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German Pages 274 Year 2020
Sabrina Maren Bauer Der Wahrheitsbegriff in Kants Transzendentalphilosophie
Kantstudien-Ergänzungshefte
Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger, Heiner F. Klemme und Konstantin Pollok
Band 211
Sabrina Maren Bauer
Der Wahrheitsbegriff in Kants Transzendentalphilosophie Eine Untersuchung zur Kritik der reinen Vernunft
ISBN 978-3-11-069777-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-069785-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-069791-9 ISSN 0340-6059 Library of Congress Control Number: 2020941528 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2021 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com
Für Marie und meine Eltern
Danksagung An erster Stelle habe ich Herrn Prof. Anton Friedrich Koch zu danken, dessen eigene philosophische Arbeit mich zu diesem Projekt inspiriert hat, und Herrn Prof. Dietmar Heidemann, ohne dessen profunde Kenntnisse der kantischen Philosophie im Kontext alternativer philosophischer Theorien und Interessenahme an dem Projekt es mir nicht mögliche gewesen wäre, die Details der Argumentation zu entwickeln. Von beiden habe ich sehr viel gelernt und von den zahlreichen Gesprächen, die ich mit ihnen führen durfte, enorm profitiert. Für ihre fortwährende Unterstützung und Geduld in dieser Zeit, die inspirierenden Anregungen und instruktiven Erklärungen, die mir vieles aufgeschlossen haben, das Zutrauen, das sie mir entgegengebracht haben, und die Freundlichkeit, die es mir leicht gemacht hat, mich mit Fragen an sie zu wenden, möchte ich mich an dieser Stelle ganz herzlich bedanken. Herrn Prof. Dietmar Heidemann möchte ich darüber hinaus für seine Freundlichkeit, Großzügigkeit und umsichtige Gastfreundschaft während meines Aufenthalts an der Université du Luxembourg danken, die in der langen Liste der Gründe an erster Stelle zu nennen ist, weshalb ich die Zeit dort sehr genossen habe. Meinen Dank möchte ich an dieser Stelle auch Herrn Prof. Axel Hutter bekunden, der mir den Weg in die Promotion in München ermöglicht hat und mir immer eine Quelle philosophischer Denkanstöße war und bleiben wird. Außerdem bin ich meinen Freundinnen und Freunden in Dankbarkeit verbunden, die mich bei der Fertigstellung der Arbeit in vielerlei Hinsicht unterstützt haben. Ganz besonders dankbar bin ich meinem lieben Freund Aljoscha Beck für die detaillierte Sichtung und Kommentierung des Manuskripts. Seine Hinweise waren von großem Wert, um die einzelnen Kapitel in ihren Unterteilungen argumentativ zu strukturieren und haben mich vor so manchen misslichen Formulierungen und Verkürzung bewahrt. Nicht nur im Hinblick auf die Darstellung, sondern auch zur inhaltlichen Klärung waren seine Anmerkungen extrem hilfreich. Ich danke außerdem von Herzen Elena Stingl, Nina Kemper und Oliver Motz für die mühevolle Sichtung und Kommentierung einzelner Kapitel sowie Martin Schmidt für das umsichtige Lektorat der Einleitung und des Fazits. Ihre Hinweise waren von unschätzbarem Wert, um die Textqualität zu verbessern. Außerdem möchte ich Sebastian Bürkle für die Kommentierung des vierten Kapitels und die anregende Diskussion der transzendentalen Deduktion danken. Beides war äußerst gewinnbringend zur Klärung meiner Argumente. Meinen tief empfunden Dank möchte ich schließlich meiner Familie aussprechen, die mich in jeder Hinsicht nach Kräften unterstützt hat und nie den Glauben an das Projekt verloren hat, auch als ich längst keine Kraft mehr hatte. https://doi.org/10.1515/9783110697858-002
VIII
Danksagung
Ohne ihre Geduld, ihr Zutrauen und Interesse hätte ich die Arbeit nicht schreiben können. Vor allem für die nie versiegende moralische Unterstützung danke ich ganz besonders herzlich meiner klugen Schwester Marie, die mich von Zeit zu Zeit daran erinnert hat, worum es geht. Zu danken habe ich außerdem der Studienstiftung des deutschen Volkes für die Förderung meines Promotionsvorhabens, die es mir erlaubt hat, mich diesem vollumfänglich zu widmen und Frau Prof. Andrea Kern und Herrn Prof. James Conant, die mir mit der Gewährung eines Forschungsstipendiums des Forschungskollegs Analytical German Idealism die Fertigstellung der Arbeit ermöglicht haben sowie besonders Herrn Prof. Sebastian Rödl, der mir die Möglichkeit eröffnete, nach Leipzig zu kommen. Ihnen danke ich herzlich für die ertragreiche Zeit, die dort verbringen durfte. Der Graduiertenakademie der Universität Heidelberg sowie der Université du Luxembourg möchte ich schließlich für die großzügige Unterstützung bei der Publikation dieser Arbeit danken.
Inhalt Zitierweise und Abkürzungen Siglen
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Einleitung 1 1 Thematische Einführung Forschung 3 3 Zum Forschungsstand Thema und Aufgabenstellung Struktur und Methode 8
Die Kritik der reinen Vernunft als neuartige epistemologische 11 Transzendentalphilosophie Die überlieferte Transzendentalphilosophie „der Alten“ und Wolffs 12 12 Die Transzendentalphilosophie „der Alten“ Wolffs Transzendentalphilosophie 14 18 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie Transzendentalphilosophie als Kritik der reinen Vernunft 21 Genesis und Geltung: Die zwei Aspekte der transzendentalen 28 Erkenntnis Die Sinne des kantischen Transzendentalen in ihrem internen 34 Zusammenhang Die Wahrheitsfrage als spezifisches Problem des Erkenntnisvermögens 42 Das wahrheitstheoretische Desiderat der kantischen 48 Transzendentalphilosophie Rationalismus 49 53 Empirismus 59 Kant Fazit 61
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Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) 63 Logik Die Einführung der Wahrheitsfrage im Text der KrV 63 Die Funktion des Textabschnitts zur Wahrheitsproblematik in der KrV 68
X
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Inhalt
Die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ als Frage an die formale Logik 72 74 Eine unnötige Antwort geben 78 Eine Antwort schuldig bleiben Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus 83 Kritik eines nicht-epistemischen Wahrheitskriteriums am Beispiel 86 des metaphysischen Realismus Die Verfehlung der Begriffsanalytischen 88 Wahrheitsauffassung Der illegitime Gebrauch der formalen Logik: Der dialektische Schein 92 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der 95 Wahrheit“ Die formal-logische Wahrheit 97 103 Die transzendental-logische Wahrheit Fazit 113
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115 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens Zwei monistische Konzeptionen des Erkenntnisvermögens 119 Die empiristische Variante einer monistischen Konzeption des 121 Erkenntnisvermögens Die rationalistische Variante einer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens 125 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand 130 Die Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle: Die „metaphysische Erörterung“ von Raum und Zeit 132 Die Synthesis-Lehre 140 Die „metaphysische Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe 144 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen 152 Idealismus Der transzendentale Idealismus 153 161 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens Fazit 169
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172 Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Denken Vorbemerkungen zur transzendentalen Deduktion 174 Die doppelte skeptische Gegnerschaft 175 Transzendentale vs. empirische Deduktionen 180 Juridischer vs. logischer Deduktionssinn 183
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Inhalt
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Ostensive vs. apagogische Beweise 184 Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als kantischer Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus 188 Zu den §§ 15 – 20: Der erste Beweisschritt 190 Einordnung des bis §20 erzielten Resultats und Entwicklung des 194 Desiderats für den zweiten Beweisschritt Zu den §§ 22 – 26: Der zweite Beweisschritt 201 Einordnung des Resultats der transzendentalen Deduktion 208 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung durch den 217 transzendentalen Idealismus Problemexposition: Der scheinbare Selbstwiderspruch der Vernunft 218 Kants erkenntniskritische Auflösung der Antithetik reiner Vernunft 226 237 Abschließende Bemerkung Fazit 239 Schlussbetrachtung
241
246 Literaturverzeichnis Nach Kurztiteln und Abkürzungen zitierte Werke Weitere Literatur 246 Personenregister Sachregister
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246
XI
Zitierweise und Abkürzungen Die Werke klassischer Autoren werden bei häufiger Nennung nach Abkürzungen, ansonsten nach Kurztiteln zitiert. Folgende Abkürzungen werden verwendet: AA
= Kant: Gesammelte Schriften. (Unter Angabe der Seitenzahl der Akademie-Ausgabe der kantischen Schriften, zusätzlich verwendete Abk.: KU = Kritik der Urteilskraft, KpV = Kritik der praktischen Vernunft, Preisschrift = Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, De Mundi = De Mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis, Prolegomena = Prolemenomena zu einer künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können, Logik = Immanuel Kant’s Logik. Ein Handbuch zu den Vorlesungen [Jäsche]) Cos = Wolff: Cosmologia Generalis. Methodo scientifica pertractata, qua ad soidam, inprimis dei atque naturae, cognitionem via sternitur (unter Angabe der Paragraphen). DM = Wolff: Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (unter Angabe des der Paragraphen). EHU = Hume: An Enquiry concerning Human Understanding (unter Angabe des Abschnitts, Teils und Absatzes). Essay = Locke: Essay Concerning Human Understanding (unter Angabe der Bücher, Kapitel und Paragraphen). KrV = Kant: Kritik der reinen Vernunft (A = erste 1. Auflage 1781, B = 2. Auflage 1787). LO = Wolff: Philosophia Prima sive Ontologia (Lateinische Ontologie) (unter Angabe des Paragraphen). M = Sextus Empiricus: Gegen die Dogmatiker. Adversus mathematicos libri 7 – 11 (unter Angabe des Buches und des Abschnitts). Met = Baumgarten: Metaphysica (unter Angabe des Paragraphen). Meta = Aristoteles: Metaphysik (unter Angabe des Buches, Kapitels und der Seitenzahl). Mon = Leibniz: Monadologie (unter Angabe des der Paragraphen). PH = Sextus Empiricus: Grundriß der pyrrhonischen Skepsis (unter Angabe des Buches und Abschnitts). Théo = Leibniz: Théodicée (unter Angabe des Paragraphen). Treatise = Hume: A Treatise of Human Nature (unter Angabe des Buches, Teils und Abschnitts).
https://doi.org/10.1515/9783110697858-003
Siglen Begriffsanalytische Wahrheit (predicatum inest subjecto): Die Wahrheit jeder affirmativen Aussage besteht darin, dass sämtliche begriffliche Merkmale des Prädikats unter den Merkmalen des Subjekts enthalten sind. (W) „Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte, und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Diallele mußten betreffen lassen [Option 1], oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen sollten [Option 2], ist diese: W a s i s t W a h r h e i t ? Die Namenserklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei.“ (KrV A 57 f./B 82) Te-A: „Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt.“ (KrV A 11 f.) Te-B: „Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt.“ (KrV B 25) Te-S: „nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sein [sic!], transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse. […] [N]ur die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen [des Raumes und seiner geometrischen Bestimmungen] gar nicht empirischen Ursprungs sein [sic!], und d[er] Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen könne, kann transzendental heißen.“ (KrV A 56/B 80 f., Unterstreichung SB) Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz: „Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung.“ (KrV A 158/B 197) Oberstes Vernunftprinzip: „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben, (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten).“ (KrV A 307 f./B 364) Logische Maxime: „zu dem bedingten Erkenntnis des Verstandes [ist] das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird.“ (KrV A 307/B 364) T*: ⌜φ⌝ ist wahr genau dann, wenn φ.
https://doi.org/10.1515/9783110697858-004
1 Einleitung 1.1 Thematische Einführung Der Wahrheitsbegriff steht als ein Fundamentalbegriff der Philosophie seit jeher im Zentrum philosophischer Debatten. Eine folgenschwere Streitfrage ist die nach einem allgemeinen, notwendigen und hinreichenden Kriterium der Wahrheit. Als Vorläufer der pyrrhonischen Skepsis, die ausgehend von Pyrrhon von Elis (ca. 362 v.Chr.–275/70 v.Chr.) bis ins 2. Jhd. diskutiert und ausgearbeitet wurde, hatte Protagoras bereits in der Antike Zweifel an der Erkennbarkeit eines solchen Kriteriums aufkommen lassen. Protagoras’ Homo-mensura-Satz erklärt (in Platons Interpretation) jedes einzelne Subjekt zum Richter über die Wahrheit: „wie ein jedes Ding mir erscheint, ein solches ist es auch mir, und wie es dir erscheint, ein solches ist es wiederum dir. Ein Mensch aber bist du sowohl als ich“ (Platon, Theaitetos 152a).¹ Der letzte uns bekannte Vertreter der pyrrhonischen Skepsis, Sextus Empiricus, begreift Protagoras’ Homo-mensura-Satz als Vorform der skeptischen Kritik an der Erkennbarkeit der Wahrheit (M VII.60). Seiner Auffassung zufolge ist die Voraussetzung eines Wahrheitskriteriums aus prinzipiellen rechtfertigungstheoretischen Gründen aufzugeben. Schließlich sei ein Kriterium der Wahrheit, „welches zur Bestätigung der Wirklichkeit oder Unwirklichkeit herangezogen wird“, aufgrund einer methodologischen Aporie unbeweisbar (PH I.21 ff., vgl. PH II.14). Hinsichtlich der Streitfrage, ob es ein Kriterium der Wahrheit gibt oder nicht, besteht nämlich ein Begründungs-Trilemma. Mit welchem Kriterium soll die Streitfrage entschieden werden? Es ergeben sich drei Optionen, die Frage zu beantworten: 1) Wenn der Beweis ein anerkanntes Kriterium heranzieht, dann ist er zirkulär. 2) Wenn die Existenz eines Kriteriums vorausgesetzt wird, ist diese Voraussetzung dogmatisch. 3) Wenn das Kriterium durch ein anderes Kriterium begründet wird, dann ist für dieses Kriterium wieder nach einem Kriterium zu fragen und der Beweis unendlich regressiv. Also ist die Frage nach der Existenz eines Kriteriums nicht zu entscheiden, folgern die pyrrhonischen Skeptiker und
Zitiert nach: Platon 1994: 165. Den (vermeintlichen) protagoreischen Relativismus kritisiert Platon im Theaitetos. Er versucht nachzuweisen, dass sich der Satz des Protagoras selbst widerlegt, wenn er wahr wäre (170e-171c, in Platon 1994: 192 f.). Für den Hinweis auf Protagoras als Vorläufer der pyrrhonischen Skepsis danke ich Dietmar Heidemann. Die maßgebenden Thesen zur pyrrhonischen Skepsis sind Heidemanns Monographie Der Begriff des Skeptizismus entnommen (vgl. Heidemann 2007: 13 – 17, 201– 11; Heidemann 2013: 93 f.). https://doi.org/10.1515/9783110697858-005
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1 Einleitung
enthalten sich eines Urteils darüber, ob es ein Wahrheitskriterium gibt oder nicht (Epoché). Diese Position begründet die Wahrheitsskepsis, weil sie die Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs in Zweifel zieht. In der Arbeit werden zwei Arten der Wahrheitsskepsis – eine aus der empiristischen Erkenntnistheorie (WahrheitsskespisE) und eine aus der rationalistischen Theorie (WahrheitsskepsisR) – entwickelt und die KrV daraufhin befragt, wie Kant beide Varianten ausräumt und damit die Wahrheitsskepsis widerlegt.² Wenn der Ausdruck ‚Wahrheitsskepsis‘ im Haupttext ohne Spezifikation gebraucht wird, sind beide Varianten gemeint. Auch Kant kritisiert in der KrV den Versuch, ein allgemeines, notwendiges und hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis anzugeben. In der kantischen Variante betrifft das skeptische Begründungsproblem allerdings die Anwendung des Wahrheitskriteriums auf materiale Erkenntnisobjekte. Ein oder mehre logische Kriterien der Wahrheit hält Kant für sehr wohl möglich, sogar für notwendig. Kant zufolge muss nämlich „eine Logik, sofern sie die allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes vorträgt, eben in diesen Regeln Kriterien der Wahrheit darlegen“ (KrV A 59/B 83 f.). Die Wahrheitskriterien der formalen Logik betreffen nach Kant allerdings nur „die Form der Wahrheit, d. i. des Denkens überhaupt“, weshalb sie zwar notwendige Kriterien der Wahrheit sind, aber keine hinreichenden. Wahrheit versteht Kant nämlich mit der Tradition als „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (KrV A 58/B 82) und eine Erkenntnis, die der logischen Form völlig gemäß ist, kann immer noch dem Gegenstand widersprechen (vgl. KrV A 59/B 84). Der Empirismus hält den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff für nicht erfüllbar (WahrheitsskepsisE) und der Rationalismus begreift ihn auf falsche Weise als erfüllt (WahrheitsskepsisR).³ In der vorliegenden Arbeit wird demonstriert, dass Kant in der KrV die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis durch den apriorischen Ausweis der Wahrheitskriterien synthetischer Urteile gegen diese zwei Arten der Wahrheitsskepsis sichert. Deutlich wird, dass Kant mit der Kritik der reinen Vernunft der Metaphysik eine epistemologische Transzendentalphilosophie vorordnet, die den Satz vom Widerspruch, der in einem zu klärenden Sinn das transzendentale Prinzip analytischer Urteile ist, um ein transzendentales Prinzip synthetischer Urteile ergänzt und damit die Wahrheitsfähigkeit menschlicher Erkenntnis sichert. Derart werden die berechtigten wahrheitstheoretischen Ansprüche und Bedenken von Rationalismus und Em Den Ausdruck ‚Kritik der reinen Vernunft‘ werde ich im Folgenden als Begriff gebrauchen und alternierend von ‚Kritik‘ bzw. ‚Kritik des Erkenntnisvermögens‘ sprechen; den Buchtitel kürze ich mit KrV ab. Vgl. dazu 2.3.1 und 2.3.2.
1.2 Forschung
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pirismus zu einer antiskeptischen Mittelposition ausgelotet. Im Folgenden wird eine epistemologische Interpretation der KrV entwickelt, die die Erklärung, wie Wahrheit möglich ist, als zentrales Anliegen der Selbstkritik des menschlichen Erkenntnisvermögens herausstellt.
1.2 Forschung 1.2.1 Zum Forschungsstand In der Kantforschung dominiert die Ansicht, in der KrV spiele der Wahrheitsbegriff gar keine oder wenigstens keine gewichtige Rolle. Entsprechend stiefmütterlich wird die Wahrheitsthematik in den Arbeiten zur kantischen Philosophie, auch der KrV, behandelt. Knapp fallen die Kommentare aus und rar sind die Studien, die sich eingehend mit Kants Wahrheitsauffassung beschäftigen. Zwar finden sich hier und dort dezidierte Einschätzungen zu Kants in der KrV vertretenem Wahrheitsbegriff, diese sind allerdings selten Resultat einer systematischen Untersuchung der kantischen Argumentation mit Blick auf die Frage, welchen Beitrag die einzelnen Argumentationsschritte der KrV zur Erklärung der Wahrheit leisten, sondern werden eher en passant ausgesprochen. Ferner ist festzustellen, dass keine Einigkeit darüber herrscht, welchen Wahrheitsbegriff Kant vertritt: Einige vertreten die Auffassung, Kant verstehe Wahrheit korrespondenztheoretisch, andere meinen, sein Wahrheitsbegriff sei kohärenztheoretisch.⁴ Die beiden deutschsprachigen Monographien, die eine wahrheitstheoretische Perspektive für die Interpretation der KrV wählen, zeugen von der gespaltenen Interpretationslage:⁵ Thomas Scheffer entwickelt in Kants Kriterium der Wahrheit (Scheffer 1993) eine Interpretation, deren Hauptthese besagt, Kant habe eine
Kemp Smith bspw. schreibt in seinem Kommentar zur KrV: „Kant is the real founder of the Coherence theory of truth“ (Smith 1984: 36). Auch Thomas Scheffer und Ralph Walker sehen in Kant einen Vertreter der Kohärenztheorie der Wahrheit (vgl. Walker, Ralph Charles Sutherland 1989: 62, 68; Scheffer 1993: insbes. 231). Nicolas Rescher vermutet Kants Kritik des Dinges an sich habe Anlass gegeben, die Konzeption der Adaequatio intellectus et rei aufzugeben und eine Wahrheitstheorie jenseits der Korrespondenz zu suchen (Rescher 1992: 346). Auch Gerold Prauss ist der Auffassung, die Korrespondenztheorie der Wahrheit müsse mit Kant in eine Kohärenztheorie umschlagen (Prauss 1993: 168). U. a. Gudrun Schulz, Thomas Nenon und Robert Hanna meinen dementgegen, Kant sei den Korrespondenztheoretikern der Wahrheit zuzuordnen (vgl. Schulz 1993; Hanna 2000; Nenon 1986). In Kapitel 2 (Scheffer) und Kapitel 4 (Nenon) erfolgt eine nähere Abgrenzung von beiden Deutungsvorschlägen.
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1 Einleitung
mentalistische Variante der Kohärenztheorie der Wahrheit entwickelt. Er vertritt die Auffassung, für Kant sei das kohärente Erleben die generell hinreichende Bedingung, „jedes wahre Urteil“ auszuzeichnen (vgl. Scheffer 1993: 3). Die Erfüllung der in der transzendentalen Logik entwickelten allgemeinen Wahrheitsbedingungen und die hinzutretenden besonderen Bedingungen konkreter Wahrnehmungssituationen müssen Scheffer zufolge nicht selbst noch einmal durch weitere Erkenntnisurteile festgestellt werden, sondern sollen dem Erkenntnissubjekt unmittelbar kriterienlos bewusst sein (vgl. Scheffer 1993: 3). Dagegen ist allerdings einzuwenden, dass es kein bewusstseinsimmanentes Kriterium für das Vorliegen von Standardbedingungen der Wahrnehmung gibt und der empirische Irrtum daher nicht a priori ausgeschlossen werden kann. Die besonderen Wahrheitsbedingungen eines empirischen Urteils sind gerade Bedingungen der Korrespondenz der Vorstellung mit dem vorgestellten Objekt. Daher kann der logische Sinn des Wahrheitsbegriffs als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand nicht ersetzt werden. Thomas Nenon insistiert in seiner wahrheitstheoretischen Interpretation der KrV in Objektivität und endliche Erkenntnis (Nenon 1986) darauf, dass Kant einen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff vertritt. Er betont, dass die Bedeutung der Anschauung für Kant feststeht und die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand keinesfalls durch ein anderes Kriterium supplementiert werden kann. In seiner korrespondenztheoretischen Interpretation der KrV forciert er die empirische Wahrheit als Zielpunkt der kantischen Kritik reiner Vernunft und stellt heraus, dass die empirische Wahrheit für Kant Wahrheit schlechthin sei (vgl. Nenon 1986: 66). Die transzendentale Wahrheit interpretiert Nenon als eine Vorbedingung der empirischen Wahrheit, aus der sie ihre „sekundäre“ Gültigkeit ableite (vgl. Nenon 1986: 61). Zu kritisieren ist, dass die fundamentale Bedeutung der thematischen transzendentalen Wahrheit der KrV im Lichte seiner Interpretation nicht erfasst werden kann. Denn diese lässt außer Acht, dass Kant in der KrV das Legitimierungsverhältnis von der in der transzendentalen Analytik thematischen transzendentalen Wahrheit und der empirischen Wahrheit genau umgekehrt beschreibt. Im Gegensatz zu Nenon wird diese Arbeit darlegen, weshalb Kant das Fundierungsverhältnis von transzendentaler und empirischer Wahrheit in dieser Richtung fasst und dies als unabdingbare Notwendigkeit herausstellen, um die Wahrheitsskepsis abzuweisen. Obwohl Gerold Prauss die Wahrheitsthematik in der KrV bereits im Jahr 1969 mit seinem Aufsatz Zum Wahrheitsproblem bei Kant (Prauss 1969) zur Diskussion gestellt hat, sind Arbeiten, die den Wahrheitsbegriff als Thema der kantischen
1.2 Forschung
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Transzendentalphilosophie herausstellen, nach wie vor die Ausnahme.⁶ Neben den erwähnten wahrheitstheoretischen Interpretationen der KrV in Form von Monographien von Scheffer (Scheffer 1993) und Nenon (Nenon 1986) haben im deutschsprachigen Forschungsraum in Form von Aufsätzen Heino Hofmeister (Hofmeister 1972), Manfred Baum (Baum 1983) und, mit besonderem Augenmerk auf die transzendentale Deduktion, Reinhard Hiltscher (Hiltscher 1993) und Wolfgang Ritzel (Ritzel 1981) den Wahrheitsbegriff als Thema der kantischen Transzendentalphilosophie behandelt. Baum stellt in seiner Arbeit zu Kants transzendentaler Beweisführung mit Blick auf die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe fest, dass die Frage nach der Möglichkeit einer notwendigen Übereinstimmung der Erkenntniselemente – Anschauung und Begriff – „nichts anderes ist als die Frage nach den Gründen der Gewissheit der Wahrheit unserer Erkenntnis“ (vgl. Baum 1975: 65) und gibt damit das entscheidende Stichwort zu einer wahrheitstheoretisch geleiteten Interpretation der KrV. Hans Wagner hat im Zuge seiner Untersuchung des Verhältnisses von transzendentaler und formaler Logik auf die Novität der synthetischen Wahrheitsbedingungen, die Kant in der KrV entwickelt, hingewiesen, wobei allerdings der Zusammenhang der Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile mit der logischen Erklärung der Wahrheit als Übereinstimmung einer Erkenntnis und ihres Gegenstandes im Dunkeln bleibt (vgl. Wagner 1977: 74). Diesen Zusammenhang aufzuklären, ist ein zentrales systematisches Anliegen dieser Arbeit. Dabei wird sich die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens, d. h. dass die menschliche Erkenntnis aus einem Zusammenspiel von rezeptiver Sinnlichkeit und spontanem Verstand, denen beiden reine Formen eignen, resultiert als die entscheidende Einsicht Kants in der Fortentwicklung des Wahrheitsverständnisses erweisen. Auch Henry Allison betont die fundamentale Bedeutung der kantischen Theorie von Raum und Zeit als Formen der menschlichen Anschauung für das epistemologische Programm der KrV (Allison 2006). Er unterstreicht die argu-
Schon Friedrich Maywald hatte in einem kurzen Aufsatz zu Beginn des 20. Jhd. auf die Virulenz der Wahrheitsthematik in Kants transzendentaler Logik hingewiesen (Maywald 1912). Monographien, die die Wahrheitsthematik in Zusammenhang mit Kants Transzendentalphilosophie bringen, sind Anton Friedrich Kochs Subjekt und Natur (Koch 2004) und Hans-Peter Falks Wahrheit und Subjektivität, allerdings unter einer sprachphilosophischen Perspektive (Falk 2010). Auch in Versucht über Wahrheit und Zeit (Koch 2006) finden sich instruktive Hinweise auf eine wahrheitstheoretische Interpretation der KrV, ohne dass es sich bei dem Werk um eine Interpretation der KrV im engeren Sinn handelt. Im anglophonen Forschungsraum hat Timothy Rosenkoetter den Zusammenhang zwischen Kants transzendentaler Logik und der Frage nach Wahrheitskriterien zum Thema eines Aufsatzes gemacht (Rosenkoetter 2009) und Robert Hanna hat Kants Wahrheitstheorie in Zusammenhang mit der kantischen Erkenntnistheorie gebracht (Hanna 2000).
