angeschaut werden soll, setzt notwendig Wahrnehmung voraus, und kann unabhngig von dieser, welche die Wirklichkeit von Etwas im Raume anzeigt, durch keine Einbildungskraft gedichtet und hervorgebracht werden“ (A373). (2) „[. . .] und umgekehrt, was in ihm [sc. im Raum] gegeben, d.i. durch Wahrnehmung vorgestellt wird, ist in ihm auch wirklich; denn wre es in ihm nicht wirklich, d.i. unmittelbar durch empirische Anschauung gegeben, so kçnnte es auch nicht erdichtet werden, weil man das Reale der Anschauungen gar nicht a priori erdenken kann“ (A374 f.). Außerdem erscheint Argument E auch in der Widerlegung des Idealismus (B), B276 Anm.
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„[D]er Stoff, um Gegenstnde der sinnlichen Anschauung zu denken“ (A374) oder „das Reale der Anschauungen“ (A375) kann nicht spontan, bloß durch Einbildungskraft, hervorgebracht werden, sondern es ist hierfr erforderlich, dass wir von etwas Wirklichem affiziert werden. Dies ist fr den Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde vçllig akzeptabel, selbst wenn dabei von der Affektion durch „Dinge an sich“ die Rede ist (vgl. oben, 2.1). Denn damit wird nicht gesagt, dass das uns Affizierende zugleich auch der wahrzunehmende Gegenstand ist. Aber eben deswegen leistet das so verstandene Argument E keinen Beitrag zum Nachweis der Existenz rumlicher Gegenstnde und muss somit fr die Widerlegung des skeptischen Idealismus wertlos sein.281 Es gibt also einen guten Grund, Argument E vielmehr im Sinne folgender These zu deuten: Um uns irgendeinen rumlichen Gegenstand berhaupt (selbst im Traum) vorstellen zu kçnnen, mssen wir im Voraus wahre Erkenntnisse desselben besessen haben.282 Es ist aber diesmal nicht klar, wie diese These selbst begrndet wird; Kant bietet dafr keinen Anhalt. Die einzig mçgliche Annherung dazu ist meines Erachtens Folgende: Wenn jemand keine Erkenntnis rumlicher Gegenstnde htte, kçnnte er berhaupt keine Konzeption derselben haben; folglich kçnnte er derartige Gegenstnde auch nicht erdichten bzw. trumen. (Ein Analogon: Kinder, die niemals Tiger gesehen haben, kçnnen ihnen auch nicht im Traum begegnen.) – Es ist aber klar, dass eine solche „Begrndung“ der betreffenden These gegen skeptische Idealisten kraftlos ist. Denn diese kçnnen immerhin in Zweifel ziehen, dass die Erkenntnisse, die uns die Konzeption rumlicher Gegenstnde beibringen sollen, wahre Erkenntnisse sein mssen. Dies zu rechtfertigen, finde ich vçllig aussichtslos283 – es sei denn, dass man ein substantiell anderes Argument (wie das der Widerlegung des Idealismus (B)) hinzufgt; dies wrde aber das Argument E per se berflssig machen. Von der sachlichen Fragwrdigkeit abgesehen, bleibt hier noch ein Problem bestehen: Die betreffende These als solche hat nichts, was mit dem Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde unvertrglich ist. Denn 281 Dieser Umstand wird von Bardon 2004, S. 67 – 9, noch konkreter erçrtert. 282 Collins vermengt die erste mit der zweiten Deutung; vgl. ders. 1999, S. 76. 283 Fr ausfhrlichere Erçrterungen vgl. Ameriks 2000, S. 116 f. und Allison 2004, S. 293 – 5.
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konstitutiv ist fr sie nur, dass die vorauszusetzenden Erkenntnisse dergestalt wahr sein mssen, dass sie uns die Konzeption rumlicher Gegenstnde beibringen kçnnen, und dies erfordert fr sich allein nicht, dass die geforderte Wahrheit realistisch verstanden werden muss. Natrlich ist das (derart verstandene) Argument E auch mit dem Realismus vertrglich. 284 Dies spricht jedoch nicht fr die Ansicht Collins’, sondern vielmehr dafr, dass das Argument E die Problematik des Realismus/Anti-Realismus gar nicht berhrt. Es setzt des Weiteren auch nicht die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit voraus. Damit ist klar, dass sich das Argument E bezglich des ganzen Streits zwischen TrI und TrR neutral verhlt. Diese Neutralitt spiegelt sich auch in der Funktion wider, die das Argument E fr die Widerlegung des skeptischen Idealismus erfllt. Man kann davon ausgehen, dass wir zumindest eine Konzeption von rumlichen Gegenstnden besitzen. Daraus kann man nun, wenn man Argument E akzeptiert, ohne weiteres die Konsequenz ziehen, dass unsere Erkenntnisse rumlicher Gegenstnde nicht insgesamt falsch sein kçnnen. – Obwohl es fragwrdig ist, dass diese Konsequenz fr die von Kant intendierte Widerlegung des skeptischen Idealismus wirklich hinreichend ist,285 lasse ich hier diesen Punkt außer Acht. – Wichtig ist, dass die gerade vorgefhrte Argumentation den Punkt, dass der Ursprung des skeptischen Idealismus gerade der TrR ist, gar nicht berhrt und stattdessen den skeptischen Idealismus schlechthin widerlegt. Diese Eigenschaft kçnnte wohl ein argumentationsstrategischer Vorzug des Arguments E sein, denn es erreicht sein Ziel (wenn berhaupt mçglich), ohne dabei den TrR zurckzuweisen, was jedenfalls eine mhsame Aufgabe ist. Jedoch kann das Argument E eben deswegen in die Hauptaufgabe des vierten Paralogismus (A), d. h. in die indirekte Rechtfertigung des TrI, nicht integriert werden, selbst abgesehen von seiner sachlichen Fragwrdigkeit. – Dies spricht außerdem dafr, dass man schon 284 Die bloße Vertrglichkeit reicht nicht fr einen positiven Beleg aus. Angesichts des oben geklrten Umstandes ist es gar nicht berraschend, dass Collins fr seine „anti-idealistische“ Deutung des Arguments E keine positive Begrndung vorbringt; seine Erçrterung bleibt allenfalls eine Aufweisung der Vertrglichkeit. 285 Collins nimmt an, dass die betreffende Konsequenz fr Kants Widerlegung des skeptischen Idealismus ausreicht. Es gibt ein gutes Argument dagegen, denn die betreffende Konsequenz lsst immerhin die Mçglichkeit zu, dass wir gar nicht wissen kçnnen, welche einzelnen Erkenntnisse wahr sind. Dieses Ergebnis ist aber allzu schwach fr den empirischen Realismus, den Kant im vierten Paralogismus (A) zu realisieren strebt.
5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus
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innerhalb des vierten Paralogismus (A) heterogene Argumentationsgnge, die Kant selbst nicht klar differenziert, auseinanderhalten muss; diese Feinfhligkeit wird eben dafr erfordert, Kants dortige Argumentation korrekt und przise zu verstehen. (B) Die Idealitt der Formen – die Doktrin nmlich, dass Raum, Zeit und Kategorien im menschlichen Subjekt ihren Ursprung haben – ist im vierten Paralogismus (A) argumentativ irrelevant.286 Das heißt: Sie ist fr die dortige Widerlegung des skeptischen Idealismus weder notwendig noch hinreichend, ebenso wie fr die Auflçsung der Antinomien (vgl. 4.4 (A)). Einerseits nicht hinreichend: Der skeptische Idealismus ist ohnehin unvermeidlich, sofern der Realismus hinsichtlich rumlicher Gegenstnde gebilligt wird; also selbst wenn die Idealitt der Formen zustzlich angenommen wrde. Andererseits auch nicht notwendig: Um den empirischen Realismus zu realisieren, ist der Anti-Realismus allein schon hinreichend; also auch ohne zustzlichen Rekurs auf die Idealitt der Formen.287 Man mag nun einwenden: Die Relevanz der Idealitt der Formen im vierten Paralogismus (A) zeigt sich darin, dass auch dort manche Erwhnungen von „Raum“, „Sinnlichkeit“ und sogar auch der transzendentalen Idealitt des Raums gefunden werden. Dagegen sage ich: Bloße Erwhnungen belegen noch nicht, dass die Idealitt der Formen auch fr die dortige Argumentation relevant ist. Dies exemplifiziere ich an folgenden drei Textpassagen: (1) Im 4. Absatz der „Kritik des vierten Paralogismus“ (A369) findet sich eine Definition des TrI (zitiert oben, 2.1, S. 39). Hier wird dem TrI das Moment der Idealitt der Formen explizit zugeschrieben. – Dies allein belegt aber nicht ihre argumentative Relevanz; diese kann nur von der dortigen Argumentation her entschieden werden. (2) Kant sagt in A370, dass der transzendentale Idealist die „Materie […] bloß fr Erscheinung gelten lßt, die, von unserer Sinnlichkeit abgetrennt, nichts ist“ (kursiv von K.C.). – Wie er aber anschließend erklrt, liegt der Schwerpunkt hierbei darin, dass die „Materie“ als „eine Art Vorstellungen“ 286 Dies wurde schon von manchen Kant-Interpreten suggeriert; vgl. z. B. Turbayne 1955, S. 243, Strawson 1966, S. 246 und Gram 1982, S. 137 f. 287 Heiner Klemme versucht, einen argumentativen Zusammenhang des vierten Paralogismus (A) mit der Transzendentalen sthetik zu klren; vgl. ders. 1996, S. 350. Was er aber dabei fr die letztere aufgreift, ist nicht die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit, sondern Kants Unterscheidung zwischen Spontaneitt und Rezeptivitt.
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betrachtet wird. Dem Punkt also, dass der Raum die reine Form unserer Sinnlichkeit ist, kommt auch hier keine argumentative Funktion zu.288 (3) Im 10. Absatz (A373 – 5) wird die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit explizit erwhnt.289 – Zu beachten ist jedoch, dass Kant auch hier nicht dahingehend argumentiert: Der skeptische Idealismus sei insofern unvermeidlich, als die transzendentale Identitt von Raum und Zeit nicht angenommen werde. Diese Textpassage bietet also ebenfalls keinen Beleg fr die fragliche argumentative Relevanz. Der Grund fr die dortige Erwhnung der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit ist wie folgt zu erklren: Die indirekte Rechtfertigung des TrI (somit auch die Widerlegung des skeptischen Idealismus) ist wesentlich schon bis zum 9. Absatz vollendet worden. Danach unternimmt Kant eine konkrete Erluterung dessen, wie der empirische Realismus im Rahmen des TrI realisiert wird. Angesichts dieses Umstandes ist es verstndlich, warum dort die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit zur Diskussion kommt. Denn sie ist immerhin ein Gehalt des TrI, auch wenn sie fr den empirischen Realismus als solchen nicht erforderlich ist. Betrachten wir nun noch eine Textstelle, die man vielleicht auf die Idealitt der Formen beziehen mag: Im 12. Absatz der „Kritik des vierten Paralogismus“ (A376 f.) erwhnt Kant das Kriterium, mit dem man wahre von falschen Erkenntnissen unterscheidet. Es lautet: „Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhngt, ist wirklich“ (A376).290 Angesichts dessen mag man erwarten, dass die Idealitt der Formen in irgendeiner Weise an diesem Kriterium beteiligt ist, wie z. B. folgendermaßen: Die „empirischen Gesetze“ seien nur aufgrund der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit mçglich. Derart argumentiert Kant an einer anderen Stelle in der Tat, nmlich in Prolegomena, Ak. 4, S. 374 f. (vgl. oben, S. 185), aber nicht im vierten Paralogismus (A); vgl. Folgendes: „Um nun hierin dem falschen Scheine zu entgehen, verfhrt man nach der Regel: Was mit einer Wahrnehmung nach empirischen Gesetzen zusammenhngt, ist wirklich. Allein diese Tuschung sowohl, als die Verwahrung 288 Das Gleiche gilt auch fr Ausdrcke wie „auch ohne Sinne“ (A369) und „etwas von den Sinnen selbst Unterschiedenes“ (A371). 289 „Raum und Zeit sind zwar Vorstellungen a priori, welche uns als Formen unserer sinnlichen Anschauung beiwohnen, [. . .]“ (A373). 290 Kant erwhnt ein solches Kriterium auch in A225/B272, B279, A451/B479, Prolegomena, Ak. 4, S. 290 f. und S. 375; vgl. auch A492 f./B520 f. und A651/ B679. Die Gehalte der jeweiligen Darstellungen stimmen aber nicht genau berein und zudem erçrtert Kant ohnehin dieses Thema nirgendwo eingehend.
5.2 Exegetische Feststellung des Ursprungs des skeptischen Idealismus
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wider dieselbe, trifft ebensowohl den Idealismus [d.h. den skeptischen, der auf dem TrR grndet] als den Dualism [gleichfalls den empirischen, der vom TrI ermçglicht wird], indem es dabei nur um die Form der Erfahrung291 zu tun ist.“ (A376, kursiv und Ergnzungen von K.C.)
Hierbei ist angenommen, dass die „Verwahrung wider Tuschung“ anhand des betreffenden Kriteriums kein Monopol des TrI darstellt, sondern auch dem TrR zukommt.292 Das heißt: Dieses Kriterium setzt, zumindest Kants hiesiger Ansicht nach, nicht den TrI voraus, somit auch nicht die Idealitt der Formen. Ich denke, dass das Thema des epistemischen Kriteriums im Rahmen des vierten Paralogismus (A) vielmehr folgendermaßen erçrtert werden sollte: Unter der Annahme des TrR kann das betreffende Kriterium die Wahrheit der empirischen Erkenntnis nicht garantieren. Denn es bleibt dann zweifelhaft, dass selbst die Erkenntnis, die durch die optimale Anwendung dieses Kriteriums als wahr beurteilt wird, ihren Gegenstand richtig reprsentiert (weil dieser etwas transzendental ußerliches sein soll). Nur der TrI kann das im Allgemeinen akzeptierte Kriterium dessen Ziel erreichen lassen. Kant selbst hat zwar nicht derart argumentiert, aber seine Argumentation fr die indirekte Rechtfertigung des TrI im vierten Paralogismus (A) ergibt (angenommen, sie sei schlssig) in der Tat diese Konsequenz. Es ist allerdings nicht zu leugnen, dass Kant selbst der Ansicht ist, dass eben derselbe TrI, der bereits in der Transzendentalen sthetik direkt bewiesen wurde, nun im vierten Paralogismus (A) als Schlssel zur Widerlegung des skeptischen Idealismus dient;293 das Hauptanliegen der Transzendentalen 291 Die hiesige „Form der Erfahrung“ bezieht sich ebenfalls nicht auf das Thema der Idealitt der Formen. Denn hier ist gesagt, dass die „Verwahrung der Tuschung“, bei der „es nur um die Form der Erfahrung zu tun ist“, „ebensowohl den Idealism als den Dualism“ treffen soll. 292 Ich finde dies in sachlicher Hinsicht adquater als die betreffende Ansicht in Prolegomena. Es ist jedenfalls eine extravagante Behauptung, dass ohne die Annahme der Idealitt der Formen das Kriterium der empirischen Erkenntnis berhaupt nicht verfgbar ist; wenn dies der Fall wre, mssten epistemische Kriterien auch den meisten gegenwrtigen Epistemologien mangeln. (Falkenstein diskutiert dieses Thema in Bezug auf Berkeley; vgl. ders. 1995, S. 431, Anm. 8.) In der Zweitauflage der KdrV taucht diese abstruse Behauptung nicht mehr auf. 293 „Also nçtigt uns der skeptische Idealism, die einzige Zuflucht, die uns brig bleibt, nmlich zu der Idealitt aller Erscheinungen zu ergreifen, welche wir in der transzendentalen sthetik unabhngig von diesen Folgen, die wir damals nicht voraussehen konnten, dargetan haben“ (A378 f.).
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sthetik ist zweifelsohne die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit. – Dieser Umstand aber tangiert nicht die bisherige Diskussion. Er spricht bestenfalls dafr, dass Kant zwei inhaltlich distinkte Sinnkomponenten des TrI nicht explizit auseinanderhlt. Meine Absicht ist aber nicht, Kant deswegen zu kritisieren. Die Feststellung dieser Irrelevanz ist vielmehr fr die exegetische Aufgabe bedeutsam, Kants Argumentation korrekt zu verstehen. Sie ist umso sinnvoller, zumal in der Literatur die Behauptung nicht selten anzutreffen ist, dass Kants TrI nur die Idealitt der Formen betreffe und demgemß berhaupt keine idealistische Ontologie beinhalte.294 Durch die bisherige Untersuchung drfte es hoffentlich klar geworden sein, dass eine solche Behauptung nicht von Kants eigener Argumentation untersttzt wird, sogar dieser vielmehr zuwiderluft. 5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation Im letzten Abschnitt wurde zum Zwecke der Interpretation angenommen, dass die Hauptargumentation des vierten Paralogismus (A), nmlich die Argumentation K, schlssig sei. Wenn aber diese in sachlicher Hinsicht berprft wird, erweist es sich, dass sie zumindest in ihrer ursprnglichen Form nicht haltbar ist. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, eine sachliche Erwgung sowie Kants eigene berlegung an anderen Stellen als dem vierten Paralogismus (A) mit einbeziehend, eine alternative „kantische“ Argumentation zu rekonstruieren. Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: Ich klre in 5.3.1, in welchem Punkt genau die Argumentation K defekt ist. Anschließend stelle ich 294 Allison behauptet z. B., dass dies eben auch fr den vierten Paralogismus (A) gilt; vgl. ders. 2004, S. 23 – 5. Er stellt aber diese Behauptung nur als eine bloße („apparent“, sagt er) Konsequenz aus seiner allgemeinen Betrachtung des TrI (in ibid., Kap. 1) auf, ohne sie durch eine konkrete Textanalyse zu begrnden. Allisons konkrete Textanalyse des vierten Paralogismus (A) findet sich in ders. 1973, aber in diesem Aufsatz gesteht Allison zu, dass Kants dortige Argumentation zumindest in folgendem Punkt mit dem berkeleyschen Idealismus bereinstimmt: „For both philosophers this remedy [of the skepticism] is idealism, understood as the identification of the empirically real with the contents of consciousness. Thus, both hold against the Cartesians that we are immediately aware of „real things“, and both claim that this can only be justified on the assumption that these „real things“ are in some sense mental“ (ibid., S. 49). In diesem Aufsatz habe ich nichts gefunden, was idealistische oder phnomenalistische Interpreten nicht auch akzeptieren kçnnen.
5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation
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in 5.3.2 eine alternative Argumentation dar, die diesen Defekt mit einer minimalen Modifikation der Argumentation K zu beheben versucht; diese Argumentation entspricht der traditionellen Kritik an der Position, die in den heutigen Wahrnehmungstheorien „indirekter Realismus“ genannt wird. Sie ist aber immer noch unzulnglich, um zu begrnden, dass der Realismus rumlicher Gegenstnde unvermeidlich zum Skeptizismus fhrt. In 5.3.3 arbeite ich eine andere Argumentation aus, die auch diese Unzulnglichkeit berwinden soll. Diese Argumentation basiert auf folgender berlegung, die vornehmlich in Kants Logik-Vorlesungen gefunden wird: Wenn die Wahrheit in der bereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand bestehe, kçnne die Wahrheit der Erkenntnis keineswegs besttigt werden, denn es sei unmçglich, fr diese Besttigung die Erkenntnis mit ihrem Gegenstand direkt zu vergleichen. Dies ist wiederum eine traditionelle Argumentation gegen den Realismus bzw. gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit. Ich modifiziere diese berlegung Kants derart, dass sie zur indirekten Rechtfertigung des kantischen AntiRealismus dient und zugleich einigen naheliegenden Einwnden begegnen kann. 5.3.1 Probleme der Argumentation K Die indirekte Rechtfertigung des TrI im vierten Paralogismus (A) soll Folgendes nachweisen: Sofern der TrR angenommen wird, ist der skeptische Idealismus unvermeidlich; nur durch den TrI kann der empirische Realismus ermçglicht werden. Die Argumentation, die die erste Hlfte beweisen soll, ist die Argumentation K, die in 5.2.1 dargestellt wurde. Diese wird, die Ergebnisse von 5.2.1 und 5.2.2 mit einbeziehend, noch folgendermaßen przisiert: Stufe 1: Es muss im Allgemeinen (d. h. sowohl dem TrR als auch dem TrI nach) gebilligt werden, dass nur dasjenige, was im transzendentalen Sinne in uns ist, d. h., abhngig von unserer Erkenntnis existiert, unmittelbar wahrgenommen werden kann. Stufe 2: Dem TrR, vornehmlich seinem Realismus rumlicher Gegenstnde zufolge existieren diese unabhngig von unserer Erkenntnis. Stufe 3: Aus Stufe 1 und 2 folgt, dass unter der Annahme des TrR rumliche Gegenstnde nicht unmittelbar wahrgenommen werden kçnnen. Stufe 4: Es muss nun im Allgemeinen gebilligt werden, dass unsere Erkenntnis des nicht unmittelbar Wahrnehmbaren nur vermittelst
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eines Kausalschlusses von dem unmittelbar Wahrgenommenen zu dessen bestimmter Ursache mçglich ist. Stufe 5: Es muss ebenfalls im Allgemeinen gebilligt werden, dass der Kausalschluss von einem bestimmten Gegenstand (ob nun ein Ding oder ein Ereignis) zu dessen bestimmter Ursache „jederzeit unsicher“ (A368) ist. Stufe 6: Aus Stufe 3, 4 und 5 folgt, dass unter der Annahme des TrR unsere Erkenntnis der Existenz rumlicher Gegenstnde zweifelhaft ist, wie der skeptische Idealismus aussagt. Folglich ist unter Annahme des TrR der skeptische Idealismus unvermeidlich. Kant erachtet die Stufe 2, nmlich den Realismus rumlicher Gegenstnde, als besonders verantwortlich fr den skeptischen Idealismus. Dementsprechend weist er diesen zurck und vertritt stattdessen einen Anti-Realismus. Dies bedeutet: Was im vierten Paralogismus (A) angelegt ist, ist eine indirekte Rechtfertigung des Anti-Realismus durch den Nachweis, dass der Realismus unvermeidlich zum skeptischen Idealismus fhren muss. In dieser Argumentation versteckt sich jedoch ein fataler Defekt. Dieser wird ersichtlich, wenn danach gefragt wird, wie die Termini „unsicher“ und „zweifelhaft“ in der obigen Darstellung genau zu verstehen sind. Wie aus dem bergang von Stufe 5 zu 6 einsichtig ist, soll dieser Argumentation nach die „Zweifelhaftigkeit“, die (beim TrR) fr die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde ausgesagt wird, mit der (generellen) „Unsicherheit“ des betreffenden Kausalschlusses bereinstimmen. Es stellt sich nun folgende Frage: In welchem Sinne ist dieser Kausalschluss „unsicher“? Wie in 5.2.1 gesehen, begrndet Kant diese Unsicherheit folgendermaßen: „Nun ist aber der Schluß von einer gegebenen Wirkung auf eine bestimmte Ursache jederzeit unsicher; weil die Wirkung aus mehr als einer Ursache entsprungen sein kann.“ (A368)
Diese Textpassage weist darauf hin, dass Kant hier unter „unsicher“ nur so viel wie „fallibel“ versteht; er hat ohnehin kein Argument dafr vorgebracht, dass der betreffende Kausalschluss strker als in diesem Sinne unsicher ist. Aber so verstanden, liefe der skeptische Idealismus, der auf Stufe 6 als Konsequenz gezogen wird, eher auf eine bloße Banalitt hinaus, nmlich dass unsere Erkenntnisse rumlicher Gegenstnde fallibel seien; eine Banalitt, die eigentlich von jeder vernnftigen Erkenntnistheorie zugestanden werden msste. Wenn der TrI diese Banalitt als skeptischen
5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation
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Idealismus verneinen sollte, wrde er sich nur als eine absurde Position darstellen.295 Um diese Konsequenz zu vermeiden, drfte man wohl vorziehen, die Unsicherheit des Kausalschlusses in einem noch strkeren Sinne zu deuten, wie z. B. derart, dass dieser Kausalschluss nicht so zuverlssig ist, dass er berhaupt zum Zweck der Erkenntnis dienen kann. Dieser Versuch stçßt jedoch auf ein gleichermaßen fatales Problem (selbst davon abgesehen, dass Kant kein Argument dafr vorbringt, dass der Kausalschluss in diesem strkeren Sinne unsicher ist). Dieses Problem ist Folgendes: Es sei erinnert, dass die These der Stufe 5 nicht nur unter der Annahme des TrR, sondern im Allgemeinen, nmlich auch im Rahmen des TrI, akzeptiert werden soll (vgl. oben, S. 168). Wenn man also annimmt, dass auf dieser Stufe die These der Unsicherheit des Kausalschlusses in diesem strkeren Sinne behauptet wird, muss man zugleich zugestehen, dass diese These auch beim TrI gilt. Wollte man indessen die epistemische Zuverlssigkeit des Kausalschlusses ganz und gar negieren, so wrde dies nur zu einer Zerstçrung aller vernnftigen Erkenntnistheorie fhren, denn ohne Kausalschluss kçnnte wohl keine empirische Wissenschaft auskommen. Es ist schwer vorzustellen, dass Kant diese katastrophale Konsequenz akzeptieren wrde. – Es ist zwar vçllig harmlos, anzunehmen, dass dieser Kausalschluss nicht so zuverlssig wie infallibel ist; in diesem Fall wrde man aber nur auf die erste Deutung der „Unsicherheit“ zurckkommen. Man ist hier mit einem echten Dilemma konfrontiert. Wenn man einerseits die auf Stufe 5 behauptete Unsicherheit des Kausalschlusses in einem schwcheren Sinne liest, dann luft der skeptische Idealismus auf eine dementsprechend harmlose Behauptung hinaus, was den TrI, der diesen verneinen soll, vielmehr zu einer absurden Position macht. Wenn man andererseits die betreffende Unsicherheit in einem strkeren Sinne versteht, dann stellt sich dementsprechend heraus, dass selbst der TrI den Kausalschluss nicht als ein Organon der empirischen Wissenschaften anerkennen kann, was wiederum auf eine inakzeptable Position hinausluft. Dieses Dilemma entspringt daraus, dass in der Argumentation K die Zweifelhaftigkeit unserer ußeren Erkenntnisse im Sinne des skeptischen Idealismus mit der generellen Unsicherheit des Kausalschlusses paralleli295 Dass auch Kant nicht einmal im vierten Paralogismus (A) diese Konsequenz zugesteht, wird durch A376 belegt. Er erçrtert dort die Mçglichkeit der „trgliche[n] Vorstellungen“ und stellt das Kriterium dar, mit dem man diesen „entgeht“. Wenn im Rahmen des TrI unsere ußeren Erkenntnisse immer infallibel wahr wren, bedrfte es freilich keines Kriteriums dafr, solchen Vorstellungen zu entgehen.
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siert wird; sofern diese Parallelisierung nicht aufgegeben wird, ist dieses Dilemma unberwindlich. Dies spricht dafr, dass die Argumentation K, die im entscheidenden Punkt auf dieser Parallelisierung grndet, eben deswegen unhaltbar ist. Sie liefert, sachlich betrachtet, ohnehin keine indirekte Rechtfertigung des TrI, sondern vielmehr einen Nachweis der Absurditt desselben. Dass aber die Argumentation K in ihrer ursprnglichen Form unhaltbar ist, bedeutet allerdings nicht, dass es absolut aussichtslos ist, eine alternative Argumentation zu konstruieren, die die indirekte Rechtfertigung des TrI als Anti-Realismus, wie sie im vierten Paralogismus (A) intendiert ist, ermçglichen kann. Im nchsten Unterabschnitt erçrtere ich einen Versuch, diese Aufgabe mit einer minimalen Modifikation der Argumentation K zu erfllen. 5.3.2 Argumentation gegen den indirekten Realismus Um zur indirekten Rechtfertigung des TrI berhaupt dienen zu kçnnen, muss die gesuchte alternative Argumentation folgende Forderungen erfllen: (1) Die „Zweifelhaftigkeit“, welche als Konsequenz dieser Argumentation in Bezug auf unsere Erkenntnisse rumlicher Gegenstnde behauptet wird, muss etwas Strkeres als bloße Fallibilitt bedeuten. – Sonst msste dem TrI, der diese Konsequenz vermeiden soll, eine absurde Position (dass nmlich unsere ußeren Erkenntnisse infallibel seien) zugeschrieben werden. (2) Diese Argumentation darf nicht auf die These zurckgreifen, die die epistemische Zuverlssigkeit des Kausalschlusses allgemein verneint. – Sonst ergbe sich daraus, dass auch Kants TrI die Verwendung des Kausalschlusses nicht zulassen kçnnte. Es geht in diesem Unterabschnitt um eine Argumentation, die die Argumentation K bis zur Stufe 4 beibehlt und dieser danach eine alternative Teilargumentation beifgt. Die Argumentation K bis zur Stufe 4 legt den Realismus rumlicher Gegenstnde auf folgende Position fest: Rumliche Gegenstnde existieren unabhngig von unserer Erkenntnis. Wir kçnnen aber nur „innerliche“ Gegenstnde (wie Gedanken oder Vorstellungen) unmittelbar wahrnehmen. Rumliche Gegenstnde kçnnen also nur indirekt durch den Kausalschluss von den uns gegebenen Wahrnehmungen auf sie als Ursachen erkannt werden.
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Diese Position entspricht derjenigen, welche in den heutigen Wahrnehmungstheorien „indirekter Realismus“ genannt wird. Die Argumentation K bis zur Stufe 4 sagt nmlich aus, dass der Realismus rumlicher Gegenstnde auf den indirekten Realismus festgelegt wird. Dies legt nun die Erwartung nahe, dass die indirekte Rechtfertigung des TrI vielleicht dadurch in Gang gebracht werden kann, indem der anschließende Teil der Argumentation K durch die traditionelle Argumentation gegen den indirekten Realismus ersetzt wird. Die neue Argumentation soll Folgendes nachweisen: Der indirekte Realismus macht die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde unmçglich, weil unter der Annahme desselben der Kausalschluss, der fr die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde erfordert wird, unbegrndbar bleiben muss. Jonathan Dancy stellt diese Argumentation (die er Berkeley zuschreibt) in prgnanter Form dar: „It is logically possible even given our awareness of internal direct objects, that there be no external world, and so an inference from the internal to the external cannot be deductive. If the inference were inductive, however, it would rely upon establishing previous successful correlations between statements about internal direct objects and external indirect ones. But ex hypothesi we cannot establish such correlations, for to do so we would have to be aware of the external objects independently.“ (Ders. 1985, S. 165)
Der Versuch, unter der Annahme des indirekten Realismus den erforderten Kausalschluss zu begrnden, gert nmlich in einen bloßen Zirkelschluss. Wenn man nun diese Argumentation nach der Stufe 4 der Argumentation K einfgt, erhlt man die von der indirekten Rechtfertigung des TrI geforderte Konsequenz, dass dem TrR zufolge die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde unmçglich sei. Die so modifizierte Argumentation im Ganzen nenne ich fortan „Argumentation IR“. Argumentation IR hat zweifelsohne einen wesentlichen Vorzug gegenber der Argumentation K. Sie erfllt nmlich die zwei Forderungen, die zu Beginn dieses Unterabschnitts erhoben wurden. Was die Forderung (1) betrifft, hat die Argumentation IR zur Konsequenz, dass der Realismus die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde nicht nur fallibel, sondern gerade unmçglich macht.296 Dieser Skeptizismus verdient, widerlegt zu werden, 296 Es gibt einen guten Grund dafr, zu denken, dass es gerade diese Konsequenz ist, die Kant selbst im vierten Paralogismus (A) nachgewiesen zu haben glaubt. Vgl. folgende Textpassage, wo Kant das Ergebnis seiner dortigen Diskussion zurckblickend zusammenfasst: „Wenn wir ußere Gegenstnde fr Dinge an sich gelten lassen, so ist schlechthin unmçglich zu begreifen, wie wir zur Erkenntnis ihrer Wirklichkeit außer uns kommen sollten, indem wir uns bloß auf die Vorstellung sttzen, die in uns ist“ (A378, kursiv von K.C.). Dies weist darauf hin, dass Kant
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und seine Verneinung fhrt den TrI auch nicht zu jener absurden Konsequenz, dass unsere Erkenntnis rumlicher Gegenstnde infallibel ist. Was die Forderung (2) betrifft, so erzwingt die Argumentation IR fr den TrI auch nicht die generelle Ablehnung der Verwendung des Kausalschlusses, denn die Argumentation IR zeigt nur die Unmçglichkeit, den betreffenden Kausalschluss im Rahmen des indirekten Realismus zu begrnden. So weit, so gut. Indessen ist die Argumentation IR in einem wichtigen Punkt noch nicht zulnglich fr die indirekte Rechtfertigung des TrI als Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde. Damit meine ich nicht etwa, wie manchmal gegen die oben dargestellte Teilargumentation behauptet wird, dass sie nicht stichhaltig sei.297 Mir kommt es vielmehr auf eine Unzulnglichkeit an, die selbst unter der Annahme, dass jene Teilargumentation stichhaltig ist, noch in der Argumentation IR als indirekter Rechtfertigung des TrI bestehenbleiben wird. Diese Unzulnglichkeit liegt in der Annahme der Argumentation IR, dass der Realismus rumlicher Gegenstnde nur den indirekten Realismus fr seine Wahrnehmungstheorie zulsst. Es gibt jedoch in der Tat eine Position, die unter Annahme des Realismus rumlicher Gegenstnde dennoch behauptet, dass rumliche Gegenstnde (als erkenntnisunabhngige) in einem gewissen Sinne auch unmittelbar, d. h. ohne Rekurs auf den Kausalschluss, wahrgenommen werden kçnnen; diese Position entspricht dem sogenannten „direkten Realismus“. Die Argumentation IR lsst diese mçgliche Option von Anfang an außer Acht. Sie ist deswegen fr die indirekte Rechtfertigung des TrI als Anti-Realismus unzulnglich, denn diese erfordert, dass jede Variante des Realismus rumlicher Gegenstnde zum skeptischen Idealismus fhren muss. Allerdings bercksichtigt Kant im vierten Paralogismus (A) nur die Variante des TrR, die zum indirekten Realismus fhrt. Dies ist eine notwendige Folge daraus, dass er einfach – ohne besondere Begrndung – annimmt, dass nur das transzendental Innerliche unmittelbar wahrgenommen werden kçnne (vgl. die Stufe 1 der Argumentation K), und denkt, dass unter Annahme des TrR die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde unmçglich ist, da sie nicht epistemisch begrndet werden kann. 297 Dancy selbst suggeriert: „For all its hoary past, however, there is a growing conviction that the argument [sc. das oben zitierte] is misconceived“ (ders. 1985, S. 165). Es mag vielleicht mçglich sein, die betreffende Teilargumentation zugunsten des indirekten Realismus zurckzuweisen, oder aber auch, sie gegen mçgliche Einwnde noch zu strken. – Ich gehe hier auf dieses Thema nicht ein und konzentriere mich stattdessen auf die Unzulnglichkeit der Argumentation IR fr die indirekte Rechtfertigung des TrI.
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demzufolge den Ursprung des skeptischen Idealismus bloß als Problem des Kausalschlusses versteht. Daraus geht hervor, dass Kants Argumentation im vierten Paralogismus (A) wesentlich unfhig ist, die Alternative eines direkten Realismus auszuschließen. Ist es aber nicht mçglich, aus Kants berlegungen an anderen Stellen als dem vierten Paralogismus (A) einen Anhalt zu der geforderten Argumentation herauszulesen? Im nchsten Unterabschnitt verfolge ich diese Mçglichkeit. 5.3.3 Argumentation aus Kants Logik-Vorlesungen (Argumentation L) Gesucht wird eine Argumentation, die folgende Forderungen befriedigt: (1) Der skeptische Idealismus, der durch diese Argumentation als Konsequenz aus dem Realismus rumlicher Gegenstnde folgt, soll besagen, dass die Erkenntnis rumlicher Gegenstnde nicht bloß fallibel, sondern gerade unmçglich ist. (2) Es soll nachgewiesen werden, dass der Realismus rumlicher Gegenstnde jeder Art – nicht nur spezifische Varianten desselben, die fr ihre Wahrnehmungstheorie den indirekten Realismus verwenden – zum skeptischen Idealismus im obigen Sinne fhren muss. Hierfr muss also auf ein anderes Argument, als auf die Fragwrdigkeit des Kausalschlusses, rekurrieren. Ein Anhaltspunkt zu einer derartigen Argumentation findet sich in dem, was vor allem in Kants Logik-Vorlesungen als „Diallele“ (bzw. „Dialexe“, „Dialektik“ usw.) vorgestellt wird. Sie findet in folgender Reflexion den prgnantesten Ausdruck: „Mein Urtheil soll mit dem obiect bereinstimmen. Nun kan ich das obiect nur mit meiner Erkentnis vergleichen dadurch, daß ich es erkenne. dialele.“ (Refl. 2143, Ak. 16, S. 251)
Die ausfhrlichste Darstellung findet sich in folgender Textpassage der Logik Philippi (1772): „In jedem Urtheil worauf beruhet die Wahrheit und Falschheit? Darauf daß die Erkenntniß mit dem Gegenstande bereinstimme. Gut, aber wie kann ich es sehen, daß meine Erkenntniß mit dem Gegenstande stimmt? Ich kann den Gegenstand nur vergleichen in so ferne ich ihn kenne. Ich kann den Gegenstand selbst mit meiner Erkenntniß nicht vergleichen, sondern nur die Erkenntniß des Gegenstandes mit der Erkenntniß desselben Gegenstandes, und wenn sie stimmen so sage ich die Erkenntniß ist wahr. [. . .] Hiewieder setzten die Alten die Dialectic, worin sie alle Merkmale der Wahrheit verachten wollten. Sie lautet also: Wenn jemand, den ihr nicht kennet, etwas fr wahr
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ausgiebt, und er berufft sich um seine Aussage zu besttigen deßhalb auf einen andern, den ihr auch nicht kennet; so ist die Frage ob ich gewiß seyn kann, daß das wahr sey was er aussagt? Nein; denn ich kann nur etwas fr wahr aufnehmen, in so ferne es mit dem Gegenstande stimmt. Hier kenn ich aber die Gegenstnde oder jene Leute nicht. Eben so ist es mit dem Erkenntniß beschaffen. Die eine Erkenntniß des Gegenstandes, von der ich nicht weiß ob sie wahr ist, berufft sich auf eine andere Erkenntniß des Gegenstandes von der ich auch nicht weiß ob sie wahr sey, und doch wenn sie stimmen, sage ich, daß sie wahr sey. Es ist diese Dialectik kein blosser Einwurf sondern ein Argument, und dienet die eigentliche Natur der Wahrheit zu erkennen. Die Wahrheit ist die Zusammenstimmung der Erkenntnisse vom Gegenstande mit sich selbst. Denn was wir Gegenstnde nennen sind nur unsre Erkenntnisse.“ (Ak. 24, S. 387)
Diese Textpassage ist besonders bemerkenswert, weil Kant hier der Diallele („Dialectic“) ausdrcklich den positiven Beitrag zuerkennt, dass sie „dienet die eigentliche Natur der Wahrheit zu erkennen“. Kants Erwhnung dieser Diallele findet sich außerdem in der Logik (hrsg. von Jsche), Ak. 9, S. 50, Logik Blomberg, Ak. 24, S. 81, Logik Dohna-Wundlacken, Ak. 24, S. 718, und Wiener Logik, Ak. 24, S. 822.298 (Die dritte grndet auf Kants Vorlesung im Jahr 1792. Fr die zweite und die vierte wird geschtzt, dass sie aus Kants Vorlesung in den 60er Jahren bzw. der Mitte der 90er Jahre stammt; vgl. Lehmann 1966, S. 975 – 83.) Die Tatsache, dass sich Kants Auseinandersetzung mit diesem Thema in seinen Logik-Vorlegungen in verschiedenen Jahreszeiten belegen lsst, deutet darauf hin, dass die betreffende Diallele fr ihn ein vertrautes Thema war. Man mag hier aber einen Verdacht erheben: Auch wenn man zugibt, dass die Diallele in Kants verschiedenen Logik-Vorlesungen erçrtert wird, bedeutet dies nicht sofort, dass sie auch fr die KdrV relevant ist. Allerdings wird die Diallele auch in der KdrV erwhnt, jedoch derart, dass Kant an diesem Thema vielmehr vorbeigeht (vgl. A57/B82).299
298 Vgl. auch Philosophische Enzyklopdie, Ak. 29, S. 20. – Die Diallele, die an den genannten Textstellen erçrtert wird, entspricht dem, was Thomas Nenon besonders als „epistemologische Diallele“ klassifiziert; vgl. ders. 1986, S. 44 – 53. 299 Außerdem steht in der Logik folgender Satz: „Nur ist die Auflçsung der gedachten Aufgabe [sc. der Aufgabe, die fr die Entgegnung der Diallele gefordert wird] schlechthin und fr jeden Menschen unmçglich“ (Ak. 9, S. 50). Eine mçgliche Deutung dieser Textpassage ist, dass Kant denkt, dass die Entgegnung der Diallele selbst im Rahmen seines TrI unmçglich ist; wenn dies der Fall ist, kann die Diallele nicht fr die indirekte Rechtfertigung des TrI verwendet werden. Ich finde aber diese Deutung unplausibel, denn es ist schwer zu glauben, dass Kant sich bloß
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Dagegen ist Folgendes zu bemerken: Kant erçrtert zwar die Diallele weder in A57/B82 noch im vierten Paralogismus (A), welcher eigentlich der adquateste Ort fr ihre Erçrterung wre. Es gibt jedoch in der Transzendentalen Deduktion (A) eine Textpassage, die letztlich kongenial mit der Diallele in den Logik-Vorlesungen einhergeht: „Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen, Gegenstand redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas berhaupt = X msse gedacht werden [dies impliziert, dass ein solcher Gegenstand in concreto nicht erkannt werden kann, K.C.], weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenbersetzen kçnnten.“ (A104, kursiv von K.C.)300
Diese Erwhnung deutet darauf hin, dass Kant die kritische Kraft der Diallele eher fr offensichtlich hlt und sie eben deswegen nicht eigens erçrtert. Bei der Diallele handelt es sich nicht etwa um eine originale Einsicht Kants; er selbst stellt sie als die Dialektik der „Alten“ vor (vgl. das obige Zitat aus der Logik Philippi). Zudem stellt sie eine gewçhnliche Argumentation gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit dar (oder gegen die realistische Wahrheitskonzeption im Sinne der vorliegenden Abhandlung).301 Eben deswegen gibt es auch viele Einwnde gegen sie. Ich versuche im Nachfolgenden, eine auf der im kantischen Text dargestellten Einsicht basierende Argumentation zu rekonstruieren, die der indirekten Rechtfertigung des Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde dient und zumindest soviel rigide ist, dass sie naheliegenden Einwnden begegnen kann. Zuerst muss Folgendes beachtet werden: In Kants eigener Darstellung der Diallele wird die Unmçglichkeit des Vergleichs der Erkenntnis mit ihrem „Gegenstand“ besprochen. Es ist aber aus dem Kontext klar, dass der dort gemeinte „Gegenstand“ nichts Anderes als dasjenige ist, was unabhngig von unserer Erkenntnis existieren soll, denn wenn dieser „Gegenstand“ unser damit zufrieden gibt, auf die Aporie hinzuweisen, ohne zu versuchen, sie aufzulçsen. 300 Nenon 1986 (S. 52) fhrt diese Textpassage als ein Beispiel dafr an, dass Kant die Diallele nicht zu widerlegen versucht, sondern vielmehr zugibt. Prauss 1980 und Becker 1984 weisen ebenfalls, wenn auch nicht mit Erwhnung dieser Textpassage, auf den Zusammenhang zwischen Kants TrI und der Problematik der Diallele hin. 301 Van Cleve 1999 fhrt als Beispiele dafr Neurath, Dewey, Davidson, Rorty und BonJour an. Alston 1996 erwhnt zudem Blanshard und Hempel.
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mentaler Zustand bzw. eine davon abhngige Entitt (wie etwa ein intentionales Objekt) wre, msste es unproblematisch sein, unsere Erkenntnis mit ihm zu vergleichen. Mit Rcksicht darauf kann die Diallele zu folgender Argumentation ausgefhrt werden (diese nenne ich fortan „Argumentation L“): [Erste Hlfte: Was unabhngig von unserer Erkenntnis existiert (d. h. das transzendental ußerliche), ist unerkennbar] Stufe 1: Um zu besttigen, dass eine Erkenntnis A ber etwas Erkenntnisunabhngiges wahr ist, muss A daraufhin berprft werden, ob sie ihren Gegenstand korrekt reprsentiert oder nicht. D.h., A muss mit ihrem Gegenstand, der ex hypothesi unabhngig von unserer Erkenntnis existiert, in irgendeiner Weise verglichen werden. Stufe 2: Es gilt im Allgemeinen, dass man einen Gegenstand nur dann zum Vergleich bringen kann, wenn man ihn erkennt. Man kann also A mit ihrem Gegenstand nicht schlechthin, d. h. nicht ohne Rekurs auf eine andere Erkenntnis, vergleichen. Wenn der geforderte Vergleich berhaupt mçglich sein soll, ist er nur derart mçglich, dass A mit einer anderen Erkenntnis B ber den fraglichen Gegenstand verglichen wird. Stufe 3: Damit B zur Besttigung der Wahrheit von A dienen kann, muss bereits festgestellt worden sein, dass B wahr ist (d. h., dass B den fraglichen Gegenstand korrekt reprsentiert). Wie ist nun dies mçglich? Dafr bedarf es noch einer anderen Erkenntnis ber den betreffenden Gegenstand, die bereits als wahr festgestellt worden ist, und dafr bedarf es noch einer anderen Erkenntnis usf., ohne Ende. Es gibt nmlich keine privilegierte Erkenntnis, die ihre Korrektheit von sich selbst aus beweisen kçnnte.302 (Wenn irgendeine Erkenntnis diesen Anspruch stellt, wird ihr die gleiche Frage gestellt.) Stufe 4: Es ist aber leicht einzusehen, dass man in dieser Weise niemals zum fraglichen Gegenstand selbst, der ex hypothesi erkenntnisunabhngig ist, gelangen kann. Dies spricht dafr, dass die Wahrheit der Erkenntnis ber das Erkenntnisunabhngige niemals besttigt werden kann. Dies bedeutet, dass die Erkenntnis des Erkennt302 Man beachte, dass hier nur von Erkenntnissen ber erkenntnisunabhngige Gegenstnde die Rede ist. Ich stelle nmlich anders als der radikale Kohrentismus nicht in Frage, dass die Erkenntnis ber das eigene Frwahrhalten selbstbesttigend sein kann.
5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation
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nisunabhngigen niemals epistemisch begrndet werden kann. Sie ist nmlich unmçglich gerade wegen der Unmçglichkeit der epistemischen Begrndung derselben. [Zweite Hlfte: Vom Realismus zum skeptischen Idealismus] Stufe 5: Der Realismus rumlicher Gegenstnde erachtet diese als erkenntnisunabhngig. Stufe 6: Aus Stufe 4 und 5 folgt, dass es fr den Realismus unvermeidlich ist, die Mçglichkeit der Erkenntnis rumlicher Gegenstnde berhaupt zu verneinen; was dem skeptischen Idealismus entspricht. (Der Anti-Realismus hingegen vermeidet diese Konsequenz, indem er rumliche Gegenstnde als erkenntnisabhngig erachtet.) Zu dieser Argumentation sind zunchst folgende vier Punkte anzumerken: (1) Anders als die verwandten Argumentationen gegen die Korrespondenztheorie der Wahrheit von Blanshard 1939 und Blackburn 1984 (die jeweils von Alston 1996 und Van Cleve 1999 kritisiert werden), rekurriert Argumentation L nicht auf die Idee der Begriffsabhngigkeit der uns mçglichen Gegenstnde berhaupt (nmlich die Idee, dass wir ohne Verwendung des Begriffs nichts zum Gegenstand machen kçnnen). (2) Argumentation L zielt auch nicht darauf ab, entgegen der Korrespondenztheorie die Kohrenztheorie der Wahrheit zu motivieren. Was nmlich durch sie zum Skeptizismus gefhrt wird, ist die realistische Wahrheitskonzeption, deren Ablehnung nicht automatisch zur Akzeptanz der Kohrenztheorie fhrt. Es taugt also nicht als Kritik an der Argumentation L, auf diejenigen Schwierigkeiten hinzuweisen, welche fr die Kohrenztheorie eigentmlich sind (z. B., dass eine bloß logische Kohrenz fr die Wahrheit nicht hinreichend sei). (3) Argumentation L hat nicht zur Konsequenz, dass Behauptungen ber das Erkenntnisunabhngige keineswegs wahr sein kçnnen; sie schließt nmlich die Mçglichkeit nicht aus, dass solche Behauptungen zuflligerweise ihre Gegenstnde korrekt reprsentieren. Es kommt bei der Argumentation L vielmehr darauf an, dass, selbst wenn dergleichen der Fall ist, man dies nicht mit epistemischer Begrndung behaupten kann, so dass die Erkenntnis des Erkenntnisunabhngigen in dem Sinne unmçglich ist, dass sie unbegrndbar ist.303 303 Dies ist ein Beispiel dafr, was Kant in A388 im Gegensatz zu dem „dogmatischen Einwurf“ als „kritischen Einwurf“ bezeichnet. Der erste Einwurf soll zeigen, dass
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(4) Argumentation L behauptet auch nicht, dass in Bezug auf das Erkenntnisunabhngige nicht einmal dessen Existenz bewiesen werden kann. Sie hat nur soviel zur Konsequenz, dass die Erkenntnis der konkreten Beschaffenheit desselben unmçglich ist, denn nur fr solche Erkenntnisse wird der betreffende Vergleich zwischen Erkenntnis und Gegenstand erfordert. Die These, dass etwas Erkenntnisunabhngiges existiert, enthlt per se keine Behauptung darber, wie es in concreto beschaffen ist. – In Kapitel 8 werde ich einen Beweis fr die Existenz des Erkenntnisunabhngigen darstellen, der gegen die Argumentation L (und auch gegen Kants berhmte Doktrinen der Unerkennbarkeit der Dinge an sich und der Unanwendbarkeit der Kategorien auf diese) nicht verstçßt. Es soll nunmehr nachgewiesen werden, dass Argumentation L die zu Beginn dieses Unterabschnittes gestellten zwei Forderungen befriedigt. Was die Forderung (1) angeht, ist dies leicht einzusehen. Fr die Forderung (2) muss zunchst folgender Punkt bemerkt werden: Der direkte Realismus behauptet zwar, dass rumliche Gegenstnde auch direkt, nmlich ohne Vermittlung des Kausalschlusses, wahrgenommen werden kçnnen. Er geht aber natrlich nicht so weit zu behaupten, dass solche direkten Wahrnehmungen infallibel sind. Dies bedeutet aber: Auch der direkte Realismus muss dazwischen unterscheiden, einerseits, was durch die direkte Wahrnehmung vorgestellt wird, und andererseits, wie der davon intendierte Gegenstand an sich selbst ist, und daraus resultierend muss er zugestehen, dass beide mçglicherweise voneinander abweichen (vgl. Dancy 1985, S. 169 – 73). Daraus ergibt sich, dass selbst der direkte Realismus sich zu der Aufgabe verpflichtet, zu besttigen, ob unsere Erkenntnis ihren Gegenstand korrekt reprsentiert oder nicht. Und wenn soviel zugestanden wird, ist es nicht zu leugnen, dass auch der direkte Realismus unter den Machtbereich der Argumentation L fllt, denn diese (sofern sie schlssig ist) zeigt gerade, dass jene Aufgabe insofern unerfllbar ist, als der Realismus rumlicher Gegenstnde angenommen wird. So ist Argumentation L fr die indirekte Rechtfertigung des AntiRealismus geeigneter als die Argumentation IR; sie hat zudem, anders als diese, eine textliche Untersttzung in Kants eigener Darstellung. Angesichts dessen wre es nicht abstrus, sie als eine „kantische“ Argumentation zu betiteln. Dadurch ist die indirekte Rechtfertigung des TrI, die Kant im eine thematisierte Behauptung (hier: eine Behauptung ber rumliche Gegenstnde unter der Voraussetzung des Realismus) falsch ist; der zweite hingegen, dass sie unbegrndet bzw. unbegrndbar ist.
5.3 Rekonstruktion der kantischen Argumentation
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vierten Paralogismus (A) intendiert, zumindest in einer folgerichtigen Form vollgebracht worden. Es ist aber eine andere Frage, ob Argumentation L auch sachlich stichhaltig ist. Ich denke nicht, dass sie gegenwrtige Epistemologen sofort berzeugt. Es wre wohl nicht unmçglich, sie gegen mçgliche Einwnde zu strken, doch bedrfte es dafr einer ausfhrlicheren Diskussion, die den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengen wrde. Ich greife hier nur drei Einwnde auf, um zu zeigen, dass die Argumentation L zumindest soweit rigide ist, dass sie diesen Einwnden begegnen kann. Die ersten zwei stammen aus Alston 1996 (insbesondere S. 97 – 102)304 und Van Cleve 1999 (S. 215 f. und Appendix N). Alston gesteht zu, dass ein direkter Vergleich der Erkenntnis mit einer extrakognitiven Tatsache unmçglich ist. Er argumentiert aber, dass dieser Vergleich fr die Konstatierung der realistischen Wahrheit nicht nçtig sei. Um dies plausibel zu machen, stellt er zunchst eine Diagnose, warum Vertreter der Diallele (er nennt Blanshard und Hempel als Beispiele) das Gegenteil geglaubt haben. Demnach htten diese gefordert, dass die Erkenntnis extrakognitiver Tatsachen infallibel sein msse (Alston 1996, S. 99). Nach dieser Diagnose stellt Alston eine entscheidende Behauptung auf: „Using commonly accepted, workaday standards for knowledge, it is only an extreme skeptic who doubts that we know many things that go beyond our speech acts, beliefs, and their propositional contents. And that being the case, we are well supplied with facts that we can examine to determine whether any of them render this or that propositional attitude or assertion true. It doesn’t matter how we came by this knowledge, or what credentials it exhibits, provided its credentials qualify it as genuine knowledge. We may have attained the knowledge by some relatively direct route, such as introspection or perception, or by some more indirect route, like induction, argument to the best explanation, or taking Y (a reliable sign of Z) to indicate that Z obtains. It doesn’t matter. So long as we know that Z obtains, that is enough to give us a sufficient condition for the truth of Z, on a realist conception of truth.“ (Ibid., S. 101, kursiv von K.C.)
304 Im direkt vorausgehenden Abschnitt (S. 87 – 97) erçrtert Alston nur die fragwrdige Konsequenz, welche fr die Argumentation Blanshards eigentmlich ist, dass nmlich „all we are aware of in [perception that necessarily involves judgment] is a judgment“ (S. 94). Argumentation L impliziert diese Konsequenz nicht, also lasse ich diesen Teil seiner Diskussion außer Acht.
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Kurzum: Wenn man einmal auf die inadquate Suche nach Infallibilitt verzichtet, kann man sich damit zufrieden geben, dass Erkenntnisse, die unseren gngigen epistemischen Kriterien nach hinreichend gerechtfertigt werden, im realistischen Sinne wahr sind. Prfen wir nun diesen Einwand. Zuerst ist Folgendes zu bemerken: Wie sehr er auch gegen die Argumentationen von Blanshard und Hempel gelten mag, er ist gegen Argumentation L kraftlos, weil diese mit der Suche nach Infallibilitt berhaupt nichts zu tun hat. Was sie in Frage stellt, ist gerade der Punkt, wie eine Erkenntnis ber das Erkenntnisunabhngige berhaupt epistemisch gerechtfertigt werden kann, wenn der direkte Vergleich derselben mit ihrem Gegenstand verstndlicherweise unmçglich ist. Dann aber stellt sich gegen Alston eine Frage: Wie kann seine Behauptung, dass Erkenntnisse, die unseren gngigen epistemischen Kriterien nach hinreichend gerechtfertigt werden, wahr seien, im Rahmen des Realismus begrndet werden? Bloß zu sagen, „It doesn’t matter“, reicht hier als Antwort nicht aus. Die Antwort ist in seiner Diskussion nicht einmal ansatzweise vorhanden. Im obigen Zitat findet man eine Bemerkung, die vielleicht als eine Art der Rechtfertigung fr seine fragliche Behauptung verstanden werden kçnnte. Diese lautet: Nur ein extremer Skeptiker wrde seine betreffende Behauptung in Zweifel ziehen. Damit meint Alston vielleicht, dass im blichen Kontext, in dem der extreme Skeptizismus keine lebendige Option darstellt, die Begrndung seiner Behauptung gar nicht gefordert werde.305 Es ist aber klar, dass Vertreter der Diallele gerade aufseiten dieses extremen Skeptizismus stehen. Wenn also die Ignorierbarkeit dieses Skeptizismus als ein Argument gegen die Diallele verwendet wird, ist es eine bloße petitio principii. – Alston bietet ohnehin (zumindest in ders. 1996) keine Begrndung fr seine fragliche Behauptung an. Daraus konkludiere ich, dass die kritische Potenz der Diallele gegen die realistische Wahrheitskonzeption zumindest nicht durch einen derartigen Einwand, wie er von Alston 1996 vorgelegt wird, gemindert wird. Betrachten wir dann den Fall Van Cleves. Er behauptet ebenfalls, dass der direkte Vergleich der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand fr die Konstatierung der (realistischen) korrespondenztheoretischen Wahrheit nicht nçtig sei. Dafr argumentiert er folgendermaßen: „It is no doubt true that I can „compare“ a given cognition with its object only by using another cognition, but that is not to say that what I am comparing is 305 Vielleicht nicht; in diesem Fall ergbe sich aber nur, dass seine betreffende Behauptung nicht einmal eine scheinbare Begrndung mit sich fhrt.
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cognition 1 with cognition 2. The argument [sc. die Diallele] confuses the vehicle of knowledge with its content.“ (Ders. 1999, S. 216)
Hier eine Zwischenbemerkung: Anhnger der Diallele kçnnen ebenfalls problemlos zustimmen, dass es bei diesem Vergleich nicht um die Erkenntnisse selbst, sondern vielmehr um das durch diese Erkenntnisse Vorgestellte geht. Dergleichen kann also nicht das sein, was Van Cleve im obigen Zitat meint. Was meint er dann? – Er geht weiter: „All one need assume, in order to maintain that it is possible after all to compare a cognition with its object [. . .], is that some cognitions do disclose features of the objects they cognize.“ (Ibid.)
Er behauptet nmlich: Wenn zumindest fr einige Erkenntnisse gesichert wird, dass sie ihre Gegenstnde korrekt reprsentieren, ist dies hinreichend dafr, eine Erkenntnis, obschon vermittelst dieser privilegierten Erkenntnisse, mit ihrem Gegenstand zu vergleichen. So weit, so gut. Wie ist es aber im Rahmen des Realismus berhaupt mçglich, solche privilegierte Erkenntnis zu identifizieren? Er erklrt dies zumindest in ders. 1999 nirgendwo, weder an der betreffenden Textstelle noch im diesbezglichen Appendix N (ibid., S. 254 – 6). Es ist aber klar, dass es gerade die Mçglichkeit solcher privilegierten Erkenntnisse ist, die bei der Diallele in Frage gestellt wird. Sofern Van Cleve dieser Infragestellung nicht begegnet, hat sein obiger Hinweis keine kritische Kraft gegen die Diallele. Seine Kritik an der Diallele behandelt noch einen exegetischen Diskussionspunkt: Er weist darauf hin (und ich stimme ihm insoweit zu), dass die Diallele auf der Annahme grnde, dass (a) „the contents of the mind are better known than anything in the external world“ (ibid., S. 256). Dies kollidiere aber, so fgt er hinzu, mit Kants Ansicht ber das Wissen „of the inner sphere“, dass nmlich (b) dieses Wissen „in principle no different from or superior to our knowledge of the outer sphere“ sei (ibid.). Es ist erstaunlich, dass Van Cleve, der selbst ein phnomenalistischer Kant-Interpret ist, diesen Einwand erhebt. Denn die Maßnahme, dem gleichartigen Einwand gegen die phnomenalistische Interpretation zu begegnen, steht auch in diesem Fall zur Verfgung; nmlich: Es geht bei (a) um die Inner-/ußerlichkeit im transzendentalen Sinne, bei (b) hingegen um die im empirischen Sinne. So verstanden, ergibt die Diallele berhaupt nichts, was mit Kants betreffender Ansicht kollidiert. Ich erçrtere noch einen mçglichen Einwand gegen die diallele-artige Infragestellung des Realismus berhaupt. Er betrifft eine katastrophale Konsequenz, die sich aus einer derartigen Infragestellung zu ergeben
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scheint. Er lautet: Sofern die Beweiskraft der Diallele gebilligt wird, kann die Option, die den sich daraus ergebenden Skeptizismus zu vermeiden in der Lage ist, weder ein Idealismus noch eine Kohrenztheorie der Wahrheit, sondern nur ein extremer Solipsismus sein. Denn genauso wie im Fall des transzendental ußerlichen ist es unmçglich, Gedanken von Anderen und meine Erkenntnis derselben direkt miteinander zu vergleichen, um diese Erkenntnis epistemisch zu begrnden. Dies ist meines Erachtens eine echte Herausforderung, der vollstndig zu begegnen eine gesonderte Forschung bençtigen wrde. Ich versuche hier nur, einen Lçsungsansatz aufgrund der Argumentation L aufzuzeigen. Wenn eine Person ihren Gedanken versteckt oder verstellt, ist es natrlich schwierig (oder sogar manchmal unmçglich), dass wir ihren Gedanken korrekt erkennen. Hier muss aber ein qualitativer Unterschied zu jenem Fall des transzendentalen ußerlichen bercksichtigt werden. Im hiesigen Fall besteht eine prinzipielle Mçglichkeit, dass wir ihren Gedanken korrekt erkennen kçnnen, wenn sie ihn uns aufrichtig mitteilt. Von einer solchen Mçglichkeit kann im Falle des transzendentalen ußerlichen gar keine Rede sein. Mit Rcksicht auf diesen Unterschied kçnnen Verteidiger der Argumentation L dem Solipsismus-Vorwurf begegnen, indem sie wie folgt argumentieren: Um den Solipsismus trotz der Billigung der Argumentation L zu vermeiden, ist es nicht erforderlich, dass wir Gedanken von Anderen in einer sicheren, infalliblen Weise erkennen kçnnen. Bei der Argumentation L ist keine Rede von der Infallibilitt, sondern vielmehr davon, dass im Rahmen des Realismus nicht einmal ein Anhalt zur Begrndung der Erkenntnis rumlicher Gegenstnde verfgbar ist. Was hingegen die Erkenntnis der Gedanken von Anderen anbelangt, so besteht hierzu wenigstens eine prinzipielle Mçglichkeit. So kçnnte man vermeiden, mit der Argumentation L zusammen den betreffenden Solipsismus zuzugestehen. – Dieser Lçsungsvorschlag bedarf wohl noch einer weiteren Ausarbeitung. Ich denke aber, dass er zumindest auf eine mçgliche Denkrichtung hinweist, die die nicht-solipsistische Version des Idealismus/ Anti-Realismus akzeptieren kann. Ich beschließe damit die Erçrterung der denkbaren Kritik an der Argumentation L. Es gibt vermutlich noch andere Typen der Einwnde gegen sie, doch muss ich darauf verzichten, Argumentation L auch gegen diese noch zu strken.306 Ich gebe mich hier damit zufrieden, dass die Argu306 Von der Kant-Interpretation abgesehen und in systematischer Hinsicht betrachtet, stellt meines Erachtens Argumentation L allerdings keine Knockout-Argumentation dar, der der Realismus in keinem Fall begegnen kann. Ich denke dennoch,
Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
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mentation L sich in zweifachen Sinnen als ordentlich erwiesen hat: Zum einen, dass sie, anders als die Argumentationen K und IR, die Aufgabe der indirekten Rechtfertigung des TrI als Anti-Realismus erfllt, und zum anderen, dass sie zumindest soweit sachlich rigide ist, dass sie nicht in einfacher Weise zurckgewiesen werden kann.
Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken In den letzten zwei Kapiteln wurde die anti-realistische Interpretation am Antinomiekapitel sowie am vierten Paralogismus (A) durch den Nachweis positiv belegt, dass beide folgerichtig nur anti-realistisch ausgelegt werden kçnnen. Sie erfhrt nun eine weitere Bewhrung, wenn dazu noch gezeigt wird, dass sie mit Kants sonstigen Thesen und Argumentationen vertrglich ist. Alle Theoriestcke der KdrV dahingehend zu prfen, ist im Rahmen der vorliegenden Abhandlung nicht mçglich und wohl auch unnçtig. In diesem Kapitel greife ich nur die Stellen auf, welche fr die Debatte bezglich der realistischen/anti-realistischen Interpretation des TrI besonders relevant erscheinen. Zuerst untersuche ich in Abschnitt 6.1 die Widerlegung des Idealismus (B). Sie wird hufig als ein entscheidender Beleg fr die realistische Interpretation angegeben. Es stellt sich jedoch heraus, dass sich die dortige Argumentation zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt, so dass sie keineswegs die anti-realistische Interpretation falsifizieren kann. In 6.2 diskutiere ich Kants Zwei-Aspekte-Redeweise. (Diese entspricht dem, was Barker 1967 „language of appearing“ nannte, im Gegensatz zu „language of appearances“; Letzteres nenne ich „Zwei-Welten-Redeweise“.) Sie liefert wohl den wichtigsten Beleg fr die realistische (und dementsprechend gegen die anti-realistische) Interpretation. Es ist in der Tat schwer zu leugnen, dass sie zu einer realistischen Zwei-Aspekte-Lehre fhrt. Diese widerspricht aber dem Anti-Realismus, den Kant zumindest im Antinomiekapitel und im vierten Paralogismus (A) deutlich vertritt. Angesichts dessen scheint es unvermeidlich, zu konkludieren, dass Kants TrI inkonsistent ist. dass sie eine echte Herausforderung bedeutet, die eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient. Wichtig ist, diese Herausforderung nicht zu unterschtzen.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Es ist jedoch voreilig, wenn man aus diesem Grund darauf verzichtet, den TrI berhaupt als eine einheitliche Doktrin zu verstehen. Die Mçglichkeit ist nmlich immer noch offen, dahingehend zu argumentieren, dass die anti-realistische Interpretation mit Kants substantiellen Argumentationen, in denen die Zwei-Aspekte-Redeweise gebraucht wird, vertrglich ist. Wird dies erfolgreich nachgewiesen, folgt daraus, dass die realistische Zwei-Aspekte-Lehre, die allenfalls durch Kants Redeweise belegt wird, kein unabdingbares Element von Kants kritischer Philosophie ist, so dass sie in Rcksicht auf die innerliche Konsistenz derselben vielmehr weggelassen werden muss. In den nachfolgenden zwei Abschnitten werden die Theoriestcke untersucht, in denen die Zwei-Aspekte-Redeweise besonders vorherrschend ist. In 6.3 untersuche ich den direkten Beweis des TrI in der Transzendentalen sthetik. Die dort dominante Zwei-Aspekte-Redeweise legt die Erwartung nahe, dass dieser Beweis eine realistische Zwei-Aspekte-Lehre entweder beweist oder als ein argumentativ unentbehrliches Element voraussetzt. Es gilt aber zugleich, dass Kant im Antinomiekapitel sagt, dass der TrI, welcher dort als „der Schlssel zu Auflçsung der kosmologischen Dialektik“ fungiert, schon in der Transzendentalen sthetik direkt bewiesen wurde (vgl. A490/B518 und A506/B534); das Gleiche gilt auch fr den vierten Paralogismus (A) (vgl. A378). Angesichts dieser textlichen Tatsachen ist vielmehr zu erwarten, dass dieser direkte Beweis schon eine Rechtfertigung des Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde beinhaltet. Dagegen werde ich zeigen, dass er sich, rein argumentativ gesehen, zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt. Er falsifiziert also nicht die antirealistische Interpretation, wenn er sie auch nicht positiv belegt. Abschnitt 6.4 behandelt Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs, die vor allem in Kants Freiheitslehre substantielle Verwendung findet. Die textliche Tatsache, dass Kant bei der Erçrterung dieser Doktrin ausdrcklich die Zwei-Aspekte-Redeweise gebraucht, ist ein starker Gegenbeleg zur anti-realistischen Interpretation. Dennoch ist die Mçglichkeit noch nicht ausgeschlossen, so behaupte ich, diese Doktrin so zu modifizieren, dass sie mit der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre vertrglich wird, ohne dadurch den wesentlichen Gehalt dieser Doktrin zunichte zu machen. Um dies nachzuweisen, bedarf es einer ausfhrlichen Erçrterung der Problematik der „Dinge an sich“, mit der ich mich erst in Kapitel 8 befasse. In 6.4 ziele ich zunchst darauf ab, das Problem der betreffenden Doktrin fr die anti-realistische Interpretation als solches zu verdeutlichen. Am Ende wird das Ergebnis von Teil II im Ganzen zusammengefasst
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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Man mag vielleicht Bedenken erheben, dass diese Untersuchung unzulnglich bleiben muss, sofern sie die Transzendentale Deduktion und die „Analytik der Grundstze“ nicht behandelt. Darauf entgegne ich: Diese Theoriestcke anti-realistisch zu deuten, ist schon von mehreren idealistischen bzw. phnomenalistischen Interpreten (z. B. Bennett 1966, Aquila 1983 und Van Cleve 1999) vorgefhrt worden. Angesichts dessen finde ich soviel offensichtlich, dass diese Theoriestcke anti-realistische Deutungen zumindest einrumen (obschon sie nicht unbedingt derart gedeutet werden mssen).307 – Ich denke zwar, dass sich die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation besonders an der Transzendentalen Deduktion als problematisch erweist, aber um dies konkret zu zeigen, bedarf es einer ausfhrlichen Erçrterung dieses bekanntlich umstrittenen Textes, die den Rahmen der vorliegenden Abhandlung sprengt. Ich gehe also hier darauf nicht ein, zumal die Vertrglichkeit der betreffenden Theoriestcke mit der antirealistischen Interpretation fr meine hiesige Zielsetzung hinreichend ist. 6.1 Widerlegung des Idealismus (B) In der Literatur wird manchmal behauptet, dass Kant – obwohl er selbst dies explizit verneint (vgl. BXXXVII und BXLII) – seine Ansicht vom vierten Paralogismus (A) zur Widerlegung des Idealismus (B) (fortan einfach: „Widerlegung (B)“) verndert hat. Demnach hat Kant im Ersteren 307 Lucy Allais behauptet (in dies. 2004, S. 663 f. und 2007, S. 461 f.), dass die phnomenalistische Interpretation mit den Analogien der Erfahrung nicht kompatibel ist, aber ihre Begrndung ist nicht berzeugend. Ihr Argument ist in Folgendem am prgnantesten ausgedrckt: „[. . .] Kant is not concerned merely with how we must construct experience [nur was laut Allais der Phnomenalismus erklren kann; K.C.], but also to argue that there must actually be substance that endures through time and is not created or destroyed“ (dies. 2007, S. 461, Anm. 10). Dergleichen ist aber fr den Phnomenalismus vçllig akzeptabel, denn sein Anti-Realismus lçst den Unterschied zwischen dem auf, wie die Erfahrung konstruiert werden muss (obschon nicht, wie sie jeweils de facto konstruiert wird) und wie die raumzeitliche Welt wirklich ist. Allais suggeriert außerdem, dass Van Cleve in ders. 1999, S. 120, selbst zugesteht, dass die Erste Analogie mit dem Phnomenalismus unvereinbar ist (dies. 2003, S. 663 und 2007, S. 461, Anm. 11). Van Cleves dortige Behauptung ist jedoch vielmehr, dass die Argumentation, die er rekonstruiert hat, mit dem Phnomenalismus unvertrglich ist, so dass der TrI eine andere Argumentation bençtigt. (Er hat die letztere nicht entwickelt, aber einige Hinweise darauf gegeben; vgl. ibid., S. 120 f.) Es wre ohnehin vorschnell, die betreffende Textpassage als Kapitulation der phnomenalistischen Interpretation zu verstehen.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Abschnitt in der Tat einen Idealismus vertreten, diesen aber spter unhaltbar gefunden und deshalb im Letzteren schließlich eine realistische Position vorgelegt.308 Dieser Eindruck wird zwar durch die Terminologie in der Widerlegung (B) nahegelegt; vor allem von der Aussage, dass es sich dort um von Vorstellungen unterschiedene Dinge handle.309 Dies scheint mit dem vierten Paralogismus (A) zu kollidieren. Wenn aber bloß von einer solchen Kollision die Rede ist, lsst sie sich leicht beseitigen. Man muss nmlich nur, wie in 5.2.2 (S. 178 f.) vorgeschlagen wurde, den Terminus „Vorstellung“ im empirischen Sinne deuten. Demnach kann man sagen, dass es sich in der Widerlegung (B) um Dinge handelt, die zwar vom empirisch Innerlichen unterschieden, aber im transzendentalen Sinne doch „in uns“ sind. Dieser Vorschlag ist eigentlich nicht neu, sogar in der Literatur mehrmals geußert worden.310 Ich zeige nun im Nachfolgenden, dass er gerade von der Argumentation der Widerlegung (B) her gerechtfertigt wird. Nachzuweisen ist nmlich, dass sich die dortige Argumentation per se zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt, so dass sie keinen Beleg gegen die anti-realistische Interpretation darstellt. Diese Betrachtung erlaubt des Weiteren, auf eine Eigentmlichkeit des vierten Paralogismus (A) ein neues Licht zu werfen. Betrachten wir zuerst das Beweisziel (den „Lehrsatz“): „Das bloße, aber empirisch bestimmte, Bewußtsein meines eigenen Daseins beweist das Dasein der Gegenstnde im Raum außer mir“ (B275). Ersteres bezeichne ich fortan als „empirisches Selbstbewusstsein“. Kant nimmt an, dass es selbst von skeptischen Idealisten zugestanden wird, dass man ein empirisches Selbstbewusstsein hat. Davon ausgehend argumentiert er, dass dies jedoch im Endeffekt ihrer skeptizistischen These widerspricht. Er sagt also, dass „das Spiel, welches der Idealism trieb, ihm mit mehrerem Rechte umgekehrt vergolten wird“ (B276). 308 Paul Guyer behauptet zudem, dass Kants Intention zum Realismus in den spteren Reflexionen (wie Refl. 5653 – 4 und 6311 – 6) noch deutlicher ist (vgl. ders. 1987, Teil IV; auch Fçrster 1985). Dagegen aber z. B. Beiser 2001, S, 127 – 31. Im Nachfolgenden untersuche ich diese Reflexionen nicht, denn die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung ist, Kants Position in der KdrV zu erhellen. 309 Vgl. z. B. BXLI Anm. („ein von allen meinen Vorstellungen unterschiedenes und ußeres Ding“) und B275 („nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir“). 310 Zum Beispiel: Mller-Lauter 1964, Workman 1969, Stuart 1975, Langston 1979, Gram 1982, Fçrster 1985, Hymers 1991, Forster 1994 und Beiser 2001.
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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Der „Lehrsatz“ in der oben zitierten Form erschçpft aber noch nicht den vollstndigen Gehalt des eigentlichen Beweisziels, denn er schließt folgende Mçglichkeit noch nicht aus: Obwohl jemand dessen gewiss werden kann, dass außer ihm etwas existiert, kann er doch gar nichts davon wissen, was in concreto existiert. Das Beweisziel muss vielmehr wie folgt ausgedrckt werden: Das empirische Selbstbewusstsein setzt voraus, dass wir (zumindest einige) wahre Erkenntnisse einzelner rumlichen Dinge haben. Kant macht diesen Punkt noch deutlicher, indem er sagt, dass „innere Erfahrung berhaupt nur durch ußere Erfahrung berhaupt mçglich sei“ (B278 f., kursiv von K.C.; vgl. auch B 275 und B277). Hierbei ist Folgendes zu bemerken: Sofern dieses Beweisziel fr sich allein betrachtet wird, wird darin nichts gefunden, was den Realismus erzwingt, denn es sagt nicht explizit aus, dass das „außer mir“ Existierende unabhngig von unserer Erkenntnis ist, oder dass die geforderte Wahrheit im realistischen Sinne verstanden werden muss. Betrachten wir nun die Argumentation nher (diese entspricht, außer der Stufe 3, dem „Beweis“ in B275 f.): Stufe 1: „Ich bin mir meines Daseins als in der Zeit bestimmt bewußt.“ Stufe 2: „Alle Zeitbestimmung setzt etwas Beharrliches in der Wahrnehmung voraus.“ Stufe 3: „Dieses Beharrliche aber kann nicht eine Anschauung in mir sein.“ (BXXXIX Anm.) Stufe 4: „Also ist die Wahrnehmung dieses Beharrlichen nur durch ein Ding außer mir und nicht durch die bloße Vorstellung eines Dinges außer mir mçglich.“ Stufe 5: „Folglich ist die Bestimmung meines Daseins in der Zeit nur durch die Existenz wirklicher Dinge, die ich außer mir wahrnehme mçglich.“ – Dies entspricht dem „Lehrsatz“.
Das Anliegen der folgenden Untersuchung ist nicht, diesen „Beweis“ zu einer sachlich berzeugenden Argumentation auszuarbeiten. Es kommt hier vielmehr darauf an, Kants tatschlichen Argumentationsgang zu erhellen. Gerade dies ist wesentlich fr die Aufgabe dieses Abschnitts, nmlich die Vertrglichkeit der anti-realistischen Interpretation mit der Widerlegung (B) nachzuweisen. Dabei lehne ich mich im Nachfolgenden großenteils an der Auslegung von Allison 2004 (vor allem S. 288 – 98) an, die meines Erachtens Kants dortige Beweisfhrung weitgehend adquat wiedergibt.311 Dadurch wird es ermçglicht, die Erçrterung scharf auf meine hiesige Aufgabe zu fokussieren. 311 Ich stimme ihm aber nicht zu, sofern er behauptet, dass die von ihm rekonstruierte
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Ad Stufe 1: Was hier prsentiert wird, ist eine Explikation des empirischen Selbstbewusstseins. Wie Allison bemerkt, lsst diese Explikation zwei Lesarten zu (vgl. ibid. S. 289 f.): Zum einen, in „dicker (thick)“ Lesart, inkludiert das empirische Selbstbewusstsein per definitionem eine wahre Erkenntnis hinsichtlich der wirklichen Zeitordnung meiner Vorstellungen. Zum anderen, in „dnner (thin)“ Lesart, ist es vielmehr ein bloßes Meinen, dass ich jetzt denke, dass ich so und so zeitlich geordnete Vorstellungen gehabt habe. Es wird dabei nicht ausgeschlossen, dass dieses Meinen die wirkliche Zeitordnung meiner Vorstellungen nicht korrekt reprsentiert.312 – Entgegen Allison bevorzuge ich die dicke Lesart; den Grund hierfr erçrtere ich bei der Untersuchung der Stufe 4. Es folgt nun aus Stufe 1 ohne weiteres, dass ich, um empirisches Selbstbewusstsein zu haben, eine Zeitordnung berhaupt bestimmen kçnnen muss. Das Ziel der nachfolgenden Stufen ist es, nachzuweisen, dass der Besitz (zumindest einiger) wahrer Erkenntnisse der Dinge außer mir eine unentbehrliche Bedingung fr die allgemeine Zeitbestimmung ist. Ad Stufe 2: Die These dieser Stufe (die Allison „backdrop thesis“ nennt) wird in der Ersten Analogie erçrtert.313 Das geforderte Beharrliche dient nmlich als Framework, auf das bezogen das Nacheinander- und das Zugleichsein erst vorstellbar werden. Zu beachten ist hier Folgendes: Die Zeitbestimmung bençtigt nicht nur die bloße Existenz beharrlicher Dinge, ebenfalls nicht nur das Wissen, dass irgend etwas Beharrliches existiert, sondern vielmehr Erkenntnisse Argumentation auch in sachlicher Hinsicht verteidigt werden kann; vgl. unten, Anm. 316. 312 Dieses Meinen beinhaltet zwar auch eine Komponente der Wahrheit; nmlich hinsichtlich dessen, dass ich jetzt dergleichen tatschlich denke. Soviel wird aber bloß aufgrund dieses Meinens direkt garantiert. Gerade in diesem Punkt liegt Allisons Grund fr die dnne Lesart. Denn der Erfolg der Argumentation der Widerlegung (B) hngt davon ab, dass skeptische Idealisten billigen, dass man das empirische Selbstbewusstsein hat (vgl. ibid., S. 291). Aber ein skeptischer Idealist, der dieses in dicker Lesart nicht billigt, ist leicht vorstellbar. Hingegen ist es in dnner Lesart wohl unbezweifelbar, egal von welchem philosophischen Standpunkt aus. 313 Vgl. Allison 2004, S. 237 – 9. Zu beachten ist, dass die „backdrop thesis“ nicht der ganzen Behauptung der Ersten Analogie entspricht, sondern nur einer Stufe fr den Beweis derselben; vgl. ibid. S. 291. Man kann jedoch selbst diese These in Frage stellen; vgl. z. B. Van Cleve 1999, S. 107 f. Ich gehe aber darauf nicht ein. Wichtig ist hier nur, dass es gerade eine solche These ist, die Kant auf dieser Stufe im Sinne hat; ich denke, dass Allison zumindest in diesem Punkt Recht hat.