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1 Einleitung
mentationssystematisch zentrale Funktion, die Kants Lehre von den reinen Formen der Sinnlichkeit im Zusammenhang mit seiner revolutionären Erklärung spielt, wie der diskursive menschliche Verstand erkenntnisfähig ist. R. Lanier Anderson untersucht die historischen Wurzeln der diskursiven Verstandesauffassung in der zeitgenössischen Schulphilosophie, insbesondere bei Christian Wolff und dessen Schülern (Anderson 2015). Er zeigt, wie Kant in Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Auffassung des diskursiven Verstandes, die die analytische Begriffstheorie mit einer bestimmten, rationalistischen Auffassung von Logik, Erkenntnistheorie und Metaphysik verbindet, Kant die Notwendigkeit einer neuen philosophischen Methodologie vor Augen stellte, die dazu geeignet ist, synthetische – insbesondere (mathematische und) metaphysische – Wahrheiten zu erfassen, d. h. solche, die nicht durch Begriffsanalyse einzusehen sind. Im Folgenden wird Kants Kritik des Rationalismus (der logische und materiale Wahrheit in einer begriffsanalytischen Wahrheitskonzeption gleichsetzt) und die damit gleichsam als Kehrseite einhergehende Wahrheitsskepsis sowie deren empiristische Gegenstücke nachvollzogen, indem sämtliche Hauptabteilungen der KrV hinsichtlich ihres Beitrags zum Verständnis der nicht bloß logischen, sondern realen Wahrheitsmöglichkeit erörtert werden. Bereits Gudrun Schulz hat auf die Tatsache aufmerksam gemacht, dass mit Kants in der KrV entwickelten Erkenntnistheorie nicht, wie gemeinhin angenommen, eine Reinterpretation des traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitsverständnisses im Sinne einer Kohärenztheorie der Wahrheit verbunden ist, sondern vielmehr ein Fortschritt im Verständnis des traditionellen Adaequatio-Begriffs der Wahrheit einhergeht (Schulz 1993, bes. 7– 9, 146 – 53).
1.2.2 Thema und Aufgabenstellung Prauss hat auf zwei Punkte hingewiesen, die bereits an dieser Stelle erwähnt werden, weil sie hilfreich sind, die Wahrheitsthematik in der Prominenz sichtbar werden zulassen, die ihr im Rahmen einer Kritik der reinen Vernunft zukommt (vgl. Prauss 1969): Kants Einführung der Wahrheitsthematik in den Text der KrV ist mit zwei Schwierigkeiten behaftet, die den Blick auf die Bedeutung der Wahrheitsthematik für die Differenzierung zwischen einer „allgemeinen“ Logik, wie Kant sich ausdrückt – gemeint ist die Disziplin, die wir heute als formale Logik bezeichnen –, und einer transzendentalen Logik verstellen. Die erste Schwierigkeit betrifft die Formulierung, die Kant verwendet, um die Wahrheitsthematik expressis verbis in die KrV einzuführen: Er sagt, die „Namenserklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt und vorausgesetzt“ (KrV A 58/B 82). Diese
1.2 Forschung
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Auskunft könnte so verstanden werden, dass Kant den Wahrheitsbegriff für geklärt erachtet und im Ausgang von diesem Begriff seine Theorie entfaltet. Prauss merkt an, dass die Denkrichtung, die Kant mit dieser Frage anstößt, so gerade in ihr Gegenteil verkehrt zu werden droht (vgl. Prauss 1969: 179 – 82). Die zweite Schwierigkeit betrifft einen wahrheitstheoretischen Punkt: Wahrheit wird meist strikt im Gegensatz zur Falschheit verstanden. Wahrheit in Opposition zu Falschheit kann allerdings kaum Thema einer transzendentalen Logik sein. Denn eine Logik kann als apriorische Lehre vom richtigen Verstandes- und Vernunftgebrauch nur in einem Sinn von Wahrheit handeln, der den Sinn, in dem sie der Falschheit opponiert, transzendiert. Im Zuge der Arbeit wird sich zeigen, dass der transzendentalen Wahrheit in Kants epistemologischer Ausdeutung dieses Begriffs auf fundamentalem Niveau nicht Falschheit opponiert, sondern transzendentaler Schein. In Anbetracht der Tatsache, dass Kants in der KrV vertretene Wahrheitsauffassung bisher selten und zudem mit widersprüchlichen Resultaten thematisiert wurde, hat die Klärung des kantischen Wahrheitsverständnisses als Desiderat der Forschung zu gelten. Die vorliegende Arbeit entwickelt eine wahrheitstheoretische Interpretation der KrV und möchte so einen Beitrag liefern, diesen dunklen Fleck der Kant-Forschung auszuleuchten. Als Indiz für die Tragfähigkeit einer wahrheitstheoretisch motivierten Lektüre des Textes sei bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass Kant in der KrV das Erkenntnisvermögen einer immanenten Kritik unterzieht, die nach der Rechtmäßigkeit erhobener Erkenntnisansprüche fragt. Das bedeutet: Sie handelt von der wahrheitsfähigen Bezugnahme auf Objektivität und ihrer Grenze. Bei einem solchen Unterfangen macht es einen gewichtigen Unterschied, was Wahrheit bedeutet: Wird sie als Kohärenz gefasst, ist die Widerspruchsfreiheit das bewusstseinsimmanente Kriterium wahrer Erkenntnis. Bedeutet Wahrheit hingegen Korrespondenz einer Erkenntnis mit ihrem Objekt, ist die Bedingung wahrer Erkenntnis eine Relation zwischen einer mentalen Entität (Erkenntnis) und ihrem Objekt und es ist zunächst gar nicht abzusehen, wie die so verstandene Wahrheit erkannt werden kann. Das Thema der Arbeit ist der Wahrheitsbegriff der kantischen Transzendentalphilosophie, nicht der Wahrheitsbegriff als solcher. Die kantische Frage nach der Möglichkeit eines synthetischen Apriori soll als Frage nach den transzendentalen Prinzipien synthetischer Urteile verfolgt und die Argumentation der KrV als Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus in wahrheitstheoretischer Perspektive rekonstruiert werden. Welchen Beitrag Kants in der KrV entwickelte wahrheitstheoretische Einsichten zur Aufklärung des Wahrheitsbegriffs im All-
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1 Einleitung
gemeinen leisten können, wird nicht explizit erörtert.⁷ Der systematische Anspruch dieser Arbeit liegt darin, die Rolle der Wahrheitsthematik in den entscheidenden Schritten der kantischen in der KrV entwickelten Argumentation herauszuarbeiten und zu erörtern, welchen Beitrag die einzelnen Schritte zur Erklärung der Wahrheit leisten. Weder Nenons noch Scheffers wahrheitstheoretische Interpretationen der KrV leisten eine historische und systematische Verortung der Kritik der reinen Vernunft als antiskeptischem Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus, die als zwei wahrheitsskeptische Positionen begriffen werden (WahrheitsskepsisE und WahrheitsskepsisR). Diese Arbeit versucht hingegen Kants in der KrV entwickelte Theorie der transzendentalen Wahrheit als Scharnier zwischen materialer (empirischer) Wahrheit und formaler (logischer) Wahrheit auszuweisen und so die Funktion der kantischen Transzendentalphilosophie zur methodologischen Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft in ihrer doppelten antiskeptischen Stoßrichtung zu erfassen.
1.3 Struktur und Methode Entgegen der verbreiteten Tendenz, den Wahrheitsbegriff bei der Interpretation der KrV in den Hintergrund treten zu lassen, wird im Folgenden deutlich, dass sich zentrale Philosopheme der KrV gerade in wahrheitstheoretischer Perspektive erschließen. Gezeigt werden soll, dass die Wahrheitsthematik in der KrV omnipräsent ist, obgleich der Wahrheitsbegriff an der Textoberfläche nur in sehr begrenztem Umfang Thema ist. In systematischer Hinsicht zielt die Arbeit darauf ab, entscheidende Schritte im Argumentationsgang der KrV aus wahrheitstheoretischer Warte auszuweisen. Im Endergebnis soll die Wahrheitsfrage als Schlüssel zum adäquaten Verständnis der KrV erwiesen werden. Die Arbeit ist in vier Kapitel gegliedert. Die exegetische Leitthese lautet: Die argumentativen Schritte der KrV sind im Kontext ihrer wahrheitstheoretischen Motivation zu verstehen. Um dies zu verdeutlichen, wird zunächst in Kapitel 1 nach dem Charakter der Kritik der reinen Vernunft als der kantischen Gestalt der Transzendentalphilosophie gefragt. Dann wird eine epistemologische Interpretation der KrV, die den Wahrheitsbegriff ins Zentrum rückt, motiviert und, mit Blick auf die rationalisti-
Die Arbeit versucht einen Beitrag zur Interpretation der KrV zu leisten, nicht sich in die Debatte um den Wahrheitsbegriff generell einzubringen. Anregungen für die moderne wahrheitstheoretische Debatte werden lediglich angedeutet (v. a. in Kapitel 2).
1.3 Struktur und Methode
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sche Erkenntnistheorie einerseits und die empiristische andererseits, zwei Varianten der Wahrheitsskepsis (WahrheitsskepsisR und WahrheitsskepsisE) vorgestellt, die eine epistemologische Fundamentalphilosophie zu widerlegen hat. In Kapitel 2 folgt eine detaillierte Analyse des Gehalts und der Funktion der Passage der transzendentalen Logik, in welcher Kant die Wahrheitsfrage expressis verbis thematisiert. Indem die wahrheitstheoretische Motivation der kantischen Transzendentalphilosophie geklärt und das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) entwickelt wird, soll das wahrheitstheoretische Desiderat der transzendentalen Logik spezifiziert werden. In systematischer Hinsicht wird die wahrheitstheoretische Insuffizienz der formalen Logik herausgestellt: Kant kritisiert mit guten Gründen die Identifikation der logischen mit der materialen Wahrheit, die der Rationalismus vornimmt. In diesem Kontext wird Kants Argumentation für die Notwendigkeit, die Wahrheitsfrage nicht in der formalen, sondern in der transzendentalen Logik zu behandeln, nachvollzogen und der Unterschied zwischen der formalen und der transzendentalen Logik erörtert. Kapitel 3 behandelt Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als die Basis, die es ihm erlaubt, den Wahrheitsbegriff im Rahmen der transzendentalen Logik als erfüllten Begriff auszuweisen. Besprochen wird Kants These von den reinen Formen der Sinnlichkeit als Grundlage der Einsicht, dass diese als irreduzible kognitive Instanz zu gelten hat. Besprochen wird außerdem Kants Argumentation für die von der Sinnlichkeit unabhängige Genese reiner Begriffe als Grundlage für Kants Auffassung, dass dieses auch für den Verstand gilt. In systematischer Hinsicht soll durch die Kontrastierung der dualistischen Konzeption Kants mit den monistischen Konzeptionen des Empirismus und Rationalismus belegt werden, dass die dualistische Konzeption den entscheidenden wahrheitstheoretischen Vorteil birgt. In Kapitel 4 wird die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe besprochen und herausgestellt, dass diese das Herzstück der antiskeptischen Argumentation bildet, die Kant in der KrV entwickelt. In systematischer Hinsicht soll geprüft werden, inwiefern mittels dieses Beweisgangs sowohl die mit dem Empirismus verbundene WahrheitsskepsisE als auch die mit dem Rationalismus einhergehende WahrheitsskepsisR ausgeräumt werden kann. Geklärt wird auch, welchen Beitrag Kants Transzendentalphilosophie zur Aufklärung des Wahrheitsbegriffs in toto zu leisten vermag. Mit Blick auf den wahrheitstheoretischen Ertrag der KrV lässt sich die Leitthese der Arbeit inhaltlich spezifizieren: Nachgewiesen werden soll, dass Kant in der KrV durch die immanente Kritik des Erkenntnisvermögens den Satz vom Widerspruch, der das transzendentale Prinzip analytischer Urteile ist, um ein transzendentales Prinzip synthetischer Urteile ergänzt, durch das die Wahrheits-
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skepsis in beiden Varianten (WahrheitsskepsisR und WahrheitsskepsisE) ausgeräumt werden kann. Textbasis der Interpretation ist in erster Instanz die KrV nach der ersten und zweiten Auflage. In Kapitel 4 wird zur Besprechung der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der zweiten Auflage der Vorzug gegeben. Auf andere Hauptschriften Kants wird ergänzend referiert, um Argumente der KrV zu stützen oder zu illuminieren. Auch Briefe und apokryphe Schriften wie die Logik werden, wo es erforderlich scheint, herangezogen. Um Gedanken der KrV in ihrem systematischen Gehalt zu klären, wird in Kapitel 2 außerdem ein Bezug zu modernen Arbeiten hergestellt, wo die Referenz geeignet ist, einen Gedanken der KrV zu verdeutlichen. Damit eine dem systematischen Anspruch dieser Arbeit entsprechende Bündigkeit in der Darstellung erreicht wird, werden Zitate, auf die mehrfach Bezug genommen wird, unmittelbar bei der Darstellung der kantischen Argumentation angeführt und mit einer Sigle versehen, sodass im weiteren Text knapp und eindeutig auf die thematische Textstelle der KrV verwiesen werden kann. Außerdem werden Siglen verwendet, um Verweise auf häufig zitierte philosophische Werke abzukürzen. Ein Verzeichnis der Abkürzungen und Siglen findet sich in dem Abschnitt zur Zitierweise, der dem Haupttext vorangestellt ist.
2 Die Kritik der reinen Vernunft als neuartige epistemologische Transzendentalphilosophie Dies unselige Wort! Diese Bezeichnung Kants, die in der Tat bei ihm, wie er darüber in der Einleitung zur Kritik redet, selbst nicht recht klar ist, ist zum wahren Popanz geworden. Alle philosophischen Schwätzer in unseren Tagen, um ihr Gerede, das sonst wohl als Unsinn erschienen könnte, als eine absonderliche Weisheit zu schildern, behaupten, daß ihre Philosophie nicht die gewöhnliche, sondern eben Transzendentalphilosophie sei. Sie wissen uns aber nicht zu sagen, was das Wort in der Tat ursprünglich bei Kant bedeutet. (Grapengießer 1878: 19)
Madame de Staël richtete 1803 an Friedrich Schiller die Frage, was denn das Wort ‚transzendental‘ bedeute, und Schiller antwortete, wer dieses Wort verstehe, verstehe auch die kantischen Schriften (vgl. Schiller 1967: 372). Der Streit um das rechte Verständnis der Termini ‚transzendental‘ und ‚Transzendentalphilosophie‘ ist so alt wie die Interpretationsgeschichte der KrV. Er stand bereits unmittelbar nach der Erstveröffentlichung dieser Schrift im Zentrum der Auseinandersetzung mit Kants kritischer Philosophie und dauert als Disput zwischen den Befürworter*innen einer metaphysischen, erkenntniskritischen oder wissenschaftstheoretischen Interpretation des Textes bis zum heutigen Tag an.¹ In Anerkennung der zentralen Bedeutung, die dem Ausdruck ‚transzendental‘ für das Verständnis der kantischen Philosophie beizumessen ist, soll zunächst der Sinn geklärt werden, in dem Kant in der KrV eine ‚Transzendentalphilosophie‘ präsentiert. Um zu verstehen, weshalb Kant diesen tradierten Begriff zur Namensgebung seiner „gantz neue[n] Wissenschaft“ (AA 10:144 f.) verwendet, soll in diesem Kapitel untersucht werden, an welche philosophische Linie Kant mit seiner Kritik der reinen Vernunft anschließt, worin seine Neuerung zu sehen ist und wie das Motiv zu dieser Neubestimmung beschaffen ist. Indem Klarheit über das Erkenntnisinteresse, die Methode und den Charakter der Kritik der reinen Vernunft als Transzendentalphilosophie gewonnen wird, soll die wahrheitstheoretische Interpretation der KrV vorbereitet werden, die in den Kapiteln 2 bis 4 entwickelt wird. Gezeigt werden soll, dass die Kritik der reinen Vernunft eine neuartige Fundamentalphilosophie ist, deren Charakter – im Gegensatz zur überlieferten Transzendentalphilosophie – nicht ontologisch, sondern epistemologisch ist. Als epistemologischer Sinn der kantischen Transzen-
Bereits Hans Vaihinger monierte vor mehr als 100 Jahren bei der Deutung des Begriffs ‚transzendental‘ die „namenlose Willkür vieler Commentatoren“ (Vaihinger 1922: 468). https://doi.org/10.1515/9783110697858-006
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dentalphilosophie und spezifische Neuerung Kants wird die Frage nach den Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile herausgestellt. Das Kapitel ist in drei Teile gegliedert: Zunächst wird in Teil 2.1 die transzendentalphilosophische Historie skizziert, um zu sehen, an welche Art von Philosophie Kant mit seiner „Transzendentalphilosophie“ in der KrV anschließt. In Teil 2.2 wird dann Kants Neubestimmung dieser Disziplin untersucht. In Teil 2.3 wird die wahrheitstheoretische (antiskeptische) Motivation dieser Neubestimmung erklärt.
2.1 Die überlieferte Transzendentalphilosophie „der Alten“ und Wolffs Mit der Rede von einer ‚Transzendentalphilosophie‘ schließt Kant an eine mehrere Jahrhunderte zurückreichende philosophische Traditionslinie an. Das Substantiv ‚transcendens‘ sowie das Adjektiv ‚transcendentalis‘ entstammen der mittelalterlichen Philosophie und fanden in der deutschen Schulmetaphysik bis ins 18. Jahrhundert hinein Verwendung.² Zunächst wird in 2.1.1 die Transzendentalphilosophie „der Alten“ skizziert und dann mit Wolffs Anschluss und Neuinterpretation in 2.1.2 die Gestalt der Transzendentalphilosophie in den Blick gerückt, auf die Kant unmittelbar reagiert.
2.1.1 Die Transzendentalphilosophie „der Alten“ In der mittelalterlichen Scholastik wurden die allgemeinsten Prädikate des Seienden, die nicht in der aristotelischen Kategorienlehre behandelt werden, aber ebenso allgemein sind wie der Ausdruck ‚seiend‘, „transcendentia“ genannt. Die Transzendentalien-Lehre der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Ontologie handelt als erste Abteilung der Ontologie vom Seienden in der allgemeinsten und bestimmungsärmsten Art. Dieser Lehre zufolge ist alles Seiende seinen konvertiblen „transzendentalen“ Bestimmungen nach, noch vor aller kategorialen Bestimmung, ungeteilt eines und als solches unterschieden von allem anderen. Insofern steht es unter dem Prinzip der Identität und Differenz (transzendentale Einheit). Es ist außerdem bezogen auf einen (göttlichen) Verstand und insofern ist
Zur Geschichte der Transzendentalphilosophie (vgl. Bärthlein 1976: 360; Aertsen, J. A. u. a. 1998: hier: Sp. 1360; Honnefelder 1990).
2.1 Die überlieferte Transzendentalphilosophie „der Alten“ und Wolffs
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es transzendental wahr. Ferner ist es bezogen auf einen (göttlichen) Willen und insofern ist es transzendental gut. ³ Bis ins 13. Jahrhundert wurde die aristotelische Erste Philosophie, die Metaphysik, als die Wissenschaft vom höchsten Seienden aufgefasst. Sie war OntoTheologie und handelte von einem göttlichen Seienden als der ersten Ursache alles anderen Seienden. Duns Scotus überführte die Transzendentalphilosophie, verstanden als Onto-Theologie (Wissenschaft vom ersten Seienden), in die OntoLogie, d. h. in eine Wissenschaft vom Ersterkannten, nämlich des Begriffs ‚seiend‘.⁴ Diese ‚Metaphysik‘ stellt Duns Scotus als die von Aristoteles gesuchte und von Avicenna beschriebene Universalwissenschaft vor: als ‚Transzendentalphilosophie‘. Sie handelt als übersteigende Wissenschaft von den die Kategorien in puncto Allgemeinheit noch übertreffenden Bestimmungen des Seienden. Die Methode dieser Transzendentalphilosophie von Duns Scotus besteht in der Auflösung („resolutio“) unserer distinkt erkannten Begriffe in logisch frühere Teilbegriffe, bis hin zu nicht weiter auflösbaren Elementen: den transzendentalen Bestimmungen. Diese von Duns Scotus initiierte wirkmächtige Traditionslinie reicht von Francisco Suárez über Christian Wolff bis zu dessen Schülern. Auf diese bezieht sich Kant, wenn er die Transzendentalphilosophie als die auf Aristoteles zurückzuführende, über Wolff vermittelte „Auflösung der Erkenntnis in die Begriffe, die a priori im Verstand liegen“, fasst (AA 20:260).⁵ Diese „Transzendentalphilosophie der Alten“ (KrV B 113) hat er vor Augen, wenn er in §12 der BAuflage den „unter den Scholastikern so berufene[n] Satz: quodlibet ens est un-
Die Zahl der Transzendentalien variierte, aber ‚Eines‘, ‚Wahres‘, ‚Gutes‘ und ‚Seiendes‘ waren stets darunter (vgl. Aertsen 1998: Sp. 1360). Der Ausdruck ‚Ontologie‘ etablierte sich erst ab dem 17. Jhd. als Bezeichnung des ersten Teils der Metaphysik, der metaphysica generalis, in dem nach den allgemeinsten Bestimmungen des Seienden gefragt wurde, wohingegen der darauffolgende spezielle Teil der Metaphysik von den besonderen Seienden (Gott, Seele und Welt) handelte. Vgl. Honnefelder, L., Möhle 1998; Honnefelder 1990: 403 – 86, bes. 411. Karl Bärthlein stellt in seiner Studie Von der Transzendentalphilosophie der Alten zu der Kants fest, Wolffs Neuformulierung der Ontologie „more scientifica“ als die Gestalt, in der Kant die Transzendentalphilosophie kennenlernte, habe die alte Lehre vom Wahrsein und Gutsein in eine Richtung gelenkt, die die Fortsetzung der Transzendentalphilosophie durch Kant erschwert habe. Wolff interpretierte das transzendentale Gute rein theoretisch als Vollkommenheit (perfectio) und begriff die Transzendentalphilosophie als rein theoretische Wissenschaft, anstatt sie, wie ehemals, als eine die theoretische und praktische Philosophie integrierende Fundamentaldisziplin auszulegen. Als Beleg führt er u. a. Kants Behandlung des scholastischen Lehrsatzes in KrV B §12 an, in dem Kant davon spricht, dass die Behandlung dieses Satzes nur ein Hauptstück in der Transzendentalphilosophie der Alten war, die also dem Anschein nach nicht mehr auf eine TranszendentalienLehre eingeschränkt war, sondern identisch mit einer weiter gefassten Ersten Philosophie im Sinne einer Ontologie oder Metaphysik (vgl. Bärthlein 1976: 360, 372 ff.).
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um, verum, bonum“ bespricht, allerdings in einer durch Wolff modifizierten Form (vgl. AA 1:475).⁶
2.1.2 Wolffs Transzendentalphilosophie Auch Wolff und seine Schüler Alexander Gottlieb Baumgarten und Friedrich Christian Baumeister machten noch Gebrauch von dem Adjektiv ‚transcendentalis‘.⁷ Dabei verwendet Wolff den Ausdruck ‚transcendentalis‘ auf zweifache Weise: einerseits in einem Sinn, der der mittelalterlichen TranszendentalienLehre entsprechen soll, und andererseits zur Kennzeichnung einer Kosmologie, die von den Bestimmungen nicht nur der wirklichen, sondern aller möglichen Dinge überhaupt handelt. Sein Schüler Baumeister begründet den Namen ‚Cosmologia transcendentalis‘ mit deren Zugehörigkeit zur Metaphysik.⁸ Eine transzendentale Kosmologie, die durch ein rein begriffliches Durchlaufen die Bestimmungen aller möglichen Dinge überhaupt offenzulegen sucht, ist eine rationalistische Metaphysik, die vermeint, aus rein begriffsanalytischen Erwägungen generelle Grundzüge der Objektivität einsehen zu können. Kants frühe Verwendung des lateinischen Titels ‚philosophia transcendentalis‘ aus dem Jahre 1756 im Sinne von „Metaphysik“ ist dieser Schule zuzuordnen. Wolffs zweifache
Der Titel dieser frühen Schrift Kants lautet „Metapysicae cum Geoetria iunctae usus in Philosophia Naturali, cuius specimen primum continent Monadologiam Physicam, Praenotanda“. Nobert Hinske zufolge muss Kant die „Transzendentalphilosophie der Alten“ (KrV B 113) schon früh kennengelernt haben. Hinske hat Kants jahrzehntelange Beschäftigung mit ihr durch die verschiedenen Stadien seines Denkens hindurch untersucht. Er kommt zu dem Ergebnis, dass Kants „zunächst sehr negative Bewertung allmählich etwas positiveren Urteilen Platz zu machen scheint“ (Hinske 1998: Sp. 1379, 1970a: 55 – 77). Vgl. Wolff, LO §503 u. a; vgl. Baumeister 2003: 149; Baumgarten, Met, §73. Baumgarten präsentiert die alte Transzendentalienlehre noch einmal in systematischer Geschlossenheit, während sie bei Wolff und anderen zersplittert ist. Er trägt sie im Kontext der Entwicklung der „innerlichen allgemeinen Eigenschaften des Seienden“ („praedicata entis interna universalia“) in vier unmittelbar aufeinanderfolgenden Sektionen vor. Behandelt werden die Prädikate ‚unum‘, ‚verum‘, ‚perfectum‘ und der Begriff des Wolff’schen ‚Ordo‘. Baumgarten unterscheidet im Gegensatz zu Wolff allerdings bewusst zwischen ‚metaphysisch‘ und ‚transzendental‘. Ihm zufolge gehen die transzendentalen Prädikate durchweg aus dem „Inbegriff der wesentlichen Bestimmungen“ („complexus essentialium“) hervor: Ähnlich wie bei Wolff meint die transzendentale Einheit die „Untrennbarkeit“ („inseperabilitas“) der wesentlichen Bestimmungen (§§34 ff.), die transzendentale Wahrheit deren Ordnung (§§ 89. 118) und die transzendentale Vollkommenheit deren innere „Übereinstimmung“ („consensus“) (§98) (vgl. dazu: Hinske 1998: hier: Sp. 1378 f.). Darauf haben Hinske und Bärthlein hingewiesen (vgl. Hinske 1998: Sp. 1377; Bärthlein 1976: 356 f.).
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Verwendung des Ausdrucks ‚Transzendentalphilosophie‘ – einmal in dem von Duns Scotus initiierten traditionellen ontologischen Sinn (a) und ein weiteres Mal in einem neuen wissenschaftstheoretischen Sinn (b) – wird im Folgenden kurz erläutert: Ad (a): In der LO definiert Wolff die transzendentale Wahrheit, die den Dingen selbst inhäriert, als die Ordnung (Ordo) in der Mannigfaltigkeit der gleichrangigen wesenhaften Bestimmungen und der aufeinanderfolgenden Momente (der Attribute und Modi) jedes Seienden.⁹ Die Ordnung der gleichrangigen wesentlichen Momente sieht Wolff durch den Satz vom Widerspruch und die Attribute und Modi durch den Satz vom Grund gewährleistet. Er begreift diese beiden Prinzipien als die Gründe der Ordnung in allem Seienden und damit als die Wahrheit eines jeden Seienden.¹⁰ Während die transzendentale Wahrheit des Seienden in der mittelalterlichen Transzendentalphilosophie ehemals in dessen Bezogensein auf einen Verstand bestimmt wurde – womit primär der Bezug auf den Verstand eines Schöpfergottes
Wolffs Philosophie als Vorgängergestalt der kantischen Transzendentalphilosophie hat Bärthlein untersucht (vgl. Bärthlein 1976: hier: 365). Die Transzendentalienlehre wird im ersten Teil der LO im Zusammenhang mit den allgemeinen Seinsbestimmungen erwähnt. Die Lehre vom transzendentalen Wahren und Guten wird im Kapitel über die Ordnung und die Lehre vom transzendentalen Einen innerhalb des Kapitels über die Quantität ausgeführt (vgl. Wolff, LO §§ 495 – 97). Vgl. Wolff, LO § 498: „…principium cotradictionis & principium rationis sufficientis sunt fons omnis, quae datur in rebus, veritatis, hoc est, datur in ente veritas, quatenus ea, quae insunt, per ista pricipia determinantur“. Die transzendentale Wahrheit des Seienden identifiziert Wolff in der DM mit der Wahrheit, die er im Zusammenhang mit dem Ordo-Gedanken bespricht (vgl. Wolff, DM §132 ff.). Zum Verständnis der alten Transzendentalphilosophie bei Wolff und dessen Kritik (vgl. Bärthlein 1976: 362– 374). Zur historischen und systematischen Entwicklung der Transzendentalphilosophie zur Philosophie Wolffs (Carboncini-Gavanelli 1991). Unter dem Ordo versteht Wolff die „Ähnlichkeit des Mannigfaltigen in dessen Folge auf- und nacheinander“ (Wolff, DM § 132) und führt die einem jeden Seienden zukommende Wahrheit auf diesen zurück. Die alte transzendentalphilosophische Bestimmung der Wahrheit eines jeden Seienden wird hier ontologisch als „Eigenschaft eines Dinges überhaupt“ verstanden und durch den Ordo und dessen Regeln erklärt, „die in den Dingen und ihren Veränderungen anzutreffen [sind]“ (§ 145). Die Wahrheitsbestimmung wird also letztlich auf den Satz vom Grund und den Satz vom Widerspruch zurückgeführt. Er meint, die transzendentale Wahrheit auf diese Weise deutlicher als früher zu fassen (vgl.Wolff, DM § 146: „Weil demnach dadurch, daß alles so wohl in den einfachen, als zusammengesetzten Dingen in einander gegründet ist (§ 30), eine Ordnung entstehet (§ 132), so ist auch in ihnen Wahrheit (§ 142). Und ist demnach jedes Ding etwas wahres. Man hat es längst gesagt, aber doch nie deutlich erklären und erweisen können.“). Durch den Ordo-Gedanken vermeint Wolff das von Descartes aufgeworfene Problem des Unterscheidenkönnens zwischen Wachen und Träumen zu lösen (vgl. Wolff, DM §§ 143 – 5).
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gemeint war und erst sekundär ein (mögliches) Bezogensein auf den menschlichen Verstand –, suspendiert Wolff den notwendigen Verstandesbezug. Stattdessen soll nun allein die Ordnung die transzendentale Wahrheit des Seienden garantieren, unabhängig vom Bezug auf einen Intellekt. Zwar soll das Seiende dank dessen transzendentaler Wahrheit wohl vorstellbar sein, aber dies verlangt nach Wolff nicht mehr als eben seine Ordnung, also dasjenige, was dank des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom Grund in diesem selbst liegt.¹¹ Das transzendental Eine definiert Wolff als das Einssein des Seienden, insofern es nicht von sich selbst verschieden sein kann und setzt es mit der Allgemeingültigkeit des Satzes vom Widerspruch gleich.¹² Allerdings versäumt er es, den Zusammenhang zwischen dieser transzendentalen Bestimmung und dem Satz vom Widerspruch darzulegen. Die Behandlung des transzendental Einen findet sich daher auch nicht im Kapitel über den Satz vom Widerspruch – dem nach Wolff allgemeinsten Prinzip schlechthin (vgl. Wolff, LO §29) –, sondern im Kapitel über die Quantität. Die Art und Weise, wie Kant in §12 der B-Auflage seine Kritik an der „Transzendentalphilosophie der Alten“ vorträgt, nämlich ausgehend von dem Hinweis, die transzendentale Einheit sei nicht die kategoriale quantitative Einheit, stützt die Annahme, dass Kant sich in seiner Auseinandersetzung mit der transzendentalphilosophischen Tradition an der Wolff‘schen Version der Transzendentalphilosophie orientierte (vgl. KrV B 113 – 16). Das transzendental Gute verhandelt Wolff wie das transzendental Wahre im Kapitel über den Ordo und somit wie dieses in direktem Zusammenhang mit dem Satz vom Widerspruch. Entgegen der alten Transzendentalienlehre fasst Wolff das transzendentale Gutsein – analog zu seiner von allem Verstandesbezug unabhängigen transzendentalen Wahrheit – unabhängig von jedem Willensbezug. Als rein theoretisch gedachte Bestimmung verhandelt Wolff das transzendental Gute
Bärthlein hat das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Ontologie in der deutschen Philosophie des 18. Jhdts. untersucht (vgl. Bärthlein 1974: 359). Mit der transzendentalen Wahrheit des Seienden soll die Übereinstimmung mit dem göttlichen Intellekt feststehen (vgl. Bärthlein 1974: 367). Vgl. Wolff, LO §329: „[…] ideo vi unitatis, Ens omne ita es aliquid, ut nihil aliud praeter ipsum idem esse possit. Unde in Elementis Arithmeticae §3 unum definimus per id, quod ita est aliquid, ut nihil praeterea idem esse possit. Atque admissa hac definitione patet, Ens omne cum universale, tum singulare esse unum. […] Unitas haec dici solet subinde transcendentalis & maximi momenti est ad fugendos conceptus arbitrarios, quibus enti cuicumque pro arbitrio superaddi posse existimamus, quae in numero essentialium seu in determinationibus genericis, specificis & sumericis non continentur, eodem salo, hoc est, ut nec genus, nec species, nec individualitas mutetur […]“. Diese rationalistische Interpretation des transzendentalen Einen wird in 2.3.1. als Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus (Begriffsanalytische Wahrheit) thematisiert.
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unter dem Titel „Vollkommenheit“ (perfectio) in dem Abschnitt, der auf die Passage über die transzendentale Wahrheit folgt. Wolff definiert es als Übereinstimmung einer Mannigfaltigkeit von Teilen, wobei er unter ‚Übereinstimmung‘ die Tendenz zu ein und demselben Ziel versteht.¹³ Er identifiziert den scholastischen Begriff des transzendental Guten mit dem Begriff der Wesensvollkommenheit, also der Übereinstimmung der Wesensmerkmale (LO § 528). Wolffs Auffassung zufolge ist das Seiende durch seine Vollkommenheit, sein transzendentales Gutsein, auf sich selbst bezogen und nicht auf ein anderes – also einen göttlichen oder menschlichen Willen.¹⁴ Ad (b): Innovativ ist Wolffs Verwendung des Ausdrucks ‚transcendentalis‘ als Attribut einer neuen Wissenschaft, nämlich einer allgemeinen „transzendentalen“ Kosmologie („Cosmologia transcendentalis“ [Wolff, Cos, 10*]). Untersuchungsgegenstand dieser Kosmologie ist nicht die wirkliche Welt, die gleichermaßen Gegenstand der naturwissenschaftlichen Forschung ist, sondern die Welt im Allgemeinen. Die transzendentale Kosmologie hat diejenigen Bestimmungen im Blick, die die wirkliche Welt mit allen möglichen Welten teilen muss. Indem sie nach den Gesetzmäßigkeiten aller möglichen Welten fragt, soll sie die Leitbegriffe für die Physik liefern. Die Methode dieser Wissenschaft besteht ebenfalls in einem rein begriffsanalytischen Verfahren.¹⁵ Denn schließlich können die notwendigen Bestimmungen aller möglichen Welten nicht durch Erfahrung, also empirische Erkenntnis der faktischen Welt, eingesehen werden, sondern müssten, sofern überhaupt erkennbar, durch die rein begriffliche Analyse der Bestimmungen eines möglichen Dinges überhaupt erkannt werden (vgl. Wolff, Cos §§1– 9.). Sonia Carboncini weist in ihrer Studie Transzendentale Wahrheit und Traum darauf hin, dass Wolffs Charakterisierung der Kosmologie als ‚transzendental‘ im Sinne einer „scientia fundamentis“ wegweisend für Kants Projekt ist, mittels einer ‚Transzendentalphilosophie‘ a priori die Leitbegriffe der Physik (metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften) bereitzustellen (vgl. Carboncini-Gavanelli 1991: bes. 109 – 12). Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Traditionslinie könnte es naheliegen, die KrV – das Werk, in dem Kant seine Transzendentalphilosophie vorstellt
Vgl. Wolff, LO § 503: „Perfectio est consensus in varietate, seu plurium a se invicem differentium in uno. Consensum vero apello tendentiam ad idem aliquod obtinendum. Dicitur perfectio a Scholasticis bonitas transcendentalis“. Vgl. Wolff, LO § 527: „[…] cum ens consideratur ut perfectum, non refertur ad aliud, sed ad seipsum. […]“. Die Darstellung der Wolff‘schen Interpretation der alten Transzendentalienlehre orientiert sich an (Bärthlein 1976: 362). Die Transzendentalität der Wolff’schen Ontologie und Kosmologie beruht darauf, dass die Gründe der Dinge und die Gründe der Erkenntnis strikt korrespondieren.
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– ontologisch zu interpretieren, so als würde Kant sich mit seiner „gantz neue[n] Wissenschaft“ (AA 10:144 f.), die „eigentlich eine Kritik der reinen Vernunft“ ist (vgl. AA 10:199), in die Tradition der ontologischen Transzendentalphilosophie einreihen. Es wird jedoch deutlich werden, dass Kants Anschluss an die transzendentalphilosophische Tradition anders zu verstehen ist. In 2.2 soll gezeigt werden, dass Kant in der KrV eine Transzendentalphilosophie im Sinne einer Fundamentalphilosophie entwickelt, die jedoch nicht länger eine ontologische Disziplin ist, in der Erkenntnis- und Seinsprinzipien enggeführt werden. Stattdessen unterzieht er sie einer disziplinären Revision, indem er diese Fundamentalphilosophie in eine genuin epistemologische Disziplin umwidmet. Der sachliche Grund, der Kants Übernahme des alten Ausdrucks rechtfertigt, und die Differenz der kantischen Transzendentalphilosophie zu ihrer Vorgängergestalt wird im folgenden Teil erörtert.
2.2 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie Im Text der KrV weist bereits die Einführung des Begriffs ‚transzendental‘ darauf hin, dass Kant zwar bewusst an eine etablierte Tradition anknüpft, sich jedoch von dieser distanziert und eine Neubestimmung des Begriffs reklamiert. Die im Fokus der KrV stehende transzendentale Erkenntnis definiert er nämlich mittels einer expliziten Abgrenzung gegenüber der Tradition. Statt „Es wird …transzendental genannt“ oder „Transzendental heißt…“ schreibt er: „Ich nenne…transzendental…“ (KrV A 11 f./B 25). Kants Korrespondenz mit Marcus Herz macht deutlich, dass er den Terminus ‚transzendental‘ bewusst aus der Tradition übernommen hat. In den beiden Briefen aus den Jahren 1772 und 1773, in denen er zum ersten Mal nachweislich den deutschen Titel ‚Transzendentalphilosophie‘ gebraucht und über den Plan zu seiner Transzendentalphilosophie spricht, geht er offenkundig davon aus, dass der Begriff auch dem Adressaten der Briefe geläufig ist.¹⁶ Außerdem fügt er in der
Im ersten Brief schreibt Kant an Herz: „Indem ich […] die Quellen der Intellectualen Erkenntnis suchte, ohne die man die Natur und Grentzen der metaphysic nicht bestimmen kan, brachte ich diese Wissenschaft in wesentlich unterschiedene Abtheilungen und suchte die transcendentalphilosophie, nemlich alle Begriffe, der gäntzlich reinen Vernunft, in eine gewisse Zahl von categorien zu bringen…“ (Brief vom 27. Febr. 1772, AA 10:123 – 30, hier: 126). Im zweiten Brief aus dem Jahre 1773, der ebenfalls an Herz adressiert ist, heißt es: „Ich werde froh seyn wenn ich meine Transscendentalphilosophie werde zu Ende gebracht haben welche eigentlich eine Critik der reinen Vernunft ist alsdenn gehe ich zur Metphysik die nur zwey Theile hat: die Me-
2.2 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie
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zweiten Auflage zum Text der KrV den § 12 hinzu, in dem er sich mit der „Transzendentalphilosophie der Alten“ befasst und diese kritisiert.¹⁷ Mit dieser Namensgebung stellt Kant seinen „philosophischen Neuanfang“ (Koch 1993: 141) also bewusst als eine Neuausrichtung der Transzendentalphilosophie vor. In der Forschungsliteratur wurde zwar nicht versäumt, herauszustellen, dass Kant mit der Verwendung dieses „Systemausdrucks“ (Gideon 1977: 25) die Revolution des Denkens terminologisch zu fassen sucht, die er mit der Kritik der reinen Vernunft einläutet.¹⁸ Jedoch blieb der Sinn der kantischen Übernahme dieses tradierten Begriffs (meist) im Dunkeln. Die Forschung beschränkte sich darauf, in Kants Verwendung der Ausdrücke ‚transzendental‘ und Transzendentalphilosophie‘ eine Inkonsistenz¹⁹ oder immerhin eine Ambiguität²⁰ zu diagnostizieren. taphysik der Natur und die Metaphysik der Sitten…“ (AA 10:138). Kant spricht hier bereits von seiner neuen Transzendentalphilosophie, mit deren Entwurf er befasst war. Bärthlein weist darauf hin, dass Kant auch in seinen Metaphysikvorlesungen des Öfteren über die ihm von den Wolff-Schülern Baumgarten und Baumeister tradierten scholastischen Lehrsätze, die von der Konvertibilität des (transzendentalen) Seienden mit dem Einen, Wahren und Guten handeln, gesprochen zu haben scheint (vgl. Bärthlein 1976: 355). Hiervon zeugen die erhaltenen Vorlesungsnachschriften: Vgl. AA 28:16 – 18, 414– 416; 495 – 497; 555 f.; 631 f.; 843. Die Bedeutung des Begriffs für die kantische Philosophie und die damit verbundene epistemologische Neuausrichtung wird auch betont von Nikolaus Knoeppfler und Paul Guyer (vgl. Knoepffler 2001: 11; Guyer 2010: 11). Knoepffler hat in jüngerer Zeit den Begriff des Transzendentalen in den Mittelpunkt einer Kantinterpretation gerückt (Knoepffler 2001). Eckart Förster diagnostiziert sogar einen Widerspruch in Kants Gebrauch dieses Ausdrucks (vgl. Förster 2012: 115 f.). Auch in der anglophonen Kantliteratur bleibt dieser Begriff problematisch und unterbestimmt. Angesichts der scheinbar unvermittelten Bedeutungsvielfalt, mit der der Begriff ‚transzendental‘ von Kant gebraucht wird, meint etwa Howard Caygill, seine semantischen Parameter seien nur zu erfassen, indem man die diversen Entgegensetzungen analysiert, in denen Kant den Begriff verwendet (vgl. Caygill 1995: 399). Auch Henry Allison hält Kants Begriffsgebrauch in diesem Fall für „notoriously confusing, since he construes it in a number of distinct ways“ (Allison 2006: 115). Adrian Moore ist der Auffassung, Kant verwende den Begriff nicht nur auf verwirrende, sondern tatsächlich widersprüchliche Weise, wohingegen Graham Bird der Meinung ist, eine Ambiguität sei nicht in Kants Gebrauch des Ausdrucks ‚transzendental‘, sondern vielmehr in seinem Gebrauch des Ausdrucks ‚empirisch‘ auszumachen (vgl. Moore 2006: bes. 332– 4, 340; vgl. auch Bird 2006: 136). Bird stellt diese Diagnose in Anbetracht von TE-B in KrV B 25 und TE-S in KrV A 56/B 80 f (vgl. dazu im Folgenden 2.2.2 und 2.2.3). Allisons epistemologischer Deutung (Allison 2006) opponieren im anglo-amerikanischen Forschungsraum metaphysische oder partiell metaphysische Interpretationen der kantischen Transzendentalphilosophie. Dies verdeutlicht, dass sich die Vagheit in der Bestimmung der Termini ‚transzendental‘ und ‚Transzendentalphilosophie‘ auf die Frage vererbt, welche interpretatorische Brille aufzusetzen sei, um die KrV richtig zu deuten: eine ontologische, eine wissenschaftstheoretische oder eine strikt epistemologische? Als Vertreterin einer metaphysischen Interpretation sei exemplarisch auf Rea Langton verwiesen (Langton 2006). Lucy Allais hingegen
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2 Die Kritik der reinen Vernunft
Da kaum zu vermuten ist, dass Kant seine Leser*innen mit dem Gebrauch dieses Ausdrucks in die Irre führen wollte, ist nach einer Schnittmenge zwischen der früheren Bedeutung und der kantischen Konzeption des Transzendentalen zu suchen. Dabei wird allerdings darauf zu achten sein, dass die besonderen Züge der kantischen Transzendentalphilosophie nicht verwischt werden, indem sie als glatte Fortführung ihrer ontologischen Vorgängergestalt begriffen werden. Die Frage, in welchem Sinn Kant an die überlieferte Transzendentalphilosophie anschließt und wie er diese Disziplin bestimmt, ist Gegenstand der Untersuchung in 2.2.1. Ferner soll der Inkonsistenz-Vorwurf ausgeräumt werden. Dazu wird der Sinn des kantischen Transzendentalen in seinen Bedeutungsnuancen auseinandergesetzt und geprüft, ob die verschiedenen Sinne vielleicht in einem internen Zusammenhang stehen. In 2.2.2 wird zwischen zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis der KrV differenziert. Durch diese Unterscheidung wird es möglich, in 2.2.3 den internen Zusammenhang des kantischen Transzendentalen als Zielpunkt des epistemologischen Projekts der KrV herauszustellen, also nicht nur die verschiedenen Nuancen des kantischen Begriffsgebrauchs auseinanderzusetzen, sondern diese in ihrem internen Zusammenhang vorzustellen. Derart kann die Einheit des Begriffs ‚transzendental‘ im Kontext der kantischen Philo-
hat eine schwach metaphysische Lesart vorgeschlagen, der zufolge die KrV ihrem Wesen nach als Hybrid zwischen Metaphysik und Epistemologie zu bestimmen sei (Allais 2015). Gideon kommt in seiner Untersuchung zu dem Resultat, dass der kantische Gebrauch des Ausdrucks ‚transzendental‘ „die größten Schwankungen, selbst Gegensätze verrät“ und dieser „mehrdeutige Sprachgebrauch“ für viele der „Mißverständnisse und Kontroversen, die schon zu Kants Lebzeiten über den Sinn seiner Lehre entstanden“, verantwortlich sei (vgl. Gideon 1977: 5; vgl. auch Hinske 1970a: bes. 25, 1970b: 49). Hermann Cohen, dessen Diagnose zufolge, der Begriff des Transzendentalen „die gesamte Philosophie Kants charakterisiert“ und der „unzweifelhaft das Zentrum des Ganzen bildet“ (Cohen 1907: 18) hatte zu Beginn des 20. Jhd.s die Entstehung einer Reihe von Untersuchungen angeregt, die sich dem kantischen Begriff des Transzendentalen widmeten (Gideon 1977; Erdmann 1900; Knittermeyer 1920). Hans Vaihinger teilt Cohens Einschätzung und schreibt in seinem Kommentar zur KrV, es handle sich um den „Grundbegriff der K.‘schen Philosophie und der Kritik insbesondere“ (Vaihinger 1922: 467). Einen Überblick über die Forschungsliteratur zu den verschiedenen Interpretationsansätzen bis ins frühe 20. Jahrhundert hinein bietet (Hinske 1970a: bes. 15 – 39). Zum Begriff der Transzendentalphilosophie unter Berücksichtigung der neueren Forschung (vgl. Heidemann 2014). Nach Heidemann ist die enge Bedeutung des Transzendentalen bei Kant „festgelegt auf die Bedingungen a priori der Möglichkeit von Erkenntnis und damit auf die metatheoretische Erkenntnis der Grenzen unserer Erkenntnisfähigkeit“ und daher sei die KrV primär als epistemologische Disziplin zu charakterisieren (vgl. Heidemann 2014: 988 f.).