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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konkreter beharrlicher Dinge. Denn die Zeitbestimmung wird, der These dieser Stufe zufolge, gerade dadurch durchgefhrt, dass auf solche Dinge als Framework derselben referiert wird. Ad Stufe 3: Wie Allison erklrt (ibid., S. 292), muss die hiesige „Anschauung“ nicht als Anschauung selbst, sondern vielmehr als angeschauter Gegenstand (das Angeschaute) verstanden werden. Denn die Anschauung als solche ist, egal ob innere oder ußere, zweifelsohne „in uns“; nur ber das Angeschaute kçnnen wir sinnvoll fragen, ob es in oder außer uns ist. – Auf dieser Stufe wird also behauptet: Das geforderte Beharrliche kann nicht etwas in mir Angeschautes sein. Der Grund dafr ist nun Folgender: Das in mir Angeschaute (die Vorstellung bzw. Apprehension) ist laut Kant „jederzeit sukzessiv“ und „immer wechselnd“ (A182/B225; vgl. auch BXLI Anm.), so dass es als gefordertes Framework der Zeitbestimmung nicht dienen kann. Kant denkt zudem, dass das diachronisch identische Ich im reinen Selbstbewusstsein die Aufgabe des geforderten Beharrlichen nicht bernehmen kann (vgl. B278).314 Es folgt also aus dieser Stufe zunchst, dass das geforderte Beharrliche etwas außer mir sein muss, damit es nicht so wie das in mir Angeschaute „immer wechselnd“ ist. Ad Stufe 4: Hier wird der entscheidende Schritt getan; die Stufe 5 ist nicht mehr als eine bloß logische Konsequenz aus dieser und Stufe 1. Was den Behauptungsgehalt angeht, gilt hier das Gleiche wie auf der Stufe 2: Gefordert wird nicht die bloße Existenz eines „Dings außer mir“, ebenfalls nicht nur das Wissen, dass irgend etwas außer mir existiert, sondern vielmehr wahre Erkenntnisse konkreter Dinge außer mir. Die Zeitbestimmung wird erst dadurch mçglich, dass auf solche Dinge als beharrliches Framework derselben referiert wird. Hier stellt sich nun eine Frage: Warum bedarf es hier wahrer Erkenntnisse? Selbst in einer falschen Erkenntnis kann etwas Beharrliches gesetzt werden. Warum reicht dann ein falsch gesetztes Beharrliches fr das empirische Selbstbewusstsein noch nicht aus? Man denke hier z. B., dass eine Person gerade trumt und eine Sukzession ihrer Vorstellungen anhand ihrer Armbanduhr (allerdings nur in diesem Traum) „besttigt“ hat. Die dicke Lesart des empirischen Selbstbewusstseins bietet hier eine Lçsung: Ihr gemß beinhaltet dieses per definitionem wahre Erkenntnisse hinsichtlich der wirklichen Zeitordnung eigener Vorstellungen. Wahre 314 Die sachliche Legitimitt dieser Auffassung ist in der Literatur heftig debattiert worden; vgl. z. B. Guyer 1987 und Vogel 1993. Dieses Problem ist aber fr meine hiesige Aufgabe nicht konstitutiv, also gehe ich darauf nicht ein.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Erkenntnis lsst sich aber verstndlicherweise nicht anhand falscher Erkenntnis begrnden. Deshalb mssen die Erkenntnisse der Dinge außer mir, die das geforderte Framework liefern sollen, zumindest dermaßen wahr sein, dass sie die Wahrheit des empirischen Selbstbewusstseins garantieren. Fr die dnne Lesart hingegen ist eine solche Lçsung nicht verfgbar. Eine andersartige Lçsung drfte auch unmçglich sein,315 denn die Widerlegung (B) beweist bestenfalls (auch angenommen, alle sonstigen Stufen seien stichhaltig), dass die Wahrheit des empirischen Selbstbewusstseins mit derjenigen der ußeren Erkenntnis zusammenhngt. Das ist der Grund, warum ich die dicke Lesart bevorzuge.316 Aufgrund der obigen Vorbereitung kann nunmehr das Hauptthema dieses Abschnitts in Angriff genommen werden. Ich stelle zuerst fest, dass die Argumentation der Widerlegung (B) den Anti-Realismus nicht antastet. Dafr sind folgende zwei Punkte zu bercksichtigen: (1) Die Widerlegung (B) beweist zum einen, dass beharrliche Dinge außer mir existieren. Die dortige Argumentation fordert aber von solchen beharrlichen Dingen nur, dass sie nicht „immer wechselnd“ sind wie das in mir Angeschaute, damit sie als Framework der Zeitbestimmung dienen kçnnen. Der rumliche Gegenstand in anti-realistischer Konzeption (d. h. was im empirischen Sinne ußerlich, aber im transzendentalen Sinne „in uns“ ist) befriedigt schon diesen Status des Beharrlichen. Denn er wird durch Erkenntnis geradezu als Beharrliches gesetzt (und zwar als dasjenige, was auch beharrt, whrend es nicht von mir wahrgenommen wird). Er wird dadurch von dem „immer wechselnden“ empirisch Innerlichen unterschieden, kann somit als Framework der Zeitbestimmung fungieren. Es 315 Es sei denn, wiederum, dass man ein substantiell anderes Argument (wie das Argument E in 5.2.4 (A)) hinzufgt; dies wrde aber die Argumentation in der Widerlegung (B) selbst, vor allem die dortige Diskussion der Zeitbestimmung, berflssig machen. 316 Allisons Versuch, die dnne Lesart zu rechtfertigen (ders. 2004, S. 296 – 8), scheitert gerade an diesem Punkt. Er sieht richtig, dass sich sowohl rumliche Gegenstnde als auch Vorstellungen in „a single universal time“ befinden, so dass, wenn ußere Erfahrung illusionr ist, dies fr innere Erfahrung ebenfalls gilt (S. 297 f.). Dann htte er aber umso mehr sagen mssen, dass das empirische Selbstbewusstsein eine wahre Erkenntnis beinhalten muss, weil die nur vorgestellte, illusionre Zeitordnung der eigenen Vorstellungen natrlich nicht zu dieser „single universal time“ gehçrt. Wenn aber die dnne Lesart nicht gerechtfertigt wird, stellt es sich Allison entgegen heraus, dass die Widerlegung (B) keine hinreichende Widerlegung des skeptischen Idealismus liefert.
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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gibt keinen argumentationsimmanenten Grund dafr, dass das geforderte Beharrliche nicht nur derart von „Vorstellungen“ unterschieden, sondern berdies auch von diesen unabhngig sein muss. Die letzte Hinzufgung ist berflssig, um die Argumentation der Widerlegung (B) in Gang zu bringen. (2) Die Widerlegung (B) beweist des Weiteren, dass ich (zumindest einige) wahre Erkenntnisse solcher beharrlichen Dinge habe. Es ist hier zu beachten, dass die dortige Argumentation nicht erzwingt, die Wahrheit im realistischen Sinne aufzufassen. Gefordert wird nur, dass die Erkenntnisse, durch die solche beharrlichen Dinge gesetzt werden, derart wahr sind, dass sie mit der Wahrheit des empirischen Selbstbewusstseins zusammenhngen. So ist die Widerlegung (B) auch mit der anti-realistischen Interpretation vertrglich. Genauer gesagt: Die dortige Argumentation verhlt sich als solche neutral sowohl zum Realismus als auch zum Anti-Realismus. Sie berhrt nmlich nicht das fr den Realismus/Anti-Realismus relevante ontologische Problem und beweist nur, dass ich einige „wahre“ Erkenntnisse rumlicher Dinge haben muss, ohne dabei die Konzeption der Wahrheit zu spezifizieren. – In diesem Punkt unterscheidet sich die Argumentation wesentlich von jener im vierten Paralogismus (A). Sie berhrt auch nicht die Problematik der Idealitt der Formen. Weder die „backdrop thesis“ (Stufe 2) noch das Argument, dass das in mir Angeschaute „immer wechselnd“ ist (Stufe 3), setzt voraus, dass Raum, Zeit und Kategorien ihren Ursprung in uns haben. Daraus ergibt sich, dass sich die Widerlegung (B) bezglich des ganzen Streits des TrI/TrR neutral verhlt.317 In diesem Punkt ist sie verwandt mit dem Argument E in 5.2.4 (A). Diese Neutralitt erteilt der Widerlegung (B) einen argumentationsstrategischen Vorzug, denn diese erfllt ihr Ziel (angenommen, sie sei schlssig), ohne dabei den TrI vorauszusetzen. Dies erleichtert ihre Beweislast, was in rein argumentativer Hinsicht wnschenswert ist. Indessen fhrt die Argumentation der Widerlegung (B) in einer anderen Hinsicht eine Unzulnglichkeit mit sich, die auf ihrer folgenden Eigen317 Allison ist hingegen der Auffassung, dass die Widerlegung (B) den TrI voraussetzt; vgl. ders. 2004, S. 300. Dabei meint er aber in Wahrheit nicht, dass die dortige Argumentation ihn voraussetzt, sondern vielmehr, dass sie als solche ein Problem ungelçst lsst, so dass sie ohne den TrI als Widerlegung des skeptischen Idealismus unzulnglich bleibt; dieses Problem erçrtere ich gleich.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
schaft beruht: Sie zeigt zwar die Selbstwidersprchlichkeit der skeptischidealistischen Annahme, dass man nur das empirische Selbstbewusstsein, aber keine ußere Erfahrung habe. Sie leistet jedoch als solche noch keinen Beitrag zu der Aufgabe, gegen die skeptizistische Infragestellung positiv zu erklren, wie die ußere Erfahrung berhaupt mçglich ist. Eine derartige Erklrung ist aber erforderlich, wenn man intendiert, nicht bloß die skeptischen Idealisten zum Schweigen zu bringen, sondern vielmehr den empirischen Realismus als eine reale Alternative zu sichern. – Sie wrde umso dringlicher, wenn man, der anti-realistischen Interpretation entgegen, die Widerlegung (B) mit dem Realismus kombinieren wollte. Denn es ist gar nicht offensichtlich, wie wir von Dingen, die unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, ein Wissen haben kçnnen.318 Besonders zu beachten ist hier, dass der Hinweis, dass „ußere Erfahrung eigentlich unmittelbar sei“ (B276), nicht zu der gesuchten Erklrung taugt. Wie oben (5.2.2, S. 169) erçrtert, ist der Terminus „unmittelbar“ kontext-abhngig.319 Die „Unmittelbarkeit“, welche durch die Argumentation der Widerlegung (B) fr die ußere Erfahrung ausgesagt wird, bedeutet eigentlich nur, dass diese nicht durch die innere Erfahrung vermittelt wird. Vielmehr ist umgekehrt die ußere Erfahrung unmittelbar im Vergleich mit der Mittelbarkeit der inneren Erfahrung. Der betreffende Hinweis provoziert daher eine weitere Frage: Wie ist eine solche „unmittelbare“ Erfahrung berhaupt mçglich? Diese Frage ist innerhalb der Argumentation der Widerlegung (B) unbeantwortet gelassen.
318 Man mag einwenden, dass die gesuchte Erklrung gerade die Aufgabe der Transzendentalen Analytik im Ganzen ist. Es ist aber dagegen zu beachten, dass es in der Transzendentalen Analytik zwar in einem Sinn erklrt wird, wie die Erfahrung mçglich ist, aber nicht in Rcksicht auf die skeptizistische Infragestellung. Dafr bedarf es einer zustzlichen Diskussion, wie sie z. B. im vierten Paralogismus (A) dargestellt wird. 319 Es sei denn, dass von einer schlechthinnigen Unmittelbarkeit (wenn so etwas berhaupt mçglich ist) die Rede ist. Jedoch kann die ußere Erfahrung nicht in diesem Sinne unmittelbar sein. Denn Folgendes zu sagen, verstçßt nicht gegen die Argumentation der Widerlegung (B): Die ußere Erfahrung ist nur vermittelst der Rezeptivitt mçglich; die „unmittelbare“ Erkenntnis in diesem Kontext wre so etwas wie die intellektuelle Anschauung Gottes, die, ohne affiziert zu werden, ihren Gegenstand von selbst hervorbringt. Es gibt Interpreten, die behaupten, dass Kant zur „Unmittelbarkeit“ der ußeren Erfahrung in den beiden Auflagen der KdrV miteinander unvertrgliche Erklrungen gibt; z. B. Kemp Smith 1918. Eine solche Beurteilung beruht jedoch auf dem bersehen der Kontextabhngigkeit des Terminus „unmittelbar“.
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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Nun wird die betreffende Erklrung nicht in sachlicher Hinsicht, sondern auch von Kants Konzeption des philosophischen Beweises her gefordert. Zu bercksichtigen ist folgende Textpassage im Abschnitt „Die Disziplin der reinen Vernunft in Ansehung ihrer Beweise“: „Die dritte eigentmliche Regel der reinen Vernunft, wenn sie in Ansehung transzendentaler Beweise einer Disziplin unterworfen wird, ist: daß ihre Beweise niemals apagogisch, sondern jederzeit ostensiv sein mssen. Der direkte oder ostensive Beweis ist in aller Art der Erkenntnis derjenige, welcher mit der berzeugung von der Wahrheit, zugleich Einsicht in die Quellen derselben verbindet; der apagogische dagegen kann zwar Gewißheit, aber nicht Begrifflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhanges mit den Grnden ihrer Mçglichkeit hervorbringen. Daher sind die letzteren mehr eine Nothilfe, als ein Verfahren, welches allen Absichten der Vernunft ein Genge tut. Doch haben diese einen Vorzug der Evidenz vor den direkten Beweisen, darin: daß der Widerspruch allemal mehr Klarheit in der Vorstellung bei sich fhrt, als die beste Verknpfung, und sich dadurch dem Anschaulichen einer Demonstration mehr nhert.“ (A789 f./B817 f., kursiv von K.C.)
Wichtig ist hier die Forderung, die Kant mit seiner Bevorzugung des „ostensiven Beweises“ erhebt. Ein philosophischer Beweis soll nmlich nicht nur aufweisen, dass eine These wahr ist, sondern dazu noch begrifflich machen, wie die thematisierte Sache mçglich ist.320 Ein Beweis, der dies nicht leistet, wie der „apagogische Beweis“, gilt bestenfalls als „Nothilfe“, die zwar wegen ihrer „Evidenz“ einen Vorteil hat, aber eigentlich durch einen ostensiven Beweis ergnzt werden muss.321 320 Kant fordert hierbei natrlich nicht nur, dass der philosophische Beweis den hinreichenden Grund dafr aufzeigen soll, die zu beweisende These fr wahr zu halten. Dies wre eine Selbstverstndlichkeit, die selbst vom apagogischen Beweis erfllt werden msste. Kants derartige Kritik des indirekten Beweises in der Philosophie weist eine interessante Verwandtschaft mit der Ablehnung der reductio ad absurdum vom mathematischen Intuitionismus auf. Die letztere wird dadurch motiviert, dass die reductio an sich keine positive Erklrung dafr liefert, wie wir den fraglichen mathematischen Gegenstand tatschlich finden bzw. konstruieren kçnnen; vgl. Dummett 2000, S. 6 f. 321 Der indirekte Beweis des TrI im Antinomiekapitel wird daher, Allen Wood entgegen (vgl. oben, S. 4.1.2, Anm. 147), legitimiert, weil er (zumindest Kants Ansicht nach) durch den direkten Beweis in der Transzendentalen sthetik ergnzt wird. – Kants Aussage, dass philosophische Beweise „niemals apagogisch, sondern jederzeit ostensiv sein mssen“, ist ohnehin unnçtig stark. Angesichts seiner tatschlichen Durchfhrung des indirekten Beweises im Antinomiekapitel ist es diese Aussage und nicht die Antinomienlehre, die in Rcksicht auf die Kohrenz der ganzen KdrV umgedeutet werden sollte.
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Demgemß wird im Kontext der Widerlegung des skeptischen Idealismus folgende Forderung gestellt: Es reicht noch nicht aus, nur die Falschheit des skeptischen Idealismus zu beweisen. Man muss auch positiv erklren, wie die ußere Erfahrung berhaupt mçglich ist. Die Argumentation der Widerlegung (B) ist aber bloß dazu arrangiert, sich eine solche Erklrung zu ersparen und den Selbstwiderspruch des skeptischen Idealismus schlechthin aufzuweisen. Sie erhlt dadurch als Widerlegung desselben einen Vorzug wegen ihrer „Evidenz“. Sie kann jedoch allenfalls als eine „Nothilfe“ gelten, die von einer substantiellen Erklrung der Mçglichkeit der ußeren Erfahrung suppliert werden muss. Der vierte Paralogismus (A) hingegen bietet eben eine solche Erklrung, und zwar gerade inmitten seiner anti-skeptizistischen Argumentation. Er hat daher in dieser Hinsicht (abgesehen von seinen sachlichen Problemen) einen beweistheoretischen Vorrang. Es ist allerdings nicht der Fall, dass eine solche Erklrung, durch die Streichung des vierten Paralogismus (A), in der zweiten Auflage der KdrV gnzlich fehlt. Zu bercksichtigen ist zunchst folgender Satz in der „Anmerkung 3“ der Widerlegung (B): „Ob diese oder jene vermeinte Erfahrung nicht bloße Einbildung sei, muß nach den besonderen Bestimmungen derselben und durch Zusammenhang mit den Kriterien aller wirklichen Erfahrung, ausgemittelt werden.“ (B279)
Kant sagt hier, dass die Wahrheit der ußeren Erkenntnis in Rekurs auf die „Kriterien aller wirklichen Erfahrung“ zu entscheiden ist. Jedoch ist dieser Hinweis allein ebenfalls fr die geforderte Erklrung unzulnglich, denn er lsst es unerklrt, wie folgendes Bedenken beseitigt werden kann: Die Wahrheit der ußeren Erfahrung mag selbst durch eine optimale Verwendung dieser Kriterien nicht garantiert werden. – Dieses skeptizistische Bedenken wrde wiederum umso dringlicher im Rahmen des Realismus. Die Lçsung findet sich aber im „Postulat des empirischen Denkens berhaupt“ hinsichtlich der Wirklichkeit, in dessen Kontext die Widerlegung (B) situiert ist: „Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhngt, ist wirklich.“ (A218/B266)
Dieses Postulat sagt nicht nur ein einseitiges Konditional aus, im Sinne von: „Wenn etwas mit der Empfindung zusammenhngt, dann ist es wirklich“; dies wre eine bloße Trivialitt (denn etwas Unwirkliches kçnnte natrlich nicht mit der Empfindung zusammenhngen). Es ist vielmehr
6.1 Widerlegung des Idealismus (B)
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ein Bikonditional,322 ja eigentlich muss man sagen: Es stipuliert die Bedeutung der „Wirklichkeit“, die ber raumzeitliche Gegenstnde ausgesagt wird.323 Der fragliche Zusammenhang schrnkt sich nicht auf die unmittelbare Wahrnehmung ein, sondern inkludiert auch den Fall, dass ein Gegenstand „nach Analogien der Erfahrung“ mit der Empfindung zusammenhngt.324 Dies tangiert aber nicht die Kernthese dieses Postulats: Dass ein raumzeitlicher Gegenstand wirklich ist, bedeutet geradezu, dass seine Existenz durch unsere empirische Erkenntnis (die letztlich auf Empfindungen zurckgreift), ob nun direkt oder indirekt, erkannt werden kann.325 322 Es schließt z. B. die Mçglichkeit aus, dass ein raumzeitlicher Gegenstand wirklich sein kann, auch wenn er nicht mit irgendeiner Empfindung zusammenhngt. 323 Obwohl dieser Punkt durch Kants Ausdruck „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen“ (A225/ B272; kursiv von K.C.) verdunkelt wird, besttigt er sich, wenn man hier auch die Postulate der Mçglichkeit und der Notwendigkeit mit einbezieht. Sie prsentieren nicht nur Bedingungen fr die Erkenntnis der Mçglichkeit und der Notwendigkeit. Bei den Postulaten handelt es sich vielmehr um die transzendentalphilosophische Bedeutung der Modalbegriffe, die substantieller als die bloß logische Bedeutung ist. 324 „Das Postulat, die Wirklichkeit der Dinge zu erkennen, fordert Wahrnehmung, mithin Empfindung, deren man sich bewußt ist, zwar nicht eben unmittelbar, von dem Gegenstande selbst, dessen Dasein erkannt werden soll, aber doch Zusammenhang desselben mit irgendeiner wirklichen Wahrnehmung, nach den Analogien der Erfahrung, welche alle reale Verknpfung in einer Erfahrung berhaupt darlegen“ (A225/B272). „Man kann aber auch vor der Wahrnehmung des Dinges, und also komparative a priori das Dasein desselben erkennen, wenn es nur mit einigen Wahrnehmungen, nach den Grundstzen der empirischen Verknpfung derselben (den Analogien), zusammenhngt“ (A225/B273; es muss aber kontra Allison (vgl. die nchste Anmerkung) betont werden, dass auch in diesem Fall „einige Wahrnehmungen“ erforderlich sind). 325 Allison erachtet eine derartige Konzeption als phnomenalistisch und erhebt dagegen folgenden Einwand: „Although [Kant] does hold that whatever is actual must be an object of possible perception, this is merely a consequence, not a criterion, of actuality. As the passage above [sc. A225/B272, zitiert in der letzten Anmerkung] indicates, the relevant criteria are provided by the Analogies of Experience, that is, by a set of a priori principles. The full critical position is that whatever can be connected with some given perception in accordance with these principles, or „laws of the empirical connection of appearances,“ is to be deemed „actual.“ The appeal to perception or sensation here functions merely as the point of departure, which gives empirical content to the claim of actuality. The claim itself is not about any „subjective experiences““ (ders. 2004, S. 40 f.). Allisons Diskussion ist hier verworren (und die gleiche Verwirrung findet sich in seiner Kritik an der phnomenalistischen Interpretation in ibid., S. 39 – 42, im Ganzen). Was er als „the full critical position“ darstellt, ist als solches fr ph-
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Es ist leicht einzusehen, dass damit das betreffende skeptizistische Bedenken beseitigt wird. Demgemß wird zwischen der Erkenntnis und der raumzeitlichen Wirklichkeit keine „Kluft“ herbeigefhrt, wie sie jenes Bedenken verursachte. – Diese Lçsung ist anti-realistisch, genauso wie im vierten Paralogismus (A). Es mag vielleicht mçglich sein (entgegen meiner Argumentation in 5.3.3), die Mçglichkeit der ußeren Erfahrung im Rahmen des Realismus hinreichend zu erklren. Relevant ist jedoch hier, dass eine solche realistische Erklrung von Kant selbst nirgendwo vorgebracht wird. Daraus resultiert: Wenn Kant trotz allem in der Widerlegung (B) den Realismus intendiert htte, msste seine dortige Argumentation, gerade seiner Konzeption des philosophischen Beweises nach, unzulnglich bleiben. Dies ist ein guter Grund dafr, die realistische Deutung der Widerlegung (B) in Zweifel zu ziehen. Das Ergebnis dieses Abschnitts lsst sich folgendermaßen zusammenfassen: Die Widerlegung (B) verhlt sich neutral zum Realismus/Anti-Realismus. Die angebliche „Kollision“ zwischen ihr und dem vierten Paralogismus (A) ist also ein bloßer Schein. Es wurde des Weiteren gezeigt, dass die anti-skeptizistische Argumentation aufgrund des Anti-Realismus, wie sie in maßgeblicher Weise im vierten Paralogismus (A) auftritt, einen nicht nomenalistische Interpreten vçllig akzeptabel. Sofern Allison „perception or sensation“ als einen unentbehrlichen Faktor („point of departure“) fr die Wirklichkeit eines raumzeitlichen Gegenstandes zugesteht, akzeptiert er im Endeffekt, was phnomenalistische Interpreten behaupten. (Es ist auch anzumerken, dass phnomenalistische Interpreten die Relevanz der Analogien der Erfahrung samt den formal-apriorischen Faktoren nicht verneinen; ich kenne keinen, der behauptet, dass dergleichen zu Kants theoretischer Philosophie nicht gehçre.) – Es ist von daher gut verstndlich, dass Paul Abela den Verdacht erhebt, Allisons Position sei „little more than empirical idealism [damit meint er so etwas wie den Phnomenalismus; K.C.] with formal features“ (ders. 2002, S. 39). Es mag der Fall sein, dass Allison nur behaupten wollte, dass der Schwerpunkt des Postulats der Wirklichkeit nicht in der Erforderlichkeit einer Wahrnehmung, sondern vielmehr in den Analogien der Erfahrung liegt. Dies wre jedoch nicht nur gegen die phnomenalistische Interpretation kraftlos (wie gerade erklrt wurde), sondern auch exegetisch unplausibel. Der Text spricht vielmehr deutlich dafr, dass der Schwerpunkt in dem ersteren Punkt liegt; vgl. Kants Formulierung des Postulats der Wirklichkeit in A218/B266 und auch Folgendes: „[D]aß der Begriff vor der Wahrnehmung vorhergeht, bedeutet dessen bloße Mçglichkeit; die Wahrnehmung aber, die den Stoff zum Begriff hergibt, ist der einzige Charakter der Wirklichkeit“ (A225/B273). Der Hinweis auf die Analogie der Erfahrung gehçrt vielmehr zum Kontext einer ergnzenden Erluterung.
6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise
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zu ignorierenden Stellenwert im System der KdrV behlt. Eine derartige Argumentation kann durch die Widerlegung (B) nicht vçllig berflssig gemacht werden, ja sogar msste diese ohne ihre Ergnzung im Wesentlichen unzulnglich bleiben. – Ich intendiere allerdings nicht, dieses Ergebnis als einen positiven Beleg fr die anti-realistische Interpretation anzugeben. Die bloße Vertrglichkeit derselben mit der Widerlegung (B) ist zu meinem Zweck schon hinreichend. 6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise In der KdrV (und anderen diesbezglichen Schriften Kants) gibt es viele Textpassagen, die suggerieren, dass „Erscheinung“ und „Ding an sich“ nicht zwei distinkte Entitten, sondern vielmehr zwei Aspekte ein und desselben Dings bezeichnen. Die Redeweise, die in solchen Textpassagen Verwendung findet, kann in folgende zwei Typen unterteilt werden: Typ (1): Derselbe Gegenstand ist als Erscheinung sowie als Ding an sich zu betrachten.326 Typ (2): (a) Das Ding an sich (bzw. das, was als erkenntnisunabhngig Existierendes angenommen wird) erscheint uns als ein raumzeitli-
326 Z.B.: (1) „Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nmlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst: wenn [. . .] der Grundsatz der Kausalitt nur auf Dinge im ersten Sinne genommen [. . .] geht, eben dieselben aber nach der zweiten Bedeutung ihm nicht unterworfen sind, so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetze notwendig gemß und sofern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehçrig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne daß hierbei ein Widerspruch vorgeht“ (BXXVIIf.). (2) „[. . .], nur daß [. . .] dieser Gegenstand als Erscheinung von ihm selber als Objekt an sich unterschieden wird“ (B69). Vgl. dazu BXVIII Anm., B56, B306, Kants Brief an Garve am 7. August 1787, Ak. 10, S. 341 Anm., und Textpassagen ber den Doppelcharakter des Ichs (unten, Anm. 357). Dazu gehçren auch Wendungen, die die Art und Weise, wie Dinge uns erscheinen (bzw. wie sie uns affizieren), und wie sie an sich selbst sind (bzw. wie sie an sich selbst betrachtet werden), einander entgegenstellen. Z.B.: „Was gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhltnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist, ist Erscheinung“ (B69 Anm.; vgl. Prauss 1974, S. 16 f.).
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cher Gegenstand,327 oder (b) ein raumzeitlicher Gegenstand ist die Erscheinung von einem Ding an sich.328
327 Z.B.: (1) „[In Raum und Zeit stellt die Anschauung ihr Objekt vor,] so wie es unsere Sinne affiziert, d.i. wie es erscheint: [. . .]“ (B69). (2) „Denn wenn uns die Sinne etwas bloß vorstellen, wie es erscheint, so muß dieses Etwas doch auch an sich selbst ein Ding [. . .] sein“ (A249). 328 Die Anzahl solcher Ausdrcke ist enorm; ich zitiere hier nur einige aus der Transzendentalen sthetik: (1) „Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Mçglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen kçnnen“ (A27/B43, kursiv von K.C.; ebenso weiter). (2) „[. . .]; was die Gegenstnde an sich selbst sein mçgen, wrde uns durch die aufgeklrteste Erkenntnis der Erscheinung derselben, die uns allein gegeben ist, doch niemals bekannt werden“ (A43/B60). (3) „Dagegen enthlt die Vorstellung eines Kçrpers in der Anschauung gar nichts, was einem Gegenstande an sich selbst zukommen kçnnte, sondern bloß die Erscheinung von etwas, und die Art, wie wir dadurch affiziert werden“ (A44/B61). Gerold Prauss behauptet bekanntlich, dass der Ausdruck „Dinge an sich selbst“ statt „Dinge an sich“ (der in berwiegend vielen Textpassagen gebraucht wird) schon ein textlicher Beleg fr die Zwei-Aspekte-Interpretation sei. Ihm zufolge ist die Qualifikation „an sich selbst“ nicht eine adnominale Bestimmung zu „Ding“, sondern vielmehr eine adverbiale Bestimmung zum Verb „betrachtet“ (oder „erwogen“, „ansehen“, „denken“ u. a.), das im Kontext explizit erwhnt oder implizit gemeint wird (vgl. ders. 1974, §1). Er htte Recht, wenn er nur behaupten wrde, dass die Qualifikation „an sich selbst“ in vielen Fllen als adverbiale Bestimmung gebraucht wird. Dies kann jedoch nicht fr alle Flle generalisiert werden. Es gibt auch viele Textpassagen, fr die dies nicht gilt. Ein wichtiges Beispiel dafr ist die Wendung „(etwas) als Ding an sich selbst betrachten“ (z. B. BXXVIIf., zitiert oben, Anm. 326). Prauss selbst hlt sie fr ein Gegenbeispiel zu seinem Argument; vgl. ibid., §3. (Man bedenke, dass es in diesem Fall viel natrlicher ist, das „Ding an sich selbst“ als ein einheitliches Substantiv zu verstehen.) Er erledigt diese Wendung einfach als ein Zeichen dafr, dass Kant am Kernpunkt seiner „transzendentalen Philosophie“ nicht immer festhlt und somit manchmal der „transzendentalen Metaphysik“ verfllt, die eigentlich durch jene aufgehoben werden msste. Eine solche Erledigung ist allerdings exegetisch hçchst zweifelhaft; es wre viel nherliegend, zu deuten, dass Kants transzendentale Philosophie eine transzendente Metaphysik inkludiert. (Es ist erstaunlich, dass Sympathisanten dieses praussschen Arguments, wie Henry Allison und Michelle Grier, diesen Punkt nicht beachten. Akzeptieren sie auch diese „KantKritik“ von Prauss?) Die fragliche Wendung findet sich allerdings so hufig, dass man ber sie nicht einfach als „slip of the pen“ hinwegsehen kçnnte. Aus diesem Grund schließe ich, dass Prauss’ betreffendes Argument nicht einmal zur Rechtfertigung der Zwei-Aspekte-Interpretation im Allgemeinen taugt. Um diese zu begrnden, bedarf es einer noch sorgfltigeren Textauswahl und diese ist eigentlich nicht schwierig, wie ich oben vorgefhrt habe.
6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise
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In folgenden berhmten Textpassagen sieht man die beiden Typen gleichzeitig: „Gleichwohl wird, welches wohl gemerkt werden muß, doch dabei immer vorbehalten, daß wir eben dieselben Gegenstnde auch als Dinge an sich selbst (1), wenn gleich nicht erkennen, doch wenigstens mssen denken kçnnen. Denn sonst wrde der ungereimte Satz daraus folgen, daß Erscheinung ohne etwas wre, was da erscheint(2a).“ (BXXVIf.) „[. . .] nur zur Erscheinung gehçren, welche329 jederzeit zwei Seiten hat, die eine, da das Objekt an sich selbst betrachtet wird, (unangesehen der Art, dasselbe anzuschauen [. . .],) die andere, da auf die Form der Anschauung dieses Gegenstandes gesehen wird(1), welche nicht in dem Gegenstande an sich selbst, sondern im Subjekte, dem derselbe erscheint(2a), gesucht werden muß, gleichwohl aber der Erscheinung dieses Gegenstandes(2b) wirklich und notwendig zukommt.“ (A38/B55)
Es ist bemerkenswert, dass solche Redeweisen besonders in der Transzendentalen sthetik und in Kants Freiheitslehre (z. B. im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels) dominant sind. Derartige Ausdrcke legen eine realistische Zwei-Aspekte-Lehre wie etwa im folgenden Sinne nahe: Die raumzeitlichen Dinge selbst, die auf zweierlei Arten zu betrachten sind, existieren von unserer Erkenntnis unabhngig; nur dass die Art und Weise, wie sie uns raumzeitlich erscheinen, von uns abhngt (vgl. 2.2 (B) fr Details). Ich zeige nun, dass solche Ausdrcke in der Tat auf diese realistische Doktrin festgelegt werden. berlegen wir uns zwei denkbare Strategien, die diese Konsequenz zu vermeiden versuchen: (a) Man mag denken, dass die Zwei-Aspekte-Lehre als solche auch antirealistisch ausgefhrt werden kann. In diesem Fall wrde man die Option whlen, die in 3.2 als (konsequent ausgefhrte) „methodologische ZweiAspekte-Interpretation“ vorgestellt wurde. Es wurde aber auch gezeigt, dass sie sachlich sowie exegetisch so unplausibel ist, dass sie allenfalls als eine rationale Rekonstruktion (und zwar nur nachdem es sich erwiesen haben sollte, dass andere zunchst plausibler scheinende Interpretationsoptionen 329 Mit dem Relativpronomen „welche“ meint Kant wohl nicht die Erscheinung als Erscheinungsaspekt (was absurd wre), sondern vielmehr das Ding selbst, dem der Erscheinungsaspekt zukommt. (Das „Ding selbst“ bedeutet hier nicht das „Ding an sich“. Das letztere soll im Rahmen der Zwei-Aspekte-Interpretation nicht als ein Ding als solches, sondern als ein Aspekt des Dings verstanden werden; vgl. oben, 3.1.)
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
scheitern) hingenommen werden kann. Da es aber hier um die naheliegende Lesart jener Ausdrcke geht, kann man im hiesigen Kontext noch nicht auf diese Option rekurrieren. (Wenn hingegen von der rationalen Rekonstruktion die Rede wre, msste es unwichtig sein, was einzelne bloße Redeweisen nahelegen.) (b) Man mag dann versuchen, einzelne Beispiele der Zwei-AspekteRedeweise im Rahmen der Zwei-Welten-Interpretation umzudeuten. Es ist bemerkenswert, dass diese Strategie auf die Wendungen vom obigen Typ (2) gewissermaßen anwendbar ist. Man denke sich als Analogie folgendes Beispiel: Eine Person sieht sich selbst im Spiegel. Diese Situation kann auch derart beschrieben werden, dass diese Person ihr Spiegelbild sieht. So kann man die Person und das Spiegelbild (ihre „Erscheinung“) als distinkte Entitten ansehen, ohne zu verneinen, dass es eben diese Person ist, die im Spiegel „erscheint“. – Diese Strategie ist jedoch auf den Typ (1) nicht mehr anwendbar, denn dieser sagt eindeutig aus, dass ein und derselbe Gegenstand als „Erscheinung“ sowie als „Ding an sich“ zu betrachten ist.330 Und das Auftreten solcher Wendungen legt nahe, dass die Ausdrcke vom Typ (2) ebenfalls im Rahmen der (realistischen) Zwei-Aspekte-Lehre verstanden werden sollen. Daraus geht hervor, dass die Zwei-Aspekte-Redeweise in der Tat zu der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre fhrt. Und da solche Ausdrcke in unignorierbar vielen (und auch systematisch wichtigen) Textpassagen gefunden werden, ist es nicht mçglich, ber sie einfach als „slip of the pen“ hinwegzusehen. Daraus ergibt sich ein Nachteil fr die anti-realistische
330 Van Cleve versucht, auch diesen Typ der Ausdrcke fr die Zwei-Welten-Interpretation zu verharmlosen. Er suggeriert, dass in der Geschichte der Philosophie nicht selten eine Zwei-Objekte-Lehre in der Zwei-Aspekte-Redeweise ausgedrckt wurde; er fhrt Beispiele von Locke und Berkeley an (vgl. ders. 1999, S. 145). Darauf basierend suggeriert er die Mçglichkeit, dass dies vielleicht auch bei Kant der Fall sein mag. Demgemß wird BXXVIIf. (zitiert oben, Anm. 326) folgendermaßen paraphrasiert: „[O]bjects, in the sense of that term in which it refers to appearances, are subject to the law of causality; but objects, in the sense of that term in which it refers to things in themselves and their actions, are exempt from that law“ (ibid., S. 145 f.); hierbei wird angenommen, es handle sich in BXXVIIf. nicht um dasselbe Objekt selbst, das auf zweierlei Art zu betrachten sei, sondern vielmehr um dasselbe Wort „Objekt“, das mçglicherweise auf verschiedenartige Objekte referiere. Ich finde diese Paraphrase nicht berzeugend, nicht nur wegen ihrer Knstlichkeit, sondern auch deswegen, weil sie unerklrt lsst, in welchem Sinne diese zwei distinkten Objekte dennoch als zu ein und demselben Handlungssubjekt gehçrend zu verstehen sind; vgl. unten, 6.4.
6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise
229
Interpretation: Selbst ihre Anhnger kçnnen nicht kategorisch behaupten, dass die KdrV durchweg im Rahmen des Anti-Realismus ausgefhrt ist. Dies berechtigt allerdings nicht zu dem umgekehrten Urteil, dass die KdrV durchweg realistisch ausgefhrt ist. Es ist zunchst zu bemerken, dass auch unignorierbar viele Textpassagen gefunden werden kçnnen, die vielmehr eine anti-realistische Zwei-Welten-Lehre nahelegen. Sie lassen sich etwa in folgende drei Typen unterteilen: Typ (a): „Erscheinung“ und „Ding an sich“ oder die Sinnen- und die Verstandeswelt sind unterschiedliche Entitten bzw. distinkte Seinsbereiche.331 Typ (b): Identifizierung der „Erscheinung“ (bzw. des raumzeitlichen Gegenstandes) mit einer „bloßen Vorstellung“.332 Typ (c): Die „Erscheinung“ (bzw. der raumzeitliche Gegenstand) existiert nur „in uns“ (bzw. in Vorstellungen, Wahrnehmungen, Gedanken, Sinnlichkeit, u. a.).333 331 Z.B.: (1) „[. . .] und, indem er jene [sc. der Verstand die Sinnlichkeit] warnt, daß sie sich nicht anmaße, auf Dinge an sich selbst zu gehen, sondern lediglich auf Erscheinungen, so denkt er sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Erscheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist, [. . .]“ (A288/B344). (2) „Sobald dieser Unterschied [. . .] einmal gemacht ist, so folgt von selbst, daß man hinter den Erscheinungen doch noch etwas anderes, was nicht Erscheinung ist, nmlich die Dinge an sich, einrumen und annehmen msse, [. . .]. Dieses muß eine, obzwar rohe, Unterscheidung einer Sinnenwelt von der Verstandeswelt abgeben, [. . .]“ (Grundlegung, Ak. 4, S. 451). (3) „So ist also die Antinomie, daß in der Welt Freiheit und Nothwendigkeit sei, gehoben, indem gezeigt wird, daß das nicht wirkliche Opposita sind, indem sie auf verschiedene Obiecte gehen, nehmlich die erstere auf den mundus Noumenon und das andere auf den mundus Phaenomenon, [. . .]“ (Metaphysik Mrongovius, Ak. 29, S. 924 f.). Dazu gehçren auch solche Ausdrcke, die aussagen, dass Erscheinung nicht Ding an sich ist, anstatt dass sie nicht dieses vorstellt (oder darstellt). Vgl. z. B.: (1) „[. . .] dagegen aber auch die Erscheinungen nicht Gegenstnde an sich selbst sein kçnnen“ (A279 f./B336). (2) „[. . .] weil Erscheinung nichts an sich selbst Existierendes ist, [. . .]“ (A505/B533). (3) „[. . .], denn Erscheinung ist kein Ding an sich selbst, [. . .]“ (A521/B549). 332 Die Anzahl dieser Ausdrcke ist enorm; z. B. A30/B45, A101, B164. A190 f./ B236, A250, A369 – 73, A378, A490 – 5/B519 – 24, A563/B591, A780/B808 und A793/B821. 333 Z.B.: (1) „[. . .]: daß alle diese Erscheinungen, mithin alle Gegenstnde, womit wir uns beschftigen kçnnen, insgesamt in mir, d.i. Bestimmungen meines identischen Selbst sind, [. . .]“ (A129). (2) „Denn Gesetze existieren ebenso wenig in den Erscheinungen, sondern nur relativ auf das Subjekt, dem die Erscheinungen inhrieren, sofern es Verstand hat, als Erscheinungen nicht an sich existieren, sondern
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Es mag zwar nicht schlechterdings unmçglich sein, solche Ausdrcke gemß der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre umzudeuten. Dieser Versuch erscheint aber angesichts der Vielzahl solcher Ausdrcke allzu artifiziell. Abgesehen davon ist folgender Punkt entscheidend: Wie in den vorigen zwei Kapiteln konstatiert wurde, gibt Kant selbst, nicht nur bloße Redeweisen, sondern substantielle Argumentationen vor, die nur anti-realistisch verstndlich sind. Die realistische Zwei-Aspekte-Lehre kollidiert mit diesen Argumentationen in jedem Fall. Dies alles weist zunchst darauf hin, dass Interpreten, zumindest nach dem rein exegetischen Kriterium, nicht definitiv entscheiden kçnnen, ob Kants TrI dem Realismus oder dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde entspricht. Die Lage ist aber meines Erachtens noch vertrackter. Die textliche Tatsache, dass sich in der KdrV sowohl Zwei-Aspekte- als auch Zwei-Welten-Redeweisen finden, legt den Verdacht nahe, dass Kant selbst zwischen der (realistischen) Zwei-Aspekte- und der (anti-realistischen) Zwei-Welten-Lehre schwankt, ohne zu realisieren, dass diese eigentlich inkommensurabel sind. Dieser Verdacht wird durch diejenigen Textpassagen verstrkt, in denen Zwei-Aspekte- und Zwei-Welten-Redeweise gemischt gebraucht werden; vgl. z. B. Folgendes: „Ich dagegen [sc. gegen den Idealismus] sage: es sind uns Dinge als außer uns befindliche Gegenstnde unserer Sinne gegeben, allein von dem, was sie an sich selbst sein mçgen, wissen wir nichts, sondern kennen nur ihre Erscheinungen, d.i. die Vorstellungen, die sie in uns wirken, indem sie unsere Sinne afficiren. Demnach gestehe ich allerdings, daß es außer uns Kçrper gebe, d.i. Dinge, die, obzwar nach dem, was sie an sich selbst sein mçgen, uns gnzlich unbekannt, wir durch die Vorstellungen kennen, welche ihr Einfluß auf unsre Sinnlichkeit uns verschafft, und denen wir die Benennung eines Kçrpers geben; welches Wort also blos die Erscheinung jenes uns unbekannten, aber nichts desto weniger wirklichen Gegenstandes bedeutet.“ (Prolegomena, Ak. 4, S. 289, kursiv von K.C.)334
nur relativ auf dasselbe Wesen, sofern es Sinne hat“ (B164). (3) „Woraus denn folgt, daß Erscheinungen berhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind, welches wir eben durch die transzendentale Idealitt derselben sagen wollten“ (A507/B535). Vgl. auch A127, A251, A370 – 3, A490 – 5/B518 – 24, A499/B527 und A505 f./B533 f. 334 Allen Wood bewertet diese Textpassage als „simply nonsense and self-contradiction“; vgl. ders. 2005, S. 67. Kants Definition des TrI im Antinomiekapitel (zitiert oben, in 2.1) ist meines Erachtens ebenfalls ein solches Beispiel. Ich zitiere hier den relevanten Teil: „Wir haben in der Transzendentalen sthetik hinreichend bewiesen: daß alles, was im
6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise
231
Die kursiv gesetzten und die sonstigen Teile suggerieren jeweils folgende Ansichten: Kçrper sind Vorstellungen, die etwas „außer uns“ Seiendes (was selbst nicht Vorstellung ist) in uns bewirkt, und wir erkennen nur solche Vorstellungen (Zwei-Welten-Lehre). Kçrper sind dasjenige, was „außer uns“ ist, und wir erkennen sie durch die von ihnen in uns gewirkten Vorstellungen, aber nur so, wie sie uns erscheinen (Zwei-Aspekte-Lehre). Es ist zwar nicht schwierig, diese Textpassage im Ganzen sowohl zweiwelten- als auch zwei-aspekte-artig jeweils einheitlich umzudeuten (und was diese Textpassage anbelangt, so ist die letztere Lesart plausibler). Zu beachten ist hier aber vielmehr Kants erstaunliche Unsensibilitt fr den Unterschied zwischen der Zwei-Aspekte- und der Zwei-Welten-Redeweise. Diese Unsensibilitt kçnnte nachgesehen werden, wenn diese zwei Redeweisen problemlos mit der jeweils anderen paraphrasierbar wren,335 dies ist aber nicht der Fall. Fatal ist der Umstand, dass die Zwei-AspekteRaume oder der Zeit angeschaut wird, mithin alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung, nichts als Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen sind, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Vernderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegrndete Existenz haben“ (A490 f./ B518 f., kursiv von K.C.). Henry Allison behauptet, dass hier, dem Anschein entgegen, „Erscheinungen“ und „bloße Vorstellungen“ nicht identifiziert werden, indem er das oben kursiv gesetzte „sie“ auf „alle Gegenstnde einer uns mçglichen Erfahrung“ bezogen versteht (ders. 1983 S. 26 f.). Hoke Robinson wendet dagegen ein, dass dieses „sie“ in natrlicher Lesart auf das vorangehende Relativpronomen „die“, also im Endeffekt auf „Erscheinungen, d.i. bloße Vorstellungen“ zu beziehen sei (ders. 1994, S. 420). Darauf entgegnet Allison, dass in dieser Lesart gesagt werden msste, dass Vorstellungen vorgestellt wrden, was sicherlich nicht Kants hiesiger Absicht entspreche (ders. 1996, S. 13). – Allisons Entgegnung hat zwar eine gewisse Kraft, aber ich finde ihn dabei unsachgemß strikt. Die betreffende Textpassage behlt sowieso etwas Problematisches, egal ob sie zwei-aspekte- oder zwei-welten-artig gedeutet wird. In Rcksicht auf die bei Kant nicht seltene terminologische Nachlssigkeit finde ich es viel adquater, diese Textpassage eher als ein Beispiel fr den Zusammenbestand der Zwei-Welten- und der Zwei-AspekteLehre zu erachten (oder noch besser als ein Beispiel fr die Zwei-Welten-Lehre mit der dem Kontext unangemessenen Zwei-Aspekte-Redeweise; „dem Kontext unangemessen“ deswegen, weil erstens die Zwei-Welten-Redeweise innerhalb der betreffenden Textpassage maßgeblicher ist, und zweitens das Element des TrI, das fr die Auflçsung der Antinomien relevant ist, ein Anti-Realismus ist, dem die Zwei-Aspekte-Redeweise entgegensteht). 335 Stephen Barker suggeriert, dass Ayer 1940 einer derartigen Ansicht war; vgl. ders. 1967, S. 277.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Redeweise, die zur realistischen Zwei-Aspekte-Lehre fhrt, nicht nur mit der Zwei-Welten-Redeweise, sondern gerade mit Kants anti-realistischen Argumentationen im Antinomiekapitel sowie im vierten Paralogismus (A) kollidiert. Diesen Umstand mit einbeziehend, deutet jene Unsensibilitt vielmehr darauf hin: Was Kant sich selbst nicht klar macht, ist nicht bloß der Unterschied zwischen zwei Redeweisen, sondern vielmehr der zwischen zwei kontrren Lehren als solchen. Kant hat nmlich seinen Gedanken, selbst innerhalb der KdrV, in einigen Teilen im Rahmen der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre, aber in anderen Teilen im Rahmen der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre ausgefhrt, ohne dabei zu realisieren, dass er damit eine echte Inkonsistenz in die KdrV eingefhrt hat. – Ich denke, dass die gegenwrtige Kant-Forschung nach dem Scheitern verschiedener „wohlwollender“ Interpretationsversuche dies langsam als eine Tatsache anerkennen sollte.336 Und wenn dies wirklich der Fall ist, ergibt sich daraus Ungnstiges sowohl fr realistische als auch fr anti-realistische Interpreten. Die beiden Parteien mssen nmlich Kants eigenen Gedankengang verfehlen, wenn sie behaupten, dass er in der KdrV durchweg den Realismus bzw. den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde vertrete. Es ist aber voreilig, angesichts dieser Inkonsistenz darauf gnzlich zu verzichten, Kants TrI berhaupt als eine einheitliche Doktrin zu verstehen (wie Howell 2005, S. 126). Gerade an dieser Stelle sollte eine rationale Rekonstruktion versucht werden, mit dem Ziel, eine einheitliche Theorie auszuarbeiten, die Kants zentrale Thesen und Argumentationen mçglichst konsistent integrieren kann (vgl. oben, Einleitung).337 Wenn die Aufgabe 336 Dieses Urteil wurde schon von einigen Interpreten gefllt; z. B. Howell 2004, S. 123, Wood 2005, S. 71 und Watkins 2005, S. 325. 337 Man mag vielleicht diesen Vorschlag fr so selbstverstndlich wie nicht der Rede wert halten. Ist die rationale Rekonstruktion eigentlich nicht das, was jeder KantInterpret tatschlich betrieben hat? – Allerdings; es ist jedoch in manchen exegetischen Debatten nicht klar bewusst, ob es dabei um eine streng exegetische Fragestellung oder um eine rationale Rekonstruktion geht. Eben wegen dieser Unklarheit machen sich diejenigen Verfahren breit, die Anfhrung einiger textlicher Gegenbelege zu einer Interpretation als fr deren Widerlegung schon hinreichend zu behaupten. (Und was man in der Kant-Literatur hufig sieht, ist eine solche „Debatte“; ich habe einige Beispiele dafr bereits im Abschnitt 2.3 angefhrt.) Es ist dagegen zu beachten, dass die rationale Rekonstruktion erst dann zur Option wird, wenn es bemerkt wird, dass der auszulegende Text eine echte Inkonsistenz mit sich fhrt, die durch einstweilige Textmanipulationen nicht beseitigt werden kann.
6.2 Kants Zwei-Aspekte-Redeweise
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der Exegese auf diese Ebene umgestellt wird, tritt der Vorzug der antirealistischen Interpretation in den Vordergrund. Ich habe schon an zwei Theoriestcken der KdrV gezeigt, dass ihre zentralen Argumentationen nicht anders als anti-realistisch verstanden werden kçnnen. Wenn zudem noch Folgendes nachgewiesen wird, drfte der exegetische Vorrang der anti-realistischen Interpretation endgltig festgestellt werden: (1) Die Argumentationen, die maßgeblich in der Zwei-Aspekte-Redeweise ausgedrckt werden, sind ihrer argumentativen Kraft gemß mit dem Anti-Realismus vertrglich. (Es gilt z. B., dass sie die realistische Zwei-Aspekte-Lehre weder zur Konsequenz haben, noch dass sie diese als ein argumentativ unentbehrliches Element voraussetzen.) (2) Die Thesen, die mit der Zwei-Aspekte-Redeweise ausgedrckt werden, kçnnen so modifiziert werden, dass sie mit der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre kompatibel sind, ohne dadurch die Argumentationen, auf die sie bezogen sind, wesentlich zu verletzen. Wenn dies erfolgreich nachgewiesen wird, kçnnte man daraus schließen, dass die Zwei-Aspekte-Redeweise samt der dadurch nahegelegten realistischen Zwei-Aspekte-Lehre ein systematisch peripherer Faktor ist, so dass sie in der rationalen Rekonstruktion, der Konsistenz der kantischen Philosophie zuliebe, weggelassen werden muss.338 338 Ich verneine nicht, dass es ein sehr wichtiger Faktor bei der Interpretation sein soll, von welchen unbewiesenen (somit allenfalls durch seine Terminologie suggerierten) Voraussetzungen Kant in seiner kritischen Philosophie ausgegangen ist; Erich Adickes hat also Recht, wenn er diesen Punkt hervorhebt (vgl. ders. 1924, ersten Abschnitt). Wenn aber folgende zwei hinreichend nachgewiesen werden, nmlich erstens, dass diese unbewiesene Voraussetzung mit Konsequenzen, die Kant durch seine expliziten Argumentationen gezogen hat, in unauflçsbarer Weise kollidiert, und zweitens, dass sie in seinen Argumentationen keine substantielle argumentative Rolle spielt (z. B. da diese auch ohne Rekurs auf diese Voraussetzung gltig blieben), dann wird man wohl dazu berechtigt sein, die von Kant selbst gezogenen Konsequenzen vor jener bloß gesetzten Voraussetzung zu prferieren. Und ich behaupte, dass dies gerade bei der Debatte zwischen der realistischen und der antirealistischen Interpretation der Fall ist. Meine rationale Rekonstruktion ist außerdem schon der Zielsetzung nach anders als diejenige, welche Wood 2005 vorschlgt. Seine Prferenz fr die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation (die er „identity-interpretation“ nennt) wird dadurch motiviert, dass er sie eben in sachlicher Hinsicht als „more plausible and less problematic“ erachtet (vgl. ders. 2005, S. 71). Mein Motiv ist hingegen exegetisch
234
Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
In den nachfolgenden zwei Abschnitten werden zwei Theoriestcke der KdrV aufgegriffen, in denen die Zwei-Aspekte-Redeweise besonders dominant ist; nmlich die Transzendentale sthetik und Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs. 6.3 Transzendentale sthetik Betrachten wir zunchst folgende Textpassage, die deutlich in der ZweiAspekte-Redeweise gehalten ist: „Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofr wir sie anschauen, noch ihre Verhltnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, [. . .]. Was es fr eine Bewandtnis mit den Gegenstnden an sich [. . .] haben mçge, bleibt uns gnzlich unbekannt.“ (A42/B59)
Es ist sehr verstndlich, dass man angesichts solcher Aussagen (die in der Transzendentalen sthetik nicht selten sind) auf folgende realistische ZweiAspekte-Lehre verfllt: Die Dinge, die wir anschauen, existieren unabhngig von unserer Erkenntnis. Wir erkennen sie allerdings, aber nur ihren Erscheinungsaspekt (d. h. wie sie uns erscheinen) und nicht ihren „an sich“Aspekt (d. h. wie sie an sich selbst sind). Es ist also wohl zu erwarten, dass diese realistische Doktrin in der Transzendentalen sthetik entweder positiv bewiesen oder im Gegenteil als eine argumentativ notwendige Voraussetzung eingefhrt wird. Es gilt jedoch zugleich: Kant sagt im vierten Paralogismus (A) sowie im Antinomiekapitel, dass der TrI, der dort eine zentrale Rolle spielen soll, bereits in der Transzendentalen sthetik direkt bewiesen wurde (vgl. A378, A490/B518 und A506/B534). Das fr die dortigen Argumentationen relevante Moment des TrI ist aber nichts Anderes als der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. Dies erregt vielmehr die Erwartung, dass in
(obgleich es durch die in der Einleitung erklrte „hermeneutische Einstellung“ motiviert wird). – Wood fgt allerdings hinzu, dass die „identity-interpretation“ auch einen exegetischen Vorzug hat, indem sie die Hauptthesen der KdrV besser zu artikulieren und zu verteidigen erlaubt (ibid.); dies aber verneine ich definitiv.
6.3 Transzendentale sthetik
235
der Transzendentalen sthetik schon der TrI inklusive des Anti-Realismus bewiesen wurde.339 Indessen werden beide Erwartungen getuscht. In diesem Abschnitt werde ich zeigen, dass sich der direkte Beweis des TrI in der Transzendentalen sthetik zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt, d. h., dass er weder einen von beiden positiv beweist, noch einen als argumentativ unentbehrliche Voraussetzung verwendet. Der direkte Beweis des TrI findet sich in A22 – 36/B36 – 53 (§§ 2 – 6 der Transzendentalen sthetik). Das Beweisziel ist hier zweifacher Art, nmlich erstens die sogenannte transzendentale Idealitt von Raum und Zeit und zweitens die transzendentale Idealitt von Gegenstnden in Raum und Zeit.340 Da der Fall des Raums (A23 – 28/B38 – 44) mit dem der Zeit (A30 – 36/B46 – 52) parallel ist, betrachte ich hier nur den ersteren. Die Argumentation lsst sich folgendermaßen skizzieren: Stufe 1 [„Metaphysische Erçrterung“]: Der Raum wird von uns a priori vorgestellt, und zwar nicht durch einen Begriff, sondern durch eine Anschauung. Stufe 2 [„Schlsse aus obigen Begriffen“, erster Absatz]: Aus diesem epistemischen Status unserer Raum-Vorstellung wird gefolgert, dass folgende drei Mçglichkeiten ausgeschlossen werden: Der so vorgestellte Raum ist (1) eines von den Dingen an sich selbst341 oder (2) eine Eigenschaft derselben oder (3) ein Verhltnis zwischen ihnen. Stufe 3 [ibid., zweiter Absatz]: Nach dieser Ausschließung bleibt nur die Mçglichkeit bestehen, dass der Raum nichts Anderes als reine Form unserer Anschauung ist. 339 Vgl. auch die Definition des TrI im vierten Paralogismus (A) (A369; zitiert oben, 2.1). Dort wird er so ausgedrckt, als ob die Idealitt der Formen („Zeit und Raum nur sinnliche Formen unserer Anschauung [. . .] sind“) eine Konsequenz aus der Idealitt der Gegenstnde („wir [alle Erscheinungen] insgesamt als bloße Vorstellungen [. . .] ansehen“) sei. Dies legt die Erwartung nahe, dass in der Transzendentalen sthetik zuerst der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde gesichert und darauf basierend die Idealitt der Formen bewiesen wird. 340 Kant verwendet den Terminus „(transzendentale) Idealitt der Erscheinungen“ zwar nicht in der Transzendentalen sthetik, jedoch im Antinomiekapitel und im vierten Paralogismus. 341 Diese Mçglichkeit wird zwar in A26/B42 hinsichtlich des Raums nicht erwhnt, aber an der entsprechenden Stelle ber die Zeit (A32/B49) explizit ausgeschlossen; vgl. auch Kants Hinweis auf „Unding“ in A39/B56 und B70 f.
236
Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Stufe 4 [ibid., dritter Absatz]: Aus den letzten zwei Stufen ergeben sich die „empirische Realitt“ sowie die „transzendentale Idealitt“ des Raums. – Die erstere bedeutet, dass dasjenige, was wir vom Raum a priori erkennen, fr jeden ußerlich angeschauten Gegenstand objektiv gilt;342 dadurch wird die Anwendung der reinen Geometrie auf die physikalische Naturerklrung philosophisch gerechtfertigt. Die letztere ist die negative Doktrin, dass der Raum nicht fr Dinge an sich selbst gilt.343 (Terminologische Bemerkung: Der Terminus „transzendentale Idealitt des Raums“ ist in der Transzendentalen sthetik nur auf diese negative Doktrin bezogen, und nicht auf die These der Stufe 3, dass nmlich der Raum die reine Form unserer Anschauung ist (dasselbe gilt auch fr die Zeit; vgl. A36/B52).344 Ich bezeichne jedoch, der blichen Konvention in der Kant-Literatur folgend, die letzte These ebenfalls als die der „transzendentalen Idealitt“.) Stufe 5: Daraus ergibt sich zugleich der „transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume“ (A30/B45; seinen konkreten Gehalt stelle ich spter dar). In Bezug auf diese Argumentation gibt es viele interpretatorische Probleme; z. B., mit welchen Argumenten die einzelnen Stufen weiter begrndet werden.345 Die vollstndige Bercksichtigung solcher Probleme ist jedoch 342 „Unsere Erçrterungen lehren demnach die Realitt (d.i. die objektive Gltigkeit) des Raumes in Ansehung alles dessen, was ußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann“ (A27 f./B43 f.). 343 „[. . .] die transzendentale Idealitt [des Raums], d.i. daß er nichts sei, sobald wir die Bedingung der Mçglichkeit aller Erfahrung weglassen, und ihn als etwas, was den Dingen an sich selbst zum Grunde liegt, annehmen“ (A28/B44). 344 Dies weist auf eine interessante Eigenart von Kants Terminologie hin. Er verwendet den Terminus „Idealitt“ manchmal, nicht um einen positiven Umstand (wie: „. . . grndet auf unserer Subjektivitt“), sondern vielmehr um etwas Negatives (wie: „. . . existiert nicht“ bzw. „. . . hat keine objektive Gltigkeit“) auszudrcken. Vgl. z. B.: (1) „Diese Theorie kann die Lehre der Idealitt des Raumes und der Zeit heißen, weil diese als etwas, was gar nicht den Sachen an sich selbst anhngt, vorgestellt werden“ (Fortschritte, Ak. 20, S. 268, kursiv von K.C.). (2) „Allein in einer Theorie, welche auf dem Pflichtbegriff gegrndet ist, fllt die Besorgniß wegen der leeren Idealitt dieses Begriffs ganz weg“ (Theorie und Praxis, Ak. 8, S. 276; vgl. auch Vorarbeit zu Theorie und Praxis, Ak. 23, S. 138). 345 Dies ist ein besonders umstrittenes Thema, das in der Literatur heftig diskutiert worden ist. Allison 2004, Kap. 5 ist eine prgnante Erçrterung dieses Themas. Ich finde seine dortige Auslegung exegetisch korrekt (obwohl ich an seiner Behauptung zweifle, dass die so ausgelegte Argumentation Kants auch in sachlicher Hinsicht
6.3 Transzendentale sthetik
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zu meinem hiesigen Zweck nicht notwendig. Ich konzentriere mich in der folgenden Erçrterung ausschließlich auf die Frage, wie sich diese Argumentation zur realistischen/anti-realistischen Interpretation verhlt. In der Argumentation bis zur Stufe 3 ist von Gegenstnden im Raum gar keine Rede. Es ist berdies zu bemerken, dass sie auch keine bestimmte Ontologie voraussetzt, die sich spezifisch auf rumliche Gegenstnde bezieht. Kant argumentiert z. B. nicht derart: Weil raumzeitliche Gegenstnde von unserer Erkenntnis abhngig sind, deshalb gehçrt der Raum, der ihre formale Bedingung ist, ebenfalls zu unserem Erkenntnisvermçgen. Stattdessen schließt er vielmehr aus dem epistemischen Status unserer RaumVorstellung auf den ontologischen Status des Raums, ohne irgendeine vorausgesetzte Ontologie zu Hilfe zu nehmen.346 Aus den Stufen 2 und 3 wird Stufe 4 direkt gefolgert. Auch hier handelt es sich immer noch um den Raum selbst, und nicht um rumliche Gegenstnde. Zu bemerken ist aber, dass erst auf dieser Stufe die Unterscheidung zwischen Erscheinung und Ding an sich zur Sprache kommt.347 In der betreffenden Textpassage finden sich auch die Wendungen, welche die Zwei-Aspekte-Lehre nahelegen (obschon nicht erzwingen).348 Sie spielen aber ohnehin keine substantielle Rolle fr die dortige Argumenverteidigt werden kann). – Eine noch umfangreichere Diskussion findet man z. B. in Falkenstein 1995, Teil II. 346 In der Transzendentalen sthetik findet man noch eine andersartige Argumentation fr die These der Stufe 3. Sie lautet: Damit die Geometrie und die „allgemeine Bewegungslehre“ als synthetische Erkenntnisse a priori mçglich sind (was nicht verneint werden soll), mssen Raum und Zeit als die Formen unserer Anschauung erachtet werden (vgl. B40 f. und A46 – 49/B63 – 66; B48 f.). Hierbei wird ebenfalls die Konsequenz direkt durch die Erwgung des synthetisch-apriorischen Charakters dieser Wissenschaften gezogen, ohne Rcksicht auf den ontologischen Status der raumzeitlichen Gegenstnde. 347 „Weil wir die besonderen Bedingungen der Sinnlichkeit nicht zu Bedingungen der Mçglichkeit der Sachen, sondern nur ihrer Erscheinungen machen kçnnen, so kçnnen wir wohl sagen, daß der Raum alle Dinge befasse, die uns ußerlich erscheinen mçgen, aber nicht alle Dinge an sich selbst, sie mçgen nun angeschaut werden oder nicht, oder auch von welchem Subjekt man wolle“ (A27/B43). 348 Vgl. den Satz in der letzten Anmerkung und auch folgende: (1) „Dieses Prdikat [sc. Raum bzw. rumliche Charakteristik] wird den Dingen nur insofern beigelegt, als sie uns erscheinen, d.i. Gegenstnde der Sinnlichkeit sind“ (A27/B43). (2) „Unsere Erçrterungen lehren demnach die Realitt (d.i. die objektive Gltigkeit) des Raums in Ansehung alles dessen, was ußerlich als Gegenstand uns vorkommen kann, aber zugleich die Idealitt des Raumes in Ansehung der Dinge, wenn sie durch die Vernunft an sich selbst erwogen werden, d.i. ohne Rcksicht auf die Beschaffenheit unserer Sinnlichkeit zu nehmen“ (A27 f./B43 f.).
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tation selbst. Denn die These dieser Stufe folgt, wie gesagt, direkt aus den Stufen 2 und 3, die die Zwei-Aspekte-Lehre weder beweisen noch voraussetzen. Sie kann also, rein argumentativ betrachtet, auch wie folgt formuliert werden: Der Raum gilt nur fr unsere sinnliche Vorstellungsart der Gegenstnde, und nicht fr die Weise, wie erkenntnisunabhngige Dinge (falls sie wirklich existieren) an sich selbst sind. Diese Auffassung als solche ist auch mit der Zwei-Welten-Lehre kompatibel, denn sie lsst es unentschieden, ob die Gegenstnde, die wir sinnlich erkennen, erkenntnisunabhngig existierende Dinge (von denen wir allerdings nur erkennen, wie sie uns erscheinen) oder etwas Erkenntnisabhngiges wie Vorstellungen oder intentionale Objekte sein sollen. Stufe 5 ist in meiner Fragestellung am wichtigsten, weil die Gegenstnde im Raum erst auf dieser Stufe thematisiert werden. Es geht dabei um den „transzendentalen Begriff der Erscheinungen im Raume“. Ich zitiere die betreffende Textpassage im Ganzen: „Dagegen [sc. gegen den blichen Begriff der Erscheinung] ist der transzendentale Begriff der Erscheinungen im Raume eine kritische Erinnerung, daß berhaupt nichts, was im Raume angeschaut wird, eine Sache an sich [. . .] sei, [. . .] sondern daß uns die Gegenstnde an sich gar nicht bekannt sind, und, was wir ußere Gegenstnde nennen, nichts anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit sind, deren Form der Raum ist, deren wahres Korrelatum aber, d.i. das Ding an sich selbst, dadurch gar nicht erkannt wird, noch erkannt werden kann, nach welchem aber auch in der Erfahrung niemals gefragt wird.“ (A30/B45; vgl. auch A36/B53, wo das Gleiche fr die Zeit ausgesagt wird)
Es ist vermutlich diese Konzeption der raumzeitlichen Gegenstnde, die Kant im Antinomiekapitel und im vierten Paralogismus (A) als „transzendentale Idealitt der Erscheinungen“ (A506/B534) bzw. als die „Idealitt aller Erscheinungen“ (A378) bezeichnet. Der „transzendentale Begriff der Erscheinungen“ lsst sich nun, die Wiederholungen weggelassen, folgendermaßen zusammenfassen: Raumzeitliche Gegenstnde sind (a) nicht Dinge an sich („Sache an sich selbst“), sondern (b) „nichts anderes als bloße Vorstellungen unserer Sinnlichkeit“. Das Ding an sich ist zwar (c) das „wahre Korrelatum“ der Sinnlichkeit, aber (d) fr uns unerkennbar. (e) Allerdings wird nach ihm „in der Erfahrung niemals gefragt“.
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Obwohl (b) und (c) jeweils die Zwei-Welten- bzw. die Zwei-Aspekte-Lehre nahelegen, besttigt dies bloß, dass bloße Redewendungen zum exegetischen Zweck nicht entscheidend sind; der ganze Text lsst per se beide Lesarten zu. Es muss dann gefragt werden, ob derjenige Faktor, welcher die ZweiWelten- oder die Zwei-Aspekte-Lehre erzwingt, nicht vielleicht in der Argumentation fr den bergang von den vorigen Stufen zur Stufe 5 besteht. Eine derartige Argumentation findet sich aber nirgendwo.349 Dies weist darauf hin, dass Kant die Stufe 5 als eine direkte Folge aus der Stufe 4 erachtet. Wie nun oben gezeigt wurde, zieht die Argumentation bis zur Stufe 4 weder die Zwei-Aspekte- noch die Zwei-Welten-Lehre (also weder den Realismus noch den Anti-Realismus) vor. Dies alles spricht fr folgende zwei Thesen: (1) Der direkte Beweis des TrI in toto beweist weder die (realistische) Zwei-Aspekte- noch die (anti-realistische) Zwei-WeltenLehre. (2) Selbst wenn es der Fall sein sollte, dass Kant dabei eine der beiden Lehren implizit angenommen hat, spielt diese Annahme zumindest keine substantielle Rolle fr die dortige Argumentation. Das bedeutet, dass der direkte Beweis des TrI in der Transzendentalen sthetik, rein argumentativ gesehen, sowohl mit dem Realismus als auch mit dem Anti-Realismus kompatibel ist. Ich mçchte betonen: Damit beabsichtige ich nicht zu verneinen, dass Kant zumindest in der Transzendentalen sthetik seine Argumentation unter stillschweigender Annahme der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre ausgefhrt hat. – Die hohe Anzahl an Zwei-Aspekte-Formulierungen in der Transzendentalen sthetik weist in der Tat darauf hin. – Was ich nachzuweisen versuchte, war nur, dass die realistische Zwei-Aspekte-Lehre dabei keine substantielle argumentative Rolle spielt. Dies reicht schon aus, um sie in Rcksicht auf die Kohrenz der KdrV im Ganzen fr ein nicht absolut respektables Moment wegzuerklren. In Bezug auf das Ergebnis der bisherigen Diskussion fge ich zwei Bemerkungen hinzu: 349 Nachdem Kant im dritten Absatz der „Schlsse aus obigen Begriffen“ die empirische Realitt sowie die transzendentale Idealitt des Raums nachweist, spricht er im vierten Absatz immer noch ausschließlich ber den Raum selbst und im fnften Absatz bis zur gerade zitierten Textpassage erçrtert er den empirischen Begriff der Erscheinungen, um im Gegensatz dazu seinen „transzendentalen Begriff“ hervorzuheben. Man findet also keine Information darber, wie auf diesen geschlossen wird und in welchem Sinne er genau zu verstehen ist.
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(A) Durch dieses Ergebnis erfhrt die in 2.1 angefhrte Unterscheidung zwischen der Idealitt der Gegenstnde und der Idealitt der Formen eine weitere Begrndung. Nicht nur wird nicht aus der ersteren (als AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde) die letztere hergeleitet, sondern auch nicht umgekehrt. Damit wird festgestellt: Der TrI ist tatschlich eine komplexe Doktrin, die aus distinkten Sinnkomponenten besteht, die ihrerseits durch unterschiedliche Argumentationen gerechtfertigt werden. Dies spricht des Weiteren dafr, dass sich der TrI und der TrR, Kants Selbstverstndnis entgegen, nicht zueinander kontradiktorisch verhalten, weil der TrR jene beiden Komponenten des TrI verneinen soll. – Ich beabsichtige damit nicht, Kant deswegen zu kritisieren. Der Hinweis auf den Unterschied zwischen der Idealitt der Formen und der Idealitt der Gegenstnde ist vielmehr dafr bedeutsam, den Sinngehalt des TrI in seinem argumentativen Zusammenhang genau zu verstehen.350 (B) Obgleich der direkte Beweis des TrI in der Transzendentalen sthetik, wie gezeigt, mit der realistischen Zwei-Aspekte-Lehre vertrglich ist, lsst sich doch erweisen, dass er – vor allem die dadurch bewiesene transzendentale Idealitt von Raum und Zeit – sie in sachlicher Hinsicht problematisch macht. Dies betrifft das bereits in 2.2 (B) erwhnte Problem, nmlich, dass die realistische Zwei-Aspekte-Lehre die kantische „Erscheinung“ zum bloßen Schein zu verwandeln droht, was Kant ausdrcklich verneint (Prolegomena, §13 Anmerkung III und B69 f.; vgl. auch A491/ B519, wo Kant von „Traum“ anstatt von „Schein“ spricht). Es wurde in 2.2 (B) gezeigt, dass die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation dieses Problem einigermaßen lçsen kann. Rosefeldt 2007 (S. 175 – 84) hat sogar einer derartigen Lçsung eine berzeigende exege350 Damit ist meine Argumentation gegen die „Short Argument“-Herausforderung von Karl Ameriks (vgl. oben, Anm. 59) vollbracht worden. Das Fazit ist, dass so etwas wie ein „Short Argument“ fr den TrI in der KdrV tatschlich gefunden wird (nmlich im Antinomiekapitel und vierten Paralogismus (A)), sofern man, statt Kants Selbstverstndnis unkritisch zu schlucken, seine tatschliche Argumentationsgnge konkret berprft. – Allerdings mçchte ich die Mçglichkeit nicht ausschließen, dass man eines Tages durch eine noch ausfhrlichere Untersuchung einen noch tieferen Zusammenhang, als ich prsentiert habe, zwischen dem AntiRealismus und der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit herausstellen mag. In diesem Fall wrde die „Short-Argument“-Herausforderung rehabilitiert, aber nicht derart, wie Ameriks als Anhnger der metaphysischen (also realistischen) Zwei-Aspekte-Interpretation intendiert. Denn hieraus ergbe sich vielmehr eine Verstrkung der anti-realistischen Interpretation, indem selbst die Transzendentale sthetik, meiner Beurteilung entgegen, als ein positiver Beleg dafr diente.
6.3 Transzendentale sthetik
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tische Untersttzung erteilt. Es geht um B69 Anm.351 Dort behauptet Kant: Die Erscheinung, die „gar nicht am Objekte an sich selbst, jederzeit aber im Verhltnisse desselben zum Subjekt anzutreffen und von der Vorstellung des ersteren unzertrennlich ist“, kçnne dennoch – genauso wie „die rote Farbe, oder der Geruch“ – dem Objekte selbst „in Verhltnis auf unseren Sinn“ prdiziert werden; der Schein entspringe nur dann, wenn man „der Rose an sich die Rçte, dem Saturn die Henkel, oder allen ußeren Gegenstnden die Ausdehnung an sich beilege, ohne auf ein bestimmtes Verhltnis dieser Gegenstnde zum Subjekt zu sehen und mein Urteil darauf einzuschrnken“. Darauf basierend argumentiert Rosefeldt wie folgt: Whrend es falsch (also „Schein“) ist, dass der Saturn zwei Henkel hat, ist es doch akzeptabel, mit expliziter Erwhnung des Verhltnisses des Gegenstandes zum Subjekt zu sagen, „Der Saturn hat die Eigenschaft, Galileo als zwei Henkel habend zu erscheinen“ (Rosefeldt 2007, S. 176); gleichfalls ist es akzeptabel (also nicht „Schein“-erregend), den Erscheinungsaspekt, der – wie sekundre Qualitten – subjektabhngig ist, doch dem subjektunabhngig existierenden Objekt an sich beizulegen, wie „Die Rose hat die Eigenschaft, Subjekten mit dem Vermçgen raum-zeitlicher Anschauung ausgedehnt zu erscheinen“ (ibid., S. 181). Ich erachte diese Auslegung Rosefeldts als eine exegetisch adquate Rekonstruktion von Kants Ansicht in B69 Anm. Ich hege dennoch den Verdacht, dass sie immerhin in sachlicher Hinsicht nicht problemlos ist. Im Nachfolgenden begrnde ich diesen Verdacht und zeige zudem, dass die anti-realistische Zwei-Welten-Interpretation fr Kants berzeugung, dass die Erscheinung kein Schein sei, eine sachlich bessere Erklrung geben kann. Die nachfolgende Argumentation ist verwandt mit Allisons Argu351 In Prolegomena, §13 Anmerkung III (Ak. 4, S. 290 f.), findet sich eine andersartige Argumentation. Kant versucht dort einem „leicht vorherzusehend[en] [. . .] Vorwurf“ zu begegnen, nmlich dem, dass seine Doktrin der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit unsere empirische Erkenntnis zum bloßen Schein verwandelt. Darauf entgegnet er, dass dies nicht der Fall sei, weil auch im Rahmen jener Doktrin wahre von falscher Erkenntnis (Schein) unterschieden werden kçnne, durch Verwendung gebruchlicher epistemischer Kriterien. (Ein gleicher Hinweis findet sich auch in A491 f./B519 f.) Jedoch diese Entgegnung verfehlt die Pointe des Vorwurfs. Denn diese liegt nicht darin, dass jene Doktrin den Unterschied zwischen Wahr- und Falschheit im blichen (empirischen) Kontext nicht erklren kann, sondern vielmehr darin, dass empirische Erkenntnisse, die im blichen Kontext als wahr qualifiziert werden, insgesamt als „Schein“ bewertet werden mssen, wenn sie nicht vorstellen kçnnen, wie Gegenstnde an sich selbst sind. Kants dortige Argumentation ist also kraftlos gegen den betreffenden Vorwurf.
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mentation gegen die metaphysische Interpretation berhaupt (vgl. oben, 3.2, S. 75 f.); ich fge zu dieser aber noch einige Ergnzungen und Modifizierungen hinzu. Zur Vorbereitung soll die Bedeutung des Terminus „Schein“ noch nher betrachtet werden. Folgendes drfte wohl allgemein akzeptiert werden: Falls eine Vorstellung, die eine Erkenntnis eines Objekts intendiert, die „eigentliche“ Beschaffenheit dieses Objekts nicht treu reprsentiert, dann kann sie, im Kontrast zu dieser Beschaffenheit, als „Schein“ bezeichnet werden.352 Wenn z. B. eine Erkenntnis einen geraden Stab, der teilweise ins Wasser hineingesteckt wird, als krumm darstellt, wird sie im Kontrast zum „eigentlich“ geraden Stab als „Schein“ bewertet. Dies resultiert aus der generellen Bedeutung von „Schein“, unerachtet dessen, ob der Terminus „Vorstellung“ im empirischen oder im transzendentalen Kontext verwendet wird. Zu hinterfragen ist, was in einem bestimmten Kontext als „eigentliche“ Beschaffenheit zu erachten ist. Zudem ist auch Folgendes wohl allgemein plausibel: Wenn einem Ding, außer seiner subjektabhngigen Eigenschaften (nmlich seinem Erscheinungsaspekt), noch eine subjektunabhngige Beschaffenheit zuerkannt wird, dann muss die letztere als die eigentliche Beschaffenheit des Dings erachtet werden. Demgemß ist es ber die Erkenntnis der ersteren zu sagen, dass sie nicht vorstellt, wie das zu erkennende Objekt eigentlich beschaffen ist, so dass sie im Kontrast zu der letzteren doch als „Schein“ bewertet wird. Diese Konsequenz ist zwingend, insofern der Kontrast der subjektabhngigen und der subjektunabhngigen Beschaffenheit in Bezug auf ein und dasselbe Ding berhaupt angenommen wird.353 352 Es ist außerdem zu beachten, dass der Terminus „Schein“ kontextabhngig ist. Um dies zu klren, nehmen wir zum Beispiel Fotos: Sie reprsentieren (normalerweise) ihre Aufnahmeobjekte in einem Sinn „korrekt“. Was aber ihre zweidimensionale Prsentation der Objekte anbelangt, stimmt sie natrlich nicht mit der Beschaffenheit berein, die die Objekte tatschlich haben. Demgemß kçnnte die fotographische Darstellung, im Vergleich zur Dreidimensionalitt ihrer Aufnahmeobjekte, als „Schein“ bezeichnet werden. Ein derartiger Vergleich findet blicherweise nicht statt, aber nur deswegen, weil eine derartige Inkorrektheit des Fotos so selbstverstndlich ist, dass sie im blichen Kontext nicht nennenswert ist. 353 Diese Stufe der Argumentation ist meines Erachtens unentbehrlich, obwohl Allison sie nicht explizit macht und stattdessen nur annimmt, dass der metaphysischen Interpretation zufolge die an sich selbst seiende Entitt bzw. Beschaffenheit dem, wie Dinge „really are“, entsprechen msse (ders. 2004, S. 46 f.). Dies ist aber nicht selbstverstndlich, muss also begrndet werden, wie ich auf dieser Stufe vorgefhrt habe.