2.2 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie
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sophie gewahrt werden.²¹ In 2.2.4 wird der kantische Begriff des Transzendentalen mit dem Wahrheitsbegriff in Zusammenhang gebracht und die Frage, wie Wahrheit möglich ist, als das spezifische Problem einer Kritik des Erkenntnisvermögens herausgestellt.
2.2.1 Transzendentalphilosophie als Kritik der reinen Vernunft In der Phase zwischen 1770, dem Publikationsjahr seiner Dissertationsschrift, und der Veröffentlichung der ersten Auflage der KrV 1781 wurde Kant offenbar darauf aufmerksam, dass es sich bei den zur Debatte stehenden Problemen um neuartige Fragestellungen handelt, deren Behandlung einer „gantz neue[n] Wissenschaft“ und „ganz eigener technischer Ausdrücke“ bedurfte (vgl. AA 10:144 f.; 199). Diese „gantz neue Wissenschaft“ nennt er fortan „Transzendentalphilosophie“ und merkt an, dass sie „eigentlich eine Critik der reinen Vernunft ist“ (AA 10:199). Die Definitionen der Kritik der reinen Vernunft und der ‚Transzendentalphilosophie‘ sind eng miteinander verknüpft. In Kants Darstellung ergeben sich aber auch Unterschiede:²² Die ‚Transzendentalphilosophie‘ ist, so erklärt Kant in den Knoepffler unterscheidet drei Sinne des Ausdrucks ‚transzendental‘: Im primären Sinn bedeute er das auf das „daß“ und „wie“ der apriorischen Erkenntnisart Bezogene als im Subjekt liegende Bedingung der Möglichkeit (Prinzip) der Erkenntnis. In einem zweitrangigen Sinn soll „transzendental“ „über die Erfahrung hinausgreifend“ bedeuteten und als Bindeglied zwischen dem primären und dem zweitrangigen Sinn die Bedeutung von „transzendental“ im Sinne von „apriorisch“ fungieren (vgl. Knoepffler 2001: 42). Obgleich Knoeppflers Analyse für die folgende Explikation des Sinns des Transzendentalen im Kontext der kantischen Philosophie, speziell für die Entwicklung der These von den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis und dem Sinn der Rede von einem transzendentalen versus einem empirischen Gebrauch, sehr hilfreich ist, ist darauf hinzuweisen, dass er in seiner Systematisierung dabei stehen bleibt, diese drei Bedeutungen voneinander abzugrenzen und durch die dritte zu vermitteln. Die vorgeschlagene Interpretation hingegen ermöglicht es, einen einheitlichen Sinn im kantischen Begriff des Transzendentalen anzuerkennen und die verschiedenen Bedeutungsnuancen aus einem einheitlichen Interesse, nämlich dem der transzendentalen Erkenntnis, heraus zu begreifen. Zudem ist zu beklagen, dass Knoepfflers Rede von „im Subjekt liegenden Prinzipien, Bedingungen der Möglichkeit“ (Knoepffler 2001: 42), dunkel bleibt. Die folgenden Bemerkungen sind an der Fassung der B-Auflage der KrV orientiert. Knoepffler hat bezüglich der grundlegenden Unterschiede der ersten und zweiten Auflage zwei Schwerpunkte herausgearbeitet: In B wird die Differenz von „Kritik der reinen Vernunft“ und „Transzendentalphilosophie“ stärker betont (durch Fettdruck und Hinzufügungen). Bereits anhand der Abschnittsüberschriften lässt sich ausmachen, dass der Gesichtspunkt der Unterscheidung verschoben wurde: In A ist die Idee und Einteilung der Transzendentalphilosophie thematisch, in B die „Idee und Einteilung einer besonderen Wissenschaft unter dem Namen einer Kritik der reinen Vernunft“. Im Gegensatz zu A wird in B also die „Kritik“ als eigenständige Wissenschaft namhaft
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Einleitungen zur KrV, im Unterschied zur Kritik ein System der reinen Vernunft, eine „Doktrin“, d. h. die ausführliche Anwendung eines „Organon[s]“ der reinen Vernunft (KrV B 25). Insofern die ‚Transzendentalphilosophie‘ ein vollständiges System der reinen Vernunft sein soll, habe sie die analytische wie die synthetische Erkenntnis a priori vollständig zu enthalten. Da alles Praktische entweder empirischen Ursprungs sei oder Empirisches voraussetze, sei sie ein vollständiges System der reinen bloß spekulativen Vernunft (vgl. KrV B 24– 29).²³ Ihr Untersuchungsgegenstand sei das „Feld der, von allen empirischen Prinzipien unabhängig urtheilenden, d. i. reinen Vernunft“, das „in uns selbst a priori liegt“ (AA 10:199). Kants Ziel ist es, dessen ganzen Umfang, Grenzen und Abteilungen nach „sicheren principien zu verzeichnen und die Marksteine so zu legen, daß man künftig mit Sicherheit wissen könne, ob man auf dem Boden der Vernunft, oder der Vernünfteley sich befinde“ (AA 10:199). Dazu gehöre im ersten Schritt eine Kritik der reinen Vernunft (vgl. AA 10:199).²⁴ Die Kritik der reinen Vernunft deklariert Kant als „Propädeutik“ zum System der reinen Vernunft. In Ansehung der Spekulation ist sie, Kant zufolge, bloß negativ, dient also nur zur Läuterung, nicht aber zur Erweiterung unserer apriorischen Erkenntnisansprüche (vgl. KrV B 24 f.). Sie treibe ihre Analyse nur soweit, wie es unerlässlich ist, um die Prinzipien der Synthesis a priori in ihrem ganzen Umfang einzusehen und die synthetischen Erkenntnisansprüche a priori vollständig zu beurteilen (vgl. KrV B 25 f., B 28 f.). Die Leitfrage der Kritik der reinen
gemacht. Diese Akzentverschiebung spiegelt auch der erste Abschnitt wieder: Während Kant in A von der Idee einer Wissenschaft spricht, die zur Kritik der reinen Vernunft dienen kann, also der Transzendentalphilosophie, wird in B die Kritik selbst mit dieser Wissenschaft identifiziert. Ferner findet der Unterschied zum Bereich des Praktischen klarere Konturen. Das System aller Prinzipien der reinen Vernunft wird ebenso neu definiert wie das System der reinen Sittlichkeit (vgl. Knoepffler 2001: 47)). Das Praktische ist das, „was durch Freiheit möglich ist“ (KrV A 800/B 828). Zum Ausschluss der praktischen Philosophie vgl. außerdem Anm. 1 KrV in A 801/B 829: Das Gefühl ist keine Vorstellungskraft der Dinge und alle praktischen Begriffe gehen wenigstens indirekt auf dieses ein. Daher gehört die praktische Philosophie nicht in die Transzendentalphilosophie, die es ausschließlich mit reinen Erkenntnissen a priori zu tun hat. Dann folgen eine ‚Disziplin‘, ein ‚Kanon‘ und eine ‚Architektonik der reinen Vernunft‘ (vgl. ‚Methodenlehre‘ der KrV A 705 ff/B 733 ff.). „Die Kritik der Vernunft führt also zuletzt nothwendig zur Wissenschaft, der dogmatische Gebrauch derselben ohne Kritik dagegen auf grundlose Behauptungen, denen man eben so scheinbare entgegensetzten kann, mithin zum Scepticismus.“ (KrV B 22 f.). Im Folgenden wird sich zeigen, dass die transzendentale Erkenntnis uns synthetische apriorische Regeln der objektiv-gültigen Verknüpfung von Vorstellungsgehalten an die Hand gibt.
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Vernunft laute dementsprechend: ‚Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‘ (vgl. KrV B 19).²⁵ Die Kritik entwirft demnach durch Aufklärung der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori den vollständigen Plan zur Transzendentalphilosophie aus Prinzipien (vgl. KrV B 27). Daraus wird Kants Behauptung einsichtig, die ‚Transzendentalphilosophie‘, verstanden als das System der reinen Vernunfterkenntnis, sei vor Auftritt der kritischen Philosophie unvollständig bzw. fehlerhaft gewesen (vgl. AA 4:279 u. a.): Denn erst in der KrV analysiert Kant die Prinzipien der Synthesis a priori und erst die Kritik der reinen Vernunft ermöglicht die sichere Unterscheidung zwischen synthetischen und analytischen Erkenntnissen. Insofern die ‚Transzendentalphilosophie‘ in den Einleitungen zur KrV als System der reinen Vernunft bestimmt wird, die Kritik der reinen Vernunft aber dazu den ganzen Plan aus Prinzipien entwirft, ist die Kritik das System aller Prinzipien der reinen spekulativen Vernunft (vgl. KrV B 27). Sie ist die „vollständige Idee der Transzendentalphilosophie“ (KrV B 28 f.).²⁶ Transzendentalphilosophie1 ist das System der reinen spekulativen Vernunft, das die analytische und synthetische Erkenntnis a priori vollständig enthält.²⁷ Kritik der reinen VernunftDf ist das System aller Prinzipien der reinen spekulativen Vernunft.
Kants Definition der Transzendentalphilosophie als das ‚System der reinen Vernunfterkenntnisse‘ steht seiner Bestimmung der Metaphysik nahe. Die Metaphysik erklärt Kant in der KrV wie folgt: MetaphysikDf ist „das System der reinen Vernunft (Wissenschaft), die ganze […] philosophische Erkenntnis aus reiner Vernunft im systematischen Zusammenhang“ (KrV A 841/B 869).
Es scheint so, als verwende Kant den Begriff ‚Transzendentalphilosophie‘ in den Einleitungsdefinitionen zwar schon mit Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft als „gantz neue Wissenschaft“ (AA 10:144 f.), die die Prinzipien der reinen spekulativen Vernunfterkenntnis analysiert, aber doch noch in einem Sinn, der ihre alte ontologische Bedeutung anklingen lässt, wie sie ihm aus der Wolff‘schen
So fasst Kant sie seit den Prolegomena vgl. AA 4:276, vgl. auch KrV A xi Anm. 1. Auch in der A-Vorrede betont Kant nachdrücklich die Vollständigkeit seiner prinzipientheoretischen Spezifizierung des Vernunftvermögens (vgl. KrV A xiif.), ebenso in der Vorrede zur KU, insbes. AA 5:168. Kant bezeichnet sie auch als System unserer apriorischen Begriffe (vgl. KrV B 25 f., vgl. auch B 29 f. und B 73).
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Schulphilosophie bekannt war.²⁸ Kants Verwendung des Begriffs ‚Transzendentalphilosophie‘ changiert also zuweilen zwischen dem alten metaphysischen Sinn und einem neuen Sinn.²⁹In dem neuen Sinn gebraucht er den Terminus allerdings noch in späten Jahren, beispielsweise in der Preisschrift: Die Transzendentalphilosophie, d. i. die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori überhaupt, welche die Kritik der reinen Vernunft ist, […] hat zu ihrem Zweck die Gründung einer Metaphysik…“ (AA 20:264)
Die Bestimmung der Transzendentalphilosophie als Kritik der reinen Vernunft ist also diejenige neuartige und spezifisch kantische Begriffsbestimmung, welche dem vormetaphysischen Charakter seiner Gestalt der Transzendentalphilosophie Rechnung trägt.
Er bedient sich dieses alten Sprachgebrauchs, in dem Transzendentalphilosophie und Metaphysik enggeführt werden, beispielsweise noch im Jahre 1770 in einem Brief an Johann Heinrich Lambert. An die Stelle der Transzendentalphilosophie, wie sie in den Einleitungen zur KrV bestimmt wird, ist hier die Metaphysik gesetzt: „Es scheinet eine ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis) vor der Metaphysic vorher gehen zu müssen, darinn denen principien der Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit sie nicht die Urtheile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren, wie bis daher fast immer geschehen ist. [….] eine solche popaedevtische disciplin, welche die eigentliche metaphysic von aller solchen Beymischung des Sinnlichen praeservirte […].“ (AA 10:98, Hervhb. SB). Auch in den Mitschriften zu Kants Metaphysik-Vorlesungen verwendet er zuweilen den Ausdruck ‚Transzendentalphilosophie‘ im Sinne von ‚Metaphysik‘, ohne jedoch die Vorordnung der Kritik der reinen Vernunft als besonderer Disziplin preiszugeben (vgl. u. a. AA 29:948 f.). Die Transzendentalphilosophie werde auch Ontologie genannt, heißt es dort, „und sie ist das product der Critic der reinen Vernunft“ (AA 29:494). In der ‚Methodenlehre‘ der KrV unterscheidet Kant aber zwischen seiner Kritik der reinen Vernunft als „Kritik unserer Vermögensumstände“ und der Transzendentalphilosophie (vgl. KrV A 738/B 766). So bspw. in der Logik vgl. AA 9:92. Hier heißt es, dass die Metaphysik zu untersuchen habe, ob es reine Verstandesbegriffe gebe. Der Terminus ‚Metaphysik‘ wird hier offenkundig in einem weiten Sinne verwendet, in dem alle reine diskursive Vernunfterkenntnis a priori zur Metaphysik gehört. Kant zufolge können auch beide, die Kritik und das deduzierte System der reinen Vernunfterkenntnis, „Metaphysik“ genannt werden, um nämlich deutlich zu machen, dass sie beide als reine diskursive Vernunfterkenntnis sowohl von der mathematischen als auch von der empirischen Erkenntnis unterschieden sind und all das zusammenfassen, was die reine Philosophie ausmacht. In der Regel unterscheidet er aber zwischen beiden (vgl. KrVA 841/B 869). Ihrem engen Begriff, bzw. dem gewöhnlichen Verständnis nach, ist die Metaphysik eine bloß spekulative Disziplin, aber Kant zufolge ist ferner auch die reine Sittenlehre zur Metaphysik zu rechnen, die unterschieden wird von der empirischen Erkenntnis einerseits und der mathematischen Erkenntnis andererseits (vgl. KrV A 840 – 42/B 868 – 70).
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Transzendentalphilosophie2 ist Kritik der reinen Vernunft, d. h. die Lehre von der Möglichkeit aller Erkenntnis a priori.
Gleichviel, ob Kant in den 1770er und frühen 1780er Jahren bewusst zwischen den Bedeutungsnuancen changierte oder sein schwankender Begriffsgebrauch dem Prozess einer allmählichen Emanzipation von dem alten Sprachgebrauch geschuldet ist, jedenfalls ist die Kritik der reinen Vernunft als „gantz neue Wissenschaft“ (AA 10:144 f.) von der Metaphysik unterschieden.³⁰ Sie ist kein Teil der Metaphysik, sondern als neue besondere Wissenschaft von ihr getrennt. Folgende Passage aus den Prolegomena stellt dies deutlich heraus: Man kann sagen, daß die ganze Transzendentalphilosophie, die vor aller Metaphysik notwendig vorhergeht, selbst nichts anderes als bloß die vollständige Auflösung der hier vorgelegten Frage sei [scil.: Wie sind synthetische Erkenntnisse a priori möglich?], nur in systematischer Ordnung und Ausführlichkeit, und man habe also bis jetzt keine Transzendentalphilosophie. Denn was den Namen davon führt, ist eigentlich ein Teil der Metaphysik; jene Wissenschaft soll aber die Möglichkeit der letzteren zuerst ausmachen und muß also vor aller Metaphysik vorhergehen. (AA 4:279)
Die wissenschaftliche Metaphysik als System der reinen Vernunfterkenntnis muss aus reinen Prinzipien deduziert werden. Die Kritik der reinen Vernunft ist der Methoden-Traktat der metaphysischen Wissenschaft und ihr notwendigerweise „propädeutisch“ vorgeordnet (vgl. KrV B xxiif. u. a.). Denn vor der Deduktion des Systems der reinen Vernunfterkenntnisse müssen die Prinzipen der analytischen und der synthetischen Erkenntnisse, auf denen das System schließlich basiert, zunächst ihrerseits a priori ausgewiesen werden (vgl. KrV A 841/B 869 u. a.).³¹
Hinske erklärt, dass Kant sich „zu Recht“ vor die Aufgabe gestellt sehen konnte, den Sinn des Terminus „transzendental“, dessen „alter Gebrauch …durch Unbehutsamkeit“ seiner „Urheber….schwankend geworden“ war, neu zu bestimmen (vgl. Hinske 1970a: 24, s. dazu auch ebd. Kap. 1). Kant betont selbst, dass er die Neubestimmung von Termini der Prägung von Neologismen vorzieht: vgl. KrV A 312/B 38 f. Den Charakter der Kritik der reinen Vernunft als Propädeutik zur Metaphysik und deren Notwendigkeit betont Kant auch in der Vorrede zur KU (vgl. AA 5:168). Es geht um die Erforschung der Grundlage von der Erfahrung unabhängiger Prinzipien. Gegenüber dem traditionellen Schulbegriff der Metaphysik beklagt Kant einen Mangel an Reinheit und eine Verfehlung des mit der Metaphysik wesentlich verbundenen Erkenntnisinteresses. Ihre traditionelle Erklärung als Wissenschaft von den logisch ersten Prinzipien der menschlichen Erkenntnis, wie sie etwa in Baumgartens Metaphysica zu finden ist, lehnt Kant ab (vgl. Baumgarten, Met §1). Denn dergestalt werde lediglich ein „Rang an Allgemeinheit“, nicht aber eine besondere Art der (menschlichen) Erkenntnis ausgewiesen (vgl. KrV A 841/B 871).
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Während Kants rationalistische Vorgänger die Metaphysik nach analytischer Methode abhandeln zu können meinten, insistiert Kant auf dem synthetischen Charakter dieser Erkenntnis und erhebt damit einen gewichtigen methodologischen Einwand gegen die rationalistische Tradition: Die Deduktion des Systems der reinen Vernunfterkenntnis ist erst auf Basis der Kritik der reinen Vernunft möglich.³² Eine besondere Methode einerseits und ein besonderer Untersuchungsgegenstand andererseits definieren eine Wissenschaft. Die Kritik der reinen Vernunft und die Metaphysik sind in beiden Hinsichten unterschieden. Darum handelt es sich um zwei verschiedene Wissenschaften. Die Kritik der reinen Vernunft ist die Selbsterkenntnis des Erkenntnisvermögens, „eine ganz besondere, obzwar blos negative Wissenschaft (phaenomologia generalis)“ (AA 10:98), die die Prinzipien der Synthesis a priori analysiert. Sie ist keine apriorische Theorie von Gegenständen und deren a priori erkennbaren Bestimmungen – weder der Natur noch der Sitten, den beiden Gegenständen der kantischen Metaphysik³³ –, sondern eine selbstbezügliche Disziplin, die die apriorischen Prinzipien objektiv gültiger Erkenntnis untersucht. In Reflexion 5116, die nach Aedickes aus dem Zeitraum 1776 – 87 stammt, notiert Kant in diesem Sinne: Es dauerte lange, daß ich auf solche Weise die gantze dogmatische theorie [scil. der bisherigen Metaphysik] dialectisch fand. Aber ich suchte was Gewisses, wenn nicht in Ansehung des Gegenstandes, doch in ansehung der Natur und der Grentzen dieser [der metaphysischen, SB] Erkenntnisart. (AA 18:95)³⁴
Die Kritik verfährt nicht nach der logisch-deduktiven Methode der Metaphysik, sondern macht es sich zur Aufgabe, in einem synthetisch-ostensiven Verfahren die Prinzipien der reinen Vernunfterkenntnisse allererst auszuweisen.³⁵ Dabei
Kants kritische Metaphysik ist dann eine praktische Dogmatik, keine spekulative (vgl. AA 20:264 u. a.). Die kantische Metaphysik als „Gesetzgebung der menschlichen Vernunft (Philosophie)“ zerfällt anfangs in zwei besondere Systemteile, eine Metaphysik der Natur als Lehre von dem, was notwendigerweise ist, und eine Metaphysik der Sitten als Lehre von dem, was notwendigerweise sein soll, die „zuletzt aber in einem einzigen philosophischen System“ Natur- und Sittengesetz zu präsentieren hat (vgl. KrV A 840/B 868). Hinske macht auf diese Reflexion aufmerksam und bemängelt, dass bis dato keiner der Interpreten diese zur Erläuterung der Einleitungsdefinition in der B-Auflage herangezogen habe (vgl. Hinske 1970a: 39). Die Datierung ist laut Hinske strittig, vermutlich aber nicht vor 1781 zu veranschlagen. Ostensive Beweise verbinden „mit der Überzeugung von der Wahrheit, zugleich Einsicht in die Quellen derselben“ (vgl. KrV A 789/B 817).
2.2 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie
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steht die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft in Frage. Dem Zweifel an der methodisch abgesicherten reinen, objektiv gültigen Vernunfterkenntnis soll in der KrV nachgegangen werden. Zu diesem Zweck müssen Kant zufolge die Prinzipien der Synthesis a priori im Rahmen einer besonderen Transzendentalphilosophie untersucht werden: Die Kritik der reinen Vernunft ist die Kritik des „Vernunftvermögens überhaupt in Ansehung aller Erkenntnisse, zu denen sie, u n a b h ä n g i g v o n a l l e r E r f a h r u ng, streben mag, mithin die Entscheidung der Möglichkeit oder Unmöglichkeit einer Metaphysik überhaupt und die Bestimmung so wohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen derselben, alles aber aus Prinzipen“ (vgl. KrV A xii). Die Kritik der reinen Vernunft ist Kants Transzendentalphilosophie. Sie tritt als neue epistemologische Transzendentalphilosophie an die Stelle ihrer metaphysischen Vorgängerin.³⁶ Statt desjenigen, „was allen Seienden entweder absolut oder unter einer gewissen gegebenen Bedingung zukommt“³⁷, analysiert diese Transzendentalphilosophie die Prinzipien der synthetischen Erkenntnis, um die Möglichkeit und Grenzen synthetischer und damit (auch) metaphysischer Erkenntnisansprüche zu prüfen.³⁸ Kants Verwendung des tradierten Begriffs ‚Transzendentalphilosophie‘ als Name seiner „gantz neue[n] Wissenschaft“ (AA 10:144 f.), statt deren Novität durch die Einführung einer neuen Bezeichnung anzuzeigen, mag problematisch erscheinen.³⁹ Die Originalität seiner neuen Fundamentalphilosophie stellt Kant
Aus der Einheit der Vernunft als Vermögen reiner Erkenntnisse folgt die Einheit der reinen Erkenntnis, die die Metaphysik darstellen soll (vgl. KrV A 845/B 873); in den Prolegomena erinnert Kant daran, dass es bei den in Frage stehenden Erkenntnissen immer nur um die synthetischen geht (vgl. AA 4: 276). Auch Heidemann betont, dass die kantische Transzendentalphilosophie als legitime Nachfolgerin der Ontologie zu gelten hat (vgl. Heidemann 2014: 988). In seiner Darstellung ergibt sich das Bild, Kant verfolge in der KrV das Ziel, die Metaphysik als „Königin der Wissenschaften“ zu stürzen (vgl. Heidemann 2014: 989 f.). In der lateinischen Originalformulierung bestimmt Wolff die Thematik der Ontologie, die für ihn den Status der ersten Philosophie hat: „Quoniam Ontologia de ente in genere agit (§.1.); ea demonstrare debet, quae entibus omnibus sive absolute, sive sub data quadam conditione conveniunt.“ (Wolff, LO §8). Dabei ist Kant die epistemologische Grundlegung „der ganzen Naturwissenschaft (als Philosophie)“ (AA 5:51) genauso wichtig, wie die Zurückweisung erfahrungstranszendenter Erkenntnisansprüche. Dieser Auffassung ist bspw. Hinske. Er meint, es handele sich im Einzelnen um eine „Palette ganz verschiedener Fragestellungen, die sich kaum auf einen gemeinsamen Nenner bringen lassen“ (Hinske in: Ritter/Gründer 1998: 1380; vgl. auch Hinske 1970a: 24). Hinske vermutet, Kant greife aus „einer gewissen Verlegenheit“ auf den traditionsbeladenen Terminus „transzendental“ zurück, und verwende ihn geradezu automatisch, um die neuen Fragestellungen seiner Philosophie von herkömmlichen zu unterscheiden (vgl. Hinske in: Ritter/Gründer 1998: 1381).
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aber heraus, indem er seine Transzendentalphilosophie als eine „Critik der reinen Vernunft“ charakterisiert (vgl. AA 10:145). Die Kritik der reinen Vernunft ist Kants Transzendentalphilosophie, und diese gehört nicht eigentlich selbst zur Metaphysik. Die Pointe der kantischen Übernahme dieses tradierten Begriffs liegt vielmehr darin, dass die Kritik der reinen Vernunft ganz im traditionellen Sinn eine fundamentalphilosophische Disziplin ist. Kants erkenntniskritische Transzendentalphilosophie bildet die erste fundamentale Abteilung der reinen diskursiven Vernunfterkenntnis, wie die alte Transzendentalphilosophie die erste Abteilung der Metaphysik bildete.⁴⁰ Ich werde fortan, sofern es um die kantische Philosophie geht, nicht zwischen „Transzendentalphilosophie“ und „Kritik der reinen Vernunft“ differenzieren, sondern die kantische Neubestimmung der Transzendentalphilosophie als Kritik reiner Vernunft in den Fokus der Betrachtung rücken (Transzendentalphilosophie2). Kants alte Rede von Transzendentalphilosophie im Sinne des metaphysischen Systems (Transzendentalphilosophie1) betrachte ich als ein Relikt alten Sprachgebrauchs, das zu vernachlässigen ist. In den folgenden Abschnitten wird die Methode (1.2.2, 1.2.3) und die zentrale Fragestellung (1.2.4, 1.3) dieser neuartigen Transzendentalphilosophie näher beleuchtet.
2.2.2 Genesis und Geltung: Die zwei Aspekte der transzendentalen Erkenntnis In diesem Abschnitt soll die Methode der kantischen Transzendentalphilosophie untersucht werden. Mit der Analyse der ‚transzendentalen Erkenntnis‘ wird sich zudem ein Ansatz eröffnen, um die vermeintliche Inkonsistenz in Kants Gebrauch des Ausdrucks ‚transzendental‘ aufzulösen. Die transzendentale Erkenntnis definiert Kant in den beiden Einleitungen zur KrV im direkten Zusammenhang mit der Vorstellung der Kritik der reinen Vernunft als einer neuartigen Wissenschaft. In der A-Auflage der KrV heißt es: Te-A: Ich nenne alle Erkenntnis transzendental, die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unsern Begriffen a priori von Gegenständen überhaupt beschäftigt. (KrV A 11 f.)
In der Einleitung zur B-Auflage ist zu lesen: Te-B: Ich nenne alle Erkenntnis t r a n s z e n d e n t a l , die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt. (KrV B 25)
Auch Otfried Höffe verwendet den Ausdruck „Fundamentalphilosophie“ mit Bezug auf die Kritik der reinen Vernunft (vgl. Höffe 2004: 309 u. a.).
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In der ‚Einleitung zur transzendentalen Logik‘ findet sich eine Anmerkung bezüglich der transzendentalen Erkenntnis, die im Auge zu behalten Kant dringend anmahnt. Insbesondere diese ‚Systemdefinition‘ der transzendentalen Erkenntnis ist hilfreich, um das Interesse der transzendentalen Erkenntnis zu erfassen und die Struktur, die der transzendentalphilosophischen Untersuchung der KrV damit vorgegeben wird, zu identifizieren: Te-S: nämlich: daß nicht eine jede Erkenntnis a priori, sondern nur die, dadurch wir erkennen, daß und wie gewisse Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) lediglich a priori angewandt werden, oder möglich sein [sic!], transzendental (d. i. die Möglichkeit der Erkenntnis oder der Gebrauch derselben a priori) heißen müsse. […] [N]ur die Erkenntnis, daß diese Vorstellungen [des Raumes und seiner geometrischen Bestimmungen] gar nicht empirischen Ursprungs sein [sic!], und d[er] Möglichkeit, wie sie sich gleichwohl a priori auf Gegenstände der Erfahrung beziehen könne, kann transzendental heißen. (KrVA 56/B 80 f., Hervorh. SB⁴¹).
Allen drei Textstellen (Te-A, Te-B und Te-S) zufolge geht es in der transzendentalen Erkenntnis um einen Teilbereich der apriorischen Erkenntnis und zwar um diejenige Art apriorischer Erkenntnis, durch die wir erkennen, dass und wie Vorstellungen, Anschauungen oder Begriffe, a priori möglich sind oder angewandt werden können.⁴² Die transzendentale Erkenntnis erkennt demnach Zweierlei, nämlich (1) den apriorischen Ursprung gewisser objektiver Vorstellungen (Anschauungen oder Begriffe) und (2) die (Un‐)Möglichkeit ihres apriorischen Gegenstandsbezugs. Der erste Aspekt der transzendentalen Erkenntnis kann ihr „genetischer Aspekt“ und der zweite ihr „juridischer Aspekt“ genannt werden.⁴³
Im Text der KrV steht statt „der“ Möglichkeit „die“ Möglichkeit – ich redigiere, um das alte ontologische Verständnis abzuwehren. ‚Vorstellung‘ ist ein generischer Begriff, der als objektive Perzeptionen die Arten Anschauung und Begriff umfasst (vgl. KrV A 320/B 376). In A ist nur von Begriffen die Rede. Den Ausdruck „genetisch“ benutzt auch Kant in den Prolegomena, um seine Position eindeutig von der rationalistischen zu unterscheiden, die den Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand als einen „logischen Unterschied der Klarheit oder Dunkelheit“ von Vorstellungen begreift, statt eines „genetischen des Ursprungs der Erkenntnis selbst“ (AA 4:290). Ulrich Schlösser spricht in diesem Kontext von einer Prüfung des Status von Vorstellungen (vgl. Schlösser 2013: bes. 124 f., 130). Der erste Aspekt der transzendentalen Erkenntnis betrifft aber nicht allein die Frage nach dem Status von Vorstellungen, sondern präziser die Frage nach ihrem apriorischen Ursprung in einem Erkenntnisvermögen. Der Ausdruck „juridisch“ soll den rechtfertigungstheoretischen Charakter der von Kant in der KrV verfolgten Argumentation unterstreichen. Der Sache nach unterscheidet auch Knoeppfler zwischen diesen beiden Aspekten der transzendentalen Erkenntnis (vgl. Knoepffler 2001: 38); auch Schlösser weist in seiner Kritik an Förster in diese Richtung (vgl. Schlösser 2013).
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Die zwei Aspekte respektive Fragestellungen der transzendentalen Erkenntnis sind: (1) Genetischer Aspekt: Welche Vorstellungen entspringen a priori? (Apriorischer Ursprung) (2) Juridischer Aspekt: Wie lassen sich diese Vorstellungen a priori auf Objekte anwenden? (Objektive Gültigkeit) Te-S macht insbesondere deutlich, dass es ein Missverständnis wäre, zu meinen, alle apriorischen Vorstellungen seien per se transzendentale Erkenntnisse. Kant erklärt hier, dass die apriorische Raumvorstellung nicht selbst eine transzendentale Vorstellung sei, sondern nur die Erkenntnis, dass die Raumvorstellung gar nicht empirischen Ursprungs ist (genetischer Aspekt) und die Erkenntnis der Möglichkeit ihrer apriorischen Referenz auf Gegenstände der Erfahrung (juridischer Aspekt) „transzendental“ heißen könne (vgl. KrV A 56 f./B 80 f.).⁴⁴ Eine simple Identifikation des Apriorischen und des Transzendentalen ist somit nicht mit Kants Verständnis zu vereinbaren.⁴⁵ In Te-S wird der strikt epistemologische Sinn des kantischen Transzendentalen deutlich: Die transzendentale Erkenntnis der KrV ist zwar eine apriorische Erkenntnis, aber genauer zu spezifizieren als die apriorische Erkenntnis unserer apriorischen Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt: Sie prüft erstens (1), über welche Arten objektiver Vorstellungen das menschliche Erkenntnisvermögen a priori verfügt, die als solche unterschiedlichen ‚Erkenntnisvermögen‘⁴⁶ zuzuordnen sind.⁴⁷ In einem zweiten Schritt (2) prüft
Vgl. auch AA 4:293. In dieser Bestimmung kulminiert der spezifisch kantische Sinn des Transzendentalen. Zur prinzipientheoretischen Bedeutung des Transzendentalen im Kontext der KrV vgl. 2.3.3. Vaihinger scheint diesem Missverständnis aufzusitzen. In seinem Kant-Kommentar schreibt er mit Bezug auf die Einleitung der B-Auflage: „Nach der Erklärung an dieser Stelle ist transsc. Erk. einfach soviel als Theorie des Apriori“ (Vaihinger 1922: 467). Genauer müsste es heißen „Theorie der apriorischen Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt“ (vgl. auch Knoepffler 2001: 36). Nach Hinske ist die Identifikation des Transzendentalen mit dem Apriorischen dem ersten Stadium der kantischen Aneignung des Terminus zuzuordnen, wie sie etwa in Reflexion 4889 (AA 18:20, nach Adickes, zw. 1770 und 1778) tradiert ist: „transscendentalphilosophie ist die reine Erkenntnis a priori“, kann aber keinesfalls als die reife kantische Konzeption gelten (vgl. Hinske 1973: 60). Knoeppfler, der diese Stelle ebenfalls thematisiert, meint, es sei Kants Auffassung, der Raum könne dann als transzendentale Vorstellung bezeichnet werden, wenn er als Prinzip, als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrungsgegenständen verstanden werde (vgl. Knoepffler 2001: 40). Dem ist zuzustimmen und dasselbe gilt dann auch für die Kategorien und die Zeit. Der für diesen Fall einschlägige prinzipientheoretische Sinn des Transzendentalen ist Thema in 2.3.3. Zur Unterscheidung von ‚Seelenvermögen‘ und ‚Erkenntnisvermögen‘, die im Rahmen der kantischen Philosophie notwendig ist (vgl. unter 2.3.3).
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sie deren objektive Gültigkeit, indem erörtert wird, wie sich diese Vorstellungen a priori auf Gegenstände beziehen können.⁴⁸ Diese Zweiteilung der Untersuchung ist notwendig. Denn sofern reine Begriffe legitimerweise objektive Geltung beanspruchen sollen, sind ihre Anwendungsbedingungen a priori auszuweisen, um die Art und Sphäre ihres legitimen Gebrauchs zu Erkenntnisreklamationen zu bestimmen.⁴⁹ Dementgegen liegt die Anwendbarkeit empirischer Begriffe auf der Hand, da sie anlässlich bestimmter Erfahrungen gebildet werden. Gegen den Skeptizismus ist allerdings nachzuweisen, dass die reinen Begriffe nicht bloß der Suggestion des Erkenntnisvermögens entspringen, so als trage das Erkenntnisvermögen die Anlage in sich, a priori Vorstellungen auszubilden, die nicht tatsächlich objektiv gültig sind, sondern nur den Schein objektiver Geltung bei sich führen.⁵⁰ Der zweite juridische Aspekt der transzendentalen Erkenntnis lässt zwei Möglichkeiten zu: Entweder eine a priori entsprungene Vorstellung ist objektiv gültig (2.a) oder ihre objektive Gültigkeit ist nicht ausweisbar und wird in einem illegitimen Verstandesgebrauch lediglich prätendiert (2.b). Daher gehört zur transzendentalen Erkenntnis auch drittens (3) „die Erkenntnis der entsprechenden Fehler der Subreption des Verstandesgebrauchs“ (Förster 2012: 115) und die Kritik der illegitimen, bloß angemaßten und eigebildeten spekulativ-metaphysischen Erkenntnisansprüche.⁵¹ Die Formulierung in Te-B ist gegenüber Te-A besser geeignet, diesen Punkt deutlich zu machen. Denn in Te-B wird gesagt, die tran-
Der spezifische kantische Vermögensbegriff wird in Kapitel 3 thematisiert. Der hier intendierte Sinn ist der einer Quelle, eines Ursprungs von Vorstellungen. Kants Verwendung des Ausdrucks ‚Vermögen‘ in eben diesem Sinn und den damit einhergehenden Unterschied zu Wolff stellt Heidemann heraus (vgl. Heidemann 2017: 64). Der juridische Aspekt der transzendentalen Erkenntnis ist Thema von Kapitel 4. Schlösser unterscheidet auf eng verwandte Weise zwischen dem den Status von Vorstellungen betreffenden Aspekt der transzendentalen Erkenntnis und einem den rechtmäßigen Gebrauch dieser Vorstellungen in Urteilen betreffenden Aspekt (vgl. Schlösser 2013: bes. 124– 29). Er hat auch darauf hingewiesen, dass bei empirischen Begriffen die Fragen nach deren Ursprung bzw. der Möglichkeit – also dem ersten genetischen Aspekt transzendentaler Erkenntnis – und ihrem rechtmäßigen Gebrauch – also dem zweiten juridischen Aspekt transzendentaler Erkenntnis – nicht prinzipiell auseinanderfallen kann, wohingegen dies bei apriorischen Begriffen durchaus denkbar ist (vgl. Schlösser 2013: 128). Diese Anwendungsbedingungen müssen a priori ausweisbar und, sofern die reinen Begriffe objektiv gültig sind, von psychologischen Erklärungsmustern unterschieden sein. Inwiefern eine versäumte Bestimmung des Anwendungsgebiets reiner Begriffe in theoretische Schwierigkeiten mündet, wird v. a. in Kapitel 4 thematisiert. Vgl. dazu Kapitel 4. So ist die Zweiteilung der transzendentalen Logik in eine „Analytik“ und eine „Dialektik“ zu erklären (vgl. dazu 3.2.3).
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szendentale Erkenntnis sei die „Erkenntnis [ … ] , die sich nicht so wohl mit Gegenständen, sondern mit unserer Erkenntnisart von Gegenständen, so fern diese a priori möglich sein soll, überhaupt beschäftigt“ (KrV B 25, Unterstreichung SB), d. h. als objektiv gültig beansprucht wird. In dieser Formulierung ist als Kehrseite des Ausweises der Legitimität bestimmter synthetischer Prinzipien a priori auch die Kritik der bloß angemaßten apriorischen Erkenntnisse reiner Vernunft enthalten.⁵² Der Ausdruck ‚Erkenntnis‘ ist im Kontext der KrV nämlich kein Erfolgswort, sondern bezeichnet eine bewusste objektive Perzeption, die mit dem vorgestellten Objekt übereinstimmen kann oder nicht (vgl. KrV A 320/B 376).⁵³ Die Tatsache, dass die transzendentale Erkenntnis die Berechtigung apriorischer Erkenntnisse prüft, macht Kant in Te-B deutlich, indem er die Wendung „sofern diese a priori möglich sein soll“ verwendet (KrV B 25, Unterstreichung SB), statt zu schreiben: „sofern diese a priori möglich ist“.⁵⁴ In Te-B (und Te-A) ist das Erkenntnisinteresse programmatisch gefasst, wohingegen Te-S das erkenntniskritische Resultat der Untersuchung vorwegnimmt. Te-B lässt gänzlich unentschieden, wie die Erkenntnisobjekte beschaffen sein müssen, damit sie mittels unserer apriorischen Vorstellungen bestimmt werden können (sinnlich oder übersinnlich). In Te-S, zu Beginn der transzendentalen Logik, wird dementgegen das erkenntniskritische Resultat der KrV antizipiert: Unter den Gegenständen überhaupt sind es allein die Gegenstände der Erfahrung, auf die wir uns im spekulativen Vernunftgebrauch wahrheitsfähig beziehen können.⁵⁵ Eine zentrale Pointe der kantischen Transzendentalphilosophie liegt in dem Ausweis, dass die Vorstellungen von Gott, Seele und Welt übersinnliche Ideen und darum keine Gegenstände einer wahrheitsfähigen Bezugnahme der menschlichen Erkenntnis sind. Da der Ausdruck ‚Gegenstand überhaupt‘ so weit gefasst ist, dass noch nicht einmal die Frage der Möglichkeit oder Unmöglichkeit der in Urteilen vorgestellten Gegenstände entschieden ist, können die hypostasierten transzendentalen Ideen als Pseudo-Objekte ‚Seele‘, ‚Welt‘ und ‚Gott‘ in der transzendentalen Dialektik zwar verhandelt werden, allerdings lediglich um nachzuweisen, dass die sie betreffenden Erkenntnisansprüche einer dogmatisch-spe-
In Kapitel 4 wird sich ergeben, dass sie illegitim sind, weil sie die notwendigen Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile missachten. Sie kann wahr oder falsch oder ohne alle Wahrheit sein. Näheres dazu in 3.1.2. Auf diesen Punkt weist auch Knoeppfler hin (vgl. Knoepffler 2001: 35). Den Zusammenhang zwischen Wahrheitsfähigkeit qua Objektreferenz und Erkenntnis klärt Kapitel 2.
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kulativen Metaphysik ungerechtfertigt sind.⁵⁶ Seele, Welt und Gott sind nicht selbst Gegenstand des transzendentalen Erkenntnisinteresses, sondern dieses betrifft allein die Frage nach der menschlichen Möglichkeit, sie a priori erkennen zu können. In diesem Sinn ist die Kritik der reinen Vernunft ein Methoden-Traktat zur Metaphysik. Kants neue erkenntniskritische Transzendentalphilosophie ersetzt die alte Ontologie. Im Gegensatz zur alten Ontologie rechnet sie mit einem Unterscheid zwischen den formal-logischen Prinzipien der Erkenntnis der Dinge und den Bedingungen ihrer realen Möglichkeit.⁵⁷ Die kantische Rede von „Gegenständen überhaupt“ lässt zwar das Grundthema der Ontologie anklingen, wie es bei den deutschsprachigen Autoren des 18. Jahrhunderts unter dieser oder ähnlichen Formulierungen („Dinge überhaupt“, „Gegenstände überhaupt“ oder „Objekte überhaupt“) verhandelt wurde.⁵⁸ Allerdings grenzt Kant diesen höchsten Begriff seiner Transzendentalphilosophie explizit und unzweideutig von dem der Tradition ab: Er erklärt, der Begriff eines Gegenstandes überhaupt habe als der höchste der Transzendentalphilosophie zu gelten, wobei er bloß problematisch genommen werde und es gänzlich unentschieden sei, ob er Etwas oder Nichts bezeichnet (vgl. KrV A 290/B 346).⁵⁹ In der kantischen Transzendentalphilosophie fungiert der Ausdruck ‚Gegenstand überhaupt‘ demnach als Gattungsbegriff für die Unterteilung in Etwas oder Nichts und hat eine epistemologisch bestimmte Funktion (vgl. KrV A 290/B 346).⁶⁰ Dieser Ausdruck darf nicht mit den bereits als
Als Objekt hat der Kritik der reinen Vernunft zufolge nämlich allein dasjenige zu gelten, „in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV B 137). Widerspruchsfreiheit garantiert nur die logische Möglichkeit eines Begriffs, ist aber zu schwach, um die reale Möglichkeit eines Begriffsgehalts (des Objekts) zu garantieren. Daher muss die reale Möglichkeit durch etwas anderes als bloße Begriffe eingesehen werden. In Kapitel 2 wird diese entscheidende Einsicht Kants im Zusammenhang mit der Wahrheitsthematik als Kritik der rationalistischen Wahrheitsauffassung entwickelt. Vgl. dazu R. Larnier Andersons Untersuchung zur kantischen synthetisch-analytisch-Unterscheidung in ihrem historischen Kontext bei Leibniz und Wolff (vgl. Anderson 2015: bes. 119, 93). Diese Auffassung vertritt Hinske (vgl. Hinske 1970a: 31). Etwa in dem Titel zu Wolffs deutschsprachigem Hauptwerk Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt (DM). Das zweite Kapitel trägt den Titel: „von den ersten Gründen unserer Erkenntnis und allen Dingen überhaupt“. In seinem Kommentar zu dieser Schrift bezeichnet Wolff die transzendentale Wahrheit als eine „Eigenschaft des Dinges überhaupt“ (Wolff, DM §43; ad §142). Vgl. Logik: „Der abstrakteste Begriff ist der, der mit keinem von ihm verschiedenen etwas gemein hat und das ist der Begriff von Etwas. Das von ihm Verschiedene ist Nichts, und hat also mit dem Etwas nichts gemein.“ (AA 9:95) Vgl. auch Kants Systemaufriss der Metaphysik: Als erste Abteilung des metaphysischen Systems tritt die kantische Transzendentalphilosophie an die Stelle der alten Ontologie und handelt
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realmöglich vorausgesetzten Dingen überhaupt der vorkantischen Metaphysik identifiziert werden. Sein Sinn ist speziell auf die erkenntniskritischen Belange der kantischen Transzendentalphilosophie zugeschnitten: Unter ihm wird ein logisch möglicher Gegenstandskandidat bloß erwogen und hinsichtlich einer Erkenntnis seiner realen Möglichkeit geprüft.⁶¹ Der Ausdruck ‚Gegenstand überhaupt‘ ist ein technischer Term seiner erkenntniskritisch konzipierten Transzendentalphilosophie und sein Sinn von dem der ‚Dingen überhaupt‘ der klassischen Ontologie unterschieden, wie sie etwa in der Wolff’schen Metaphysik vorkommen. In diesem Sinn ist Kants Auskunft zu verstehen, seine Transzendentalphilosophie sei keine Ontologie, sondern eine Selbsterkenntnis des Erkenntnisvermögens.⁶² Diese „transzendentale“ im Sinne von „außerordentliche“ (B 313 f.) Erkenntnis (vgl. oben [3]) steht durchaus im Fokus der transzendentalen Erkenntnis, nämlich insofern die für das menschlichen Erkenntnisvermögen bestehende Unmöglichkeit einer solchen Erkenntnis erkannt wird. Zwar kann ihre Möglichkeit nicht positiv eingesehen werden, aber der Nachweis, dass dem menschlichen Erkenntnisvermögen keine solche Erkenntnis möglich ist, dient in der transzendentalen Dialektik als Vehikel der kantischen Metaphysikkritik. Dadurch lassen sich apriorische Erkenntnisansprüche, die Übersinnliches (transzendentale Ideen) betreffen, vor dem „Gerichtshof“ der reinen Vernunft als illegitime Behauptungen abweisen (vgl. KrV A xif.).⁶³
2.2.3 Die Sinne des kantischen Transzendentalen in ihrem internen Zusammenhang Ohne die Differenzierung zwischen den beiden Aspekten transzendentaler Erkenntnis muss der Anschein entstehen, Kant verwende den Ausdruck ‚transzendental‘ in unvermittelt mehrdeutiger, vielleicht gar widersprüchlicher Art und Weise. Der Eindruck eines inkonsistenten Begriffsgebrauchs lässt sich allerdings statt von den allgemeinsten Bestimmungen des Seienden von „Ve r s t a n d und Vernunft selbst in einem System aller Begriff und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die g e g e b e n w ä r e n“ (KrV A 845/B 873). Dementgegen koinzidieren im Rationalismus reale und logisch Möglichkeit, Seins- und Denkbedingungen vor dem Hintergrund dessen begriffsanalytischer Wahrheitsdefinition. Diesen Zusammenhängen wird in Kapitel 2 nachgegangen. Vgl. Kants Auskünfte zum Verhältnis seiner Transzendentalphilosophie zur Ontologie (in alter Bedeutung) in der Analytik der Grundsätze: KrV B 303, in den Prolegomena: AA 4:293, in der Metaphysik Mrongovius: AA 29:752, vgl. auch Metaphysik Volckmann: AA 28:363 f. In der KU ist Kant dann erstaunlich spekulativ und auskunftsfreudig bezüglich dieser Erkenntnisart: vgl. KU, §§ 76, 77 in AA 5:401– 410.