6.3 Transzendentale sthetik
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Aufgrund dieser Vorbereitung lsst sich nun folgende Argumentation konstruieren: Die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit besagt, dass die Raumzeitlichkeit der raumzeitlichen Dinge subjektabhngig ist. Die realistische Zwei-Aspekte-Lehre sagt zudem aus, dass gerade diese Dinge auch eine subjektunabhngige Beschaffenheit haben. Insofern ist fr sie die Konsequenz unvermeidlich, dass die kantische „Erscheinung“, die nur mit der subjektabhngigen Beschaffenheit der Dinge zu tun hat, nicht die eigentliche Beschaffenheit der Dinge, sondern ein „Schein“ im oben geklrten Sinne ist. – Rosefeldts Variante kann ebenfalls diese Konsequenz nicht vermeiden. Sie legitimiert zwar die Behauptung, dass die raumzeitliche Beschaffenheit erkenntnisunabhngig existierenden Dingen zukommt als eine solche Disposition, dass diese uns als raumzeitlich erscheinen, aber sie unterscheidet doch die raumzeitliche Beschaffenheit von derjenigen, wie Dinge an sich selbst beschaffen sind, und nimmt an, dass diese an sich selbst nicht raumzeitlich sind. Demgemß kommt man nicht umhin zu sagen: Die raumzeitliche Beschaffenheit kommt zwar den Dingen wirklich zu, aber was diesen hierbei zukommt, ist gerade ein „Schein“ im oben geklrten Sinne!354 354 Dieser Punkt kann auch folgendermaßen ausgedrckt werden („a“ und „F“ referieren jeweils auf ein Ding und eine raumzeitliche Eigenschaft): Rosefeldts Variante legitimiert zwar, dass a wirklich die Eigenschaft (Disposition) hat, uns als F zu erscheinen, aber nicht, dass a wirklich F ist. Man mag dagegen einwenden, dass die beiden im rosefeldtschen Rahmen nicht zu unterscheiden sind, genauso wie im Fall der Farben, wo nmlich „a ist rot“ so viel bedeutet wie „a hat die Disposition, uns unter geeigneten Umstnden als rot zu erscheinen“ (ein Ansatz fr diesen Einwand findet sich in Rosefeldt 2007, S. 180). Darauf entgegne ich: Dass die beiden im Falle der Farben nicht unterschieden werden, beruht bloß auf einer sprachlichen Konvention und diese wird ihrerseits dadurch gerechtfertigt, dass es empirisch feststellbar ist, dass sekundre Qualitten – zumindest ihre manifesten Beschaffenheiten – nicht so wie primre Qualitten Dingen an sich selbst zukommen. (Da sekundre Qualitten dennoch gewissermaßen „objektiv“ sind, in dem Sinne, dass sie auf primren Qualitten grnden, so wird es gut motiviert, sie mit Dispositionen, uns so oder so zu erscheinen, zu identifizieren, anstatt sie mit ihren manifesten Beschaffenheiten zu identifizieren und zu sagen, die Dingen htten in Wahrheit keine Farbe. Dies ist zwar gut motiviert aber nicht absolut zwingend; eben deswegen dachten einige Philosophen in der Tat, dass die lockesche Unterscheidung zwischen primren und sekundren Qualitten zur Folge habe, dass Dinge in Wahrheit keine Farbe haben.) Im Unterschied dazu ergibt sich die Subjektabhngigkeit der kantischen „Erscheinung“ nicht dadurch, dass Kant raumzeitliche mit noumenalen Eigenschaften verglichen hat, und es ist noch unplausibler zu denken, dass Kant dabei bloß eine neue Sprachkonvention vorschlgt.
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Um nun diese Konsequenz zu vermeiden, muss man gerade die Auffassung ablehnen, dass ein und demselben Ding sowohl subjektabhngige raumzeitliche als auch subjektunabhngige Beschaffenheit zukommen sollen; dies bedeutet aber geradezu, die realistische Zwei-Aspekte-Lehre preiszugeben. Stattdessen mssen die Dinge selbst, denen die raumzeitliche Beschaffenheit beigelegt wird, als subjektabhngige Entitten erachtet werden; dies ist nichts Anderes als der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. Ich fge zwei Bemerkungen ber diese Argumentation hinzu: (1) Sie ist hnlich wie Allisons bezgliche Argumentation, aber in einem wichtigen Punkt von ihr unterschieden. Allison beabsichtigt damit nicht nur die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation, sondern die metaphysische Interpretation berhaupt, also auch die Zwei-Welten-Interpretation, zurckzuweisen. Obwohl in seiner kurzen Darstellung nicht klar wird, wie dies geleistet werden soll, drfte sich seine dortige Ansicht folgendermaßen rekonstruieren lassen: Sofern außer dem Erscheinungsaspekt der Dinge noch etwas Subjektunabhngiges, ob als distinkte Entitt oder als Aspekt, angenommen wird, muss der erstere im Vergleich mit dem letzteren als „Schein“ oder zumindest als etwas ontologisch Minderwertiges erachtet werden. Hingegen richtet sich meine obige Argumentation allein gegen die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation.355 Sie lsst nmlich die anti-realistische Zwei-Welten-Interpretation zu, die zwar die Existenz subjektunabhngiger Entitten anerkennt, diese jedoch von raumzeitlichen Gegenstnden numerisch unterscheidet. Insofern erzwingt die Anerkennung der subjektunabhngigen Realitt nicht dazu, die kantische „Erscheinung“ zum Schein herabzusetzen. Man mag denken, dass es dennoch gilt, dass „Erscheinungen“ in toto im Vergleich mit der subjektunabhngigen Realitt ontologisch minderwertig sind. Dies klingt mir hnlich, wie wenn Glubige sagen, dass die irdische Welt im Vergleich mit dem Gottesreich so gut wie ein bloßer „Schein“ sei. Dagegen sage ich: Auch wenn die Glubigen dabei Recht htten, wrde dadurch nicht tangiert, dass unsere einzelne empirische Erkenntnis kein Schein ist, weil es sich bei ihr gerade um die irdische Welt handelt, die von 355 Sie weist somit auch Allisons realistische Zwei-Aspekte-Interpretation zurck. Man beachte, dass ich in der obigen Argumentation (außer dem Kommentar zu Rosefeldts Interpretation) den Terminus „Ding an sich“ nicht verwendet habe. Folglich ist der Vorwand, dass die subjektunabhngige Beschaffenheit nicht „Ding an sich“ (bzw. „an sich“-Aspekt) genannt werden msse, nicht verfgbar, um die obige Argumentation zu entkrften.
6.3 Transzendentale sthetik
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dem Gottesreich numerisch unterschieden wird. Genauso kann man auch im Fall der obigen anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation sagen, dass einzelne „Erscheinungen“ innerhalb des raumzeitlichen Bereiches ihr ontologisches Recht behalten, auch wenn sie in toto im Vergleich mit dem vçllig anderen Bereich als „minderwertig“ angesehen werden kçnnten. Abzulehnen ist lediglich die Idee, dass sowohl die subjektabhngige als auch die subjektunabhngige Beschaffenheit denselben Dingen zukommen. (2) Die obige Argumentation dient zugleich als eine indirekte Rechtfertigung des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde unter der Voraussetzung der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit. Denn sie zeigt, dass diese im Rahmen des Realismus raumzeitlicher Gegenstnde dazu fhren muss, die raumzeitliche Beschaffenheit der Gegenstnde zum bloßen Schein im oben erklrten Sinne herabzumindern, und dass diese Konsequenz nur durch den Anti-Realismus vermieden werden kann. Sie liefert zwar keinen indirekten Beweis (weil die Konsequenz, dass die „Erscheinung“ ein bloßer Schein sei, keinen inneren Widerspruch wie die Antinomie enthlt), spricht dennoch dafr, den Realismus in Frage zu stellen (allerdings nur unter Voraussetzung der transzendentalen Idealitt von Raum und Zeit), und weist damit einen Vorteil des Anti-Realismus auf. Obwohl ich die bisher dargestellte Argumentation sachlich vertretbar finde, ist sie ohnehin nicht das, was Kant selbst vorlegt. (Sie widerspricht sogar seiner eigenen Argumentation in B69 Anm.356) Ich mçchte sie also nicht als einen exegetischen Beleg fr die anti-realistische Interpretation angeben. Indessen mçchte ich zumindest soviel behaupten: In systematischer Hinsicht gibt es einen guten Grund dafr, die Transzendentale sthetik, der darin dominanten Zwei-Aspekte-Redeweise entgegen, antirealistisch umzudeuten. Dieses Ergebnis reicht fr die Aufgabe der rationalen Rekonstruktion schon aus.
356 Ich mçchte wiederum betonen, dass ich Rosefeldts Rekonstruktion von B69 Anm. exegetisch berzeugend finde. Und insofern muss sie das oben erçrterte Problem nicht unbedingt bercksichtigen (weil Kant selbst es nicht bercksichtigt hat). Was meine obige Diskussion nachweist, ist nur, dass die anti-realistische Zwei-WeltenInterpretation eine in sachlicher Hinsicht bessere Lçsung anbietet.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
6.4 Problem des Doppelcharakters des Ichs Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs stellt der (anti-realistischen) Zwei-Welten-Interpretation ebenfalls ein schwerwiegendes Problem. In diesem Abschnitt versuche ich dieses Problem als solches klarzumachen. Die Lçsung ist erst nach der ausfhrlichen Untersuchung der Problematik der „Dinge an sich“ mçglich; ich schiebe sie also an das Ende von Kapitel 8 auf. Ich skizziere zunchst diese Doktrin und erlutere anschließend, in welcher Hinsicht sie fr die anti-realistische Zwei-Welten-Interpretation problematisch ist. Die betreffende Doktrin besagt, dass das Ich einerseits eine Erscheinung, andererseits dennoch ein Ding an sich sei;357 diese zwei Charaktere bezeichne ich fortan als „empirisches Selbst“ und „noumenales Selbst“. Die betreffende Doktrin findet nun besonders in Kants Freiheitslehre substantielle Anwendung; vgl. z. B. Folgendes: „Und da wrden wir an einem Subjekte der Sinnenwelt erstlich einen empirischen Charakter haben, wodurch seine Handlungen, als Erscheinungen, 357 „Allein der Mensch [. . .] ist sich selbst freilich einesteils Phnomen, anderenteils aber, nmlich in Ansehung gewisser Vermçgen, ein bloß intelligibler Gegenstand, [. . .]“ (A546/B574). – Der kardinale Text fr diese Doktrin ist A538 – 41/B566 – 9 („Mçglichkeit der Kausalitt durch Freiheit, in Vereinigung mit dem allgemeinen Gesetze der Naturnotwendigkeit“) im Ganzen, in dem auch das nchste Zitat situiert ist. Vgl. zudem BXXVIIf.; Prolegomena, Ak. 4, S. 344; Grundlegung, Ak. 4, S. 451 und 453; Kritik der praktischen Vernunft, Ak. 5, S. 95 und 97 f. Indessen ist die betreffende Doktrin nicht nur fr Kants Freiheitslehre relevant; vgl. Folgendes: „Ich bin mir meiner selbst bewußt, ist ein Gedanke, der schon ein zweifaches Ich enthlt, das Ich als Subject, und das Ich als Object. Wie es mçglich sey, daß ich, der ich denke, mir selber ein Gegenstand (der Anschauung) seyn, und so mich von mir selbst unterscheiden kçnne, ist schlechterdings unmçglich zu erklren, obwohl es ein unbezweifeltes Factum ist; es zeigt aber ein ber alle Sinnenanschauung so weit erhabenes Vermçgen an, daß es, als der Grund der Mçglichkeit eines Verstandes, die gnzliche Absonderung von allem Vieh, dem wir das Vermçgen, zu sich selbst Ich zu sagen, nicht Ursache haben beyzulegen, zur Folge hat, und in eine Unendlichkeit von selbstgemachten Vorstellungen und Begriffen hinaussieht. Es wird dadurch aber nicht eine doppelte Persçnlichkeit gemeynt, sondern nur Ich, der ich denke und anschaue, ist die Person, das Ich aber des Objectes, was von mir angeschauet wird, ist gleich andern Gegenstnden außer mir, die Sache“ (Fortschritte, Ak. 20, S. 270; vgl. auch §§24 – 5 der Transzendentalen Deduktion (B)). Aus diesem Grund habe ich Kants betreffende Doktrin nicht die des „Doppelcharakters des Handlungssubjektes“ genannt.
6.4 Problem des Doppelcharakters des Ichs
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durch und durch mit anderen Erscheinungen nach bestndigen Naturgesetzten im Zusammenhang stnden [. . .]. Zweitens wrde man ihm noch einen intelligiblen Charakter einrumen mssen, dadurch es zwar die Ursache jener Handlungen als Erscheinungen ist, der aber selbst unter keinen Bedingungen der Sinnlichkeit steht, und selbst nicht Erscheinung ist. Man kçnnte auch den ersteren den Charakter eines solchen Dinges in der Erscheinung, den zweiten den Charakter des Dinges an sich selbst nennen.“ (A539/B567)
Kant behauptet nmlich: Das Ich unterliegt als Erscheinung den deterministischen Naturgesetzen, aber als Ding an sich mçglicherweise nicht. Diese Doktrin harmoniert sehr gut mit der Zwei-Aspekte-Lehre. Demzufolge kann man sagen: Das Ich selbst existiert unabhngig davon, dass es von jemandem (sich selbst eingeschlossen) erkannt wird, und es ist insofern, d. h. als Ding an sich, frei. Wenn aber von der empirischen Erkenntnis die Rede ist, ist es (gemß der Konstitution derselben) unausweichlich, das Ich derart vorzustellen, dass es als Erscheinung mit den sonstigen raumzeitlichen Gegenstnden durch die deterministischen Naturgesetze zusammenhngt. Es gilt natrlich nicht, dass wenn man einmal die Zwei-Aspekte-Lehre annimmt, dann Kants betreffende Doktrin problemlos verstndlich wird.358 Sofern es aber um die Entscheidung zwischen der Zwei-Weltenund der Zwei-Aspekte-Interpretation geht, ist der Vorzug der letzteren in Bezug auf diese Doktrin offensichtlich. Besser gesagt: Es ist sogar anscheinend gerade unmçglich, diese Doktrin im Rahmen der Zwei-WeltenInterpretation zu deuten.359 358 Es gibt z. B. noch folgende Probleme: (1) Wie kann die Konsequenz vermieden werden, dass wir in Wahrheit frei seien und nur scheinbar den Naturgesetzen unterlgen? (2) Unter der Annahme, dass wir als Dinge an sich frei seien aber als Erscheinungen den deterministischen Naturgesetzen unterlgen, ist die Konsequenz anscheinend unleugbar, dass der „freie“ Wille auf der noumenalen Ebene berhaupt keinen Einfluss auf die Handlung haben kann (da die Handlung ein Ereignis auf der phnomenalen Ebene ist). Wie kann diese Konsequenz vermieden werden? Die beiden Probleme sind fr Kants betreffende Doktrin ohnehin unumgnglich, egal ob sie im Rahmen der Zwei-Welten- oder der Zwei-Aspekte-Lehre verstanden wird. Ein Motiv fr Allisons methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation ist, derartige Probleme zu lçsen (vgl. ders. 1990, Kap. 2, und 2004, S. 47 – 9). Sein Lçsungsvorschlag verursacht jedoch ein weiteres Problem (besonders in Bezug auf das oben genannte zweite Problem); darauf kann ich aber hier nicht eingehen. 359 Allen Wood fhrt dies als ein „fatal problem“ fr die Zwei-Welten-Interpretation an; vgl. ders. 2005, S. 74.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
Es ist zuerst zu bemerken, dass Kant bei der Erçrterung dieser Doktrin immer die Zwei-Aspekte-Redeweise gebraucht, und zwar so eindeutig, dass deren zwei-welten-artige Umdeutung unmçglich aussieht. Insofern muss zugestanden werden, dass diese Doktrin ein deutlicher textlicher Gegenbeleg zur Zwei-Welten-Interpretation ist. Selbst deren Anhnger kçnnten diese Tatsache nicht leugnen. Wenn es aber lediglich ein derartiger, rein terminologischer Faktor ist, der der Zwei-Welten-Interpretation widersteht, dann lsst diese sich noch verteidigen, indem man folgendermaßen argumentiert: Es ist wohl wahr, dass Kant selbst die betreffende Doktrin im Rahmen der Zwei-AspekteLehre entwickelt hat. Aber diese Doktrin als solche kann dennoch auch derart modifiziert werden, dass sie im Rahmen der Zwei-Welten-Lehre verstndlich wird, ohne dass dadurch ihr wesentlicher Behauptungsgehalt zunichte gemacht wird.360 Es stellt sich zudem heraus, dass die Zwei-Aspekte-Interpretation (ob sie als realistisch/metaphysisch oder aber als antirealistisch/methodologisch entwickelt werden mag) gegen einige Theoriestcke der KdrV so fatal verstçßt, dass deren zwei-aspekte-artige Umdeutung nicht nur „unnatrlich“, sondern schlechthin unmçglich ist, whrend die (anti-realistische) Zwei-Welten-Interpretation erlaubt, die KdrV im Ganzen, abgesehen von der betreffenden Doktrin, folgerichtig zu verstehen. Deshalb ist es legitim, diese Doktrin mit Rcksicht auf die Kohrenz des gesamten Systems vielmehr der Zwei-Welten-Interpretation gemß umzudeuten. Eine derartige Verteidigung der anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation werde ich in 8.5 vornehmen. An dieser Stelle bin ich vorerst nur bestrebt, die sachlichen Schwierigkeiten zu verdeutlichen, auf die ein solcher Versuch stçßt. Wenn man die betreffende Doktrin im Rahmen der Zwei-WeltenInterpretation umzudeuten versucht, kann man nicht umhin, das empirische und das noumenale Selbst nicht fr zwei Seinsweisen ein und derselben Entitt, sondern fr zwei distinkte Entitten zu halten. Daraus ergibt sich sofort ein schwieriges Problem: Wie kann es berhaupt verstndlich gemacht werden, dass zwei distinkte Entitten dennoch ein und dasselbe Ich sind? 360 Wenn der Zwei-Welten-Interpretation nicht einmal so viel gelingen sollte, htte sie berhaupt keine Zukunft. Denn Kants Freiheitslehre, fr die die Doktrin des Doppelcharakters des Ichs konstitutiv ist, ist fr Kants gesamte Philosophie so zentral, dass man ber sie nicht einfach als ein peripheres Element hinwegsehen kann.
6.4 Problem des Doppelcharakters des Ichs
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Wie Richard Aquila bemerkt (vgl. ders. 1983, S. 114), ist es zwar nicht schlechterdings unmçglich, das Ich als ein Kompositum aus zwei distinkten Entitten zu verstehen (so wie es bei Descartes der Fall ist). Diese Maßnahme ist jedoch nur dann anwendbar, wenn diese Komponenten den gleichen ontologischen Status besitzen. (Der cartesianische Dualismus erfllt dies, denn res cogitans und res extensa sollen solche Dinge sein, die nebeneinander existieren kçnnen.) Diese Bedingung wird aber gerade nicht von der kantischen Zwei-Welten-Lehre befriedigt. Denn dieser zufolge soll das empirische Selbst etwas Erkenntnisabhngiges, das noumenale hingegen etwas Erkenntnisunabhngiges sein. Die betreffende Maßnahme ist folglich nicht hierauf anwendbar.361 Stattdessen schlage ich folgendes Erklrungsschema vor: Das Ich ist an sich ein noumenales Selbst. Das empirische Selbst hingegen ist eine „Erscheinung“ desselben, die von jenem numerisch unterschieden wird. Dieses Erklrungsschema verursacht aber seinerseits folgende Probleme (die in 8.5 noch ausfhrlicher dargestellt werden): (1) Ihm zufolge wird das Ich an sich, das das noumenale Selbst ist, vom empirischen Selbst numerisch unterschieden. Angesichts dessen scheint es unmçglich zu sein, das sogenannte „empirische Selbst“ berhaupt als Selbst zu verstehen. (2) Es scheint, dass diesem Erklrungsschema zufolge das empirische Selbst als ein Abbild des noumenalen Selbst erachtet werden muss. Dies 361 Aquila schlgt eine Maßnahme vor, das Ich als ein Kompositum verstehend dennoch das oben genannte Problem zu vermeiden. Ihm zufolge ist das Ich (das er als „phenomenal person“ bezeichnet) ein Kompositum aus dem empirischen und dem noumenalen Selbst in dem Sinne, dass alle Aussagen ber das Ich auf Konjunktionen von Aussagen ber das erstere und Aussagen ber das letztere zurckzufhren seien. Demgemß wird die Behauptung, dass eine Person eine gewisse Handlung ausgefhrt habe, in folgende zwei Behauptungen zerlegt: Erstens zur Behauptung ber die Entscheidung, die diese Person als an sich Existierendes getroffen hat, und zweitens zur Behauptung ber das raumzeitliche Verhalten, das durch diese Entscheidung erklrt wird, welches aber nur von unserer empirischen Erkenntnis abhngig wirklich ist (vgl. ders. 1983, S. 114). Ich muss zugeben, dass ich nicht verstanden habe, wie dies berhaupt zur Lçsung des betreffenden Problems dienen soll. (Sein Beispiel von Sherlock Holmes und Conan Doyle (ibid.) macht seine Auffassung bloß noch dunkler.) Aquila lsst zudem unerklrt, wie es – ohne dabei der Zwei-Aspekte-Interpretation zu verfallen – zu verstehen ist, dass zwei andersartige Tatsachen (die eine erkenntnisabhngig, die andere hingegen erkenntnisunabhngig) dennoch Tatsachen ber das eine Ich sind.
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Kapitel 6 Vertrglichkeit mit realistisch scheinenden Theoriestcken
widerspricht zwar nicht der Zwei-Welten-Interpretation schlechthin, aber zumindest der anti-realistischen Variante, die ich verteidige. Um diese Probleme ausfhrlich zu erçrtern, muss im Vorfeld genau festgestellt werden, was ber Dinge an sich positiv behauptbar ist und was nicht. Damit beschftige ich mich im Kapitel 8 und darauf basierend zeige ich in 8.5, wie diese Probleme im Rahmen der anti-realistischen ZweiWelten-Interpretation gelçst werden. Obwohl eines unentschieden gelassen wurde, ist durch die bisherige Untersuchung doch gezeigt worden, dass die sonstigen Theoriestcke der KdrV, die den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde nahelegen, mit dem Anti-Realismus weitgehend vertrglich gemacht werden kçnnen. Außerdem wurde bereits in den Kapiteln 4 und 5 konstatiert, dass die realistische Interpretation gegen zwei substantielle Theoriestcke, nmlich die Antinomielehre und den vierten Paralogismus (A), deutlich verstçßt, so dass sie keine adquate Option ist, um die KdrV in toto folgerichtig auszulegen. Dies spricht nun insgesamt dafr: Kants TrI kann nicht anders als antirealistisch interpretiert werden, es sei denn, dass man sich damit zufrieden gibt, die KdrV als ein Konglomerat widersprchlicher Auffassungen anzusehen. Wenn die anti-realistische Interpretation in irgendeinem Theoriestck scheitern sollte, wrde es vielmehr bedeuten, dass die einheitliche Interpretation des kantischen TrI berhaupt unmçglich ist.
Teil III Eingehende Erluterung von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit Die Untersuchung in Teil II hat erwiesen, dass Kants TrI – wenn er berhaupt als kohrente Position zu verstehen ist – als eine Variante des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde verstanden werden muss. Dieses Ergebnis ist zwar von eminenter Bedeutung fr die interpretatorische Debatte, um die es in der vorliegenden Abhandlung geht, leistet aber fr sich allein erst einen geringen Beitrag dazu, den konkreten Gehalt des TrI zu erhellen. Es muss nunmehr noch eingehender erlutert werden, wie Kants anti-realistische Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit in concreto beschaffen ist. Dies ist die Aufgabe der nachfolgenden zwei Kapitel. In Kapitel 7 untersuche ich, welche konkrete Version des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde dem kantischen TrI angemessen ist. Kant vertritt zweifelsohne nicht solch eine extrem subjektivistische Position wie „Raumzeitliche Gegenstnde existieren nur, whrend wir sie tatschlich wahrnehmen“. Wie wenig subjektivistisch soll aber dann der TrI genau sein? Ist es ihm mçglich, im Rahmen seines Anti-Realismus doch alle unsere Common-Sense-berzeugungen zu legitimieren? In Kapitel 8 erçrtere ich die Problematik der Dinge an sich und der Affektion. Obwohl Kant anti-realistisch behauptet, dass raumzeitliche Gegenstnde (als „Erscheinungen“) von unserer Erkenntnis abhngig existieren, erkennt er auch so etwas wie „Dinge an sich“ an. Diese sind zwar nicht mit raumzeitlichen Gegenstnden gleichzusetzen, jedoch auch nicht vçllig beziehungslos. Wie verhalten sie sich zueinander? Eine Auseinandersetzung mit dieser Frage ist unentbehrlich gerade fr eine Erhellung von Kants Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit. Im Vergleich zur textnahen Diskussion in Teil II erfordert die nachfolgende Untersuchung eine selbststndigere Theoriebildung. Das Thema von Kapitel 7 wird von Kant selbst nicht eingehend erçrtert. Was das Thema von Kapitel 8 anbelangt, sind Kants Aussagen darber manchmal einander widersprchlich. Um daraus eine in sich schlssige Theorie der
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
„Dinge an sich“ auszuarbeiten, bedarf es einer sachorientierten Theoriebildung vonseiten der Interpreten. Es muss aber auch hierbei, ja umso mehr eben dieser Umstnde wegen, darauf geachtet werden, was Kant tatschlich behauptet und wie er argumentiert, denn es kommt hierbei nicht darauf an, unter dem Vorwand der „Kant-Interpretation“ philosophische berzeugungen des Interpreten auszubieten, sondern gerade Kants berlegungen zu einem mçglichst konsequenten System zusammenzufgen. Eben da, wo die textliche Untersttzung schwer zu finden ist, bedarf es einer exegetisch sorgfltigen Behandlung der kantischen Texte. Ich werde in der nachfolgenden Untersuchung diesen Punkt besonders bercksichtigen.
Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus Kants TrI ist ein Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. Jedoch bedeutet „Anti-Realismus“ in der Definition der vorliegenden Abhandlung bloß eine Ablehnung der realistischen Wahrheitskonzeption (vgl. 1.2) und lsst somit seinerseits verschiedene Varianten zu. Demnach stellt sich die Frage: Welche konkrete Version des Anti-Realismus ist dem kantischen TrI angemessen? Mit dieser Frage beschftige ich mich in diesem Kapitel. Diese Aufgabe ist in der Kant-Literatur weitgehend vernachlssigt worden, selbst von idealistischen bzw. phnomenalistischen Interpreten.362 Entweder kommt diese Aufgabe berhaupt nicht zur Diskussion, oder man gibt sich einfach damit zufrieden, dem TrI eine allzu subjektivistische oder eine ebenfalls allzu objektivistische Version (die ich in 7.1.1 und 7.1.2 konkret darstelle) zuzuschreiben, ohne dabei eingehend zu prfen, ob eine solche Version mit Kants verschiedenen Thesen und Argumentationen berhaupt vertrglich ist. Allerdings ist dieses Thema auch von Kant selbst nicht eingehend diskutiert worden. Er weist zwar darauf hin, dass es nicht nur wirklich erworbene, sondern vielmehr mçgliche Erfahrungen sind, die die Wirklichkeit raumzeitlicher Gegenstnde fundieren.363 Dieser Hinweis hilft uns 362 Eine Ausnahme ist Carl Posy, insbesondere ders. 1984b. Van Cleve 1999 behandelt ebenfalls dieses Thema, aber nur kurz (S. 70 – 2 und Appendix D). 363 Z.B: „[Die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit] sind aber fr mich nur Gegenstnde und in der vergangenen Zeit wirklich, sofern als ich mir vorstelle, daß eine regressive Reihe mçglicher Wahrnehmungen (es sei am Leitfaden der Geschichte, oder an den Fußtapfen der Ursachen und Wirkungen,) auf eine verflossene Zeitreihe als Bedingung der gegenwrtigen Zeit fhrt, welche alsdann
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aber nicht so sehr, da es unerklrt bleibt, was die „mçglichen Erfahrungen“ außer den wirklichen noch umschließen. (Ist es z. B. im kantischen Sinne „fr uns erfahrbar“, wie oft Csar nieste, whrend er den Rubikon berschritt? Dergleichen war wohl erfahrbar fr die Personen, die mit Csar den Rubikon berquerten. Kann man aber daraus konkludieren, dass es fr uns erfahrbar ist?) Darber sagt Kant so gut wie nichts.364 – Dies verursacht eine besondere exegetische Schwierigkeit. Es ist nicht klar, welche Textstellen bercksichtigt werden mssen, um die betreffende Aufgabe berhaupt in Angriff zu nehmen. Angesichts dieser Schwierigkeit mag man dazu neigen, diese Aufgabe einfach zu ignorieren, aus dem Grund, dass sie von Kant selbst nicht beachtet wird. Diese Reaktion wre jedoch selbst in den Schranken der Exegese allzu leichtfertig, denn solange diese Aufgabe nicht gelçst wird, bleibt der konkrete Gehalt von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit ebenfalls im Dunkeln.365 Obwohl Kant diese Aufgabe nicht ausdrcklich thematisiert, ist es doch nicht der Fall, dass man in der KdrV berhaupt keine Anhaltspunkte dafr finden kann. Ich berufe mich im Nachfolgenden vornehmlich auf die Antinomienlehre. Wie in 1.2 (S. 25 f.) suggeriert wurde, ist es zunchst zu erwarten, dass charakteristische Merkmale einer anti-realistischen Position an deren Behandlung der Unendlichkeitsproblematik ersichtlich werden. Die besondere Rcksichtsnahme auf die Antinomienlehre wird auch durch folgenden Umstand motiviert: In Kapitel 4 wurde zwar festgestellt, dass Kant bei der Auflçsung der Antinomien in der Tat auf einen AntiRealismus rekurriert. Es ist aber in sachlicher Hinsicht immer noch fragdoch nur in dem Zusammenhange einer mçglichen Erfahrung und nicht an sich selbst als wirklich vorgestellt wird, [. . .]“ (A495/B523, kursiv von K.C.); vgl. auch A492 f./B521, A495 f./B523 f. und A522/B550. 364 Das „Postulat“ der Mçglichkeit in A218 – 24/B265 – 72 liefert keine Erhellung dieses Themas, denn es zeigt allenfalls notwendige formale Bedingungen, die die „mçglichen Erfahrungen“, welche die Wirklichkeit raumzeitlicher Gegenstnde fundieren, zumindest erfllen mssen; es gilt also auch fr falsche Erkenntnisse, die auf wirkliche Gegenstnde nicht zutreffen. 365 Es ist ebenfalls vorschnell, einfach in Anlehnung an einige Textpassagen (z. B. A495 f./B523 f.) zu konkludieren, dass die Realitt der Vergangenheit fr Kant kein Problem war (wie Abela 2002, S. 237 f. und Allison 2004, S. 456, Anm. 42). Es ist zunchst fragwrdig, ob solche Textpassagen wirklich derart gedeutet werden mssen. Davon abgesehen stellt sich noch die Frage, wie es fr den TrI mçglich ist, die Realitt der weit zurckliegenden Vergangenheit anzuerkennen. Dies ist gar nicht selbstverstndlich besonders im Rahmen des Anti-Realismus und dafr wird eine eingehende Untersuchung erfordert.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
wrdig, ob der Anti-Realismus wirklich fr Kants Ziel geeignet ist; es stellt sich nmlich in 7.1.1 heraus, dass nicht alle Versionen des Anti-Realismus in die kantische Auflçsung der Antinomien integrierbar sind. Dadurch wird die betreffende Aufgabe noch dringlicher, eben um Kants Auflçsung der Antinomien hinreichend zu verstehen. Diese Sachlage legt zugleich eine Aussicht nahe, dass man einen passenden Anhalt fr die betreffende Aufgabe erhlt, indem man Kants Argumentation fr die Auflçsung der Antinomien genauer untersucht und gegebenenfalls ergnzt. Dadurch wird ermçglicht, die kantische Version des Anti-Realismus im Zusammenhang mit Kants eigenen Argumentationen auszuarbeiten, anstatt einzelne Textpassagen, nur an ihrer Oberflche schwimmend, als „Belege“ anzugeben. Am Ende dieser Untersuchung schlage ich eine Version (ZN+mit SA) vor, die meiner jetzigen Ansicht nach die optimalste Option fr den TrI ist. Ich beabsichtige jedoch nicht, dieses Ergebnis als endgltig darzustellen. Man mag eines Tages eine noch attraktivere Option fr den kantischen Anti-Realismus entwickeln; ein solcher Versuch ist mir vielmehr willkommen. Die Pointe der nachfolgenden Untersuchung liegt vornehmlich darin, verschiedene Diskussionspunkte zu verdeutlichen, die bei der Ausarbeitung der kantischen Version des Anti-Realismus bercksichtigt werden mssen. Dies drfte wohl schon ein nicht unwesentliches Ergebnis sein, zumal das Thema, von dem dieses Kapitel handelt, in der bisherigen Literatur kaum beachtet worden ist. Zuerst mache ich im Abschnitt 7.1 die Problemlage noch deutlicher. Ein berblick der nachfolgenden Untersuchung wird im letzten Unterabschnitt von 7.1 gegeben. 7.1 Ausarbeitung der Frage In 7.1.1 hebe ich die sachlichen Probleme mit Kants genereller Auflçsung der Antinomien hervor; die gesuchte kantische Version des Anti-Realismus muss diese Probleme lçsen kçnnen. Es wird zugleich gezeigt, dass eine naheliegende Option, die ich „zeit-relative Version“ nenne, in dieser Hinsicht inadquat ist. In 7.1.2 stelle ich noch zwei inadquate Versionen des Anti-Realismus vor, nmlich die „peircesche“ und die „standard-phnomenalistische Version“. Darauf basierend biete ich in 7.1.3 einen berblick der nachfolgenden Untersuchung. Eine Bemerkung: Wie ich in 4.2.3 (S. 124 f.) zeigte, bietet Kant zwei distinkte Auflçsungen der Antinomien an. Die eine ist die generelle Auflçsung, die sowohl auf die mathematischen als auch die dynamischen
7.1 Ausarbeitung der Frage
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Antinomien unterschiedslos angewandt wird, und ihr gemß sind die Thesen sowie die Antithesen falsch. Die andere hingegen richtet sich nur auf die dynamischen Antinomien. Ihr gemß sind die Thesen sowie die Antithesen mçglicherweise wahr, aber nur in einer „berichtigten Bedeutung“ (A532/B560), nmlich nur unter einer bestimmten Vernderung ihrer Behauptungsgehalte. Die zweite Auflçsung wird sich auf die Problematik der Dinge an sich bezogen. Da dieses Kapitel spezifisch von der Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit handelt, kommt die zweite Auflçsung im Nachfolgenden nicht zur Diskussion. Ich spreche fortan, der Prgnanz zuliebe, einfach von „Auflçsung der Antinomien“, womit ich aber nur die erstere generelle Auflçsung meine. Ich mçchte hier den Leser noch an die Terminologie der „Bedingungsreihe“ erinnern, die ich in Abschnitt 4.2 eingefhrt habe. Die ZeitAntinomie handelt von einer einzigen linienfçrmigen Bedingungsreihe, welche „zeitliche Bedingungsreihe“ genannt wurde. In der Raum-, der zweiten und der dritten Antinomie handelt es sich hingegen um mehrere linienfçrmige Bedingungsreihen, welche jeweils als „rumliche“, „mereologische“ und „kausale Bedingungsreihen“ bezeichnet wurden. (Die vierte Antinomie handelt wiederum von einer einzigen linienfçrmigen Bedingungsreihe, nmlich der „modalen Bedingungsreihe“, die jedoch im Nachfolgenden nicht thematisiert wird.) 7.1.1 Probleme der kantischen Auflçsung der Antinomien Kant rekurriert bei der Auflçsung der Antinomien in der Tat auf einen Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde; diese exegetische Tatsache wurde in Kapitel 4 hinreichend festgestellt. Man kann jedoch in sachlicher Hinsicht immer noch in Frage stellen, ob der Anti-Realismus wirklich dazu taugt, die Antinomien derart aufzulçsen, wie Kant dies beabsichtigt. Um nun diese Frage affirmativ zu beantworten, mssen einige Probleme bewltigt werden. In diesem Unterabschnitt versuche ich, diese Probleme zu verdeutlichen. Dafr muss zuerst herausgestellt werden, wie Kant die Antinomien in concreto auflçst. Im 7. Abschnitt des Antinomiekapitels argumentiert er wie folgt: Anhand des anti-realistischen Arguments, dass raumzeitliche Gegenstnde berhaupt (somit auch die Bedingungsreihen) nur im Regressus gegeben werden kçnnen, zieht Kant die Konsequenz, dass die Bedingungsreihen nicht als absolute Totalitten existieren (vgl. oben, 4.3.1). Diese Konsequenz impliziert, dass die Bedingungsreihen weder endlich
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noch aktual-unendlich sind, und auch Kant denkt ebenso (vgl. z. B. A504 – 6/B532 – 4366). Dieser Punkt verdient eine besondere Betonung. Kants Auflçsung der Antinomien fordert, dass die Thesis- sowie die Antithesis-Position falsch sind.367 Dies muss in der Interpretation der Antinomienlehre unter allen Umstnden respektiert werden. Eine Interpretation, die dies unterlsst, kann nicht als eine korrekte Widergabe der kantischen Auflçsung der Antinomien erachtet werden. – Wie aber im Nachfolgenden gezeigt wird, bringt diese Forderung schwerwiegende Probleme mit sich. Allerdings ist die oben genannte Argumentation immer noch unvollstndig. Es muss noch hinterfragt werden, wie das geforderte Resultat mithilfe des anti-realistischen Arguments erreicht wird. Im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels erçrtert Kant dieses Thema noch ausfhrlicher. Durch die nhere Betrachtung dieser Textstelle erweist sich, dass das anti-realistische Argument zwar fr die Zurckweisung der Antithesis-Position konstitutiv ist, aber nicht fr die der Thesis-Position; die letztere grndet vielmehr auf Argumenten, die sich zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhalten. Kants Argumentation gegen die Antithesis-Position ist leicht zu erkennen: Der TrI als ein Anti-Realismus verlangt, dass raumzeitliche Gegenstnde fr uns erfahrbar sein mssen, damit sie berhaupt wirklich sind. Wenn also eine Bedingungsreihe aktual-unendlich sein sollte, msste sie als eine unendliche Totalitt erfahrbar sein, was aber uns unmçglich ist. Daher ist keine Bedingungsreihe aktual-unendlich.368 Hingegen lsst sich die Thesis-Position nicht in gleicher Weise zurckweisen, weil es kein prinzipielles Problem damit gibt, eine endliche Totalitt zu erfahren. Kant braucht also hier ein zustzliches Argument. Hinweise auf ein solches Argument finden sich in folgender Textpassage im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels: 366 Hier sagt Kant zwar einfach „unendlich“, es ist aber aus dem Kontext klar, dass er damit die aktuale Unendlichkeit meint; vgl. dortige Ausdrcke „ein an sich unendliches [. . .] Ganzes“ (A505/B533) und „ihrer Totalitt nach [. . .] als unendlich“ (A506/B534). 367 Dies gilt auch fr die dynamischen Antinomien, sofern ihre Thesen und Antithesen in der ursprnglichen, nicht-„berichtigten“ Bedeutung genommen werden; vgl. oben, 4.2.3, S. 124. 368 Vgl. z. B.: „Ich kann demnach nicht sagen: die Welt ist der vergangenen Zeit, oder dem Raume nach unendlich. Denn dergleichen Begriff von Grçße, als einer gegebenen Unendlichkeit, ist empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt, als eines Gegenstandes der Sinne, schlechterdings unmçglich“ (A520/B548).
7.1 Ausarbeitung der Frage
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„Sowohl hier [sc. in der ersten Antinomie], als bei den brigen kosmologischen Fragen, ist der Grund des regulativen Prinzips der Vernunft der Satz: daß im empirischen Regressus keine Erfahrung von einer absoluten Grenze, mithin von keiner Bedingung, als einer solchen, die empirisch schlechthin unbedingt sei, angetroffen werden kçnne. Der Grund davon aber ist: daß eine dergleichen Erfahrung eine Begrenzung der Erscheinungen durch Nichts, oder das Leere, darauf der fortgefhrte Regressus vermittelst einer Wahrnehmung stoßen kçnnte, in sich enthalten mßte, welches unmçglich ist.“ (A517/B545)
Es liegt zunchst nahe, diese Argumentation folgendermaßen zu rekonstruieren: Stufe 1: Dass eine Bedingungsreihe endlich sei, impliziert, dass sie das „empirisch schlechthin unbedingte“ Glied habe, und falls das Letztere der Fall ist, muss sie durch Nichts oder das Leere begrenzt sein. Stufe 2: Die Erfahrung einer solchen Begrenzung ist aber unmçglich. Stufe 3: Es ist also unerfahrbar, dass eine Bedingungsreihe endlich ist. Stufe 4: Der TrI als ein Anti-Realismus verlangt, dass raumzeitliche Gegenstnde fr uns erfahrbar sein mssen, damit sie berhaupt wirklich sind. [Das anti-realistische Argument] Stufe 5: Folglich ist es nicht der Fall (nicht nur: unerfahrbar), dass die Bedingungsreihen endlich sind. Diese Rekonstruktion erweckt den Anschein, als ob das anti-realistische Argument auch fr die Zurckweisung der Thesis-Position konstitutiv ist. Es erweist sich jedoch als berflssig, wenn man Kants Argumentation fr die Stufe 2 (die immerhin eine weitere Begrndung bençtigt) nher betrachtet. Was die erste Antinomie betrifft, findet man eine solche Argumentation nicht im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels. Dies deutet darauf hin, dass Kant denkt, dass er die These der Stufe 2 bereits bewiesen hat. Dieser Beweis findet sich in der „Anmerkung zur Antithesis“ im 2. Abschnitt des Antinomiekapitels: „Ich bin mit dem letzteren Teile dieser Meinung der Philosophen aus der Leibnitzischen Schule [d.h. die Meinung, dass es unmçglich ist, „eine absolute Zeit vor der Welt Anfang, oder einen absoluten, außer der wirklichen Welt ausgebreiteten Raum an[zu]nehmen“ (A431/B460)] ganz wohl zufrieden. Der Raum ist bloß die Form der ußeren Anschauung, aber kein wirklicher Gegenstand, der ußerlich angeschaut werden kann, und kein Korrelatum der Erscheinungen, sondern die Form der Erscheinungen selbst. Der Raum also kann absolut (fr sich allein) nicht als etwas Bestimmendes in dem Dasein der Dinge vorkommen, weil er gar kein Gegenstand ist, sondern nur die Form
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mçglicher Gegenstnde. Dinge also, als Erscheinungen, bestimmen wohl den Raum, d.i. unter allen mçglichen Prdikaten desselben (Grçße und Verhltnis) machen sie es, daß diese oder jene zur Wirklichkeit gehçren; aber umgekehrt kann der Raum, als etwas, welches fr sich besteht, die Wirklichkeit der Dinge in Ansehung der Grçße oder Gestalt nicht bestimmen, weil er an sich selbst nichts Wirkliches ist. Es kann also wohl ein Raum (er sei voll oder leer) durch Erscheinungen begrenzt, Erscheinungen aber kçnnen nicht durch einen leeren Raum außer denselben begrenzt werden. Eben dieses gilt auch von der Zeit.“ (A431 f./B459 f.)
Kurzum: Raum und Zeit sind bloß die Formen raumzeitlicher Gegenstnde und nicht etwas fr sich selbst Wirkliches. Ein leerer Raum bzw. eine leere Zeit ist also nicht etwas Wirkliches. Es ist nun unmçglich, dass Wirkliches von Nicht-Wirklichem begrenzt wird. Es ist also unmçglich, dass die Welt durch leeren Raum bzw. leere Zeit begrenzt ist. Ich gehe nicht darauf ein, ob diese Argumentation sachlich haltbar ist oder nicht.369 Zu bercksichtigen ist vielmehr Folgendes: (1) Der hiesigen Argumentation nach ist die „Begrenzung der Erscheinungen durch Nichts, oder das Leere“ (im vorletzten Zitat) nicht bloß unerfahrbar, sondern vielmehr schlechthin unmçglich wegen der allgemeinen Beschaffenheit von Raum und Zeit selbst. Das heißt, Kants Ablehnung dieser „Begrenzung“ beruht nicht auf dem anti-realistischen, sondern vielmehr auf einem metaphysischen Argument ber Raum und Zeit, das sich zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt.370 (2) Wenn diesem metaphysischen Argument einmal zugestimmt wird, ist es schon fr sich allein hinreichend, um die Endlichkeit der zeitlichen bzw. rumlichen Bedingungsreihen abzulehnen; ein zustzlicher Rekurs auf das anti-realistische Argument ist schlichtweg berflssig. Das Gleiche gilt auch im Fall der zweiten Antinomie. Im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels, A524 – 6/B552 – 4, argumentiert Kant folgendermaßen: Raum kçnne unendlich geteilt werden. Also kçnne die Materie, die den Raum einnehme, ebenfalls unendlich geteilt werden. Daraus folge, 369 Fr eine ausfhrliche Erçrterung dieser Problematik, vgl. Malzkorn 1999, S. 259 – 63 und S. 267 – 70. 370 Man mag einwenden, dass die These: „Der Raum ist bloß die Form der ußeren Anschauung“ (im letzten Zitat) gerade eine Sinnkomponente des TrI ist, so dass Kants obige Argumentation doch vom TrI abhngt. Darauf entgegne ich, dass diese These als solche in jener Argumentation keine Rolle spielt. Fr die Argumentation relevant ist lediglich, dass Raum und Zeit nicht etwas Wirkliches sind, was fr die transzendentale Idealitt des Raums nicht ausreicht. – Man beachte zudem, dass das betreffende metaphysische Argument im Antithesis-Beweis, der unter der Voraussetzung des TrR ausgefhrt wird, Verwendung findet (vgl. A429/B457).
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dass es das Unteilbare (d. h. das, was die letzten Glieder der mereologischen Bedingungsreihe sein soll) nicht geben kçnne.371 – Zu beachten ist wiederum, dass es sich hierbei nicht um die Unerfahrbarkeit des Unteilbaren handelt, sondern vielmehr um dessen Unmçglichkeit schlechthin.372 Was die dritte und die vierte Antinomie anbelangt, so prsentiert Kant die Ausschießung der Mçglichkeit der Endlichkeit der betreffenden Bedingungsreihen als eine direkte Folge aus dem Satz der Kausalitt (vgl. z. B. A542 f./B570 f. und A559 f./B587 f.). Mit Hinblick auf Kants Argumentation in der Zweiten Analogie der Erfahrung msste man sagen, dass der Satz der Kausalitt nur im Rahmen des TrI beweisbar ist. Hier muss aber beachtet werden, dass Kant zumindest im Antinomiekapitel annimmt, dass der Satz der Kausalitt auch fr den TrR Gltigkeit besitzt; dies ist daraus ersichtlich, dass der Satz der Kausalitt eben in den Beweisen der Thesis und der Antithesis der dritten Antinomie verwendet wird. Daraus geht hervor, dass sich das Argument fr die Verneinung der Endlichkeit der kausalen und der modalen Bedingungsreihe, zumindest Kants Ansicht im Antinomiekapitel nach, zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhlt. Daraus erhellt: Die Endlichkeit der Bedingungsreihen wird nicht mithilfe des anti-realistischen Arguments abgelehnt, sondern vielmehr in Rekurs auf metaphysische Argumente, die Kant zumindest im Antinomiekapitel als zum TrR/TrI (also auch zum Realismus/Anti-Realismus) neutral erachtet. – Zum Zweck der Interpretation setze ich fortan diese metaphysischen Argumente als bewiesen voraus, ohne ihre Gltigkeit in Frage zu stellen. Das Problem mit Kants Auflçsung der Antinomien wird jedoch von der obigen Ergnzung nicht gelçst, sonder vielmehr verschrft. Das drin371 Die gleiche Argumentation findet sich auch in dem Antithesis-Beweis der zweiten Antinomie (A435/B463). Kant ist wahrscheinlich der Ansicht, dass jede Teilargumentation in Beweisen der Antithesen, die die Endlichkeit der Bedingungsreihen ablehnt, auch im Rahmen des TrI gltig bleibt. (Die anschließende Teilargumentation, die daraus die aktuale Unendlichkeit der Bedingungsreihen folgert, lehnt Kant natrlich ab; vgl. A521/B549 Anm.) 372 Die Schlussfolgerung von der unendlichen Teilbarkeit des Raums auf diejenige der Materie wird in den Metaphysischen Anfangsgrnden der Naturwissenschaft als unzulnglich zurckgewiesen. Kant ergnzt dort eine neue Argumentation, die auf seiner Theorie der „repulsiven Kraft“ grndet; vgl. Ak. 4, S. 504 f. Davon wird aber das obige Ergebnis nicht berhrt, denn diese neue Argumentation grndet ohnehin nicht auf dem anti-realistischen Argument (dass nmlich das Unteilbare unerfahrbar ist), sondern vielmehr auf einem metaphysischen Argument ber die Materie, das nicht vom TrI abhngt.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
gendste Problem ist Folgendes: Nicht alle Versionen des Anti-Realismus sind mit der oben dargestellten Auflçsung der Antinomien vertrglich. Ich greife zunchst folgende Version auf: Dass ein raumzeitlicher Gegenstand existiert (oder existierte), ist zum Zeitpunkt t der Fall,373 gdw. seine Existenz bis t erkannt worden ist. Mit anderen Worten: Eine raumzeitbezgliche Aussage ist zu t wahr gdw. sie bis t verifiziert worden ist. (Der Prgnanz zuliebe spreche ich fortan in derartigen Formeln einfach von „Gegenstand“ bzw. „Aussage“, statt von „raumzeitlichem Gegenstand“ bzw. „raumzeitbezglicher Aussage“.374) Demzufolge wird die Mçglichkeit eingerumt, dass eine Aussage, die vorher nicht wahr war, nachher wahr wird, indem sie verifiziert wird. Da diese Version die Wahrheit gemß der Zeit der Verifikation relativiert, nenne ich sie „zeit-relative Version“. Diese Version ist in systematischer Hinsicht deutlich unattraktiv. Wie Putnam betont,375 gehçrt es zu unserer blichen Konzeption der Wahrheit, dass sie stabil ist, in dem Sinn, dass Aussagen ihre Wahrheitswerte im Lauf der Zeit nicht ndern. Obgleich diese Stabilitt im philosophischen Kontext nicht absolut unantastbar ist, muss jede Art ihrer Verneinung doch die Last des Kontraintuitiven tragen. Zudem ist diese Version auch in exegetischer Hinsicht problematisch. Denn sie wird auf eine missliche Konsequenz festgelegt, die nmlich, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich seien. Dies resultiert aus der offensichtlichen Tatsache, dass man bis zu einem (egal welchem) Zeitpunkt allenfalls endlich viele Glieder erkannt haben kann. Die Unmçglichkeit des „schlechthin unbedingten“ Glieds ndert diesen Punkt nicht. Ein solches Glied ist dasjenige, dessen nachfolgendes Glied nicht erkannt werden kann, 373 Es muss nicht gleichzeitig mit t sein, dass der betreffende Gegenstand existiert (bzw. existierte). Diese Version lsst z. B. zu, dass es erst heute zur Tatsache geworden ist, dass Ding a im Jahr 1781 existierte; vgl. unten, S. 275. 374 Es sei erinnert, dass die Fragestellung Realismus/Anti-Realismus immer auf eine bestimmte strittige Klasse bezogen wird. Im Nachfolgenden wird die bikonditionale Formel „Aussage ist wahr gdw. . . .“ hufig verwendet, damit beabsichtige ich aber nicht die Definition der Wahrheit im Allgemeinen (nmlich in Bezug auf alle mçglichen strittigen Klassen), sondern vielmehr die Explikation der Wahrheitskonzeption hinsichtlich raumzeitbezglicher Aussagen, um damit, durch die quivalenzthese, Kants ontologische Position klar zu machen. Man beachte zudem, dass die rechte Seite eines solchen Bikonditionals als konstitutiv fr die linke Seite (in dem in 1.2 erklrten Sinne) verstanden werden soll. 375 Putnam 1981, S. 55 und 1983, S. 84; vgl. auch Wright 1992, S. 38 ff.
7.1 Ausarbeitung der Frage
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und hierbei ist davon keine Rede, wie viele Glieder berhaupt erkannt werden kçnnen, sondern vielmehr davon, wie viele Glieder bis zum jeweiligen Zeitpunkt erkannt worden sind. Die Anzahl solcher Glieder ist zu jedem Zeitpunkt jeweils endlich, was die betreffende Version zu jener misslichen Konsequenz fhrt.376 Angesichts dieser Schwierigkeiten drfte man wohl vorziehen, dem TrI vielmehr folgende moderatere Version des Anti-Realismus zuzuschreiben: Dass ein Gegenstand existiert, ist (zeit-neutral) der Fall gdw. er erkennbar ist. Mit anderen Worten: Eine Aussage ist (zeit-neutral) wahr gdw. sie verifizierbar ist. Dies bezeichne ich fortan als „zeit-neutrale Version“. Sie lsst ihrerseits verschiedene Varianten zu, je nach der Deutung von „erkennbar“ bzw. „verifizierbar“. Damit lsst sich jene missliche Konsequenz vermeiden. Diesmal ergibt sich jedoch ein Problem aufseiten der aktualen Unendlichkeit. Nehmen wir mit Kant an, dass der Regressus einer Bedingungsreihe tatschlich endlos ist. Gilt es dann nicht, dass die Menge aller Glieder, die man dadurch aufzhlen wird, eine aktual-unendliche Totalitt bildet?377 Es ist nicht klar, wie die zeit-neutrale Version diese Konsequenz vermeiden kann. Und wie im Folgenden gesehen wird, sind nicht alle ihre Varianten dazu fhig. Es hngt davon ab, wie jeweils der Begriff „erkennbar“ bzw. „verifizierbar“ gedeutet wird. Die Aufgabe dieses Kapitels, die fr Kants TrI angemessene Version des Anti-Realismus zu bestimmen, ist daher eben fr ein gebhrendes Verstndnis der kantischen Auflçsung der Antinomien notwendig. Ich mçchte hier noch auf ein Problem aufmerksam machen, das mit dieser Aufgabe eng zusammenhngt: Dass die Bedingungsreihen weder endlich noch aktual-unendlich sind, deutet darauf hin, dass sie potentiell-unendlich sind.378 Aber was bedeutet dies eigentlich? 376 Dieser Punkt wird auch von Van Cleve aufgewiesen; vgl. ders. 1999, S. 275, Anm. 23. 377 Diese Kritik an der kantischen Ablehnung der aktualen Unendlichkeit, die von Bennett 1974 und Van Cleve 1999 erhoben wird, wird in 7.3.2 noch ausfhrlicher diskutiert. 378 Manche Kant-Interpreten behaupten einfach, dass Kants Auflçsung der Antinomien darin besteht, dass die Bedingungsreihen potentiell-unendlich seien, ohne zu bemerken, dass diese These als solche hçchst erklrungsbedrftig ist; vgl. z. B. Falkenburg 2000 und Melnick 2004.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
Man kçnnte zunchst sagen: Das potentiell Unendliche ist nicht das, was uns komplett gegeben wird, sondern vielmehr ein Prozess, der endlos erweiterbar ist („prozessuale Unendlichkeit“ in der Terminologie von Sebastian Wolf 1983). Daher wird der Begriff „potentiell-unendlich“ auf die Reihe der Erkenntnisse, wie Regressus, leicht angewandt. Was kann es aber berhaupt bedeuten, dass Bedingungsreihen, die Objekt des Regressus sein sollen, ebenfalls als solche Prozesse existieren? Bedeutet es vielleicht, dass wir die Bedingungsreihen selbst, dem Regressus derselben entsprechend, nach und nach erweitern? In diesem Fall msste man aber sagen, dass jedes Glied derselben erst dann zur Existenz komme, wenn es von uns erkannt werde, und dies luft gerade auf jene missliche Konsequenz hinaus, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind. Ich stimme Sebastian Wolf zu, dass Kant keinen Begriff der potentiellen Unendlichkeit hat, der fr die Anwendung auf Erkenntnisobjekte geeignet ist (vgl. ders. 1983, S. 161 und S. 188 – 90). Jedoch kçnnen sich Kant-Interpreten nicht bloß mit dieser negativen Festestellung zufrieden geben,379 denn damit wird die Frage unbeantwortet gelassen, was es heißt, dass die Bedingungsreihen weder endlich noch aktual-unendlich seien. Weil dies von Kant selbst behauptet wird, ist es in hohem Maße erluterungsbedrftig. Dafr muss derjenige Begriff der potentiellen Unendlichkeit herausgearbeitet werden, welcher auf Erkenntnisobjekte anwendbar ist, zugleich aber nicht mit jener jeweiligen Endlichkeit zusammenfllt.380 Hierfr 379 Wie Rçd 1990, S. 501: „Die Welt ist unendlich, aber nur im Sinne des potentiell Unendlichen. Strenggenommen, ist sogar das schon zuviel gesagt: Nicht die Welt ist potentiell unendlich, sondern der von uns nach einer bestimmten Regel in Gang gebrachte gedankliche Progreß oder Regreß“. Auf den ersten Blick scheint auch Kristina Engelhard gleicher Ansicht zu sein; vgl. ders. 2005, S. 352 und S. 355. Dies ist aber nicht ihre endgltige Ansicht. Diese fllt vielmehr mit der Position der jeweiligen Endlichkeit zusammen; vgl. z. B. ibid., S. 367: „[. . .]; das potentiell Unendliche ist also primr ein prozessuales, operationales Unendliches, woraus sich sekundr ableitet, daß es zu jedem Zeitpunkt der Teilung ein Ganzes von endlich vielen, abzhlbaren wirklichen Teilen gibt und zugleich in jedem gegebenen Teil unbestimmt viele, und d. h. unendlich viele mçgliche weitere Teile angenommen werden“ (kursiv von K.C; vgl. auch ibid., S. 358). 380 Wolfs „hylischer“ Begriff der potentiellen Unendlichkeit ist zu diesem Zweck nicht geeignet, denn er luft im Endeffekt auf die Position der jeweiligen Endlichkeit hinaus. Vgl. z. B.: (1) „Wenn ein [. . .] Objekt mit [dem „hylischen“] Begriff der potentiellen Unendlichkeit bestimmt wird, so bedeutet dies, daß ihm unendlich viele Teile oder Elemente zukommen, die jedoch, wie der Potenzbegriff betont, lediglich in einem chaotischen Verhltnis bzw. in einer unbestimmten Weise in ihm enthalten sind. Erst durch einen Formungsprozeß werden sie [. . .] realisiert“
7.1 Ausarbeitung der Frage
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nehme ich den mathematischen Intuitionismus zum Vorbild; dieser bietet ein Modell der zeit-neutralen Wahrheitskonzeption an, die die gesuchte Art der potentiellen Unendlichkeit ermçglicht. Es bedarf hier aber einer Bemerkung: Es besteht eine Debatte darber, ob die Wahrheitskonzeption des mathematischen Intuitionismus zeitneutral sein kann. Hierber findet sich noch kein hinreichender Konsens selbst bei gegenwrtigen Intuitionisten.381 Die bliche Metapher der „Kreation“ fr den Intuitionismus (die der Metapher der „Entdeckung“ fr den mathematischen Realismus („Platonismus“) entgegengesetzt wird382) legt nahe, dass mathematische Aussagen erst dann wahr werden, wenn sie tatschlich bewiesen werden. Dies entspricht der oben dargestellten zeitrelativen Wahrheitskonzeption, und demgemß fllt die potentielle Unendlichkeit wiederum mit jener jeweiligen Endlichkeit zusammen. Dergleichen ist jedoch nicht die einzig mçgliche Deutung der intuitionistischen Wahrheitskonzeption. Einige Intuitionisten versuchen, eine zeit-neutrale Konzeption derselben auszuarbeiten. Die Grundidee dafr ist durchaus berzeugend: Die Wahrheit muss, selbst im Rahmen des Intuitionismus/Anti-Realismus, objektiv sein, in dem Sinne, dass es nicht unsere willkrliche Entscheidung sei, die mathematische Aussagen wahr (ders. 1983, S. 33, kursiv von K.C.). (2) „Insofern stimmt Kant mit Aristoteles [der Wolf nach einen „hylischen“ Begriff der potentiellen Unendlichkeit hatte; K.C.] berein, da auch nach dessen Ansicht die Teile (eines Kontinuums) erst im Vollzug einer Zerlegung gesetzt und wirklich werden“ (ibid., S. 185). 381 Wichtig sind dafr vor allem die Kontroversen zwischen Dummett und Dag Prawitz ber dieses Thema; vgl. Dummett 1987b, 1994 und 1998 gegen Prawitz 1987, 1994 und 1998b, und Prawitz 1998c als Entgegnung auf Dummett 1998; vgl. auch Prawitz 1998a. Prawitz vertritt eine atemporale Konzeption der intuitionistischen Wahrheit; gleicher Ansicht sind auch Martin-Lçf 1987, 1991, Sundholm 1994a, 1994b und Tennant 1998. Dagegen vertritt Dummett (zumindest in den genannten Aufstzen) eine temporale Konzeption; ebenso Wolf 1983, Kap. IV, §5, Martino/Usberti 1994 und Placek 1999. – Dummetts eigene Position ist aber vernderlich. In ders. 1977, S. 19 (diese Textstelle bleibt unverndert in der zweiten Auflage, 2000, S. 12 f.) und 1982, S. 258 f., wird vielmehr die Atemporalitt der intuitionistischen Wahrheit als eine Mçglichkeit anerkannt. (Martino/Usberti 1994, S. 84, hat aber gezeigt, dass diese Ansicht Dummetts durch das von ihm vorgebrachte Argument nicht untersttzt wird.) Und in ders. 2004 und 2005 scheint sich Dummett vielmehr der prawitzschen Position anzunhern. 382 Zum Beispiel: „According to the intuitionist, the mathematical world does not exist determinately and independently of us, waiting, as it were, for us to discover facts about it. [. . .] [T]he world of mathematics comes into being in the course of our reasoning about it“ (Geroge/Velleman 2002, S. 118).
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
mache, und diese Objektivitt erzwingt eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption, dass nmlich die Wahrheit der Aussagen bereits vor unserer tatschlichen Forschung durch davon unabhngig bestehende Faktoren bestimmt ist.383 Ich verteidige diesen Gedankengang im nchsten Kapitel (8.4.2). Es gilt ohnehin: Wenn eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption fr den Intuitionismus berhaupt verfgbar ist, gibt es keinen Grund dafr, dass Intuitionisten dennoch auf einer zeit-relativen Wahrheitskonzeption beharren, zumal diese in sachlicher Hinsicht ußerst unattraktiv ist. Es ist allerdings keine leichte Aufgabe, eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption im intuitionistischen Rahmen zu konkretisieren. Hierfr kommt es vor allem darauf an, einen adquaten Begriff der „Verifizierbarkeit“ herauszuarbeiten.384 Dies schließt an die Aufgabe dieses Kapitels an, nmlich die Version des Anti-Realismus festzustellen, die fr die kantische Auflçsung der Antinomien adquat ist. 383 Vgl. Prawitz 1998a, S. 48 – 50, 1998b, S. 32 und 1998c, 286 f. Dummett erkennt in ders. 1959b an, dass die Objektivitt der Mathematik im genannten Sinne selbst fr den Intuitionismus respektabel ist, versucht aber trotzdem, sich noch an eine zeit-relative Wahrheitskonzeption zu halten. Prawitz behauptet dagegen, dass diese Position Dummetts die Objektivitt der Mathematik unerklrt lassen muss (ders. 1998c, S. 286 und S. 290), und in diesem Punkt stimme ich Prawitz zu. – Wenn Intuitionisten die zeit-relative Wahrheitskonzeption verteidigen wollen, ist es ohnehin unzulnglich, mçgliche Nachteile der zeit-neutralen Konzeption im intuitionistischen Rahmen aufzuweisen (oder die historische Tatsache anzufhren, dass der Begrnder des Intuitionismus, Brouwer, eine zeit-relative Wahrheitskonzeption vertat, wie Tomasz Placek in ders. 1999, S. 67 – 9, tut); sie tragen die Beweislast, zu zeigen, wie die Objektivitt der Mathematik in der zeit-relativen Konzeption gesichert wird. Man mag hier den Verdacht hegen, dass beim Intuitionismus von der Objektivitt der Wahrheit im genannten Sinn keine Rede ist, weil Brouwer eben behauptet, dass die Mathematik das Produkt der freien Konstruktion des menschlichen Geistes sei. Jedoch liegt die Pointe dieser Freiheit nicht darin, dass wir in der Mathematik freiwillig entscheiden kçnnen, sondern vielmehr darin, dass die mathematische Konstruktion nicht von der Begrenztheit unserer faktischen Erfahrung bedingt ist; vgl. z. B. folgenden Ausdruck: „Mathematics is created by a free action independent of experience“ (Brouwer 1907, S. 97, kursiv von K.C.). 384 Soweit ich gefunden habe, ist Prawitz’ Versuch am ausfhrlichsten. Sein Lçsungsvorschlag ist, grob formuliert, Wahrheit auf derart verstandene Verifikationen zu fundieren, dass sie atemporal existieren, und zwar unabhngig davon, dass wir sie tatschlich erkennen (obschon nicht davon, dass sie fr uns im Prinzip erkennbar sind); vgl. ders. 1998a, S. 47 f. und 1998c, S. 286 f. – Diese Maßnahme ist aber nicht vçllig unproblematisch; vgl. Martino/Usberti 1994, S. 84 – 6 und Dummett 1998, S. 127 – 9. Ich finde ebenfalls diese Lçsung von Prawitz nicht ganz erfolgreich; dies erçrtere ich unten, Anm. 426.
7.1 Ausarbeitung der Frage
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7.1.2 Zwei inadquate Optionen In diesem Unterabschnitt stelle ich zwei Varianten der zeit-neutralen Version dar, die ich jeweils „peircesche“ und „standard-phnomenalistische Version“ nenne. Auf den ersten Blick erscheinen sie als attraktive Kandidaten, erweisen sich aber im Endeffekt als inadquat fr den kantischen TrI. (A) Die erste Variante wird manchmal Charles Sanders Peirce zugeschrieben,385 deshalb nenne ich sie „peircesche Version“. (Ob sie Peirce’ eigene Position treu reprsentiert, ist fr mein Vorhaben in der vorliegenden Abhandlung irrelevant. Es kommt hier lediglich darauf an, ein Modell fr den kantischen Anti-Realismus zu konstruieren.) Sie lautet: Eine Aussage ist wahr gdw. sie in idealer Erkenntnislage verifiziert werden wrde. 386 Die „ideale Erkenntnislage“ ist ein idealer Limes der Erweiterung der menschlichen Forschung, an dem kein Raum mehr fr weitere Vermeh-
385 Z.B. Putnam 1990, S. viif., Wright 1992, S. 45 – 7 und 2000, S. 289 f. Dagegen aber z. B. Misak 1998, Hookway 2001 und 2004. Diese Version wird manchmal auch Putnams „internem Realismus“ unterstellt. Dies wird aber von Putnam selbst ausdrcklich verneint (vgl. ders., ibid.). Er weist sogar in ders. 2001, S. 599 darauf hin, dass seine (damalige) internalistische Wahrheitskonzeption vielmehr der „Superassertibilitt“ von Crispin Wright entsprach. 386 Z.B. Kuhlmann 1992. Obgleich ohne Hinweis auf Peirce, entsprechen folgende Auffassungen ebenfalls dieser Version: „What is true in the world of appearances is not what seems at first sight to be so, but what is yielded by the most thorough application of our principle to the data. So we are far from the full truth about the world of appearances; that is what we should have if science were completed – completed in accordance with the principles that govern human thought“ (Walker 1978, S. 130). „Kant’s opposition to such positions rests ultimately on his denial that talk of correspondence between representations and an independently structured reality makes sense, and, I suggest, his alternative proposal for a theory of truth is to see truth as obtained in the ideal limit of inquiry“ (Kitcher 1986, S. 214). Carl Posy bezeichnet die Position, die er in ders. 1984b dem TrI zuschreibt, als „Peircian“ (vgl. ibid., S. 124 und 128 f.), sie stimmt aber mit der, welche ich hier „peircesche Version“ nenne, nicht berein, weil sie nicht auf die „ideale Erkenntnislage“ rekurriert. Sie entspricht vielmehr dem, was ich unten, Abschnitt 7.3, „ZN“ nenne.
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rung bzw. Verbesserung des Wissens brigbliebe. In dieser Erkenntnislage wrde alles Erkennbare vollstndig erkannt.387 Die ideale Erkenntnislage ist zwar faktisch unerreichbar, in dem Sinne, dass wir sie an keinem einzelnen Stadium des Fortschritts unserer Forschung erreichen kçnnen. Zu beachten ist aber, dass sie dennoch einen gewissen Zusammenhang mit unserer Erkenntnis beibehlt. Sie ist nmlich ein Wissenszustand, der realisierbar wre, wenn alle (menschen-)mçglichen Erkenntnisse gesammelt und systematisiert werden wrden. Sie ist sozusagen eine quantitative Idealisierung unserer Erkenntnis und nicht eine qualitative im Sinne von Annahmen wie: „Wenn wir, wie Gott, ber die intellektuelle Anschauung verfgten, . . .“ oder „Wenn wir eine Erkenntnis mit ihrem Gegenstand schlechthin, ohne Vermittlung anderer Erkenntnisse, vergleichen kçnnten, . . .“. – Da die peircesche Version die Wahrheit durch die derart idealisierten Verifikationen fundiert (d. h. solche Verifikationen fr die Wahrheit konstitutiv macht), ist sie ohnehin eine Version des Anti-Realismus im Sinne der vorliegenden Abhandlung. Aus dieser spezifischen Idealisierung ergibt sich eine wichtige Eigentmlichkeit der peirceschen Version. Obwohl die ideale Erkenntnislage faktisch unerreichbar ist, kçnnen wir uns ihr doch annhern, indem wir unsere Erkenntnisse vermehren und verbessern. Dementsprechend macht die peircesche Version die Wahrheit zwar nicht faktisch erreichbar, jedoch approximativ zugnglich. Sie gibt daher eine gute Erklrung dafr, dass die immanente Verbesserung unserer Erkenntnisse (z. B. Vermehrung und Integrierung derselben) ein sinnvoller Zug fr die Suche nach der Wahrheit ist. Dies zu erklren, bedeutet fr den Realismus eine besondere Schwierigkeit. Wegen dessen verifikationsunabhngiger Wahrheitskonzeption lsst er die Mçglichkeit immer offen, dass unsere Erkenntnisse selbst an ihrem (quantitativ) idealen Limes falsch sein mçgen;388 es wird also schwer 387 Dagegen mag man einwenden: Die „ideale Erkenntnislage“ verlangt nur, dass in ihr die fr die betreffende Aussage relevanten Informationen vollstndig zur Verfgung stnden; in diesem Fall soll jede einzelne Aussage ihre eigene ideale Erkenntnislage haben. Darauf entgegnet Crispin Wright, meines Erachtens zu Recht, wie folgt: In Rcksicht auf den holistischen Charakter der epistemischen Rechtfertigung muss die Menge von allen fr eine bestimmte Aussage relevanten Informationen im Endeffekt mit derjenigen von allen empirischen Informationen zusammenfallen (ders. 1992, S. 45). Dieser Unterschied ist jedoch im hiesigen Kontext nicht wichtig, denn es wird sich erweisen, dass die peircesche Version, selbst in dieser schwcheren Form verstanden, dem kantischen TrI nicht gerecht werden kann; vgl. unten, Anm. 392. 388 Angesichts dessen mçgen Realisten vielleicht dazu neigen, die „ideale Erkenntnislage“ folgendermaßen zu definieren: In dieser wrden alle Wahrheiten im rea-
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nachweisbar, dass die immanente Verbesserung unserer Erkenntnisse berhaupt auf die Wahrheit gerichtet ist. Die peircesche Version vermeidet diese Schwierigkeit, ohne dadurch die zeit-neutrale Wahrheitskonzeption preiszugeben. Worin liegt nun die Pointe dieser Idealisierung? Am wichtigsten ist, dass diese Idealisierung eine Lçsung zu dem Problem der Anfechtbarkeit anbietet. Da dieses Problem fr jede anti-realistische Position bezglich des empirischen Bereichs von besonderem Belang ist, verdient es hier eine nhere Betrachtung. Im empirischen Bereich ist es wohl mçglich, dass das, was vorher fr eine Verifikation gehalten wurde, im Fortschritt der Forschung als unzulnglich oder sogar als falsch disqualifiziert wird; dies nennt man „Anfechtung (defeat)“. Nun sind die faktischen Verifikationen, die uns empirisch verfgbar sind, ausnahmslos anfechtbar (defeasible), in dem Sinne, dass die Mçglichkeit nicht im Voraus ausgeschlossen wird, dass sie vielleicht eines Tages angefochten werden mçgen. (Hingegen sind mathematische Beweise „konklusiv“, nicht anfechtbar in diesem Sinne.) Die Anfechtbarkeit per se ist ein epistemischer Umstand. Sie wirft also fr Realisten allenfalls ein erkenntnistheoretisches Problem auf. Sie stellt aber Anti-Realisten vor eine besondere Schwierigkeit. Die Grundidee des Anti-Realismus ist, grob formuliert, Wahrheit durch Verifikation zu fundieren. Es ist nun plausibel davon auszugehen, dass Verifikationen, die eines Tages angefochten werden sollen, nicht zu einer Fundierung der Wahrheit herangezogen werden kçnnen.389 Aber aufgrund der Anfechtbarkeit kann man nicht im Voraus feststellen, welche anfechtbaren Verifikationen in der Tat zuknftig angefochten werden und welche nicht. Das heißt: Anti-Realisten kçnnen die Wahrheit nicht einfach auf faktisch erreichbare Verifikationen fundieren. Aber was fr eine Alternative gibt es fr Anti-Realisten? Diese Frage ist schwer zu beantworten, aber bis zur Auffindung einer hinreichenden Antwort bleibt die Grundidee listischen Sinne erkannt werden. Daraus ergibt sich natrlich eine realistische Position. Zu beachten ist aber, dass die so verstandene peircesche Version nicht mehr als Explikation der Wahrheitskonzeption erachtet werden kann. Denn hierbei wird die Wahrheitskonzeption vielmehr als explicans fr die „ideale Erkenntnislage“ vorausgesetzt. 389 Dies erscheint wohl als vollkommen offensichtlich, wird aber z. B. von Robinson 1994 verneint, eben um das Problem der Anfechtbarkeit im Rahmen der kantischen Philosophie zu lçsen. Diesen Versuch erçrtere ich in 7.5.1.
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des Anti-Realismus nur eine leere Phrase. Dies ist das Problem der Anfechtbarkeit fr den Anti-Realismus. Die peircesche Version bietet nun eine Lçsung zu diesem Problem an. Die ideale Erkenntnislage ist gerade derjenige Wissenszustand, wo die Mçglichkeit der Anfechtung nicht mehr besteht; in ihr bleibt per definitionem kein Raum mehr fr einen weiteren Fortschritt der Erkenntnis brig, also auch nicht fr eine nachherige Anfechtung.390 Trotz dieses Vorzugs ist die peircesche Version fr den kantischen TrI nicht adquat. Der Grund ist, dass sie Kants Absicht entgegen zur Folge hat, dass die Bedingungsreihen als absolute Totalitt existieren. Der Beweis ist Folgender: Stufe 1: In der idealen Erkenntnislage wrde ex hypothesi alles Erkennbare vollstndig erkannt. Stufe 2: Daraus folgt, dass in ihr alle Glieder der Bedingungsreihe vollstndig erkannt wrden.391 Stufe 3: Dies bedeutet aber in der peirceschen Version, dass die Aussage „Die Bedingungsreihe existiert vollstndig“ wahr ist (Indikativ!); d. h. per quivalenzthese, dass die Bedingungsreihe vollstndig – also als eine absolute Totalitt – existiert.392 390 Die peircesche Version hat noch den weiteren Vorzug, dass sie keine tiefgehende Revision der klassisch-bivalenten Logik fordert. In der idealen Erkenntnislage wrde alles Erkennbare vollstndig erkannt, so dass dort auch jede Aussage entweder verifizierbar oder falsifizierbar wre. Dies bedeutet in der peirceschen Version, dass jede Aussage entweder als wahr oder als falsch bestimmt ist. Dadurch wird das Bivalenzprinzip, somit wohl auch das ganze System der klassischen Logik, bewahrt. Dies weist darauf hin, dass hinsichtlich der Praxis des logischen Schließens die peircesche Version vom Common-Sense Realismus nicht besonders abweicht. Dies ist ohnehin eine wnschenswerte Eigenschaft, zum einen weil die Ablehnung des Bivalenzprinzips immer eine gewisse Last des Kontraintuitiven trgt, zum anderen aus dem exegetischen Grund, dass Kant selbst dem Bivalenzprinzip (sowie dem Satz vom ausgeschlossenen Dritten) zustimmt. 391 Dergleichen ist natrlich nicht faktisch mçglich, dies ist aber hier irrelevant, weil die ideale Erkenntnislage von Hause aus eine kontrafaktische Annahme ist. 392 Dieser Beweis gilt mutatis mutandis auch fr die schwchere Form der peirceschen Version, die in Anm. 387 vorgestellt wurde. Sie verlangt, dass in der idealen Erkenntnislage alle relevanten Informationen fr eine bestimmte Aussage gegeben wren. Daraus aber resultiert, dass es auch fr rational-kosmologische Aussagen solche idealen Erkenntnislagen gibt, in denen ihre Gegenstnde, nmlich die Bedingungsreihen, vollstndig erkannt wrden. Dies bedeutet in der betreffenden Version, dass die Bedingungsreihen vollstndig existieren. Folglich ist auch diese Version fr den kantischen TrI inadquat.
7.1 Ausarbeitung der Frage
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Dies spricht natrlich nicht dafr, dass die peircesche Version in sachlicher Hinsicht unhaltbar ist. Sie mag eine attraktive Alternative zum kantischen TrI sein. Sie kann jedoch nicht zur Interpretation der kantischen Position dienen, und gerade dies ist in hiesigem Kontext entscheidend. (B) Auch die folgende Version wird manchmal dem kantischen TrI zugeschrieben: Eine Aussage ist wahr gdw. sie verifiziert werden wrde, wenn man sich in passende Umstnde versetzte. Der „passende Umstand“ ist folgendermaßen zu erlutern: Die Aussage „Whrend Csar den Rubikon berschritt, nieste er dreimal“ wre verifizierbar bzw. falsifizierbar, wenn wir zu der betreffenden Zeit neben Csar des Geschehens gewesen wren; dies ist der „passende Umstand“ fr diese Aussage. Zu beachten ist, dass der „passende Umstand“ ein solcher sein muss, in den wir uns prinzipiell versetzen kçnnen. Demgemß wird die obige „ideale Erkenntnislage“ davon ausgeschlossen.393 – Die Verwendung jenes subjunktiven Konditionales („Wenn wir uns in passende Umstnde versetzten, . . .“) ist typisch fr den gegenwrtigen Phnomenalismus, weshalb394 ich diese Version als „standard-phnomenalistisch“ bezeichne. Ich vermute, dass es eine derartige Version ist, die die meisten phnomenalistischen Kant-Interpreten im Sinne haben;395 vgl. z. B. folgende ußerung von Friedman 1995: 393 Man kann zudem auch fragen, ob es fr jede Aussage einen passenden Umstand fr ihre Verifikation bzw. Falsifikation gibt; wenn ja, wird das Bivalenzprinzip in dieser Version gebilligt. 394 Es bedarf hier einer Bemerkung: Die obige Formel ist per se als Ausdruck des Phnomenalismus noch nicht hinreichend, denn sie erfasst nicht dessen wesentliches Moment, nmlich Rekurs auf Sinnesdata bzw. Empfindungsakte („sensing“). Die „standard-phnomenalistische Version“ im hiesigen Sinne lsst also auch solche Varianten zu, die eigentlich keinen Phnomenalismus darstellen. 395 Interessanterweise fllt der „realism“, den Abela 2002 dem kantischen TrI unterstellt, seinem Selbstverstndnis entgegen, mit dieser Version des Anti-Realismus zusammen. Dieser „realism“ nimmt zwar angeblich eine „divine idealization“ bzw. „God’s-eye conception“ an, aber dieser „God“ ist allenfalls dazu fhig, sich in passende Umstnde zu versetzen, um einzelne raumzeitliche Vorkommnisse (z. B. Csars Niesen in einer bestimmten Zeitspanne) korrekt zu erkennen; vgl. Abelas Analogie zu „time-travelers“ in ibid., S. 242. Dieser Gott ist z. B. nicht dazu fhig, die unendliche Totalitt zu berblicken (was aber eigentlich im Kontext der Realismusdebatte in der Mathematik vom Rekurs auf Gott zu erwarten ist), geschweige denn zu einer „intellektuellen Anschauung“. – Daraus kçnnte man eine
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„Kant’s conception of empirical actuality coincides with that of what we now call phenomenalism: to say that there are inhabitants on the moon is simply to say that if I were put in the proper circumstances, I would obtain the relevant sense experiences.“ (S. 606)
Diese Version hat nun ihrerseits noch verschiedene Varianten. Einige davon sind auf die Konsequenz festgelegt, dass die Bedingungsreihen aktualunendlich sind (wie Van Cleves „analytical phenomenalism“, den ich in 7.3.2 erçrtere). Es mag aber mçglich sein, andere Varianten zu entwickeln, die diese Konsequenz vermeiden. Indes gibt es ein exegetisches Argument dafr, diese Version insgesamt abzulehnen. Dies wird zunchst daraus ersichtlich, dass diese Version eben mit folgender Textpassage kollidiert, die Friedman im obigen Zitat wahrscheinlich im Sinne hat: „Daß es Einwohner im Monde geben kçnne, ob sie gleich kein Mensch jemals wahrgenommen hat, muß allerdings eingerumt werden, aber es bedeutet nur so viel: daß wir in dem mçglichen Fortschritt der Erfahrung auf sie treffen kçnnten; [. . .].“ (A492 f./B521)
Zu beachten ist, dass Kant hier nicht sagt: Dass es Einwohner im Monde gebe, bedeutet nur so viel, dass wir auf sie treffen kçnnten, wenn wir auf dem Mond wren. Dies wre ein viel natrlicherer Ausdruck, wenn Kant so etwas wie die standard-phnomenalistische Version intendierte. Das Problem ist nmlich, dass die standard-phnomenalistische Version das Moment redundant macht, dass wirkliche Gegenstnde im Fortschritt unserer Erfahrung getroffen werden mssen. Dieses Moment ist jedoch fr Kants Absicht wesentlich, wie auch durch viele andere Textpassagen belegt wird.396 Lehre ziehen: Der Rekurs auf „God’s-eye view“ ist unzulnglich fr die Charakterisierung der realistischen Position, solange man nicht przisiert, was man dabei unter der Fhigkeit dieses Gottes versteht. 396 Zum Beispiel: (1) „Vor der Wahrnehmung eine Erscheinung ein wirkliches Ding nennen, bedeutet entweder, daß wir im Fortgange der Erfahrung auf eine solche Wahrnehmung treffen mssen, oder es hat gar keine Bedeutung“ (A493/B521, kursiv von K.C; ebenso weiter). (2) „[. . .], so, daß alle von undenklicher Zeit her vor meinem Dasein verflossenen Begebenheiten doch nichts anderes bedeuten, als die Mçglichkeit der Verlngerung der Kette der Erfahrung, von der gegenwrtigen Wahrnehmung an, aufwrts zu den Bedingungen, welche diese der Zeit nach bestimmen“ (A495/B523). (3) „[Die Welt] ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und fr sich selbst gar nicht anzutreffen“ (A505/B533). Vgl. auch das „Postulat“ der Wirklichkeit (A225 f./B272 – 4). Es verlangt, dass wirkliche Gegenstnde in Raum und Zeit im Zusammenhang mit unseren wirklichen
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Diese Betrachtung macht zugleich auf eine wichtige Eigenschaft des kantischen TrI aufmerksam: Die Verifikationen, durch die der TrI Wahrheit fundiert, sollen nicht Verifikationen von bloß hypothetisch angenommenen Subjekten, sondern vielmehr diejenigen von wirklich existierenden Subjekten (oder ihrem mçglichen Nachwuchs) sein. Daraus ergibt sich aber ein Problem: Sollen diese Subjekte auch die weit zurckliegenden Generationen umfassen? Man denke wiederum an die Aussage „Whrend Csar den Rubikon berschritt, nieste er dreimal“. Diese Aussage ist in der Gegenwart nicht mehr verifizierbar (bzw. falsifizierbar). Indessen war sie sicherlich entscheidbar fr die Personen, die damals mit Csar den Rubikon berschritten, oder fr den damaligen Csar selbst. Das Problem ist, ob solche Personen als Subjekte der wahrheitsrelevanten Verifikationen anerkannt werden sollen. Abhngig von der Beantwortung dieser Frage variiert der Umfang der Wahrheit selbst. Dieses Problem, das ich „Problem der Verifikationssubjekte“ nenne, kommt in 7.4.3 zur Diskussion. 7.1.3 berblick der nachfolgenden Untersuchung Durch die bisherige Untersuchung wird die Aufgabe, die kantische Version des Anti-Realismus festzustellen, immer dringlicher. Nicht nur die zeitrelative Version, sondern auch die naheliegenden Varianten der zeit-neutralen Version erwiesen sich als inadquat fr den kantischen TrI. Welche anderen Optionen sind berhaupt verfgbar? Die Diskussion in 7.1.1 wies darauf hin, dass eine solche Option zumindest eine zeit-neutrale Version sein muss, die die Wahrheit nicht durch bis jetzt erworbene Verifikationen, sondern durch auf mçgliche Verifikationen bzw. Verifizierbarkeit fundiert. So stellt sich die Aufgabe, die adquate Konzeption der modalen Komponente wie „mçglich“ oder „-bar“ auszuarbeiten. Im Nachfolgenden wende ich folgende Strategie an: Anstatt sofort die Konstruktion der adquaten Version anzugreifen, gehe ich von einer inWahrnehmungen stehen, und nicht bloß mit Wahrnehmungen, die man unter hypothetischen Umstnden erwerben kçnnte. Dieser Punkt wird auch von Van Cleve 1999, Appendix D, bemerkt. Ich stimme ihm aber insofern nicht zu, als er daraus schließt, dass „Kant ties actual existence to actual perception (present, future, and perhaps also past), not merely to possible or hypothetically available perception“ (ibid., S. 235). Dagegen stipuliere ich in 7.3 den Sinn der „mçglichen Erkenntnisse“, die Kants TrI als Fundament der raumzeitlichen Wirklichkeit akzeptieren kann.
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adquaten Version aus, und verdeutliche, in genau welchem Punkt sie, ob nun exegetisch oder sachlich, inadquat ist. Darauf basierend stelle ich eine neue Version vor, die diesen Defekt behebt. Dann wiederhole ich das Gleiche an der neu gestellten Version. Der Vorteil dieser umwegigen Strategie ist, dass sie dazu dient, zu bercksichtigende Diskussionspunkte sowie die Notwendigkeit der nachfolgenden Versionen zu verdeutlichen. Im Abschnitt 7.2 betrachte ich die zeit-relative Version und ihren Defekt noch nher. Darauf basierend zeichne ich in 7.3 die Grundlinien der zeit-neutralen Version. Ich abstrahiere dabei von einigen Diskussionspunkten, die die Problemlage mit zustzlicher Komplexitt belasten wrden. Sie sind Folgende: (1) Kant vertritt einen Determinismus der raumzeitlichen Wirklichkeit. (Ich stelle seinen Beweis dafr nicht in Frage.) Hieraus folgt anscheinend eine erkenntnistheoretische These, dass jede empirische Aussage durch Kausalschlsse im Prinzip verifizierbar oder falsifizierbar ist, wie in der Annahme des „laplaceschen Dmons“. Unter der Voraussetzung dieser erkenntnistheoretischen These bleibt das Bivalenzprinzip intakt selbst im Rahmen des Anti-Realismus. – Folgt aber diese These wirklich aus Kants Determinismus? (2) Es ist mçglich, ja sogar im empirischen Bereich eher der Normalfall, dass eine einmal erworbene Verifikation im Laufe der Zeit in unwiederherstellbarer Weise verloren geht, und auch, dass eine vorher verifizierbare Aussage nachher unverifizierbar wird (wie die Aussage, „Whrend Csar den Rubikon berschritt, nieste er dreimal“). In Rcksicht darauf mssen Anti-Realisten anscheinend die Mçglichkeit zugestehen, dass eine ehemals wahr gewesene Aussage spter nicht-wahr wird. – Das „Problem der Verifikationssubjekte“ hngt mit diesem Diskussionspunkt zusammen. (3) Problem der Anfechtbarkeit (vgl. den letzten Unterabschnitt). In 7.3 (und auch in 7.2) werden diese Diskussionspunkte außer Acht gelassen, um zunchst den Grundriss der zeit-neutralen Version einsichtig zu machen. Anschließend erçrtere ich in 7.4 die ersten zwei Diskussionspunkte. Da das Problem der Anfechtbarkeit ein hçchst schwieriges Thema fr den Anti-Realismus berhaupt ist, widme ich ihm einen einzelnen Abschnitt, 7.5. Die gesonderte Behandlung dieses Problems ist nicht nur durch seine sachliche Schwierigkeit motiviert, sondern auch deswegen, weil dieses von
7.2 Zeit-relative Version (ZR)
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Kant selbst berhaupt nicht als Problem erkannt ist.397 In exegetischer Hinsicht besteht daher ein guter Grund, die kantische Version des AntiRealismus zunchst in Absehung davon auszuarbeiten. Indessen ist es selbst in exegetischer Hinsicht unzulnglich, wenn man dieses Problem ganz und gar außer Acht lsst. Die Lçsung dieses Problems ist fr den Anti-Realismus des empirischen Bereichs so notwendig, dass ohne sie das Grundprinzip des Anti-Realismus (Wahrheit durch Verifikation zu fundieren) eine leere Phrase bleiben wrde. Der kantische TrI kann sich daher nicht als eine vertretbare Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit darstellen, solange nicht gesichert wird, dass er dieses Problem in irgendeiner Weise bewltigen kann. Es ist deshalb auch in exegetischer Hinsicht erforderlich zu zeigen, dass die Lçsung dieses Problems im Rahmen des kantischen TrI zumindest konstruierbar ist. In 7.5 strebe ich danach in Anlehnung an die „Superassertibilitt“ von Crispin Wright. 7.2 Zeit-relative Version (ZR) Die zeit-relative Version wurde bereits in 7.1.1 vorgestellt. In 7.2.1 fge ich dazu noch einige Erluterungen hinzu. Dann greife ich in 7.2.2 die Textpassagen auf, die den Eindruck erwecken, dass Kant diese Version des Anti-Realismus befrwortet. Ich prfe zudem einen Versuch, diese Version, trotz der in 7.1.1 erwhnten misslichen Konsequenz (dass nmlich die Bedingungsreihen jeweils endlich seien) zu verteidigen; dieser Versuch stellt sich jedoch als vergeblich heraus. In 7.2.3 untersuche ich eine andere Maßnahme, diese Konsequenz zumindest fr die zweite Antinomie zu vermeiden. Sie betrifft Kants Unterscheidung zwischen Regressus in infinitum/in indefinitum. Da diese Unterscheidung auch in der kommenden 397 Kant gesteht zwar zu, dass die empirische Erkenntnis keine apodiktische Gewissheit haben kann: „[Anders als in der reinen Mathematik und der reinen Moral] gibt es in der Naturkunde eine Unendlichkeit von Vermutungen, in Ansehung deren niemals Gewißheit erwartet werden kann, weil die Naturerscheinungen Gegenstnde sind, die uns unabhngig von unseren Begriffen gegeben werden, zu denen also der Schlssel nicht in uns und unserem reinen Denken, sondern außer uns liegt, und eben darum in vielen Fllen nicht aufgefunden, mithin kein sicherer Aufschluß erwartet werden kann“ (A480 f./B508 f.); vgl. auch A40/B57, A48/B65, A721/B749, A734/B762, Prolegomena, Ak. 4, S. 268 und 284. Indessen findet sich hier keine einzige Spur davon, dass Kant sich gewahr ist, dass diese Sachlage seinen TrI schwierigen Problemen aussetzt.
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zeit-neutralen Version eine Rolle spielt, verdient sie hier eine ausfhrliche Erçrterung. Es wird aber zugleich gezeigt, dass selbst diese Maßnahme das Problem der zeit-relativen Version nicht vollstndig beheben kann. 7.2.1 Erluterung Die zeit-relative Version wurde folgendermaßen formuliert: ZR: Dass ein Gegenstand existiert, ist zum Zeitpunkt t der Fall gdw. seine Existenz bis zu t erkannt worden ist. Mit anderen Worten: Eine Aussage ist zu t wahr gdw. sie bis t verifiziert worden ist. Man denke nun an folgendes Beispiel: Außerirdische intelligente Wesen sind bisher noch nicht entdeckt worden. Bedeutet dies in ZR, dass es jetzt der Fall ist, dass solche Wesen nicht existieren, oder lediglich, dass es jetzt nicht der Fall ist, dass solche Wesen existieren? Dieser Unterschied ist fr ZR von großer Bedeutung. Der ersteren Alternative nach wird die obige Formel folgendermaßen gedeutet: Eine Aussage ist zu t wahr, wenn sie bis t verifiziert worden ist, und sonst zu t falsch.
d
Dies fhrt zu einer schwerwiegenden Inkonsistenz. Nehmen wir zum Beispiel eine Aussage A, die bis jetzt weder verifiziert noch falsifiziert worden ist. Dieser Deutung gemß ist A einerseits jetzt wahr, weil A noch nicht verifiziert worden und somit jetzt falsch ist. Andererseits ist A ebenfalls jetzt wahr, weil A noch nicht falsifiziert worden, weswegen A jetzt falsch ist. Also sind sowohl A als A jetzt wahr, was ein Widerspruch ist. Um diese Inkonsistenz zu beheben, muss die obige Formel vielmehr folgendermaßen gedeutet werden: d d d
d d
d
Eine Aussage ist zu t wahr, wenn sie bis t verifiziert worden ist, und sonst zu t nicht-wahr. Demgemß ist A jetzt weder wahr noch falsch. Das Bivalenzprinzip wird abgelehnt, und zwar durch die Einfhrung eines mittleren Wahrheitswertes „Weder-wahr-noch-falsch“. ZR restringiert die raumzeitliche Wirklichkeit auf das, was bis jetzt wirklich erkannt worden ist.398 Wenn in der Zukunft eine neue Tatsache erkannt 398 Dies ist eine ontologische Behauptung schlechthin, und von ganz anderer Art als
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wird, wird sie erst dann in die Wirklichkeit integriert. Was in der Zukunft wirklich wird, ist jetzt noch nicht wirklich. ZR lehnt nmlich ab, ber die „Wirklichkeit“ von demjenigen Standpunkt aus zu sprechen, der unseren jetzigen Wissenszustand berschreitet. Ich fge noch zwei Bemerkungen hinzu, um naheliegende Missverstndnisse ber diese Version zu beseitigen: (1) ZR hat nichts mit folgender absurder These zu tun: Whrend wir Dinge nicht wirklich wahrnehmen (oder im Bewusstsein halten), existieren sie nicht. Die Verifikation muss nicht auf direkte Wahrnehmung eingeschrnkt werden. (2) ZR behauptet auch nicht die Ungereimtheit, dass Dinge (bzw. Ereignisse) erst dann zu existieren beginnen, wenn sie von uns erkannt werden. Nehmen wir an, dass es erst heute verifiziert worden ist, dass ein Ereignis E im Jahr 1781 stattfand. Dies bedeutet selbst in ZR nicht, dass E eben heute stattfindet, sondern vielmehr, dass das Stattfinden von E im Jahr 1781 erst heute in die Wirklichkeit integriert worden ist. Die ZeitRelativierung bei ZR bezieht sich nmlich nicht darauf, wann Dinge existieren (bzw. existierten), sondern vielmehr darauf, wann der Sachverhalt, dass diese Dinge existieren (bzw. existierten), zur Tatsache wird. – Mithilfe des Wahrheitsprdikats wird dieser Unterschied klar und eindeutig ausgedrckt: Die Zeit-Relativierung von ZR bezieht sich nmlich nicht auf den Aussagegehalt selbst, sondern nur darauf, wann eine Aussage wahr wird. 7.2.2 Kants anscheinende Befrwortung dieser Version Wie sehr es auch immer verfeinert werden mag, so ist ZR doch eine allzu subjektivistische Position ohne philosophische Attraktivitt. Diese Version kann aber, trotz seiner sachlichen Unattraktivitt, in der Kant-Exegese nicht vçllig ignoriert werden, denn es gibt Textpassagen, in denen Kant so etwas wie ZR zu vertreten scheint: „[. . .] die Teile allererst durch den Regressus der dekomponierenden Synthesis, und in demselben, gegeben werden, [. . .].“ (A505/B533, kursiv von K.C.) „Denn obgleich alle Teile in der Anschauung des Ganzen enthalten sind, so ist doch darin nicht die ganze Teilung enthalten, welche nur in der fortgehenden Dekomposition, oder dem Regressus selbst besteht, der die Reihe [der Bedingungen] allererst wirklich macht.“ (A524/B552, kursiv von K.C.) die (eher tautologische) epistemologische These: „Was wir jetzt erkennen kçnnen, ist nur, was wir bis jetzt erkannt haben“.
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„Daher die Teilung eine Menge in demselben [sc. dem Ganzen] bestimmen kann, die so weit geht, als man im Regressus der Teilung fortschreiten will.“ (A526/B554) „Denn was nur dadurch wirklich ist, daß es in der Vorstellung gegeben ist, davon ist auch nicht mehr gegeben, als so viel in der Vorstellung angetroffen wird, d.i. so weit der Progressus der Vorstellungen reicht. Also von Erscheinungen, deren Theilung ins Unendliche geht, kann man nur sagen, daß der Theile der Erscheinung so viel sind, als wir deren nur geben, d.i. so weit wir nur immer theilen mçgen.“ (Metaphysische Anfangsgrnde der Naturwissenschaft, Ak. 4, S. 506 f.)399
Es liegt nahe, diese Textpassagen wie folgendermaßen zu deuten: Teile entstehen erst dann, wenn die Teilung (Dekomposition) tatschlich durchgefhrt wird, folglich existieren Teilen vor der tatschlichen Teilung nicht. Mit anderen Worten: Glieder der mereologischen Bedingungsreihen werden erst dann zur Existenz gebracht, wenn man sie durch den Regressus tatschlich entdeckt hat.400 Dieser Gedanke kann nun fr Bedingungsreihen berhaupt, und auch fr raumzeitliche Gegenstnde berhaupt, verallgemeinert werden: RV (Radikale Variante der zeit-relativen Version): Eine Bedingungsreihe hat zum Zeitpunkt t genau so viele Glieder, wie bis t entdeckt worden sind. – Im Allgemeinen: Dass ein Gegenstand existiert (bzw. existierte), ist zu t der Fall,401 gdw. er bis t entdeckt worden ist. Nehmen wir an, dass wir bisher den Regressus einer Bedingungsreihe bis zu ihrem n-sten Glied fortgefhrt haben. In diesem Fall ist die Aussage „Das n+1te Glied existiert“ jetzt noch nicht wahr. Sie wird erst dann wahr, wenn wir den Regressus weiterfhren. So ist RV eine Variante von ZR. 399 Solche textlichen Belege finden sich auch außer den Textstellen, die die zweite Antinomie betreffen. Vgl. z. B. folgende: (1) „Uns ist wirklich nichts gegeben, als die Wahrnehmung und der empirische Fortschritt von dieser zu anderen mçglichen Wahrnehmungen. Denn an sich selbst sind die Erscheinungen, als bloße Vorstellungen, nur in der Wahrnehmung wirklich, die in der Tat nichts anderes ist, als die Wirklichkeit einer empirischen Vorstellung, d.i. Erscheinung“ (A493/ B521). (2) „[. . .] alle Glieder der Reihe [. . .] hier [sc. falls nicht von Dingen an sich, sondern von Erscheinungen die Rede ist] aber nur durch den sukzessiven Regressus mçglich sind, der nur dadurch gegeben ist, daß man ihn wirklich vollfhrt“ (A500 f./B529). 400 Diese Lesart ist allerdings nicht zwingend. Es mag der Fall sein, dass Kant mit dem Ausdruck „fortschreiten will“ oder „so weit wir nur immer theilen mçgen“ auch den zuknftig zu entdeckenden Gliedern Rechnung trgt. 401 Dies muss unterschieden werden von: „Dass ein raumzeitlicher Gegenstand zu t existiert, ist der Fall, gdw etc.“; vgl. den letzten Unterabschnitt.
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Es gibt Interpreten, die Kant eine solche Position unterstellen; vgl. z. B. Wagner 1996: „[Fr den TrI gilt, dass] alle Bedingungen des Bedingten nur so weit gegeben werden kçnnen, wie wir [den sukzessiven Regreß des Suchens und Forschens] wirklich ausfhren.“ (S. 250 f., kursiv von K.C.)402
Zwar ist diese Auslegung nicht ohne textliche Untersttzung, wie oben gesehen wurde. Dennoch ndert dies nicht die in 7.1.1 gezeigte Sachlage, dass ZR mit Kants eigener Auflçsung der Antinomien kollidiert, denn ZR ist auf die Konsequenz festgelegt, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind, weil die Anzahl der Glieder, die man bis zum jeweiligen Zeitpunkt erkannt hat, immer endlich ist. Darauf mçgen Anhnger der fraglichen Auslegung folgendermaßen erwidern: Was Kant eigentlich verneinen will, ist nicht die Endlichkeit der Bedingungsreihen schlechthin, sondern vielmehr, dass die Bedingungsreihen eine bestimmte (endliche) Grçße haben; es gilt nun selbst in ZR, dass die Bedingungsreihen keine bestimmte Grçße haben, weil sie, der Fortfhrung des Regressus entsprechend, erweitert werden. – Diese Erwide402 Vgl. auch Krausser 1982, S. 87, Wolf 1983, S. 185, Engelhard 2005, S. 358 und 367 (zitiert oben, Anm. 379). Hoke Robinsons „two perspective view“ fhrt ebenfalls zu derselben Position, obwohl sie nicht durch die Interpretation der Antinomienlehre, sondern vielmehr durch das Problem der Anfechtbarkeit motiviert ist; vgl. unten, 7.5.1. Wolfgang Malzkorn schreibt ebenfalls Kant die Ansicht zu, dass Teile erst nach der tatschlichen Teilung entstehen, und behauptet zudem, dass wenn eine Substanz einmal geteilt, sie dann zerstçrt wird, so dass die Teile, welche sich aus der Teilung ergeben, nicht mehr Teile der ursprnglichen Substanz sind. Damit konkludiert er: „Somit ergibt die Konjunktion des Begriffs des (substantiell) Zusammengesetzten (unter der blichen metaphysischen Definition als etwas, das substantielle Teile hat) mit dem Begriff einer Substanz (in der Anschauung) einen widersprchlichen Begriff“ (ders. 1999, S. 276). Dies fhrt aber nur zu der unerwnschten Konsequenz, eben den Begriff des Teils (zumindest in Bezug auf raumzeitliche Gegenstnde) abzulehnen; demgemß sollen z. B. die Reifen keine Teile eines Autos sein, weil sie vor der Teilung nicht als Teile zur Sprache kommen, sie aber auch nicht mehr Teile des Autos sind, wenn sie einmal davon abgetrennt werden. (Malzkorn drfte diese Konsequenz wohl hinnehmen, weil er Kants Auflçsung der zweiten Antinomie gerade darin sieht, nicht von „Teilen“, sondern ausschließlich von „Teilbarkeit“ zu sprechen; vgl. ibid., S. 277.) – Dergleichen wre aber eher ein bloßes Wortspiel, den schwerwiegenden ontologischen Streitpunkt zwischen TrR und TrI nicht berhrt. Der fatale Defekt dieser Deutung ist, dass eine solche Auflçsung der zweiten Antinomie selbst fr den TrR als Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ohne Probleme akzeptabel ist, aber Kant zufolge die zweite Antinomie im Rahmen des TrR eben unauflçsbar sein muss.
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rung ist aber vergeblich, denn die Crux liegt eben darin, dass ZR gemß eine Bedingungsreihe jeweils eine bestimmte endliche Grçße hat. Anhnger der fraglichen Auslegung mçgen dann die Qualifikation „jeweils“ angreifen und behaupten, dass die Bedingungsreihen keine diakronisch identische bestimmte Grçße haben. – So weit, so gut. Zu beachten ist aber, dass man dergleichen nicht behaupten kann, ohne ZR aufzugeben. Denn ZR lsst keinen Raum dafr, von einer „diakronisch identischen Grçße“ zu reden; dies ist doch gerade die Pointe der Zeit-Relativierung der Wahrheit bei ZR. Dieser Rettungsversuch muss also ohnehin scheitern. Aus der bisherigen Betrachtung geht so viel hervor: Wenn Kant wirklich ZR vertrte, wrde er damit seine Auflçsung der Antinomien zunichte machen. – Daraus allein folgt allerdings nicht, dass Kant so etwas wie ZR nicht befrwortet. In der Exegese darf man die Mçglichkeit nicht ausschließen, dass Kant unbesehen widersprchliche Behauptungen aufstellt. Wenn jedoch eine Deutung, die den Widerspruch beheben kann, verfgbar ist, muss sie natrlich vorgezogen werden. Glcklicherweise findet sich eine solche Deutung, nmlich die zeit-neutrale Version, die ich in 7.3 ausarbeiten werde. Es ist aber instruktiv, bevor zur Erçrterung dieser Version bergegangen wird, noch eine Maßnahme zur Lçsung des Problems der jeweiligen Endlichkeit zu untersuchen. Es handelt sich um Kants Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum. 7.2.3 Regressus in infinitum/in indefinitum Kants Erklrung dieser Unterscheidung ist uneinheitlich.403 Dies deutet darauf hin, dass diese Unterscheidung auch ihm selbst nicht vollstndig klar ist. Indessen ist es nicht unmçglich, so mçchte ich argumentieren, in 403 In A518 f./B546 f. unterscheidet er den Fall, dass die Bedingungsreihe auf dem Regressus in infinitum grndet, nicht klar von dem Fall, dass sie als unendliche Totalitt gegeben ist. Vgl. auch Folgendes aus dem 8. Abschnitt des Antinomiekapitels: „[. . .], d.i. die Teilung geht ins Unendliche. Dagegen ist die Reihe der Voreltern zu einem gegebenen Menschen [wobei es um den Regressus in indefinitum geht; K.C.] in keiner mçglichen Erfahrung, in ihrer absoluten Totalitt, gegeben, [. . .]“(A513/B541). Dieser Vergleich zwischen Regressus in infinitum/in indefinitum legt das Missverstndnis nahe, dass die Reihe der Teile als absolute Totalitt gegeben ist. Dies entspricht aber nicht Kants berlegter Ansicht, denn es ist gerade der Hauptpunkt seiner Auflçsung der zweiten Antinomie, dass der Regressus in infinitum eben nicht zur Setzung der absoluten Totalitt der Bedingungsreihen fhrt.
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Anlehnung an seine Darstellung einen bestimmten Gehalt dieser Unterscheidung herauszuarbeiten. Am Anfang mache ich auf zwei elementare Punkte aufmerksam: (a) Kants explizitem Hinweis nach (A513/B541, A519/B547, A521/B549, A524/B552) betrifft der Regressus in infinitum die Bedingungsreihen der zweiten Antinomie, der Regressus in indefinitum hingegen diejenigen der ersten Antinomie.404 (b) Ein Regressus ist immer, ob nun in infinitum oder in indefinitum, primr eine Reihe der Erkenntnisse, so dass er nicht einfach mit der zu erkennenden Bedingungsreihe gleichgesetzt werden darf (vgl. oben, 4.1.1). Die betreffende Unterscheidung bezieht sich also primr auf Erkenntnisse, und auf zu erkennende Gegenstnde nur vermittelst zustzlicher Annahmen, z. B. einer anti-realistischen Ontologie. Betrachten wir nun A514 f./B542 f., wo die betreffende Unterscheidung am ausfhrlichsten erçrtert wird. Dort sind die beiden Regresse auf drei verschiedene Weisen dargelegt. Ich prsentiere diese Textstelle dergestalt, dass Kontraste deutlich werden: Inf. 1: Es ist „mçglich, ins Unendliche in der Reihe seiner inneren Bedingungen zurckzugehen“. Indef. 1: Es ist „ins Unendliche mçglich, zu noch hçheren Bedingungen der Reihe fortzugehen“. Inf. 2: „[E]s sind immer mehr Glieder da, und empirisch gegeben, als ich durch den Regressus (der Dekomposition) erreiche“. Indef. 2: „[I]ch kann im Regressus noch immer weiter gehen, weil kein Glied als schlechthin unbedingt empirisch gegeben ist, und also noch immer ein hçheres Glied als mçglich und mithin die Nachfrage nach demselben als notwendig zulßt“. Inf. 3: Es ist „notwendig, mehr Glieder der Reihe anzutreffen“. Indef. 3: Es ist „immer notwendig, nach mehreren zu fragen, weil keine Erfahrung absolut begrenzt“.
Der erste Kontrast expliziert von sich aus kaum etwas. Der Vergleich zwischen „antreffen“ und „fragen“ im dritten Kontrast ist ebenfalls fr sich allein uninformativ. Gehen wir von Inf. 2 und 3 aus: Diese Stze behaupten zunchst Folgendes ber den Regressus in infinitum: Bei ihm ist es von vornherein garantiert, dass immer mehr Glieder 404 Wagner bersieht diesen Punkt: „Was die Eigenschaft der Unabschließbarkeit im nheren betrifft, so unterstreicht Kant die Wichtigkeit der Unterscheidung zwischen Regressen, die „in infinitum“, und solchen, die „in indefinitum“ gehen [. . .]; die kosmologischen Regresse sind alle von letzterer Art“ (ders. 1995, S. 255). Brittan begeht denselben Fehler: „Thus that matter is really either finitely or infinitely divisible is undecidable“ (ders. 1995, S. 615); im Gegensatz dazu behauptet Kant explizit, dass die Materie in infinitum teilbar ist.
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„empirisch gegeben“ bzw. „anzutreffen“ sind, als man durch den jeweiligen Regressus tatschlich erreicht hat. Dies kçnnte man folgendermaßen paraphrasieren: (I) Es ist fr jedes Glied a priori garantiert, dass man dessen nchstes Glied entdecken kann. Aus der Tatsache, dass es sich in den obigen Zitaten um Kontraste zwischen den beiden Regressen handelt, geht gleichzeitig hervor, dass dasselbe fr den Regressus in indefinitum nicht gilt. In Bezug auf diesen ist stattdessen nur etwas Negatives a priori behauptbar, dass nmlich „kein Glied als schlechthin unbedingt empirisch gegeben ist“. Das heißt: (II) Es ist nur so viel a priori garantiert, dass es fr kein Glied festgestellt wird, dass dessen nchstes Glied nicht entdeckt werden kçnnen. Was fr ein Unterschied liegt zwischen (I) und (II)? Wenn man unter dem Wort „kann“ in (I) die bloß logische Mçglichkeit versteht, fallen die beiden zusammen, denn (II) zufolge ist es schließlich fr jedes Glied garantiert, dass man dessen nchstes Glied entdecken „kann“, in dem Sinne, dass die Mçglichkeit nicht ausgeschlossen wird, dass man es entdeckt. Dies spricht dafr, dass das Wort „kann“ in (I) anders gedeutet werden muss, nmlich im Sinne der Fhigkeit. Dann wird (I) noch folgendermaßen przisiert: (I’) Es ist fr jedes Glied a priori garantiert, dass man fhig ist, dessen nchstes Glied zu entdecken. Demgemß wird das Zusammenfallen der beiden Regresse vermieden, denn die bloß logische Mçglichkeit, in dem Sinn, dass es nicht unmçglich ist, dass wir einen Gegenstand entdecken, garantiert fr sich allein nicht, dass wir wirklich fhig sind, ihn zu entdecken. Es mag uns z. B. jetzt noch an einer bestimmten Messtechnik fehlen, die fr die Entdeckung dieses Gegenstandes erforderlich ist. Dieser Deutungsvorschlag wird durch zwei berlegungen noch bekrftigt: (1) Der Regressus der mereologischen Bedingungsreihen (in der zweiten Antinomie) befriedigt (I’) tatschlich. Um ihn fortzusetzen, muss man einen gegebenen Teil nur im Gedanken teilen und unsere Fhigkeit dazu ist durch die unendliche Teilbarkeit des Raums a priori garantiert (vgl. A524 f./B552 f.). (2) Dieser Deutungsvorschlag macht auch den Kontrast zwischen „antreffen“ und „fragen“ (in Inf./Indef. 3) verstndlich. Beim Regressus in
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indefinitum wird zwar a priori garantiert, dass man das letzte Glied der Bedingungsreihe niemals trifft, nmlich, dass man keinen objektiven Grund dafr finden kann, den Regressus abzuschließen. Dabei besteht aber keine Garantie, dass weitere Glieder tatschlich entdeckt („angetroffen“) werden. Unter diesen Umstnden kann man hçchstens die Notwendigkeit des weiteren Forschens („Fragens“) behaupten. – Das Wort „fragen“ deutet auf einen wesentlichen Charakter des Regressus in indefinitum hin, nmlich, dass er eine Suche ohne apriorische Erfolgsgarantie ist. Betrachten wir nun das Unterscheidungskriterium der beiden Regresse noch nher. Wie eingangs besttigt, betrifft der Regressus in infinitum die Bedingungsreihen der zweiten Antinomie (nmlich die mereologischen Bedingungsreihen), der Regressus in indefinitum hingegen die der ersten Antinomie (nmlich die zeitliche Bedingungsreihe und die rumlichen Bedingungsreihen). Es ist zu fragen, welcher Faktor dieser Bedingungsreihen den besagten Unterschied hervorbringt. Kants Antwort hierauf ist: „Ich sage demnach: wenn das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben worden, so geht der Regressus in der Reihe seiner inneren Bedingungen ins Unendliche. Ist aber nur ein Glied der Reihe gegeben, von welchem der Regressus zur absoluten Totalitt allererst fortgehen soll: so findet nur ein Rckgang in unbestimmte Weise (in indefinitum) statt.“ (A512 f./B540 f.)
Was bedeutet es, dass „das Ganze in der empirischen Anschauung gegeben worden [ist]“? Damit meint Kant: Im Fall der zweiten Antinomie, nmlich der Teilung einer gegebenen Substanz, ist jeder Teil, der durch den Regressus gefunden werden soll, bereits in der gegebenen Substanz enthalten.405 (Dies ist offensichtlich, denn solche Teile sind Teile dieser Substanz.) Daraus folgt aber, dass die Fortfhrung des Regressus keine Erkenntnis anderer Substanzen, somit keine andere Anschauung als die der eingangs gegebenen Substanz, bençtigt. Im Fall der ersten Antinomie hingegen erfordert die Fortfhrung des Regressus noch Erkenntnisse anderer Dinge als bloß des Anfangsglieds, somit zustzliche Anschauungen. – Kurzum: Ein Regressus ist nur dann ein Regressus in infinitum, wenn er fortgefhrt werden kann, ohne Rekurs auf andere Daten als die empirische Anschauung des Anfangsglieds. Es ist nun weiterhin zu fragen, warum dieser Faktor so relevant ist. Warum kann der Regressus, dessen Fortfhrung zustzliche empirische Daten bençtigt, nicht in infinitum erweiterbar sein? Dies kçnnte fol405 „[D]ie ferneren Glieder der fortzusetzenden Teilung sind selbst vor dieser weitergehenden Teilung empirisch gegeben“ (A513/B541).
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gendermaßen erklrt werden: Empirische Daten, als das Moment der Nicht-Spontaneitt unserer empirischen Erkenntnis, stehen nicht vollstndig unter unserer Kontrolle und eben deswegen kann nicht a priori garantiert werden, dass uns solche zustzlichen Daten wirklich gegeben werden. – Daraus geht hervor, dass der Regressus in infinitum ausschließlich fr die mereologischen Bedingungsreihen mçglich ist. Er kann z. B. auch nicht auf die kausalen Bedingungsreihen angewandt werden, weil die Anschauung eines raumzeitlichen Gegenstandes natrlich nicht diejenige ihrer Ursachen beinhaltet; dasselbe gilt auch fr die modale Bedingungsreihe. In der bisherigen Untersuchung ist der Gehalt der Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum verdeutlicht worden. Diese Unterscheidung betrifft nun, wie eingangs erwhnt, primr die Reihe der Erkenntnisse und nicht ohne weiteres die zu erkennenden Bedingungsreihen selbst. Sie bringt aber im Rahmen des Anti-Realismus, der den Gegenstand abhngig von unserer Erkenntnis macht, mçglicherweise einen bestimmten Unterschied hervor bezglich der zu erkennenden Bedingungsreihen selbst. Und dies ist gerade der Fall – so behaupte ich – beim kantischen TrI. Man mag hier einwenden: Ist Kant nicht der Ansicht, dass die Lehre des Regressus in infinitum/in indefinitum lediglich von dem „regulativen Prinzip“ handelt, nmlich von der „Regel der reinen Vernunft“, die „nicht sagen kçnne, was das Objekt sei“ (A509 f./B537 f.)?406 Dagegen muss zunchst nher betrachtet werden, fr was hier gesagt ist, dass es „nicht sagen kçnne, was das Objekt sei“. Der dortige Kontext legt nahe, dass das nicht die Lehre des Regressus in infinitum/in indefinitum ist, sondern vielmehr die Idee, dass die Bedingungsreihen (die „Welt“) als absolute Totalitt gegeben sind.407 Dies wird durch Kants anschließende Erçrterung noch bekrftigt. Dort argumentiert er, dass, falls jene „Regel der reinen Vernunft“ fr ein konstitutives Prinzip gehalten werde, „eine bloße Idee der absoluten Totalitt [. . .] einen Gegenstand denken [wrde], der in keiner 406 Vgl. auch A509/B537: „[Der Grundsatz der Vernunft] ist [. . .] also ein Prinzipium der Vernunft, welches, als Regel, postuliert, was von uns im Regressus geschehen soll, und nicht antizipiert, was im Objekte vor allem Regressus an sich gegeben ist. Daher nenne ich es ein regulatives Prinzip der Vernunft, [. . .]“. 407 Vgl. den ersten Absatz des 8. Abschnitts (A508 f./B536 f.). Die dortigen Ausdrcke „der gedachte Grundsatz der reinen Vernunft“, „Der Grundsatz der Vernunft“, „ein Prinzipium der Vernunft“ und „ein regulatives Prinzip der Vernunft“ beziehen sich alle auf „den kosmologischen Grundsatz der Totalitt“ (kursiv von K.C.) im ersten Satz dieses Absatzes.
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Erfahrung gegeben werden kann“ (A510/B538). Der Regressus in infinitum/in indefinitum hat aber nichts mit der Setzung der absoluten Totalitt zu tun, wie Kant im 9. Abschnitt des Antinomiekapitels betont.408 Kant kann ohnehin nicht verneinen, dass die Beschaffenheit des Regressus ein gewisses Resultat bezglich der Bedingungsreihen hat, sofern er behauptet, dass „[d]ie Reihe der Bedingungen [. . .] nur in der regressiven Synthesis selbst [. . .] anzutreffen [ist]“ (A505/B533).409 Wenn die Bedingungsreihen abhngig vom Regressus existieren, muss die Beschaffenheit des Regressus in irgendeiner Weise die der Bedingungsreihen beeinflussen. Dies wird auch von Kant selbst, z. B. in folgender Textpassage, anerkannt: „Diese Weltreihe [sc. die „Reihe aller vergangenen Weltzustnde, imgleichen der Dinge, welche im Weltraume zugleich sind“] kann also auch weder grçßer, noch kleiner sein, als der mçgliche empirische Regressus, auf dem allein ihr Begriff beruht.“ (A518/B546 Anm.)
Wenn der Regressus nichts mit der Beschaffenheit der zu erkennenden Bedingungsreihen zu tun htte, kçnnte Kant hier hçchstens sagen, dass die Weltreihe nicht kleiner als der mçgliche Regressus sei. Man kann also zu Recht annehmen, dass die primr epistemische Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum im Rahmen des TrI eine Auswirkung auf die Bedingungsreihen selbst hat. Es ist nun an der Zeit zu klren, worin diese Auswirkung besteht. Hier erçrtere ich den Fall der zeit-relativen Version (ZR). Es kommt vor allem darauf an, ob die Lehre des Regressus in infinitum/in indefinitum erlaubt, 408 Der Anhang zur transzendentalen Dialektik bietet noch einen Beleg dafr. Was Kant dort als die „zweite regulative Idee der bloß spekulativen Vernunft“ aufzeigt, ist „der Weltbegriff berhaupt“ (A684/B712), d. h. die „absolute Totalitt der Reihen [der Bedingungen in der Natur]“ (A685/B713). Kant verneint dort gerade diese Idee als ein konstitutives Prinzip zu erachten (also „eine wirkliche Totalitt solcher Reihen zu setzen“ (ibid.)). Es muss allerdings zugestanden werden, dass Kant nicht explizit behauptet, dass die Bedingungsreihen der ersten und der zweiten Antinomien, den bezglichen Regresstypen entsprechend, jeweils indefinite und infinite Reihen bilden. Dies ist wohl deswegen, weil er (wie Sebastian Wolf 1983 suggeriert) keinen Begriff der potentiellen Unendlichkeit hat, der auf Erkenntnisobjekte anwendbar ist. Um diesen Begriff berhaupt einzufhren, muss man die transzendental-idealistische Ontologie noch eingehender ausarbeiten, als Kant es tat; dies ist die Aufgabe dieses Kapitels im Ganzen. 409 Vgl. auch Folgendes: „[Die Welt] ist nur im empirischen Regressus der Reihe der Erscheinungen und fr sich selbst gar nicht anzutreffen“ (ibid.).
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
diese Version von der misslichen Konsequenz, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich seien, zu befreien. Es stellt sich heraus, dass dies besonders fr die mereologischen Bedingungsreihen gelingt, aber nicht fr die sonstigen. Im letzten Unterabschnitt wurde eine radikale Variante von ZR dargestellt: RV: Eine Bedingungsreihe hat zum Zeitpunkt t genau so viele Glieder, wie bis t entdeckt worden sind. – Im Allgemeinen: Dass ein Gegenstand existiert, ist zu t der Fall gdw. er bis t entdeckt worden ist. Aufgrund dessen ist die betreffende missliche Konsequenz in jedem Fall unvermeidlich. Denn die Anzahl der Glieder, die bis zu einem bestimmten Zeitpunkt wirklich entdeckt worden sind, ist in jedem Fall, egal welchem Regressus nach, endlich und dies muss in RV bedeuten, dass alle Bedingungsreihen jeweils endlich sind. Die Version ZR lsst aber auch eine moderatere Variante zu. Um diese darzustellen, fhre ich den neuen Begriff „effektive Entdeckbarkeit“ ein. Er wird folgendermaßen definiert: Ein Gegenstand ist zu t effektiv entdeckbar gdw. zu t garantiert ist, dass man ihn zu entdecken fhig ist.410 Zu beachten ist, dass „effektiv entdeckbar sein“ ein zeit-relatives Prdikat ist. Es ist nmlich denkbar, dass ein Gegenstand jetzt nicht, aber spter (z. B. durch Erfindung einer neuen Messtechnik) effektiv entdeckbar wird. Damit wird die gesuchte moderatere Variante folgendermaßen formuliert: MV (Moderate Variante der zeit-relativen Version): Eine Bedingungsreihe hat zu t genau so viele Glieder, wie zu t effektiv entdeckbar sind. – Im Allgemeinen: Dass ein Gegenstand existiert, ist zu t der Fall gdw. er zu t effektiv entdeckbar ist.
410 Die „effektive Entdeckbarkeit“ ist ein Analogon zum „effektiven Verfahren (effective procedure)“ in der intuitionistischen Mathematik. Dieses ist ein Verfahren, mit dem man eine Aussage in endlichen Schritten verifizieren bzw. falsifizieren kann. Wir haben z. B. effektive Verfahren, die Aussage „1000010000+1 ist eine Primzahl“ zu verifizieren bzw. zu falsifizieren (wie Eratosthenes’ Sieb), auch wenn wir sie in praxi nicht durchfhren kçnnen. – Damit wird der in 1.2 eingefhrte Begriff „Entscheidbarkeit (decidability)“ noch przisiert: Eine Aussage ist zum Zeitpunkt t entscheidbar (decidable) gdw. wir zu t ein effektives Verfahren kennen, um den Wahrheitswert dieser Aussage zu entscheiden.
7.2 Zeit-relative Version (ZR)
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Diese Variante ist durch folgenden Gedanken motiviert: Wenn man einmal fr einen Gegenstand nachweist, dass man ihn zu entdecken fhig ist, wird man schon dadurch berechtigt zu behaupten, dass er existiert. MV rumt nmlich, anders als RV, die Mçglichkeit ein, dass ein Gegenstand existiert, auch wenn er bis jetzt nicht wirklich erkannt worden ist. Indessen ist MV immerhin eine Variante von ZR, weil die effektive Entdeckbarkeit, wie gerade gesehen, ein zeit-relatives Prdikat ist. Darauf basierend zeige ich nun besonders im Falle der mereologischen Bedingungsreihen, wie MV die missliche Konsequenz vermeidet. Der Regressus dieser Bedingungsreihen ist Regressus in infinitum. Daraus folgt, dass es fr jedes Glied dieser Bedingungsreihen a priori garantiert ist, dass dessen nchstes Glied zum jetzigen Zeitpunkt effektiv entdeckbar ist. Dies aber bedeutet in MV, dass jedes nachfolgende Glied, das zweite, das dritte, das vierte, [. . .] usf., genauso wie das Anfangsglied existiert, auch wenn es noch nicht wirklich entdeckt worden ist. Solche Glieder bilden eine nicht-endliche Reihe. Daraus folgt, dass die mereologischen Bedingungsreihen nicht endlich sind. Hierbei muss aber Folgendes beachtet werden: Diese Nicht-Endlichkeit kann nicht mit der aktualen Unendlichkeit gleichgesetzt werden. Fr die aktuale Unendlichkeit wre nach MV erforderlich, dass die Bedingungsreihen als unendliche Totalitt effektiv entdeckbar seien, d. h. dass wir fhig seien, unendlich viele Glieder vollstndig durchzuzhlen, was uns unmçglich ist (es sei denn, dass so etwas wie „super-task“ angenommen wird; vgl. oben, 4.3.2, Anm. 204). Was beim Regressus in infinitum garantiert wird, ist allenfalls, dass jedes einzelne Glied effektiv entdeckbar ist, und dies reicht fr die Konstruktion der unendlichen Totalitt nicht aus.411 (Man denke hier an folgendes Analogon: Jede einzelne natrliche Zahl, egal wie groß, ist in einem endlichen Verfahren konstruierbar, whrend man die Ganzheit aller natrlichen Zahlen nicht derart konstruieren kann.) Die Nicht-Endlichkeit des Regressus in infinitum ist also nicht die aktuale, sondern lediglich die potentielle Unendlichkeit. So vermeidet MV sowohl die jeweilige Endlichkeit als auch die aktuale Unendlichkeit der mereologischen Bedingungsreihen. Dieselbe Maßnah411 Eine derartige Lçsung der zweiten Antinomie ist z. B. in folgender Textpassage suggeriert: „[D]aß das Ganze ins Unendliche gegliedert sei, will sich gar nicht denken lassen, obzwar wohl, daß die Teile der Materie, bei ihrer Dekomposition ins Unendliche, gegliedert werden kçnnten“ (A526/B554). Hier wesentlich ist der Kontrast zwischen „gegliedert sein“ und „gegliedert werden kçnnen“. Mit dem Ersteren meint Kant den Zustand, in der die unendliche Gliederung vollendet ist.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
me kann jedoch nicht auf die sonstigen Bedingungsreihen angewandt werden. Denn, da es bei diesen um den Regressus in indefinitum geht, wird es vor der tatschlichen Fortfhrung des Regressus nicht garantiert, dass Glieder, die noch nicht wirklich entdeckt worden sind, doch effektiv entdeckbar sind. Es ist also auch MV gemß unvermeidlich, dass die nichtmereologischen Bedingungsreihen jeweils endlich sind. Daraus wird ersichtlich, dass ZR keine adquate Option fr den kantischen TrI sein kann. Angesichts dessen muss nach einem wesentlich anderen Ansatz gesucht werden, nmlich nach einer zeit-neutralen Version. – Indessen besitzt die Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum per se auch außerhalb des Rahmens von ZR Gltigkeit (weil sie in erster Linie eine epistemische Unterscheidung ist). In 7.3.3 werde ich zeigen, was sich in der zeit-neutralen Version aus ihr ergibt. Zum Schluss eine Bemerkung: Die „effektive Entdeckbarkeit“ kçnnte man in einem Sinn „Verifizierbarkeit“ nennen. Sie ist aber ein zeit-relatives Prdikat. Sie kann also nicht diejenige Verifizierbarkeit sein, die fr die zeitneutrale Version maßgeblich sein soll. Dafr muss eine andere Konzeption entwickelt werden, was ich im nchsten Abschnitt versuche. 7.3 Zeit-neutrale Version (ZN) Sofern die Wahrheit durch bis jetzt erworbene Erfahrungen bzw. Verifikationen fundiert wird, ist die Konsequenz unvermeidlich, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind. Daraus erhellt, dass der kantische TrI eine zeit-neutrale Version des Anti-Realismus annehmen muss, welche Wahrheit vielmehr auf mçgliche Erfahrungen bzw. Verifizierbarkeit fundiert. Damit stellt sich die Aufgabe, ein adquates Konzept der modalen Komponente wie „mçglich“ bzw. „-bar“ auszuarbeiten. Damit beschftige ich mich in den nachfolgenden Abschnitten. In diesem Abschnitt ziele ich darauf ab, den Grundriss der zeit-neutralen Version zu zeichnen. Hierbei lasse ich zunchst folgende Diskussionspunkte außer Acht: (1) Kants Determinismus der raumzeitlichen Wirklichkeit, (2) die Mçglichkeit eines Verlusts der Verifikation/Verifizierbarkeit im Laufe der Zeit und (3) das Problem der Anfechtbarkeit. Besonders wichtig sind die letzten zwei. Deren Ausklammerung fhrt dazu, die sogenannte „Monotonizitt (monotonicity)“ anzunehmen, dass nmlich, wenn eine Aussage einmal verifiziert wird, sie nachher ewig verifiziert bleibt. Diese Annahme, die in der intuitionistischen Logik vorausgesetzt wird, ist zwar nicht ganz unproblematisch, besonders fr den empirischen
7.3 Zeit-neutrale Version (ZN)
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Diskurs, aber ohne sie wird die Problemlage sehr verwickelt. Ich versuche daher in diesem Abschnitt, die zeit-neutrale Version zunchst unter der Annahme der Monotonizitt zu konstruieren. Diese Vorlufigkeit wird in den nachfolgenden Abschnitten aufgehoben. Was ich in diesem Abschnitt prsentiere, ist ein empirisches Gegenstck der Wahrheitskonzeption der intuitionistischen Mathematik.412 Ich gehe dennoch nicht derart vor, dass ich zuerst die Wahrheitskonzeption des Intuitionismus mit seiner Methodik darstelle und sie dann auf das kantische System anwende. Es gibt zwei Grnde gegen diese Vorgehensweise: (1) Sie erweckt einen Anschein des Anachronismus;413 die intuitionistische Methodik stand natrlich zu Kants Zeit nicht zur Verfgung. (2) Wie in 7.1.1 aufgewiesen wurde, besteht immer noch kein hinreichender Konsens ber die Wahrheitskonzeption des Intuitionismus, nicht einmal darber, ob sie zeit-neutral sein kann. Aus diesen Grnden ziehe ich hier vor, die geforderte Wahrheitskonzeption, von dem Grundprinzip des Anti-Realismus ausgehend, selbst auszuarbeiten, und zwar durch die Auseinandersetzung mit kantischen Problemen. Dadurch wird hoffentlich verdeutlicht, dass eine intuitionistische Wahrheitskonzeption gerade vom kantischen Gedankengang her erfordert wird. Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: In 7.3.1 zeige ich, dass das Grundprinzip des Anti-Realismus nicht unbedingt zur Zeit-Relativierung der Wahrheit fhren muss. Damit wird zunchst eine zeit-neutrale Version vorgestellt, nmlich ZN–. Es wird sich jedoch herausstellen, dass auch diese Version zur Erfllung des kantischen Zwecks noch nicht ganz zufriedenstellend ist. In Rcksicht darauf arbeitete ich in 7.3.2 die Version ZN aus. Ich werde zeigen, dass diese in die kantische Auflçsung der Antinomien erfolgreich integriert werden kann, so dass sie zumindest in dieser Hinsicht als eine mçgliche Option fr den TrI zu qualifizieren ist. In 7.3.3 erlutere ich diese Version weiter. – In 7.4 und 7.5 wird gezeigt, dass ZN noch weiterer Modifizierungen bedarf. Indessen wird sein Grundcharakter auch 412 Eine Verwandtschaft der kantischen Denkart in der KdrV mit dem Intuitionismus ist seit Brouwer von manchen Forschern suggeriert worden (vgl. z. B. Oskar Becker 1927, Martin 1969 und Vuillemin 1972), aber ohne eingehenden exegetischen Nachweis. Carl Posy ist der wichtigste Pionier, der die intuitionistische Logik auf die Interpretation des TrI (insbesondere bezglich der Antinomienproblematik) anwendet, und zwar durch konkrete Textanalyse. Klaus Mainzer (1970, 1972 und 1975) versucht ebenfalls, Kants Konstruktionsbegriff (vornehmlich in Anlehnung an die Schematismuslehre der KdrV) im Rahmen der gegenwrtigen konstruktiven Mathematik zu erlutern. 413 Posy gesteht diesen Punkt zu; vgl. ders. 1983, S. 91 f. und 1984b, S. 129 ff.
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von nachkommenden Versionen (ZR+, ZN+, ZN+mit SA und ZR+mit SA) aufbewahrt. 7.3.1 Die Zeit-Relativitt aufheben (ZN–) Das Grundprinzip des Anti-Realismus ist, Wahrheit irgendwie durch Verifikation zu fundieren. Die zeit-relative Version ist eine naheliegende Deutung dieses Prinzips, denn Verifikation ist wesentlich zeitlich, in dem Sinne, dass sie nichts anders als zu einer bestimmten Zeit stattfindet. Dieser Zeitlichkeit der Verifikation gemß wurde in ZR die Wahrheit selbst zeitlich relativiert. So naheliegend dieser Gedankengang ist, so ist er doch nicht die einzigmçgliche Konkretisierung dieses Grundprinzips. Die Zeit-Relativierung der Wahrheit wird vermieden, wenn das Grundprinzip z. B. in folgender Gestalt entwickelt wird: ZN–: Eine Aussage ist (zeit-neutral) wahr gdw. sie irgendwann tatschlich verifiziert werden wird. Diese Version ist durch folgenden Gedanken motiviert: Fr die Wahrheit ist es irrelevant, wann die Verifikation vorgenommen wird. Relevant ist nur, dass diese berhaupt stattfindet, ob nun bis jetzt oder in der Zukunft. – Man kann freilich nicht wissen, dass eine Aussage berhaupt verifiziert werden wird, solange man sie nicht tatschlich verifiziert hat. Diese Tatsache hat aber in dieser Version bloß eine erkenntnisgeschichtliche, und keine wahrheitsrelevante Bedeutung. So wird die Stabilitt der Wahrheit im Rahmen des Anti-Realismus gesichert. Wichtig ist hierbei, dass damit die Konsequenz, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind, vermieden wird. Man kann zwar bis zum jeweiligen Zeitpunkt lediglich endlich viele Glieder erkannt haben. ZN– rumt aber ein, dass die Bedingungsreihen mçglicherweise noch weitere Glieder haben. Diese existieren genauso wie die schon erkannten Glieder, wenn sie spter erkannt werden sollen. Dadurch negiert ZN– die Auffassung, dass das zuknftig zu Erkennende erst mit seiner Erkenntnis zur Existenz kommt. Erkenntnisse (Verifikationen) sind nach ZN– sozusagen gleichberechtigt, gleichgltig zu welchem Zeitpunkt sie stattfanden oder stattfinden; nur dass zuknftige Erkenntnisse uns noch nicht verfgbar sind, was aber in ZN– fr die Existenz der Gegenstnde irrelevant ist. Damit liefert ZN– eine ontologische Basis fr den Begriff der potentiellen Unendlichkeit, welche von der jeweiligen Endlichkeit unterschieden wird. Es muss aber noch erklrt werden, dass diese potentielle Unend-
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lichkeit auch nicht mit der aktualen Unendlichkeit zusammenfllt. Dies ist ein subtiles Problem, das ich im nchsten Unterabschnitt erçrtere im Zusammenhang mit Van Cleves Kritik an der kantischen Argumentation gegen die aktuale Unendlichkeit. ZN– ist deutlich attraktiver als ZR. Indessen ist dieses Schema fr den kantischen Anti-Realismus noch nicht ganz zufriedenstellend. Der Grund ist, dass ZN– die Mçglichkeit, dass die Bedingungsreihen endlich seien, nicht a priori ausschließen kann. In ZN– gilt Folgendes fr die Lnge der Bedingungsreihe: Eine Bedingungsreihe hat (zeit-neutral) genau so viele Glieder, wie man durch den Regressus derselben in der Zukunft tatschlich entdecken wird.414 Es ist nun denkbar, dass der Regressus de facto nur endlich durchgefhrt werden wird. Es mag sich z. B. eines Tages herausstellen, dass das ganze Menschengeschlecht bald aussterben wird. In diesem Fall muss der Regressus irgendwo aufhçren und dann muss man ZN– gemß zugestehen, dass die Bedingungsreihen selbst dementsprechend endlich sind. Zu beachten ist, dass dieses Szenario zumindest nicht a priori abgewiesen wird. Kant beabsichtigt aber mit seiner Auflçsung der Antinomien gerade, die Mçglichkeit der Endlichkeit der Bedingungsreihen berhaupt, und zwar a priori, auszuschließen.415 Dieses Resultat entspringt daraus, dass ZN– die Wahrheit derart einschrnkt, dass nur die Aussagen, welche man tatschlich verifizieren wird, wahr sein kçnnen. Eben deswegen wird es unvermeidlich, dass sich die Beschaffenheit der Bedingungsreihen durch okkasionelle Faktoren vonseiten der Verifikationssubjekte (wie das Aussterben des Menschengeschlechts) beeinflussen lsst. Diese Einschrnkung muss nunmehr aufgehoben werden. Wie aber ist dies im Rahmen des Anti-Realismus mçglich? Eine naheliegende Maßnahme ist, ein idealisiertes Verifikationssubjekt wie das „kreative Subjekt“ in der intuitionistischen Mathematik zu postulieren und die Wahrheit durch Verifikationen, die ein solches Subjekt 414 Die „effektive Entdeckbarkeit“ mit einbeziehend, wird folgende Variante erreicht: Eine Bedingungsreihe hat (zeit-neutral) genau so viele Glieder, wie man in der Zukunft als effektiv entdeckbar feststellen wird. Die nachfolgende Argumentation gilt auch fr diese Variante außer dem Fall der zweiten Antinomie, in der es um den Regressus in infinitum geht. 415 Diese Argumentation entspricht Van Cleves Kritik des kantischen Arguments gegen die Endlichkeit der Bedingungsreihen in ders. 1999, S. 70.
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leisten wrde, zu fundieren. Diese Maßnahme stçßt jedoch gleich auf eine Schwierigkeit, den konkreten Gehalt dieser Idealisierung in nicht-zirkulrer Weise zu bestimmen. Es reicht z. B. nicht aus, dass dieses Subjekt unsterblich ist, um die kosmologische Forschung ewig weiterzufhren; denn die Ewigkeit der Forschung allein garantiert nicht den Erfolg derselben. Hingegen ist folgende Definition zu stark: Dieses Subjekt sei so potent, dass es, in seinem ewigen Leben, frher oder spter jede wahre Aussage verifizieren werde. Diese Definition ist im hiesigen Kontext zirkulr, weil sie den Umfang der Wahrheit, der hier durch den Rekurs auf dieses Subjekt expliziert werden soll, eben fr die Definition dieses Subjekts voraussetzt. Dasselbe Problem haftet auch einer Formel folgender Art an: „[A sentence A is true if ] it is possible in principle to prove A when we abstract from the shortness of our lives, the lack of perseverance and intelligence, and so on.“ (Prawitz 1987, S. 153)416
Was kann der Passus „and so on“ hier bedeuten, wenn nicht etwa „alle Faktoren, die uns bei der Verifizierung wahrer Aussagen behindern“? Derart verstanden, ist diese Formel genauso zirkulr wie der obige Fall. Daraus kann folgende Lehre gezogen werden: Bei der Aufhebung der betreffenden Einschrnkung darf man nicht den Umfang der Wahrheit (somit auch den Umfang von „Tatsachen“, „zu verifizierenden Aussagen“, „zu erkennenden Gegenstnden“, usf.) als Explicans voraussetzen. In Rcksicht darauf suche ich nach einem anderen Ansatz. 7.3.2 Verifizierbarkeit einfhren (ZN) Um den strittigen Punkt klar zu machen, paraphrasiere ich ZN– wie folgt: Eine Aussage ist wahr gdw. sie an irgendeiner Station der tatschlichen Verifikationsroute verifiziert wird. Die „tatschliche Verifikationsroute“ ist der tatschliche Entwicklungsvorgang unseres Wissens; „Stationen“ sind jeweilige Wissenszustnde. Erfordert wird nun, die Einschrnkung der Wahrheit auf tatschlich zu verifizierende Aussagen aufzuheben, und zwar derart, dass dabei der Umfang der wahren Aussagen nicht vorausgesetzt wird. Hierfr fhre ich 416 Dies ist im brigen nicht der vollstndige Ausdruck von Prawitz’ eigener Auffassung (vgl. oben, Anm. 384), sondern vielmehr, was er als „further explanation“ der dummettschen Idee darstellt.
7.3 Zeit-neutrale Version (ZN)
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„mçgliche Verifikationsrouten“ ein, und daraus ergibt sich folgende Version: ZN: Eine Aussage ist wahr gdw. sie an irgendeiner Station der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten verifiziert wird. Die tatschliche und die mçglichen Verifikationsrouten bilden eine baumartige Struktur, wie sie in Bild 4 dargestellt wird; ich nenne diese fortan „Baum der Verifikationsrouten“. (Es gibt nur eine tatschliche Verifikationsroute, da es nur eine einzige tatschliche Zukunft gibt.) Wie sollen nun die „mçglichen Verifikationsrouten“ definiert werden? Fangen wir mit einer negativen Charakteristik an: Nicht nur, dass auf einer Verifikationsroute widersprchliche Aussagepaare nicht verifiziert werden drfen. Widerspruchsfrei soll auch der ganze Baum der Verifikationsrouten sein. Das heißt, Gesamte Widerspruchsfreiheit: Wird eine Aussage auf einer Verifikationsroute verifiziert, werden ihr widersprechende Aussagen auch auf keiner anderen Verifikationsroute verifiziert.
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Dadurch wird die Mçglichkeit ausgeschlossen, dass sich eine Aussage auf einer Verifikationsroute als wahr und zugleich auf einer anderen als falsch erweist.417 Allerdings ist diese Charakteristik bloß negativ. Kann berdies nichts Positives ausgesagt werden? Eine naheliegende Antwort ist: Es handelt sich bei den mçglichen Verifikationsrouten nicht um bloß logisch mçgliche, sondern vielmehr um aktual zugngliche Wissenszustnde.418 Damit aber 417 Hierin weicht der Baum der Verifikationsrouten von dem Kripke- und dem BethModel fr die Semantik der intuitionistischen Logik grundstzlich ab. In diesen Modellen wird erlaubt, dass eine Aussage auf einem Zweig wahr, aber auf einem anderen falsch wird. (Vgl. Bild 5; in beiden stellt sich A auf dem rechtesten Zweig als falsch heraus.) Der Grund ist, dass sie fr die Semantik der logischen Konstanten arrangiert sind, so dass es einerlei ist, ob einzelne Elementaraussagen wahr oder falsch sind. Carl Posy rekurriert ebenfalls auf eine hnliche baumartige Struktur der „possible epistemic states“, um sein Konzept des „semantic success“ (ein Analogon der Wahrheit) zu erklren. Er weist dabei auf eine Verwandtschaft seiner baumartigen Struktur mit dem Kripke- und dem Beth-Model hin; vgl. ders. 1981, S. 320 und 1983, S. 84 und 1990, S. 71 f. Dieser Hinweis ist aber irrefhrend, weil er den falschen Anschein erweckt, als ob Posy mit „possible epistemic states“ nur die logische Mçglichkeit meinte. – Allerdings przisiert er nicht, wie das Wort „possible“ dabei zu deuten ist, was gerade Gegenstand der hiesigen Erçrterung ist. 418 Crispin Wright stçßt auf dasselbe Problem, wenn er die „states of information“, um die es in seiner Definition der „superassertibility“ geht, erlutert: „The reader should be reminded that the range of the states-of-information quantifier in the characterisation of superassertibility does not comprise all merely possible states of information [. . .] nor is it restricted to actually occurring such states. Rather it comprises an intermediate set: the actually accessible states of information – states
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wird das Problem nur verschoben. Es muss erlutert werden, was die „aktuale Zugnglichkeit“ genau bedeutet. Hierbei muss beachtet werden, dass folgende Erluterungsweise abgelehnt werden muss: „Mçgliche Verifikationsrouten sind diejenigen, auf denen die Aussagen, die zwar auf der tatschlichen Verifikationsroute niemals verifiziert werden, dennoch wahr (bzw. sachgemß verifizierbar) sind, verifiziert werden wrden“. Hiermit wird der Umfang der wahren Aussagen als explicans vorausgesetzt, was zum hiesigen Zweck zirkulr ist. Die mçglichen Verifikationsrouten mssen vielmehr erkenntnisimmanent erlutert werden, nmlich ausschließlich in Rekurs auf Umstnde aufseiten der Erkenntnissubjekte. Ich schlage folgende Erluterung vor: Unsere tatschlichen Erkenntnisse werden auch bedingt von unseren okkasionellen Umstnden, die fr zu erkennende Objekte irrelevant sind. Zum Beispiel: In der Praxis der Forschung ist es manchmal nçtig, von einigen gleich attraktiv aussehenden Hypothesen (oder Denkrichtungen, Fragestellungen, u. a.) eine auszuwhlen und die anderen außer Acht zu lassen; ein solcher Sprung ins Dunkle beeinflusst, welche Ergebnisse wir im Endeffekt bekommen werden. Forschung lsst sich zudem von anderen kontingenten Zustnden (z. B. geistigen, kçrperlichen, oder sogar auch finanziellen) beeinflussen; das Aussterben des ganzen Menschengeschlechts ist ein extremstes Beispiel dafr. In Anbetracht dieses Umstandes kann man sich vorstellen: Wenn die Umstnde andere gewesen wren, wrden wir andere Erkenntnisse erhalten, als wir tatschlich haben. Die „mçglichen Verifikationsrouten“ reprsentieren derartige kontrafaktische Erkenntnisvorgnge. Kurzum: Sie sind Verifikationsrouten, die eingeschlagen werden wrden, wenn die okkasionellen Umstnde aufseiten der Verifikationssubjekte andere wren. Diese Charakterisierung entkommt der besagten Zirkeldefinition. Sie ist ausschließlich erkenntnisimmanent. berdies kann sie auch Kants Gedanken, dass wirkliche raumzeitliche Gegenstnde „in dem mçglichen Fortschritt der Erfahrung“ angetroffen werden mssen (A493/B521; vgl. oben, 7.1.2 (B)), gebhrend wiedergeben. Die mçglichen Verifikationsrouten reprsentieren nmlich mçgliche Fortschrittsgnge unserer Erfahrung.419 of information which this world, constituted as it is, would generate in a suitably receptive, investigating subject“ (ders. 1996, S. 922, Anm. 15). Er lsst aber unerlutert, wie diese „actual accessibility“ genau zu deuten ist. 419 Derart kann man, Van Cleve entgegen (vgl. oben, Anm. 396), die „mçgliche“ Erfahrung als wahrheitsrelevant anerkennen.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
Es ist hier besonders zu betonen, dass die Annahme von mçglichen Verifikationsrouten, wie sie oben charakterisiert wurden, sehr anspruchslos ist. Sie entscheidet z. B. nichts darber, was auf einzelnen Verifikationsrouten in concreto erkannt (bzw. verifiziert) werden wird. Dies ist auch sachlich offenkundig. Wir kçnnen nicht im Voraus wissen, was wir in der Zukunft erfahren werden, geschweige denn, was wir mçglicherweise erfahren wrden.420 Der Baum der Verifikationsrouten ist kein „Stein der Weisen“, der das Unmçgliche mçglich macht. Seine Pointe liegt darin, dem Anti-Realismus die Mçglichkeit offen zu halten, dass auch diejenigen Aussagen, die man nicht tatschlich verifizieren wird, trotzdem wahr sein kçnnen. – Dieses unscheinbare Ergebnis liefert jedoch den Schlssel zur kantischen Auflçsung der Antinomien, wie gleich gezeigt wird. Damit ist die Bedeutung der „Verifizierbarkeit“ festgelegt worden. Diese bedeutet nmlich, an irgendeiner Station der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten verifiziert zu werden. – Der Prgnanz zuliebe verwende ich fortan auch die Termini „verifizierbar“ und „erkennbar“, dabei beachte man, dass sie im gerade definierten Sinne zu nehmen sind. Weitere Erluterungen von ZN werden im nchsten Unterabschnitt gegeben. Hier stelle ich fest, dass diese Version die These der kantischen Auflçsung der Antinomien, dass die Bedingungsreihen weder endlich noch aktual-unendlich seien, erfolgreich untersttzt; dies war das Hauptmotiv der hiesigen Untersuchung der zeit-neutralen Version. Zunchst bezglich der Endlichkeit: In ZN wird die Lnge einer Bedingungsreihe mit der Lnge des mçglichen Regressus gleichgesetzt. Demzufolge resultiert aus dem Umstand, dass der tatschliche Regressus endlich sein wird (selbst wenn er de facto der Fall sein wird), nicht die Endlichkeit der Bedingungsreihe selbst. Die letztere Endlichkeit erfordert, dass selbst der lngste mçgliche Regressus allenfalls endlich ist. In diesem Fall soll die Bedingungsreihe ein Glied haben, fr das weitere Glieder nicht gefunden werden kçnnen. Ein solches Glied ist nichts Anderes als ein „schlechthin unbedingtes“ Glied, dessen Existenz aber durch Kants metaphysische Argumente gegen die Endlichkeit der Bedingungsreihen a priori verneint wird (vgl. 7.1.1, S. 195 f.). Daraus wird geschlossen, dass keine Bedingungsreihe endlich ist. 420 Zwar kann die tatschliche Verifikationsroute indexikalisch identifiziert werden, da es nur eine einzige tatschliche Zukunft gibt. Eine solche Maßnahme ist aber fr mçgliche Verifikationsrouten nicht anwendbar.
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Bezglich der aktualen Unendlichkeit bedarf es einer besonderen Erwgung. Die Argumentation gegen diese Alternative lautet: Die unendliche Totalitt ist nicht vollstndig erkennbar; daraus folgt in ZN, dass keine Bedingungsreihe aktual-unendlich ist. Es gibt Interpreten, die diese Argumentation ineffektiv finden. Es ist hier instruktiv, eine solche Kritik von James Van Cleve zu untersuchen: „Consider first [Kant’s] reason for denying the infinitude of a series. I grant for the sake of argument that if someone starts having perceptions now and never stops, it will never be true that he has had infinitely many perceptions. Still, it does not follow that the series of his perceptions is not infinite, for if he starts now and never stops, he will have infinitely many perceptions. It is true that he will never have had infinitely many perceptions, but this is irrelevant. The series of his perceptions is infinite for the same reason that the series of integers is infinite: none is the last.“ (Ders. 1999, S. 70)421
Zuerst muss bemerkt werden: Wenn Van Cleve hier mit „infinitude“ die Unendlichkeit im neutralen Sinne meinte, wre seine Kritik verfehlt. Was Kant ablehnt, ist nicht die Unendlichkeit schlechthin, sondern die Unendlichkeit einer Totalitt, nmlich die aktuale Unendlichkeit. Seine Kritik kann aber auch anders gedeutet werden, nmlich wie folgt: Nehmen wir mit Kant an, dass der Regressus der Bedingungsreihen endlos ist. Im endlosen Regressus gibt es kein Stadium, bis zu dem man unendlich viele Glieder vollstndig aufgezhlt haben wird. Jedoch kann man immerhin sagen, dass man durch einen endlosen Regressus unendlich viele Glieder aufzhlen wird. Denken wir nun die Summe von allen so aufzuzhlenden Gliedern, dann ist die Bedingungsreihe mit dieser Summe zu identifizieren. Diese Summe muss aktual-unendlich sein, weil sie ex hypothesi unendlich viele Glieder vollstndig in sich hat. Es ist hierbei irrelevant, dass eine solche Summe an keinem einzelnen Stadium des Regressus erreicht werden kann, denn es handelt sich dabei nicht um Glieder, die man bis zu irgendeinem Zeitpunkt aufgezhlt haben wird, sondern vielmehr um Glieder, die man durch den endlosen Regressus aufzhlen wird. 422 Diese Argumentation hngt davon ab, ob die Konstruktion einer solchen Summe zugelassen werden kann. Und meines Erachtens muss Van Cleve sie zulassen, eben wegen seiner idealistischen Kant-Interpretation. 421 Vgl. auch die wesentlich gleiche Kant-Kritik von Bennett 1974, S. 121 – 5; vgl. oben, 4.3.2, Anm. 205. 422 Aufgrund dessen stellt Van Cleve folgende Diagnose auf: Bei seiner Zurckweisung der Unendlichkeit der Bedingungsreihe konfundiert Kant dazwischen, einerseits dass „for every m, it is possible to go beyond m“ und andererseits dass „it is possible, for every m, to go (have gone?) beyond m“ (ibid., S. 71).
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
Er unterscheidet den „idealism“ vom Anti-Realismus, wie in 1.4 (C) erklrt wurde. Der relevante Punkt ist hier, dass der „idealism“ im Sinne Van Cleves ein Anti-Realismus rumlicher Gegenstnde ist, aber zugleich einen Realismus mentaler Akte impliziert. Dieser Realismus besagt: Mentale Akte sind zwar erkennbar fr ihre Akteure zu der Zeit, zu der sie stattfinden, dies ist aber nur wegen ihrer spezifischen Beschaffenheit (dass sie nmlich per se Erkenntnisse sind und diese auch als solche reflexiv erkennbar sind). Sie besitzen dennoch eine erkenntnisunabhngige Existenz in dem Sinne, dass fr ihre Existenz diese Erkennbarkeit nicht konstitutiv ist (d. h., sie nicht deswegen existieren, weil ihre Akteure sie als solche erkennen).423 Demgemß kommt es z. B. vor, dass es fr die Existenz eines mentalen Aktes zu einer Zeit irrelevant ist, dass dieser mentale Akt auch zu einer anderen Zeit erkannt werden kann. Diese anscheinend harmlose Annahme ergibt dennoch im hiesigen Kontext eine gravierende Konsequenz. Ihr zufolge ist nmlich die Setzung der Totalitt von „allen mentalen Akten in aller Zeit“ unvermeidlich. Man kann zwar niemals eine solche Totalitt vollstndig erkennen, aber dies ist hier irrelevant, denn die betreffende Annahme sagt eben, dass alle mentalen Akte unabhngig davon ihre eigene Existenz erhalten, dass sie zu irgendeiner Zeit vollstndig erkannt werden oder berhaupt erkannt werden kçnnen. – Der Realismus mentaler Akte nimmt nmlich einen zeit-transzendenten Standpunkt („View from Nowhence“, sozusagen) an, der nicht in der Zeit situiert ist, und von dem aus alle mentalen Akte, ob in der Vergangenheit oder Zukunft, in gleicher Weise betrachtet werden. Demzufolge wird die zeitliche Wirklichkeit berhaupt, sowohl die vergangene als aber auch die zuknftige, als eine statische, quasi-„gegebene“ Totalitt konzipiert.424
423 Ich lehne mich hierbei an Crispin Wrights berlegung der „Extremal Condition“ (ders. 1992, S. 123 f.) an. Wright unterscheidet den Fall, in dem beste Urteile fr die Wahrheit konstitutiv sind, von dem Fall, in dem lediglich garantiert wird, dass beste Urteile Tatsachen in unfehlbarer Weise darstellen (wie dem Fall des Schmerzens). 424 Ich muss hier betonen, dass dieser Realismus nicht per se eine abstruse Position ist. Er entspricht gerade dem Common-Sense Realismus hinsichtlich zeitlicher Vorgnge, dessen Verneinung vielmehr als unnatrlich erscheinen wrde. Ich lehne ihn hier nur deswegen ab, weil er mit der kantischen Auflçsung der Antinomien unvereinbar ist.
7.3 Zeit-neutrale Version (ZN)
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Der „idealism“ la Van Cleve erkennt zwar an, dass Glieder der Bedingungsreihen nur abhngig von unseren mentalen Akten existieren.425 Er setzt aber, gerade wegen seines Realismus mentaler Akte, die zeit-umfassende Totalitt von allen mentalen Akten, die ihrerseits die Totalitt von allen zuknftigen mentalen Akten impliziert, und diese fhrt zu jener Summe von „allen Gliedern, die man durch endlosen Regressus aufzhlen wird“. Dafr bedarf es allerdings keiner bermenschlichen Fhigkeit (wie „super-task“), sondern bloß einer logischen Leistung mithilfe des Wortes „all“ unter der Voraussetzung des Realismus mentaler Akte. So wird Van Cleves idealistische Interpretation in der Tat auf die Konsequenz festgelegt, dass die Bedingungsreihen aufgrund des endlosen Regressus aktual-unendlich sind.426 Dies spricht aber nicht fr das Schei425 Eben deswegen ist dieser Idealismus immerhin eine Version des Anti-Idealismus (im Sinne der vorliegenden Abhandlung) hinsichtlich rumlicher Gegenstnde. Der Realismus wrde behaupten, dass rumliche Gegenstnde selbst von realistisch verstandenen mentalen Akten unabhngig existieren. Die Unterscheidung der strittigen Klassen ist hierbei besonders wichtig. 426 Ein hnliches Problem haftet auch an Dag Prawitz’ Konzeption der „objektiv“ existierenden Beweise bzw. Verifikationen (vgl. oben, Anm. 384). Muss sie nicht die aktual-unendliche Totalitt z. B. aller natrlichen Zahlen zulassen? Mir scheint folgender Gedankengang berzeugend (eine Bemerkung: „Beweis“ bedeutet im Intuitionismus das Konstruktionsverfahren eines mathematischen Gegenstands): Der prawitzschen Konzeption zufolge existieren Beweise unabhngig davon, dass wir sie erkennen. Dadurch wird zugelassen, die Menge von „allen Konstruktionen einzelner natrlicher Zahlen“ zu konzipieren, und sie fhrt im Endeffekt zur Totalitt aller natrlichen Zahlen. Es ist hierbei irrelevant, dass wir niemals (d. h. an keiner einzelnen Station der Verifikationsrouten) solche Konstruktionen vollstndig erkennen werden, denn es ist eben die Annahme Prawitz’, dass solche Konstruktionen unabhngig von unserer Erkenntnis existieren. (Obschon nicht bezglich der Problematik der aktualen Unendlichkeit, sondern vielmehr bezglich des Problems des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten, erhebt Martino/Usberti 1994 (S. 86) einen verwandten Einwand gegen die prawitzsche Konzeption der objektiven Existenz der Verifikation.) Darauf mag Prawitz vielleicht folgendermaßen entgegnen: Im Intuitionismus mssen alle logischen Konstanten, somit auch das Wort „all“, intuitionistisch verstanden werden und dadurch wird so etwas wie die aktual-unendliche Menge von „allen Konstruktionen einzelner natrlicher Zahlen“ abgelehnt. (Eine verwandte Argumentation findet sich in ders. 1998a, S. 48 und 1998c, S. 288 f.) Eine derartige Entgegnung ist aber meines Erachtens nicht berzeugend. Das Problem ist: Wenn man einmal die objektive Existenz der Beweise zugesteht, bleibt kein Motiv mehr bestehen, so verstandene Beweise intuitionistisch zu behandeln (vgl. unten, Appendix, S. 336, fr Details). Dies ist der Grund dafr, dass ich hier Prawitz’ Ansatz nicht aufgenommen habe.
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tern des kantischen Arguments, sondern vielmehr fr das der van cleveschen Interpretation desselben. Abzulehnen ist deren implizite Annahme des Realismus mentaler Akte. Es scheint auf den ersten Blick, dass ZN eben wegen seiner zeit-neutralen Wahrheitskonzeption jenen zeit-transzendenten Standpunkt einnehmen muss. Dies ist jedoch nicht der Fall. Man erinnere sich daran, dass ZN verlangt, dass wahre Aussagen an irgendeiner Station der Verifikationsrouten verifiziert werden.427 Man kann aber den zeit-transzendenten Standpunkt, nmlich die Lage, in welcher der Baum der Verifikationsrouten in toto berblickt werden kçnnte, an keiner einzelnen Station erreichen. ZN betrachtet den Baum der Verifikationsrouten nicht als eine quasi-„gegebene“ Totalitt, sondern vielmehr als einen potentiell-unendlichen Prozess, der im Laufe der Zeit erweitert wird. Dadurch blockiert ZN die Konsequenz, dass die Bedingungsreihen aktual-unendlich sind, denn dafr wre es erforderlich, dass man unendliche Totalitten an irgendeiner einzelnen Station vollstndig erkennen kçnnte, was verstndlicherweise unmçglich ist. ZN weist berdies auch die Konsequenz zurck, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich seien. Dadurch wird eine ontologische Grundlage fr die potentielle Unendlichkeit geliefert, die auf Erkenntnisobjekte anwendbar ist und nicht mit der jeweiligen Endlichkeit zusammenfllt. Dieser Punkt verdient eine gesonderte Erçrterung. Die Zurckweisung der Mçglichkeit der jeweiligen Endlichkeit luft folgendermaßen: ZN verneint, genauso wie ZN–, die Auffassung, dass einzelne Glieder der Bedingungsreihen erst dann zur Existenz kommen, wenn sie von uns erkannt werden. Jeder Gegenstand, der an irgendeiner Station der Verifikationsrouten erkannt wird, ist als existent zu qualifizieren wie die schon erkannten; es ist fr seine Existenz irrelevant, an welcher Station er erkannt wird. Meine Maßnahme ist, anstatt auf die statisch-atemporal verstandene „objektive Existenz“ der Verifikationen la Prawitz, vielmehr auf die dynamisch-zeitlich konzipierten Verifikationsrouten zurckzugreifen, um die wahrheitsrelevante Verifikationen zu charakterisieren. Dieser dynamische Charakter erlaubt, dem oben vorgefhrten Gedankengang zu begegnen, wie im Haupttext erçrtert wurde. Er erregt aber Bedenken, wie diese Begrifflichkeit eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption berhaupt realisieren kann. Diesen Punkt behandle ich in Anm. 429. 427 Dasselbe gilt auch fr ZN– im letzten Unterabschnitt. Dieses kann also ebenfalls die aktuale Unendlichkeit der Bedingungsreihen zurckweisen.