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durch eine Disambiguierung entlang der Unterscheidung zwischen den beiden Aspekten der transzendentalen Erkenntnis beheben. ‚Transzendental‘ heißt bezüglich des Ursprungs von Vorstellungen (genetischer Aspekt) eine a priori entspringende Vorstellung (tranzendental1). Transzendental1 hat den Sinn von a priori. Von diesem Sinn ist mit Blick auf den Gebrauch, der von solchen apriorischen Vorstellungen gemacht wird (juridischer Aspekt), ein zweiter Sinn des Transzendentalen (transzendental2) zu unterscheiden. Transzendental2 bezeichnet den illegitimen Gebrauch apriorischer Vorstellungen.⁶⁴ Zwei Bedeutungen des Ausdrucks ‚transzendental‘ sind also zu unterscheiden: (1) Transzendental1 heißt im Zusammenhang mit dem genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis eine a priori entspringende Vorstellung. (2.b) Transzendental2 heißt im Zusammenhang mit dem juridischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis der illegitime Gebrauch einer apriorischen Vorstellung zur Objektreferenz.⁶⁵
Von dem ersten genetischen Aspekt transzendentaler Erkenntnis, nämlich der Erkenntnis des apriorischen Ursprungs gewisser Vorstellung, handelt beispielsweise folgende Stelle in den Prolegomena im ersten Teil, von dem zweiten juridischen Aspekt im zweiten Teil: [D]as Wort: transscendental, dessen so vielfältig von mir angezeigte Bedeutung vom Recensenten nicht einmal gefaßt worden (so flüchtig hat er alles angesehen), bedeutet nicht etwas, das über alle Erfahrung hinausgeht, sondern was vor ihr (a priori) zwar vorhergeht [tranzendental1], aber doch zu nichts Mehrerem bestimmt ist, als lediglich Erfahrungserkenntnis möglich zu machen. Wenn diese Begriffe die Erfahrung überschreiten, dann heißt ihr Gebrauch transscendent [transzendental2] welcher von dem immanenten, d.i. auf Erfahrung eingeschränkten, Gebrauch unterschieden wird. (AA 4: 373 – 374 Anm.; Unterstreichung SB)
Im Folgenden wird deutlich werden, dass die Differenzierung zwischen diesen beiden Sinnen in der transzendentalen Erkenntnis erforderlich ist, um die Grenze zwischen bloß angemaßten und rechtmäßig beanspruchten spekulativen Erkenntnissen zu ziehen, damit Metaphysik als Wissenschaft möglich werde (vgl. insbesondere Kapitel 4). Dort wird deutlich, dass die Unrechtmäßigkeit aus der dogmatisch vorausgesetzten objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe folgt, wohingegen Kant diese durch eine transzendentale Deduktion eigens rechtfertigt und in Schranken setzt. Dies ist der alte metaphysische Sinn, der der von Knoepffler als zweitrangig ausgemachten Bedeutung des Terminus entspricht (vgl. S. 21, Anm. 21).
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Der legitime Gebrauch dieser der Erfahrung vorhergehenden apriorischen Vorstellungen ist nicht „transscendent“ oder transzendental2 im Sinne von „über die Erfahrungsgrenze hinausreichend“, sondern gerade auf die Gegenstände der Erfahrung restringiert. Denn der Gebrauch apriorischer Vorstellungen jenseits der Erfahrungsgrenze ist mit der transzendentalen Deduktion als illegitim gebrandmarkt.⁶⁶ Von einem solchen „transscendent[en]“ oder transzendentalen Gebrauch handelt beispielsweise folgende Passage aus der KrV: Wir wollen die Grundsätze, deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält, i m m a n e n t e , diejenigen aber, welche diese Grenzen überfliegen sollen, t r a n s s c e n d e n t e Grundsätze nennen. […] Daher sind t r a n s s c e n d e n t a l und t r a n s s c e n d e n t nicht einerlei. Die Grundsätze des reinen Verstandes, die wir oben vortrugen, sollen bloß von empirischem und nicht von transscendentalem, d. i. über die Erfahrungsgrenze hinausreichendem Gebrauche sein. Ein Grundsatz aber, der diese Schranke wegnimmt, ja gar sie zu überschreiten gebietet, heißt t r a n s s c e n d e n t . (KrV A 295 f./B 352 f.; Unterstreichung SB)
Ohne die obige Differenzierung zwischen zwei Aspekten transzendentaler Erkenntnis, könnte man in den unterstrichenen Passagen eine widersprüchliche Auskunft bezüglich dessen sehen, was ‚transzendental‘ bedeuten soll.⁶⁷ Mit dieser
Dazu Kapitel 4. So auch Koch: Mit dem Ausweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien für alles, was in Raum und Zeit erscheint, ist deren Gültigkeit zugleich auf Raum und Zeit beschränkt (vgl. Koch 2015: bes. 11). So in jüngerer Zeit Förster (vgl. Förster 2012: hier: 115 f.). Förster übersieht den Unterschied zwischen den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis und meint angesichts der zwei zitierten Textstellen einen Widerspruch in Kants Bestimmung des Transzendentalen auszumachen: Nach der Bestimmung der A-Auflage soll das Transzendentale nach Förster dasjenige sein, was über die Erfahrungsgrenzen hinausreicht, wozu die reine Referenz a priori gehört. Die Frage nach deren Möglichkeit ist in Försters Interpretation die ursprüngliche Leitfrage der KrV. Nach der zweiten Bestimmung soll das Transzendentale mit dem Immanenten zusammenfallen (vgl. die oben zitierten Textstellen KrV A 295 f. und 4: 373 f.; die Stelle aus der Kritik, die auch in B vorhanden ist, zitiert Förster allerdings unvollständig). Es ist dann allerdings nicht mehr ersichtlich, wie Kant einen Systemteil der KrV als ‚Transzendentale Dialektik‘ betiteln kann und inwiefern die Ideen ‚transzendental‘ sein sollen. Dies zieht die Folgethese nach sich, dass die B-Auflage der KrV Förster zufolge als eine fragmentarische Revision der transzendentalphilosophischen Untersuchung anzusehen ist, deren neue Leitfrage nun unter Einschluss der nunmehr in der Transzendentalphilosophie zu berücksichtigenden praktischen Philosophie nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori ist (vgl. Förster 2012: 112). Beide Punkte vermögen allerdings nicht zu überzeugen: 1) Wenn man zwischen den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis unterscheidet, sieht man, dass sich kein Widerspruch ergibt, sondern einmal primär von dem ersten Aspekt, also der Frage nach dem apriorischen Ursprung die Rede ist, und an der anderen Stelle der zweite Aspekt thematisch ist, nämlich die
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Unterscheidung an der Hand wird aber deutlich, dass an dieser letzteren Stelle aus der KrV der juridische Aspekt transzendentaler Erkenntnis, der den Gebrauch apriorischer Vorstellungen zu apriorischen Erkenntnisansprüchen betrifft, gemeint ist. So wie dieser „transscendentale“ Gebrauch hier im Gegensatz zum legitimen empirischen Gebrauch bestimmt wird, handelt es sich um einen illegitimen Gebrauch (transzendental2), einen „Mißbrauch“ (vgl. KrV A 395 f./B 352). Die Stelle in den Prolegomena handelt demgegenüber primär von der Bestimmung einer Vorstellung als transzendental, die auf dem Ausweis ihres nicht-empirischen Ursprungs beruht, also dem im Zusammenhang mit dem genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis stehenden Sinn des Transzendentalen (transzendental1). Erst im zweiten Teil ist an dieser Stelle der Gebrauch von Vorstellungen thematisch. Auch hier wird zwischen dem legitimen auf die empirische Sphäre bezogenen, immanenten Gebrauch auf der einen Seite und dem illegitimen transzendentalen Gebrauch auf der anderen Seite unterschieden (transzendental2). Von diesem illegitimen Gebrauch ist in den Prolegomena als „transzendenter Gebrauch“ die Rede.⁶⁸ Die beiden nun unterschiedenen Sinne des kantischen Transzendentalen stehen allerdings nicht unvermittelt nebeneinander, sondern stimmen in einem
Frage nach dem legitimen oder illegitimen Gebrauch apriorischer Vorstellungen. 2) Die praktische Philosophie ist auch nach der B-Auflage nicht Teil der Transzendentalphilosophie. Diesen Punkt forciert Kant gerade in der neu verfassten Einleitung (vgl. KrV B 28 f.). Aus systematischen Betrachtungen zur Bedeutung des Transzendentalen und der kantischen Konzeption der Transzendentalphilosophie ergibt sich ohnehin, dass dies nicht der Fall ist. Die B-Auflage ist also keineswegs als eine unfertige Revision zu betrachten. Vielmehr scheint es so zu sein, dass Kant den Text der KrV unter dem Eindruck der Rezensionen präzisiert und ergänzt hat, um Missverständnisse auszuräumen. Zur Diskussion von Försters Thesen (vgl. Schlösser 2013). Vgl. KrV A 295/B 352. Der subtile Unterschied zwischen „transzendental“ und „transzendent“ bleibt in den Prolegomena unberücksichtigt: Es sind zwei Arten von Fehlern, die aus einem transzendentalen Gebrauch resultieren können: einerseits ein Fehler, „nicht gehörig durch Kritik gezügelte[r] Urteilskraft“, und andererseits ein Fehler, der zur Aufstellung transzendenter Grundsätze nötigt (vgl. KrV A 295 f./B 352). Nur im letzten Fall werden die Grenzen der Erfahrung prinzipiell negiert und überschritten. Im ersten Fall mag nur ein einziger ungerechtfertigter apriorischer Erkenntnisanspruch resultieren, im zweiten ein ganzes systematisch hochgezogenes „Blendwerk“ (KrV A 61/B 85) rationalistischer Metaphysik. Im transzendentalen Gebrauch des Verstandes werden apriorische Vorstellungen pauschal auf Gegenstände überhaupt bezogen, wobei die objektive Geltung präsupponiert wird. Die Unterscheidung zwischen Ding an sich selbst und Erscheinung bleibt hier außer Acht. Auch Schlösser weist auf diesen Punkt hin. Im weiteren Textverlauf, insbes. in Kapitel 2, wird deutlich werden, dass dem ein wahrheitstheoretisches Missverständnis zugrunde liegt, das wiederum mit der Verkennung der spezifischen Vorstellungsart von Raum und Zeit einhergeht (vgl. a. dazu Kapitel 3).
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prinzipientheoretischen Vollsinn überein, auf den die transzendentale Erkenntnis abzielt. Im kantischen Vollsinn als „transzendental“ zu qualifizieren, sind nämlich diejenigen Vorstellungen und Funktionen der Erkenntnisvermögen, die (1) a priori entspringen und zudem (2) Möglichkeitsbedingung von Erkenntnissen sind (transzendentalP).⁶⁹ Sofern beide Aspekte der transzendentalen Erkenntnis positiv beschieden werden, liegt der prinzipientheoretische Vollsinn des kantischen Transzendentalen vor. Dieser spezifische Sinn des kantischen Transzendentalen ist also zu ergänzen: (2.a) TranszendentalP heißt eine apriorische Möglichkeitsbedingung von Erkenntnissen.
In diesem Sinne definiert Kant in der Vorrede zur KU: „Ein transzendentales Prinzip ist dasjenige, durch welches die allgemeine Bedingung a priori vorgestellt wird, unter der allein Dinge Objekte unserer Erkenntnis überhaupt werden können“ (AA 5:181), und erklärt beispielsweise in §24 der B-Auflage: „beide [die Synthesis speciosa und die Synthesis intellectualis] sind t r a n s z e n d e n t a l , nicht bloß weil sie selbst a priori vorgehen, sondern auch die Möglichkeit anderer Erkenntnis a priori gründen“ (KrV B 151). Dieser durch die zweistufige transzendentale Erkenntnis ausweisbare Status einer Vorstellung oder Funktion des Erkenntnisvermögens als eines apriorischen Erkenntnisprinzips kommt nach den Resultaten der KrV insbesondere den transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätzen zu, weil sie Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung, d. h. der empirischen Erkenntnis in ihrem gesetzmäßigen Zusammenhang, sind.⁷⁰ Mit der Differenzierung zwischen synthetischen und analytischen Urteilen und ihren Prinzipien ist das Fundament gelegt, um die Grenzen des legitimen Gebrauchs a priori entspringender Vorstellungen zu bestimmen. Als legitim erweist die transzendentalphilosophische Untersuchung der KrV einzig den empirischen Gebrauch, da die objektive Gültigkeit der Kategorien nur für Gegenstände möglicher Erfahrung gerechtfertigt werden kann (vgl. KrV A 131/B 170). Ihr tran-
Vgl. KrV B 151. Insbesondere sind zu nennen die transzendentale Einheit der Apperzeption („Ich nenne auch die Einheit derselben [sc. der ursprünglichen, reinen Apperzeption] die t r a n s z e n d e n t a l e Einheit des Selbstbewußtseins, um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen“ (KrV B 132, Unterstreichung SB), die transzendentale Funktionen der Einbildungskraft und des Verstandes, die synthesis speciosa der Einbildungskraft und die synthesis intellectualis des Verstandes, und deren Produkte: die transzendentalen Schemata und die transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes. Vgl. KrV B 161, A 111/B 197, AA 4: 373 – 374 Anm. u. a. Zu Kants Erklärung der Erfahrung vgl. B 147 u. a. Dazu im Folgenden 4.3.2 und 5.2.
2.2 Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie
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szendentaler Gebrauch jenseits der Sphäre möglicher Erfahrung ist hingegen insgesamt dialektisch und illegitim (transzendental2, 2.b).⁷¹ Dieser Unterschied zwischen einem transzendentalen und einem empirischen Gebrauch gehört zur „Kritik der Erkenntnisse“ (vgl. KrV A 56 f./B 81). Mit der Reflektion auf die Differenz zwischen dem empirischen und dem transzendentalen2 Gebrauch zieht die Kritik der reinen Vernunft die Grenze zwischen dem legitimen Hoheitsgebiet des Verstandes, innerhalb dessen seine synthetische Verknüpfung von Vorstellungen als wahrheitswertfähige Bezugnahme auf Gegenstände gelten kann, also der theoretischen Erkenntnis, und dem Vorstellungsfeld jenseits dieser Grenze, wo die kategoriale Synthesis nur das „Blendwerk[] einer Erweiterung des r e i n e n Ve r s t a n d e s “ vorgaukelt (vgl. KrV A 295/B 352). Die Kritik zeigt so, dass nur der reine Verstand über „transzendentale“ Grundsätze im prinzipientheoretischen Vollsinn des Transzendentalen wirklich verfügt, weil nur die transzendentalen Grundsätze des reinen Verstandes „immanente“ Grundsätze sind, „deren Anwendung sich ganz und gar in den Schranken möglicher Erfahrung hält“ (KrV A 295 f./B 352), innerhalb deren sie Prinzipien anderer Erkenntnisse sind (transzendentalP , 2a). Dementgegen sollen die „transzendentalen“ Grundsätze reiner Vernunft „diese Grenzen überfliegen“ und werden darum in der KrV „transcendent“ genannt (vgl. KrV A 295 f./B 352) (traszendental2, 2b). Die Grenzziehung resultiert aus der Aufklärung der Möglichkeitsbedingungen unserer apriorischen Erkenntnis von Gegenständen überhaupt, also im zweistufigen Untersuchungsprogramm der transzendentalen Erkenntnis. Dieser prinzipientheoretische Vollsinn des Transzendentalen macht Kants Verwendung des Ausdrucks im Namen der Hauptabteilungen seiner neuen Wissenschaft einsichtig. Denn sie ergeben sich aus dem Untersuchungsprogramm der transzendentalen Erkenntnis. Die ‚Elementarlehre‘ der KrV ist in zwei Hauptabteilungen gegliedert: eine ‚transzendentale Ästhetik‘ und eine ‚transzendentale Logik‘. Die ‚transzendentale Logik‘ wiederum ist in eine ‚transzendentale Ana-
Den transzendentalen Schein kritisiert Kant in der transzendentalen Dialektik. Der „eigentümliche Grundsatz der Vernunft überhaupt (im logischen Gebrauche)“ wird hier von einer logischen Maxime in ein „Principum der r e i n e n Ve r n u n f t “ transferiert, demzufolge immer, wenn das Bedingte gegeben ist, „auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben“ ist (KrV A 307 f./B 364 f.). Hier wird diejenige Art eines transzendentalen Gebrauchs der Kategorien besprochen, die das Aufstellen transzendenter Grundsätze fordert und als ungerechtfertigt zurückgewiesen (vgl. KrV A 296/B 352 f.). Der transzendentale Verstandesgebrauch wird sich als nicht berechtigt erweisen, Erkenntnis zu beanspruchen, weil er die notwendigen Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile missachtet (vgl. dazu Kapitel 4).
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lytik‘ und eine ‚transzendentale Dialektik‘ unterteilt. Die transzendentale Ästhetik ist eine kritische Prüfung der Sinnlichkeit und die transzendentale Logik eine kritische Prüfung des Verstandes und der Vernunft im Hinblick auf die objektive Gültigkeit ihrer apriorischen Vorstellungen.⁷² Der genetische Aspekt, d. h. der apriorische Ursprung, wird in der transzendentalen Ästhetik durch eine ‚metaphysische Erörterung‘ verfolgt, die Raum und Zeit als Möglichkeitsbedingungen der Anschauung erweist (Anschauungsformen).⁷³ Bezüglich des Verstandes und der Vernunft werden in einer ‚metaphysische Deduktion‘ reine Begriffe ausgewiesen.⁷⁴ Der juridische Aspekt, d. h. die Frage nach dem legitimen Gebrauch dieser Vorstellungen, wird in der transzendentalen Ästhetik nach der B-Auflage mit einer ‚transzendentalen Erörterung‘ von Raum und Zeit verbunden.⁷⁵ Die Formen des Verstandes und der Vernunft sind (bzw. wären) in der transzendentalen Logik mittels einer ‚transzendentalen Deduktion‘ als objektiv gültig zu erweisen.⁷⁶ Während Kant beansprucht, die reinen Verstandesbegriffe transzendental deduziert und damit als objektiv gültig erwiesen zu haben, ist von den transzendentalen Ideen jedoch eigentlich keine objektive Deduktion möglich; es lässt sich nämlich nur „eine subjektive Ableitung derselben aus der Natur unserer Vernunft […] unternehmen“ (KrV A 336/B 393). Er meint also zwar den apriorischen Ursprung der transzendentalen Ideen erweisen zu können, aber nicht deren objektive Gültigkeit, wie er es für die reinen Verstan-
Ähnlich Wolfgang Kuhlkampf, der ebenfalls das geltungstheoretische Interesse der KrV betont, das mit den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis verbunden ist (vgl. Kuhlkampf 1988: 199 f.). Zur metaphysische Erörterung des Raumes vgl. KrV A 22/B 37-A 25/B 40 bzw. der Zeit A 30/B 46A 32/B 48. Eine ‚metaphysische Erörterung‘ stellt einen Begriff als a priori gegeben vor, erklärt Kant in einem Zusatz der B-Auflage (KrV B 38). Zur metaphysischen Deduktion der Kategorien vgl. KrV A 70/B 95-A 83/B 109, der transzendentalen Ideen vgl. KrV A 321/B 377-A336/B 393. Kant spricht explizit von einer „metaphysischen Deduktion“ der Kategorien in der B-Auflage der KrV (vgl. B 159). Der Sache nach findet sich auch eine metaphysische Deduktion der transzendentalen Ideen, denn zu Beginn der transzendentalen Dialektik wird die Vernunft „isoliert“ und untersucht, ob sie „ein eigener Quell von Begriffen und Urteilen [ist], die lediglich aus ihr entspringen und dadurch sie sich auf Gegenstände bezieht“ (KrV A 305/B 362). Hier wird gezeigt, dass die Vernunft als Schlussvermögen über eigene Begriffe verfügt, die ‚transzendentale Ideen‘ genannt werden. Zur transzendentalen Erörterung von Raum vgl. KrV B 40 – 42 und Zeit B 48 f. Eine ‚transzendentale Erörterung‘ weist einen Begriff als ein apriorisches Prinzip der Möglichkeit anderer synthetischer Erkenntnisse aus (vgl. KrV B 40). Zur transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in ihren zwei Varianten vgl. KrV A 95 – 130, B 129 – 169. Die Kategorien-Deduktion wird in Kapitel 4 besprochen.
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desbegriffe beansprucht. Daher hat ihre Objektivierung mittels des spekulativen Gebrauchs des Vernunftvermögens Kant zufolge als illegitim zu gelten.⁷⁷ Zu betonen ist, dass es bei dem prinzipientheoretischen Vollsinn des kantischen Transzendentalen um epistemologische Prinzipien geht. Die Ermöglichung im Sinne des Konstitutionsidealismus materialontologisch zu deuten, stellt ein schwerwiegendes Missverständnis dar. Um die Eigenart seines Idealismus deutlich hervorzuheben, taufte er den in der KrV entwickelten „Lehrbegriff“ den „transzendentalen Idealismus“ (KrV A 491/B 519). Mit dem Attribut ‚transzendental‘ will er nach eigener Auskunft darauf hinweisen, dass dieser Idealismus nicht die Existenz der Erkenntnisgegenstände betrifft und nicht mit einem empirischen Idealismus verwechselt werden darf:⁷⁸ Das Wort transzendental aber, welches bei mir niemals eine Beziehung unserer Erkenntnis auf Dinge, sondern nur aufs E r k e n n t n i s v e r m ö g e n bedeutet, sollte diese Mißdeutung verhüten. (AA 4:293)
Damit ist der epistemologische Sinn der kantischen Transzendentalphilosophie vorgestellt: Sie ist eine Kritik der reinen Vernunft, d. h. eine selbstbezügliche Untersuchung der Möglichkeit und Grenzen apriorischer Erkenntnisansprüche. Durch die transzendentale Erkenntnis in ihren zwei Aspekten soll die Möglichkeit synthetischer Erkenntnisse a priori erkannt werden, um so die Frage zu klären, ob Die in der Dialektik thematischen Ideen sind allerdings doch in gewisser Weise im prinzipientheoretischen Vollsinn transzendental, nicht insofern sie objektiv gültige Bestimmungen des Seienden sind, aber doch insofern sie in ihrem regulativen Gebrauch die Erkenntnis der Natur (materialiter spectata) ermöglichen. Vgl. dazu Kapitel 4. Theoretische Erkenntnis ist diejenige Erkenntnis, die aus dem spekulativen Vernunftgebrauch resultiert (vgl. dazu 2.2.4). Die Missdeutung des transzendentalen Idealismus als eines empirischen Idealismus erfolgte allerdings seit dem Erscheinen der Erstauflage der KrV, auch wenn Kant versuchte, dem durch die Umbenennung in einen „kritischen“ Idealismus (AA 4: 293) oder „formalen“ in der B-Auflage der KrV (B 519 Anm.1) entgegenzutreten. Exemplarisch sei auf die Göttinger Rezension von Christian Garve und Johann G. H. Feder verwiesen (Zugabe zu den Göttingschen Anzeigen von gelehrten Sachen unter der Aufsicht der Königl. Gesellschaft der Wissenschaften. Der erste Band auf das Jahr 1782. Göttingen, gedruckt bey Johann Christian Dietrich, 3. Stück, den 19. Januar 1782, 40 – 48. Beilage zu den Prolegomena (in: Kant/Pollok 2001: 183 – 190). Konstitutionsidealistische Deutungen der KrV sind bis auf den heutigen Tag verbreitet. Zur Kritik dieser Deutungsrichtung vgl. Heidemanns entwicklungsgeschichtliche Darstellung der Idealismus-Kritik Kants (vgl. Heidemann 1998). Heidemann hat dargelegt, dass und inwiefern transzendentaler Realismus und empirischer Idealismus die zwei Seiten der Kontraposition des transzendentalen Idealismus sind (vgl. Heidemann 1998: bes. 55 – 58, 282 zur ’Widerlegung des Idealismus’). Kants Lehre von Raum als der Form des äußeren und Zeit als der Form des inneren Sinns spielt hierbei die zentrale Rolle (vgl. dazu Kapitel 3).