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Man mag hier einen Verdacht hegen: Fhrt diese Zurckweisung der jeweiligen Endlichkeit im Endeffekt nicht zur Bejahung der aktualen Unendlichkeit? Denn sie legt nahe, dass einzelne Glieder der Bedingungsreihen vor der tatschlichen Fhrung des Regressus existieren. Daraus folgt, so der Verdacht, dass solche Glieder bereits vollstndig existieren, unabhngig von allem Regressus, so dass nicht-endliche Bedingungsreihen nicht anders als aktual-unendlich sein kçnnen. Demgemß ist die Aufgabe eines Regressus lediglich, bereits vollstndig existierende Glieder im Nachhinein zu entdecken. Dies entspricht der Metapher der „Entdeckung“ (fr den mathematischen Realismus), welcher Intuitionisten ihre eigene Metapher der „Kreation“ entgegenstellen. Aber auch die letztere Metapher ist nicht hilfreich, denn sie legt vielmehr den Eindruck nahe, als ob die Glieder der Bedingungsreihen erst dann zur Existenz kommen, wenn sie tatschlich „konstruiert“ werden. Dies bringt uns bloß zu der jeweiligen Endlichkeit zurck. Darauf entgegne ich, dass dieser Verdacht auf folgender Voreingenommenheit beruht, die prima facie sehr natrlich scheint, aber in ZN abgelehnt werden muss: Wenn etwas tatschlich existiert, muss es entweder unabhngig von unserer Erkenntnis „an sich“ existieren, oder wenn es abhngig davon sein soll, in unserer Erkenntnis (oder Gedanken) tatschlich erhalten sein;428 gerade dadurch wird nahegelegt, dass die Glieder der Bedingungsreihen entweder eine erkenntnisunabhngige Existenz haben oder erst mit ihrer Erkenntnis zur Existenz kommen. Diese Dichotomie ist zwar sehr naheliegend, aber schçpft nicht alle mçglichen Alternativen aus. ZN erçffnet folgende Alternative: Etwas existiert tatschlich, wenn es (im oben definierten Sinne) erkennbar ist; erkennbare Dinge existieren tatschlich, auch wenn sie noch nicht erkannt worden sind.429 428 Nicht nur die Metapher der „Entdeckung“, sondern auch die der „Kreation“ beruht auf dieser Dichotomie. Dies deutet darauf hin, dass auch die letztere Metapher fr die Charakterisierung des zeit-neutral konzipierten Intuitionismus nicht vçllig geeignet ist. 429 Aufgrund dessen wird erklrt, warum der dynamisch-zeitlich konzipierte Baum der Verifikationsrouten eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption (und somit eine statisch-atemporal verstandene potentielle Unendlichkeit) ermçglichen kann. Die Verifikationsrouten als solche sind zeitliche Vorgnge, so dass sie allenfalls prozessual-unendlich – also jeweils endlich – sind. Aber die „Verifizierbarkeit“, die oben in Rekurs auf solche Verifikationsrouten definiert wurde, ist trotzdem zeitneutral, weil dabei (obschon nicht jener zeit-transzendente Standpunkt eingenommen wird) gerade davon abgesehen wird, wann (d. h. an welcher konkreten
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Aufgrund dessen wird verstndlich, warum die Ablehnung der jeweiligen Endlichkeit in ZN nicht zur Bejahung der aktualen Unendlichkeit fhrt. Es kommt hier auf die Eigenart des Begriffs der Existenz in ZN an: „Existieren“ soll „erkennbar sein“ bedeuten. Demgemß gilt zwar, dass die Glieder der Bedingungsreihen vor der tatschlichen Fhrung des Regressus existieren, weil jedes von ihnen erkennbar ist, jedoch gilt nicht, dass sie bereits vollstndig existieren, weil unendlich viele Glieder nicht vollstndig erkannt werden kçnnen. – So liefert ZN die ontologische Grundlage fr den Begriff der „potentiellen Unendlichkeit“, die weder mit der jeweiligen Endlichkeit noch mit der aktualen Unendlichkeit zusammenfllt. Damit besttigt sich, dass aufgrund von ZN sowohl die Endlichkeit als auch die aktuale Unendlichkeit der Bedingungsreihen zurckgewiesen werden. In dieser Hinsicht kann ZN als eine mçgliche Option fr den kantischen TrI qualifiziert werden. 7.3.3 Weitere Erluterungen In diesem Unterabschnitt erlutere ich die Version ZN noch weiter. Ich diskutiere dabei folgende Themen: (A) Zustzliche Bemerkungen zu „mçglichen Verifikationsrouten“, (B) Logik: Negation und Bivalenzprinzip und (C) Regressus in infinitum/in indefinitum. (A) In Bezug auf den Baum der tatschlichen und mçglichen Verifikationsrouten fge ich drei Bemerkungen hinzu: (1) Mçglichen Verifikationsrouten sind diejenigen, welche fr uns Menschen mçglich sind.430 Dadurch werden z. B. Annahmen wie „Wenn Station) die Verifikation geleistet wird. Und indem weiterhin diese „Verifizierbarkeit“ mit der Wahrheit gleichgesetzt wird, wird im Endeffekt auch die Wahrheit selbst zeit-neutral gemacht. – Meine Strategie war nmlich, eine statischatemporale Wahrheit eben durch Vermittlung einer dynamisch-zeitlichen Konzeption zu erreichen. Diesen Umweg finde ich erforderlich, um eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption im Rahmen des Intuitionismus auszuarbeiten, denn der Umstand, dass eine Verifikation nicht anders als zu einer bestimmten Zeit stattfindet, kann nicht einfach ignoriert werden (sonst stieße man auf die Schwierigkeit, die in Anm. 426 fr die prawitzsche Maßnahme aufgewiesen wurde). Beim bisherigen Versuch habe ich mich bemht, zu zeigen, dass die Bercksichtigung dieses Umstandes nicht unbedingt zur Zeit-Relativierung der Wahrheit fhren muss. 430 Damit lsst sich auch die endliche Idealisierung der menschlichen Erkenntnisfhigkeit gestatten; wie bei Kants Annahme, dass wir „magnetische Materie“ direkt wahrnehmen kçnnten, „wenn unsere Sinne feiner wren“ (A226/B273). Diese Idealisierung erlaubt, solche Aussagen, die zwar nicht in praxi, aber doch im Prinzip
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„super-task“ mçglich wre, . . .“ und „Wenn wir eine intellektuelle Anschauung htten, . . .“ ausgeschlossen. Dadurch wird gewhrleistet, dass Kants „synthetische Urteile a priori“, die von den apriorischen Bedingungen unserer Erfahrung handeln, auch in ZN als formale Kriterien der Wahrheit fungieren. Sie schreiben nmlich a priori vor, dass raumzeitbezgliche Aussagen, die ihnen widersprechen, berhaupt nicht verifizierbar und somit nicht wahr sind. (2) ZN ist vertrglich mit der Annahme der Existenz der „Dinge an sich“, sogar auch damit, dass diese durch Affektion an unserer empirischen Erkenntnis beteiligt sind; diesen Umstand werde ich in 8.4.2 thematisieren. (3) Es wurde gesagt, dass man nicht im Voraus feststellen kann, was in concreto auf mçglichen Verifikationsrouten erkannt werden soll. Dafr gibt es eine Ausnahme. Wenn man nachweist, dass ein Gegenstand effektiv entdeckbar ist (ohne ihn wirklich zu entdecken), kann man schon damit konkludieren, dass es eine mçgliche Verifikationsroute gibt, auf der dieser Gegenstand entdeckt werden wird. (Dieser Punkt ist relevant fr das nachfolgende Thema (C).) (B) ZN fordert eine spezielle Behandlung der Negation. Ich zeige zunchst die Verifikationsbedingung negativer Aussagen, der gemß die Wahrheitsbedingung derselben definiert wird. Um die Negation einer Aussage zu verifizieren (d. h. um diese Aussage zu falsifizieren), ist in ZN (anders als in ZN–) die Feststellung, dass diese Aussage nicht auf der tatschlichen Verifikationsroute verifiziert werde, noch nicht hinreichend. Es mssen auch mçgliche Verifikationsrouten bercksichtigt werden. Demnach wird folgendes Schema erreicht: d
A wird an Station n verifiziert (d. h. A wird an n falsifiziert) gdw. an n nachgewiesen wird, dass A an keiner Station der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten verifiziert werden wird.
Ein derartiger Nachweis kann nicht dergestalt gefhrt werden, dass man alle mçglichen Stationen beobachtet und damit feststellt, dass die betreffende Aussage an keiner von ihnen verifiziert wird, denn dergleichen kann an keiner einzelnen Station durchgefhrt werden. Ein Nachweis ist vielmehr nur durch reductio ad absurdum mçglich, nmlich durch Aufweisung, dass entscheidbar sind, (wie „1000010000 +1 ist eine Primzahl“) als entscheidbar zu klassifizieren.
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die zu verneinende Aussage in sich oder einer schon verifizierten Aussage widerspreche. Gemß dieser Verifikationsbedingung wird nun folgendes Schema fr die Wahrheitsbedingung negativer Aussagen gewonnen: d
d
A ist wahr gdw. A an irgendeiner Station verifiziert wird [Allgemeine Forderung von ZN], das heißt gdw. an irgendeiner Station nachgewiesen wird, dass A an keiner Station der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten verifiziert werden wird.431
Die rechte Seite dieses Bikonditionals drckt zugleich die Falschheitsbedingung von A aus,432 denn die Falschheit einer Aussage bedeutet, dass die Negation derselben wahr ist (vgl. oben, 1.3, S. 30). Daraus geht hervor, dass das Bivalenzprinzip („Jede Aussage ist entweder als wahr oder als falsch bestimmt“) in ZN unvertretbar ist. Denn es wre in ZN gleichbedeutend mit Folgendem: HO: Jede Aussage wird entweder an irgendeiner Station verifiziert oder an irgendeiner Station falsifiziert.433 Dies ist eine abstruse, allzu optimistische Annahme, fr die wir bis dato keinen Beweis kennen, obwohl wir auch nicht dazu berechtigt sind, sie als falsch zu bewerten. ZN lehnt daher die Bejahung des Bivalenzprinzips ab, ohne es schlechthin zu falsifizieren.
d
d
d
431 Formal ausgedrckt: („x“ und „y“ sind Variablen ber Stationen der tatschlichen und mçglichen Verifikationsrouten, und „Sn A“ bedeutet, dass Aussage A an Station n verifiziert wird.) A ist wahr gdw. 9x (Sx A). [Allgemeine Forderung von ZN] A wird an n verifiziert (nmlich Sn A) gdw. Sn ( 9x (Sx A)). [Verifikationsbedingung] A ist wahr gdw. 9x (Sx A), das heißt gdw. 9x (Sx ( 9y (Sy A))). [Wahrheitsbedingung] 432 Man mag hier einwenden, dass diese Definition der Falschheit vom Intuitionismus abweicht, denn demzufolge wird die Falschheit einer Aussage einfach derart definiert, dass die Aussage an keiner Station („state of information“) verifiziert werde [ 9x (Sx A)]. Dieser Unterschied ist jedoch nur scheinbar. Zu beachten ist, dass in der intuitionistischen Logik auch die Quantifikation ber Stationen intuitionistisch gedeutet werden muss. Daraus resultiert, dass die Behauptung „Eine Aussage wird an keiner Station verifiziert“, intuitionistisch verstanden im Endeffekt damit zusammenfllt, dass diese Behauptung an irgendeiner Station verifiziert wird; dies entspricht meiner obigen Definition der Falschheit in ZN. 433 Dies entspricht dem sogenannten „hilbertschen Optimismus“ in der Mathematik, dass nmlich jedes mathematische Problem (ob affirmativ oder negativ) lçsbar sei. d
d
d
d
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Um aber das Bivalenzprinzip selbst in dieser schwcheren Form abzulehnen, muss man zumindest die Mçglichkeit zugestehen, dass vielleicht einige Aussagen auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben werden.434 Hierbei ist aber Folgendes zu beachten: Es ist in ZN nicht der Fall, dass solchen Aussagen der Wahrheitswert „Wederwahr-noch-falsch“ beigelegt wird, denn dies wrde in ZN bedeuten, dass es an irgendeiner Station nachgewiesen werde, dass sie weder verifizierbar noch falsifizierbar seien. Dergleichen ist aber unmçglich, denn die Unverifizierbarkeit einer Aussage an einer Station nachzuweisen, heißt der obigen Definition gemß geradezu, diese Aussage an dieser Station zu falsifizieren. Der Umstand, dass eine Aussage auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben werde, entspricht daher in ZN nicht dem Fall, dass sie weder wahr noch falsch sei, sondern vielmehr dem Fall, dass sie ewig unentschieden bleiben werde. (Die Argumentation dieses Absatzes ist im Rahmen von ZN nicht ganz unproblematisch. Dieses Thema betrifft aber ein sehr subtiles logisches Problem, deshalb erçrtere ich es im Appendix.) Die Ablehnung des Bivalenzprinzips erfordert eine Revision der Logik (oder zumindest die der klassisch-bivalenten Semantik). Ein Kandidat fr ZN ist die intuitionistische Logik. In der obigen Erçrterung habe ich in der Tat die intuitionistische Behandlung der Negation und Falschheit zum Vorbild genommen, obgleich nicht fr die Diskussion vorausgesetzt. Die intuitionistische Logik ist aber nicht die einzigmçgliche Option fr ZN. Fr ZN mçgen noch andere Logiken konstruierbar sein (z. B. das „dialogue system“ von Tomassi 2006). Zudem ist die intuitionistische Logik ohnehin nicht in toto auf den kantischen TrI anwendbar, wegen der zurzeit beiseite gelassenen Ungltigkeit der Monotonizitt im empirischen Diskurs. Das oben Festgestellte ist allenfalls eine minimale Bedingung, die von jeder Logik, die dem TrI angemessenen sein soll, unbedingt erfllt werden muss. In den nachfolgenden Abschnitten stelle ich modifizierte Versionen von ZN dar, aber dieses Kernelement wird auch von ihnen aufbewahrt.
434 Man kann sich z. B. vorstellen, dass Goldbachs Vermutung („Jede gerade Zahl ist die Summe von zwei Primzahlen“) unbewiesen sowie unwiderlegt bleiben wird, wie gut und lange immer das bezgliche Thema untersucht werden mag. Dergleichen soll in ZN als ein mçglicher Sachverhalt erachtet werden.
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(C) In 7.2.3 wurde Kants Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum dargelegt und besonders auf den Fall von ZR angewandt. Wie verhlt es sich mit dieser Unterscheidung im Fall von ZN? Ich fasse hier das Ergebnis in 7.2.3 kurz zusammen: Der Regressus in infinitum betrifft die mereologischen Bedingungsreihen (der zweiten Antinomie), der Regressus in indefinitum hingegen die sonstigen Bedingungsreihen. Bei diesen Regressen gilt jeweils Folgendes fr die Glieder ihrer Bedingungsreihen: Inf.: Es ist fr jedes Glied a priori garantiert, dass man fhig ist, ihm nachfolgende Glieder zu entdecken (mit anderen Worten, dass nachfolgende Glieder effektiv entdeckbar sind). Indef.: Es ist nur so viel a priori garantiert, dass an keinem Glied festgestellt wird, dass ihm nachfolgende Glieder nicht entdeckt werden kçnnen. Diese Unterscheidung ist zwar per se rein epistemisch, bringt aber im Rahmen des Anti-Realismus einen bestimmten Unterschied bezglich der zu erkennenden Bedingungsreihen selbst hervor. Dieses Resultat wurde in 7.2.3 hinsichtlich einer moderaten Variante von ZR, nmlich MV, erçrtert. Aufgrund dieser Variante wird die missliche Konsequenz, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind, im Fall der mereologischen Bedingungsreihen vermieden, aber nicht in den sonstigen Fllen. ZN ist frei von dieser Konsequenz fr Bedingungsreihen aller Art, wie im letzten Unterabschnitt erklrt wurde. Es ist nun zu fragen, was sich in ZN aus dieser Unterscheidung vom Regressus in infinitum/in indefinitum ergibt. Um dies zu klren, paraphrasiere ich die obigen Formeln in der Terminologie der Verifikationsrouten: Inf.: Es ist fr jedes Glied a priori garantiert, dass dessen nchstes Glied an irgendeiner Station der (tatschlichen oder mçglichen) Verifikationsrouten entdeckt wird.435 Indef.: Es ist nur so viel a priori garantiert, dass dasjenige Glied auf keiner Verifikationsroute entdeckt wird, dessen nchstes Glied auf keiner weiteren Verifikationsroute entdeckt wird. 435 Dies ist zwar nicht die quivalente Paraphrase des Vorigen. Denn „an irgendeiner Station der Verifikationsrouten entdeckt werden“ deckt sich nicht mit „effektiv entdeckbar sein“. Das ist aber im hiesigen Kontext irrelevant, denn die neue Formel folgt immerhin aus der vorigen (vgl. oben, S. 301), was fr die hiesige Diskussion ausreicht.
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Das Erste bedeutet fr ZN, dass im Fall des Regressus in infinitum, nmlich fr die Glieder der mereologischen Bedingungsreihen, Folgendes gilt: (Q) Jedes Glied hat nachfolgende Glieder [8x9y (y folgt x nach)]. Das Zweite hingegen fhrt bloß zu einem schwcheren Resultat, dass nmlich die betreffenden Bedingungsreihen nicht-endlich sind, das heißt: 9y
d d
(R) Es gibt kein Glied, das keine nachfolgenden Glieder hat [8x (y folgt x nach)].
d d
Es ist hier von entscheidender Wichtigkeit, dass zwischen (Q) und (R) eine Differenz besteht.436 Ich erlutere dies an einem Beispiel: Nehmen wir an, dass wir einen Regressus in indefinitum bis jetzt bis zum n-sten Glied der Bedingungsreihe durchgefhrt haben. In diesem Fall kçnnen wir behaupten, dass nicht festgestellt werden kann, dass das n+1te Glied nicht erkannt werden kann; was in ZN zu (R) fhrt. Dadurch allein wird nicht garantiert, dass wir dieses Glied eines Tages tatschlich erkennen werden oder erkennen kçnnen. (R) garantiert nmlich nicht den Erfolg der Weiterfhrung des Regressus; es ist aber eben dergleichen Garantie, die in ZN fr (Q) gefordert wird. – Diese Differenz wrde allerdings verschwinden, sofern man auf die bliche Logik mit dem Bivalenzprinzip bestnde. Denn aus diesem wird die Elimination der doppelten Negation [ AS A] ohne weiteres abgeleitet und dadurch wird (R) in der Tat mit (Q) quivalent. Diese Schlussregel ist aber nicht absolut unantastbar, und in ZN wird sie samt dem Bivalenzprinzip tatschlich abgelehnt.437 436 Diese Differenz wird von Carl Posy in seiner Auslegung der ersten Antinomien (vor allem ders. 1983; vgl. auch ders. 1984a und 1984b) hervorgehoben. Posy argumentiert, dass die kantische Auflçsung der Zeit-Antinomie darin liegt, dass fr die zeitliche Bedingungsreihe nicht (Q), sondern lediglich (R) gilt (und in der intuitionistischen Logik aus dem Letzteren das Erstere nicht folgt). Er erçrtert jedoch dabei nicht den Fall der mereologischen Bedingungsreihen, fr die (Q) gilt, und somit auch nicht den Unterschied zwischen (Q) und (R) im Kontext der kantischen Unterscheidung zwischen dem Regressus in infinitum/in indefinitum. 437 Es ist hier zudem bemerkenswert, dass die standard-phnomenalistische Version (vgl. 7.1.2) auch die zeitliche und die rumlichen Bedingungsreihen (der ersten Antinomie), die auf dem Regressus in indefinitum grnden sollen, zu Bedingungsreihen vom (Q)-Typ macht, so dass sie die oben gezeigte Differenz zwischen den Auflçsungen der ersten und der zweiten Antinomie vernichtet. Sie fundiert die Wahrheit einer Aussage durch Verifikationen, die in „passenden Umstnden“ fr die Verifizierung/Falsifizierung dieser Aussage geleistet wrden. Es gilt nun, dass fr jedes Glied der zeitlichen bzw. der rumlichen Bedingungs-
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Ich fge zwei Bemerkungen hinzu: (1) (Q) bedeutet in ZN nicht, dass die diesbezglichen Bedingungsreihen aktual-unendlich sind. Dafr wre es erforderlich, dass unendlich viele Glieder an irgendeiner Station der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten vollstndig erkannt werden. Dergleichen wird von (Q) natrlich nicht impliziert.438 (2) Man kçnnte sagen, dass sowohl (Q) als auch (R) die potentielle Unendlichkeit der Bedingungsreihen reprsentieren, sofern man den Terminus „potentiell-unendlich“ bloß als „weder endlich noch aktual-unendlich“ versteht. Die obige Betrachtung zeigt aber, dass (Q) und (P) als distinkte Sorten der potentiellen Unendlichkeit zu unterscheiden sind. Dieser Umstand wird zwar nicht von Kant selbst explizit herausgestellt. Der betreffende Unterschied erklrt aber, warum Kant die Lehre des Regressus in infinitum/in indefinitum eben im Kontext der Auflçsung der Antinomien erçrtern musste, wo er nicht nur die Thesen und Antithesen der rationalen Kosmologie als unbegrndet kritisierte, sondern auch seine eigene Alternative zeigte, nmlich etwas Positives ber die Beschaffenheit der Bedingungsreihen aussagte (vgl. oben, 7.2.3). In dieser Hinsicht mçchte ich sagen, dass das Ergebnis der obigen Untersuchung vielmehr Kants eigene Absicht adquat wiedergibt.
reihen ein „passender Umstand“ leicht vorstellbar ist, unter dem man feststellen kann, ob das nchste Glied existiert oder nicht; dieser Umstand ist nmlich der Zeit- bzw. Raumteil, in dem dieses Glied liegt, falls es berhaupt existiert. (Ob ein bestimmter Zeit- bzw. Raumteil nicht leer ist, wre natrlich entscheidbar, wenn man sich in diesen Zeit- bzw. Raumteil versetzen kçnnte. Dass eine solche SichHinein-Versetzung manchmal faktisch unmçglich ist, ist hier irrelevant. Die standard-phnomenalistische Version fordert nur die Vorstellbarkeit solcher „passenden Umstnde“.) Es wird aber durch Kants metaphysische Argumente gegen die Endlichkeit der Bedingungsreihen (vgl. oben, 7.1.1, S. 258 f.) a priori ausgeschlossen, dass unter diesem Umstand das gesuchte Glied nicht entdeckt wird. Daraus folgt, dass es fr jedes Glied einen „passenden Umstand“ gibt, in dem das nchste Glied entdeckt werden wrde. Dies bedeutet aber in der standard-phnomenalistischen Version geradezu, dass es fr jedes Glied das nchste Glied gibt, und dies resultiert in (Q). Dies ist allerdings kein entscheidendes Argument dafr, die standard-phnomenalistische Version exegetisch zurckzuweisen. Sie ist aber ohnehin dazu verpflichtet, die Differenz zwischen den Auflçsungen der ersten und der zweiten Antinomien in ihrer eigenen Weise zu erklren. 438 Dieser Umstand ist derselbe, auf den in 7.2.3 in Bezug auf ZR hingewiesen wurde; vgl. oben, S. 285.
7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte
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7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte In diesem Abschnitt erçrtere ich zwei von den bisher ausgeklammerten Diskussionspunkten. Es handelt sich in 7.4.1 um Kants Determinismus der raumzeitlichen Wirklichkeit und in den nachfolgenden zwei Unterabschnitten um die Mçglichkeit des Verlusts der Verifikation/Verifizierbarkeit. In 7.4.2 erklre ich den Umstand, dass die Rcksichtsnahme auf diese Mçglichkeit den Anti-Realismus wiederum zu einer Zeit-Relativierung der Wahrheit zu fhren scheint. Ich zeige aber in 7.4.3, das Problem der Verifikationssubjekte mit einbeziehend, dass eine solche Zeit-Relativierung vermeidbar ist. In diesem Abschnitt wird das Problem der Anfechtbarkeit immer noch außer Acht gelassen. Es ist das Thema des nchsten Abschnitts. 7.4.1 Determinismus und Bivalenzprinzip In 7.3.3 (B) wurde gezeigt, dass in ZN das Bivalenzprinzip abgelehnt wird, denn dieses fhrt in ZN zu der These, dass jede Aussage entweder verifizierbar oder falsifizierbar ist. Wenn aber diese These in irgendeiner Weise gerechtfertigt wird, z. B. durch erkenntnistheoretische Untersuchung, wird das Bivalenzprinzip auch in ZN legitimiert. Es scheint nun, dass man in der KdrV einen Anhalt fr eine solche Legitimierung des Bivalenzprinzips finden kann. Es handelt sich um den Determinismus der raumzeitlichen Wirklichkeit, der eine Konsequenz der Zweiten Analogie der Erfahrung sein soll.439 Wie kommt man aber berhaupt auf den Gedanken, dass der Determinismus das Bivalenzprinzip untersttzt? Der Gedankengang kçnnte folgendermaßen skizziert werden: Es wird manchmal behauptet, wie in der Annahme des „laplaceschen Dmons“, dass der Determinismus folgende erkenntnistheoretische These impliziert: 439 Dass Kant selbst einen Determinismus der raumzeitlichen Wirklichkeit befrwortet, besttigt sich durch folgende Textpassagen: (1) „[. . .], so wrde jede Begebenheit durch eine andere in der Zeit nach notwendigen Gesetzen bestimmt sein“ (A5347B562). (2) „Denn aus der ersteren [sc. Nothwendigkeit im Causalverhltnisse] folgt: daß eine jede Begebenheit, folglich auch jede Handlung, die in einem Zeitpunkte vorgeht, unter der Bedingung dessen, was in der vorhergehenden Zeit war, nothwendig sei“ (Kritik der praktischen Vernunft, Ak. 5, S. 94). Die Tatsache, dass Kant im Antinomiekapitel gar nicht versucht, den Determinismus zu beweisen, weist darauf hin, dass er diesen als Konsequenz der Zweiten Analogie der Erfahrung erachtet hat.
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(S) Jeder einzelne raumzeitliche Gegenstand zu jedem (vergangenen sowie zuknftigen) Zeitpunkt ist im Prinzip erkennbar durch Kausalschluss aus dem jetzigen Weltzustand.440 Daraus scheint zu folgen, dass jede raumzeitbezgliche Aussage im Prinzip verifizierbar oder falsifizierbar ist, und damit wird das Bivalenzprinzip auch im Rahmen von ZN legitimiert. Dieser Gedankengang kann in mancher Hinsicht kritisiert werden.441 Ich greife dennoch hier nur folgenden Punkt auf, dessen Erçrterung im hiesigen Kontext besonders wichtig ist: (S) macht den Regressus der kausalen Bedingungsreihen (der dritten Antinomie) zum Regressus in infinitum, was mit Kants Ansicht ber den Unterschied vom Regressus in infinitum/in indefinitum kollidiert. Dieser Diskussionspunkt bedarf einer weiteren Erluterung. (S) verlangt, dass der Kausalschluss immer erfolgreich sein kann; das heißt: (T) Es wird fr jeden raumzeitlichen Gegenstand garantiert, dass man seine Natur-Ursachen442 erkennen kann. Dies kann in der Terminologie der Bedingungsreihe folgendermaßen paraphrasiert werden: Fr jedes Glied der kausalen Bedingungsreihen gilt, dass man das nchste Glied ebenfalls erkennen kann. Daraus resultiert, dass der Regressus der kausalen Bedingungsreihen der Regressus in infinitum ist. Dies kollidiert mit Kants Unterscheidungskriterium zwischen in infinitum und in indefinitum, dem zufolge der Regressus in infinitum nur fr die mereologischen Bedingungsreihen (der zweiten Antinomie) gelten soll 440 Dass Kant auch dies fr eine Konsequenz des Determinismus hlt, wird z. B. aus Folgendem ersichtlich: „[. . .] : so sind alle Handlungen des Menschen in der Erscheinung aus seinem empirischen Charakter und den mitwirkenden anderen Ursachen nach der Ordnung der Natur bestimmt, und wenn wir alle Erscheinungen seiner Willkr bis auf den Grund erforschen kçnnten, so wrde es keine einzige menschliche Handlung geben, die wir nicht mit Gewißheit vorhersagen und aus ihren vorhergehenden Bedingungen als notwendig erkennen kçnnten“ (A549 f./B577 f.). Obwohl hier von der Voraussehbarkeit der Zukunft die Rede ist, ist es plausibel, dass Kant denkt, dass dasselbe auch fr die Vergangenheit gilt. 441 Es ist z. B. fragwrdig, (1) ob der Determinismus wirklich aus dem Kausalgesetz folgt (auch wenn dieses im Sinne vom gleich zu erçrternden (T’) angenommen wird), (2) ob die erkenntnistheoretische These wie (S) wirklich aus dem Determinismus als ontologischem Prinzip folgt (vgl. Earman 1986, Kap. 2), und (3) ob (S) wirklich dazu fhrt, dass jede Aussage verifizierbar oder falsifizierbar ist. 442 Der kantische TrI lsst auch intelligible Ursachen zu, die aber, zumindest theoretisch, unerkennbar sind.
7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte
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(vgl. 7.2.3). So muss (T) im Rahmen des TrI zurckgewiesen werden, und somit auch (S). – Der TrI kann stattdessen nur folgendes schwcheres Ergebnis akzeptieren, das allenfalls den Regressus in indefinitum ermçglicht: (U) Es wird fr keinen raumzeitlichen Gegenstand garantiert, dass man ihre Natur-Ursachen nicht erkennen kann. Daraus ergibt sich nun eine interessante Beschaffenheit des Kausalgesetzes in ZN. Das oben zurckgewiesene (T) ist in ZN gleichbedeutend mit folgender Behauptung: (T’) Jeder raumzeitliche Gegenstand hat Natur-Ursachen [8x9y¼6x (x wird von y verursacht): Die Variablen quantifizieren ber raumzeitliche Gegenstnde]. Dies drfte wohl dasjenige sein, was blicherweise unter dem Kausalgesetz verstanden wird (vgl. z. B. Malzkorn 1999, S. 108). Wie aber oben gezeigt wurde, ist (T), und somit auch das Kausalgesetz in dieser Form, in ZN nicht vertretbar. Stattdessen kann in ZN das Kausalgesetz nur in folgender schwcherer Form, die dem obigen (U) entspricht, anerkannt werden: d d
(U’) Es gibt keinen raumzeitlichen Gegenstand, der keine Natur-Ur9y¼6x (x wird von y verursacht)]. sache hat [8x Dieser Satz ist des Namens „Kausalgesetz“ wrdig, weil er immerhin festlegt, dass es in der raumzeitlichen Wirklichkeit nichts gibt, was die Naturgesetze bricht (wie „Kausalitt durch Freiheit“). Demgemß wird ein Determinismus erlaubt, aber nur in folgender schwcherer Form: In der raumzeitlichen Wirklichkeit gibt es nichts, was nicht kausal determiniert ist. Hier ist nun die exegetische Frage zu stellen, ob Kants Argumentation in der Zweiten Analogie der Erfahrung in der Tat derart deutbar ist, dass sie nur das Kausalgesetz in der obigen schwcheren Form beweist. Ich erçrtere dieses Thema nicht, weil eine solche Deutung schon von Posy 1984a ausfhrlich entwickelt wurde.443 Anstatt seine Diskussion zu wiederholen, 443 Zu diesem Aufsatz Posys fge ich hier zwei Bemerkungen und eine Modifikation hinzu. Bemerkung (1): Der Anti-Realismus im Sinne der vorliegenden Abhandlung entspricht dem, was Posy dort „radical verificationism“ nennt. (2) Posys Argumentation beruft sich nicht auf Kants Unterscheidung zwischen dem Regressus in infinitum/in indefinitum. Er argumentiert vielmehr dahingehend, dass das Kausalgesetz in strkerer Form (wie (T’)) die Antithesis der Zeit-Antinomie wahr
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mache ich hier nur auf folgenden Punkt aufmerksam: Es ist eine sehr unplausible Deutung der Zweiten Analogie, dass die dortige Argumentation beweist, dass man fr jeden raumzeitlichen Gegenstand ihre Ursachen erkennen kann. Eine solche Deutung der Zweiten Analogie wre aber erforderlich, um (T’) in ZN zu befrworten.
d d
Durch die bisherige Betrachtung wurde gezeigt, dass das Bivalenzprinzip nicht durch den kantischen Determinismus legitimiert wird. Es ist berdies nachzuweisen, dass in ZN das Bivalenzprinzip bezglich raumzeitbezglicher Aussagen berhaupt nicht legitimiert werden kann. Der Beweis ist Folgender: Aus dem Bivalenzprinzip folgt ohne weiteres die Elimination AS A]. Diese macht aber (T’) und (U’) der doppelten Negation [ quivalent, und dies fhrt in ZN gerade dazu, dass der Regressus in indefinitum mit dem in infinitum zusammenfllt. Dies kollidiert mit Kants Unterscheidungskriterium zwischen den Bedingungsreihen, um die es bei den beiden Regressen geht. Dieser Beweis zeigt, dass das Bivalenzprinzip, zumindest hinsichtlich raumzeitbezglicher Aussagen,444 im kantischen TrI unvertretbar ist. Kant ist allerdings der Ansicht, dass der Satz vom ausgeschlossenen Dritten, und somit auch das Bivalenzprinzip, als formal-logisches Prinzip allgemeingltig sind. Diese Ansicht ist aber eben mit seiner berlegung in der Antinomienlehre unvereinbar. Angesichts dessen haben Interpreten zwei Alternativen: Entweder Kants berlegungen im Antinomiekapitel teilweise außer Acht zu lassen, um seine Ansicht ber die formale Logik beizubehalten, oder vielmehr macht, was mit Kants Ansicht kollidiert. Indessen ist seine Diskussion mit meiner darin einig, dass der TrI nicht (T’), sondern allenfalls (U’) einrumt. Modifikation: Angesichts dessen ist Posys folgende Aussage nicht przise genug: „To say that the occurrence of E as an event presupposes the existence of a prior cause, C, is to say only that further inquiry and increasing evidence about E will eventually reveal a prior event C and a causal law R linking C to E“ (ibid., S. 34 f., kursiv von K.C.). Dies erweckt das Missverstndnis, dass durch das Kausalgesetz positiv garantiert wird, dass C und R eines Tages erkannt werden kçnnen, wie (T’) sagt. Ich denke, dass es fr Posys Ansicht adquater ist, wenn dieser Satz folgendermaßen umgeschrieben wird: „To say . . . is to say only that it is a priori excluded that further inquiry and increasing evidence about E cannot reveal a prior event C and . . .“. 444 Dieser Beweis zeigt nicht, dass das Bivalenzprinzip auch fr die Aussagen ber erkenntnisunabhngige Dinge (wie „Dinge an sich“) ungltig ist. Sogar ist vielmehr das Gegenteil der Fall, da solche Dinge die Beschaffenheit, die die Aussagen ber sie prdizieren, entweder an sich haben oder an sich nicht haben mssen.
7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte
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diese auszuklammern, um jene konsequent zu entwickeln. Ich ergreife die letztere Alternative, da das Thema der vorliegenden Abhandlung nicht Kants formale Logik, sondern vielmehr seine Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit ist. 7.4.2 Mçglichkeit des Verlusts der Verifikation Im letzten Abschnitt (7.3) wurde die Monotonizitt („Einmal verifizierte Aussagen bleiben ewig verifiziert“) einfach vorausgesetzt. Sie wird aber im empirischen Diskurs besonders problematisch; teils wegen des Problems der Anfechtbarkeit, das im nchsten Abschnitt zur Diskussion kommt; aber auch deswegen, weil die Verifikation bzw. die Verifizierbarkeit im Laufe der Zeit in unberholbarer Weise verloren gehen kann. Dergleichen ist sogar im empirischen Bereich der Normalfall. Dies wirft fr den Anti-Realismus eine besondere Schwierigkeit auf. Es scheint nmlich, dass er die unangenehme Konsequenz, dass eine vorher wahre Aussage im Laufe der Zeit nicht-wahr werden kçnne, hinnehmen muss. Dadurch wird die Wahrheit wiederum zeitlich relativiert, obwohl diesmal anders als in ZR (in 7.2). Im nchsten Unterabschnitt werde ich zeigen, dass diese Konsequenz vermeidlich ist. Dafr muss aber im Voraus geklrt werden, warum die betreffende Zeit-Relativierung im Rahmen des Anti-Realismus berhaupt als zwingend erscheint. Damit beschftige ich mich in diesem Unterabschnitt, und darauf basierend prsentiere ich die Version ZR+, die zwar eine Zeit-Relativierung der Wahrheit enthlt, jedoch anders als ZR mit der kantischen Auflçsung der Antinomien kohrent sein kann. Der Grundgedanke, der den Anti-Realismus zur betreffenden Zeit-Relativierung der Wahrheit fhrt, ist prima facie sehr naheliegend: Verifikationen, die uns unzugnglich geworden sind, kçnnen nicht mehr als Verifikationen fr uns gelten; sie kçnnen also nicht die Wahrheit fr uns fundieren. Sofern dieser Gedanke akzeptiert wird, ist fr den Anti-Realismus die Zeit-Relativierung der Wahrheit folgender Art unumgnglich: Eine vorher wahr gewesene Aussage (weil sie vorher verifizierbar war) wird im Laufe der Zeit nicht-wahr, wenn sie ihre Verifizierbarkeit einbßt.445 Diese Zeit445 Daraus ergibt sich das berchtigte Problem des „truth-value link“, das erst von Dummett 1969 hervorgehoben wurde. Diskussionen von diesem Problem findet man z. B. in McDowell 1978, Wright 1980a, 1980b und 1987a, Weiss 1996 und 2002, Dolev 2000, Green 2001, Kap. 4 und Dummett 2004 und 2007.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
Relativierung steht im umgekehrten Verhltnis zu derjenigen von ZR. Der letzteren gemß wurde die Mçglichkeit zugelassen, dass eine vorher nichtwahre Aussage nachher durch Erwerb neuer Verifikationen wahr wird. Die zugrundeliegende Idee war, dass Aussagen, die erst in der Zukunft verifiziert werden, jetzt noch nicht wahr sind. Eben wegen dieser Spiegelbildlichkeit vermeidet die hier thematisierte Zeit-Relativierung die Konsequenz, dass die Bedingungsreihen jeweils endlich sind. Denn sie, genauso wie ZN, rumt die Mçglichkeit ein, dass Aussagen, die noch nicht verifiziert worden sind, dennoch mçglicherweise wahr sind. Sie lsst nmlich auch zuknftige bzw. zuknftig mçgliche Verifikationen als Fundament der Wahrheit gelten.446 Daraus ergibt sich folgende Version: ZR+: Eine Aussage ist zum Zeitpunkt t wahr gdw. sie zu t oder spter verifizierbar ist; d. h. gdw. sie an irgendeiner Station derjenigen tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten, die aus der tatschlichen Station zu t entspringen, verifiziert wird. (Vgl. Bild 6) Trotz der Zeit-Relativierung ist diese Version vielmehr mit ZN verwandt. Sie vertrgt sich daher, genauso wie ZN, mit Kants Auflçsung der Antinomien sowie seiner Unterscheidung zwischen dem Regressus in infinitum/in indefinitum. In dieser Hinsicht kann sie ebenfalls als mçgliche Option fr den TrI qualifiziert werden. Diese Version ist allerdings sachlich unattraktiv, vor allem deswegen, weil sie die Stabilitt der Wahrheit preisgibt. Es stellt sich nun die Frage: Ist der oben dargestellte Gedankengang, der den Anti-Realismus zur ZeitRelativierung der Wahrheit fhrt, wirklich zwingend? Im nchsten Unterabschnitt werde ich zeigen, dass dies eigentlich nicht der Fall ist, in Anbetracht des Problems der Verifikationssubjekte. 7.4.3 Problem der Verifikationssubjekte Wenn man den Solipsismus (der sagt, „Eine Aussage ist wahr gdw. ich sie verifiziere bzw. verifizieren kann“) vermeiden mçchte, muss man annehmen, dass die Verifikationen, welche die Wahrheit fundieren, „unsere“ Verifikationen sind. Gemß dem Umfang von diesem „uns“ variiert der 446 Es kommt hier auf die Asymmetrie zwischen Zukunft und Vergangenheit an. Um die Zukunft zu erfahren, muss man nur warten. Dergleichen gilt nicht fr die Vergangenheit. Man kann sich nmlich nicht in die Vergangenheit versetzen (es sei denn, dass man so etwas wie eine Zeitmaschine zur Verfgung hat); vgl. Dummett 2004, S. 66.
7.4 Aufgeschobene Diskussionspunkte
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Umfang der Wahrheit selbst. Man denke an die Aussage: „Whrend Csar den Rubikon berschritt, nieste er dreimal“. Sie ist in der Gegenwart wohl nicht mehr entscheidbar. Jedoch war sie natrlich verifizierbar (bzw. falsifizierbar) fr die Personen, die mit Csar den Rubikon berschritten (oder fr den damaligen Csar selbst). Es ist zwar, wie im letzten Unterabschnitt gesagt wurde, sehr naheliegend, zu denken, dass die Verifikationen dieser Personen, sofern sie nicht mehr zugnglich sind, nicht als „unsere“ Verifikationen gelten, woraus sich die Zeit-Relativierung der Wahrheit wie in ZR+ ergibt. Man kann aber auch denken, dass diese Personen, als Menschen gleich wie die jetzigen Zeitgenossen, ebenfalls zu „uns“ gehçren, so dass die damals zugnglich gewesenen Verifikationen, gleich wie die jetzt zugnglichen, als „unsere“ Verifikationen zu erachten sind. Es stellt sich daher die Frage: Wie weit soll der Umfang von „uns“ sein? Gehçren hierzu auch Generationen (von endlichen vernnftigen
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Wesen447), die in weit zurckliegender Vergangenheit gelebt haben? – Dieses Problem nannte ich das „Problem der Verifikationssubjekte“ (7.1.2). Um dieses Problem zu fokussieren, gehe ich von folgender einfacher Version aus, zunchst ohne zu entscheiden, ob diese eine Zeit-Relativierung der Wahrheit impliziert oder nicht: Eine Aussage ist wahr gdw. sie fr uns verifizierbar ist. Diese Version fordert nicht, dass die Verifikation, die eine Aussage wahr macht, von allen Mitgliedern des „uns“ gemeinsam erkannt werden muss, da dadurch der Umfang der Wahrheit stark verengt wrde. Gefordert wird lediglich, dass die Verifikation fr irgendeines dieser Mitglieder erreichbar ist. Das Fundament der Wahrheit ist nmlich nicht der Durchschnitt (intersection), sondern die Vereinigung (union) der Verifikationen, die von solchen Mitgliedern geleistet werden.448 (Zur Veranschaulichung denke man an ein einfaches Model, in dem es nur zwei solche Mitglieder gibt, wobei der eine die Aussagen A, B, C, D, und der andere C, D, E, F verifiziert. Wahr in diesem Fall sind nicht nur C und D, sondern vielmehr alle von A bis F.) Die Mitglieder von diesem „uns“ nenne ich fortan „Mitsubjekte“. Sie sind nicht bloß (biologisch verstandene) Menschen neben MIR – der Leser verstehe darunter nicht Kiyoshi Chiba, sondern sich selbst –, sondern vielmehr die vernnftigen Wesen, welche im wahrheitskonzeptionellen Kontext gleichberechtigt mit MIR sind, nmlich diejenigen, deren Verifikationen (im Rahmen des Anti-Realismus) fr die Wahrheit relevant sind, genauso wie es MEINE Verifikationen sind. – Mit diesem Terminus lsst sich das Problem folgendermaßen paraphrasieren: Wie weit ist der Umfang der Mitsubjekte? Sollen Generationen in entfernter Vergangenheit (z. B. Csars Nachbarn) ebenfalls dazu zugerechnet werden?449 447 Gott (Besitzer der intellektuellen Anschauung) wird vom hiesigen „uns“ ausgeschlossen. 448 Dies entspricht dem, was Dummett „collective sense“ von „our“ nennt; vgl. ders. 2004, S. 41. 449 Man vergleiche dies mit einer verwandten Fragestellung in der Ethik: „Wir“ sollen alle gleichermaßen als „Zwecke an sich“ behandelt werden. Aber wer (oder was) gehçrt zu diesem „uns“? Sind z. B. Tiere, Embryonen oder selbstdenkende Roboter als Mitglieder von „uns“ Zwecke an sich, oder drfen sie als bloße Mitteln behandelt werden? – In Analogie dazu lsst sich die hiesige Frage ber die wahrheitsrelevanten Mitsubjekte wie folgt ausdrcken: Sind die Menschen in vergangenen Generationen bloße Objekte, deren Existenz als abhngig von „unserer“
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In diesem Unterabschnitt werde ich zeigen: (1) Sofern man den Solipsismus vermeidet und zunchst seine Zeitgenossen als Mitsubjekte erachtet, muss man auch die vergangenen Generationen als Mitsubjekte anzuerkennen. (2) Dadurch wird im Endeffekt die Zeit-Relativierung der Wahrheit des letzten Unterabschnittes aufgehoben. (3) Die sich daraus ergebende Version kann fr den kantischen TrI akzeptabel gemacht werden. – Es gibt jedoch eine Frage, die zu allererst beantwortet werden muss: Was heißt es eigentlich, die Anderen als Mitsubjekte anzuerkennen?450 Damit fange ich an. Gehen wir von einem einfachen Fall aus: Was bedeutet es, dass ICH die Anderen, ob in der Gegenwart oder Vergangenheit, als Mitsubjekte anerkenne? Wer dies nicht tut, ist ein Solipsist.451 Er muss allerdings nicht denken, dass eine Aussage, um berhaupt wahr zu sein, von ihm selbst verifiziert werden muss. Er kann freilich die Anderen (und ihre Verifikationsleistungen) als Instrumente fr die Erweiterung seiner Erkenntnis nutzen. (Dass wir die Zimmertemperatur mithilfe des Thermometers messen, verpflicht uns nicht dazu, es als Mitsubjekt zu erachten.) Er wrde aber als Solipsist sagen, dass die Erkenntnis von den Anderen nur insofern eine wahrheitsrelevante „Verifikation“ sein kann, als er sie als Verifikation erkennt. Der Umstand ndert sich, wenn ICH, dem Solipsismus entgegen, die Anderen als Mitsubjekte anerkenne. Demzufolge muss die Verifikation nicht unbedingt von MIR selbst erkannt werden. Sie erhlt den Status einer „Verifikation“ schon dadurch, dass sie von irgendwelchen Mitsubjekten geleistet wird. Die Anderen werden nmlich als mit MIR „gleichberechtigte“ Erkenntnissubjekte erachtet. – Man findet die Idee wohl unsinnig, dass die eigene Erkenntnisttigkeit nur insofern wirklich sein soll, als sie von irgendeinem Anderen erkannt wird. Falls man die Anderen als Mitsubjekte Erkenntnis anzusehen ist, oder sind sie vielmehr als diejenigen Subjekte zu erachten, die als Mitglieder von „uns“ die raumzeitliche Wirklichkeit mitkonstruieren? 450 Man verwechsle dies nicht mit der epistemologischen Frage, wie man erkennen kann, dass ein bestimmtes Seiendes wirklich ein Mitsubjekt ist (vgl. z. B. die klassische epistemologische Frage: Wie kann ich erkennen, dass der vor mir Stehende Bewusstsein hat und nicht ein getarnter Automat ist?) 451 Der hiesige Solipsist behauptet nicht, dass nur er existiert, sondern vielmehr, dass er allein die „echte“ Existenz hat und die Anderen nur abhngig von seiner Erkenntnis existieren. Das Erstere wre ein eliminativistischer Solipsismus, der philosophisch kaum interessant ist.
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anerkennt, nimmt man an, dass die gleiche Struktur auch aufseiten der Anderen vorliegt. Die Annahme dieser Gleichheit beinhaltet keinen außerordentlichen metaphysischen Sprung, sondern ist vielmehr bloß eine Folge aus der Ablehnung des Solipsismus der obigen Art. Sie gehçrt sogar, wie Dummett 1993a betont, zur notwendigen Bedingung unserer Sprachpraxis. Wir halten die Zeugenaussagen von Anderen zunchst und zumeist fr prinzipiell vertrauenswrdig, auch wenn wir keinen unabhngigen Beleg dafr haben. Wenn wir dies nicht tten, msste unsere Erkenntnis stark verengt werden, was unsere Sprachpraxis unmçglich machen wrde. Es ist hier besonders zu betonen, dass die Anerkennung der Anderen als Mitsubjekte nicht automatisch zum Realismus raumzeitlicher Gegenstnde fhrt. Es ist auch ein Anti-Realismus mçglich, der sich an dieser Anerkennung beteiligt. Eine derartige Position bewahrt das anti-realistische Prinzip, dass „unsere“ Verifikationen fr die Wahrheit konstitutiv sind. Realisten wrden behaupten, dass die Wahrheit selbst von solchen Verifikationen unabhngig sei. – Es bedarf jedoch einer weiteren Prfung, um zu entscheiden, ob ein solcher Anti- Realismus auch fr die kantische Position akzeptabel ist. Auf dieses Thema werde ich gleich zurckkommen. Greifen wir nunmehr die Frage nach dem Umfang der Mitsubjekte auf. Auf den ersten Blick scheint es eher willkrlich, welche Menschen als Mitsubjekte zu qualifizieren sind.452 Dies ist aber nicht der Fall. Ich argumentiere hier wie folgt: Sofern man, um den Solipsismus zu vermeiden, seine Zeitgenossen als Mitsubjekte erachtet, wird man darauf festgelegt, die vergangenen Generationen ebenfalls als Mitsubjekte anzuerkennen. Fragen wir zunchst: Wie wird es berhaupt gerechtfertigt, eine Entitt A als Mitsubjekt anzuerkennen, B aber nicht? Fr diese Diskriminierung muss ein hinreichender Grund geliefert werden; z. B., dass die intellektuelle Fhigkeit von B nicht hoch genug ist (wie in dem Fall, dass B ein Insekt ist). Aus welchem Grund kann es nun gerechtfertigt werden, nur die Zeitgenossen, aber nicht die vergangenen Generationen als Mitsubjekte zu klassifizieren? Hinsichtlich der intellektuellen Fhigkeit besteht zwischen ihnen kein signifikanter Unterschied, weil sowohl die Zeitgenossen als auch die in der Vergangenheit gelebten Menschen vernnftige Wesen sind. Der Unterschied ist allenfalls dermaßen, dass wir mit den Zeitgenossen 452 Das Wort „wir“ ist im normalen Sprachgebrauch kontextabhngig; es kann nur auf wenige Personen referieren (wie „Peter und ich“), aber auch auf eine riesige Menge von Personen (wie „wir die heutigen Japaner“ oder sogar Menschen berhaupt).
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jetzt kommunizieren kçnnen, whrend wir dies mit den vergangenen Generationen nicht mehr kçnnen. Dieser bloß zeitliche Unterschied liefert jedoch keinen Grund fr die fragliche Diskriminierung der vergangenen Generationen. Man erinnere sich daran, dass das „Mitsubjekt“ als dasjenige Erkenntnissubjekt definiert wurde, welches im wahrheitskonzeptionellen Kontext mit MIR gleichberechtigt ist; genauso wie ICH nicht dank der Erkenntnis der Anderen existiere, erhalten die Mitsubjekte ebenfalls ihre eigenstndige Existenz aus sich selbst. Damit ist klar, dass die Forderung, dass Mitsubjekte fr uns in der Gegenwart erkennbar bzw. kommunizierbar sein mssen, eben gegen den Begriff des Mitsubjekts verstçßt. Daraus geht hervor: Wenn man gegen den Solipsismus den ersten Schritt tut, kann man nicht umhin, den Umfang der Mitsubjekte auf jede vergangene Generation453 zu erweitern. – Muss eine derartige Erweiterung auch fr die zuknftigen Generationen gemacht werden? Dies ist ein subtiles Problem, das ich gleich erçrtern werde. Wenn nun vergangene Generationen als Mitsubjekte anerkannt werden, wird das Argument fr die Zeit-Relativierung der Wahrheit im letzten Unterabschnitt außer Kraft gesetzt. Dieses Argument war Folgendes: Es scheint plausibel, dass die vergangenen Verifikationen, die uns jetzt unzugnglich geworden sind, nicht mehr als „unsere“ Verifikationen gelten. Dies spricht aber zugleich dafr: Wenn die vergangenen Verifikationen, genauso wie die jetzigen, als „unsere“ Verifikationen erachtet werden, wird jene Zeit-Relativierung der Wahrheit vermieden. Gerade dies ergibt sich aus der Anerkennung der vergangenen Mitsubjekte. Mitsubjekte sind, wie gesagt, mit MIR gleichberechtigte Erkenntnissubjekte. Wenn also eine Aussage einmal von vergangenen Mitsubjekten verifiziert wurde, gilt diese Verifikation als „unsere“ Verifikation, so dass diese Aussage fr „uns“ berhaupt wahr ist, selbst wenn ihre Verifikation nachher unzugnglich wird. Dieses Ergebnis verdankt sich nicht einer willkrlichen Erweiterung des Umfangs von „uns“. Es ist vielmehr
453 Zu den „vergangenen Generationen“ gehçrt jedes (endliche) vernnftige Wesen, das in der Vergangenheit existierte. Man kann weiter fragen, welche Wesen genau als vernnftige Wesen zu klassifizieren sind. Waren z. B. Neandertaler (sogar selbst Homo Sapiens der frhesten Generation) vernnftige Wesen? Es handelt sich aber dabei lediglich um eine Frage der biologischen Anthropologie, die hier nicht entschieden werden muss.
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eine sachlich zwingende Konsequenz aus der Forderung, den Solipsismus zu vermeiden und Mitsubjekte außer MIR anzuerkennen. So kann sich der Anti-Realismus, durch die Anerkennung der vergangenen Menschen als Mitsubjekte, mit der Zeit-Neutralitt (Stabilitt) der Wahrheit vertragen. Man mag aber einen Verdacht hegen: Luft der AntiRealismus dadurch nicht auf eine realistische Konzeption der Verifikationen, analog zum Realismus mentaler Akte in dem „idealism“ la Van Cleve, hinaus? In diesem Fall msste dieser Anti-Realismus fr den kantischen TrI inadquat sein, genauso wie jener „idealism“. Dieser Verdacht muss ausgerumt werden. Ich fasse hier die Diskussion in 7.3.2 kurz zusammen: Der Realismus mentaler Akte nimmt den zeit-transzendenten Standpunkt an, von dem aus alle mentalen Akte, ob in der Vergangenheit oder Zukunft, in gleicher Weise betrachtet werden. Dadurch wird die zeitliche Wirklichkeit berhaupt, sowohl die vergangene als auch die zuknftige, als eine zeit-umfassende quasi-„gegebene“ Totalitt erachtet, und dies hat zur Konsequenz, dass die Bedingungsreihen (aufgrund des endlosen Regressus) aktual-unendlich sind. Die hnlichkeit dieses Realismus mit der Anerkennung der vergangenen Mitsubjekte ist leicht zu ersehen. Diese Anerkennung impliziert den Gedanken, dass es fr die schon geleistete Verifikation irrelevant ist, ob sie auch nachher zugnglich bleibt oder nicht; wenn sie einmal geleistet wird, soll sie schon damit den Status der „Verifikation“ auf ewig bewahren. – Daraus scheint nun folgende realistische Konzeption der Verifikation zu resultieren: Die Anerkennung anderer Mitsubjekte berhaupt nimmt denselben zeit-transzendenten Standpunkt an, von dem aus diesmal alle Mitsubjekte und von ihnen geleisteten Verifikationen, sowohl in der Vergangenheit als auch in der Zukunft, in gleicher Weise betrachtet werden. Dieser Standpunkt erlaubt die Setzung einer zeit-umfassenden Totalitt der Mitsubjekte inklusive aller zuknftigen, somit auch die Setzung einer gleichmßigen Totalitt der Verifikationen, die solche Mitsubjekte bisher geleistet haben sowie zuknftig leisten werden. Diese Totalitt luft auf die absolute Totalitt der Bedingungsreihen hinaus. Wie naheliegend immer diese Konzeption aussehen mag, sie ist doch nicht absolut zwingend. Ich schlage eine alternative Konzeption vor: Sie erlaubt nur von solchen Verifikationen zu sprechen, die an einzelnen Stationen der Verifikationsrouten geleistet werden kçnnen, verbietet aber dabei, alle solche Verifikationen zu einer zeit-umfassenden Totalitt zusammenzufgen, aus dem Grund, dass eine solche Totalitt an keiner
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einzelnen Station gegeben werden kann. Sie lehnt nmlich ab, die tatschliche sowie mçgliche Verifikationsentwicklung der Mitsubjekte vom zeit-transzendenten Standpunkt aus als aktual-unendlich bestehende Ganzheit aufzufassen, und betrachtet jene Entwicklung vielmehr durchaus als potentiell-unendlichen Prozess, der sich erweitert, indem er jeweilig geleistete Verifikationen nach und nach in sich aufnimmt.454 – So wird durch diese alternative Konzeption erfolgreich verhindert, die absolute Totalitt der Verifikationen und somit auch diejenige der Bedingungsreihen, berhaupt als zulssige Gegenstnde anzunehmen. Man mag denken, dass es sich hierbei lediglich um eine Frage des Sprachgebrauchs handelt. Dies ist nicht der Fall. Das oben Gesagte bezieht sich gerade auf die schwerwiegende metaphysische Entscheidung, ob der zeit-transzendente Standpunkt zugelassen wird oder nicht, was nicht auf der Ebene des Sprachgebrauchs konventionell festgesetzt werden kann. Z.B. wird es unter der Annahme der realistischen Konzeption nicht motiviert, den zeit-transzendenten Standpunkt abzulehnen und ausschließlich vom potentiell-unendlichen Prozess der Verifikationsentwicklung zu sprechen. Mein bisheriger Versuch richtet sich darauf, eine Konzeption der Verifikation der Mitsubjekte auszuarbeiten, die die Ablehnung des zeittranszendenten Standpunktes berhaupt verstndlich macht. Und dies ist eben dafr notwendig, diejenige Version des Anti-Realismus auszuarbeiten, die trotz der Anerkennung der Mitsubjekte außer MIR doch die kantische Auflçsung der Antinomien untersttzt. Nunmehr muss die zeit-neutrale Wahrheitskonzeption aufgrund dieser alternativen Konzeption der Verifikationen konkret ausgearbeitet werden. Zur Annherung konstruiere ich zunchst ein Analogon der Version ZN– (vgl. 7.3.1): Eine Aussage ist wahr gdw. sie irgendwann von irgendeinem Mitsubjekt tatschlich verifiziert wird; d. h. gdw. sie an irgendeiner Station der tatschlichen Verifikationsroute der Mitsubjekte verifiziert wird.455 454 Dadurch, dass die Verifikationsentwicklung als prozessual-unendlich verstanden wird, wird nicht erzwungen, dass die Bedingungsreihen selbst, die darauf grnden, ebenfalls prozessual-unendlich (also „jeweils endlich“) sein mssen; dieses Thema habe ich bereits in Anm. 429 erçrtert. 455 Hierbei ist eine einzige tatschliche Verifikationsroute angenommen, an der jedes Mitsubjekt, ob in Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft, mitbeteiligt ist. Es ist auch mçglich, jedem Mitsubjekt seine eigene tatschliche Verifikationsroute zuzuteilen und die betreffende Version folgendermaßen zu formulieren: Eine Aussage
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Diese Version legt einerseits fest, dass Aussagen, die einmal von irgendeinem Mitsubjekt verifiziert wurden, ewig wahr bleiben, auch wenn diese Verifikationen nachher unzugnglich werden. Sie lehnt andererseits auch jenen zeit-transzendenten Standpunkt ab, denn sie verlangt, dass wahre Aussagen an irgendeiner Station verifiziert werden mssen, aber der zeittranszendente Standpunkt ist an keiner einzelnen Station erreichbar. Diese Version muss nun noch die mçglichen Verifikationsrouten mit einbeziehend modifiziert werden. Dafr wird erfordert, nicht nur (irgendwann) tatschlich existierende, sondern auch mçgliche Mitsubjekte zu bercksichtigen. Die letzteren sind Erkenntnissubjekte, die zur Existenz kommen wrden (bzw. gekommen wren), wenn die okkasionellen Umstnde vonseiten der tatschlich existierenden Mitsubjekte andere wren (bzw. gewesen wren). In Rcksicht darauf konzipiere ich einen Baum der (tatschlichen und mçglichen) Verifikationsrouten, an dem sowohl tatschliche als auch mçgliche Mitsubjekte gemeinsam beteiligt sind. Damit wird die geforderte zeit-neutrale Wahrheitskonzeption letztlich folgendermaßen formuliert: ZN+: Eine Aussage ist wahr gdw. sie an irgendeiner Station auf dem Baum der Verifikationsrouten der tatschlichen und mçglichen Mitsubjekte verifiziert wird. Diese Version ist nur darin anders als ZN (in 7.3.2), dass sie die Monotonizitt („Wenn eine Aussage einmal verifiziert wird, bleibt sie ewig verifiziert“) nicht einfach voraussetzt, sondern in Rekurs auf Verifikationen der Mitsubjekte rechtfertigt.456 Sie verhlt sich ansonsten identisch mit ZN, so dass sie in Kants Auflçsung der Antinomien sowie in seine Unterscheidung zwischen Regressus in infinitum/in indefinitum erfolgreich integriert wird. So hat sich ZN+, gleich wie ZR+ im letzten Unterabschnitt, als eine mçgliche Option fr den kantischen TrI erwiesen. Es gibt berdies gute Grnde dafr, ZN+ vorzuziehen. Nicht nur, dass ZN+ sachlich attraktiver ist wahr gdw. sie an irgendeiner Station der tatschlichen Verifikationsroute irgendeines Mitsubjekts verifiziert wird. 456 Zu beachten ist, dass diese Version nicht mit der standard-phnomenalistischen Version zusammenfllt. Sie rekurriert zwar auf mçgliche Mitsubjekte, aber diese sollen eine genetische Herkunft von den tatschlichen Mitsubjekten haben; mçgliche Mitsubjekte sind sozusagen mçgliche Nachkommen von den tatschlichen. Fr die standard-phnomenalistische Version hingegen ist dieses Moment nicht konstitutiv.
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
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als ZR+ ist, indem es die Stabilitt der Wahrheit bewahrt. Es ist zudem exegetisch plausibel, dass Kant zumindest seine Zeitgenossen als Mitsubjekte anerkannt hat. (Sonst msste er Solipsist sein; dies ist aber zweifelsohne nicht das, was er beabsichtigt. 457) Der obigen Diskussion zufolge kçnnte er dann nicht gerechtfertigterweise umhin, die vergangenen Generationen ebenfalls als Mitsubjekte zu erachten, was im Endeffekt zu ZN+ fhrt. Indessen kann ZR+ nicht vçllig disqualifiziert werden. Es mag der Fall sein, dass Kant – zumindest im Kontext der Antinomienlehre – lediglich seine Zeitgenossen als Mitsubjekte anerkannt hat, ohne die Unhaltbarkeit dieser Position zu realisieren. Die sachliche Unhaltbarkeit ist allerdings kein exegetischer Beleg dafr, dass Kant eine solche Position nicht vertreten hat. Er diskutiert ohnehin das Thema der Wirklichkeit der Vergangenheit nicht eingehend.458 Man sollte also hier auch ZR+ als mçgliche Option fr den TrI gelten lassen. 7.5 Problem der Anfechtbarkeit Unsere empirischen Verifikationen sind ausnahmslos anfechtbar (defeasible) in dem Sinne, dass die Mçglichkeit nicht im Voraus ausgeschlossen wird, dass sie vielleicht eines Tages angefochten werden mçgen. Daraus ergibt sich, was ich in 7.1.2 „Problem der Anfechtbarkeit“ nannte. Die peircesche Version bot eine Lçsung dieses Problems an, erwies sich aber als inadquat fr den kantischen TrI. In diesem Abschnitt versuche ich, eine alternative Lçsung zu konstruieren. Dieser Abschnitt hat drei Unterabschnitte: In 7.5.1 stelle ich einen anderen und ebenfalls inadquaten Lçsungsvorschlag von Hoke Robinson vor, um dadurch eine Bedingung, die die gesuchte Lçsung befriedigen muss, hervorzuheben. Mein eigener Lçsungsvorschlag beruft sich auf die 457 Es mag wohl wahr sein (ich entscheide es hier nicht), dass Kants Philosophie, seiner Absicht entgegen, letztlich auf einen Solipsismus hinauslaufen muss (z. B. wegen seiner mentalistischen Begrifflichkeit, die Karl-Otto Apel kritisiert hat). Dies ist aber ein anderes Thema. 458 Es gibt sogar eine Textpassage, die ZR+ vielmehr nahelegt: „[Die wirklichen Dinge der vergangenen Zeit] sind aber fr mich nur Gegenstnde und in der vergangenen Zeit wirklich, sofern als ich mir vorstelle, daß eine regressive Reihe mçglicher Wahrnehmungen [. . .] auf eine verflossene Zeitreihe als Bedingung der gegenwrtigen Zeit fhrt, [. . .]“ (A495/B523). Dies deutet darauf hin, dass Kant verlangt, dass wirkliche Gegenstnde in der Vergangenheit durch den Regressus, der von der jetzigen Erkenntnis ausgeht, erkannt werden mssen.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
„Superassertibilitt (superassertibility)“ von Crispin Wright. Ich erlutere dieses Konzept in 7.5.2 und wende es in 7.5.3 auf das kantische System an. – Die Superassertibilitt gehçrt allerdings nicht zu Kants eigenem Begriffsapparat. Sie kann daher nicht durch textliche Belege gesttzt werden. Es lsst sich aber zeigen, dass sie mit dem kantischen System kohrent ist. In 7.5.3 erçrtere ich dies besonders im Zusammenhang mit Kants Auflçsung der Antinomien. In diesem Abschnitt ziele ich nur darauf ab, soviel zu zeigen, dass die Lçsung des Problems der Anfechtbarkeit im kantischen Rahmen konstruierbar ist, so dass der TrI nicht sofort an diesem Problem scheitern muss. Die berprfung verschiedener mçglicher Lçsungsvorschlge gehçrt nicht zu meiner Absicht. Ich verneine nicht, dass vielleicht eine noch elegantere Lçsung mithilfe einer wesentlich anderen Methodik als der Superassertibilitt konstruierbar ist.459 – Einen Lçsungsvorschlag zu entwickeln, drfte schon kein geringes Ergebnis sein, zumal dieses Problem in der bisherigen Kant-Literatur kaum reflektiert worden ist. 7.5.1 Ein inadquater Lçsungsvorschlag Robinson 1994 bietet einen Lçsungsvorschlag an. Obwohl dieser sich als unhaltbar herausstellt, lohnt es sich, ihn nher zu betrachten, weil dies einen wichtigen Punkt hervorhebt, der fr die gesuchte Lçsung besonders beachtet werden muss. Robinson diskutiert das Problem der Anfechtbarkeit in Bezug auf sein „two perspective view“ fr die Interpretation des TrI: „An obvious disadvantage of [the two perspective] view is that the empirical objects, and the natural world which they comprise, can change: if the objects, and thus the world, are projected according to which representations we term objective, then if we change our mind about the objective representations, we change the objects and change the world. This is what happens when we discover an error or when a later scientific theory replaces an earlier one. But in fact we have no option here. At any given time the object as appearance must be „empirically real“ so long as we restrict consideration to the human perspective; for we have access to nothing „more real“ with which to contrast it. It is only when we move to the transcendental level, and contrast this appearance 459 Z.B. mithilfe der Semantik aufgrund der Falsifikationsbedingungen la Neil Tennant; vgl. ders. 1997, Kap. 12. Dieser Ansatz verspricht eine elegante Behandlung allgemeiner Aussagen (z. B. empirischer Naturgesetze). Er erscheint mir dennoch problematisch in dem Punkt, dass er zumindest einige elementare Erfahrungsstze als unanfechtbar behandelt (vgl. ibid., S. 420 f.). Deswegen ziehe ich hier Wrights Ansatz vor.
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
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with a thinkable but unknowable thing in itself (i. e., an object as God would see it), that we take the possibility of revision into account and consider the appearance as ideal.“ (Ders. 1994, S. 429 f.)
Demgemß wird das Problem der Anfechtbarkeit folgendermaßen gelçst: Anfechtbare Verifikationen gelten so lange als Fundament der Wahrheit, bis sie angefochten werden. Dadurch wird dem TrI eine Variante der zeitrelativen Wahrheitskonzeption zugeschrieben, wie folgende: Eine Aussage ist zum Zeitpunkt t wahr gdw. sie zu t verifiziert bleibt. – Falls ihre Verifikation nachher angefochten wird, wird die Aussage dann nicht-wahr. Diese Position ist zunchst sachlich unattraktiv, weil sie die Stabilitt der Wahrheit preisgibt.460 Auch davon abgesehen haftet ihr, eben als Lçsung des Problems der Anfechtbarkeit, ein fataler Nachteil an. Sie luft nmlich unserer blichen Konzeption der Anfechtung grndlich zuwider. Man ist wohl damit einverstanden, dass zum konstitutiven Moment der Anfechtung zumindest Folgendes gehçrt: Die Anfechtung einer Verifikation zeigt gerade, dass diese Verifikation eine Schein-Verifikation war, die die bezgliche Aussage eigentlich nicht wahr machen kann; eben deswegen liefert Anfechtung eine Verbesserung unseres Wissenszustandes, in dem Sinne, dass sie unseren vorherigen Irrtum berichtigt. Dies gerade wird von Robinsons Version verneint. Nehmen wir an, dass eine Aussage vorher „verifiziert“ wurde und diese „Verifikation“ nachher durch Erwerbung neuer Erkenntnisse angefochten wird. Robinsons Version zufolge muss man in diesem Fall zugestehen, selbst nach der Anfechtung, dass diese „Verifikation“ zumindest vor der Anfechtung die betreffende Aussage wahr (nicht nur: plausibel) machte. Damit verliert man zugleich den Grund dafr, die Anfechtung als Verbesserung unseres Wissenszustandes zu verstehen. Dafr muss angenommen werden, dass der Wahrheitswert der Aussage vor und nach der Anfechtung identisch bleibt; nur 460 Robinson unterschtzt diesen Nachteil: „This [two perspective] view is not perhaps as odd as it may seem; in fact it underlies the practice of working scientists. Objects are proposed to account for various observations, and in the course of experimentation these are treated as real; but reflection always reveals the possibility of a theoretical revision modifying or eliminating these objects in favor of others. The two perspective view merely extends this consideration to objects generally“ (ibid., S. 441, kursiv von K.C.). – Es ist wohl wahr, dass wissenschaftliche Theorien immer unter dem Vorbehalt mçglicher Revision stehen. Aber diese Tatsache von den Theorien auf ihre Objekte zu erweitern, ist ein waghalsiger Schritt, den wohl keine „working scientists“ mitmachen wollten.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
unter dieser Annahme macht es Sinn, dass eine Anfechtung einen vorherigen Irrtum berichtigt. Robinsons Version verneint diese Annahme und somit auch das Moment der Verbesserung. Ihr gemß ist die Funktion der Anfechtung nur, den lteren durch den neueren Wissenszustand zu ersetzen. Das Moment, dass die Anfechtung eine Berichtigung des vorherigen Irrtums ist, muss meines Erachtens in jedem Versuch zur Lçsung des Problems der Anfechtbarkeit respektiert werden. Angesichts dessen suche ich nach einem anderen Ansatz in Anlehnung an die „Superassertibilitt“ von Crispin Wright. 7.5.2 Superassertibilitt Wright bezieht die Superassertibilitt auf verschiedene Diskussionspunkte, die aber fr die hiesige Fragestellung nicht alle relevant sind. Ich konzentriere mich im Nachfolgenden ausschließlich auf den Aspekt, dass sie eine anti-realistische Lçsung des Problems der Anfechtbarkeit anbietet, und zwar anders als die peircesche Version. Die Superassertibilitt greift zwar auf eine gewisse Idealisierung zurck, aber anders als die peircesche Version nicht auf die „ideale Erkenntnislage“, in der man Gewissheit darber erlangen soll, dass die dort zu erwerbenden Verifikationen unanfechtbar sind. Wright macht auf folgenden Punkt aufmerksam: Es ist denkbar, dass eine empirische Aussage, obgleich in anfechtbarer Weise, einmal verifiziert wird und diese anfechtbare Verifikation de facto nie angefochten werden wird, wie intensiv und vielfltig immer das bezgliche Thema noch untersucht werden mag. (Es geht hier nicht darum, wie man mit Sicherheit urteilen kann, ob diese Verifikation wirklich unangefochten bleiben wird; auf diesen Punkt komme ich gleich zurck.) Wrights Strategie ist nun, solche Verifikationen zum Fundament der Wahrheit zu machen.461 – Dadurch wird das Problem der Anfecht461 Diese Strategie appelliert zwar an einer Idealisierung, es ist aber bemerkenswert, dass diese Idealisierung eben auf unserer blichen Erkenntnispraxis beruht. Hierzu gehçrt es, dass wir die (unserem gelufigen Kriterium nach) gut begrndeten Verifikationen in keinen besonderen Zweifel ziehen. Paul Tommasi fhrt ein schçnes Beispiel an: „Consider, for example, our witnessing an unfortunate accident as a result of which someone breaks their arm. We witness the events and the obvious suffering of the individual and, on that basis, rightly assert that the individual is in pain undeterred by the fact that, strictly speaking, our present warrant is actually a defeasible one“ (ders. 2006, S. 45, kursiv von K.C.). In dieser Situation erscheint es vielmehr abstrus, berhaupt den Verdacht zu hegen, dass diese Schmerzzuschreibung vielleicht eines Tages angefochten werden mag. – Dass wir
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
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barkeit gelçst, weil solche Verifikationen ex hypothesi unangefochten bleiben sollen. Diese Strategie respektiert zugleich, dass die Anfechtung eine Verbesserung unseres Wissens bedeutet, denn ihr gemß werden die Verifikationen, die eines Tages angefochten werden, vom Fundament der Wahrheit ausgeschlossen, so dass sie verhindert, dass sich der Wahrheitswert einer Aussage vor und nach der Anfechtung ndert. Wright bezeichnet die durch solche Verifikationen verifizierten Aussagen als „superassertibel (superassertible)“. Seine Definition lautet: „A statement is superassertible, then, if and only if it is, or can be, warranted and some warrant for it would survive arbitrarily close scrutiny of its pedigree and arbitrarily extensive increments to or other forms of improvement of our information.“ (Wright 1992, S. 48, kursiv von K.C.)
Ich fge drei Bemerkungen hinzu: (1) In dieser Formel ist angenommen, dass die Superassertibilitt eine zeit-neutrale Bestimmung ist. Wright weist in ders. 1987b auch auf eine zeit-relative Variante der Superassertibilitt hin, die ich im nchsten Unterabschnitt erçrtern werde. Ich beachte hier zunchst nur die zeit-neutrale Variante der Superassertibilitt. (2) „Warrant“ und „information“ in dieser Formel sollen nicht auf diejenigen eingeschrnkt werden, welche von einer bestimmten Einzelperson vorgenommen werden.462 Die Erkenntnissubjekte, die eine Verifikation anfechten, mssen nicht mit denjenigen identisch sein, welche diese Verifikation ursprnglich geleistet haben. Jedes (endliche) vernnftige Wesen, das in 7.4.3 „Mitsubjekt“ genannt wurde, ist ein Teilnehmer an dem hier besprochenen Erkenntnisprozess. (3) Der kursiv gesetzte Teil in dieser Formel ist besonders wichtig. Er stellt die Forderung auf, dass eine superassertible Aussage nicht nur auf der tatschlichen, sondern auch auf jeder mçglichen Verifikationsroute unangefochten bleiben wird. Auf der ersteren mag es der Fall sein, dass eine Verifikation nur durch Zufall unangefochten bleibt, aber doch angefochten werden wrde, wenn man das betreffende Thema noch grndlicher erforschen wrde. Mit der genannten Qualifikation beabsichtigt Wright, die Superassertibilitt von solcher Zuflligkeit freizuhalten. Durch diese Betrachtung lsst sich Wrights obige Formel mithilfe meiner Terminologie der Verifikationsroute folgendermaßen przisieren: die gut begrndeten Verifikationen normalerweise nicht anzweifeln, ist natrlich kein Beweis dafr, dass solche Verifikationen wirklich unbezweifelbar sind. Die Pointe der wrightschen Idealisierung liegt darin, diese Kluft aufzuheben. 462 Horgan 1995 bersieht diesen Punkt bei seiner Kritik an der Superassertibilitt; vgl. Kenyon 1999.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
Eine Aussage ist superassertibel gdw. (a) sie an irgendeiner Station auf dem Baum der Verifikationsrouten der tatschlichen und mçglichen Mitsubjekte zunchst in anfechtbarer Weise verifiziert wird und (b) diese Verifikation an keinen nachfolgenden Stationen angefochten werden wird. 463 Damit erreicht man folgende Wahrheitskonzeption: ZN+mit SA: Eine Aussage ist wahr gdw. sie superassertibel ist. Da die oben definierte Superassertibilitt zeit-neutral ist, ist auch dies eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption. Aus der Bedingung (b) in der obigen Formel geht der wichtigste Charakter der Superassertibilitt hervor: ber Aussagen, fr welche bestenfalls anfechtbare Verifikationen verfgbar sind (wie empirische Aussagen), kann man niemals mit voller Sicherheit urteilen, ob sie wirklich superassertibel sind oder nicht. Denn dafr wre erforderlich, dass man alle Stationen der tatschlichen und mçglichen Verifikationsrouten durchlaufen kçnnte, was aber an keiner Station mçglich ist. Die Superassertibilitt ist also in diesem Sinn eine erkenntnistranszendente Eigenschaft. Dies ist aber keine missliche Konsequenz, sondern nur das, was in jedem Fall akzeptiert werden muss, sofern es um anfechtbare Verifikationen geht. Es gehçrt eben zum Wesenscharakter der anfechtbaren Verifikation, dass man nicht konklusiv feststellen kann, dass sie niemals angefochten werde. Die Superassertibilitt ist kein „Stein der Weisen“, der das Unmçgliche mçglich macht. Sie ist von Hause aus so konzipiert, dass sie jeden uns mçglichen Wissenszustand bersteigt.464 Allerdings kann man sagen, dass die Superassertibilitt einer Aussage doch in der „idealen Erkenntnislage“, die in der peirceschen Version angenommen wird, konklusiv entschieden werden wrde; denn diese Erkenntnislage soll diejenige sein, in welcher der ganze Baum der Verifikationsrouten berblickt werden kçnnte. Dies berechtigt dennoch nicht dazu, ZN+mit SA mit der peirceschen Version gleichzusetzen. Fr die 463 In dem Fall, dass eine Aussage durch verschiedene Verifikationen verifiziert wird, reicht es fr ihre Superassertibilitt schon aus, dass nur eine dieser Verifikationen unangefochten bleiben wird. Diese Verkomplizierung lasse ich aber außer Acht. 464 Um die Idee der Superassertibilitt zu kritisieren, fhrt Kvanvig 1999 verschiedene Gedankenexperimente vor, die zeigen sollen, dass es nicht konklusiv festgestellt werden kann, ob eine Aussage superassertibel ist oder nicht. Er bersieht dabei, dass dergleichen eben von Wright selbst zugestanden wird; vgl. Wright 1987b, S. 306.
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
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Superassertibilitt ist der Rekurs auf die ideale Erkenntnislage nicht konstitutiv. Die Definition der Superassertibilitt inkludiert nmlich keine Stipulation darber, in welcher Situation sie einer Aussage konklusiv prdiziert werden kçnnte.465 Im nchsten Unterabschnitt zeige ich, dass gerade wegen dieser Eigenschaft ZN+mit SA, anders als die peircesche Version, mit der kantischen Auflçsung der Antinomien vereinbar wird. Man mag einen Verdacht hegen: Ist dieses erkenntnistranszendente Konzept mit dem Anti-Realismus berhaupt vertrglich? Dagegen kçnnen zwei deutlich anti-realistische Charaktere von ZN+mit SA aufgewiesen werden. (1) ZN+mit SA fundiert die Wahrheit ohnehin auf spezifische Verifikationen, macht also solche Verifikationen fr die Wahrheit konstitutiv (was das definitive Moment des Anti-Realismus im Sinne der vorliegenden Abhandlung ist; vgl. 1.2). Dieser Charakter zeigt sich auch in folgendem Umstand: ZN+mit SA verlangt (wegen der obigen Bedingung (a) der Superassertibilitt), dass wahre Aussagen zumindest in anfechtbarer Weise verifizierbar sind. Daraus ergibt sich, dass diejenigen Aussagen, fr welche selbst anfechtbare Verifikationen unmçglich sind, berhaupt nicht wahr sein kçnnen; z. B. Aussagen ber die aktuale Unendlichkeit des Universums. Der Realismus hingegen muss wegen seines radikal verifikationsunabhngigen Charakters zugestehen, dass auch solche Aussagen wahr sein kçnnen. (2) Man kann zwar nicht konklusiv feststellen, dass eine Aussage superassertibel (also ZN+mit SA zufolge wahr) sei, dies jedoch infolge des Fortschreitens der Forschung immer plausibler machen und somit die Verifikation dieser Aussage strken. So versichert uns ZN+mit SA, genauso wie die peircesche Version, dass die immanente Verbesserung unserer Erkenntnisse (z. B. die Vermehrung und Integrierung derselben) ein sinnvoller Zug fr die Suche nach der Wahrheit ist. Dies zu gewhrleisten, ist fr den Realismus eine besonders schwierige Aufgabe, die allerdings nicht begrifflich aus seiner Wahrheitskonzeption heraus bewltigt werden kann. So wird ZN+mit SA von der realistischen Wahrheitskonzeption zu Recht differenziert. Ich diskutiere nun kurz das Thema der Logik fr ZN+mit SA. Es ist zunchst leicht einzusehen, dass diese Version das Bivalenzprinzip nicht allgemein gelten lsst. In ihr ist es gleichbedeutend mit der Behauptung, 465 Szubka bersieht diesen Punkt bei seiner Kritik an der Superassertibilitt; vgl. ders. 2000, besonders S. 182.
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dass jede Aussage entweder superassertibel sei oder nicht, und dafr ist es nçtig, dass jede Aussage zumindest in anfechtbarer Weise verifizierbar oder falsifizierbar ist. Dies kann aber nicht im Allgemeinen garantiert werden; es mag der Fall sein, dass eine Aussage, selbst in anfechtbarer Weise, weder verifiziert noch falsifiziert werden kann. – Es ist schwierig, darber hinaus festzustellen, welche konkreten Logiken zu dieser Version passen. Die intuitionistische Logik ist hierfr nicht verfgbar, denn sie setzt die Monotonizitt voraus und demgemß wird jede Verifikation als unanfechtbar behandelt. Tomassi 2006 hat fr die Superassertibilitt eine alternative Logik entwickelt, die auf seinem „dialogue system“ basiert. Die berprfung dieses Vorschlags sprengt aber den Rahmen der vorliegenden Abhandlung, weshalb ich diesen Punkt hier lieber offen lasse. Die bisherige Darstellung erschçpft nicht alle Fragestellungen, die Wright in Bezug auf die Superassertibilitt diskutiert. Diese wird manchmal hinsichtlich der Punkte kritisiert, die oben nicht erçrtert wurden. Solche Kritiken sind, selbst wenn die Kritiker dabei Recht haben sollten (ich enthalte mich hier des Urteils), irrelevant fr das hiesige Ziel, nmlich mçgliche Optionen fr den kantischen Anti-Realismus auszuarbeiten. Ich fhre hier drei solche Diskussionspunkte an. (1) Kann die Superassertibilitt eine Wahrheitskonzeption liefern, die auf alle strittigen Klassen von Aussagen unterschiedslos anwendbar ist?466 (2) Gilt das Bikonditional: „p“ sei superassertibel gdw. p, allgemein, nmlich neutral zum Realismus/Anti-Realismus?467 (Wenn dieses Bikonditional nicht gilt, kann die Wahrheitskonzeption aufgrund der Superassertibilitt die quivalenzthese („p“ sei wahr gdw. p) nicht akzeptieren.) (3) Ist die Superassertibilitt mit Dummetts „manifestation-argument“ gegen den Realismus vertrglich?468 Der erste Punkt ist irrelevant, weil es sich in meiner hiesigen Zielsetzung nur um raumzeitbezgliche Aussagen handelt. Was den zweiten Punkt anbelangt, setzt ZN+mit SA als eine Wahrheitskonzeption die quivalenzthese voraus; durch diese wird das betreffende Bikonditional ohne weiteres 466 Z.B. Horgan 1996 und Pettit 1996. Darauf entgegnet Wright, dass er dergleichen nicht beabsichtigt; vgl. ders. 1996, S. 920 f. 467 Z.B. Van Cleve 1996 und Kvanvig 1999. 468 Z.B. Tennant 1998.
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
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gerechtfertigt. Der dritte Punkt muss im Rahmen der hiesigen Kant-Interpretation nicht entschieden werden.469 Damit beende ich die allgemeine Erluterung der Superassertibilitt und der daraus resultierenden Wahrheitskonzeption. Die nchste Frage ist, ob diese eine mçgliche Option fr den kantischen TrI sein kann. 7.5.3 Anwendung der Superassertibilitt auf das kantische System Die Superassertibilitt gehçrt freilich nicht zu Kants eigenem Begriffsapparat. Zudem hat er ber das Problem der Anfechtbarkeit kaum reflektiert. Es ist also aussichtslos, die Superassertibilitt durch textliche Belege zu sttzen. Zu erwarten ist allenfalls, dass ZN+mit SA mit Kants sonstigen Behauptungen und Argumentationen vertrglich sein kann. Ich erçrtere hier besonders zwei Punkte; erstens, dass diese Version mit der kantischen Auflçsung der Antinomien, vor allem mit der These, dass die Bedingungsreihen weder endlich noch aktual-unendlich seien, vereinbar ist, und zweitens, dass sie die in 7.3.3 (C) erçrterte Unterscheidung zwischen Regressus in infinitum/in indefinitum untersttzen kann. Fangen wir mit dem ersten Punkt an. Was die Alternative der Endlichkeit angeht, wird sie von Kants metaphysischem Argument (vgl. oben, 7.1.1) zurckgewiesen, genauso wie in ZN. Dieses Argument zeigt nmlich, dass die Endlichkeit der Bedingungsreihen schlechthin unmçglich ist, also auch nicht superassertibel. Fr die Ablehnung der aktualen Unendlichkeit muss Folgendes beachtet werden: Aus der Bedingung (a) der Superassertibilitt ist ersichtlich, dass ZN+mit SA gemß diejenigen Aussagen, welche an keiner einzelnen Station der Verifikationsrouten – selbst in anfechtbarer Weise – verifiziert werden, berhaupt nicht wahr sein kçnnen. Es ist nun niemals verifizierbar, dass eine Bedingungsreihe aktual-unendlich ist, denn dafr wre es erforderlich, dass man unendlich viele Glieder derselben bis zu einer einzelnen Station vollstndig durchlaufen htte, was fr keine einzelne Station mçglich ist. Folglich kann die Aussage „Es gibt aktual-unendliche Bedingungsreihen“ nicht superassertibel sein und dies bedeutet, dass diese Aussage falsch ist. Hierdurch wird der Unterschied zwischen ZN+mit SA und der peirceschen Version noch deutlicher. Der letzteren zufolge wird der Wahr469 Dieser Punkt darf nicht ignoriert werden bei dem Versuch, Dummetts Bedeutungstheorie als solche auf den kantischen TrI anzuwenden, was aber nicht die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung ist.
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Kapitel 7 Kantische Version des Anti-Realismus
heitswert von Aussagen in Rekurs auf die „ideale Erkenntnislage“ bestimmt, in welcher die Mçglichkeit der Anfechtung ex hypothesi nicht mehr besteht. Diese Erkenntnislage entspricht, in der Terminologie der Verifikationsrouten ausgedrckt, gerade dem Standpunkt, von dem aus alle (aktual-)unendlich vielen Stationen der tatschlichen sowie mçglichen Verifikationsrouten vollstndig berblickt werden kçnnten; weshalb die peircesche Version auf die Setzung der absoluten Totalitt der Bedingungsreihen festgelegt wird (vgl. 7.1.2 (A)). ZN+mit SA verlangt hingegen, dass Verifikationen, die die Wahrheit fundieren, an einzelnen Stationen zugnglich sind und in beliebiger Erweiterung unseres Wissens unangefochten bleiben. Diese Version postuliert also nicht die aktual-unendliche Totalitt unserer (tatschlichen und mçglichen) Erkenntnisse, sondern allenfalls einen potentiell-unendlichen Fortgang derselben. Damit beabsichtige ich allerdings nicht zu behaupten, dass ZN+mit SA sachlich attraktiver als die peircesche Version ist, geschweige denn, dass die letztere an sich unhaltbar ist. Es kommt hier nur auf die exegetische berlegung an, dass ZN+mit SA in die kantische Auflçsung der Antinomien erfolgreich integriert werden kann, whrend dies bei der peirceschen Version nicht der Fall ist. Was nun den zweiten Punkt anbelangt, kann ZN+mit SA folgende zwei Stze als distinkte Behauptungen unterscheiden, genauso wie ZN:
d d
(Q) Jedes Glied (der Bedingungsreihen) hat nachfolgende Glieder [8x9y (y folgt x nach)]. (R) Es gibt kein Glied, das keine nachfolgenden Glieder hat [8x 9y (y folgt x nach)].
d
d d
(Q) bedeutet in ZN+mit SA, dass es fr jedes Glied superassertibel ist, dass ihm nachfolgende Glieder entdeckt werden kçnnen. (R) bedeutet hingegen, dass es fr kein Glied superassertibel ist, dass ihm nachfolgende Glieder nicht entdeckt werden kçnnen (vgl. dies mit dem Fall von ZN, 7.2.3 (C)). Die beiden fallen nicht zusammen, denn das Letztere garantiert fr sich allein noch nicht, dass man durch den Regressus immer weitere Glieder erfolgreich entdecken kann, was fr (Q) erforderlich ist. Man kann zudem im Allgemeinen sagen, dass in ZN+mit SA nicht nur das Bivalenzprinzip, sondern auch die Elimination der doppelten Negation ASA] abgelehnt wird. Denn die Information, dass A keine un[ angefochten bleibende Verifikation haben kann, liefert fr sich allein keine Garantie, dass eine unangefochten bleibende Verifikation fr A erworben werden kann. Es ist auch daraus einsichtig, dass (Q) und (R) in ZN+mit SA differenziert werden.
7.5 Problem der Anfechtbarkeit
331
Aus der bisherigen Betrachtung kann man konkludieren, dass ZN+mit SA eine mçgliche Option fr den kantischen TrI ist. Die Superassertibilitt wurde im letzten Unterabschnitt als zeit-neutrale Bestimmung dargestellt. Wright deutet auch auf die Mçglichkeit der zeitrelativen Superassertibilitt hin (vgl. ders. 1987b, S. 300 – 2). Diese lsst sich folgendermaßen formulieren: Eine Aussage ist zum Zeitpunkt t superassertibel gdw. (a’) sie an irgendeiner Station derjenigen tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten, die aus der tatschlichen Station zu t entspringen, zunchst in anfechtbarer Weise verifiziert wird und (b’) diese Verifikation an keiner nachfolgenden Station angefochten werden wird. Daraus ergibt sich folgende zeit-relative Wahrheitskonzeption, die mit ZR+verwandt ist: ZR+mit SA: Eine Aussage ist zu t wahr gdw. sie zu t superassertibel ist. Diese Version ist kohrent sowohl mit Kants Ablehnung der Endlichkeit und der aktualen Unendlichkeit der Bedingungsreihen als auch mit seiner Unterscheidung zwischen Regressus in infinitum/in indefinitum, genauso wie ZR+. Im vorliegenden Kapitel sind verschiedene Versionen des Anti-Realismus konstruiert sowie berprft, und dadurch fnf Versionen, nmlich ZN, ZR+, ZN+, ZN+mit SA, und ZR+mit SA, als mçgliche Optionen fr den kantischen TrI ausgearbeitet worden. Was Kants Selbstverstndnis anbelangt, so drfte wohl ZN seiner Ansicht am nchsten stehen, denn er hat ber die Probleme, die durch die Mçglichkeit des Verlusts der Erkenntnisse sowie die Anfechtbarkeit empirischer Aussagen verursacht werden, kaum reflektiert und dies deutet darauf hin, dass Kant so etwas wie die Monotonizitt unbesehen annimmt. Die letzteren vier Versionen sind Modifikationen von ZN in Rcksicht auf diese Probleme. Von den genannten Versionen finde ich ZN+mit SA die beste Option fr den kantischen TrI; vor allem aus dem sachlichen Grund, dass damit das Problem der Anfechtbarkeit gelçst und zugleich auch die Stabilitt der Wahrheit gesichert wird. Dieser sachliche Vorteil ist jedoch in exegetischer Hinsicht kein zwingender Grund fr die Begnstigung dieser Version. Ich lasse also hier alle fnf als mçgliche Optionen fr den TrI gelten.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Allerdings will ich nicht behaupten, dass dieses Ergebnis endgltig ist. Es kann sein, dass man eines Tages, weitere Aspekte der kantischen Philosophie mit einbeziehend, eine noch attraktivere Version des kantischen Anti-Realismus herausarbeiten wird. Ein solcher Versuch wre mir vielmehr willkommen. Dafr kçnnte meine Untersuchung einen Ansatzpunkt bieten, indem sie Diskussionspunkte herausstellt, die bei jedem solchen Versuch bercksichtigt werden mssen. Ich gebe mich hier damit zufrieden, dass solche Diskussionspunkte hervorgehoben und zudem bestimmte Kandidaten fr den kantischen Anti-Realismus zur kommenden Diskussion gestellt worden sind.
Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion Obwohl Kant fr raumzeitliche Gegenstnde einen Anti-Realismus annimmt, bespricht er auch „Dinge an sich“. Die beiden sind zwar nicht identisch, aber auch nicht beziehungslos. Demnach stellt sich die Frage: Wie verhalten sich Dinge an sich zur raumzeitlichen Wirklichkeit? Wichtig ist vor allem folgender Aspekt: Dinge an sich affizieren uns dazu, in unserem Gemt die sinnliche Materie fr die empirische Erkenntnis hervorzubringen; da aber raumzeitliche Gegenstnde (Erscheinungen) von unserer empirischen Erkenntnis abhngen, kçnnen Dinge an sich insgesamt als Grund der Erscheinungen bezeichnet werden. Dieser Umstand wird in der Literatur mit dem Titel „transzendentale Affektion“ bezeichnet. Es ist aber zugleich nicht zu leugnen, dass die These von der transzendentalen Affektion im Rahmen der KdrV problematisch erscheint. Es ist traditionell – typischerweise von F. H. Jacobi – behauptet worden, dass sie mit der Unerkennbarkeit der Dinge an sich (bzw. der Unanwendbarkeit der Kategorien darauf ) schwer zu vereinen ist. Es ist außerdem fragwrdig, ob sie mit dem Anti-Realismus berhaupt vertrglich ist. Sie behauptet nmlich, dass die Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde durch die der Dinge an sich bestimmt wird. Dies entspricht anscheinend einer realistischen Position. – Angesichts dieser Probleme ist es gut verstndlich, dass nicht wenige Kant-Interpreten (z. B. Bird 1962, Prauss 1974, Pogge 1991, Falkenstein 1995 und Hanna 2001) bevorzugen, den TrI von der Annahme der transzendentalen Affektion zu befreien. Dagegen verteidige ich die transzendentale Affektion, zwar nicht in der Form, wie sie von Kant selbst dargestellt wird, aber in einer abgeschwchten Form. Ich werde zeigen, dass die so modifizierte Theorie der transzen-
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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dentalen Affektion fr Kants Theorie der Erfahrung, ja sogar fr den AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde berhaupt, unentbehrlich ist. Was ich in diesem Kapitel beabsichtige, ist die rationale Rekonstruktion einer konsequenten Theorie der Dinge an sich und der Affektion, die im Rahmen der KdrV vertretbar ist. Dieser Zielsetzung wegen muss ich darauf verzichten, alle Aussagen Kants ber diesbezgliche Themen gleichermaßen gelten zu lassen. Ich fokussiere mich vielmehr auf die fr die KdrV zentralen Doktrinen und Kants Argumentationen fr diese. Diese Doktrinen sind z. B. die Erforderlichkeit der Rezeptivitt fr die empirische Erkenntnis und die Unerkennbarkeit der Dinge an sich. Hierzu rechne ich auch den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde. – Es gelingt Kant nirgendwo, eine einheitliche Theorie der Dinge an sich vorzubringen, die alle diese Elemente konsistent integrieren kann. Eine derartige Theorie auszuarbeiten ist die Aufgabe der Interpreten. Indessen legt meine folgende rationale Rekonstruktion den Schwerpunkt nicht sowohl auf die sachliche Attraktivitt der daraus resultierenden Theorie, als vielmehr auf deren Folgerichtigkeit innerhalb des kantischen Systems. So differenziert sie sich vom Projekt der Fortentwicklung der kantischen Philosophie la Strawson, Prauss, Guyer, Langton, Westphal usf. Mein Versuch ist in dieser Hinsicht bescheidener, man wird aber feststellen, dass schon dabei mehrere Schwierigkeiten auftreten. Dieses Kapitel hat fnf Abschnitte: In 8.1 mache ich eine Vorbemerkung zu relevanten Termini. In 8.2 stelle ich heraus, dass der TrI eben wegen seines Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde die transzendentale Affektion erfordert. In den nachfolgenden zwei Abschnitten versuche ich, zwei wichtige Probleme der transzendentalen Affektion zu beseitigen. Das erste betrifft die Unerkennbarkeit der Dinge an sich und das Problem der Kategorienanwendung auf diese (8.3), das zweite die anscheinende Unvertrglichkeit der transzendentalen Affektion mit dem Anti-Realismus (8.4). In 8.5 fge ich die bisherigen Ergebnisse zu einer einheitlichen Theorie von raumzeitlichen Gegenstnden (Erscheinungen) und Dingen an sich zusammen und versuche darauf basierend, das in 6.4 erwhnte Problem von Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs zu lçsen. 8.1 Vorbereitende Erluterungen In 8.1.1 gebe ich eine terminologische Erluterung ber „Dinge an sich“ und dazu gehçrende Termini wie „transzendentaler Gegenstand“ und
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
„Noumena“. In 8.1.2 stelle ich Kants Begriff der „Affektion“ und drei traditionelle Interpretationsalternativen derselben dar. 8.1.1 „Dinge an sich“, „transzendentaler Gegenstand“ und „Noumena“ Dinge an sich Der Terminus „Dinge an sich“ wird nicht nur darum verwendet, um Gegenpositionen zum kantischen TrI zu charakterisieren (wie derart: „Der transzendentale Realist stellt sich also ußere Erscheinungen [. . .] als Dinge an sich selbst vor“ (A369)). Er findet auch substantielle Verwendung innerhalb des kantischen Systems. Dies entspricht der Unterscheidung Allisons zwischen „polemical use“ und „positive use“ fr den Terminus „Ding an sich“ (vgl. ders. 2004, S. 51; auch Pogge 1991, S. 506, Anm. 18). Es ist zunchst anzumerken: Dass dieser Terminus in zwei verschiedenen Kontexten verwendet wird, belegt fr sich allein noch nicht, dass er dabei auch in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird.470 – Methodologische Zwei-Aspekte-Interpreten mssen aber Letzteres annehmen, denn zumindest in Textpassagen, in den sich der „polemical use“ des Terminus „Ding an sich“ findet, verwendet Kant diesen Terminus deutlich in dem Sinne, den diese Interpreten nicht als die spezifisch kantische Bedeutung des „Dings an sich“ anerkennen kçnnen. Dieser Punkt legt ihnen eine besondere Beweislast auf. In Kapitel 3 wurden nun drei verschiedene Optionen zur Interpretation der kantischen Unterscheidung von „Erscheinung“ und „Ding an sich“ dargelegt, nmlich die Zwei-Welten-Interpretation, die metaphysische und die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation. Ich charakterisiere diese drei hier aus einer anderen Perspektive. Alle drei Optionen sind darin einig, dass die „Erscheinung“ in irgendeinem Sinn von unserer (sinnlichen) Erkenntnis abhngt, ob sie nun als distinkte Entitt oder als Aspekt des Dings verstanden wird. Was ist nun unter dem „Ding an sich“ zu verstehen? Dieses ist zunchst als „Gegenstand des Denkens (bzw. des reinen Verstandes)“ zu charakterisieren, im Kontrast zur „Erscheinung“ als Gegenstand der sinnlichen Erkenntnis. Diese Charakteristik kann jedoch auf zwei verschiedene Weisen gedeutet werden. 470 Diese Unterscheidung wird nicht von Kant selbst explizit vorgenommen. Ich werde gleich zeigen, dass seine Unterscheidung zwischen der „negativen“ und der „positiven Bedeutung“ von Noumena kein Beispiel dafr ist.
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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(I) In der ersten Deutung ist das Ding an sich im wesentlichen Sinne ein „Gegenstand des Denkens“, d. h. in dem Sinn, dass es durch den reinen Verstand – ob als ein Strukturmoment der „Erscheinung“ (wie in dem „Subtraktionsmodell“) oder als ein bloß mçglicher Sachverhalt (wie in dem „Additionsmodell“; vgl. oben, 3.2) –, gesetzt wird, so dass der Faktor „durch den reinen Verstand gedacht zu werden“ den definitorischen Gehalt des Begriffs „Ding an sich“ ausmacht. In diesem Fall wird selbst die Mçglichkeit, dass das dadurch Gedachte vielleicht auch von unserem Erkenntnisvermçgen unabhngig wirklich sein mag, von vornherein ausgeschlossen. Man denke an folgendes Analogon: Sherlock Holmes ist ein Produkt der Dichtungsaktivitt von Arthur Conan Doyle. Kein real existierender Mann kann mit diesem Holmes identisch sein, wie hnlich immer er diesem sein mag, sogar auch wenn er in der Tat „Sherlock Holmes“ heißt. Denn (Conan Doyles) Sherlock Holmes wurde von Anfang an als eine fiktive Person erdacht. Gleichfalls ist das „Ding an sich“ in dieser Deutung nicht dasjenige, was als etwas von unserem Erkenntnisvermçgen Unabhngiges gedacht wird, sondern per definitionem bloß dasjenige, was durch den reinen Verstand gesetzt wird.471 (II) In der zweiten Deutung hingegen ist das definitorische Moment des „Dings an sich“ vielmehr, dass es unabhngig von unserer Erkenntnis ist (falls dergleichen berhaupt existiert). Auch in diesem Fall wird eingerumt, das Ding an sich in folgendem Sinne als „Gegenstand des Denkens“ zu charakterisieren: Weil das Ding an sich fr uns unerkennbar ist, ist es allenfalls durch ein bloßes Denken (ohne Wissensanspruch) mçglich, das Ding an sich berhaupt zum Gegenstand fr uns zu machen. – Ich bezeichne das in den obigen zwei Arten gedeutete Ding an sich jeweils als „Ding an sich (I)“ und „Ding an sich (II)“. Aus dem Begriff des Dings an sich (II) entspringen noch zwei weitere Positionen: (IIa) Wir kçnnen (zumindest in der theoretischen Philosophie) nicht mit epistemischer Rechtfertigung behaupten, dass Dinge an sich wirklich existieren, sondern nur, dass der Begriff solcher Dinge nicht widersprchlich ist (so dass es logisch mçglich ist, dass solche Dinge existieren). 471 Das bedeutet nicht, dass dem derart gedachten Ding an sich der Status der „Wirklichkeit“ in keinem Fall zukommen kann. Dergleichen ist z. B. in Kants praktischer Philosophie mçglich. Jedoch wird auch in diesem Fall die „Wirklichkeit“ abhngig von uns gemacht, diesmal von der praktischen Erkenntnis.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
(IIb) Wir sind berechtigt zu behaupten, dass Dinge an sich existieren (bzw. dass Dinge den „an sich“-Aspekt wirklich haben), obwohl wir sie nicht konkret erkennen kçnnen. Der Unterschied zwischen (I) und (IIa) darf nicht bersehen werden. Die Position (IIa) erkennt den Begriff von Dingen an sich als einem Erkenntnisunabhngigen (nmlich Ding an sich (II)) an; nur dass sie sich enthlt, die Existenz solcher Dinge an sich positiv zu behaupten. Die Deutung (I) hingegen verneint einen solchen Begriff schlechthin. Es ist nun nur das Ding an sich (I), das die (konsequent ausgefhrte; vgl. 3.2) methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation akzeptieren kann. Denn wenn man selbst nur den Begriff des Dings an sich (II) einrumt, muss man zugleich die Mçglichkeit zugestehen, dass etwas Erkenntnisunabhngiges vielleicht wirklich existiert. Dies fhrt zur Einrumung der Mçglichkeit, dass es einige „standpoint-independent facts of the matter“ gibt, was die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation ausdrcklich verneint (vgl. 3.2). Eben deswegen macht sie sich exegetisch unplausibel, so dass sie allenfalls als eine rationale Rekonstruktion hingenommen werden kann. In 8.2 werde ich zeigen, dass sie nicht einmal als rationale Rekonstruktion vertretbar ist, weil die Annahme der Existenz der Dinge an sich (II) ein respektables, sogar uneliminierbares Element der kantischen Erkenntnistheorie ist. Die Zwei-Welten-Interpretation nimmt den Begriff des Dings an sich (II) an und behauptet blicherweise zudem, dass solche Dinge an sich wirklich existieren (nmlich die Position (IIb)). Sie erlaubt aber auch solche Varianten, die vielmehr der obige Position (IIa) entsprechen (wie Rescher 1972, 1981 und Hanna 2001). Die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation hingegen ist auf die Position (IIb) festgelegt; sie kann nmlich die Mçglichkeit nicht einrumen, dass der „an sich“-Aspekt des Dings nur ein von uns problematisch Gedachtes und in Wahrheit nicht wirklich ist. Dieser Umstand lsst sich folgendermaßen erklren: Die metaphysische Zwei-Aspekte-Interpretation deutet „Erscheinung“ und „Ding an sich“ jeweils als die erkenntnisabhngige und die erkenntnisunabhngige Beschaffenheit von denselben Dingen. Wenn man nun selbst die Mçglichkeit einrumt, dass diese Dinge die letztere Beschaffenheit berhaupt haben kçnnen, muss man zugleich zugestehen, dass sie selbst unabhngig von unserer Erkenntnis existieren (so wird sie zunchst auf die realistische Zwei-Aspekte-Interpretation festgelegt, wie in 3.1 erwiesen wurde). Dies impliziert aber schon, dass solche Dinge in der Tat eine erkenntnisunabhngige Beschaffenheit haben (denn
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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es wre absurd zu denken, dass erkenntnisunabhngig existierende Dinge „an sich selbst“ keine Beschaffenheit haben). Wir kçnnen allerdings diese Beschaffenheit (den „an sich“-Aspekt) nicht konkret erkennen; dies ist aber natrlich eine ganz andere Sache als dass wir nicht einmal ihre Wirklichkeit anerkennen kçnnen. Ich lehne diese Interpretationsoption ab, weil sie eine realistische Interpretation des TrI ist, die ich in Teil II zurckgewiesen habe. Was ich im Nachfolgenden verteidige, ist eine Variante der ZweiWelten-Interpretation. Wie jedoch in 6.2 gezeigt wurde, spricht Kant manchmal auch im Rahmen der Zwei-Aspekte-Lehre. Man kann also bei der konkreten Textanalyse die zwei-aspekte-artige Deutung von „Ding an sich“ nicht ignorieren. Ich lasse sie also im Nachfolgenden noch als eine mçgliche Lesart fr einzelne Textpassagen gelten. Ich fge eine Bemerkung bei: Ich verwende manchmal die Pluralform „Dinge an sich“, damit impliziere ich aber nicht die positive Behauptung, dass es mehrere Dinge an sich gibt. Der Grund fr diese Wendung ist lediglich, dass man ebenfalls nicht positiv behaupten kann, dass es nur ein einziges Ding an sich gibt. Transzendentaler Gegenstand Betrachten wir zuerst die textliche Sachlage. Nach einer elektronischen Textrecherche mit Kant im Kontext III bin ich zu dem Schluss gekommen, dass der Terminus „transscendentaler Gegenstand“ (bzw. „transscendentales Object (Obiect)“) mit fnf Ausnahmen (Refl. 5554, Ak. 18, S. 230 (dreimal), Refl. 5654, Ak. 18, S. 312 und Refl. CLIV, Ak. 23, S. 38) nur in der KdrV erscheint.472 Es ist besonders bemerkenswert, dass er in den fr die Zweitauflage umgeschriebenen Teilen der KdrV sowie in Kants sonstigen verçffentlichten Schriften niemals vorkommt. Dieser Terminus wird nun in mindestens zwei verschiedenen Bedeutungen verwendet. In den meisten Fllen bedeutet er gerade Ding an sich (II),473 vornehmlich in folgenden zwei Hinsichten: (a) Der transzendentale 472 In concreto: A46/B63, A109 (dreimal), A191/B236, A250 (zweimal), A251, A253, A277/B333, A288/B344, A358, A361, A366, A372, A379, A390, A393 (zweimal), A394 (zweimal), A478/B506 Anm., A494/B522 (zweimal), A495/B523, A538/B566 (zweimal), A540/B568, A545/B573, A557/B585, A565/B593, A613/ B641, A679/B707 und A698/B726. 473 Z.B.: „[. . .] so denkt er sich einen Gegenstand an sich selbst, aber nur als transzendentales Objekt, das die Ursache der Escheinung (mithin selbst nicht Erscheinung) ist“ (A288/B344). „Was Materie fr ein Ding an sich selbst (transzendentales Objekt) sei, ist uns zwar gnzlich unbekannt“ (A366). „Denn wir
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Gegenstand soll unabhngig von unserer Erkenntnis existieren (falls so etwas berhaupt existiert). (b) Er ist fr uns unerkennbar, nicht deswegen, weil er (wie Ding an sich (I) im Subtraktionsmodell) per definitionem keine zu erkennende Eigenschaft hat, sondern vielmehr, weil er, wie Dinge an sich (II), etwas Erkenntnisunabhngiges sein soll. Nur an seltenen Textstellen, nmlich in A 109 (Transzendentale Deduktion), A250, A251, A253 („Phaenomena und Noumena“), wird eine Ausnahmeverwendung gefunden. Es ist schwierig, die Bedeutung in dieser Verwendung exakt festzustellen,474 dies ist aber hier nicht nçtig. Fr die nachfolgende Diskussion relevant ist Folgendes: (a) Der „transzendentale Gegenstand“ in dieser Bedeutung bezeichnet keine reale Entitt, sondern vielmehr so etwas wie die „allgemeine begriffliche Struktur, die allen Gegenstnden gemeinsam ist“ (Willaschek 1996, S. 333); er kann also freilich nicht mit Ding an sich (II) identifiziert werden. (b) Er ist ebenfalls fr uns unerkennbar, aber nicht deswegen, weil er von unserer Erkenntnis unabhngig ist, sondern vielmehr, weil er keinen zu erkennenden Gehalt mit sich fhrt. (c) Da er keine reale Entitt ist, der auf uns irgendeinen wirklichen Einfluss ausben kçnnte, so kann er freilich nicht „Ursache der Erscheinung“ (vgl. z. B. A288/B344 und A494/B522) sein. Was fr ein Zusammenhang zwischen den beiden Bedeutungen besteht (oder ob Kant vielleicht unbesehen zwei unterschiedlichen Sachen denselben Namen beilegt), ist ein schwieriges Thema, das aber hier nicht erçrtert werden muss. Es kommt hier darauf an, beide Bedeutungen klar auseinanderzuhalten. Im Nachfolgenden verwende ich, wie Kant es in den meisten Fllen tut, den Terminus „transzendentaler Gegenstand“ in der ersteren Bedeutung, (nmlich im Sinne von Ding an sich (II)), falls ich keine ergnzende Erluterung hinzufge.
haben nur ein Etwas vorausgesetzt, wovon wir gar keinen Begriff haben, was es an sich selbst sei (einen bloß transzendentalen Gegenstand)“ (A697 f./B725 f.). Man mag vielleicht denken, dass der „transzendentale Gegenstand“ in dieser Verwendung vom Ding an sich (II) doch in folgender Hinsicht unterschieden ist: Er soll nicht mit einem einzelnen Ding an sich, sondern vielmehr mit dem Ganzen aller Dinge an sich (d. h. mundus intelligibilis) gleichgesetzt werden. Obwohl diese Deutung z. B. von A494/B522 nahegelegt wird, finde ich eine solche Unterscheidung gar nicht der Rede wert. Denn allerdings gilt auch fr das Ding an sich, dass wir nicht positiv behaupten kçnnen, dass es im Plural zu besprechen ist. 474 Allison 1968 ist eine immer noch sehr belehrende Untersuchung dieses Themas; vgl. auch ders. 2004, S. 60 f.
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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Noumena Auch „Noumena“ werden manchmal mit „Dingen an sich“ gleichgesetzt.475 Diese Gleichsetzung erscheint aber problematisch angesichts der Kapitel „Phaenomena und Noumena“ und „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“, in denen Kant die Noumena thematisch erçrtert. Die dortigen Diskussionen sind aber sehr wirr und, falls sie wçrtlich genommen werden, sowohl innerlich inkonsistent als auch mit Kants manchen Aussagen außerhalb dieser Kapitel unvereinbar. Ich mçchte hier auf zwei interpretatorische Probleme aufmerksam machen; das eine handelt von dem Begriff der Noumena, das andere von der Existenzbehauptung derselben. Fangen wir mit dem ersteren an. Dieses Thema ist in B305 – 9 von „Phaenomena und Noumena“ am ausfhrlichsten erçrtert. Obwohl Kants dortige Diskussion in manchen Hinsichten unklar ist, steht zumindest soviel außer Zweifel, dass er dort folgende zwei Behauptungen aufstellt: (A) Fr Noumena sind eine „negative“ und eine „positive Bedeutung“ zu unterscheiden. (B) Nur die erstere ist im kantischen System zulssig. Beide Behauptungen zusammen genommen erwecken folgenden Eindruck: Kant ist der Ansicht, dass die „negative“ und die „positive Bedeutung“ jeweils zwei unterschiedlichen Begriffen der Noumena entsprechen, und dass der Begriff, dem die letztere entspricht, in seinem System berhaupt nicht zulssig ist, selbst nicht als „Grenzbegriff“, nmlich um „die Anmaßung der Sinnlichkeit einzuschrnken“ (A255/B311). In diesem Fall ist es das „Noumenon in negativer Bedeutung“, das als „Grenzbegriff“ verwendet wird. Dieser Eindruck drfte wohl verstrkt werden, wenn man Kants eigene Erklrung der „negativen“ und der „positiven Bedeutung“ der Noumena beobachtet: „Wenn wir unter Noumenon ein Ding verstehen, so fern es nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist, indem wir von unserer Anschauungsart desselben abstrahieren; so ist dieses ein Noumenon im negativen Verstande. Verstehen wir aber darunter ein Objekt einer nichtsinnlichen Anschauung, so nehmen wir eine besondere Anschauungsart an, nmlich die intellektuelle, die aber nicht die unsrige ist, von welcher wir auch die Mçglichkeit nicht 475 Z. B. A259/B315 („Dingen an sich selbst, (Noumena)“) und B422Anm. („Sache an sich selbst, (Noumenon)“). Vgl. auch B307, A254/B310, A256/B312, A287/ B344, A288/B345, A289/B346; Prolegomena, Ak.. 4, S. 312 und S. 315; Streitschrift, Ak.. 8, S. 207 und S. 208.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
einsehen kçnnen, und das wre das Noumenon in positiver Bedeutung.“ (B307)
Dies legt folgende Deutung nahe: Der Unterschied zwischen der „negativen“ und der „positiven Bedeutung“ entspricht geradezu dem Unterschied zwischen Ding an sich (I) und (II). Das „Noumenon in negativer Bedeutung“ ist nmlich dasjenige, was durch den reinen Verstand gesetzt wird. Hingegen bezeichnet das „Noumenon in positiver Bedeutung“ dasjenige, was als Erkenntnisunabhngiges angenommen wird, denn wenn dergleichen wirklich existiert, muss es fr die intellektuelle Anschauung erkennbar sein (dies folgt direkt aus der Bestimmung der „intellektuellen Anschauung“). Und die Behauptung (B) mit einbeziehend kann man daraus konkludieren, dass der Begriff des Dings an sich (II) im kantischen System berhaupt nicht, nicht einmal als „Grenzbegriff“, zulssig ist. So verstanden wrde das obige Zitat als ein Beleg fr die methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation dienen.476 Indessen kollidiert diese Deutung mit folgender Aussage Kants in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“: „Verstehen wir darunter [sc. unter „bloß intelligiblen Gegenstnden“] nur Gegenstnde einer nichtsinnlichen Anschauung [. . .], so mssen Noumena in dieser bloßen negativen Bedeutung allerdings zugelassen werden: da sie denn nichts anderes sagen, als: daß unsere Art der Anschauung nicht auf alle Dinge, sondern bloß auf Gegenstnde unserer Sinne geht, folglich ihre objektive Gltigkeit begrenzt ist, und mithin fr irgendeine andere Art Anschauung, und also auch fr Dinge als Objekte derselben, Platz brigbleibt.“ (A286/ B342 f.)
berraschend ist nicht nur, dass Kant hier „Gegenstnde einer nichtsinnlichen Anschauung“ mit Noumena in negativer Bedeutung gleichsetzt. (Soviel kçnnte man ja als einen – bei Kant nicht seltenen – unglcklichen Ausdruck wegerklren.) Noch wichtiger ist vielmehr, dass er hier den Begriff der Noumena qua Gegenstnde der nicht-sinnlichen Anschauung gerade als „Grenzbegriff“ verwendet. Daraus allein wird schon ersichtlich, dass Kant nicht beabsichtigt, den Begriff davon, was er in B307 „Noumenon in positiver Bedeutung“ nennt, komplett abzulehnen. Dies spricht zugleich dafr: Die obige Behauptung (B) kann, dem Anschein entgegen, nicht zugunsten der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation ver476 Deren Vertreter fhren diese Textpassage in der Tat als einen textlichen Beleg dafr an; vgl. Pogge 1991, S. 506, Allison 1996, S. 184, Anm. 2 und Grier 2001, S. 88 f.; vgl. dazu Willaschek 2001, S. 214 (obwohl er selbst kein Anhnger der methodologischen Zwei-Aspekte-Interpretation ist).
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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standen werden, nmlich nicht derart, dass im kantischen System nur Ding an sich (I) zulssig ist. Angesichts dessen wird es fragwrdiger, was fr ein Unterschied zwischen der „negativen“ und der „positiven Bedeutung“ der Noumena berhaupt besteht. Die beiden werden anscheinend immer noch dadurch differenziert, dass das „Noumenon in negativer Bedeutung“ dasjenige ist, was als etwas von unserer (sinnlichen) Erkenntnis Unabhngiges gedacht wird, das „Noumenon in positiver Bedeutung“ hingegen dasjenige, was als Gegenstand der intellektuellen Anschauung gedacht wird. Dieser Unterschied erweist sich aber als leer. Zum einen wird durch ihn das positive Noumenon unter das negative Noumenon subsumiert, denn, da die intellektuelle Anschauung zumindest denkbar ist (was Kant nicht ablehnt), kann man auch deren Gegenstand denken als etwas, das „nicht Objekt unserer sinnlichen Anschauung ist“. Zum anderen kann man zwar sagen, dass das Umgekehrte nicht gilt, weil Kants Definition in B307 per se nicht ausschließt, dass die „Noumena in negativer Bedeutung“ nicht nur Gegenstnde der nicht-sinnlichen Anschauung, sondern mçglicherweise auch Gegenstnde der sinnlichen aber nicht-menschlichen Anschauung (die z. B. den Raum in nicht-euklidischer Weise vorstellt; vgl. Hanna 2001, S. 106, Anm. 67) umschließen. Indessen spricht Kants Darstellung deutlich dafr, dass es zumindest nicht ein derartiger Unterschied ist, den er im Sinne hat. Er stellt nmlich, ohne im Geringsten zu zçgern, unsere sinnliche Anschauung direkt der nichtsinnlichen Anschauung entgegen. Hierbei relevant ist ausschließlich der Gegensatz von der sinnlichen und der nicht-sinnlichen Anschauung und nicht der Gegensatz von unsriger und nicht-unsriger innerhalb der sinnlichen Anschauungen.477 – Dies insgesamt spricht dafr, dass dasjenige, was Kant mit „Noumenon im negativen Verstande“ meint, zumindest dem Umfang nach von „Noumena in positiver Bedeutung“ nicht zu unterscheiden ist.478 477 Außerdem ist zu bemerken: Wenn Kants Unterscheidung zwischen beiden Noumena den Unterschied zwischen Gegenstnden der nicht-menschlichen sinnlichen Anschauung und Gegenstnden der nicht-sinnlichen Anschauung betreffen sollte, msste selbst das Noumenon in negativer Bedeutung abgelehnt werden, aus demselben Grund gegen das Noumenon in positiver Bedeutung, denn die nicht-menschliche sinnliche Anschauung ist, genauso wie die nicht-sinnliche Anschauung, fr uns nur eine bloß denkbare Anschauungsart, deren reale Mçglichkeit wir nicht positiv behaupten kçnnen. 478 Man mag dagegen noch mit Rekurs auf die fregesche Unterscheidung von „Sinn“ und „Bedeutung“ einwenden, dass die Begriffe der beiden Noumena zwar nicht der
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Daraus erweist sich, dass Kants Unterscheidung, dem Anschein entgegen, nicht vom Inhalt der Begriffe handelt. Die beiden Noumena bezeichnen vielmehr gleichermaßen etwas Erkenntnisunabhngiges (bzw. den „an sich“-Aspekt desselben), nmlich Dinge an sich (II). Worin liegt nun der Unterschied? Ich schlage folgende Deutung vor: Es handelt sich dabei nicht sowohl um zwei distinkte Begriffe, als vielmehr um distinkte Gebrauchsweisen ein und desselben Begriffs der Noumena. Was Kant „negative Bedeutung“ nennt, entspricht dem Gebrauch des Begriffs der Noumena im bloßen Denken ohne Wissensanspruch (wie z. B. bloß zu denken, dass so etwas wie ein Noumenon vielleicht existieren mag), die „positive Bedeutung“ hingegen dem Gebrauch desselben in der Behauptung mit Wissensanspruch (wie zu behaupten, dass Noumena tatschlich existieren). Abzulehnen ist nmlich nur der letztere, positive Gebrauch des Begriffs von Noumena und nicht irgendein positiver Begriff selbst.479 – Diese Deutung lçst die scheinbare Inkonsistenz im letzten Zitat aus A286/B342 f. auf. Zudem harmoniert sie auch gut mit Kants Diskussion in A254 f./B301 f., wo er den „negativen Gebrauch“ des Begriffs der Noumena dem abzulehnenden „assertorischen“ Gebrauch desselben entgegenstellt, ohne dabei zwei distinkte Begriffe der Noumena einzufhren. Gehen wir nun zum zweiten Problem ber, nmlich dem der Existenzbehauptung der Noumena. Die Ablehnung des positiven Gebrauchs des Begriffs derselben fhrt dazu, fr Noumena berhaupt keine Behauptung, inklusive der Existenzbehauptung, zu gestatten. Kants Diskussion in „Phaenomena und Noumena“ legt diese Deutung nahe. Vgl. auch folgende Textpassage, die direkt an das letzte Zitat (A286/B342 f.) anschließt: „Bedeutung“, doch dem „Sinn“ nach zu differenzieren seien. Dies ist zwar wahr aber irrelevant, denn die Pointe der obigen Argumentation liegt darin, dass die Gleichheit des Umfangs („Bedeutung“) der beiden Noumena bloß durch berlegung ber deren „Sinn“ feststellbar ist. 479 Willaschek (1996, S. 337 f.) sowie Hanna (2001, S. 106 f.) haben suggeriert, dass Kant den negativen Gebrauch des positiven Begriffs der Noumena zulsst. Ich habe zwar ihre Grundidee bernommen, finde aber diese ihre Ansicht nicht hinreichend. Sie haben meines Erachtens Folgendes bersehen: Wenn man einmal soviel zugesteht, bleibt kein substantieller Sinn mehr davon brig, Kants betreffende Unterscheidung als von zwei distinkten Begriffen der Noumena handelnd zu verstehen. Ich habe demnach vorgeschlagen, die Rede vom negativen/positiven Begriff der Noumena aus Kants Diskussion gnzlich wegzulassen und nur vom negativen/positiven Gebrauch des Begriffs der Noumena zu sprechen.
8.1 Vorbereitende Erluterungen
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„Aber alsdann ist der Begriff eines Noumenon problematisch, d.i. die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen kçnnen, daß es mçglich, noch daß es unmçglich sei, [. . .]. Wir kçnnen daher das Feld der Gegenstnde unseres Denkens ber die Bedingungen unserer Sinnlichkeit darum noch nicht positiv erweitern, und außer den Erscheinungen noch Gegenstnde des reinen Denkens, d.i. Noumena, annehmen, weil jene keine anzugebende positive Bedeutung haben.“ (A286 f./B343, kursiv von K.C.)480
Es drfte wohl eine hçchst unplausible Deutung sein, dass Kant hier die Existenzbehauptung der Noumena nicht ablehnt. Wie aber gerade gesehen wurde, bedeutet „Noumenon“ gerade das Ding an sich (II). Daraus wird geschlossen, dass Kant im obigen Zitat folgende Behauptung aufstellt: Wir kçnnen nicht zu Recht behaupten, dass Dinge an sich (als erkenntnisunabhngige) wirklich existieren, sondern allenfalls, dass sie denkbar sind. Indessen finden sich auch manche Textpassagen, in denen er deutlich bejaht, dass Dinge an sich (oder zumindest etwas Erkenntnisunabhngiges) wirklich existieren. In 3.2 wurden drei solche Beispiele angefhrt (nmlich BXIXf., A695 f./B723 f. und Prolegomena, Ak. 4, S. 314). Zudem sind auch alle textlichen Belege fr die transzendentale Affektion (vgl. den nchsten Unterabschnitt) zugleich die Belege dafr, dass Kant auch die Existenz der Dinge an sich (II) zugesteht. Solche Textpassagen kommen ohnehin so hufig vor, dass man ber sie nicht einfach als „slip of the pen“ hinwegsehen kann. Zur Erklrung dieser anscheinenden Inkonsistenz sind folgende interpretatorische Alternativen denkbar: (1) In Wahrheit verneint Kant durchweg die Mçglichkeit der Existenzbehauptung der Dinge an sich. (Nur dass er an den Textstellen, die damit unvereinbar scheinen, seinen Gedanken in unglcklicher Weise ausgedrckt hat.) 480 Vgl. auch folgende Textpassagen: (1) „Am Ende aber ist doch die Mçglichkeit solcher Noumenorum gar nicht einzusehen, und der Umfang außer der Sphre der Erscheinungen ist (fr uns) leer, [. . .]“ (A255/B310). (2) „Die Einteilung der Gegenstnde in Phaenomena und Noumena, und der Welt in eine Sinnen- und Verstandeswelt, kann daher [in positiver Bedeutung; in B] gar nicht zugelassen werden, [. . .]“ (A255/B311). (3) „Die Kritik dieses reinen Verstandes erlaubt es also nicht, sich ein neues Feld von Gegenstnden, außer denen, die ihm als Erscheinungen vorkommen kçnnen, zu schaffen, und in intelligible Welten, sogar nicht einmal in ihren Begriff, auszuschweifen“ (A289/B345). – Interessanterweise findet sich solch eine radikale Ablehnung der Noumena (somit der Dinge an sich) ausschließlich in „Phaenomena und Noumena“ und „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
(2) In Wahrheit bejaht er durchweg die Existenzbehauptung der Dinge an sich. (Nur dass er an den Textstellen, die damit unvereinbar scheinen, seinen Gedanken in unglcklicher Weise ausgedrckt hat.) (3) Als er jeweilige Textstellen niederschrieb, dachte er in der Tat ihrem Wortlaut entsprechend. Er stellte an jeweiligen Stellen miteinander inkonsistente Behauptungen auf. Ich werde in 8.2 darlegen, dass zumindest (1) nicht der Fall ist, weil Kants TrI ber bloße Denkbarkeit der Dinge an sich hinaus noch deren Existenz erfordert. (Wenn ich damit Recht habe, resultiert daraus, dass Kants Aussagen in „Phaenomena und Noumena“ und „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ ber Dinge an sich/Noumena nicht wçrtlich zu nehmen sind, es sei denn, dass man Kant eine unabdingbare Inkonsistenz zuschreiben mçchte.) Ob (2) oder (3) plausibler ist, diskutiere ich in 8.3.1 kurz, gebe aber keine endgltige Lçsung. Dergleichen ist nicht konstitutiv fr die rationale Rekonstruktion, auf die ich hier abziele. Ich fge noch eine Bemerkung hinzu: Das „Ding an sich“ wird in der KantLiteratur manchmal nicht bloß als „Gegenstand des Verstandes“, sondern gerade als „Gegenstand der Vernunft“ charakterisiert.481 Wenn dies aber als definitorische Charakteristik von „Ding an sich“ genommen wird, ist es einfach falsch. Zwar kann man hinsichtlich der Gegenstnde der psychologischen und der theologischen Idee sagen, dass sie, falls sie wirklich existieren, Dinge an sich sein mssen (weil sie zumindest nicht raumzeitliche Gegenstnde sein kçnnen).482 Es ist aber unzutreffend, dass jedes 481 Vgl. z. B. Cassirer 1911, S. 757: „Dieser Begriff [sc. der Begriff des „Dinges an sich“] ist in der letzten endgltigen Bedeutung, die er innerhalb der Sphre der theoretischen Betrachtung gewinnt, nichts anders als „das Schema jenes regulativen Prinzips, wodurch die Vernunft, so viel an ihr ist, systematische Einheit ber alle Erfahrung verbreitet.“ [KdrV, B710]“. – Cassirer zufolge ist Kant in der Transzendentalen sthetik, in der das „Ding an sich“ vornehmlich in Bezug auf die Affektionsproblematik erwhnt wird, „ber die Auffassung, die in der Dissertation vom Jahre 1770 enthalten war, noch nirgends prinzipiell fortgeschritten“ (ibid., S. 743). Dagegen werde ich zeigen, dass das Ding an sich als das uns Affizierende ein zentrales, nicht zu unterschtzendes Element fr Kants ganze theoretische Philosophie ist, indem es gerade fr die Rezeptivitt unentbehrlich ist. 482 In Bezug auf die kosmologische Idee ist der Umstand noch komplizierter. Wenn ihr Gegenstand als „Inbegriff aller Erscheinungen“ verstanden wird (wie im ersten Abschnitt des Antinomiekapitels der Fall ist), kann er in keinem Sinn Ding an sich sein (vgl. oben, 4.1.1; ihn als Ding an sich anzusehen, ist gerade der Irrtum des TrR). Was aber die Freiheit und Gott anbelangt, die in den dynamischen Anti-
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Ding an sich ein Gegenstand der Vernunft ist. Nehmen wir z. B. die Tomate vor mir. Man kann ein ihr zugrundeliegendes Ding an sich zumindest erdenken, jedoch hat das derart erdachte Ding an sich berhaupt nichts mit der Vernunft zu tun.483 – Das Problem mit „Dingen an sich“ entspringt schon aus dem Kontext vor der Transzendentalen Dialektik, weil es einen Ursprung in Kants Konzeption der Affektion hat, die mit der Rezeptivitt fr die empirische Erkenntnis eng zusammenhngt. 8.1.2 Drei Theorien der Affektion Die empirische Erkenntnis entspringt laut Kant daraus, dass wir die durch Sinnlichkeit gegebene Materie (fortan: „sinnliche Materie“484) durch Verstand synthetisieren. Der Vorgang, in dem uns die sinnliche Materie gegeben wird, wird „Affektion“ genannt. Der kardinale Text ber die Affektion ist der Anfang der Transzendentalen sthetik: „Auf welche Art und durch welche Mittel sich auch immer eine Erkenntnis auf Gegenstnde beziehen mag, so ist doch diejenige, wodurch sie sich auf dieselbe unmittelbar bezieht, und worauf alles Denken als Mittel abzweckt, die Anschauung. Diese findet aber nur statt, sofern uns der Gegenstand gegeben wird; dieses aber ist wiederum [, uns Menschen wenigstens, (in B)] nur dadurch mçglich, daß er das Gemt auf gewisse Weise affiziere. Die Fhigkeit (Rezeptivitt), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenstnden affiziert werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit [. . .]. / Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfhigkeit, sofern wir von demselben affiziert werden, ist Empfindung.“ (A19/B33)
Damit wird die Affektion als folgender Vorgang charakterisiert: Der Gegenstand affiziert das Erkenntnissubjekt und dadurch wird in dessen Gemt die sinnliche Materie hervorgebracht. Daraus erweist sich, dass Kants eigener Konzeption zufolge die Affektion wesentlich drei distinkte nomien zur Diskussion kommen, so kann man sagen, dass sie nur als Dinge an sich mçglich sind. Wie aber oben (4.2.3, Anm. 193) gezeigt wurde, wird Kants Auflçsung der dynamischen Antinomien eben dadurch durchgefhrt, dass er diese Antinomien von der Problematik des „Inbegriffs aller Erscheinungen“ ablçst. 483 Es gibt dennoch Interpreten, die die Ansicht vertreten, dass die Vernunft schon auf dieser Ebene beteiligt ist; vgl. Rescher 1972. Diese Ansicht wird in 8.2.2, Anm. 503, zurckgewiesen. 484 Kant nennt diese z. B. „rohen Stoff sinnlicher Eindrcke [Empfindungen; in A]“ (A1/B1), „Empfindung“ (A20/B34 u. a.), „Materie der sinnlichen Erkenntnis“ (A50/B74), „das Mannigfaltige der Anschauungen“ (B134 u. a.), oder einfach „Anschauung“ (A19/B33, B132 u. a.).
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Relata hat, nmlich (1) das Affizierende, (2) das Affizierte und (3) das Ergebnis. Dies bezeichne ich fortan als den „provisorischen Begriff“ der Affektion; provisorisch deswegen, weil sich dieser Begriff im Endeffekt als revisionsbedrftig erweist. (Ich werde ihn derart modifizieren, dass er nicht die numerische Unterscheidung vom Affizierenden und Affizierten beinhaltet.) Was aber Kant in seiner Erçrterung der Affektion im Sinne hat, ist dieser provisorische Begriff, so dass bei der konkreten Textanalyse zuerst dieser Begriff bercksichtigt werden muss. Der provisorische Begriff der Affektion per se sagt nichts darber, was uns affiziert. Der Antwort zu dieser Frage gemß sind traditionell drei Interpretationsalternativen vorgelegt worden; nmlich die „transzendentale Affektion“ (d. h. Affektion durch Dinge an sich bzw. den transzendentalen Gegenstand), die „empirische Affektion“ (d. h. diejenige durch rumliche Dinge) und die „doppelte Affektion“ (welche sowohl die erste als auch die zweite annimmt, und zwar als distinkte Vorgnge). ber diese Alternativen fge ich drei Bemerkungen hinzu: (1) Das „Ding an sich“, das bei der transzendentalen Affektion zur Sprache kommt, muss Ding an sich (II) sein. Denn Ding an sich (I) ist dasjenige, welches durch den reinen Verstand gesetzt wird, so dass es nicht Grund der sinnlichen Materie sein kann. – Es sei denn, dass man zu sagen wagt, dass auch die sinnliche Materie im Endeffekt ein Produkt unserer Spontaneitt ist; dies hieße aber so gut wie das Moment der Rezeptivitt gnzlich zu verneinen. (2) Die Unterscheidung zwischen diesen drei Alternativen wird blicherweise unter der Voraussetzung des provisorischen Begriffs der Affektion gefhrt. Da ich aber, wie angekndigt, diesen Begriff revidiere, schwche ich den Gehalt der Theorie der transzendentalen Affektion folgendermaßen ab: Affektion ist ein transzendenter Vorgang, d. h. ein Vorgang auf der Ebene der Dinge an sich. Diese Charakteristik impliziert nicht, dass das Affizierende und das Affizierte distinkte Entitten sind. – Obwohl man auch auf die empirische Affektion eine parallele Modifikation anwenden kann, ist dies eigentlich unnçtig, denn in der Affektion als raumzeitlichem Vorgang werden das Affizierende und das Affizierte ohne Probleme numerisch unterschieden. (3) Ich halte die Annahme, die transzendentale und die empirische Affektion seien zwei distinkte Vorgnge (und zwar mit andersartigen Out-
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puts), fr das definitorische Element der Theorie der doppelten Affektion. Diese Annahme ist bei dem wichtigsten Vertreter derselben, Adickes 1929, besonders auffllig (dies stelle ich gleich dar). Es gibt noch eine andere Variante, der in der Literatur manchmal derselbe Titel beigelegt wird. Ihr zufolge affiziere uns das Ding an sich, aber dieser transzendente Vorgang erscheine auch raumzeitlich (vgl. z. B. Sellars 1968, S. 52). Mit dem „Betrachtungs“-Jargon ausgedrckt: Ein erkenntnisunabhngiges Ding affiziere uns und dieser Vorgang sei sowohl als Erscheinung als auch an sich selbst zu betrachten (vgl. Willaschek 2001, S. 221 f.). Hierbei werden nicht zwei distinkte Prozesse, sondern nur ein einziger Vorgang (und nur ein Output) angenommen. Diese Konzeption nenne ich aus folgenden Grnden nicht die Theorie der „doppelten Affektion“: (1) Sie ist wesentlich von dem Paradigma der doppelten Affektion bei Adickes unterschieden. (2) Wie Willaschek bemerkt (vgl. ibid.), ist dies die interpretatorische Option, die von Zwei-Aspekte-Interpreten eingenommen werden soll. Diese Interpreten lehnen aber manchmal die Theorie der doppelten Affektion ab (vgl. z B. Allison 2004, S. 66 und Westphal 2004, S. 54), vermutlich in Anbetracht der spezifisch adickesschen Variante derselben.485 Angesichts dessen finde ich es weniger irrefhrend, die „doppelte Affektion“ von Anfang an in obiger Weise zu definieren. Was ich durch die nachfolgende Diskussion dem TrI zuschreibe, ist eine Variante der Theorie der transzendentalen Affektion. Ein Grund dafr ist, dass Kant selber an manchen Textstellen, und zwar mit unverwechselbarer Deutlichkeit, die Affektion durch Dinge an sich (bzw. den transzendentalen Gegenstand) befrwortet. Ich fhre hier zwei Beispiele an: „Das sinnliche Anschauungsvermçgen ist eigentlich nur eine Rezeptivitt, auf gewisse Weise mit Vorstellungen affiziert zu werden, [. . .]. Die nichtsinnliche Ursache dieser Vorstellungen ist uns gnzlich unbekannt, und diese kçnnen wir daher nicht als Objekt anschauen; [. . .]. Indessen kçnnen wir die bloß intelligible Ursache der Erscheinungen berhaupt, das transzendentale Objekt nennen, bloß, damit wir etwas haben, was der Sinnlichkeit als einer Rezeptivitt korrespondiert.“ (A494/B522) „Nachdem [Eberhard] S.275 gefragt hat: „Wer (was) giebt der Sinnlichkeit ihren Stoff, nmlich die Empfindungen?“ so glaubt er wider die Kritik ab485 Allison klassifiziert auch Sellars 1968 als Anhnger der Theorie der doppelten Affektion; vgl. Allison 2004, S. 460, Anm. 33. Ich finde diese Klassifikation inadquat. Allisons Zwei-Aspekte-Interpretation der Affektion ist eher verwandt, wenn auch nicht identisch, mit dem, was Sellars in irrefhrender Weise „double affection“ nannte.
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gesprochen zu haben, indem er S.276 sagt: „Wir mçgen whlen, welches wir wollen – so kommen wir auf Dinge an sich.“ Nun ist ja das eben die bestndige Behauptung der Kritik; nur daß sie diesen Grund des Stoffes sinnlicher Vorstellungen nicht selbst wiederum in Dingen, als Gegenstnden der Sinne, sondern in etwas bersinnlichem setzt, was jenen zum Grunde liegt und wovon wir kein Erkenntniß haben kçnnen. Sie sagt: Die Gegenstnde als Dinge an sich geben den Stoff zu empirischen Anschauungen [. . .], aber sie sind nicht der Stoff derselben.“ (Streitschrift, Ak. 8, S. 215)486
Im Vergleich damit sind textliche Belege fr die empirische Affektion487 nicht entscheidend. Sie wird vielmehr durch die theoretische Fragwrdigkeit der transzendentalen Affektion motiviert, vornehmlich dadurch, dass diese mit Kants berhmter Doktrin der Unerkennbarkeit der Dinge an sich (bzw. der Unanwendbarkeit der Kategorien auf diese) zu kollidieren scheint. In Anbetracht dessen, dass textliche Belege sowohl fr die transzendentale als auch fr die empirische Affektion gefunden werden, denkt man vielleicht, dass die Theorie der doppelten Affektion einen exegetischen Vorzug hat. Die sachliche Schwierigkeit dieser Option ist jedoch seit langem bekannt.488 Das fatalste Problem liegt meines Erachtens darin: Anhnger dieser Option mssen versuchen, die sinnliche Materie berhaupt in zwei Klassen einzuteilen, einerseits in diejenige, welche durch die transzendentale Affektion, und andererseits in diejenige, welche durch die empirische Affektion hervorgebracht wird (weil diese zwei Affektionen distinkte Vorgnge mit distinkten Outputs sein sollen). Dieser Versuch stçßt aber auf eine unberwindliche Schwierigkeit. Ich weise dies hier zunchst an Adickes 1929 nach. Er legt folgende Deutung vor: Zuerst affizieren Dinge an sich uns als Ich an sich und anhand der dadurch uns gegebenen sinnliche Materie konstruieren wir Gegenstnde bloß mit primren Qualitten. Danach affizieren diese Gegenstnde („Erscheinungen an sich“) uns als empirische Ich und dadurch erhalten wir die sinnliche Materie fr sekundre Qualitten. Adickes un486 Vgl. auch A44/B61, B72, A190/B235, A278/B344, A358, A359, A393, A494/ B522, A613 f./B641 f.; Prolegomena, Ak.. 4, S. 289, 314 f., 318; Grundlegung, Ak.. 4, S.451; Streitschrift, Ak.. 8, S. 219 f. Alle diese sind Textstellen, in denen Kants Befrwortung der transzendentalen Affektion unbezweifelbar klar ist. Solche Textpassagen, die auf diese lediglich hindeuten, finden sich noch mehr. Vgl. z. B.: „Das transzendentale Objekt [. . .] ist [. . .] ein uns unbekannter Grund der Erscheinungen, [. . .]“ (A379 f.). 487 Vgl. Adickes 1929, ersten Abschnitt. 488 Vgl. Vaihinger 1922, Bd. 2, S. 53. Gram 1984, Kap. 1, erçrtert dieses Thema ausfhrlich.
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terteilt nmlich die sinnliche Materie berhaupt in diejenige der Gegenstnde bloß mit primren Qualitten und diejenige der sekundren Qualitten dieser Gegenstnde. Es stellt sich nun die Frage: Was ist unter dem ersteren Typ der sinnlichen Materie zu verstehen? Es ist einfach absurd, eine sinnliche Materie anzunehmen, die nur Informationen fr primre aber keine fr sekundre Qualitten liefert. – Ich behaupte hier nicht, dass Entitten, die nur primre Qualitten haben, unmçglich sind. Die Absurditt liegt vielmehr in der Annahme, dass man die primren Qualitten der Gegenstnde erkennen kann, ohne zugleich irgendeine sekundre Qualitt zu erfahren. Die sinnliche Materie fr primre und die fr sekundre Qualitten werden entweder zusammen gegeben oder weder die eine noch die andere wird gegeben. Adickes’ Option fhrt nur dazu, dem kantischen TrI eine absurde Theorie zu unterstellen (und dafr findet sich allerdings kein berzeugender textlicher Beleg in der KdrV.) Wenn man trotzdem auf der doppelten Affektion bestehen mçchte, muss man die sinnliche Materie anders, ohne Rekurs auf den Unterschied zwischen primren und sekundren Qualitten, einteilen. In 8.2.2 werde ich zeigen, dass eine solche Maßnahme berhaupt aussichtslos ist, weil Kants Theorie der Rezeptivitt erzwingt, jede sinnliche Materie als Erzeugnis der transzendentalen Affektion anzusehen. Um die Theorie der transzendentalen Affektion im kantischen System zu verteidigen, reicht es allerdings nicht aus, bloß auf textliche Belege wie die obigen Zitate hinzuweisen – geschweige denn, die ihr innewohnende Schwierigkeit mit der Floskel wie „Kants metaphysisches Motiv“ (Heimsoeth 1919) oder „Kants realistisches Erleben“ (Adickes 1926) zu vertuschen. Darber hinaus muss noch Folgendes nachgewiesen werden: (1) Die Theorie der transzendentalen Affektion vertrgt sich mit Kants Doktrinen, die ihr anscheinend widersprechen, wie der These der Unerkennbarkeit der Dinge an sich. (2) ber die bloße Vertrglichkeit hinaus ist die Theorie der transzendentalen Affektion fr Kants TrI erforderlich. Erst wenn diese beiden Thesen bewhrt werden, kann man zu Recht behaupten, dass die Theorie der transzendentalen Affektion dem kantischen TrI angemessen ist. Ich widme mich im nchsten Abschnitt zuerst der zweiten Aufgabe.
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8.2 Erforderlichkeit der transzendentalen Affektion Das Hauptargument fr die transzendentale Affektion lautet: Die Rezeptivitt, die fr die empirische Erkenntnis unentbehrlich ist, erfordert die transzendentale Affektion. – Dies kann zu zwei verschiedenen Argumentationen ausgefhrt werden, je nachdem, was unter der Rezeptivitt verstanden wird. In 8.2.1 stelle ich die kantische Variante dieser Argumentation dar. Sie wird als „kantisch“ bezeichnet, weil sie den provisorischen Begriff der Affektion verwendet, auf dem Kants Verstndnis der Affektion und Rezeptivitt beruht.489 Diese Argumentation erweist sich aber eben wegen dieses provisorischen Begriffs als unerfolgreich. Ich konstruiere dann in 8.2.2 eine andere Argumentation, die auf einem schwcheren Begriff der Rezeptivitt grndet. Sie hat zwar nur eine entsprechend schwchere Konsequenz, erweist sich aber als hinreichend, um die Erforderlichkeit der transzendentalen Affektion zu erweisen. Es wird zudem gezeigt, dass die Billigung der transzendentalen Affektion nicht nur fr die kantische Philosophie, sondern auch fr den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde berhaupt unentbehrlich ist. 8.2.1 Die „kantische“ Argumentation und ihr Problem Der Ansatzpunkt der Argumentation ist, wie angekndigt, die Unentbehrlichkeit der Rezeptivitt fr die empirische Erkenntnis. Ich fange damit an, zwei Implikationen von Kants Konzeption der Rezeptivitt herausstellen, die fr die nachfolgende Diskussion relevant werden. Implikation (I): Wir menschliche Erkenntnissubjekte rezipieren die sinnliche Materie, die nicht das Produkt unserer Spontaneitt ist; die sinnliche Materie ist nmlich nicht das, was der Verstand spontan hervorbringt.490 489 Mit der Bezeichnung „kantisch“ meine ich nicht, dass Kant selbst die Existenz der affizierenden Dinge an sich berhaupt fr beweisbedrftig hielt. Wie Adickes 1924 und neulich Ameriks 2006 suggerieren, war das sehr wahrscheinlich nicht der Fall. Die Pointe der Diskussion dieses Abschnitts liegt darin, zu zeigen, dass die Existenz der affizierenden Dinge an sich nicht etwa Kants bloße Voraussetzung, sondern in der Tat beweisbar ist, so dass sie keineswegs durch ein interpretatorisches „principle of charity“ eliminiert werden kann. 490 „Allein von einem Stcke konnte ich im obigen Beweise [in §20 der Transzendentalen Deduktion (B)] doch nicht abstrahieren, nmlich davon, daß das Mannigfaltige fr die Anschauung noch vor der Synthesis des Verstandes, und
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Implikation (II): Die sinnliche Materie wird hervorgebracht, indem etwas von uns numerisch Unterschiedenes auf uns einen Einfluss ausbt.491 – Dies entspricht dem, was ich im letzten Unterabschnitt „provisorischen Begriff der Affektion“ nannte. Viele Textpassagen sprechen dafr, dass Kant mit der Rezeptivitt nicht nur die erste, sondern auch die zweite Implikation meint, ja sogar, dass er darunter ein kausales Einflussverhltnis versteht. (Rae Langton hat also Recht, wenn sie sagt: „[Kant’s] notion of sensibility is essentially a causal notion“ (dies. 1998, S. 44).) – Ich werde im Folgenden jedoch argumentieren, dass die zweite, strkere Implikation in das ganze System der kantischen Philosophie nicht integrierbar ist, so dass sie, zumindest in der rationalen Rekonstruktion, preisgegeben werden muss.492 Aufgrund dieser Konzeption der Rezeptivitt lsst sich folgende Argumentation fr die transzendentale Affektion konstruieren: Stufe 1: Fr die empirische Erkenntnis ist es erforderlich, dass uns die sinnliche Materie gegeben wird (und diese ist uns tatschlich gegeben). Stufe 2: Es muss etwas von uns numerisch Unterschiedenes geben, was uns affiziert, um in unserem Gemt die sinnliche Materie hervorzubringen [Implikation (II)].
unabhngig von ihr, gegeben sein msse, [. . .].“ (B145, kursiv von K.C.) Vgl. auch Grundlegung, Ak.. 5, S. 451, wo Kant „die [Vorstellungen] der Sinne“ als „Vorstellungen, die uns ohne unsere Willkr kommen“ charakterisiert und sie den Vorstellungen des Verstandes, „die wir lediglich aus uns selbst hervorbringen“, entgegensetzt. 491 Dafr gelten z. B. alle Textpassagen, die aussagen, dass der „Gegenstand“ uns affiziert; z. B. A19/B33, A20/B34, B41, A26/B42, B69, A35/B51, B72, A51/B75, B129. 492 Es ist jedoch zu beachten, dass dadurch Kants Konzeption der Rezeptivitt (bzw. der Affektion) nicht bloß erlutert, sondern vielmehr modifiziert wird. Man muss in der Interpretation mçglichst klar unterschieden zwischen dem, was in Kants eigener Konzeption enthalten ist, und dem, was Interpreten selbst als Ergebnisse aus der rationalen Rekonstruktion bzw. Fortentwicklung derselben in sie hineingebracht haben. Sonst ergbe sich eine Verwirrung bei der interpretatorischen Debatte. Ich vermute, dass die Interpreten der Ansicht, dass die Affektion bei Kant nicht ein Kausalverhltnis sei (z. B. Rescher 1972 und Gram 1984), diesen Punkt vernachlssigen.
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Stufe 3: Das uns Affizierende muss etwas Erkenntnisunabhngiges sein. Denn etwas von der Erkenntnis Abhngiges kann nicht die Materie fr die Erkenntnis hervorbringen. Stufe 4: Das uns Affizierende kann also kein raumzeitlicher Gegenstand sein. Denn raumzeitliche Gegenstnde existieren dem kantischen Anti-Realismus zufolge nur abhngig von unserer Erkenntnis und das erkenntnisabhngig Existierende kann nicht mit dem erkenntnisunabhngig Existierenden identisch sein. Das uns Affizierende muss also ein Ding an sich im Sinne der Zwei-WeltenInterpretation sein.493 Stufe 1 ist zweifelsohne Kants eigene Ansicht und, sofern Stufe 2 zugestanden wird, ist Stufe 3 ebenfalls unproblematisch. Der Defekt dieser Argumentation liegt auf der Stufe 2. Dies erçrtere ich gleich, zeige aber zuerst, dass Stufe 4 zu verteidigen ist. Stufe 4 ist zwar auf die Annahme des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde angewiesen. Dass dieser aber ein uneliminierbares Element von Kants TrI ist, habe ich schon durch Teil II nachgewiesen. Das Problem ist daher lediglich, ob man vielleicht trotz der Billigung des Anti-Realismus Stufe 4 negieren kann. Dafr bringt Van Cleve eine belehrende berlegung vor (vgl. ders. 1999, S. 164 – 7). Er macht darauf aufmerksam, dass es nicht unbedingt verneint werden muss, raumzeitliche Gegenstnde qua erkenntnisabhngige (mit seinem Wort: „intentional objects“ bzw. „logical constructions out of states of perceivers“) als „Ursachen“ der sinnlichen Materie zu bezeichnen. Er untersucht zwei Varianten hiervon: (1) Das humesche Konzept der Kausalitt (die regulre Sukzession, ohne Rekurs auf die etwas hervorbringende Kraft) zu verwenden.494 (2) Anzunehmen, dass raumzeitliche Kausalverhltnisse auf kausalen bzw. nicht-kausalen Verhltnissen zwischen Dingen an sich su-
493 Diese Argumentation ist wesentlich gleich mit Jacobis traditioneller Argumentation gegen die empirische Affektion; vgl. Vaihinger 1922, S. 36. Ich habe sie derart modifiziert, dass sie an der direkten Gleichsetzung der raumzeitlichen Gegenstnde mit den „Vorstellungen“ nicht beteiligt ist. 494 Watkins 2005 hat aber nachgewiesen, dass Kants Konzept der raumzeitlichen Kausalitt von der humeschen regulren bzw. notwendigen Sukzession wesentlich unterschieden ist.
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pervenieren (wie die „epiphenomenal causation“ von Jaegwon Kim 1984).495 Indessen kann man in der ersten Variante nicht mehr behaupten, dass raumzeitliche Gegenstnde die sinnliche Materie hervorbringen. In der zweiten Variante hingegen wird angenommen, dass dem raumzeitlichen Kausalverhltnis ein noumenales Verhltnis (ob selbst kausal oder nichtkausal) zugrundeliege und gerade das letztere die sinnliche Materie hervorbringe. In beiden Fllen wird das raumzeitliche Kausalverhltnis allenfalls als „Epiphnomen“ der echten, transzendenten Affektionsvorgnge erachtet. (Dies nenne ich nicht die „doppelte Affektion“; vgl. den letzten Unterabschnitt.) Daraus erhellt, dass raumzeitliche Gegenstnde ohnehin nicht dasjenige sein kçnnen, was die sinnliche Materie hervorbringt. Der Defekt der obigen Argumentation liegt auf der Stufe 2. Dort ist die Implikation (II) der Rezeptivitt (mit anderen Worten, der provisorische Begriff der Affektion) verwendet. Dagegen stellt sich die Frage: Was berechtigt uns zur Annahme, dass das uns Affizierende etwas von uns Unterschiedenes sein muss? Es scheint mçglich, dass die sinnliche Materie zwar nicht durch unsere Spontaneitt hervorgebracht wird, sich dennoch gleichsam „automatisch“ in unserem Gemt ereignet, ohne dass andere Dinge auf uns einen Einfluss ausben.496 Um Stufe 2 zu rechtfertigen, muss diese Mçglichkeit ausgeschlossen werden. In der KdrV (und diesbezglichen Schriften Kants) findet sich aber keine Argumentation, ja selbst kein Anhaltspunkt dazu, welcher diese Mçglichkeit von vornherein ausschließt. Wenn man zudem beachtet, dass Kant zufolge der Satz der Kausalitt nur fr raumzeitliche Gegenstnde bewiesen werden kann, ist es vielmehr offensichtlich, dass diese Mçglichkeit im Rahmen der kantischen Philosophie nicht zu Recht ausgeschlossen werden kann.497 495 Van Cleve bezeichnet dies als „supervenient causation“ (vgl. ders. 1999, S. 165). Diese Bezeichnung finde ich nicht adquat, denn die „supervenient causation“ im Sinne Kims umfasst nicht nur scheinbare, sondern auch echte Kausalverhltnisse (vgl. Kim 1984, S. 103). Ich denke also, dass die Bezeichnung „epiphenomenal causation“ zum Zweck Van Cleves besser passt. 496 Lorne Falkenstein suggeriert eine solche Mçglichkeit: „Sensations can be taken to be brute-factually given data, the origin of which cannot be further explained without transcending the bound of sense“ (ders. 1995, S. 326). 497 Außerdem finden sich auch Textpassagen, die den Eindruck nahelegen, dass Kant eine solche Mçglichkeit zugesteht. Vgl. z. B.: (1) „ [. . .] wovon [sc. vom transzendentalem Objekt als Ursache der Erscheinung] also vçllig unbekannt ist, ob es
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So scheitert die oben dargestellte „kantische“ Argumentation. Im nchsten Unterabschnitt versuche ich, eine alternative Argumentation fr die transzendentale Affektion zu konstruieren. 8.2.2 Modifizierte Argumentation (Argumentation T) Im letzten Unterabschnitt wurde gezeigt, dass die Schwche der „kantischen“ Argumentation in deren Annahme der Implikation (II) liegt. Die Auslassung dieser fhrt aber nicht unbedingt dazu, das Moment der Rezeptivitt komplett zu negieren. Danach bleibt noch die Implikation (I) bestehen, nmlich, dass uns die sinnliche Materie, die nicht durch unsere Spontaneitt hervorgebracht wird, gegeben werden muss. Diese Implikation ist von eminentem Belang fr das ganze System der KdrV. Man denke z. B. an die Transzendentale Deduktion, in der die Zusammenwirkung von Rezeptivitt und Spontaneitt am ausfhrlichsten erçrtert ist. Es handelt sich darin vornehmlich um diese Implikation der Rezeptivitt, und nicht um die Implikation (II) (vgl. oben, Anm. 490). Darber hinaus kann man zeigen, dass so viel auch von jeder Theorie der Erfahrung anerkannt werden muss. Nehmen wir im Gegenteil an, dass selbst die sinnliche Materie von uns spontan hervorgebracht wird. Auch in diesem Fall wre unsere empirische Erkenntnis nicht vollstndig willkrlich, denn im kantischen Rahmen werden immerhin einige restriktive Faktoren anerkannt. Diese sind die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis, wie unsere Anschauungsformen und Kategorien (die in 2.1 „Idealitt der Formen“ genannt wurden) sowie die Endlichkeit unserer epistemischen Fhigkeit (dass wir z. B. die unendliche Totalitt nicht durchlaufen kçnnen). Indessen schreiben solche apriorischen Faktoren nur die formale, allgemeine Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde vor, und nicht die konkrete Beschaffenheit derselben, wie z. B., dass das jetzt vor mir Seiende nicht ein Apfel, sondern eine Tomate ist. Die sinnliche Materie ist vielmehr dasjenige, was wir brauchen, um eine solche konkrete Beschaffenheit zu erkennen. in uns, oder auch außer uns anzutreffen sei, [. . .]“ (A288/B344). (2) „[. . .], so kçnnte doch wohl dasjenige Etwas, welches den ußeren Erscheinungen zum Grunde liegt, was unseren Sinn so affiziert, daß er die Vorstellungen von Raum, Materie, Gestalt usw. bekommt, dieses Etwas, als Noumenon (oder besser, als transzendentaler Gegenstand) betrachtet, kçnnte doch auch zugleich das Subjekt der Gedanken sein“ (A358; vgl. auch A359).
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Dagegen anzunehmen, dass die sinnliche Materie ihrerseits von uns spontan hervorgebracht wird, ist wohl nicht schlechthin inkonsequent,498 macht aber die daraus ergebende Theorie der Erfahrung hoffnungslos unplausibel. Denn dies anzunehmen wrde zu der Konsequenz fhren, dass wir die konkrete Beschaffenheit der raumzeitlichen Wirklichkeit weitgehend spontan, sogar willkrlich, bestimmen kçnnten; dies wre eine Konsequenz, die wohl niemand in Kauf nehmen wollte.499 Dies spricht dafr, dass die Implikation (I) von jeder Theorie der Erfahrung respektiert werden muss, es sei denn, dass diese ihre ganze Plausibilitt aufopfert. Aufgrund dieser Implikation lsst sich nun folgende Argumentation fr die transzendentale Affektion (fortan: „Argumentation T“) konstruieren: Stufe 1: Fr die empirische Erkenntnis ist es erforderlich, dass uns die sinnliche Materie gegeben wird (und diese ist uns tatschlich gegeben). Stufe 2: Die sinnliche Materie ist kein Produkt unserer Spontaneitt [Implikation (I)]. Mit anderen Worten: Der Vorgang, in dem sie in unserem Gemt hervorgebracht wird, (nmlich die Affektion) ist ein solcher, der nicht von unserer Spontaneitt abhngig ist.500 Stufe 3: Daraus ergibt sich, dass dieser Vorgang auch von unserer Erkenntnis unabhngig ist. Denn da unsere Erkenntnis erst aus der Zusammenwirkung von Rezeptivitt und Spontaneitt entspringt, muss etwas von der Spontaneitt Unabhngiges auch von der Erkenntnis im Ganzen unabhngig sein.
498 Wie z. B. Fichte in der Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre (1794) versucht. Sein Vorwurf richtet sich nicht nur dagegen, dass es affizierende Dinge an sich gebe, sondern vielmehr gegen die Idee selbst, dass etwas nicht von uns Hervorgebrachtes uns gegeben werde. Ich vermute aber, dass es heutzutage wohl niemanden gibt, der eine solche Position verteidigenswert findet. 499 Es ist bemerkenswert, dass die Implikation (I) selbst von Vertretern der sogenannten „pretablierten Harmonie“ gebilligt werden kann. Sie ist sogar auch mit folgender Ansicht vertrglich: Die sinnliche Materie wird zwar von uns produziert, aber nicht spontan, sondern vielmehr durch einen Mechanismus bei uns, der außerhalb der Macht unserer Spontaneitt liegt. Die Implikation (I) fordert nur, dass die uns gegebene sinnliche Materie nicht durch unsere Spontaneitt hervorgebracht wird. 500 Die hiesige Paraphrasierung mit dem Terminus „Vorgang“ ist harmlos. „Es gibt einen Vorgang, in dem die sinnliche Materie uns gegeben wird“, ist gleichbedeutend mit „Die sinnliche Materie wird uns gegeben“.