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Metaphysik als Wissenschaft möglich ist. Der disziplinäre Charakter, das Erkenntnisinteresse und die verfolgte Methode dieser neuen Gestalt der Transzendentalphilosophie sind damit geklärt. Außerdem wurde Kants Verwendung des Ausdrucks ‚transzendental‘ in seinen verschiedenen Bedeutungsnuancen auseinandergesetzt und diese wiederum in ihrem internen Zusammenhang einsichtig gemacht. Somit hat sich der Verdacht, Kant verwende den Begriff ‚transzendental‘ inkonsistent, nicht erhärtet. Zu disambiguieren sind zunächst die beiden, mit den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis verbundenen Sinne des Transzendentalen, um die scheinbare Inkonsistenz aufzulösen. Sodann ist aber festzustellen, dass beide Bedeutungen des Transzendentalen in einem internen Zusammenhang stehen, der sich aus Kants transzendentalphilosophischem Projekt ergibt: ‚Transzendental‘ im kantischen Vollsinn heißt eine apriorische Vorstellung oder Funktion des Erkenntnisvermögens, die apriorische Möglichkeitsbedingung von Erkenntnissen ist (transzendentalP). Auch der Vorwurf, Kant verwende den Ausdruck ‚transzendental‘ auf unvermittelt mehrdeutige Weise, lässt sich also bei genauer Betrachtung nicht aufrechterhalten. In dem folgenden Abschnitt 2.2.4 soll der epistemologische Charakter der KrV näher beleuchtet werden, indem die Wahrheitsproblematik ins Blickfeld gerückt wird. Bis an diese Stelle hat die Klärung des Begriffs ‚transzendental‘ in der KrV zum Begriff des Erkenntnisvermögens geführt, das sich in der transzendentalen Erkenntnis selbst hinsichtlich seiner apriorischen Vorstellungen und deren Objektbezug analysiert. Es wurde deutlich, dass Kant in seiner Transzendentalphilosophie, die eine Kritik der reinen Vernunft ist, nicht Seinsprinzipien, sondern Erkenntnisprinzipien untersucht. Gezeigt werden soll nun, dass das besondere Problem, das diese fundamentale Epistemologie aufzuklären hat, im Gegensatz zur kritischen Analyse des Begehrungsvermögens und des Gefühls der Lust und Unlust die Frage nach dem Grund der Beziehung einer Vorstellung auf ihr Objekt ist. Es gilt zudem, den wahrheitstheoretischen Kontext dieser Frage zu umreißen.
2.2.4 Die Wahrheitsfrage als spezifisches Problem des Erkenntnisvermögens Um ein tieferes Verständnis zu erreichen, weshalb die Transzendentalphilosophie eine „gantz neue Wissenschaft“ (AA 10:144 f.) erfordert, die Kant Kritik der reinen Vernunft nennt, soll nun die wahrheitstheoretische Fragestellung, die Kant in der KrV verfolgt, offengelegt werden. Gille Deleuze hat darauf hingewiesen, dass im Kontext der kantischen Philosophie zwei Bedeutungen des Vermögensbegriffs zu unterscheiden sind (Deleuze 1983):
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(1) In einer ersten Bedeutung meint ‚Vermögen‘ ein Seelenvermögen. Kant unterscheidet drei: (a) das Gefühl der Lust und Unlust, (b) das Begehrungsvermögen und (c) das Erkenntnisvermögen (vgl. KpV AA 5:196 f., erste Einleitung zur KU in AA 20:205 f. u. a.). Die Unterscheidung von Seelenvermögen korreliert mit den verschiedenen Beziehungen, in denen ein Objekt zum Subjekt stehen kann. Im Fall des Vermögens des Gefühls der Lust und Unlust (1.a) wird die Vorstellung als subjektive Wirkung, die ein Objekt in einem Subjekt evoziert, betrachtet. Dabei steht nicht der Objektbezug der Vorstellung im Fokus, sondern seine Wirkung auf das Vorstellungssubjekt im Hinblick darauf, ob dessen Lebenskräfte intensiviert oder gehemmt werden. Bei den anderen beiden Seelenvermögen geht es hingegen um den Objektbezug. Im Fall des Begehrungsvermögens (1.b) steht die Vorstellung zu ihrem Objekt in einem speziellen Kausalverhältnis: Hier bewirkt die Vorstellung das Objekt realiter. ⁷⁹ Im Fall des Erkenntnisvermögens (1.c) ist die Vorstellung hingegen nicht unter dem Gesichtspunkt der Realisierung zu betrachten, sondern unter dem Gesichtspunkt der Übereinstimmung auf ihr Objekt bezogen. (2) In einer zweiten Bedeutung heißt „Vermögen“ ein Erkenntnisvermögen im Sinn eines apriorischen Ursprungs von Vorstellungen, einer Erkenntnis-Quelle. So viele Vorstellungen genetisch verschiedener Art es gibt, so viele Vermögen gibt es in diesem Sinn.⁸⁰ Es wurde bereits deutlich, dass in der KrV die transzendentale Erkenntnis im ersten Schritt die Erkenntnisvermögen im Sinne eines Ursprungs von Vorstellungen im Seelenvermögen ‚Erkenntnisvermögen‘ untersucht (genetischer Aspekt). Unterschieden werden: die Sinnlichkeit mit den Anschauungsformen Raum und Zeit; der Verstand mit den Kategorien und die Vernunft mit den transzendentalen Ideen.⁸¹ Auf den wahrheitstheoretischen Hintergrund seiner Kritik des Erkenntnisvermögens, der Kritik der reinen Vernunft, macht Kant in einem Brief an Herz aus
Vgl. KpV AA 5:9 Anm.2: „Das Begehrungsvermögen ist das Vermögen desselben [eines Wesens], durch seine Vorstellungen Ursache von der Wirklichkeit der Gegenstände dieser Vorstellungen zu sein.“ Das Objekt der theoretischen Erkenntnis ist dem Dasein nach vom Subjekt unterschieden. Hier besteht der Bezug einer Erkenntnis auf einen Gegenstand in dessen Bestimmung, wohingegen er in der praktischen Erkenntnis dessen Verwirklichung ist. Vgl. Kants Unterscheidung von theoretischer und praktischer Vernunfterkenntnis in KrV B ixf. Zu den unterschiedlichen Beziehungstypen der Vorstellung und ihrem Objekt in den drei oberen Seelenvermögen vgl. Deleuzes pointierte Darstellung (in: Deleuze 1983: 8 – 15, bes. 8,13 f.). Um terminologische Eindeutigkeit zu schaffen, wird im Folgenden hinsichtlich dieser zweiten Bedeutung von Erkenntnisquellen statt von Erkenntnisvermögen gesprochen. Mit dem Ausdruck ‚Erkenntnisvermögen‘ ist also stets das Seelenvermögen gemeint.
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den frühen 1770er Jahren aufmerksam.⁸² Damals war er noch mit der Konzeption seiner neuen Transzendentalphilosophie befasst. Er berichtet in diesem berühmten Brief, wie sich sein Denken seit De Mundi weiterentwickelt hat: Er sei nunmehr auf etwas Wesentliches aufmerksam geworden, das „in der That den Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metphys:, ausmacht“ (AA 10:130) und ihm selbst bisher in seinen metaphysischen Versuchen ebenso mangelte, wie allen anderen auch. „Ich frug mich nemlich selbst“, schreibt Kant, „auf welchem Grunde beruhet die Beziehung desienigen, was man in uns Vorstellung nennt, auf den Gegenstand?“ (AA 10:130). Er skizziert in den folgenden Zeilen des Briefes zwei kausal-kognitive Erkenntniskonzeptionen, unter deren Prämisse die Beziehung zwischen Vorstellung und vorgestelltem Objekt leicht zu erklären ist: zum einen den kognitiven Kausalismus nach empiristischem Modell (Modell α) und zum anderen den kognitiven Kausalismus nach dem klassischen Modell eines archetypischen Verstandes (Modell β). Ad (Modell α): Wenn „die Vorstellung nur die Art [enthält], wie das subiect von dem Gegenstande afficirt wird, so ists leicht einzusehen, wie er diesem als eine Wirkung seiner Ursache gemäß sey und wie diese Bestimmung unsres Gemüths etwas vorstellen d. i. einen Gegenstand haben könne“ (AA 10:130). Der Gegenstandsbezug der Vorstellung ist gemäß α schlicht als Verhältnis von Ursache und Wirkung konzipiert und daher, Kant zufolge, unproblematisch. Die Vorstellung ist Produkt (reale Folge) der Affektion und daher ihrem Gegenstand notwendigerweise gemäß.⁸³ Ad (Modell β): Den Objektbezug der Vorstellung einer unendlichen, archetypischen Erkenntnis hält er für gleichermaßen unproblematisch. Die Vorstellung ist in diesem Fall das „Urbild der Sachen“, das „in Ansehung des obiects activ wäre, d. i. wenn dadurch selbst der Gegenstand hervorgebracht würde“ (AA 10:130) (intellectus archetypus). Auch gemäß β ist der Objektbezug der Vorstellung als Ursache-Wirkungs-Verhältnis gedacht, allerdings in aktiver Variation: Die Vorstellung ist hier reale Ursache ihres Gegenstandes und stimmt daher mit ihrem Gegenstand notwendigerweise überein. Während sowohl „die Möglichkeit […] des intellectus archetypi, auf dessen Anschauung die Sachen selbst sich gründen [Modell β]“, als auch die „eines in-
Darauf hat Baum hingewiesen (vgl. Baum 1983: 235 f.) Auch Förster hat darauf hingewiesen, dass die „apriorische Referenzrelation das eigentliche Thema der Transzendentalphilosophie“ Kants ist (vgl. Förster 2012: 16). Hier ist das klassische empiristische Modell in den Blick genommen, wie es etwa in Lockes Erkenntnistheorie bemüht wird, wo sich dem ursprünglich leeren Geist gleich einer Wachstafel Vorstellungen (Ideas) einprägen sollen (vgl. dazu im Folgenden 2.3.2).
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tellectus ectypi, der die data seiner logischen Behandlung bloß aus der sinnlichen Anschauung der Sachen schöpft [Modell α]“ (AA 10:130), ohne Weiteres verständlich seien, ergäbe sich für einen endlichen Verstand ein besonderes Problem. Dieses Problem betrifft die Frage, wie sich a priori entspringende Vorstellungen eines endlichen Verstandes auf ihre Gegenstände beziehen, d. h. objektiv gültig sein können. Hier steht die Rechtfertigung der objektiven Geltung a priori entspringender Begriffe in Frage, die in der Kritik der reinen Vernunft zur Begründung einer Metaphysik untersucht werden muss. Wenn der menschliche Verstand zu metaphysischer Erkenntnis befähigt sein soll, so muss er über reine objektiv gültige Begriffe verfügen, deren Geltung allerdings problematisch ist, weil er „durch seine Vorstellungen weder die Ursache des Gegenstandes (außer in der Moral von den guten Zwecken) noch der Gegenstand die Ursache der Verstandesvorstellungen (in sensu reali) [ist]“ (AA 10:130). Prima facie könnte die kantische Bestimmung der Transzendentalphilosophie als Frage nach der objektiven Geltung reiner Begriffe als eitles Unterfangen erscheinen. Es lässt sich jedoch zeigen, dass aus der empiristischen Konzeption eines endlichen Intellekts (Modell α) eine theoretische wie praktische Vernunfterkenntnis umfassende Skepsis folgt, die den Begriff des Erkenntnisvermögens ad absurdum führt. Dieser Skeptizismus betrifft die Naturwissenschaft, insofern aus empirischen Grundsätzen kein notwendiger Kausalzusammenhang geschlossen werden kann und also deren Verfahren, generelle, als notwendig behauptete Hypothesen aufzustellen, ungerechtfertigt erscheint (WahrheitsskepsisE). Wenn sich die Anwendbarkeit mathematischer Erkenntnisse auf reale Erkenntnisobjekte nicht a priori rechtfertigen ließe, beträfe WahrheitsskepsisE insbesondere die Möglichkeit, metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft a priori anzugeben, oder gar eine Metaphysik der Natur zu entwickeln. WahrheitsskepsisE ist ein Skeptizismus „in allem w i s s e n s c h a f t l i c h e n theoretischen Gebrauche der Vernunft“ (AA 5:52). Eine epistemologische Untersuchung ist notwendig, um die Gültigkeit naturwissenschaftlicher Einsichten philosophisch abzusichern.⁸⁴ Obere Seelenvermögen sind Kant zufolge nämlich solche, die „eine Autonomie enthalten“ (AA 5:196), welche die kritische Philosophie ausweisen soll (vgl. AA 5:51). Gäbe es keine „höhere Form“⁸⁵ (Deleuze) der Seelenvermögen, dann gäbe es keine reine Vernunfterkenntnis. Die Kritik der reinen Vernunft hat als epistemologische Transzendentalphilosophie den Nachweis zu führen, dass das Erkenntnisvermögen ein Seelenvermögen ist, das das Gesetzt seiner Ausübung in
Die Skepsis ist ein genuin philosophisches Problem, keines der Naturwissenschaften. Deleuze spricht von einer „forme supérieure“ (Deleuze 1983: 9).
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sich selbst findet (vgl. Deleuze 1983: 9).In dieser methodologischen Revolution sieht Kant die zentrale Leistung seiner Kritik des Erkenntnisvermögens: In jenem Versuche, das bisherige Verfahren der Metaphysik umzuändern, und dadurch, daß wir nach dem Beispiele der Geometer und Naturforscher eine gänzliche Revolution mit derselben vornehmen, besteht nun das Geschäfte dieser Kritik der reinen spekulativen Vernunft. (KrV B xxii)
Der wahrheitstheoretische Kern dieser epistemologischen Transzendentalphilosophie als Kritik reiner spekulativer Vernunft lässt sich an dieser Stelle bereits näher bestimmen: Nach den beiden Modellen des kognitiven Kausalismus, ob empiristisch konzipiert (Modell α) oder archetypisch (Modell β), ist die Beziehung zwischen der Vorstellung und ihrem Objekt kausal zu denken und als solche ohne Weiteres verständlich. Um die Möglichkeit metaphysischer Erkenntnis eines endlichen Intellekts zu prüfen, ist dementgegen die Beziehung reiner Vorstellungen a priori auf ihre Gegenstände unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Übereinstimmung aufzuklären. In der empiristischen Variante des kognitiven Kausalismus (α) können keine reinen Begriffe Berücksichtigung finden, weil hier Erfahrung der Ursprung aller Vorstellungen ist.⁸⁶ In der zweiten Variante eines kognitiven Kausalismus (β) ist aufgrund der unendlichen Erkenntniskonzeption (intellectus archetypus) die Unterscheidung zwischen empirischen und reinen Begriffen obsolet. Für die kantische Konzeption eines endlichen Verstandes, der nicht die reale Ursache seiner Objekte ist, aber über reine Begriffe verfügen soll, ergibt sich die wahrheitstheoretische Frage: Wie ist die notwendige Übereinstimmung einer reinen Vorstellung mit ihrem Objekt, welches sie nicht realiter erzeugt, möglich? Da im Bereich der praktischen Erkenntnis der Gegenstand (das Gute oder Böse [AA 5:58]) durch die Vorstellung realisiert wird und die ästhetischen Urteile nicht objektiv sind, ist die wahrheitstheoretische Frage nach der Möglichkeit der Übereinstimmung einer Vorstellung mit ihrem Objekt (Wahrheitsfrage) ein Problem, das sich speziell in der Analyse des Erkenntnisvermögens stellt. Denn die theoretische Erkenntnis ist keine Kreation des Objekts, sondern dessen wahre oder falsche Bestimmung. Die Bestimmung des Objekts in der Vorstellung kann zutreffen oder fehlgehen, gerade weil die theoretische Vorstel-
Zwar wäre auch hier noch zu erklären, wie aus den sinnlichen Daten Begriffe werden, aber nur „logische“ (vgl. KrV A 854/B 882). Über eine solche Theorie verfügen die Empiristen durchaus, wie z. B. Lockes Theorie der Entstehung von komplexen Ideas durch sensation and reflection verdeutlicht (vgl. Locke, Essay I.xii, 163 f.).Von dieser Theorie empirischer Begriffe unterscheidet sich Kants Theorie durch die Berücksichtigung reiner Begriffe. Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe können im Empirismus nicht erklärt werden (vgl. Kapitel 3 und 4).
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lung ihr Objekt nicht realisiert (vgl. KrV A 92/B 125). Das wahrheitstheoretische Problem des Erkenntnisvermögens umreißt Kant in jenem Brief mit folgenden Fragen: [W]odurch aber werden uns denn diese Dinge gegeben, wenn sie es nicht durch die Art werden, womit sie uns afficiren und wenn solche intellectuale Vorstellungen auf unsrer innern Thätigkeit beruhen, woher komt die Übereinstimmung die sie [reine Begriffe] mit Gegenständen haben sollen, die doch dadurch nicht etwa hervorgebracht werden und die axiomata der reinen Vernunft über diese Gegenstände, woher stimmen sie mit diesen überein, ohne da diese Übereinstimmung von der Erfahrung hat dürfen Hülfe entlehnen. (AA 10:131)⁸⁷
Im Fokus der epistemologischen, näherhin wahrheitstheoretischen Untersuchung der KrV steht also die objektive Geltung reiner Begriffe, welche die metaphysische Erkenntnis erfordert. Da ein real-kausales Verhältnis nicht zur Erklärung dienen kann, insofern keines der beiden Modelle – weder (α) noch (β) – für den menschlichen Verstand greift, muss die Erklärung auf andere Weise erfolgen. Anders formuliert: Das Prinzip der notwendigen Übereinstimmung kann kein ontogenetisches sein. In einem nicht-kausalen Kognitionsmodell ist damit zu rechnen, dass die Kategorie der Realität als Qualität und die der Aktualität als Modalkategorie (Dasein – Nichtsein) auseinanderfallen, während sie im unendlichen Modell des kognitiven Kausalismus (β) koinzidieren. Das Prinzip der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, die im Falle wahrer Erkenntnis besteht,⁸⁸ ist kein kausales Prinzip. Im Rahmen der epistemologischen Transzendentalphilosophie ist dieses Prinzip aufzuklären, um die Metaphysik methodologisch zu fundieren. Wenn nach dem Grund der Beziehung einer Vorstellung zu ihrem Gegenstand gefragt ist, dann ist also nach einem geltungstheoretischen Prinzip gefragt. Kants
Für die mathematischen Objekte ergibt sich das Problem nicht, weil diese „Objecte vor uns nur dadurch Größen sind und als Größen können vorgestellet werden, da wir ihre Vorstellung erzeugen können, indem wir Eines etlichemal nehmen. Daher die Begriffe der Größe selbstthätig seyn und ihre Grundsätze a priori können ausgemacht werden.“ (AA 10:131). Kant klassifiziert die mathematische Erkenntnis als synthetische Erkenntnis, die ihr Erkenntnisobjekt durch Konstruktion in der reinen Anschauung realisiert. Baum begreift dieses poietische Modell als maßgebend für Kants Revolution des Denkens. Ihm zufolge zeigt die Kritik (im zweiten Teil der Deduktion), „daß und wie alle Gegenstände unserer Sinne nur dadurch für uns Gegenstände sind, daß wir ihre Vorstellung erzeugen oder antizipieren können“ (Baum 1983: 238, 248 f.). Er versäumt es nicht, in diesem Kontext darauf hinzuweisen, dass der Verstand durch seine Begriffe (die Kategorien) nicht Ursache der Gegenstände ist, sondern deren Übereinstimmung mit ihrem Gegenstand (vgl. Baum 1983: 249). Zur Nominaldefinition der Wahrheit vgl. KrV A 58/B 82.
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Brief an Herz macht deutlich, dass dieses Problem als Frage nach dem fundamentalen Wahrheitssinn für den menschlichen Verstand zu begreifen ist, dessen Vorstellungen den Gegenstand weder kausal verursachen, noch von diesem kausal verursacht werden (vgl. AA 5:46 u. a.).⁸⁹ Das Problem des Erkenntnisvermögens eines endlichen Verstandes stellt sich als die Frage nach dem Grund der Beziehung zwischen einer Vorstellung und ihrem Gegenstand und somit als wahrheitstheoretisches Problem, das es geltungstheoretisch aufzuklären gilt.⁹⁰ Das Desiderat der Kritik des Erkenntnisvermögens, das den epistemologischen Charakter der kantischen Transzendentalphilosophie begründet, ist nun geklärt: Zu fragen ist nach dem Prinzip, das die Möglichkeit der Wahrheit erklärt, d. h. nach dem fundamentalen Prinzip der Bestimmung von Objektivität. Denn das Prinzip synthetischer Erkenntnisse a priori ist der „Schlüßel“ zum „gantzen Geheimnisse“ (AA 10:130) der Metaphysik.
2.3 Das wahrheitstheoretische Desiderat der kantischen Transzendentalphilosophie Die Frage nach der Erkennbarkeit der (materialen) Wahrheit, ihrem epistemischen Prinzip, d. h. dem Wahrheitskriterium synthetischer Urteile, hat sich als die zentrale Fragestellung der kantischen Kritik des Erkenntnisvermögens ergeben. Um dieses wahrheitstheoretische Desiderat der transzendentalphilosophischen Untersuchung, die Kant in der KrV verfolgt, näher zu bestimmen, soll nun die rationalistische und die empiristische Erkenntnistheorie, auf die Kant reagiert, betrachtet werden. Zu klären ist, ob sie zu skeptischen Problemen führen und worin diese bestehen. In Teil 2.3.1 wird der Rationalismus, in Teil 2.3.2 der Empirismus vorgestellt und deren wahrheitsskeptische Problematik herausgearbeitet. In Teil 2.3.3 kann dann Kants Ansatz skizziert werden. Damit ist die in den Kapiteln 2 bis 4 erfolgende wahrheitstheoretische Interpretation der KrV motiviert und geklärt, was Kant gegen die Wahrheitsskepsis zu zeigen hat.
Auch Baum weist auf die Bedeutung der wahrheitstheoretischen Fragestellung für das Verständnis der kantischen Transzendentalphilosophie hin (vgl. Baum 1983: hier: 235). In der A-Einleitung zur KrV fasst Kant die leitende Fragestellung der Untersuchung in ähnlichem Jargon (vgl. KrV A 10).