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Stufe 4: Was aber von unserer Erkenntnis unabhngig ist, kann dem Anti-Realismus des kantischen TrI zufolge nicht ein raumzeitlicher Gegenstand sein. Die Affektion muss vielmehr ein transzendenter Vorgang sein. (Und da uns die sinnliche Materie tatschlich gegeben ist, kann man auch sagen, dass etwas Erkenntnisunabhngiges, nmlich ein Ding an sich, und zwar im Sinne der ZweiWelten-Interpretation, tatschlich existiert.) Es kommt darauf an, genau zu begreifen, was durch diese Argumentation nachgewiesen wird und was nicht. Das positiv Bewiesene ist, dass etwas von unserer Erkenntnis Unabhngiges (d. h. ein Ding an sich) existiere, und dass dieses „etwas“ an unserer empirischen Erkenntnis (somit auch an der davon abhngigen raumzeitlichen Wirklichkeit) beteiligt sei. Nicht bewiesen wird hingegen, dass das Ding an sich, welches die sinnliche Materie hervorbringt, vom Erkenntnissubjekt numerisch unterschieden sei. Die Argumentation T bençtigt daher nicht die Anwendung der Kategorien der Vielheit und der Kausalitt auf Dinge an sich. Sie hat z. B. nicht zur Folge, dass ein von uns numerisch unterschiedenes Ding an sich auf uns einen kausalen Einfluss ausbe. Argumentation T lsst demnach, anders als die „kantische“, jene Mçglichkeit zu, dass sich die sinnliche Materie, ohne Einfluss von anderen Dingen an sich auf das Erkenntnissubjekt, gleichsam „automatisch“ ereignet. Selbst in diesem Szenario wird die Implikation (I) beibehalten, denn diese „automatische“ Ereignung ist nicht das, was durch unsere Spontaneitt verwirklicht wird.501 Es ist ausschließlich dieses Moment, welches Argumentation T fr die Rezeptivitt annimmt. Ich erçrtere hier folgende zwei mçgliche Einwnde gegen Argumentation T: (1) Es wurde behauptet, dass Argumentation T keine Anwendung der Kategorien der Vielheit und Kausalitt auf Dinge an sich braucht. Dagegen mag man einen Verdacht hegen: Rekurriert sie doch nicht auf einen 501 Die Bezeichnung „Ding an sich“ ist also im hiesigen Kontext einigermaßen irrefhrend. Das durch Argumentation T bewiesene „Ding an sich“ mag drastisch anders sein als dasjenige, was man sich normalerweise mit dem Wort „Ding“ vorstellt; es mag z. B. keine substanzmßige Entitt, sondern vielmehr so etwas wie Vorgang oder Ordnung, ja sogar auch etwas an sich vçllig Unverstndliches sein. Ich denke jedoch nicht, dass dieser Umstand ein Hindernis dafr bereitet, im hiesigen Kontext den Terminus „Ding an sich“ zu verwenden. Dieser Terminus bezeichnet ohnehin, schon in Kants ursprnglicher Verwendung, etwas Abnormes, nmlich etwas ganz Anderes als ein bliches raumzeitliches Ding.
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Kausalschluss, nmlich den von der gegebenen sinnlichen Materie zu etwas Erkenntnisunabhngigem als deren Ursache? Das ist nicht wahr. Dieser Verdacht htte wohl Recht, wenn ich oben von der Existenz der sinnlichen Materie ausgehend folgendermaßen argumentiert htte: „Wenn die sinnliche Materie in uns existiert, dann muss es irgendein sie hervorbringendes Ding an sich geben“. Dergleichen war jedoch nicht, was oben ausgefhrt wurde. Wovon ich oben ausging, war nicht die Existenz der sinnlichen Materie schlechthin, sondern vielmehr die Wirklichkeit dessen, dass uns die sinnliche Materie (die nicht von uns spontan hervorgebracht wird) gegeben wird.502 Argumentation T ist bloß eine Bedeutungsanalyse dieser Wirklichkeit (im Rahmen des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde). Sie zeigt nmlich, dass die Wirklichkeit des Sachverhalts, dass uns die sinnliche Materie gegeben wird, schon fr sich allein dafr spricht, dass etwas Erkenntnisunabhngiges existiert und dieses die sinnliche Materie hervorbringt. Wer das Erstere zugesteht, muss zugleich auch das Letztere anerkennen, ohne zustzlichen Rekurs auf den Satz der Kausalitt oder Anderes. – Es erweist sich folglich, dass Adickes Recht hat, sofern er sagt, dass die Existenz der Dinge an sich schon in den „Erscheinungen“ bzw. im „aposteriorischen Stoff“ sich offenbart und nicht durch den Kausalschluss bewiesen wird (vgl. ders. 1924, S. 11 und 35). Was ich oben versuchte, war dies als eine notwendige Konsequenz aus der Implikation (I) der Rezeptivitt zu erweisen, anstatt es (wie bei Adickes) als „Kants realistisches Erleben“ abzutun.503 502 Willaschek 2001, S. 227, Anm. 15, weist ebenfalls auf diesen Punkt hin, bei seiner Kritik an Falkensteins Verneinung der transzendentalen Affektion. 503 Hier ist eine passende Stelle, die in der Literatur weit verbreitete Ansicht, Kants theoretische Philosophie erfordere nicht die Existenz der Dinge an sich, zu kritisieren. Ich greife Prauss 1974 und Rescher 1972 auf. Wie in 3.2 gesehen wurde, erkennt Prauss an, an unserer empirischen Erkenntnis sei außer uns als Akteuren der Spontaneitt noch etwas „anderes“ beteiligt. (Dieses „andere“ kann nicht mit irgendeinem raumzeitlichen Gegenstand identisch sein, weil Prauss zufolge dieser gerade subjektabhngig sein soll.) Nichtsdestotrotz lehnt er die Hypostasierung dieses „anderen“ ab, nmlich dieses als ein hinter den Erscheinungen Existierendes zu erachten (vgl. Prauss 1974, S. 145). Dies ist aber in sich widersprchlich. Denn dass an der empirischen Erkenntnis etwas „anderes“ beteiligt sei, ist eben gleichbedeutend mit dem, dass etwas „anderes“ existiere, das an der empirischen Erkenntnis beteiligt sei. Wenn man das Erstere bejaht, muss man zugleich auch das Letztere zugestehen. Rescher behauptet, dass die Existenz der uns affizierenden Dinge an sich nicht bewiesen, sondern aufgrund des regulativen Vernunftprinzips (das fordert, die Reihe der Bedingungen zu vervollstndigen) bloß postuliert wird. Er hat zwar
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
(2) Aus Argumentation T folgt, wie gesagt, nicht soviel, dass das Erkenntnissubjekt von etwas von ihm numerisch Unterschiedenem einen kausal Einfluss empfngt. Dagegen mag man einwenden: Ist der Empfang eines Einflusses vom Anderen nicht eine unentbehrliche Implikation des Begriffs „Affektion“? Wenn Argumentation T diese Implikation aufgibt, heißt dies nicht, dass sie des Namens der „Theorie der Affektion“ nicht wrdig ist? Wre es nicht besser zu sagen, dass sie vielmehr die Eliminierbarkeit der Affektion (ob transzendental oder empirisch) von der kantischen Philosophie bewiesen hat? – Dagegen mçchte ich zwei Grnde dafr vorbringen, das Ergebnis der Argumentation T dennoch als „Theorie der Affektion“ zu bezeichnen. Der erste Grund basiert auf dem Bezug zu den traditionellen Interpretationsschemata. Argumentation T befrwortet zwei wichtige Thesen, welche Anhnger der transzendentalen Affektion typischerweise vertreten (und Anhnger der empirischen Affektion verneinen); sie sind nmlich, (1) dass so etwas wie das Ding an sich nicht nur denkbar sei, sondern wirklich existiere, und (2) dass das Ding an sich an unserer empirischen Erkenntnis beteiligt sei, indem es in uns die sinnliche Materie hervorbringe. Zweitens kann man selbst im Rahmen der Argumentation Tsagen, dass das Erkenntnissubjekt vom Ding an sich einen Einfluss empfngt, zwar nicht von einer anderen noumenalen Substanz, aber zumindest in dem Sinn, dass das die Spontaneitt ausbende Subjekt einen Einfluss von etwas nicht in seiner Macht Stehendem empfngt. Angesicht dieser Umstnde drfte es wohl nicht widersinnig sein, das Ergebnis der Argumentation Tals „transzendentale Affektion“ zu bezeichnen. In Bezug auf die Konsequenz der Argumentation T seien noch drei Punkte anzumerken:
insofern Recht, als er sagt, dass die Existenz der Dinge an sich nicht durch einen Kausalschluss bewiesen wird. Dies bedeutet aber nicht notwendig, dass sie berhaupt nicht bewiesen werden kann, wie ich oben gezeigt habe. Es ist zudem zu bemerken: Die Existenz der Dinge an sich als ein bloßes „Postulat“ zu erachten, fhrt dazu, selbst die Implikation (I) der Rezeptivitt zu einer Vernunftfiktion herabzumindern, was aber weder exegetisch noch sachlich zu verteidigen ist. Ich hege den Verdacht, dass Prauss und Rescher einfach davon ausgegangen sind, dass Kants Doktrin der Unerkennbarkeit der Dinge an sich auch die Ablehnung der Existenzbehauptung der Dinge an sich beinhaltet (vgl. Prauss ibid., S. 146 und Rescher ibid., S. 32). Ich werde im nchsten Abschnitt diese Annahme zurckweisen.
8.2 Erforderlichkeit der transzendentalen Affektion
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(1) Argumentation T hat eine noch allgemeinere Konsequenz, die nicht nur fr den kantischen, sondern auch fr den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde berhaupt gilt. Man erinnere sich daran, dass Argumentation T auf der Implikation (I) der Rezeptivitt basiert, die nicht eine spezifisch „kantische“ Voraussetzung, sondern vielmehr dasjenige ist, was keine Theorie der Erfahrung verneinen kçnnte, ohne ihre Plausibilitt aufzuopfern. Daraus geht hervor, dass jede (sich plausibel machen wollende) anti-realistische Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit so etwas wie die transzendentale Affektion anerkennen muss. Dies spricht zugleich fr die sachliche Unvertretbarkeit des sogenannten „globalen Anti-Realismus“, der bezglich jeder mçglichen strittigen Klasse einerlei den AntiRealismus vertritt (daher alles Wirkliche als erkenntnisabhngig erachtet). Es muss zumindest anerkannt werden, dass etwas Erkenntnisunabhngiges existiert. (2) Daraus wird auch ersichtlich, dass die (konsequent ausgefhrte) methodologische Zwei-Aspekte-Interpretation nicht nur exegetisch unplausibel, sondern selbst als rationale Rekonstruktion unhaltbar ist. Denn sie fhrt zur Annihilation des Moment der Rezeptivitt, das aber sicherlich eines der zentralsten Elemente in Kants theoretischer Philosophie ist. – Da dies besttigt worden ist, lasse ich in der nachfolgenden Diskussion die „methodologische“ Lesart von „Dingen an sich“ (nmlich Ding an sich (I)) außer Acht. (3) Argumentation T weist die Option der empirischen Affektion berhaupt zurck504 und somit auch die Theorie der doppelten Affektion. Denn sie beweist, dass jede sinnliche Materie als Produkt der transzendentalen Affektion erachtet werden muss; fr die empirische Affektion bleibt keine Unterklasse der sinnlichen Materie brig. Wie im letzten Unterabschnitt gezeigt wurde, ist es zwar einzurumen, raumzeitliche Gegenstnde als „Ursachen“ der sinnlichen Materie zu bezeichnen. Sie kann aber nicht als dasjenige verstanden werden, was die sinnliche Materie hervorbringt. 504 Prauss 1974 lehnt die transzendentale Affektion ab und vertritt stattdessen die empirische Affektion. Dies widerspricht aber gerade seiner Anerkennung des „anderen“ (vgl. der letzten Anmerkung). Obwohl er es nicht explizit macht, ist es wohl wahr, dass das „andere“ auch der Grund (obschon nicht die Ursache) der sinnlichen Materie ist (sonst wre unverstndlich, wie das „andere“ an unserer empirischen Erkenntnis beteiligt sein sollte). Wenn man aber soviel zugesteht und zudem die doppelte Affektion ablehnt (wie Prauss es selbst tut; vgl. ibid., S. 193 f.), kann man nicht mehr zu Recht behaupten, dass empirische Vorgnge die sinnliche Materie hervorbringen.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Durch die bisherige Diskussion ist festgestellt worden, dass der TrI gerade aus seinem immanenten Grund die transzendentale Affektion erfordert. Es stimmt jedoch, dass die Billigung der transzendentalen Affektion im Rahmen der KdrV zumindest sehr problematisch erscheint. Im Nachfolgenden erçrtere ich zwei Themen. Das eine ist ein spezifisch kantisches Problem, das andere betrifft den Anti-Realismus der raumzeitlichen Wirklichkeit im Allgemeinen: (a) Kant behauptet bekanntlich, dass Dinge an sich unerkennbar sind, und dass die Kategorien ebenfalls nicht darauf angewandt werden kçnnen. Ist die oben dargestellte Theorie der transzendentalen Affektion mit diesen Behauptungen vertrglich? (b) Ist sie mit dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde berhaupt vereinbar? Um die Theorie der transzendentalen Affektion in das System der KdrV zu integrieren, mssen diese Probleme gelçst werden.505 In den nachfolgenden zwei Abschnitten erçrtere ich diese Themen nacheinander. 8.3 Das traditionelle Problem Dieser Abschnitt handelt von folgenden berhmten Thesen in der KdrV: Unerkennbarkeitsthesis: Dinge an sich sind (zumindest fr uns) unerkennbar. Unanwendbarkeitsthesis: Die Kategorien kçnnen nicht auf Dinge an sich angewandt werden. 505 Es gibt noch ein wichtiges Problem mit der transzendentalen Affektion, das aber hier nicht erçrtert werden kann. Es handelt sich um folgende Frage: Wie kann die oben dargestellte Theorie der transzendentalen Affektion mit der schwer zu leugnenden Tatsache, dass wir ber Affektionsvorgnge in der Tat gewisse empirische Kenntnisse haben, vereinbart werden? Ich denke, dass dieses Problem dadurch gelçst werden kann, die empirisch erkennbaren Vorgnge als „Erscheinungen“ der transzendentalen Affektionsvorgnge zu erachten. (Willaschek 2001 entwickelt eine verwandte Lçsung im Rahmen der (meines Erachtens realistischen; vgl. oben, 3.2, Anm. 123) Zwei-Aspekte-Interpretation.) Um aber diese Lçsung hinreichend auszuarbeiten, bedarf es einer intensiven Auseinandersetzung mit Kants Doktrin der Kausalitt berhaupt, die meines Erachtens in manchen Hinsichten modifiziert und ergnzt werden muss (z. B. mithilfe der heutigen Theorie des kontrafaktischen Konditionales la David Lewis). Diese Aufgabe sprengt aber den Rahmen der vorliegenden Abhandlung weitgehend, so dass ich sie einer zuknftigen Weiterfhrung der anti-realistischen Interpretation berlasse.
8.3 Das traditionelle Problem
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Daraus entspringt das traditionelle Problem der transzendentalen Affektion. Angesichts dieser Thesen scheint es nmlich, dass man nicht behaupten kann, dass Dinge an sich existieren und uns affizieren. Die im letzten Abschnitt dargestellte Theorie der transzendentale Affektion hat dieses Problem schon teilweise aufgelçst. Sie enthlt z. B. weder die Behauptung, dass wir die transzendenten Affektionsvorgnge konkret erkennen kçnnen, noch die Anwendung der Kategorien der Kausalitt und der Vielheit auf Dinge an sich. Ein Problem bleibt dennoch: Sie behauptet zumindest die Existenz der die sinnliche Materie hervorbringenden Dinge an sich und verwendet dabei die Kategorie der Existenz. Luft dies nicht den oben genannten kantischen Thesen zuwider? Dieses Problem kann nicht einfach mit Rekurs auf die Denkbarkeit der Dinge an sich bzw. auf den „transzendentalen Gebrauch“ der Kategorien beseitigt werden (wie Adickes 1924, vierter Abschnitt, Langton 1998, S. 49 f. und Allais 2010, S. 16), denn die Theorie der transzendentalen Affektion behauptet eben positiv, dass Dinge an sich, die uns sinnliche Materie geben, nicht nur denkbar, sondern wirklich vorhanden sind (vgl. Falkenstein 1995, S. 315 und Willaschek 2001, S. 220 f.). Um die Theorie der transzendentalen Affektion von dem traditionellen Problem zu befreien, bedarf es einer noch feineren Argumentation. Dafr ist es nçtig, korrekt und exakt zu begreifen, was Kant mit den obigen Thesen zu verneinen beabsichtigt und was nicht. Es muss dafr besonders bercksichtigt werden, durch welche Argumentationen Kant sie begrndet. – Diese Aufgabe wird in der bisherigen Literatur manchmal vernachlssigt und stattdessen wird es einfach fr offensichtlich gehalten, dass die betreffenden Thesen zur totalen Unerkennbarkeit der Dinge an sich fhren.506 Dagegen werde ich zeigen, dass diese Voreingenommenheit erstens nicht durch Kants eigene Darstellung dieser Thesen belegt, und zweitens auch nicht durch seine Argumentation dafr gerechtfertigt wird. Was diese Thesen verneinen, ist allenfalls, dass wir die Beschaffenheit der Dinge an sich erkennen kçnnen, und nicht deren Existenz.
506 Z.B. Bird 1962 und Hanna 2001; vermutlich auch Rescher 1972 und Prauss 1974 (vgl. oben, Anm. 503).
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
8.3.1 Unerkennbarkeit der Dinge an sich Ich mçchte zunchst auf folgende textliche Tatsache aufmerksam machen: Was Kant in den meisten Textstellen explizit ablehnt, ist nicht Wissen von Dingen an sich berhaupt, sondern vielmehr Wissen darber, was sie sind (oder wie sie beschaffen sind); vgl. z. B. Folgendes: „Was es fr eine Bewandtnis mit den Gegenstnden an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivitt unserer Sinnlichkeit haben mçge, bleibt uns gnzlich unbekannt.“ (A42/B59) „[. . .]; was die Dinge an sich sein mçgen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen, weil mir doch niemals ein Ding anders als in der Erscheinung vorkommen kann.“ (A276 f./B332 f.) „Man kann zwar auf die Frage, was ein transzendentaler Gegenstand fr eine Beschaffenheit habe, keine Antwort geben, nmlich was er sei, [. . .].“ (A478/ B506 Anm.)507
In folgender Textpassage zçgert Kant gar nicht mit der Existenzbehauptung der Dinge an sich und verneint lediglich die Erkennbarkeit ihrer Beschaffenheit: „In der That, wenn wir die Gegenstnde der Sinne wie billig als bloße Erscheinungen ansehen, so gestehen wir hiedurch doch zugleich, daß ihnen ein Ding an sich selbst zum Grunde liege, ob wir dasselbe gleich nicht, wie es an sich beschaffen sei, sondern nur seine Erscheinung, d.i. die Art, wie unsre Sinnen von diesem unbekannten Etwas afficirt werden, kennen. Der Verstand also, eben dadurch daß er Erscheinungen annimmt, gesteht auch das Dasein von Dingen an sich selbst zu, und so fern kçnnen wir sagen, daß die Vorstellung solcher Wesen, die den Erscheinungen zum Grunde liegen, mithin bloßer Verstandeswesen nicht allein zulssig, sondern auch unvermeidlich sei.“ (Prolegomena, Ak.. 4, S. 314 f., kursiv von K.C.)508 507 Vgl. auch A38/B55, A43/B60, B67 f., A277/B333 f., A288 f./B344 f., A540/ B568. 508 Obwohl der Terminus „Ding an sich“ nicht verwendet wird, sagt folgende Textpassage aus der Metaphysik Mrongovius ebenfalls wesentlich dasselbe aus: „[Die Sinne] zeigen uns bloß die Erscheinungen der Dinge. Diese sind aber nicht die Dinge selbst. Sie liegen zwar den Erscheinungen zum Grunde, und ich kann daher wohl von den Erscheinungen auf die Wirklichkeit der Dinge, aber nicht von den Eigenschaften der Erscheinungen auf die Eigenschaften der Dinge selbst schlßen, [. . .]“ (Ak. 29, S. 857); vgl. auch Grundlegung, Ak. 4, S. 451. Graham Bird bemht sich in ders. 2006, S. 562, die obige Textpassage aus Prolegomena so zu deuten, dass Kant dort nicht die Existenz, sondern nur die Idee der Dinge an sich anerkennt. Seine Deutung basiert aber auf einer wesentlichen Vernderung des Originaltextes. Ich fhre ein Beispiel an: Bird liest den zweiten kursiv gesetzten Teil derart, dass „Understanding just by accepting appearances
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Auch in folgender Textpassage wird die „Sache an sich selbst“ zwar als „unerkannt“ beschrieben, ihre Wirklichkeit jedoch gebilligt: „Aber hierin liegt eben das Experiment einer Gegenprobe der Wahrheit des Resultats jener ersten Wrdigung unserer Vernunfterkenntnis a priori, daß sie nmlich nur auf Erscheinungen gehe, die Sache an sich selbst dagegen zwar als fr sich wirklich, aber von uns unerkannt, liegen lasse.“ (BXIXf.)
Im Vergleich dazu gibt es nur wenige Textpassagen, in denen Kant die totale Unerkennbarkeit der Dinge an sich (inklusive deren Existenz) zu behaupten scheint; vgl. z. B. Folgendes: „[. . .]: so behauptet die Lehre der Sittlichkeit ihren Platz, und die Naturlehre auch den ihrigen, welches aber nicht stattgefunden htte, wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen kçnnen, auf bloße Erscheinungen eingeschrnkt htte.“ (BXXIX) „[. . .], von denen [sc. als Erscheinungen gegebenen Dingen] sich auch um deswillen, was die Form derselben betrifft, vieles a priori sagen lßt, niemals aber das Mindeste von dem Dinge an sich selbst, das diesen Erscheinungen zum Grunde liegen mag.“ (A49/B66) „Verstehen wir darunter nur Gegenstnde einer nichtsinnlichen Anschauung, von denen unsere Kategorien zwar freilich nicht gelten, und von denen wir also gar keine Erkenntnis (weder Anschauung, noch Begriff ) jemals haben kçnnen, so mssen Noumena in dieser bloß negativen Bedeutung allerdings zugelassen werden: [. . .].“ (A286/B342)
Es ist jedoch fragwrdig, ob Kant mit diesen Textpassagen in der Tat beabsichtigt, die Existenzbehauptung der Dinge an sich abzulehnen. Selbst abgesehen von der Mçglichkeit, dass er dort seinen Gedanken vielleicht nur in inadquater Weise ausgedrckt hat, muss auch seine eigenartige Verwendung des Terminus „Erkenntnis“ bercksichtigt werden; nmlich der Umstand, dass er darunter manchmal nicht die Frwahrhaltung mit admits the existence of things in themselves just in so far as we can say [sofern kçnnen wir sagen] that these ideas are permitted and unavoidable“ (ibid., S. 562). Das Wort „so fern“ ist aber im Originaltext zweifelsohne nicht als Konjunktion, sondern als Adverb verwendet. Kant sagt nmlich: Der Verstand msse das Dasein von Dingen an sich zugestehen, und als Konsequenz aus diesem Zugestndnisses kçnne man sagen, dass die Vorstellung derselben unvermeidlich sei. Die Unvermeidlichkeit der Vorstellung der Dinge an sich grndet auf dem Zugestndnis des Daseins derselben und nicht umgekehrt. – Birds fragwrdige Textmanipulation verliert ohnehin ihre Motivation, wenn sich erweist, dass Kants Argumentation fr die Unerkennbarkeitsthesis kein Hindernis fr die Existenzbehauptung der Dinge an sich darstellt.
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epistemischer Begrndung versteht, sondern die Erkenntnis der substantiellen Beschaffenheit des Gegenstandes. Zum Beispiel: Obwohl er zugesteht, dass man sich in der reinen Apperzeption seiner eigenen Existenz bewusst wird, nennt er dies nicht „Erkenntnis“. Was er mit „Erkenntnis meiner selbst“ meint, ist lediglich, vermittelst der Anschauung die konkrete Seinsweise meiner selbst zu erkennen (vgl. z. B. die Transzendentale Deduktion (B), §25, die Widerlegung des Idealismus (B) und das Paralogismuskapitel).509 In Anbetracht dessen sieht es wohl nicht mehr „gewaltttig“ aus, die obigen drei Textpassagen derart zu deuten, dass Kant dort nicht beabsichtigt, die Existenzbehauptung der Dinge an sich auszuschließen. Die bloße Redeweise ist natrlich nicht absolut entscheidend fr die Interpretation, umso weniger fr die rationale Rekonstruktion. Wenn seine Argumentation in der Tat die totale Unerkennbarkeit der Dinge an sich (inklusive deren Existenz) zur Konsequenz haben sollte, muss die Unerkennbarkeitsthesis ohnehin derart verstanden werden, egal wie sie von Kant selbst ausgedrckt wird. Hat aber seine Argumentation wirklich eine solche Konsequenz?
509 Das Gleiche findet sich (obwohl man dies bestreiten kann) auch in Kants Diskussion ber die Freiheit in der Kritik der praktischen Vernunft. Obwohl die Wirklichkeit der Freiheit durch die des moralischen Gesetzes bewiesen wird (Ak. 5, S. 47), nennt Kant dies nicht „Erkenntnis“ der Freiheit. Der Grund dafr ist, dass man dadurch kein Wissen darber gewinnt, „[w]ie [. . .] die Freiheit mçglich sei, und wie man sich diese Art von Kausalitt theoretisch und positiv vorzustellen habe“ (ibid., S. 133), nmlich kein Wissen ber die Konstitution des Subjekts, die die Freiheit ermçglicht. (Dass man dies bestreiten kann, liegt daran, dass Kants Aussage, die Freiheit werde durch das moralische Gesetz bewiesen, auch anders deutbar ist: Dem Anschein entgegen meint Kant mit dieser Aussage eigentlich nicht, was sie wçrtlich bedeutet, sondern vielmehr, dass die Wirklichkeit der Freiheit nur durch das praktische Interesse postuliert wird, was fr einen „Beweis“ nicht ausreicht. Diese Deutung halte ich fr unangemessen, um fr Kants Absicht wiederzugeben, weil sie anscheinend dazu fhrt, die Wirklichkeit des moralischen Gesetzes bzw. die Faktizitt des „Faktums der Vernunft“ zu einer bloßen Fiktion herabzumindern, wie notwendig immer diese Fiktion in praktischer Hinsicht sein mag. Auf dieses Thema kann ich hier aber nicht weiter eingehen.) Noch eine andere eigenartige Verwendung des Terminus „Erkenntnis“ findet sich in B149. Dort sagt Kant, dass ein bloß negatives Wissen ber Dinge an sich (wie dessen Unrumlichkeit, Unzeitlichkeit, usw.) „kein eigentliches Erkenntnis“ sei. Dies deutet darauf hin, dass Kant denkt, dass die Erkenntnis irgendeine positive Information ber die konkrete Beschaffenheit des Gegenstandes liefern sollte.
8.3 Das traditionelle Problem
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Betrachten wir zuerst die Argumentation, die Kant fr die Unerkennbarkeitsthesis explizit vorbringt. Davon finden sich anscheinend zwei Varianten: Die eine basiert darauf, dass unsere (sinnliche) Anschauung nicht reprsentiert, wie Dinge an sich selbst sind. Die andere fgt dem noch hinzu, dass auch die reinen Kategorien alleine dies nicht reprsentieren.510 Es ist aber leicht einzusehen, dass die letztere Variante im Endeffekt auf die erstere zurckgefhrt wird (denn wie gleich gezeigt wird, kçnnen Kategorien ohne Untersttzung der Anschauung auf keinen wirklichen Gegenstand angewandt werden). Ich untersuche also hier nur die erstere: Diese wird am Anfang von §8 der Transzendentalen sthetik („Allgemeine Anmerkung zur transzendentalen sthetik“) in der ausfhrlichsten Form dargestellt: „Wir haben also sagen wollen: daß alle unsere Anschauung nichts als die Vorstellung von Erscheinung sei: daß die Dinge, die wir anschauen, nicht das an sich selbst sind, wofr wir sie anschauen, noch ihre Verhltnisse so an sich selbst beschaffen sind, als sie uns erscheinen, und daß, wenn wir unser Subjekt oder auch nur die subjektive Beschaffenheit der Sinne berhaupt aufheben, alle die Beschaffenheit, alle Verhltnisse der Objekte im Raum und Zeit, ja selbst Raum und Zeit verschwinden wrden, und als Erscheinungen nicht an sich selbst, sondern nur in uns existieren kçnnen. Was es fr eine Bewandtnis mit den Gegenstnden an sich und abgesondert von aller dieser Rezeptivitt unserer Sinnlichkeit haben mçge, bleibt uns gnzlich unbekannt. Wir kennen nichts, als unsere Art, sie wahrzunehmen, die uns eigentmlich ist, die auch nicht notwendig jedem Wesen, obzwar jedem Menschen, zukommen muß. Mit dieser haben wir es lediglich zu tun [. . .]. Wenn wir diese unsere Anschauung auch zum hçchsten Grade der Deutlichkeit bringen kçnnten, so wrden wir dadurch der Beschaffenheit der Gegenstnde an sich selbst nicht nher kommen. Denn wir wrden auf allen Fall doch nur unsere Art der Anschauung, d.i. unsere Sinnlichkeit vollstndig erkennen, und diese immer nur unter den, dem Subjekt ursprnglich anhngenden Bedingungen, von Raum und Zeit; was die Gegenstnde an sich selbst sein mçgen, wrde uns durch die aufgeklrteste Erkenntnis der Erscheinung derselben, die uns allein gegeben ist, doch niemals bekannt werden“ (A42 f./BB59 f., kursiv von K.C.).
Die hiesige Argumentation kann folgendermaßen zusammengefasst werden: 510 Die letztere Variante findet man z. B. in folgender Textpassage: „Aber alsdann ist der Begriff eines Noumenon problematisch, d.i. die Vorstellung eines Dinges, von dem wir weder sagen kçnnen, daß es mçglich noch daß es unmçglich sei, indem wir gar keine Art der Anschauung, als unsere sinnliche kennen, und keine Art der Begriffe, als die Kategorien, keine von beiden aber einem außersinnlichen Gegenstande angemessen ist“ (A287/B343).
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Stufe 1: Ohne Anschauung kçnnen wir von wirklichen Dingen berhaupt nichts erkennen. (Obwohl dies im obigen Zitat nicht explizit erwhnt wird, ist doch klar, dass Kant hier dergleichen implizit annimmt, denn ohne diese Prmisse kçnnte lediglich behauptet werden, dass Dinge an sich nicht vermittelst der Anschauung erkannt werden, und nicht, dass sie allgemein unerkennbar sind. Stufe 2: Unsere (sinnliche) Anschauung reprsentiert nicht, wie Dinge an sich selbst sind. Stufe 3: Wir kçnnen also nicht erkennen, wie Dinge an sich selbst sind. Ich gehe hier nicht darauf ein, wie die ersten beiden Stufen ihrerseits begrndet werden. Zu beachten ist vielmehr, welche Konsequenz aus der ganzen Argumentation zu ziehen ist (angenommen, dass jede Stufe gut begrndet ist). Die Konsequenz ist offensichtlich nicht die totale Unerkennbarkeit der Dinge an sich, sondern allenfalls die Unerkennbarkeit der Beschaffenheit derselben. Denn Stufe 2, die fr die ganze Argumentation entscheidend ist, sagt nur, dass man vermittelst der Anschauung nicht erkennen kann, wie Dinge an sich selbst sind (auch wenn solche existieren).511 Die betreffende Argumentation im Ganzen kann also die Existenzbehauptung der Dinge an sich berhaupt nicht berhren. Daraus erhellt, dass sie auch die Argumentation T in 8.2.2 nicht antastet. In dieser war ohnehin keine Rede davon, anhand der Reprsentationskraft der Anschauung irgendeine Konsequenz ber die Beschaffenheit der Dinge an sich zu ziehen. Im Rahmen der kantischen Philosophie ist noch eine andersartige Argumentation fr die Unerkennbarkeitsthesis konstruierbar, nmlich diejenige, welche ich in 5.3.3 (S. 204 f.) als Argumentation L ausarbeitete. Wie aber dort besttigt wurde, hat Argumentation L nur soviel zur Konsequenz, dass die Erkenntnis der konkreten Beschaffenheit erkenntnisunabhngiger Gegenstnde unmçglich ist, aus dem Grund, dass der dafr erforderliche direkte Vergleich zwischen Erkenntnis und Gegenstand unmçglich ist. Argumentation T im letzten Unterabschnitt bleibt also von Argumentation L unberhrt, weil sie nicht behauptet, dass irgendein von uns vorgestellter konkreter Sachverhalt aufseiten des Erkenntnisunabhngigen besteht, 511 Wenn man zudem bercksichtigt, dass in der Transzendentalen sthetik die ZweiAspekte-Redeweise (die die realistische Zwei-Aspekte-Lehre nahelegt) dominant ist, wird es plausibler, dass Kant dort gar nicht beabsichtigt, die Existenz der erkenntnisunabhngigen Dinge (und deren „an sich“-Aspekt) in Zweifel zu ziehen, sondern sie vielmehr im Hintergrund vorausgesetzt hat.
8.3 Das traditionelle Problem
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sondern nur, dass etwas Erkenntnisunabhngiges existiert, ohne berdies zu bestimmen, wie es beschaffen ist. Daraus geht hervor, dass weder die explizite noch die implizite Argumentation Kants fr die Unerkennbarkeitsthesis die totale Unerkennbarkeit der Dinge an sich, inklusive ihrer Existenz, zur Folge haben. Sie verneinen nur die Erkenntnis der Beschaffenheit derselben. Es gibt jedoch auch Textpassagen, in denen Kant es schlechterdings abzulehnen scheint, außer Erscheinungen noch Dinge an sich (bzw. Noumena) als etwas Wirkliches anzunehmen. Ich untersuche nun Kants Argumentation dafr. Solche Textpassagen gibt es nicht viele. Soweit ich gesehen habe, finden sie sich ausschließlich in „Phaenomena und Noumena“ und „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ (in concreto: A252 f., B308 f., A254 – 6/B310 – 12, A287/B343). Die dortige Argumentation lsst sich folgendermaßen zusammenfassen: Stufe 1: Wir kçnnen Noumena weder durch unsere (sinnlichen) Anschauungen noch durch Kategorien erkennen. Stufe 2: Um trotzdem Noumena als etwas Wirkliches neben Erscheinungen anzunehmen, mssen wir ber die bloße Denkbarkeit hinaus die reale Mçglichkeit einer nicht-sinnlichen (intellektuellen) Anschauung beweisen kçnnen,512 was aber unmçglich ist. 512 Vgl. z. B. folgende Textpassagen: (1) „Damit aber ein Noumenon einen wahren, von allen Phnomenen zu unterscheidenden Gegenstand bedeute, so ist es nicht genug: daß ich meinen Gedanken von allen Bedingungen sinnlicher Anschauung befreie, ich muß noch berdem Grund dazu haben, eine andere Art der Anschauung, als diese sinnliche ist, anzunehmen, unter der ein solcher Gegenstand gegeben werden kçnne; denn sonst ist mein Gedanke doch leer, obzwar ohne Widerspruch“ (A252). (2) „Nun kann aber die Mçglichkeit eines Dinges niemals bloß aus dem Nichtwidersprechen eines Begriffs desselben, sondern nur dadurch, daß man diesen durch eine ihm korrespondierende Anschauung belegt, bewiesen werden. Wenn wir also die Kategorien auf Gegenstnde, die nicht als Erscheinungen betrachtet werden, anwenden wollten, so mßten wir eine andere Anschauung, als die sinnliche, zum Grunde legen, [. . .]“ (B308, kursiv von K.C.). (3) „Daher erstrecken sich die Kategorien sofern weiter, als die sinnliche Anschauung, weil sie Objekte berhaupt denken, ohne noch auf die besondere Art (der Sinnlichkeit) zu sehen, in der sie gegeben werden mçgen. Sie bestimmen aber dadurch nicht eine grçßere Sphre von Gegenstnden, weil, daß solche gegeben werden kçnnen, man nicht annehmen kann, ohne daß man eine andere als sinnliche Art der Anschauung als mçglich voraussetzt, wozu wir aber keineswegs berechtigt sind“ (A254/B309).
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
Stufe 3: Wir kçnnen also Noumena nicht als wirkliche Gegenstnde annehmen. Das Problem dieser Argumentation liegt auf der Stufe 2. Es wre unproblematisch zu behaupten, dass ohne intellektuelle Anschauung die Beschaffenheit der Noumena unerkennbar ist (auch wenn diese wirklich existieren). Es ist aber eine ganz andere Behauptung, dass selbst fr die Existenzbehauptung der Noumena eine intellektuelle Anschauung erfordert wird. Diese strkere Behauptung ist fr sich schon sehr fragwrdig und ohnehin von Kant selbst nirgendwo begrndet. – Argumentation T im letzten Unterabschnitt ist ein Beispiel dafr, dass man die Existenz der Dinge an sich (Noumena) ohne Rekurs auf die intellektuelle Anschauung beweisen kann. In Rcksicht darauf mag man vielmehr dazu neigen, Kants Argumentation an den oben genannten Textstellen anders zu deuten, wie z. B. folgendermaßen: Was er dort tatschlich abzulehnen beabsichtigt, ist nicht die Existenzbehauptung der Noumena schlechthin, sondern nur die Erkenntnis der Beschaffenheit derselben; nur dass er sich an jenen Textstellen in irrefhrender Weise ausgedrckt hat. – Ich mçchte nicht entscheiden, ob diese „wohlwollende“ Deutung zutreffend ist. Zu meinem Zweck ist folgende Feststellung schon hinreichend: Selbst wenn Kant an jenen Textstellen intendieren sollte, die totale Unerkennbarkeit der Dinge an sich zu behaupten, ist seine Argumentation dafr grundlos, so dass eine solche Behauptung in der rationalen Rekonstruktion der kantischen Theorie der Dinge an sich außer Acht gelassen werden muss. Durch die bisherige Diskussion ist besttigt worden, dass die Unerkennbarkeitsthesis mit der Theorie der transzendentalen Affektion in 8.2.2 nicht kollidiert. Ich gehe nun zu dem anderen Diskussionspunkt ber, nmlich der Unanwendbarkeitsthesis. 8.3.2 Unanwendbarkeit der Kategorien auf Dinge an sich Es ist zunchst zu betonen, dass Kant nicht der Ansicht ist, dass die unschematisierten Kategorien vçllig sinnlos sind (obwohl einige Textpassagen diesen Eindruck erwecken; vgl. Sandberg 1989). Selbst die unschematisierten Kategorien haben eine „logische“ (A147/B186) bzw. „transzendentale Bedeutung“ (A248/B305; vgl. Hanna 2001, S. 87 – 92 und Westphal 2004, S. 42 – 52) und sie kçnnen fr bloßes Denken, d. h. bloße Vermutung ohne Wissensanspruch, gebraucht werden. Es handelt sich bei der Unanwendbarkeitsthesis um die Unmçglichkeit, die Kategorien fr die Erkenntnis der Dinge an sich zu gebrauchen.
8.3 Das traditionelle Problem
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Kant zufolge ist ohne Kategorien keine Erkenntnis, sogar nicht einmal Denken berhaupt, mçglich. Daraus scheint nun direkt zu folgen, dass wir ber Dinge an sich gar nichts, inklusive ihrer Existenz, erkennen kçnnen. In diesem Unterabschnitt werde ich aber zeigen, dass dies nicht der Fall ist. Zu bercksichtigen sind hier Kants Argumentation fr die Unanwendbarkeitsthesis und zudem die Besonderheit der modalen Kategorien. Betrachten wir zuerst die von Kant explizit vorgegebene Argumentation dafr. Sie findet sich in der Transzendentalen Deduktion (B), §§22 – 23 und in „Phaenomena und Noumena“, A238 – 40/B297 – 99. Sie lsst sich folgendermaßen zusammenfassen: Stufe 1: Kategorien sind nur Regeln fr die Verstandeshandlung, die darin besteht, „die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm anderweitig in der Anschauung gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen“ (B145). Sie liefern also ohne Anschauung berhaupt keine Erkenntnis wirklicher Dinge. Stufe 2: Wir haben nur die sinnliche Anschauung. Stufe 3: Diese reprsentiert aber nicht, wie Dinge an sich selbst sind. Stufe 4: Kategorien kçnnen also nicht zur Erkenntnis der Dinge an sich gebraucht werden. Fr die letzte Konsequenz entscheidend ist Stufe 3, die mit der Stufe 2 von der ersten Argumentation fr die Unerkennbarkeitsthesis identisch ist. Die gerade angefhrte Argumentation beweist also allenfalls, gleich wie jene Argumentation fr die Unerkennbarkeitsthesis und aus demselben Grund, dass Kategorien nicht fr Erkenntnis der Beschaffenheit der Dinge an sich verwendet werden kçnnen. Die Gltigkeit der Argumentation T in 8.2.2 wird also auch durch diese Argumentation nicht berhrt. Indessen stellt Kant an einer Textstelle eine noch strkere Behauptung ber die Unanwendbarkeit der Kategorien auf Dinge an sich auf: „Wren die Gegenstnde, womit unsere Erkenntnis zu tun hat, Dinge an sich selbst, so wrden wir von diesen gar keine Begriffe a priori haben kçnnen. Denn woher sollten wir sie nehmen? [. . .] Nehmen wir sie aus uns selbst [wie Kant selbst behauptet; K.C.], so kann das, was bloß in uns ist, die Beschaffenheit eines von unseren Vorstellungen unterschiedenen Gegenstandes nicht bestimmen(a), d.i. ein Grund sein, warum es ein Ding geben solle, dem so etwas, als wir in Gedanken haben, zukomme, und nicht vielmehr alle diese Vorstellung leer sei(b).“ (A128 f.)
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Fangen wir damit an, das hier Verneinte deutlich herauszuarbeiten. Der Teil (a) erweckt den Eindruck, als ob Kant hier die Mçglichkeit ganz und gar verneint, dass Dinge an sich kategoriale Bestimmungen (d. h. Bestimmungen, die mit Kategorien gemeint werden, z. B. eine formale Struktur, die mit „Substanz/Attribut“ vorgestellt wird) berhaupt tragen kçnnen. Um aber diese Mçglichkeit zu verneinen, msste man bereits etwas Substantielles ber Dinge an sich wissen, was in Rcksicht auf die Unerkennbarkeitsthesis unmçglich ist. Der Teil (b) legt eine andere Deutung nahe. Er spricht dafr, dass Kant hier mit „Grund“ nicht etwa ratio essendi, sondern vielmehr ratio cognoscendi meint. Was Kant hier verneint, ist demnach nicht jene Mçglichkeit schlechthin, sondern vielmehr die Mçglichkeit, dass wir erkennen kçnnen, dass dergleichen der Fall ist. So verstanden wird das obige Zitat folgendermaßen paraphrasiert: Die Kategorien sind Begriffe, die wir „aus uns selbst nehmen“, deshalb kçnnen wir nicht mit epistemischer Begrndung behaupten, dass die damit vorgestellten kategorialen Bestimmungen wirklich aufseiten der Dinge an sich obwalten. Zu beachten ist, dass diese These strker als die Konsequenz der vorigen Argumentation ist. Was aus jener geschlossen wurde, war nur, dass man die Kategorien nicht fr die Erkenntnis der Beschaffenheit der Dinge an sich verwenden kann (und dies wre eine direkte Konsequenz aus der Unerkennbarkeitsthesis). Die hiesige These hingegen besagt, dass es selbst dafr keine Garantie gibt, dass die Kategorien berhaupt adquate Medien dafr sind, ber Dinge an sich zu denken. Sie lsst nmlich auch die außerordentliche Mçglichkeit offen, dass Dinge an sich keine kategorialen Bestimmungen tragen, so dass ber sie im Rahmen von Einheit/Vielheit bzw. Substanz/Attribut zu sprechen schon „unsachgemß“ wre. – Aber dasjenige, fr das die Kategorien nicht gelten, berschreitet gerade die Grenze des Denkens (nicht nur die der Erkenntnis), weil sie unentbehrliche Medien fr unser Denken sind. Wir kçnnen uns z. B. nicht einmal „bloß vorstellen“, wie das, was nicht im Rahmen „Substanz/Attribut“ besprochen werden kann, beschaffen ist. Wenn also jene außerordentliche Mçglichkeit der Fall sein sollte (was nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann), bedeutet dies, dass wir Dinge an sich in keiner adquaten Weise denken kçnnen. Hier mag man den Einwand erheben, dass Kant zugesteht, dass Dinge an sich denkbar sind. Setzt diese Denkbarkeit nicht voraus, dass Dinge an sich zumindest kategoriale Bestimmungen haben, weil die Kategorien die Bedingungen der Mçglichkeit des Denkens sind? Dem antworte ich dadurch, zwei distinkte Bedeutungen der „Denkbarkeit“ zu unterscheiden.
8.3 Das traditionelle Problem
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Nehmen wir an, dass jemand ohne Wissensanspruch bloß denkt, dass einigen Dingen an sich eine konkrete Eigenschaft F (z. B. der „intelligible Charakter“) zukommt. Dieses bloße Denken kann in folgenden zwei distinkten Arten gedeutet werden: (1) Vorausgesetzt, dass Dinge an sich tatschlich kategoriale Bestimmungen haben, denkt man zudem, dass einige davon auch die Eigenschaft F besitzen (Denkbarkeit de re). (2) Man denkt, dass Dinge an sich kategoriale Bestimmungen haben und einige davon auch die Eigenschaft F besitzen (Denkbarkeit de dicto).513 Nur dann, wenn die Denkbarkeit der Dinge an sich in der ersteren Art gedeutet wird, setzt sie voraus, dass Dinge an sich tatschlich kategoriale Bestimmungen haben. Diese Deutungsart ist aber nicht die einzig mçgliche. In Anbetracht der Unerkennbarkeit der Dinge an sich muss man vielmehr sagen, dass es im Rahmen der kantischen Philosophie nicht beweisbar ist, dass Dingen an sich kategoriale Bestimmungen tatschlich zukommen. Es scheint nun, dass diese strkere Unanwendbarkeitsthesis fr die Argumentation T in 8.2.2 eine große Schwierigkeit darstellt. Denn sie hat scheinbar zur Folge, dass fr die Erkenntnis der Dinge an sich alle Kategorien, inklusive der der Existenz, unanwendbar sind. Dagegen zeige ich: Aus der Argumentation fr die strkere Unanwendbarkeitsthesis und der Besonderheit der modalen Kategorien geht hervor, dass die Kategorie der Existenz als eine Ausnahme der strkeren Unanwendbarkeitsthesis gelten muss. Betrachten wir zunchst die Argumentation dafr. Seltsamerweise wird sie nirgendwo explizit vorgebracht, weder innerhalb der Transzendentalen Deduktion (A) noch in den sonstigen Teilen. Jene strkere These wird in A128 f. ohne Begrndung nur einfach aufgestellt. Es findet sich jedoch in der Transzendentalen Deduktion (A) eine Textpassage, die zwar keine explizite Argumentation, aber zumindest einen Anhalt dafr bietet: „Was versteht man denn, wenn man von einem der Erkenntnis korrespondierenden, mithin auch davon unterschiedenen, Gegenstand redet? Es ist leicht einzusehen, daß dieser Gegenstand nur als etwas berhaupt = X msse 513 Howell 1979 und 1981 verwendet die Denkbarkeit de re/de dicto als Schlsselbegriff fr seine Interpretation vom „transzendentalen Gegenstand“; vgl. auch Aquila 1979, S. 303, Willaschek 2001, S. 228, Anm. 17 und Schulting 2010b, S. 160 – 2.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
gedacht werden, weil wir außer unserer Erkenntnis doch nichts haben, welches wir dieser Erkenntnis als korrespondierend gegenbersetzen kçnnten.“ (A104, kursiv von K.C.)
Was aufgrund dieser berlegung entwickelt wurde, war Argumentation L, die in 5.3.3 ausgearbeitet (und im letzten Unterabschnitt erwhnt) wurde. Anhand dieser lsst sich nun folgende Argumentation fr jene strkere Unanwendbarkeitsthesis konstruieren: Stufe 1: Die Kategorien sind Begriffe, die wir „aus uns selbst nehmen“. Stufe 2: Um nachzuweisen, dass die kategorialen Bestimmungen wirklich aufseiten des Erkenntnisunabhngigen (nmlich der Dinge an sich) obwalten, msste man die Kategorien mit dem Erkenntnisunabhngigen vergleichen kçnnen. Stufe 3: Aus der Argumentation L folgt aber, dass dergleichen unmçglich ist. Dies bedeutet aber geradezu, dass jener Nachweis unmçglich ist. Man kann also nicht mit epistemischer Begrndung behaupten, dass die kategorialen Bestimmungen wirklich aufseiten der Dinge an sich obwalten. Hierbei muss aber die Besonderheit der modalen Kategorien bercksichtigt werden. Sie besteht darin, dass die modalen Kategorien nichts ber die substantielle Beschaffenheit des Gegenstandes aussagen.514 Bei der Kategorie der Existenz ist also davon keine Rede, die damit gemeinte Beschaffenheit mit dem Gegenstand zu vergleichen (denn damit wird solch eine Beschaffenheit gar nicht gemeint). Die Kategorie der Existenz bildet also eine Ausnahme von der obigen Argumentation. So wird die Existenzbehauptung der Dinge an sich auch nicht durch jene strkere Unanwendbarkeitsthesis ungltig gemacht. Dadurch ist nachgewiesen worden, dass die in 8.2.2 dargestellte Theorie der transzendentalen Affektion weder der Unerkennbarkeits- noch der Unanwendbarkeitsthesis zuwiderluft.
514 „Sein ist offenbar kein reales Prdikat“ (A598/B626). „Die Kategorien der Modalitt haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prdikate beigefgt werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, [. . .]“ (A219/B266). Es ist zwar ein disputables Thema, wie die nachfolgende positive Charakteristik, dass die Modalkategorien „nur das Verhltnis zum Erkenntnisvermçgen ausdrcken“ (ibid.), verstanden werden soll, ich gehe aber darauf nicht ein. Relevant fr die hiesige Diskussion ist nur die negative Charakteristik, dass die Modalkategorien nichts darber aussagen, wie der Gegenstand beschaffen ist.
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus Im letzten Abschnitt wurde ein spezifisch kantisches Problem erçrtert. In diesem Abschnitt hingegen handelt es sich um die generellere Frage: Ist die transzendentale Affektion mit dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde vertrglich? Ich mçchte zuerst die Bemerkung aus 2.1 (C) wiederholen: Die Existenz der Dinge an sich zu billigen, ist fr den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde unproblematisch, sofern es gesichert ist, dass Dinge an sich nicht mit raumzeitlichen Gegenstnden identisch sind. Der Realismus/Anti-Realismus muss immer in Bezug auf eine bestimmte strittige Klasse verstanden werden. Es besteht also keine Inkonsistenz darin, dass ein Vertreter des Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde fr sonstige strittige Klassen den Realismus zugesteht. Das Problem entsteht erst dann, wenn der Anti-Realismus mit der Theorie der transzendentalen Affektion kombiniert wird. Denn dabei werden raumzeitliche Gegenstnde und Dinge an sich nicht in Isolation, sondern vielmehr in einer Einflussbeziehung betrachtet. In diesem Abschnitt erçrtere ich folgende zwei Thesen, die aus der Billigung der transzendentalen Affektion zu resultieren scheinen: Isomorphiethesis: Zwischen raumzeitlichen Gegenstnden (Erscheinungen) und Dingen an sich besteht eine strukturelle Entsprechung, nmlich eine Isomorphie. Determinationsthesis: Die konkrete Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde wird durch die Beschaffenheit der uns affizierenden Dinge an sich determiniert (whrend die formale, allgemeine Beschaffenheit durch die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis bestimmt wird). Die erste These ist strker als die zweite, denn die zweite behauptet nicht, dass raumzeitliche Gegenstnde und Dinge an sich eine gleichfçrmige Struktur teilen. (Die erste hingegen impliziert die zweite, weil sie besagt, dass die konkrete Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde der entsprechenden Struktur der Dinge an sich gemß determiniert ist.) In der nachfolgenden Untersuchung werde ich zeigen, dass die Isomorphiethesis in der Tat mit dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde kollidiert, sie jedoch, der Vermutung einiger Kant-Interpreten entgegen, keine zwingende Konsequenz aus der Billigung der transzendentalen Affektion ist (8.4.1). Mit der Determinationsthesis verhlt es sich
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anders. Sie ist zwar selbst im Rahmen des Anti-Realismus zwingend, kann aber mit dem Anti-Realismus vertrglich gemacht werden (8.4.2). 8.4.1 Isomorphie Es gibt einige Kant-Interpreten, die eine strukturelle Entsprechung zwischen der phnomenalen und der noumenalen Wirklichkeit als eine direkte Konsequenz der transzendentalen Affektion erachten. J. N. Findlay, z. B., ußert diese Ansicht mit unverwechselbarer Khnheit.515 „It is plain, however, that objects-in-themselves could only be said to ‘affect’ us in our sensations if we supposed that there was some correlation between the differences and relations in the former and those in the latter. It would at least be necessary to credit the transcendent sources of experiences with as many distinct and independent powers as there are distinctions within experience, and with degrees of difference and resemblance among such powers corresponding to the degrees of difference and resemblance found among phenomena, and with dependences and collocations corresponding to phenomenal dependences and collocations, and so on.“ (Ders. 1981, S. 13) „[. . .] Kant believed that there were relations among Things-in-themselves that corresponded one for one, and in their logical properties, to the spatiotemporal order of phenomena, and that the law of the mind, whereby it spatialized and temporalized its sensuous impacts, was in a sense a law of translation or transposition which enabled it to project the noumenal order on to the surface of appearance, [. . .].“ (Ibid., S. 93)
515 Van Cleve fhrt außerdem Paton (1936, Bd. 2, S. 417; vgl. aber unten, Anm. 520) und Broad (1978, S. 23 – 7) an. Ein anderes Beispiel, das ich gefunden habe, ist Walker 1985; vgl. Folgendes: „Our minds impose not only the forms of space and time but also the categories on the data they receive from outside. But they do not impose them arbitrarily: the way they are brought in must reflect an order of things that obtains quite independently of us, and must therefore be in some way conditioned by it“ (S. 16). „What happens in the world of appearances is dictated not only by ourselves alone but by the character of the an sich together with our principles of synthesis, which in effect translate from features of things in themselves into features of phenomena“ (S. 25, kursiv von K.C.). Diese zwei Zitate beziehen sich nach Walker jeweils auf Kants Position in der Transzendentalen Deduktion (A) und (B). Walker zufolge wird in der letzteren zwar der „topological isomorphism“ vermieden (ibid.), dies heißt aber nicht, dass die Isomorphie zwischen Erscheinungen und Dingen an sich gnzlich verneint wird; vgl. unten, Anm. 523. Erich Adickes bejaht ebenfalls die Isomorphiethesis, erachtet sie aber nicht als Konsequenz aus der Theorie der transzendentalen Affektion, sondern als eine unbewiesene Voraussetzung, die auf Kants „realistischem Erleben“ beruht (vgl. ders. 1924, ersten Abschnitt).
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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Fangen wir damit an, den Gehalt der gemeinten Isomorphie noch nher zu bestimmen. Van Cleve 1999 legt dafr eine erhellende berlegung vor. Er macht zunchst darauf aufmerksam, dass die Behauptung, irgendeine Isomorphie bestehe zwischen Erscheinungen und Dingen an sich, allzu leicht vertretbar, aber zugleich leer ist. Denn dergleichen kann man zwischen beliebigen zwei Mengen annehmen, nur wenn die beiden eine gleiche Kardinalitt haben (ibid., S. 157). Solch eine triviale Annahme ist aber natrlich nicht das, was man in der Kant-Literatur unter den Namen der „Isomorphie“ bespricht. Das Gemeinte ist vielmehr, was Van Cleve „explanatory isomorphism“ nennt. Dieser wird folgendermaßen charakterisiert: „[W]henever [phenomenal relation] R holds between [phenomenal objects] a and b, it does so because R* holds between the [noumenal] correlates of a and b. Not only must there be an isomorphism, but also things must be related in the phenomenal order as they are because things are related in the noumenal order as they are.“ (Ibid., S. 159)
Diese Isomorphie besagt nmlich, dass Relationen aufseiten der Dinge an sich fr diejenigen zwischen raumzeitlichen Gegenstnden konstitutiv sind; anders ausgedrckt, dass wahre raumzeitbezgliche Aussagen gerade deswegen wahr sind, weil diejenigen bestimmten erkenntnisunabhngigen Tatsachen bestehen, denen die ausgesagten phnomenalen Tatsachen zugrundeliegen. Diese Auffassung ist nichts Anderes als der Realismus raumzeitlicher Gegenstnde, somit definitiv unvertrglich mit dem AntiRealismus.516 Auch von diesem Diskussionspunkt bezglich des Realismus/AntiRealismus abgesehen, erachten viele Kant-Interpreten die Annahme einer solchen Isomorphie als problematisch im Rahmen der kantischen Philosophie.517 Ein naheliegender Einwand gegen diese Annahme ist, dass sie 516 Wie ebenfalls in 1.2 gezeigt wurde, muss der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde nicht bestreiten, dass zwischen raumzeitlichen Gegenstnden und erkenntnisunabhngigen Entitten zuflligerweise eine strukturelle Entsprechung bestehen mag. Inakzeptabel ist fr ihn nur die Annahme, dass eine derartige Isomorphie ein konstitutives (also normatives) Moment fr die Wahrheit der raumzeitbezglichen Aussagen ist. 517 Vgl. die Kontroverse zwischen Robinson 1994 und Allison 1996 (erçrtert oben, 3.3, Anm. 131). Die beiden gehen davon aus, dass die Annahme der Isomorphie inakzeptabel fr die kantische Philosophie ist. (Robinson kritisiert Allisons Interpretation deswegen, weil sie dieser Annahme verfllt, whrend Allison darauf erwidert, dass dies nicht der Fall ist.)
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mit der in 8.3.1 erçrterten Unerkennbarkeitsthesis kollidiere. Man kçnnte diesem Einwand irgendwie begegnet werden. Wer aber jene Isomorphie verteidigt, muss in jedem Fall den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde verneinen; dies bedeutet aber so gut wie Kants TrI selbst aufzugeben, wenn meine Diskussionen in Teil II richtig sind. Dergleichen ist aber nicht nçtig, weil die Schlussfolgerung von der transzendentalen Affektion zur Isomorphiethesis gar nicht zwingend ist. Es ist ein interessantes Phnomen, dass die Kant-Interpreten, die diese Schlussfolgerung befrworten, blicherweise keine weitere Begrndung dafr vorbringen. (Ich kenne keinen, der dergleichen berhaupt versucht.) Das obige erste Zitat aus Findlay 1981 reprsentiert eine typische Manier von solchen Interpreten; sie stellen ihre These einfach auf, als ob diese sachlich so selbstverstndlich wre, dass sie keiner weiteren Begrndung bedrfte. Zu beachten ist aber, dass diese Schlussfolgerung per se gar nicht selbstverstndlich ist. Dies wird ersichtlich, wenn man ber Folgendes nachdenkt: Um diese Schlussfolgerung zu rechtfertigen, muss man zumindest beweisen, dass Dinge an sich (bzw. die noumenale Welt), die die sinnliche Materie hervorbringen, ihrerseits zumindest so mannigfaltig sein mssen wie diese (und die darauf basierende raumzeitliche Wirklichkeit). Wie ist aber dieser Beweis mçglich? Warum muss die abnorme Mçglichkeit von vornherein ausgeschlossen werden, dass das Ding an sich, das die mannigfaltige sinnliche Materie hervorbringt, seinerseits die einzige und absolut einfache noumenale Substanz ist, die nur eine einzige Eigenschaft hat (oder zumindest nicht diejenigen mannigfaltigen Eigenschaften hat, die der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Materie entsprechen)? Es ist zwar eine „natrliche“ Annahme, dass dasjenige, was der Grund fr etwas Mannigfaltiges sein soll, zumindest gleich mannigfaltig wie das letztere sein muss (und zwar derart, dass seiner Mannigfaltigkeit diejenige des Begrndeten strukturell entspricht). Man muss aber hier vorsichtig sein, unsere „natrliche“ Annahme fr universalgltig zu halten, weil hier gerade von Dingen an sich die Rede ist. Es besteht keine Garantie, dass sie auch fr diesen Bereich gilt. Und wenn man Kants Unerkennbarkeitsthesis ernst nimmt, muss man vielmehr sagen, dass diese „natrliche“ Annahme fr Dinge an sich gar nicht gerechtfertigt werden kann (auch wenn sie zuflligerweise wahr sein sollte). Man mag jedoch noch Folgendes einwenden: Selbst jene abnorme Mçglichkeit zugestanden, muss zumindest eine solche Entsprechung angenommen werden, dass das Ding an sich mannigfaltige Krfte hat, denen
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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die Mannigfaltigkeit der Erscheinung entspricht.518 Darauf entgegne ich: Eine derartige Entsprechung anzunehmen, ist zwar harmlos, allerdings nur deswegen, weil dadurch die Idee der „Isomorphie“ trivialisiert wird. Nehmen wir an, dass einem Erkenntnissubjekt drei distinkte sinnliche Materien s, t und u gegeben werden. Daraus folgt, der Theorie der transzendentalen Affektion zufolge, dass es Dinge an sich gibt, die diese hervorbringen. Damit kann man ohne weiteres hinzufgend sagen, dass diese Dinge an sich irgendwelche Krfte haben, die diese hervorbringen. (Mann kann sogar selbst von „drei distinkten Krften S, Tund U“ sprechen.) Diese Hinzufgung hat jedoch keinen informativen Nutzen, es sei denn, dass diese Krfte auch unabhngig davon identifizierbar sind, dass sie s, t und u hervorbringen.519 Aber gerade diese Bedingung wird fr Dinge an sich nicht erfllt, weil die konkrete Beschaffenheit derselben unerkennbar ist. Das heißt: Die Rede von den Krften, die die distinkten sinnlichen Materien hervorbringen, ist nur insofern zulssig, als sie keinen informativen Nutzen hat, d. h. als sie ber die konkrete Beschaffenheit der Dinge an sich nicht mehr sagt als das, was die Theorie der transzendentalen Affektion bereits aussagt, dass nmlich irgendwelche Dinge an sich die sinnlichen Materien hervorbringen. Aus der bisherigen Diskussion wird Folgendes ersichtlich: Wenn die Isomorphie zwischen Erscheinungen und Dingen an sich in der obigen, trivialen Weise verstanden wird, ist sie fr den Anti-Realismus raumzeit518 Einige Aussagen Findlays suggerieren, dass es nur die Isomorphie in diesem schwachen Sinne ist, die er tatschlich meint; vgl. z. B. Folgendes: „To speak of anything as affecting anything in manners ABCDE must be at least to credit it with as many distinct ‘moving forces’, to use Kant’s Term, as there are distinctions met with in phenomena“ (ders. 1981, S. 13 f.). 519 Die zustzliche Rede von der hervorbringenden Kraft kçnnte informativ sein, wenn dabei z. B. eine der folgenden Bedingungen erfllt wrde: (1) Die Krfte S, T, U, die die sinnlichen Materien s, t, u hervorbringen, kçnnen als solche, unabhngig von der Referenz auf ihre Ergebnisse (nmlich s, t, u), identifiziert werden (entgegen Kants berzeugung seit Gedanken von der wahren Schtzung der lebendigen Krfte; vgl. Watkins 2005, S. 271, Anm. 46). (2) Auch wenn diese Krfte nicht direkt identifizierbar sind, kann man die distinkten Dinge an sich identifizieren, denen sie jeweils zukommen. – In diesem Fall ließen sich die Krfte S, T, U nicht nur ihren Ergebnissen, sondern auch ihren Ursprngen nach identifizieren. (3) Es wird entdeckt, dass die distinkten sinnlichen Materien s, t, u mit den anderen p, q, r derart zusammenhngen, dass s und p durch ein und dieselbe Kraft hervorgebracht werden und das Gleiche auch fr die Paare t und q/ u und r gilt. – In diesem Fall ließen sich die Krfte S, T, U auch ihren Nebenwirkungen nach identifizieren.
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licher Gegenstnde vçllig harmlos. Wenn damit noch mehr gemeint ist, kann die Isomorphie nicht als Konsequenz aus der transzendentalen Affektion erachtet werden. Der Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde wird also von diesem Diskussionspunkt nicht berhrt. 8.4.2 Determination Ich gehe aus von der Diskussion ber die Rezeptivitt in 8.2.2. Der Grund dafr, dass die Rezeptivitt (besonders deren Implikation (I)) fr die empirische Erkenntnis unentbehrlich ist, war folgender: Durch die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis allein wird nur die formale, allgemeine Beschaffenheit der raumzeitlichen Wirklichkeit bestimmt, und nicht die konkrete Beschaffenheit derselben, wie z. B. dass das jetzt vor mir Seiende nicht ein Apfel, sondern eine Tomate ist. Fr die Erkenntnis der letzteren Beschaffenheit muss uns die sinnliche Materie gegeben werden. Die Theorie der transzendentalen Affektion behauptet nun, dass es Dinge an sich sind, die diese sinnliche Materie hervorbringen. Daraus folgt anscheinend, dass die Billigung der transzendentalen Affektion, wenn auch nicht auf die Isomorphiethesis, zumindest auf folgende schwchere These festgelegt wird: Determinationsthesis: Die konkrete Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde wird durch diejenige der uns affizierenden Dinge an sich determiniert.520 Diese These scheint aber inakzeptabel fr den Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde zu sein, denn sie scheint zu implizieren, dass der Wahrheitswert raumzeitbezglicher Aussagen unabhngig von unserer Erkenntnis determiniert ist. Ist diese Auffassung nicht der Realismus schlechthin? Diese Argumentation ist noch unreif und bedarf einer weiteren Ausarbeitung. Dieser Unterabschnitt ist strukturiert wie folgt: Ich versuche 520 Vgl. z. B. folgende Aussage Patons: „Because of the nature of our mind things must appear to us as spatial and temporal; but it is because of the character of the thingin-itself that we see one object as round and another as square“ (ders. 1936, Bd. 2, S. 417). Entgegen Van Cleve (1999, S. 156) erachte ich diese Aussage nicht als Beleg fr Patons Akzeptanz der Isomorphiethesis, denn sie kann auch derart verstanden werden, dass er damit nicht diese, sondern nur die Determinationsthesis affirmiert. – Allerdings stimmt Paton der Isomorphiethesis wohl zu, dies ist aber nicht die Konsequenz aus seiner Billigung der transzendentalen Affektion, sondern vielmehr die aus seiner metaphysischen Zwei-Aspekte-Interpretation.
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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zuerst, durch die Ausarbeitung der obigen Argumentation den Behauptungsgehalt der daraus resultierenden Determinationsthesis zu przisieren und dadurch zu zeigen, dass diese in der Tat zwingend ist, selbst im Rahmen des Anti-Realismus. Anschließend klre ich, in welcher Hinsicht genau die so przisierte Determinationsthesis fr den Anti-Realismus berhaupt und auch spezifisch fr den kantischen Anti-Realismus problematisch erscheint. Dadurch erweist sich, dass dieses Problem, anders als das vorige, fr den Anti-Realismus eine echte Schwierigkeit bedeutet. Im letzten Teil versuche ich, dieses Problem zugunsten des Anti-Realismus zu lçsen. Ich werde zeigen, dass die Determinationsthesis zwar dem AntiRealismus eine bestimmte Restriktion auferlegt, aber mit ihm schließlich vereinbar ist. Przisierung der Determinationsthesis Ich fange damit an, folgenden Verdacht gegen die Determinationsthesis auszurumen: Fhrt sie nicht dazu, die Rolle der Spontaneitt in der empirischen Erkenntnis zu bestreiten? Hierbei muss kurz betrachtet werden, was unter der Rolle der Spontaneitt zu verstehen ist. Laut Kant entspringt die empirische Erkenntnis aus der Zusammenwirkung von Rezeptivitt und Spontaneitt, d. h. daraus, dass wir die gegebene sinnliche Materie spontan synthetisieren. Die sinnliche Materie zu synthetisieren, heißt, aufgrund ihrer ein Urteil zu fllen. Das Moment der Spontaneitt in der Erkenntnis ist also im Endeffekt der Akt des Urteilens. Die sinnliche Materie per se determiniert nicht, welches Urteil tatschlich gefllt wird. Das Urteilen ist unser spontaner Akt, daher kçnnen wir aufgrund der gegebenen sinnlichen Materie, in einem Sinn, ganz frei (selbst willkrlich) urteilen.521 – Wie Gerold Prauss betont,522 sind wir gerade wegen dieser Spontaneitt dazu fhig, nicht nur wahre, sondern auch falsche Urteile zu fllen. Die Determinationsthesis verneint nicht die Rolle der Spontaneitt in diesem Sinn. Sie bezieht sich vielmehr auf folgenden Punkt: Wir sind zwar 521 Ich fge zwei Bemerkungen hinzu: (1) Das Urteilen selbst ist gewissermaßen auch von formal-logischen Bedingungen frei. Wir „kçnnen“ auch einander widersprechende Urteile fllen. (2) Es kann sein, dass unser Urteilsakt durch sonstige reale Faktoren (z. B. unsere unkontrollierbare Neigung oder eine deterministische Weltordnung) reguliert ist. Diese Mçglichkeit ist aber hier irrelevant. Es kommt nur darauf an, dass unser Urteilsakt als solcher zumindest nicht durch die sinnliche Materie determiniert ist. 522 Vgl. ders. 1971, §§4 – 6, 1974, §7 und 1980 im Ganzen.
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vçllig frei, aufgrund der sinnlichen Materie Urteile zu fllen, dies bedeutet aber nicht, dass von uns gefllte Urteile immer auch wahr sind, egal wie wir urteilen. Welche Urteile wahr bzw. falsch sind, hngt nicht von unserer spontanen Entscheidung ab, sondern vielmehr von denjenigen Faktoren, die außer der Kraft unserer Spontaneitt liegen. – Die Wahr-/Falschheit wird dem Realismus zufolge dadurch bestimmt, ob ein Urteil seinen Gegenstand, der vçllig unabhngig von unserer Erkenntnis existiert, richtig reprsentiert oder nicht. Anti-Realisten hingegen mssen eine andere Explikation dieser nicht-spontanen Faktoren vorbringen. Es bedarf hier eines Vorbehalts. Ein Fall muss zugestanden werden, in dem unsere spontane Entscheidung die Wahrheit der Aussagen beeinflusst. Es handelt sich um unsere spontane Auswahl des Begriffsschemas. Ich erklre dies mit einem einfachen Beispiel: Man denke an unser bliches Begriffsschema der Farben und das Begriffsschema „grue/bleen“ la Nelson Goodman 1955. (Das Adjektiv „grue“ wird auf einen Gegenstand angewandt, wenn er vor dem Zeitpunkt t beobachtet wird und dann grn ist oder er in der sonstigen Zeit beobachtet wird und dann blau ist; mit „bleen“ verhlt es sich umgekehrt.) Es ist nun klar, dass einige Aussagen, die im ersteren Begriffsschema wahr sind, im letzteren falsch werden (z. B. die Aussage „Der Smaragd hat zum Zeitpunkt t seine Farbe gendert“). Die Wahr-/Falschheit ist in diesem Sinn relativ bezglich der Begriffsschemata. Und bei der Auswahl derselben besteht ein gewisser Spielraum der spontanen Entscheidung auf unserer Seite.523 Indessen kann ein derartiger Einfluss des Begriffsschemas auf die Wahrheit nicht berschtzt werden. Ein Begriffsschema schreibt, genauso wie die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis, nur einen formalen, allgemeinen Rahmen vor, in dem die Aussagen beurteilt werden, und nicht die konkrete Beschaffenheit der zu erkennenden Gegenstnde selbst. Wenn einmal ein bestimmtes Begriffsschema ausgewhlt wird, kann danach unserer spontanen Entscheidung kein Spielraum mehr zuerkannt 523 In der Kant-Literatur wurde dieser Punkt besonders von Walker 1985 herausgestellt. Er behauptet, dass es gerade ein derartiger Raum fr die Spontaneitt ist, die durch die Transzendentale Deduktion (B) eingefhrt wird. Ihm zufolge wird dadurch die Idee, dass die Erscheinungen und Dinge an sich „topological isomorphic“ seien, vermieden (ibid., S. 25). Er verneint aber nicht, dass die sinnliche Materie die Struktur aufseiten der Dinge an sich irgendwie wiedergibt, was zur Isomorphiethesis fhrt. Walker hlt dies fr notwendig, um der sinnlichen Materie berhaupt einen Beitrag zur empirischen Erkenntnis zuzuerkennen. (Dagegen zeigte ich aber im letzten Unterabschnitt, dass dies nicht der Fall ist.)
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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werden, sofern es darum geht, welche Aussagen diesem Begriffsschema gemß wahr sind. Dies weist zugleich darauf hin, dass man das Moment der Relativitt der Wahrheit zu Begriffsschemata folgendermaßen ausklammern kann: Anstatt die Aussagen als etwas Begriffsschema-Neutrales zu erachten, d. h. sie so zu verstehen, dass die Aussagen in verschiedenen Begriffsschemata in entsprechend verschiedenen Weisen gedeutet werden, sollte man die Aussagen vielmehr immer in Verbindung mit einem bestimmten Begriffsschema identifizieren. Demzufolge stellt der Satz „Der Smaragd hat zum Zeitpunkt t seine Farbe gendert“ unterschiedliche Aussagen dar, je nachdem, ob er in unserem blichen oder im goodmanschen Begriffsschema verstanden wird. – Ich gebe zu, dass das Verhltnis zwischen Wahrheit und Begriffsschema ein interessantes Thema sein kann (vor allem fr den Irrealismus aufgrund des Begriffspluralismus). Indessen ist dieses Moment fr die in dummettscher Weise formulierte Realismusdebatte nicht relevant, weswegen ich es fortan mit Hinweis auf die oben gezeigte Maßnahme außer Acht lasse.524 Wenn man nun annimmt, dass in Bezug auf die Wahrheit ber den konkreten Urteilsgehalt noch ein weiterer Spielraum unserer spontanen Entscheidung besteht, kann man nicht umhin, die Wahrheit zu etwas Willkrlichem zu machen. In diesem Fall wrde die Erkenntnis in der Analogie zur freien Konstruktion mit gewissen Bedingungen wie folgender verstanden: Aus gegebenem Ton knetet ein Kind etwas, was es mçchte. Diese „Konstruktion“ ist zwar nicht vollstndig frei; sie ist z. B. durch die Menge des gegebenen Tons und auch durch die physikalische Eigenschaft desselben bedingt. Zu beachten ist aber, dass das Kind dabei doch einen Spielraum fr seine willkrliche Entscheidung hat; es gibt hier kein Kriterium dafr, was das Kind konstruieren soll, um es „richtig“ oder „wahr“ zu machen. Eine derartige Analogie ist aber eben fr die Erkenntnis inadquat. Fr die Erkenntnis nmlich, sofern sie die Wahrheit intendiert, kann kein solcher Spielraum der willkrlichen Entscheidung zugestanden werden, wie auch Kant in folgender Textpassage anerkennt:
524 Diese Maßnahme verhlt sich neutral zur Problematik des sogenannten „nonconceptual content“, denn sie impliziert nicht, dass der Beitrag der sinnlichen Materie zur empirischen Erkenntnis, der durch die Strukturanalyse der empirischen Erkenntnis vom Beitrag der Begriffe differenziert wird, auch fr sich allein erkannt werden kann.
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„Wir finden aber, daß unser Gedanke von der Beziehung aller Erkenntnis auf ihren Gegenstand etwas von Notwendigkeit bei sich fhre, da nmlich dieser als dasjenige angesehen wird, was dawider ist, daß unsere Erkenntnisse nicht aufs Geratewohl, oder beliebig, sondern a priori auf gewisse Weise bestimmt seien, [. . .].“ (A104, kursiv von K.C.)
Fr die Unwillkrlichkeit der Erkenntnis, oder besser: Unwillkrlichkeit der Wahrheit, kenne ich keine weitere Begrndung. Dergleichen ist aber meines Erachtens auch nicht nçtig. Ich mçchte nur auf folgenden Punkt hinweisen: Die Unwillkrlichkeit der Wahrheit wurzelt in unserer Konzeption der Erkenntnis/Wahrheit so tief, dass ihre Verneinung die sich daraus ergebende Position hoffnungslos unplausibel machen wrde (obschon vielleicht nicht schlechterdings inkonsistent). Sie muss also selbst von Anti-Realisten, die schon einige Elemente unserer blichen Wahrheitskonzeption negiert haben, respektiert werden, es sei denn, dass sie die Plausibilitt ihrer Position aufzuopfern wagen. Es sind nun die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis und die uns a posteriori gegebene sinnliche Materie, die die empirische Wahrheit unwillkrlich machen. Wie gesagt, beziehen sich die ersteren auf die formale, allgemeine Beschaffenheit der raumzeitlichen Wirklichkeit, die letztere hingegen auf die konkrete Beschaffenheit derselben. Sie sind gleichermaßen unabhngig von unserer Spontaneitt, in dem Sinne, dass sie sich nicht unserer spontanen Entscheidung verdanken. Was die sinnliche Materie anbelangt, so wurde gerade aus diesem Grund die transzendentale Affektion gefordert (vgl. oben, 8.2.2).525 Fr die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis gilt das Gleiche: Obwohl sie laut Kant a priori zu uns gehçren, sind sie doch nicht etwas, was wir spontan ausgewhlt haben. Dass fr die Wahrheit kein Spielraum fr unsere spontane Entscheidung (außer der Auswahl der Begriffsschemata) anzuerkennen ist, bedeutet im Endeffekt, dass die Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde (mit anderen Worten, die Antwort auf die Frage, welche raumzeitbezglichen Aussagen wahr sind und welche falsch) ausschließlich durch die Faktoren, die sich nicht unserer Spontaneitt verdanken, determiniert wird. Dies bedeutet zugleich, dass die Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde bereits vor der Ausbung unserer Spontaneitt determiniert ist. Denn, wie oben gezeigt wurde, ist die Ausbung der Spontaneitt nichts Anderes als 525 Daraus wird ersichtlich, dass die Unwillkrlichkeit der Wahrheit kein distinktes Moment neben der transzendentalen Affektion, sondern vielmehr das Kernmoment derselben ist.
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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ein Urteil zu fllen, d. h. eine Erkenntnis wirklich auszufhren. Daraus geht hervor, dass selbst Anti-Realisten folgender These zustimmen mssen: Wie raumzeitliche Gegenstnde beschaffen sind (mit anderen Worten: welche raumzeitbezglichen Aussagen wahr sind und welche falsch), ist bereits vor allem tatschlichen Zustandekommen der Erkenntnisse determiniert, und zwar durch von diesem Zustandekommen unabhngige Faktoren. Damit ist der Gehalt der eingangs erwhnten Determinationsthesis przisiert worden. Die bisherige Diskussion zeigte zugleich, dass soviel in jedem Fall anerkannt werden muss, es sei denn, dass man die Unwillkrlichkeit der Wahrheit bestreitet.526 Anscheinende Unvertrglichkeit Indessen ist es auch nicht zu leugnen, dass diese Konsequenz fr den antirealistisch interpretierten TrI sehr problematisch erscheint. Ich weise hier auf folgende zwei Punkte hin: (a) Die oben przisierte Determinationsthesis scheint dem Grundprinzip des Anti-Realismus zuwiderzulaufen. Bedeutet der Sachverhalt, dass der Wahrheitswert raumzeitbezglicher Aussagen bereits vor dem tatschlichen Zustandekommen der Erkenntnis determiniert ist, gerade nicht, dass die Wahrheit vçllig unabhngig von unserer Erkenntnis ist? (b) Auch von diesem Punkt abgesehen, sieht die Determinationsthesis immer noch problematisch aus, speziell fr den kantischen Anti-Realismus, oder besser, fr den intuitionistischen Anti-Realismus, der die aktuale Unendlichkeit a priori verneint. Denn die Determinationsthesis impliziert, dass jede wahre raumzeitbezgliche Aussage bereits vor aller tatschlichen Verifikationsleistung als wahr determiniert ist. Dies berechtigt uns anscheinend zur Setzung einer absoluten Totalitt von „allen wahren raumzeitbezglichen Aussagen“, somit auch derjenigen von „allen wirklichen raumzeitlichen Gegenstnden“. Wenn dies der Fall wre, msste die Determinationsthesis mit Kants Auflçsung der Antinomien unvereinbar sein, 526 Die bisherige Diskussion liefert zugleich ein Argument dafr, dass selbst AntiRealisten eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption bençtigen. Ich stimme Dag Prawitz zu, wenn er behauptet, dass dies eben fr den mathematischen Intuitionismus gilt, es sei denn, dass man die „Objektivitt“ der Mathematik (in meiner hiesigen Terminologie: Unwillkrlichkeit der mathematischen Wahrheit) preisgibt (vgl. oben, 7.1.1).
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denn diese besteht gerade darin, die Setzung einer derartigen absoluten Totalitt berhaupt als illegitim abzulehnen (vgl. 7.3.2). Hierin sehen sich Anti-Realisten mit einem Dilemma konfrontiert: Es scheint nmlich, dass sie zwischen den Alternativen whlen mssten, entweder zugunsten des Anti-Realismus die Determinationsthesis, somit auch die Unwillkrlichkeit der Wahrheit, zu verneinen (was aber diese Position vçllig unplausibel machen wrde), oder den Anti-Realismus selbst aufzugeben. Gibt es irgendeinen Ausweg aus diesem Dilemma? Dafr msste man eine von folgenden zwei Maßnahmen whlen: Entweder die oben dargestellte Argumentation fr die Determinationsthesis zu kritisieren und zu zeigen, dass deren Verneinung nicht unbedingt zur Preisgabe der Unwillkrlichkeit der Wahrheit fhrt, oder stattdessen dahingehend zu argumentieren, dass die Determinationsthesis mit dem Anti-Realismus raumzeitlicher Gegenstnde vertrglich ist. – Ich whle die letztere Maßnahme. Sie ist das Thema der nachfolgenden Diskussion. Lçsung des Problems zugunsten des Anti-Realismus Die Determinationsthesis vertrgt sich nicht mit jeder Version des AntiRealismus. Ein Beispiel ist ZR (vgl. oben, 7.2). Dieses besagte: Eine Aussage ist zum Zeitpunkt t wahr gdw. sie bis t tatschlich verifiziert (oder als effektiv verifizierbar festgestellt) worden ist. Hierbei ist davon keine Rede, dass der Wahrheitswert einer Aussage bereits vor unserer tatschlichen Erkenntnis determiniert ist. Demgemß lsst sich zudem unserer spontanen Entscheidung ein großer Spielraum zuerkennen; man kann sich z. B. spontan enthalten, ein Urteil jetzt wahr zu machen, indem man dieses Urteil absichtlich nicht jetzt fllt. Es ist aber nicht so offensichtlich wie es anfangs erscheint, dass dasselbe auch fr moderatere Versionen des Anti-Realismus gilt. Ich werde zeigen, dass die Determinationsthesis mit den Versionen des Anti-Realismus, die die Wahrheit durch die Verifizierbarkeit fundieren, vertrglich gemacht werden kann. Im Nachfolgenden exemplifiziere ich dies zunchst fr ZN, das in 7.3 als eine mçgliche Option fr den kantischen Anti-Realismus herausgearbeitet wurde. Wenn dies gelingt, zeigt es zugleich, dass das zweite Problem spezifisch mit dem intuitionistischen Anti-Realismus gleichermaßen gelçst wird. Ich fange damit an, zwei relevante Eigenschaften von ZN kurz zu wiederholen:
8.4 Transzendentale Affektion und Anti-Realismus
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(a) ZN ist eine anti-realistische Wahrheitskonzeption, die die Wahrheit durch die zeit-neutral verstandene Verifizierbarkeit fundiert. Diese Wahrheitskonzeption lautet: Eine Aussage (von der strittigen Klasse) ist wahr gdw. sie verifizierbar ist, d. h., sie an irgendeiner Station (der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten) verifiziert wird. Demgemß wird die Bejahung des Bivalenzprinzips abgelehnt, denn dieses ist in ZN gleichbedeutend damit, dass jede Aussage entweder an irgendeiner Station verifiziert oder an irgendeiner Station falsifiziert wird, wofr wir aber keinen Beweis kennen. Es wird daher in ZN als ein mçglicher Sachverhalt zugestanden, dass eine Aussage vielleicht auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben wird.527 Dieser Sachverhalt entspricht jedoch nicht dem Fall, dass dieser Aussage der Wahrheitswert „Weder-wahr-noch-falsch“ beigelegt wird, sondern vielmehr dem Fall, dass ihr Wahrheitswert unaufhçrlich unentschieden bleiben wird. (b) ZN lehnt den zeit-transzendenten Standpunkt ab, von dem aus alle Erkenntnisakte, ob in der Vergangenheit oder Zukunft, in gleicher Weise betrachtet werden. Damit verneint ZN, die aktual-unendliche Totalitt berhaupt als mçglichen Gegenstand zu setzen. Dadurch ermçglicht es die kantische Auflçsung der Antinomien. Die erste Eigenschaft weist nun darauf hin, dass sich die Determinationsthesis im Rahmen von ZN noch folgendermaßen przisieren lsst: Fr jede Aussage ist es bereits vor unserer tatschlichen Untersuchung determiniert, und zwar durch davon unabhngige Faktoren, ob sie verifizierbar, oder falsifizierbar, oder weder verifizierbar noch falsifizierbar ist.528 Dies kann in folgende drei Sinnkomponenten zerlegt werden: (1) Trichotomie: Rein formal gesehen hat jede Aussage folgende drei mçgliche Alternativen: Entweder (a) dass sie an irgendeiner Station verifiziert wird, oder (b) dass sie an irgendeiner Station falsifiziert wird, oder (c) dass sie an keiner Station verifiziert sowie an keiner Station falsifiziert wird. – Im ersten Fall (und nur dann) ist 527 Dies anzunehmen, ist zwar im Rahmen von ZN nicht ganz unproblematisch, ich zeige aber im Appendix, dass diese Annahme verteidigt werden kann. 528 Soviel sollte selbst von ZR anerkannt werden. Nur dass ZR zufolge „verifizierbar sein“ in diesem Sinn noch nicht „wahr sein“ bedeutet; dafr bençtigt ZR berdies, dass die Aussage bis jetzt tatschlich verifiziert worden ist.
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die Aussage wahr, im zweiten (und nur dann) falsch. Im dritten Fall wird ihr Wahrheitswert ewig unentschieden bleiben. (2) Determination vor aller Erkenntnis: Fr jede Aussage ist es bereits vor allem tatschlichen Zustandekommen unserer Erkenntnis determiniert, welche Alternative fr sie wirklich gilt.529 (3) Determination durch erkenntnisunabhngige Faktoren: Diese sind erkenntnisunabhngig in dem Sinne, dass sie sich nicht der Ausbung unserer Spontaneitt, also nicht unserer konkreten Erkenntnisleistung, verdanken. – Einige von ihnen werden von uns erkannt, wie die apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis. Dergleichen reicht aber nicht aus, um die konkrete Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde zu bestimmen. Dafr bedarf es der sinnlichen Materie, die von uns unerkennbaren Dingen an sich hervorgebracht wird. Diese Przisierung der Determinationsthesis macht es deutlich, dass diese mit dem Anti-Realismus von ZN nicht kollidiert. Das definitorische Moment des Anti-Realismus, dass nmlich die Verifizierbarkeit fr die Wahrheit konstitutiv sei, wird auch in der oben przisierten Determinationsthesis beibehalten. Nur dass diese hinzufgt, diese Verifizierbarkeit sei ihrerseits bereits vor dem tatschlichen Zustandekommen unserer Erkenntnis durch davon unabhngig bestehende Faktoren bestimmt. In diesem theoretischen Rahmen ist sogar auch das konstruktivistische Vokabular (wie die Metapher der „Kreation“) gestattet, ohne dabei den wesentlichen Unterschied zwischen Erkenntnis und Handlung (der auch von Kant gebilligt wird; vgl. 2.3 (F)) einzuebnen. Das konstruktivistische Vokabular ist zwar deswegen irrefhrend, weil es nahelegt, dass (1) man in gewissen Maßen spontan entscheiden kçnne, was zu konstruieren sei, und dass (2) der Gegenstand erst dann zur Existenz gebracht werde, wenn er von uns tatschlich konstruiert werde; dies sind klassischerweise Merkmale von Handlungen, nicht von Erkenntnissen. Das konstruktivistische Vokabular ist aber insofern legitim, als man damit nur Folgendes behauptet: Raumzeitliche Gegenstnde seien nur dann wirklich, wenn sie fr uns konstruierbar seien; die raumzeitliche Wirklichkeit sei also nicht dasjenige, 529 Sie entspricht dem, was Crispin Wright „investigation-independence“ nennt; vgl. ders. 1980a, Kap. XI. Dort (und auch in ders. 1982, S. 136 – 47) argumentiert er gegen Dummett, dass diese selbst vom Intuitionismus zumindest fr entscheidbare Aussagen zugestanden werden muss (whrend Dummett diesen Punkt vielmehr offen lsst; vgl. z. B. ders. 1973, S. 243 – 5 und 2000, S. 266 – 9). Prawitz erweitert diese Idee auf mathematische Aussagen berhaupt.
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was ohne Bezug auf unsere Konstruktion schon „an sich selbst“ bestehe, wie sie tatschlich sei. Die „Konstruktion“ der Wirklichkeit im Sinne von ZN lsst sich daher von derjenigen durch Handlungen im blichen Sinn erfolgreich differenzieren. Worin berhaupt liegt aber dann der Unterschied zwischen ZN und einem Realismus? Folgender Verdacht liegt nahe: ZN fundiert zwar die Wahrheit durch Verifizierbarkeit, gesteht aber zugleich mit ihrer Determinationsthesis zu, dass diese Verifizierbarkeit durch erkenntnisunabhngige Faktoren determiniert ist. Daraus folgt aber sofort, dass die Wahrheit im Endeffekt durch die erkenntnisunabhngige Realitt determiniert ist. Ist dies nicht eine realistische Position? Gegen diesen Verdacht muss die Wichtigkeit des Punktes, dass ZN die Verifizierbarkeit fr die Wahrheit konstitutiv macht, betont werden. Dies ist keine Kleinigkeit, die sich durch die Determinationsthesis trivialisieren ließe. ZN erlegt gerade damit dem Umfang der Wahrheit eine bedeutende Restriktion auf, die nmlich, dass wahre Aussagen berhaupt fr uns verifizierbar sein mssen. Diese Restriktion ist im Rahmen des Realismus kaum vertretbar,530 denn demzufolge sollen epistemische Faktoren wie die Verifizierbarkeit fr die Wahrheit/Existenz vçllig irrelevant sein. ZN liefert hingegen ein anthropozentrisches Weltbild, ohne dadurch die Unwillkrlichkeit der Wahrheit zunichte zu machen. Gehen wir zu der zweiten Eigenschaft von ZN ber. Zuvor wurde der Verdacht erhoben, dass die Determinationsthesis dem intuitionistischen Anti-Realismus zuwiderluft. Die Argumentation dafr stelle ich diesmal stufenweise noch ausfhrlicher dar: Stufe 1: Die Determinationsthesis impliziert, dass jede wahre raumzeitbezgliche Aussage bereits als wahr determiniert ist (anstatt zu einem bestimmten Zeitpunkt durch unsere tatschliche Verifikationsleistung wahr „gemacht“ zu werden). Stufe 2: Dies scheint aber nichts Anderes zu bedeuten als, dass alle wahren raumzeitbezglichen Aussagen bereits als wahr determiniert sind. Stufe 3: Wenn aber soviel zugestanden wird, gibt es kein Hindernis mehr, eine absolute Totalitt von allen wahren raumzeitbezglichen Aussagen, somit auch eine absolute Totalitt von allen 530 Vgl. die Diskussion in 4.3.2 gegen die Maßnahme von Lucy Allais, im Rahmen des Realismus die „experience-transcendence“ raumzeitlicher Gegenstnde abzulehnen.
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wirklichen raumzeitlichen Gegenstnden zu setzen, auch wenn diese Totalitt unendlich ist.531 Stufe 4: Dies aber widerspricht der kantischen Auflçsung der Antinomien (und im Allgemeinen auch der intuitionistischen Ablehnung der aktualen Unendlichkeit), denn sie besteht gerade darin, die Setzung der aktual-unendlichen Totalitt berhaupt, und zwar a priori, als illegitim abzulehnen. Der Defekt dieser Argumentation liegt auf der Stufe 2. Die Stufe 1 wird zwar auch von ZN bejaht, weil sie nicht mehr als eine Implikation der Determinationsthesis ist. Zu beachten ist aber, dass sie im Rahmen von ZN nicht dazu berechtigt, von „allen wahren Aussagen“ zu sprechen (geschweige denn eine Menge derselben zu setzen), weil dergleichen an keiner einzelnen Station vollstndig gegeben werden kann.532 Wenn dergleichen berhaupt zur Sprache kommen sollte, wre es nur dadurch mçglich, dass man den zeit-transzendenten Standpunkt annhme und von diesem aus den ganzen Baum der Verifikationsrouten berblickte; ZN gestattet dies aber gerade nicht. Somit wird in ZN auch die Setzung der absoluten Totalitt von „allen wahren Aussagen“ bzw. „allen wirklichen Gegenstnden“ vermieden. Man kann die gleiche berlegung auch auf andere Kandidaten fr den kantischen Anti-Realismus anwenden. Ich erçrtere hier besonders die Flle von ZN+mit SA und ZR+. (Der Fall von ZR+mit SA wird durch die Kombination der folgenden Maßnahmen erledigt). Dafr muss man nur die Determinationsthesis folgendermaßen modifizieren: Fr ZN+mit SA: Fr jede Aussage ist es bereits vor unserer tatschlichen Untersuchung, durch davon unabhngige Faktoren, ein-
531 Laut Kant kann diese Totalitt nicht anders als unendlich sein, weil die Mçglichkeit, dass sie endlich sei, mit seinem metaphysischen Argument (vgl. 7.1.1) von vornherein ausgeschlossen wird. 532 In ZN wird sogar nicht einmal gestattet, von „allen mçglichen (ob wahren, falschen oder sonstigen) Aussagen“ als einer Totalitt zu sprechen, weil an jeder einzelnen Station allenfalls endlich viele Aussagen zur Sprache kommen kçnnen. Die Verwendung des Allquantors in ZN – gleich wie in der intuitionistischen Logik – setzt eine bereits vollstndig gegebene Totalitt der Gegenstnde (wie etwa eine „Diskursdomne“ in der klassischen Logik) nicht voraus. Was in ZN genehmigt wird, ist nur die Menge der Gegenstnde, die an irgendeiner einzelnen Station zur Diskussion kommen kçnnen.
8.5 Verhltnis zwischen Erscheinungen und Dingen an sich
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deutig determiniert, ob sie, oder ihre Negation, oder weder sie noch ihre Negation superassertibel ist. Fr ZR+: Fr jede Aussage ist es bereits vor unserer tatschlichen Untersuchung, durch davon unabhngige Faktoren, eindeutig determiniert, ob sie zum Zeitpunkt t bzw. spter verifizierbar, oder falsifizierbar, oder weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. In beiden Fllen kann in analoger Weise zum Fall von ZN gezeigt werden, dass die so verstandene Determinationsthesis mit ihnen vereinbar ist. Damit ist konstatiert worden, dass die transzendentale Affektion in den kantischen Anti-Realismus konsequent integrierbar ist. 8.5 Verhltnis zwischen Erscheinungen und Dingen an sich In diesem letzten Abschnitt stelle ich die bisherigen Ergebnisse in Form einer einheitlichen Theorie von raumzeitlichen Gegenstnden (Erscheinungen) und Dingen an sich zusammen. Anschließend widme ich mich dem Problem, das in 6.4 erwhnt, aber noch nicht aufgelçst wurde, nmlich dem Problem damit, Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs mit der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre vertrglich zu machen. Damit wird die anti-realistische Interpretation ihres letzten Problems enthoben. Die bisher im Einzelnen gezogenen Konsequenzen werden nun folgendermaßen zusammengestellt: (1) Anti-Realismus: Raumzeitliche Gegenstnde sind abhngig von unserer Erkenntnis. Dass sie existieren, bedeutet geradezu, dass sie erkennbar sind („erkennbar“ im Sinne von ZN, ZR+, ZN+, ZN+mit SA oder ZR+mit SA). (2) Existenz der Dinge an sich: Es muss anerkannt werden, dass es außer raumzeitlichen Gegenstnden noch etwas Erkenntnisunabhngiges, d. h. Dinge an sich, gibt. Diese Anerkennung ist nicht lediglich subjektiv notwendig (etwa aus der Forderung der Vernunft, dergleichen zu „erdenken“), sondern objektiv begrndet. (3) Zwei-Welten-Lehre: Kants „Erscheinung“ und „Ding an sich“ sind nicht zwei Aspekte ein und desselben erkenntnisunabhngigen Dinges, sondern vielmehr zwei distinkte Entitten. Denn unter der Annahme der ersteren Alternative sollen die Dinge, die wir als raumzeitliche Gegenstnde
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erkennen, unabhngig von unserer Erkenntnis existieren, was dem AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde widerspricht. (4) Dinge an sich als Grund der sinnlichen Materie sowie der raumzeitlichen Wirklichkeit: Dinge an sich machen den Grund fr die sinnliche Materie aus, indem sie diese in unserem Gemt hervorbringen. Sie sind, obgleich mittelbar, auch als Grund der raumzeitlichen Gegenstnde anzusehen, weil die von ihnen hervorgebrachte sinnliche Materie (zusammen mit den apriorischen Bedingungen der menschlichen Erkenntnis) die Beschaffenheit raumzeitlicher Gegenstnde determiniert. (5) Raumzeitliche Gegenstnde als Erscheinungen der Dinge an sich: Daraus wird gefolgert, dass jedem raumzeitlichen Gegenstand irgendein (von ihm numerisch unterschiedenes) Ding an sich zugrundeliegt. Denn in Bezug auf jeden ersteren gibt es eine sinnliche Materie, anhand deren wir ihn empirisch erkennen, und sie muss ihrerseits von irgendeinem Ding an sich hervorgebracht worden sein. – Man kann sogar sagen, dass raumzeitliche Gegenstnde „Erscheinungen der Dinge an sich“ sind oder Dinge an sich uns als raumzeitliche Gegenstnde „erscheinen“, sofern damit nicht mehr als das gerade Gesagte gemeint ist. (6) Unerkennbarkeit der Dinge an sich: ber die genannten Punkte hinaus kann nichts Positives ber Dinge an sich ausgesagt werden (zumindest nicht im Rahmen der theoretischen Philosophie). Es kann z. B. nicht geschlossen werden, dass distinkten raumzeitlichen Gegenstnden dementsprechend distinkte Dinge an sich (oder deren Teile, Eigenschaften, Verhltnisse, usf.) zugrundeliegen. – Punkt (5) impliziert dies nicht, denn er lsst die Mçglichkeit vielmehr offen, dass das, was den verschiedenen raumzeitlichen Gegenstnden zugrundeliegt, vielleicht seinerseits ein einziges Ding an sich mit einer einzigen Eigenschaft sein mag. – Man kann sogar nicht einmal behaupten, dass die kategorialen Bestimmungen aufseiten der Dinge an sich berhaupt obwalten. Das Ding an sich mag vielleicht dasjenige sein, ber was im Rahmen von „Substanz/Attribut“ zu sprechen schon „unsachgemß“ wre. Daraus geht hervor, dass der TrI alle folgenden Szenarien als mçglich einrumt: (a) Einzelnen raumzeitlichen Substanzen entsprechend gibt es distinkte noumenale Substanzen. Die letzteren ben auf uns (als von ihnen numerisch unterschiedene Dinge an sich) kausale Einflsse aus, um in unserem Gemt die sinnliche Materie hervorbringen. (b) Es gibt nur zwei distinkte noumenale Substanzen; die eine bin ICH (vgl. oben, 7.4.3, S. 314) als das einzige echte Erkenntnis-
8.5 Verhltnis zwischen Erscheinungen und Dingen an sich
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subjekt, die andere ist diejenige, welche allen raumzeitlichen Dingen (außer MEINEM empirischen Selbst) zugrundeliegt. Die letztere affiziert MICH, um in MIR die sinnliche Materie hervorzubringen. (c) Es gibt nur eine noumenale Substanz, die ICH bin. In MEINEM Gemt taucht die sinnliche Materie gleichsam „von selbst“ auf, ohne dass ICH von etwas Anderem affiziert werde (weil dergleichen ex hypothesi nicht existiert). – Auch hierbei ist das Moment der Rezeptivitt gesichert, weil diese sinnliche Materie sich nicht MEINER Spontaneitt verdankt.) (d) Es gibt nur eine (und absolut einfache) noumenale Substanz, die doch „multipersonal“ ist; jede Teil-Personalitt von dieser Multipersonalitt erscheint in der raumzeitlichen Wirklichkeit als eine Einzelperson. Im Gemt jeder solchen Person taucht die sinnliche Materie gleichsam „von selbst“ auf, ohne dass die allumfassende einzige noumenale Substanz von etwas Anderem affiziert werde. (e) Das Ding an sich ist etwas, fr das unsere Kategorien gar nicht gelten, was also fr uns ganz und gar unverstndlich (nicht nur unerkennbar) ist. Dieses gnzlich unverstndliche „Etwas“ erscheint dennoch in der raumzeitlichen Wirklichkeit als verschiedene Gegenstnde und Personen. Im Bewusstsein jeder solchen Person taucht die sinnliche Materie gleichsam „von selbst“ auf, ohne dass das ihnen zugrundeliegende „Etwas“ von etwas Anderem affiziert wrde. In Rcksicht auf Kants anti-solipsistische Einstellung neigt man wohl dazu, die Szenarien (b) und (c) zu streichen.533 Diese sind aber nicht durch die Theorie der transzendentalen Affektion allein ausgeschlossen. Wichtig ist hier vielmehr, dass Kants Argumentationen fr die Unerkennbarkeitssowie die Unanwendbarkeitsthesis alle diese Szenarien offen lassen. Noch adquater gesagt: Sie weisen positiv auf, dass wir unfhig sind, uns zwischen diesen zu entscheiden. – Ich werde gleich zeigen, dass dieser Umstand auch durch Kants praktische Philosophie nicht gendert wird.
533 Es ist nicht der Fall, dass in diesen Szenarien die Existenz anderer Personen in keinem Sinn anerkannt werden kann. Jedoch kann hierbei nicht gebilligt werden, dass die anderen Personen auch mit MIR ontologisch gleichberechtigt sind (vgl. 7.4.3). Denn diesen Szenarien zufolge soll nur ICH das Subjekt der Weltkonstruktion sein, whrend andere Personen als von MIR konstruierte Gegenstnde verstanden werden.
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Es ist nun an der Zeit, die in 6.4 vorgestellte scheinbare Unvertrglichkeit der anti-realistischen Zwei-Welten-Interpretation mit Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs zu lçsen. Es steht außer Zweifel, dass Kant diese Doktrin im Rahmen der Zwei-Aspekte-Lehre entwickelt hat. Es ist nicht nçtig (und ohnehin unmçglich), diese Tatsache abzustreiten, um die oben dargestellte anti-realistische Zwei-Welten-Interpretation zu verteidigen. Erfordert wird vielmehr, ein Erklrungsschema auszuarbeiten, mit dem sich diese Doktrin dem Rahmen der Zwei-Welten-Interpretation gemß modifizieren lsst, ohne dabei diesbezgliche Argumentationen wesentlich zu verletzen. Blicken wir kurz auf die Problemlage zurck: Kant behauptet, dass das Ich einerseits eine Erscheinung (das empirische Selbst), andererseits auch ein Ding an sich (das noumenale Selbst) ist. Wenn man versucht, diese Doktrin im Rahmen der Zwei-Welten-Lehre umzudeuten, dann kann man nicht umhin, das empirische und das noumenale Selbst als zwei distinkte Entitten zu erachten. Wie kann es aber berhaupt verstndlich gemacht werden, dass zwei distinkte Entitten, und zwar dergestalt, dass die eine erkenntnisabhngig und die andere erkenntnisunabhngig ist, dennoch ein und dasselbe Ich sind? Dafr schlage ich folgendes Erklrungsschema vor: Das Ich ist an sich selbst das noumenale Selbst. Das empirische Selbst hingegen ist die „Erscheinung“ des noumenalen, die von diesem numerisch unterschieden ist. Es ist verfhrerisch, dieses Erklrungsschema in der Analogie zu „Person/ Spiegelbild“ zu verstehen, wie folgendermaßen: Das empirische und das noumenale Selbst sind zwei distinkte Entitten, genauso wie eine Person vor dem Spiegel und ihr Spiegelbild zwei distinkte Entitten sind. – Dieses Verstndnis verursacht aber folgende Probleme: (1) Es ist ein uneliminierbarer Bestandteil von Kants betreffender Doktrin, dass Aussagen wie „Ich bin in Raum und Zeit“, „Ich hnge mit sonstigen raumzeitlichen Gegenstnden durch das Kausalgesetz zusammen“ zumindest in Bezug auf das Ich als Erscheinung wahr sind. Dergleichen scheint aber nach dem obigen Erklrungsschema berhaupt nicht eingerumt zu werden, denn dieses Schema schließt anscheinend die Mçglichkeit von vornherein aus, das empirische Selbst mit dem Ich selbst zu identifizieren, indem es das Ich an sich von dem empirischen Selbst als dessen Erscheinung numerisch abtrennt. – Das Spiegelbild kann ein Bild von mir sein, aber nicht ich selbst. Es ist allzu extravagant zu denken, dass
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eine Behauptung wie „Ich bin im Spiegel“ mehr als im metaphorischen Sinne vertretbar ist. (2) Auch wenn dieses Problem in irgendeiner Weise gelçst wird, ergibt sich noch ein anderes Problem. In dem obigen Erklrungsschema wird das noumenale Selbst als das Ich an sich erachtet, hingegen das empirische Selbst als erkenntnisabhngige „Erscheinung“ desselben. Wenn man so viel zugesteht, kann man anscheinend nicht umhin, anzunehmen, dass das erstere „Original“ und die letztere (ob nun korrektes oder deformiertes) „Abbild“ ist – genauso wie das Spiegelbild einer Person ein Abbild ihrer ist – und die Wahrheit ber dieses „Abbild“ jenem „Original“ gemß bestimmt ist (wie die Isomorphiethesis besagt). Und wenn man dergleichen einmal fr menschliche Subjekte anerkennt, kçnnte man wohl auch nicht umhin, das Gleiche fr raumzeitliche Gegenstnde berhaupt zu generalisieren. Denn es ist in ontologischer Hinsicht hçchst dubios, fr Menschen eine Ausnahme zu machen.534 Diese Probleme bedeuten jedoch meines Erachtens nicht die Unhaltbarkeit des obigen Erklrungsschemas selbst, sondern vielmehr nur fr die der oben angefhrten Analogie zu „Person/Spiegelbild“. Ich versuche, ein alternatives analogisches Modell zu konstruieren. Dafr fhre ich den Begriff „Avatar“ ein, der in heutigen OnlineComputerspielen (wie „Second Life“) verwendet wird.535 Der Avatar ist der Stellvertreter des Spielers in der virtuellen Welt des Computerspiels. Der Spieler erfhrt die virtuelle Welt aus der Perspektive des Avatars; er kann zudem anhand dessen Einflsse auf diese Welt ausben (und mit anderen Spielern kommunizieren). Insofern kçnnte der Avatar als ein QuasiHandlungssubjekt erachtet werden. Er hat folgende Eigentmlichkeiten, die im hiesigen Kontext relevant sind: (a) Der Avatar ist eine Entitt, die vom Spieler numerisch unterschieden wird, und zwar dergestalt: Seine Existenz ist davon abhngig, dass er durch das System des Computerspiels dargestellt wird, whrend dies fr den Spieler natrlich nicht gilt. (b) Trotzdem ist es sinnvoll (zumindest in der Welt des Computerspiels), dass der Spieler einen bestimmten Avatar mit sich selbst
534 Adams 1997 und Hanna 2001 tun diesen dubiosen Schritt; vgl. oben, 3.1. 535 Dass dieses Wort ursprnglich von dem sanskritischen Wort „Avata¯ra“ (Bedeutung: Erscheinungsform der Gçtter“) herstammt, ist fr die folgende Diskussion irrelevant.
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identifiziert,536 wie z. B. im Gesprch: „Wo bist du?“ „Ich stehe gerade vor dem Eingangs der Hçhle!“ (obwohl die realen Spieler natrlich an ihren Computern sitzen). In Analogie zu diesem Modell wird der Fall des Selbst folgendermaßen verstanden: (a’) Das empirische Selbst ist eine Entitt, die vom noumenalen Selbst numerisch unterschieden wird, und zwar dergestalt: Das erstere existiert davon abhngig, dass es von uns erkannt wird, whrend dies fr das letztere nicht gilt. (b’) Trotzdem ist es sinnvoll, dass man sein empirisches Selbst mit sich selbst identifiziert. So verstanden, wird das oben genannte Problem (1) aufgelçst. Man ist nmlich dazu berechtigt, zu sagen, „Ich bin in Raum und Zeit“, auch wenn dabei eigentlich nur von seinem empirischen Selbst die Rede ist. Es muss aber zugleich beachtet werden, dass zwischen dem Fall des Ichs und dem „Spieler/Avatar“ Modell auch bemerkenswerte Unterschiede bestehen. Der wichtigste ist Folgender: Im letzteren kann der Spieler natrlich auch unabhngig von seiner „Identitt“ in der virtuellen Welt als eine Person der realen Welt identifiziert werden.537 Dies gilt gerade nicht fr den Fall des Ichs. Wegen der Unerkennbarkeit der Dinge an sich kann das noumenale Selbst nicht direkt als ein noumenales Wesen neben anderen Dingen an sich identifiziert werden. Wenn man von „seinem“ noumenalen Selbst berhaupt sprechen kann, ist es allenfalls dadurch mçglich, dass man sich zuerst als einen neben anderen raumzeitlichen Gegenstnden identifiziert, und darauf basierend ein diesem zugrundeliegendes Ding an sich erdenkt. Ein so erdachtes Ding an sich muss ja in der Tat existieren. Dadurch wird aber gar nicht garantiert, dass es auch ein distinktes noumenales Wesen neben anderen Dingen an sich ist, so wie das dementsprechende empirische Selbst von den sonstigen raumzeitlichen Gegenstnden numerisch unterschieden wird (vgl. oben, die mçglichen Szenarien (d) und (e)). – Kurzum: Fr die Selbstidentifikation haben wir nur die empirisch verwendbaren Kriterien, die allenfalls unser empirisches Selbst von sons536 Damit meine ich nicht, dass der Spieler sich so tief in das Computerspiel versenkt, dass er sein „reales“ Leben vergisst und sich selbst vielmehr als Bewohner der Fantasiewelt identifiziert. 537 Und angesichts der Realitt der letzteren Identitt klingt es in diesem Fall viel natrlicher, dass der Spieler seinen Avatar im Computerspiel nur steuere, als zu sagen, dass der Avatar der Spieler selbst sei.
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tigen raumzeitlichen Gegenstnden unterscheiden. – Und nicht nur sind wir unfhig dazu, die Identifizierung unserer selbst in einer anderen Weise auszufhren, sondern noch wichtiger ist, dass wir dafr nichts Anderes brauchen. Wir identifizieren uns in der Tat als bestimmte raumzeitliche Wesen neben anderen raumzeitlichen Gegenstnden (sonst wie?) und es wre ein vçllig berflssiger Zug (auch wenn dergleichen mçglich wre), sich zustzlich auch als ein bestimmtes noumenales Wesen neben anderen Dingen an sich zu identifizieren. Angesichts dieses Punktes stellt es sich nun heraus, dass in dem obigen Erklrungsschema Problem (2) ebenfalls aufgelçst wird. Zumindest der Begriff des empirischen Selbst impliziert nicht, dass dieses die Beschaffenheit des noumenalen Selbst (ob nun korrekt oder deformiert) abbilden soll.538 Es kann also keine Rede davon sein, das erstere mit dem letzteren zu vergleichen, um zu besttigen, ob die vermeintliche „Erscheinung“ des Ichs dem echten „Ich an sich“ entspricht oder nicht. Dies gilt aber nicht deswegen, weil uns ein solcher Vergleich unmçglich ist, sondern vielmehr, weil dieser fr die Individuierung unserer selbst unnçtig ist; diese wird schon innerhalb des empirischen Kontextes hinreichend durchgefhrt. Das noumenale Selbst anzunehmen, ist bloß ein zustzlicher Schritt, ein „Etwas“ zu erdenken, das dem empirisch festgestellten Selbst zugrundeliegt. Allerdings muss dieses „Etwas“ tatschlich existieren. Wie aber dieses an sich selbst beschaffen ist, spielt keine Rolle in unserem Verstndnis von uns selbst als Individuen neben anderen. So verstanden resultiert, dass das obige Erklrungsschema auch nicht dem Anti-Realismus des empirischen Selbst widerspricht. Die bisher erklrte Sachlage wird (Adams 1997 entgegen) auch nicht durch Kants praktische Philosophie verndert. In der Kritik der praktischen Vernunft wird zwar die Wirklichkeit der Freiheit durch das „Faktum der Vernunft“ bewiesen (vgl. Ak. 5, S. 47). Was aber dadurch (zumindest durch Kants dortige Argumentationen) nachgewiesen wird, ist allenfalls, dass etwas Noumenales, das unserem empirischen Selbst zugrundeliegt, zum freien Willen fhig ist, und nicht, dass noumenale Entitten, die jeweils meinem und einem anderen empirischen Selbst zugrundeliegen, zwei distinkte Dinge an sich sind. Es ist nmlich nicht so, dass durch die praktischen berlegungen ein neuartiges Kriterium fr die Identifizierung der Personen angeboten wird. (Kant wrde dergleichen vielmehr vernei538 Allerdings muss dadurch nicht verneint werden, dass es zuflligerweise der Fall sein mag, dass zwischen dem empirischen und dem noumenalen Selbst eine strukturelle Entsprechung besteht; vgl. 1.2.
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Kapitel 8 Dinge an sich und Affektion
nen, weil ihm zufolge selbst die praktischen berlegungen uns die Beschaffenheit der Dinge an sich gar nicht zu „erkennen“ gibt.) Dies spricht zugleich dafr, dass die oben dargestellten mçglichen Szenarien auch durch Kants praktische Philosophie unentschieden gelassen werden. Nach diesem Erklrungsschema lsst sich nun Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs (zusammen mit seiner These der Kompatibilitt zwischen dem phnomenalen Determinismus und der transzendentalen Freiheit) folgendermaßen umdeuten: Man individuiert sich selbst dadurch (und nicht anders), dass man sich als ein empirisches Selbst identifiziert, das mit den sonstigen raumzeitlichen Gegenstnden durch die deterministischen Naturgesetze zusammenhngt. Diesem empirischen Selbst liegt irgendein Ding an sich zugrunde, das man an sich selbst ist, und dieses Ding an sich (das noumenale Selbst) unterliegt nicht den Naturgesetzen, ist also mçglicherweise zum freien Willen fhig. – Diese umgedeutete Doktrin ist wesentlich eine Zwei-Welten-Lehre des Ichs, lsst sich aber mit Kants Argumentationen in seiner Freiheitslehre gut kombinieren. Ich wiederhole: Ich beabsichtige damit nicht zu behaupten, dass Kant selbst die bisher ausgearbeitete Zwei-Welten-Doktrin des Ichs vertritt. Es steht außer Zweifel, wie in 6.4 gesagt wurde, dass er hinsichtlich der Problematik des Ichs durchaus im Rahmen der Zwei-Aspekte-Lehre denkt. Was bisher geklrt wurde, ist nur, dass Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs auch gemß dem Rahmen der anti-realistischen Zwei-WeltenLehre umgedeutet werden kann, ohne seine diesbezglichen Argumentationen zu verletzen. Und dies reicht schon aus, um die obige Interpretation als eine rationale Rekonstruktion zu rechtfertigen. Ich behaupte auch nicht, dass mein obiger Vorschlag die einzig mçgliche Option dafr ist, Kants betreffende Doktrin mit der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre vertrglich zu machen. Andersartige Vorschlge sind mir vielmehr willkommen. Es drfte aber schon ein nicht unwesentliches Ergebnis sein, auch nur ein mçgliches Modell dafr anzubieten. Damit beschließe ich die Erçrterung des Doppelcharakters des Ichs. Hierdurch hat die anti-realistische Interpretation schließlich die vollstndige Bewhrung erhalten, indem gezeigt worden ist, dass sie auch ihrem fatalsten exegetischen Gegenbeleg begegnen kann.
Schlusswort Das Hauptanliegen der vorliegenden Abhandlung war es, der realistischen Interpretation entgegen nachzuweisen, dass Kants TrI eine anti-realistische Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit darstellt. Der „Anti-Realismus“ ist, genauso wie „Idealismus“ und „Phnomenalismus“, von seinen Kritikern manchmal zu einer grundstzlich unattraktiven Position karikiert und unter Bezugnahme darauf zurckgewiesen worden. Ich habe daher in Teil I versucht, den Gehalt des Realismus/AntiRealismus im dummettschen Sinne genau zu bestimmen und anhand dessen die Hauptthese und die Aufgabe der vorliegenden Abhandlung klarzustellen. Meiner Definition nach besteht der Realismus in der verifikationsunabhngigen Wahrheitskonzeption, der Anti-Realismus hingegen in der Ablehnung derselben. So definiert, stellen diese beiden Positionen einen eindeutigen Gegensatz dar. Die dummettsche Begrifflichkeit ermçglicht es berdies, die jeweiligen Standpunkte verschiedener Interpretationsoptionen wie der Zwei-Welten- und der Zwei-Aspekte-Interpretation (und letztere noch einmal unterschieden in ihre metaphysische und ihre methodologische Variante) klarer zu markieren. In den drei Kapiteln von Teil II habe ich meine anti-realistische Interpretation durch konkrete Textanalysen begrndet. In Kapitel 4 und 5 habe ich das Antinomiekapitel und den vierten Paralogismus (A) untersucht und gezeigt, dass der Versuch, diese Theoriestcke realistisch zu deuten, notwendigerweise Kants dortige Argumentationen zunichte machen muss, so dass sie folgerichtig nur anti-realistisch verstanden werden kçnnen. In Kapitel 6 habe ich die Theoriestcke aufgegriffen, die prima facie die realistische Interpretation nahelegen. Was das grçßte Hindernis fr die anti-realistische Interpretation bereitet, ist Kants Zwei-Aspekte-Redeweise. Bei der Untersuchung besttigte sich zunchst, dass diese Redeweise als solche mit der anti-realistischen Interpretation nicht vollstndig vereinbart werden kann. Dieser Umstand erregte eine Spannung zu den gleichermaßen nicht zu leugnenden Tatsachen, dass Kant erstens auch die ZweiWelten-Redeweise gebraucht, die einen Anti-Realismus nahelegt, und dass er zweitens – noch wichtiger – gerade solche Argumentationen vorlegt, die nur im Rahmen des Anti-Realismus folgerichtig verstanden werden kçn-
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nen (wie in Kapitel 4 und 5 erwiesen wurde). Daraus ging hervor: Sofern Interpreten bloß Kants Redeweisen anhngen, gelangen sie nur zur Entdeckung der Inkonsistenz in seinen berlegungen. Das Bewusstsein hierber fhrte zu der Forderung, die Aufgabe der Exegese auf die rationale Rekonstruktion umzustellen, nmlich darauf, von Kants terminologischer Inkonsistenz zunchst absehend vielmehr seine Argumentationen zu einer mçglichst kohrenten Sinneinheit zu bringen. Wenn die Aufgabe einmal auf diese Ebene gelangt, erweist sich der Vorzug der anti-realistischen Interpretation als unerschtterlich. Ich habe zunchst fr die Widerlegung des Idealismus (B) und die Transzendentale sthetik nachgewiesen, dass sich Kants dortige Argumentationen zum Realismus/Anti-Realismus neutral verhalten. In Abschnitt 8.5 habe ich berdies gezeigt, dass auch Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs, das wohl der anti-realistischen Interpretation am strksten entgegensteht, derart modifiziert werden kann, dass sie mit dem Anti-Realismus vertrglich wird, ohne dabei Kants diesbezgliche Argumentationen wesentlich zu verletzen. Durch diese Untersuchungen wurde festgestellt, dass dasjenige, was der realistischen Interpretation nicht gelingt, nmlich Kants berlegungen in der KdrV in toto folgerichtig auszulegen, die anti-realistische Interpretation durchaus leisten kann. Das heißt: Wenn Kants TrI berhaupt als ein kohrentes System verstanden werden soll, kann er nicht anders als antirealistisch ausgelegt werden. Damit wurde der exegetische Vorzug der antirealistischen Interpretation sichergestellt. In den zwei Kapiteln von Teil III habe ich versucht, den konkreten Gehalt von Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit zu przisieren. In Kapitel 7 habe ich die dem kantischen TrI angemessene Version des Anti-Realismus herausgearbeitet. Ich habe zunchst gezeigt, dass die naheliegenden drei Versionen, nmlich die zeit-relative, die peircesche und die standard-phnomenalistische Version, fr den kantischen TrI inadquat sind. Anschließend habe ich, vornehmlich im Hinblick auf Kants Argumentation fr die Auflçsung der Antinomien, eine intuitionistische Version des Anti-Realismus (ZN) konstruiert. Es gab aber einige Probleme damit, den intuitionistischen Anti-Realismus auf den raumzeitlichen Bereich direkt anzuwenden. Durch die Erçrterungen dieser Probleme ergaben sich noch vier weitere Versionen des Anti-Realismus als mçgliche Optionen fr den kantischen TrI, nmlich ZR+, ZN+, ZN+mit SA und ZR+mit SA. In Kapitel 8 habe ich die Problematik der „Dinge an sich“ und der „Affektion“ diskutiert. Ich habe die Theorie der transzendentalen Affektion verteidigt, indem ich gezeigt habe, dass diese fr die Rezeptivitt unserer
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empirischen Erkenntnis erfordert wird und dass sie – dem Anschein entgegen – weder gegen Kants Doktrin der Unerkennbarkeit der Dinge an sich (bzw. der Unanwendbarkeit der Kategorien auf diese) noch gegen den AntiRealismus raumzeitlicher Gegenstnde als solchen verstçßt. Durch diese Untersuchungen wurde Kants anti-realistischer Ontologie der raumzeitlichen Wirklichkeit, ber eine bloß negative Bestimmung hinaus (nmlich, dass sie den Realismus raumzeitlicher Gegenstnde ablehne), ein substantieller Gehalt verliehen. Damit sind alle Aufgaben der vorliegenden Abhandlung erfllt worden. In der bisherigen Untersuchung sind einige fr die Kant-Interpretation wichtige (und auch umstrittene) Diskussionspunkte unerçrtert geblieben. Diese sind u. a. folgende: (1) Bei den jeweiligen Untersuchungen habe ich die Themen, welche fr die dortigen Fragestellungen nicht konstitutiv waren, bewusst außer Acht gelassen; z. B. die Details von Kants Herleitungen der Antinomien (Kapitel 4), die Details des Beweises fr die transzendentale Idealitt von Raum und Zeit (Kapitel 6) und das Problem der empirischen Beschreibung des Affektionsvorgangs (vgl. 8.2.2, Anm. 505). (2) Ich habe auch eingehende Untersuchungen der Transzendentalen Deduktion und der „Analytik der Grundstze“ unterlassen. Die Untersuchung dieser Theoriestcke ist aber fr die Vervollstndigung der antirealistischen Kant-Interpretation notwendig. Wichtig ist vor allem, wie Kants Theorie der „Synthesis“ (oder der Zusammenwirkung von Rezeptivitt und Spontaneitt) im Rahmen des Anti-Realismus verstanden wird. (3) Es wurde festgestellt, dass Kants Doktrin des Doppelcharakters des Ichs auch dem Rahmen der anti-realistischen Zwei-Welten-Lehre angepasst werden kann. Ich habe aber nicht gezeigt, wie dadurch Kants Freiheitslehre in concreto zu rekonstruieren ist. Ich bin auch auf die Thematik bezglich der Erkenntnissubjekte als solcher – z. B. das Problem von Selbstbewusstsein, Selbsterkenntnis, Personalitt, usw. – nicht eingegangen, um mich auf die Problematik der raumzeitlichen Gegenstnde im Allgemeinen zu konzentrieren. Diese Diskussionspunkte zu behandeln, soll die Aufgabe einer kommenden Weiterfhrung der anti-realistischen Kant-Interpretation sein. Es stellt sich weiterhin die Aufgabe, das ganze System der kantischen Transzendentalphilosophie, die außer der theoretischen Philosophie auch die praktische Philosophie sowie die Thematik der Kritik der Urteilskraft umfasst, unter dem Licht der anti-realistischen Interpretation erneut
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auszulegen. – Ich glaube, dass die vorliegende Abhandlung eine Grundlage fr dieses weit angelegte Forschungsprogramm errichtet hat. Die bisherige Untersuchung ist – abgesehen von einigen Ausnahmen539 – nach streng exegetischer Disziplin durchgefhrt worden. Sie war nmlich nicht darauf ausgerichtet, Kants berlegungen als eine aus unserer heutigen Sicht attraktive Theorie darzustellen, sondern sie beabsichtigte vielmehr, Kants eigene Ansichten und Gedankengnge zu erhellen. Ich habe zwar nicht den geringsten Zweifel daran, dass diese exegetische Disziplin adquat, ja sogar unentbehrlich ist, sofern es um die interpretatorische Debatte (z. B. zwischen der realistischen und der anti-realistischen Interpretation oder zwischen der Zwei-Aspekte- und der ZweiWelten-Interpretation) geht. Mit dieser exegetischen Ausrichtung habe ich aber nicht intendiert, Kants berlegungen als eine philosophische Antiquitt darzustellen. In der Einleitung habe ich die Mçglichkeit erwhnt, dass die hermeneutische Einstellung fr das traditionelle „idealistische“ Denken philosophisch produktiv gemacht werden kann. Ich mçchte zum Schluss an diesen Punkt anknpfen und auf die philosophische Bedeutung aufmerksam machen, die meine bisherige exegetische Untersuchung haben soll. Die vorliegende Abhandlung zeigt zum einen, dass Kants Philosophie fr Anhnger des Anti-Realismus (oder fr diejenigen, welche das „idealistische“ Denken zumindest fr eine bedenkenswerte Position halten) ein besonders interessantes Vorbild bietet. Kants einzelne Argumentationen fr die Begrndung des Anti-Realismus sind zwar in manchen Punkten defizitr oder unzulnglich im Vergleich mit denjenigen von gegenwrtigen Anhngern des Anti-Realismus (wie z. B. Dummett, Crispin Wright und Neil Tennant). Was aber bei Kant besonders wertvoll ist, ist die Systematizitt seiner Philosophie. Diese bietet nmlich ein Modell fr einen konkreten und umfangreich entwickelten Anti-Realismus. Ein solches Modell zu konstruieren, ist bei der gegenwrtigen Diskussion des AntiRealismus weitgehend unterlassen worden. Diese orientiert sich – obschon sachgemß gerecht – vornehmlich an den Grundargumenten fr die Infragestellung des Realismus (als Rechtfertigung des Anti-Realismus). In dieser Hinsicht kçnnten Anhnger des Anti-Realismus aus der kantischen Philosophie – oder zumindest aus dem Versuch, diese zu einer systema539 Zum Beispiel die Untersuchung der skeptizistischen Infragestellung des Realismus in Abschnitt 5.3 und die Herausarbeitung der kantischen Version des Anti-Realismus in 7.3 – 5 und 8.4.2.
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tischen Einheit zu bringen – wohl viele fruchtbare Einsichten fr ihre kommende Theoriebildung gewinnen.540 Zum anderen – was fr mich wichtiger ist – leistet die bisherige Untersuchung hoffentlich einen Beitrag dazu, die Thematik „Realismusdebatte“ aus der Perspektive der Geschichte der Philosophie erneut zu untersuchen. Der Anti-Realismus als solcher mag sich selbst vielleicht – wegen seiner unabdingbaren Kontraintuitivitt – nicht als haltbare Position erweisen. Jedoch kann seine Infragestellung des Realismus als solche nicht bloß deswegen ad acta gelegt werden. Denn zum einen ist nicht zu leugnen, dass durch Versuche, solchen Herausforderungen zu begegnen, viele philosophisch wertvolle Einsichten herausgearbeitet worden sind. Zum anderen kann es auch der Fall sein, dass gerade darin, dass solche Herausforderungen dem Realismus berhaupt gestellt werden, sich etwas Wichtiges fr unser Grundverstndnis der Wirklichkeit verbirgt, selbst wenn der Realismus letzten Endes seine Legitimitt bewahren sollte. Die Tatsache, dass der Realismus in der Geschichte der Philosophie mehrmals und wiederholt in Frage gestellt worden ist, deutet darauf hin, dass die traditionelle Realismusdebatte – dem verchtlichen Ton der heutigen Realisten entgegen – auf mehr als einem einfachen Irrtum oder Missverstndnis beruht. Ich gebe mich hier zunchst damit zufrieden, dass durch die vorliegende anti-realistische Kant-Interpretation ein Ansatzpunkt fr die hermeneutische Wiederaneignung der Fragestellung der traditionellen Realismusdebatte gelegt wurde, und beschließe damit die vorliegende Abhandlung.
540 Die vorliegende Abhandlung hat ironischerweise auch gegen den Anti-Realismus gezeigt, dass schon dabei, diesen nur versuchsweise zu einem kohrenten System zu bringen, viele umstndliche Probleme entstehen; z. B. das einer Revision der Logik (und wenn Anti-Realisten ihrer entbehren mçchten, das Aufweisen eines besonderen Grundes dafr), eine Ausarbeitung des Begriffs der „Erkenntnisabhngigkeit“, eine Sicherstellung der Unwillkrlichkeit der Wahrheit im Rahmen des AntiRealismus usw.
Appendix: Ablehnung des Bivalenzprinzips in ZN In 7.3.3 (B) (S. 302 f.) wurde folgendermaßen argumentiert: Stufe 1: Das Bivalenzprinzip („Jede Aussage ist entweder als wahr oder als falsch bestimmt“) ist in ZN unvertretbar, weil es in ZN gleichbedeutend mit Folgendem ist, wofr wir bis dato keinen Beweis kennen: HO (Hilbertscher Optimismus): Jede Aussage wird entweder an irgendeiner Station (der tatschlichen oder mçglichen Verifikationsrouten) verifiziert oder an irgendeiner Station falsifiziert. (Das heißt in der Terminologie von ZN: Jede Aussage ist entweder verifizierbar oder falsifizierbar.) Stufe 2: Man kann aber auch nicht positiv feststellen, dass HO falsch ist. ZN lehnt folglich nur die Bejahung des Bivalenzprinzips ab, ohne es schlechthin zu falsifizieren. Stufe 3: Aber dafr muss zumindest Folgendes zugestanden werden: (a) Es ist mçglich, dass einige Aussagen auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben werden (d. h. weder verifizierbar noch falsifizierbar sind). Stufe 4: Jedoch lsst sich auch Folgendes beweisen: (b) Es kann an keiner Station nachgewiesen werden (d. h. es ist unerkennbar im Sinne von ZN), dass eine Aussage weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Denn an einer Station nachzuweisen, dass eine Aussage unverifizierbar ist, heißt geradezu, diese Aussage an dieser Station zu falsifizieren. Dies spricht dafr, dass in ZN der Wahrheitswert „Weder-wahr-noch-falsch“ keiner Aussage beigelegt werden kann. Stufe 5: Daraus geht hervor: Der in (a) als „mçglich“ bezeichnete Umstand, dass nmlich eine Aussage auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben wird, entspricht in ZN nicht dem Fall, dass sie weder wahr noch falsch ist, sondern vielmehr, dass ihr Wahrheitswert unaufhçrlich unentschieden bleiben wird. Diese Argumentation ist im Rahmen des mathematischen Intuitionismus, den sich ZN zum Vorbild nimmt, nicht ganz unproblematisch und dieses
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Problem macht die Mçglichkeit der intuitionistischen zeit-neutralen Wahrheitskonzeption selbst fragwrdig. Ich erklre zuerst, warum die obige Argumentation problematisch erscheint, und versuche anschließend, dieses Problem zu lçsen und dadurch die gesamte obige Argumentation zu verteidigen. Das Problem liegt in der Annahme (a). Sie scheint nmlich, mit (b) kombiniert, mit dem anti-realistischen Charakter von ZN zu kollidieren. Um diese Sachlage zu verdeutlichen, stelle ich einen noch ausfhrlicheren Beweis fr (b) dar. Stufe 1: Nehmen wir an, dass eine Aussage in der Tat weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Dies impliziert, dass diese Aussage nicht verifizierbar ist. Stufe 2: Diese Tatsache kann nun ex hypothesi an keiner einzelnen Station erkannt werden. Denn sie an einer Station zu erkennen, heißt geradezu, die betreffende Aussage an dieser Station zu falsifizieren. Dies ist aber der Annahme zufolge unmçglich. Stufe 3: Wenn die betreffende Tatsache berhaupt erkannt werden sollte, wre es nur dadurch mçglich, dass man von dem zeittranszendenten Standpunkt aus alle Stationen des ganzen Baums der Verifikationsrouten durchschaute und damit feststellte, dass die betreffende Aussage an keiner Station der tatschlichen sowie mçglichen Verifikationsrouten verifiziert wird. Stufe 4: Eine solche Erkenntnis wird aber in ZN in keinem Sinn fr „mçglich“ gehalten, weil der zeit-transzendente Stanspunkt in ZN nicht gestattet wird.541 Daraus folgt, dass es fr keine Aussage erkennbar ist, dass sie weder verifizierbar noch falsifizierbar ist. Dies erregt eine Spannung zu (a). Denn (b) sagt, dass der in (a) als „mçglich“ bezeichnete Sachverhalt (dass nmlich einige Aussagen auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben werden) unerkennbar ist, selbst wenn er wirklich der Fall ist. Aber einen unerkennbaren Sachverhalt dennoch als mçglichen Sachverhalt zu bezeichnen, scheint dem anti-realistischen Charakter von ZN zu widersprechen. Angesichts dessen mag man dazu neigen, (a) einfach zu verneinen. Aber dies fhrt zu einer anderen Schwierigkeit. Diese Verneinung fhrt an541 Der zeit-transzendente Standpunkt wird allerdings nicht von allen Versionen des Anti-Realismus abgelehnt. Ihn akzeptieren z. B. die peircesche Version (vgl. 7.1.2) und der „idealism“ la Van Cleve (vgl. 7.3.2).
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scheinend zur Bejahung von HO, welche nicht nur im Rahmen von ZN, sondern in jeder Hinsicht inakzeptabel wre. Es ist in jedem Fall schwer zu verstehen, wie man die Bejahung von HO berhaupt ablehnen kann, wenn es nicht gestattet wird, den Umstand, in dem HO mçglicherweise nicht gilt, selbst vorzustellen. – An dieser Stelle scheint ZN in ein Dilemma zu geraten; es scheint nmlich, dass sowohl die Bejahung als auch die Verneinung von (a) etwas fr ZN Ungnstiges ergeben. Ein verwandtes Problem tritt bei der atemporalen Konzeption der intuitionistischen Wahrheit la Dag Prawitz auf, die die Wahrheit durch atemporal, objektiv existierende Verifikationen fundiert (vgl. oben, Anm. 384 und 426). Dagegen argumentiert z. B. Dummett 1998, dass die prawitzsche Wahrheitskonzeption so etwas wie (a) (mit seinem Wort: „trichotomous conception“) zugestehen muss und deshalb mit dem Intuitionismus unvertrglich ist (ibid., S. 127 – 9). Wenn Dummett damit Recht hat, wird der Intuitionismus auf eine zeit-relative Wahrheitskonzeption (wie ZR) festgelegt. Die zeit-relative Wahrheitskonzeption ist jedoch ihrerseits problematisch, selbst im Rahmen des Intuitionismus. Ein Grund dafr, welchen Prawitz aufweist, ist, dass die zeit-relative Wahrheitskonzeption die Objektivitt der Wahrheit (die ich in 8.4.2 „Unwillkrlichkeit der Wahrheit“ nannte) verneint oder zumindest unerklrt lsst (vgl. oben, 7.1.1). Außerdem harmoniert die zeit-relative Wahrheitskonzeption auch nicht gut mit der Standard-Erklrung der intuitionistischen Ablehnung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten. Diese wird nmlich blicherweise in Rekurs auf eine eigentmliche Bedeutung der intuitionistischen Disjunktion erklrt, ohne dabei Gegenbeispiele dafr anzufhren (vgl. z. B. Heyting 1971, S. 103 f., Troelstra/van Dalen 1988, S. 10 f. und Dummett 2000, S. 11 – 3). Aber aufgrund der zeit-relativen Wahrheitskonzeption kçnnte man Gegenbeispiele leicht vorbringen: Alle bis jetzt unentschiedenen Aussagen sind Beispiele, fr die der Satz vom ausgeschlossenen Dritten jetzt nicht – somit auch nicht allgemein – gilt; dergleichen msste, wenn es berhaupt zulssig sein sollte, eine viel natrlichere Erklrung der intuitionistischen Ablehnung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten sein.542 – 542 Tomasz Placek vertritt eine zeit-relative Konzeption der intuitionistischen Wahrheit und versucht die intuitionistische Ablehnung des Satzes vom ausgeschlossenen Dritten mit Rekurs auf die „Wahlfolgen (choice sequences)“ zu erklren (vgl. ders. 1999, S. 78 f. und S. 120 – 3). Dieser Ansatz muss jedoch wesentlich unzulnglich bleiben, denn, wie Martino/Usberti 1994, S. 85, bereits vor Placek aufgewiesen hat, betrifft die intuitionistische Ablehnung des Satzes vom ausge-
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Das bisher Gesagte reicht vermutlich dafr schon aus, die zeit-relative Konzeption der intuitionistischen Wahrheit in Frage zu stellen (obschon nicht, um sie endgltig zurckzuweisen). Dies insgesamt spricht dafr, dass jeder Alternative gewisse Probleme anhaften. Ich versuche im Nachfolgenden, die zeit-neutrale Wahrheitskonzeption, die ich als ZN ausgearbeitet habe, zu verteidigen, und zwar mit einer Legitimierung vom obigen (a).543
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Ich betrachte zunchst kurz Prawitz’ Lçsungsversuch, der meines Erachtens nicht ganz erfolgreich ist. Prawitz vertritt eine zeit-neutrale Wahrheitskonzeption, weigert sich aber trotzdem so etwas wie (a) anzunehmen (um dadurch Dummetts Kritik, dass er die „trichotomous conception“ zugestehen msse, zu begegnen). Sein Grund dafr ist, dass im Rahmen des Intuitionismus aus der Annahme der Existenz einer weder verifizierbaren noch falsifizierbaren Aussage ein Widerspruch abgeleitet wird. Prawitz argumentiert weiter wie folgt: Selbst zugegeben, dass es keine Aussage gebe, die absolut unentscheidbar (d. h. weder verifizierbar noch falsifizierbar) sei [ 9x Ex], folgt daraus intuitionistisch nicht, dass jede Aussage entscheidbar sei [8x Ex], denn das Letztere bedeutet intuitionistisch, dass es eine konstruktive Methode gebe, mit der man den Wahrheitswert jeder Aussage effektiv entscheiden kçnne, was aber von dem Ersteren nicht impliziert ist (Prawitz 1998c, S. 289).544 Demnach gelangt Prawitz zu folgender Position: „The reality that is to be associated with the notion of truth that I am suggesting is thus a static one, all questions that we shall answer have already an answer, and it has no gaps. Nevertheless it is one that is not completely determined in the sense that we cannot be sure that there is an answer to every question whether a certain fact obtains.“ (Ibid.)
Wie seltsam auch dies klingen mag, so behauptet Prawitz, diese Position ist wohl verstndlich, sofern man die intuitionistische Bedeutung der logischen Konstanten festhlt.
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schlossenen Dritten auch diejenigen mathematischen Aussagen, welche nichts mit Wahrfolgen zu tun haben (Goldbachs Vermutung ist ein Beispiel dafr). 543 Oskar Becker ist ein seltenes Beispiel, das im Rahmen des Intuitionismus so etwas wie (a) als eine legitime Mçglichkeit explizit anerkennt; vgl. ders. 1927, S. 497 f. und S. 504 f., obwohl er Probleme, die dadurch verursacht werden, nicht erçrtert. Mein folgender Versuch soll Beckers Konzeption der „Trichotomie“ rechtfertigen. Ex, aber 544 Formal betrachtet, folgt aus 9x Ex intuitionistisch allenfalls 8x nicht 8x Ex.
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Ich finde diese Argumentation von Prawitz nicht erfolgreich, denn sie grndet hauptschlich auf der intuitionistischen Bedeutung des logischen Vokabulars. Das Problem liegt darin, dass seine Annahme der objektiven Existenz der Verifikationen eben das Motiv behebt, die in seiner Argumentation verwendeten Ausdrcke intuitionistisch zu verstehen. Denn dieser Annahme gemß msste man sagen – zumindest scheint es so –, dass eine Verifikation einer Aussage entweder (atemporal und objektiv) existiert oder nicht existiert, und demnach msste aus der Feststellung, dass es keine Aussage gebe, die weder eine Verifikation noch eine Falsifikation habe, ohne weiteres folgen, dass fr jede Aussage entweder eine Verifikation oder eine Falsifikation existiere. Prawitz behandelt eine derartige Kritik nicht.545 Ich versuche im Nachfolgenden, diejenige Lçsung auszuarbeiten, die nicht auf der spezifisch intuitionistischen Deutung der logischen Konstanten grndet. Das obige (b) (nmlich, dass es fr keine Aussage erkennbar ist, dass sie weder verifizierbar noch falsifizierbar ist) ist in jedem Fall unleugbar. Ich zeige nun, dass dies nicht bedeutet, dass das obige (a) fr ZN inakzeptabel ist. Dabei ist Folgendes zu beachten: Um (a) im Rahmen von ZN als eine legitime Mçglichkeit gelten zu lassen, muss man nicht annehmen, dass der in (a) als „mçglich“ bezeichnete Sachverhalt (nmlich der, dass einige Aussagen auf jeder Verifikationsroute ewig unverifiziert sowie unfalsifiziert bleiben werden) erkennbar ist (was durch (b) ausgeschlossen wird); es reicht schon aus, dass dieser Sachverhalt im Rahmen von ZN legitim vorstellbar ist; „legitim“ bedeutet hier besonders „ohne Rekurs auf den zeit-transzendenten Standpunkt“. Ich erklre, wie dies in concreto ermçglicht wird. Es ist zunchst zu bemerken, dass Folgendes auch in ZN ohne Probleme akzeptabel ist:
545 Diese Kritik ist schon von Dummett 1998 suggeriert worden (dieser Aufsatz richtet sich gegen Prawitz 1998b; Prawitz 1998c ist die Antwort darauf ): „Now if we accepted the trichotomy as a classification of the objective status of any mathematical proposition, we could not reasonably refrain from using it as a basis for giving the meanings of the logical constants; [. . .]“ (ibid., S. 128). Dummett argumentiert nmlich, dass die Trichotomie eine unvermeidliche Konsequenz aus der prawitzschen Annahme der objektiven Existenz der Verifikation ist, so dass Prawitz, seiner Ansicht entgegen, die nicht-intuitionistische Deutung der logischen Konstanten akzeptieren muss.
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(c) Fr jede Station ist es mçglich, dass einige Aussagen an dieser Station weder verifiziert noch falsifiziert sind (vgl. dies mit (a); wichtig ist die Stelle des Mçglichkeitsoperators). Denn, wenn dergleichen an einer einzelnen Station wirklich der Fall ist, ist diese Tatsache an dieser Station im Prinzip erkennbar. Soviel ist fr jede Station allgemein beweisbar, ohne Rekurs auf den zeit-transzendenten Standpunkt. Auf (c) basierend kann man sich nun folgende Situation vorstellen: Eine Aussage (z. B. Goldbachs Vermutung) sei an einer Station s1 unentschieden (d. h. weder verifiziert noch falsifiziert); sie sei auch an einer nachfolgenden Station s2 unentschieden; das Gleiche gelte auch fr s3, s4, s5, . . . usf. Dadurch stellt man sich eine potentiell-unendliche Reihe, in der diese Aussage unentschieden bleiben wird, als einen mçglichen Sachverhalt vor. Die Vorstellbarkeit dieser Reihe ist wiederum fr ZN akzeptabel, denn sie rekurriert allenfalls auf die unproblematische Mçglichkeit, nmlich (c), und die endlose Iterierbarkeit derselben.546 Trotz der Vorstellbarkeit dieser potentiell-unendlichen Reihe ist (b) immer noch in Kraft. Denn Folgendes gilt immerhin: Auch wenn das so Vorgestellte wirklich der Fall sein sollte, kann diese Tatsache niemals vollstndig erkannt werden, es sei denn, dass man vom zeit-transzendenten Standpunkt aus alle Stationen aller Verifikationsrouten durchschaut. Es ist hier besonders zu beachten, dass daraus nicht folgt, dass die so vorgestellte potentiell-unendliche Reihe im Sinne von ZN illegitim ist. Denn, obwohl diese Reihe nicht vollstndig erkennbar ist (weil sie, eben wegen ihres potentiell-unendlichen Charakters, niemals vollstndig sein kann), ist sie doch realisierbar, indem wir unsere Forschung endlos fortsetzen; diese endlose Fortsetzung ist die Realisierung der betreffenden potentiell-unendlichen Reihe. In diesem Sinn lsst sie sich selbst im Rahmen von ZN als ein mçglicher Sachverhalt gestatten.547 – Der Sachverhalt, dass eine Aussage an jeder Station unentschieden bleiben wird, ist nur dann ZN gemß 546 Die endlose Iteration kann auch im Rahmen des Intuitionismus genehmigt werden. Sonst kçnnten Intuitionisten nicht einmal von der potentiellen Unendlichkeit sprechen. Carl Posy, z. B., rekurriert ebenfalls auf eine derartige potentiell-unendliche Reihe bei seiner Erklrung der brouwerschen Unendlichkeit in ders. 2008, S, 33 f. 547 Obwohl dieses Argument hnlich wie das von Van Cleve (vgl. 7.3.2) aussieht, ist es davon in folgender Hinsicht wesentlich unterschieden: Es versucht nicht, diese endlose Fortsetzung der Forschung als eine vollstndig seiende Ganzheit zu betrachten, denn dafr bedrfte es des zeit-transzendenten Standpunktes, den ZN ablehnt.
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unmçglich, wenn darunter eine aktual-unendliche Reihe verstanden wird, an deren smtlichen Stationen die Aussage unentschieden ist. Eine solche Reihe ist fr uns unrealisierbar, ja sogar selbst nicht einmal konzipierbar ohne Rekurs auf den zeit-transzendenten Standpunkt. Damit ist gerechtfertigt worden, dass die Annahme (a) im Rahmen von ZN akzeptabel ist, sofern dabei eine oben dargestellte potentiell-unendliche Reihe der Unentschiedenheit gedacht wird. Daraus geht zugleich hervor, dass der in (a) als „mçglich“ bezeichnete Sachverhalt nicht demjenigen Fall entspricht, dass Aussagen „weder wahr noch falsch“ sind. Die in (a) vorzustellende potentiell-unendliche Reihe ist ein endloser Prozess, der niemals vollstndig gegeben wird, es sei denn, dass man ihn vom zeittranszendenten Standpunkt aus betrachtet. Man ist also, sofern man an den Grundzgen von ZN festhlt, nicht berechtigt zu sagen, dass, wenn der betreffende Sachverhalt fr eine Aussage wirklich der Fall ist, dann diese Aussage als „weder wahr noch falsch“ bestimmt ist. Um dies zu behaupten, msste man auf den zeit-transzendenten Standpunkt rekurrieren. Man kann im Rahmen von ZN nur sagen, dass in diesem Fall der Wahrheitswert der Aussage unaufhçrlich unentschieden bleiben wird, ohne dabei zu denken, dass diese „Unentschiedenheit“ ein uns vollstndig gegebenes unzeitliches Ergebnis ist. Damit ist die eingangs zusammengefasste Argumentation legitimiert worden.
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Personregister Abela, Paul 19, 33, 47, 58, 151, 170, 224, 253, 269 Adickes, Erich 43, 69, 88, 233, 347, 348f., 357, 361, 374. Allais, Lucy 16, 21, 34, 45, 49–52, 53, 60, 63, 64, 65, 69, 71, 74, 77, 87, 142–5, 167, 213, 361, 387 Allison, Henry 7, 34, 35f., 41, 43, 45, 53, 58, 60, 69, 71, 72–83, 85, 101, 133–7, 152, 161, 179, 189, 194, 215–8, 219, 223f., 226, 231, 236, 241, 242, 244, 247, 253, 334, 338, 340, 347, 375 Alston, William 62, 160, 203, 205, 207f. Ameriks, Karl 34, 42, 49, 53, 60, 69, 70, 155, 171, 182, 189, 240, 350 Aquila, Richard 34, 44, 68, 81, 171, 213, 248f., 371 Ayer, Alfred Jules 22, 26, 34, 41, 60, 65, 231 Bardon, Adrian 176, 188, 189 Barker, Stephen 89, 211, 231 Becker, Oskar 287, 405 Becker, Wolfgang 45, 203 Bennett, Jonathan 34, 44, 68, 109, 120, 140, 213, 261, 295 Berkeley, George 1, 55, 59f., 65, 164, 179, 180, 183–7, 193, 194, 199, 228 Bird, Graham 59, 73, 100, 134, 147, 168, 178, 182, 332, 361, 362f. Brittan, Gordon Jr. 28, 29, 108, 147, 157, 279 Brouwer, L. E. J. 264, 287, 407 Carnap, Rudorf
26, 34, 41, 60, 65
Collins, Arthur 3, 58, 69, 73, 170, 186, 187, 188–91 Davidson, Donald 33, 62, 160, 203 Descartes, Ren 180, 183f., 248 Devitt, Michael 14, 26, 160 Dummett, Michael 1f., 12–38, 47, 221, 263f., 311, 312, 314, 316, 386, 400, 404, 406 Engelhard, Kristina
98, 262, 277
Falkenburg, Brigitte 96, 100, 101, 104, 113, 118, 120, 134, 261 Falkenstein, Lorne 70, 193, 236, 332, 353, 361 Findlay, J. N. 374–8 Friedman, Michael 34, 296f. Gadamer, Hans-Georg 4, 6 Gram, Moltke 191, 214, 348, 351 Grier, Michelle 69, 73, 74, 79, 95, 97, 100, 104, 130, 134, 226, 340 Guyer, Paul 47, 69, 70, 79, 93, 104, 147, 214, 217, 333, 342 Hale, Bob 12, 16, 19 Hallett, Michael 107, 135f., 141f. Hanna, Robert 16, 47, 63, 68, 72, 88, 332, 336 Heidemann, Dietmar 45, 166, 181, 184 Heimsoeth, Heinz 97, 349 Heything, Arend 13, 404 Horwich, Paul 15, 36, 61, 62 Howell, Robert 47, 69, 232, 371 Kemp Smith, Norman 45, 220 Kirkham, Richard 36, 38, 62 Klemme, Heiner 68, 161, 191
424
Personregister
Langton, Rae 26, 47, 60, 69, 70, 77, 87, 91, 333, 351, 361 Malzkorn, Wolfgang 96, 99, 104, 108, 110, 113, 121, 134, 135, 258, 277, 309 Mechtenberg, Lydia 29, 33, 47, 57 Paton, H. J. 43, 69, 374, 378 Peirce, Charles Sanders 22, 33, 265 Pettit, Philip 20, 50, 54, 69, 144, 328 Pogge, Thomas 69, 79, 82, 332, 334, 340 Posy, Carl 17, 28, 45–7, 108, 109, 141, 148–50, 157, 252, 265, 287, 292, 305, 309f., 407 Prauss, Gerold 45, 64, 69, 72–4, 79, 83f., 203, 225, 226, 332, 333, 357f., 359, 361, 379 Prawitz, Dag 263f., 290, 297f., 300, 383, 384, 404–6 Putnam, Hilary 2, 22, 33, 62, 63, 188, 260, 265 Rescher, Nicholas 68, 336, 345, 351, 357f., 361 Robinson, Hoke 34, 68, 69, 72, 85f., 171, 231, 267, 277, 322–4, 375 Rogerson, Kenneth 45, 69, 74, 77 Rosefeldt, Tobias 21, 49–52, 53, 60, 65, 69, 71, 74, 77, 172–5, 240–5
Schulting, Dennis 55f., 68, 70, 74, 371 Sellars, Wilfrid 69, 347 Strawson, Peter F. 20, 33, 47, 68, 70, 96, 104, 109, 113, 191, 333 Tennant, Neil 17, 263, 322, 328, 400 Turbayne, Colin 44, 68, 191 Vaihinger, Hans 41, 348, 352 Van Cleve, James 34f., 44, 45, 47, 68, 171, 203, 205, 208f., 213, 216, 228, 252, 261, 270f., 289, 293, 295–8, 318, 328, 352f., 374, 375, 378, 403, 407 van Fraassen, Bas 29, 61 Walker, Ralph 36, 45, 55, 62, 63, 68, 88, 265, 374, 380 Watkins, Eric 76, 232, 352, 377 Westphal, Kenneth 47, 70f., 72, 79, 333, 347, 368 Willaschek, Marcus 14f., 26, 65, 73, 74, 77, 80f., 160, 338, 340, 342, 347, 357, 360, 361, 371 Wood, Allen 55f., 67, 69, 75, 98, 103, 154, 221, 230, 232, 233, 247 Wolf, Sebastian 262f., 277, 247 Wright, Crispin 9, 12, 14, 15, 16, 17, 20, 21, 23, 36, 62, 144, 260, 265, 266, 273, 292, 296, 311, 324–9, 331, 386, 400
Sachregister Affektion 48, 54, 67, 80, 82, 84, 86, 189, 301, 332–96, 399 Anfechtbarkeit (defeasibility) 267f., 272f., 321–32 Anti-Realismus (Definition) 13–5, 17–26 quivalenzthese 18, 26, 36, 37, 62, 260, 268, 328f. Argumentation K 165, 195f. Argumentation L 204f., 366f., 372 Argumentation T 355–9, 366f., 369 Avatar 393f.
empirisches/noumenales Selbst (Definition) 240 Endlichkeit (Definition) 106 entscheidbar/unentscheidbar 25, 30f., 284, 386, 405 Exegese/Fortentwicklung 5f., 16, 47, 70, 333, 351 Externalismus 173, 177
Bedingungsreihe (Definition) 96 – zeitliche – (Definition) 109 – rumliche – (Definition) 114f. – mereologische – (Definition) 118 – kausale – (Definition) 125 – modale – (Definition) 127 Begriffsschema 380f. Bivalenzprinzip 17, 27–32, 63, 108f., 156–8, 268, 269, 272, 302f., 305, 307–11, 328, 385, 402–8
God’s-eye view 269 Goldbachs Vermutung 303, 405, 407
Common Sense 11, 13, 15, 37, 59, 79, 138, 146, 152, 251, 268, 296 Determinationsthesis 373, 378–83, 385f., 388f. Determinismus 247, 272, 307–10, 379, 396 Doppelcharakter des Ichs 245–50, 392–6 effektiv entdeckbar 284, 301, 304 Eliminativismus 14, 180, 315
Falschheit (Definition) 30, 302 Freiheit 76, 125–7, 129f., 246f., 345, 364, 395f.
hilbertscher Optimismus
25, 31, 33,
302, 402
Idealismus 1, 2f., 91, 186 – materialer/empirischer/skeptischer/ dogmatischer – 59f., 179–81 – – im Sinne Van Cleves 35, 295–7, 318, 403 Idealitt der Formen/der Gegenstnde 40, 41–3, 153–5, 191–4, 239f. indirekter Beweis 98–102, 221f. indirekte Rechtfertigung 160, 190f., 200, 245 intentionales Objekt 34f., 44, 68, 171, 204, 238 Intuitionismus 13, 24, 29f., 33, 136, 140f., 221, 263f., 284, 287, 289, 297, 299f., 383f., 386–8, 402–8 Isomorphie/strukturelle Entsprechung 23f., 43f., 373–8, 393
426
Sachregister
Kategorie 7, 40, 77, 153, 162, 168, 191, 206, 219, 348, 354, 356f., 361, 365, 367, 368–72, 390f. Kausalschluss 165, 168, 170, 196–200, 206, 308, 577f. Konstruktivismus 24, 64, 386 Kontraintuitivitt 5, 15, 28, 137, 138, 146f., 187, 260, 268, 401 Kripke-/Beth-Modell (fr die Semantik der intuitionistischen Logik) 149, 292 Kriterium 33, 29, 37f., 54, 173, 185, 192f., 197, 208, 222, 241, 301, 324, 394f. Logik – klassische – 28, 46, 62, 108, 111, 118, 121, 268, 303, 388 – intuitionistische – 29, 30, 46, 108, 118, 121, 148f., 286, 292, 301–3, 305, 328, 388, 402–8 – freie – 28, 168 logisches Konstrukt 34f., 44, 68, 171 logischer Positivismus 33, 41f. magnetische Materie 60f., 300 Mitsubjekt 314–21, 325f. Nominalismus Ontologie
198 7f., 18f.
Phnomenalismus 1, 13, 41, 46, 73, 171, 269, 397 phnomenalistische Interpretation 33–5, 44f., 55, 59, 60, 64f., 68, 71, 75, 77, 91, 140f., 149, 178, 186, 194, 209, 213, 223f., 252 Platonismus (in der Mathematik) 13, 29f., 263 pretablierte Harmonie 24, 167, 355 Problem der Verifikationssubjekte 271, 272, 312–21 rationale Kosmologie 146, 150–2
43, 95–7,
rationale Rekonstruktion 6, 57, 82, 227f., 232f., 245, 333, 336, 344, 351, 359, 368 raumzeitbezgliche Aussage (Definition) 43 raumzeitlicher Gegenstand (Definition) 11 Realismus 1f., 13–5, 17–26 – empirischer – 57–9, 75f., 160, 166, 190–2, 220 – direkter – 170, 177, 200f., 206 – indirekter – 198–201 – interner – 22, 33, 188 – wissenschaftlicher – 60f. Regressus in infinitum/in indefinitum 278–86, 304–6, 308–10, 312, 320, 329, 331 response-dependence 20f., 69, 144 Rezeptivitt 82, 191, 220, 345–9, 350–60, 378f., 391, 399 Satz vom ausgeschlossenen Dritten 29, 63, 107f., 111, 156f., 268, 297, 310, 404 Schein 49–51, 75, 240–5 „Short Argument“-Herausforderung 42, 155, 240 sinnliche Materie (Definition) 345 Sinnlichkeit 39f., 48, 74, 77, 78, 191f., 229 Skeptizismus 15, 65, 159f., 177, 180, 187, 208, 210 Solipsismus 210f., 312, 315–8, 321, 391 Spontaneitt 84, 191, 282, 346, 350–8, 379–83, 386, 391, 399 strittige Klasse (disputed class) 13f., 23, 28, 39, 43, 151, 260, 297, 373 Superassertibilitt (superassertability) 23, 265, 292, 324–32, 389 super-task 140, 285, 297, 301 Transzendentale sthetik 99, 112, 154f., 162, 175, 191, 193f., 221, 227, 234–45, 344, 365
Sachregister
Transzendentale Deduktion 39, 175, 203, 213, 246, 338, 354, 364, 369, 371f., 374, 380, 399, Unendlichkeit 25f., 106f., 253 – aktuale – 107, 110–2, 122f., 141f. 155, 256, 259, 261, 285, 290–300, 306, 318f., 329f., 388 – potentielle – 98, 107, 111, 141f., 261–4, 285f., 288f., 298–300, 306, 318f., 330, 407f. Unerkennbarkeit der Dinge an sich 53, 72, 82, 162, 238, 335, 348, 360–71, 376, 390, 391, 394 unmittelbare Wahrnehmung 58, 165f., 169–72, 176f., 179, 184, 195f., 198–201, 220f. Unwillkrlichkeit der Wahrheit 24, 48, 263, 354f., 379–84, 387, 401, 404 Verdrehung des Textes durch interpretatorisches „principle of charity“ 6, 91, 100, 110, 186f. Verifikationsroute (Definition) 290–3 Verifikationstranszendenz/-unabhngigkeit 19–21, 51f., 142–5, 266f., 296, 326f., 387 Versionen des Anti-Realismus 22f., 252 – peircesche Version 23, 31, 141, 143, 265–9, 324, 326f., 330, 403 – standard-phnomenalistische Version 23, 269–71, 305f., 320
427
– ZN (Zeit-neutrale Version) 261, 290–306, 307–10, 331, 384–8, 402–8 – ZN– 288–90, 298, 319f. 320f., 331 – ZN+ – ZN+ mit SA 326–31, 388f. – ZR (Zeit-relative Version) 260f., 273–86, 288, 306, 312, 384, 385, 404 – ZR+ 312, 321, 331, 388f. – ZR+ mit SA 331, 388f. Wahrheitstheorie – Deflationismus 18, 36f. – Kohrenztheorie 36f., 45, 63, 205, 210 – Korrespondenztheorie 36f., 61–3, 203, 205, 208 Wahrheitskonzeption 18, 36 zeit-transzendenter Standpunkt 296–8, 318f., 385, 403, 406–8 Zwei-Aspekte-Interpretation/Lehre 67, 247–9, 392, 396 – metaphysische – 48, 69–72, 74f., 80f., 85–9, 154, 244, 336f., 378 – methodologische – 70f., 72–84, 227, 247, 334, 336, 340f., 359 – realistische – 47–56, 71f., 86, 89, 142, 154, 172–5, 227, 228–33, 234, 237–44, 337, 360, 366 Zwei-Welten-Interpretation/Lehre 67f., 72, 83–9, 228–33, 238–50, 336f., 352, 356, 389, 392–6