2.3 Das wahrheitstheoretische Desiderat
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2.3.1 Rationalismus Die pyrrhonische Skepsis basiert auf der aus dem Begründungs-Trilemma folgenden Unmöglichkeit, die Existenz eines Wahrheitskriteriums zu beweisen. Der Rationalismus sucht keinen solchen Beweis, sondern verweist auf die Grundregeln der Logik, die als selbstevident und nicht beweisbedürftig begriffen werden. Als paradigmatischer Vertreter des Rationalismus wird im Rahmen dieser Arbeit Leibniz herangezogen, da er zumindest nominell den Bezugspunkt der kantischen Auseinandersetzung mit der rationalistischen Philosophie darstellt.⁹¹ Leibniz gelten das Widerspruchsprinzip (Satz vom Widerspruch) und der Satz vom zureichenden Grund (Satz vom Grund) als die zwei obersten Prinzipien aller unserer vernünftigen Gedanken.⁹² Wahrheit wird an die Gültigkeit der Logik gebunden und im Ausgang von diesen beiden formal-logischen Grundregeln eine Erkenntnistheorie konstruiert, die in eine logizistische Metaphysik mündet. Der Satz vom Widerspruch besagt: nicht (p und nicht-p).⁹³ Der Satz vom Grund besagt: Für jeden bestehenden Sachverhalt bzw. jede wahre Aussage muss es einen zureichenden Grund geben.⁹⁴ Im Rationalismus ist der Satz vom Widerspruch das Prinzip der notwendigen Vernunftwahrheiten und der Satz vom Grund das Prinzip
Die schematische Darstellung der Position des Rationalismus Leibniz’ ist orientiert an (Liske 2008; Schmidt 1976; Krämer 2010). Diese Skizze der Leibniz’schen Wahrheitsauffassung, Erkenntnistheorie und Metaphysik beansprucht nicht, Leibniz’ Position vollkommen adäquat darzustellen. Dasselbe gilt für die Skizze der empiristischen Position John Lockes. Auch die Frage, ob Kant sich nicht primär mit der Leibniz-Rezeption der deutschen Schulmetaphysik im Umkreis von Wolff auseinandergesetzt hat, bleibt außer Acht. Lediglich Kants Kritik am Empirismus und Rationalismus soll nachvollziehbar gemacht werden, um die wahrheitstheoretische Alternative, die er mit seiner Transzendentalphilosophie eröffnet, in den Blick zu rücken. Dem Satz vom Widerspruch entspricht das ontologische Prinzip der Identität und Differenz, das besagt: Jedes Ding ist mit sich selbst identisch und kein Ding kann widersprüchliche Bestimmungen haben. Über das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren ergibt sich der Zusammenhang mit dem Widerspruchsprinzip (Satz vom Widerspruch). Das Prinzip der Identität der Ununterscheidbaren besagt: Was qualitativ identisch ist, ist numerisch identisch. Also kann nichts Identisches widersprüchliche Bestimmungen enthalten (Satz vom Widerspruch: nicht (p und nicht-p). Der Satz vom Widerspruch formuliert negativ, was das Prinzip der Identität positiv statuiert. Seine ontologische Fassung lautet: Es muss immer einen vollständig determinierenden Grund (und damit eine lückenlose Erklärung) geben, warum etwas vielmehr existiert als nicht existiert (sich so und nicht anders verhält). Der Rationalismus identifiziert logische und ontologische Prinzipien. Für ihn sind die Prinzipien des Denkens die Prinzipien des Seienden (Dinge überhaupt). Zur kantischen Entwicklung des Obersten Vernunftprinzips und der Kritik seines konstitutiven Gebrauchs vgl. 5.3.
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der kontingenten Tatsachenwahrheiten. Beide Prinzipien ergeben sich als Implikationen aus der Begriffsanalytischen Wahrheitsdefinition (predicatum inest subjecto), der zufolge gilt: Begriffsanalytische Wahrheitsdefinition: Die Wahrheit jeder affirmativen Aussage besteht darin, dass sämtliche begriffliche Merkmale des Prädikats unter den Merkmalen des Subjekts enthalten sind.⁹⁵
In 1.1.2 wurde die Verwurzelung dieser Wahrheitsauffassung in einer bestimmten Gestalt der Transzendentalienlehre mit Blick auf Wolffs Philosophie dargelegt. Nach der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung ist jede wahre Aussage eine Identität und ihre Wahrheit ist entweder unmittelbar evident oder lässt sich a priori beweisen, indem sie qua Analyse sämtlicher begrifflichen Merkmale des Subjekts und des Prädikats auf eine Identität zurückgeführt wird.⁹⁶ Auf der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung basiert die analytische Erkenntnistheorie des Rationalismus, die die Zerlegung komplexer Wahrheiten in immer einfachere anstrebt, bis nicht weiter auflösbare einfache Wahrheiten gefunden sind. Diese Erkenntnistheorie nimmt Maß an der Mathematik, die ihre Dogmen auf Axiome und Postulate zurückführt, die keines Beweises bedürfen. Logisches und Ontologisches wird identifiziert und beide Disziplinen werden enggeführt.⁹⁷
(Vgl. Leibniz 1903: 518 f.): „Semper igitur praedicatum seu consequens inest subjecto seu antecedenti. Et in hoc ipso consistit natura veritatis in universum seu connexio inter terminos enuntiationis, ut etiam Aristoteles observavit. Et in identicis quidem connexio illa atque comprehensio praedicati in subjecto est expressa, in reliquis omnibus implicita, ac per analysin notionum ostendenda, in qua demonstratio a priori sita est. – “Es liegt also immer das Prädikat oder das Folgende in dem Subjekt als dem Vorangehenden. Und eben darin besteht die Natur der Wahrheit überhaupt oder die Verbindung zwischen den Eckausdrücken der Aussage, wie schon Aristoteles bemerkt hatte. Und in den identischen Aussagen tritt auch jene Verknüpfung und das Inbegriffensein des Prädikats im Subjekt offen zutage, – in den anderen Aussagen ist sie implizit und muß durch die Analyse der Begriffe bewiesen werden, in der die apriorische Beweisart belegen ist“. Krämer weist darauf hin, dass das Widerspruchsprinzip die Möglichkeitsbedingung der assertorischen Rede markiert und sich ein auf dieser Einsicht basierender indirekter Beweis bei Aristoteles findet (1006a, 5 ff.) (vgl. Krämer (2010: 100). Bzgl. der Formulierung (vgl. Liske 2008: 330). Dabei liegt von Seiten des Prädikates eine vollständige Identität vor, von Seiten des Subjekts eventuell nur eine Teilidentität, denn es mag mehr Merkmale enthalten als das Prädikat, reicher an inhaltlicher Bestimmung sein. Für Leibniz ist das Wahre das Mögliche, womit keine reine Denkmöglichkeit gemeint ist, sondern Geltung innerhalb der Realität beansprucht wird (vgl. Leibniz 1880a). Ein weiteres Beispiel bietet Wolffs Metaphysik, der zufolge im Durchgang durch die Bestimmungen der Gegenstände unserer Welt die Prädikate der Dinge überhaupt (aller möglichen Welten) erkannt werden sollen. Kant hingegen differenziert zwischen logischer und materialer
2.3 Das wahrheitstheoretische Desiderat
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Die Plausibilität der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung speist sich aus dem Blick auf eine besondere Klasse von Sätzen: Unter Abstraktion von allem Inhalt der Erkenntnis fungieren die fundamentalen Regeln des Denkens als Wahrheitskriterien. Die Wahrheit von identischen Sätzen besteht in der Tat aus rein formalen Gründen. Der Inhalt spielt bei dieser Art Aussagen in wahrheitstheoretischer Hinsicht keine Rolle. Die formale Aussage ‚a ist a‘ verhält sich, logisch betrachtet, äquivalent zur Aussage ‚Der Abendstern ist der Morgenstern‘.⁹⁸ Der Satz vom Widerspruch ist als konstitutives Prinzip des (vernünftigen) Denkens das Wahrheitskriterium notwendiger Vernunftwahrheiten: Ein Gedanke, der den Satz vom Widerspruch nicht erfüllt, ist unmöglich und somit notwendig falsch, wie beispielsweise der Gedanke eines runden Quadrats. Nach dem begriffsanalytischen Modell sind bei Leibniz aber auch die kontingenten Tatsachenwahrheiten konzipiert. Zwar lässt sich die Rückführung hier nicht in einer endlichen Anzahl von Analyse-Schritten leisten, weshalb für endliche erkenntnisfähige Vernunftwesen bezüglich kontingenter Tatsachenwahrheiten nur eine asymptotische Annäherung an die Identität möglich ist. Jedoch – so das rationalistische Postulat – vermag ein unendliches Vernunftwesen eine unendliche inhaltliche Mannigfaltigkeit zu überblicken und ihre Wahrheit a priori einzusehen. Schlicht alle Wahrheiten sind dieser Konzeption gemäß Identitäten. Vernunftwahrheiten sind explizite Identitäten, die auch endliche Vernunftwesen a priori erkennen können. Tatsachenwahrheiten sind implizite Identitäten, deren Wahrheit nur ein unendliches Vernunftwesen vollumfänglich a priori einzusehen vermag.⁹⁹ Ergänzt um die negative Hälfte für die Falschheit ergibt sich: Eine Aussage ist wahr genau dann, wenn sie eine explizite oder implizite Identität darstellt (oder sich ihr asymptotisch nähert) und falsch genau dann, wenn sie einen aktuellen oder virtuellen Widerspruch darstellt (oder sich ihm asymptotisch annähert). Daraus ergibt sich per Implikation: Wenn eine Aussage eine Identität oder ein Widerspruch ist, ist sie wahr bzw. falsch (Satz vom Widerspruch) und das konverse Prinzip: Wenn eine Aussage wahr ist, dann lässt sich ihre Wahrheit
Möglichkeit. Die Bedingungen der materialen Wahrheit sind spezifischer als die der logischen (vgl. dazu Kapitel 2 und 4). Letzter ist allenfalls semantisch informativ, nicht erkenntnistheoretisch. In diesem Sinne ist in Ludwig Wittgensteins Tractatus Logico Philosophicus zu lesen: Die logischen Sätze handeln von nichts (6.124); alle Sätze der Logik sind Tautologien (6.126); „Die logischen Gesetze dürfen nicht selbst wieder logischen Gesetzen unterstehen (6.123) (in: Wittgenstein 1987). Die Wahrheit kontingenter Tatsachenwahrheiten gerät für endliche Vernunftwesen aus dem Blick. An die Stelle der Skepsis wird im Rationalismus jedoch eine metaphysische Theorie gesetzt, die sie verschleiert.
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2 Die Kritik der reinen Vernunft
grundsätzlich a priori erweisen, indem sie, falls sie nicht bereits eine Identität ist, auf eine Identität zurückgeführt wird; wenn eine Aussage falsch ist, dann lässt sich ihre Falschheit grundsätzlich a priori erweisen, indem sie, falls der Widerspruch noch nicht offenbar ist, auf einen Widerspruch zurückgeführt wird (Satz vom Grund) (vgl. Liske 2008: 330 f.). Der Leibniz’sche Rationalismus konzipiert Wahrheit generell nach dem Modell der logischen Wahrheit. Daraus resultiert Leibniz’ Metaphysik der Monadologie, die die Differenz von Einzelsubstanzen durch Individualperspektiven erklärt, welche nur durch besondere Einschränkungen im klaren und deutlichen Erfassen unterschieden sind. Grundsätzlich sind die Substanzen autarke Einheiten, die ihre Zustände aus einem inneren Prinzip hervorbringen. Wechselwirkungen gibt es nur auf der nicht-substanziellen Ebene der Phänomene: Hier wird die ideale Übereinstimmung jeder Substanz mit jeder anderen dadurch möglich, dass alle Substanzen dasselbe Ganze einschließen und jede Substanz das gesamte Universum spiegelt. Einzelsubstanzen werden mit vollständigen Begriffen (notio completa), die alle ihre Prädikate (Zustände, auch relative) einschließen, identifiziert (vgl. Leibniz 1880c: 306, 568). Die prästabilierte Harmonie garantiert, dass die verschiedenen Substanzen von vorherein so eingerichtet sind, dass sie, ohne real physisch aufeinander einzuwirken, stets idealiter untereinander übereinstimmen.¹⁰⁰ Die vollständigen Begriffe individueller Substanzen sind Substanzen sub specie possibilitatis wie sie in Gottes Verstand vorkommen.¹⁰¹ Gemäß diesem Modell spiegelt jede Monade jeweils das gesamte Universum. Repräsentation im eigentlichen Sinn ist hier nicht vorgesehen. Im Rahmen dieser Konzeption stellt sich die Wahrheitsfrage daher nicht als Frage der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung, sondern tritt in Gestalt einer Stufentheorie von Erkenntnissen auf: Nur ein unendliches Vernunftwesen erkennt auf vollkommene Weise in intuitiver Schau, während endliche Vernunftwesen zwar Erkenntnisse verschiedenen Grades haben können (dunkel oder klar, klar und verworren oder klar und deutlich (distinkt), deutlich und inadäquat oder deutlich
Nur die Monade ist die eigentlich substanzielle Wirklichkeit. Sie ist von Leibniz atomistisch konzipiert. Ein Körper als Ansammlung isolierter, nebeneinanderstehender Atome ist keine substanzielle Einheit aus einem inneren Prinzip heraus. Der Körper ist für Leibniz ein Phänomen, das daraus erwächst, dass uns ein Aggregat untergeordneter Monaden, zusammen betrachtet, einheitlich erschient; Lebewesen hingegen könnten aufgrund einer übergeordneten Seelenmonade als genuin substanzielle Einheiten aufzufassen sein (vgl. Liske 2008: 337). Für den Hinweis, dass das Universum andernfalls dem Satz vom Widerspruch widersprechen würde, danke ich Aljoscha Beck. Das metaphysische Prinzip der prästabilierten Harmonie folgt aus dem Satz vom Widerspruch und bedarf keines willkürlichen, göttlichen Aktes (vgl. Koch 1989: 18).
2.3 Das wahrheitstheoretische Desiderat
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und adäquat, adäquat und symbolisch oder adäquat und intuitiv), aber die höchste Erkenntnisart, die intuitive Erkenntnis, ist in ihrem Fall auf einfache Vernunftwahrheiten begrenzt (vgl. Liske 2000: 158 f.). Dementgegen soll ein vollkommenes, unendliches Vernunftwesen alle Wahrheiten intuitiv erkennen können (visio infallibilis). Erkennbar im strikten Sinn sind für endliche Vernunftwesen also nur die Vernunftwahrheit, d. h. identische Urteile, die selbstevident und keines weiteren Beweises bedürftig sind. Die kontingenten Tatsachenwahrheiten sind zwar in der metaphysischen Theorie des Rationalismus nach Maßgabe des Begriffsanalytischen Wahrheitsbegriffs als Wahrheiten inkludiert, aber aus der Sphäre der menschenmöglichen Erkenntnis prinzipiell ausgeschlossen. Erfahrungserkenntnis ist für Leibniz nicht eigentlich wahr, sondern bloß wahrscheinlich. Die in Leibniz Augen bloß vorläufige, antizipierende empirische Erkenntnis (deren Gewissheit er – entgegen dem Platonismus, den er für sich beansprucht¹⁰² – nicht leugnet) ist gedacht als in der reinen, absoluten Erkenntnis aufgehoben. Leibniz’ intellektualistischer Philosophie zufolge ist für Gott alles rational. In anderen Worten: Gott ist definiert als das Denken aller Wahrheiten (vgl. Leibniz, Mon §43). Die mit dem Rationalismus einhergehende WahrheitsskepsisR wird in Kapitel 2 näher analysiert, vollumfänglich allerdings erst in Kapitel 4 besprochen.¹⁰³
2.3.2 Empirismus Während dem Rationalismus identische Urteile als selbstevident und daher nicht beweisbedürftig gelten, begreift der Empirismus die sinnliche empirische Erkenntnis als unmittelbar und evident. Für den Empirismus bildet Erfahrung die Basis aller Erkenntnis. Als Opponent des rationalistischen Denkens behauptet dieser, dass der gesamte Inhalt des Denkens durch die Sinne in den Verstand kommt.¹⁰⁴ Locke, der im Hinblick auf Kants KrV wohl wichtigste Vordenker auf Seiten des Empirismus, geht davon aus, dass alle Erkenntnis auf äußerer und
Lockes System begreift er hingegen als dem des Aristoteles verwandt (vgl. Leibniz 1880b: 47). Diese Einschätzung beglaubigt Kant (vgl. KrV A 854/B 822). Wie die mit dem Empirismus verbundene WahrheitsskepsisE umfasst sie einen epistemischen (vgl. Kapitel 2) und einen metaphysischen Aspekt (vgl. Kapitel 4). Zur WahrheitsskepsisE vgl. das Ende des folgenden Abschnitts 2.3.2. Locke schreibt: „…the Perception, which actually accompanies, and is annexed to any impression on the Body, made by an external Object, being distinct from all other Modifications of thinking, furnishes the mind with a distinct Idea, which we call Sensation; which is […] the actual entrance of any Idea into the Understanding by the Senses“ (Locke, Essay II.xix.1).
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innerer sinnlicher Wahrnehmung beruht (sensation und reflection).¹⁰⁵ Der innere Sinn ist analog zum äußeren Sinn konzipiert. Qua äußerer oder innerer Wahrnehmung gehen dem Verstand Vorstellungen (Ideas)¹⁰⁶ zu. Zwischen zwei Arten von Ideas ist zu unterscheiden: Ideas sind entweder einfach oder komplex. Erstere hängen von der Ausstattung des Menschen mit besonderen Sinnesorganen ab. Hinsichtlich dieser einfachen Ideas verhält sich das Erkenntnisvermögen passivrezeptiv (vgl. Locke, Essay II.xii.1).¹⁰⁷ Einfache Ideas entstehen unwillkürlich durch Abstraktion aus Erfahrungsgegebenheiten, also zwar nicht ohne Verstandestätigkeit (Abstraktion), aber ohne „kreative“ Verstandestätigkeit, nämlich durch die passive Hinnahme der Eindrücke, die uns die Dinge mit ihren Ähnlichkeiten und Unähnlichkeiten darbieten.¹⁰⁸ Davon unterschieden sind komplexe Ideas, die durch dreierlei Operationen des Verstandes generiert werden: entweder (a) indem mehrere einfache Ideas zu einer komplexen verbunden werden (Integration [compounding]),¹⁰⁹ wie die Idea der Röte und der Süße zu der Idea von etwas süßem Roten, etwa einer Erdbeere; oder (b) durch Vergleichung (Reflexion) zweier einfacher oder komplexer Ideas, ohne sie in eine zu integrieren, wodurch relationale Ideas entstehen, beispielsweise die Idea der Kausalität (etwa anlässlich von Blitz und Donner); oder schließlich (c) indem durch Absehung (Abstraktion) von den real existierenden Besonderheiten generelle Ideas erzeugt werden, beispielsweise die Idea eines Lebewesens durch Absehung von allen Besonderheiten, die seine reale Existenz begleiten, seinem Lebensraum, seiner besonderen Gestalt etc. (vgl. Locke, Essay II.xii.1). Durch diese dreifaltige Verstandestätigkeit (Integration, Reflexion und Abstraktion) entstehen Locke zufolge alle komplexen Ideas, die er in Modi, Relationen und Substanzen unterteilt (vgl.
Die schematische Darstellung des Empirismus Lockes ist orientiert an: (Krüger 2010; Colman 2010; Brandt 2008; und generell an: Albrecht 2006). Ich behalte den englischen Ausdruck bei, um eine Verwechslung mit den kantischen Ideen zu verhindern. Lockes einfache Ideas sind allerdings abstrakt und generell – es handelt sich um die homogenen Teilvorstellungen, bei denen die Abstraktion zum Stillstand kommt (z. B. Farbe); sie werden als „Randbedingungen der Verstandesanalyse des Gegebenen“ passiv übernommen (vgl. Krüger 2010: 76). Krüger unterscheidet zwei Sinne von Machen: einen konservativ-abstraktiven, wo das Machen1 lediglich Abstraktion bedeutet und auf die Eigenart des sinnlich dargebotenen Vorstellungsmaterials restringiert bleibt, und einen kreativen Sinn, wo das Machen2 eine genuin andersartige schöpferische Leistung des Verstandes zur Formation von etwas qualitativ Neuem erfordert (vgl. Krüger 2010: 75 f.). Die Verstandestätigkeit des Compounding könnte auch mit dem deutschen Ausdruck ‚Verbindung‘ übersetzt werden. Ich habe mich für ‚Integration‘ entschieden, um den Verbindungsbegriff der kantischen Synthesis-Theorie vorzubehalten (vgl. 4.2.2).
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Locke, Essay II.xii.2). Nach Maßgabe der Locke’schen Erkenntnistheorie gibt es also auf der einen Seite die einfachen Ideas der Erfahrungsbasis und auf der anderen Seite die durch die Operationen des Verstandes hergestellten und nur mittelbar auf Erfahrung bezogenen komplexen Ideas. Wahrheitstheoretisch unterscheidet Locke zwischen der metaphysischen Wahrheit der Dinge auf der einen Seite und (im Anschluss an Aristoteles) der Wahrheit von Propositionen¹¹⁰ auf der anderen. Die metaphysische Wahrheit ist „the real Existence of Things, conformable to the Ideas to which we have annexed their names“ (Locke, Essay, IV.vi.11). Die Wahrheit von Propositionen ist „the joining or separating of Signs, as the Things signified by them, do agree or disagree one with another“ (Locke, Essay IV.v.2).¹¹¹ Da Zeichen (Signs) entweder Ideas oder Sätze (Words) sein können, unterscheidet er noch einmal zwischen einer mentalen Wahrheit (Ideas) und einer verbalen Wahrheit (Sätze) (vgl. Locke, Essay, IV.v.2). Lockes verbale Wahrheit gründet in der Korrespondenz zwischen Sätzen und Ideas, die mentale Wahrheit in der Korrespondenz von Ideas untereinander. Lockes empiristisches Modell sieht Repräsentation vor. Sätze repräsentieren Ideas und Ideas wiederum Dinge. Wahrheit will Locke in einem korrespondenztheoretischen Sinn verstehen. Allerdings besteht die Korrespondenz der propositionalen Wahrheit bloß zwischen mentalen Entitäten, statt zwischen realen Objekten und ihren mentalen Repräsentationen. Dennoch hat er den traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff im Blick: „Truth consists in the putting together, or separating these Signs, according as the Things, which they stand for, agree or disagree“ (Locke, Essay IV.v.5). Die empiristische Erkenntnistheorie mündet folglich in ein skeptisches Problem, das um die Erkennbarkeit der Wahrheit kreist: Locke definiert Erkenntnis als die Perzeption der Übereinstimmung oder des Widerstreits von Ideas. ¹¹² Wenn
Unter ‚Propositionen‘ werden gewöhnlich Satzinhalte verstanden, die entweder wahr oder falsch sind. Locke gebraucht den Ausdruck allerdings in einem generischeren Sinn. Denn er umfasst im Kontext der Locke’schen Philosophie auch Ideas im Unterschied zu Sätzen. Außerdem erwähnt er noch eine moralische Wahrheit im Sinne von Wahrhaftigkeit (vgl. Locke, Essay IV.v.11). Zum Beleg seien zwei Zitate angeführt: „Knowledge then seems to me to be nothing but the perception of the connexion and agreement, or disagreement and repugnancy of any of our Ideas.“ (Locke, Essay IV.v.2); „our Knowledge … all consists in Proposition“ (Locke, Essay II.xxxiii.19). Erkenntnis ist hier begriffen als eine Perzeption der Übereinstimmung oder Nichtübereinstimmung von Ideas und kann entweder Ideas als Wahrnehmungen (intuitive Erkenntnis) oder Ideas als Begriffe (demonstrative Erkenntnis) betreffen (vgl. Locke, Essay IV.ii.14). Die Verschiedenheit von Ideas soll der Geist vermöge seines intuitiven Wissens wahrnehmen (vgl. Locke, Essay III.viii.1).
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sich aber Erkenntnis allein auf mentale Entitäten (Ideas oder Sätze) bezieht, wie können dann Aussagen über Dinge in der Welt, empirische Aussagen (die kontingenten Tatsachenbehauptungen der rationalistischen Theorie), je begründet werden? Wenn jegliche Erkenntnis eine Perzeption von Relationen zwischen Ideas ist, aus denen eine Proposition besteht, dann scheint die objektive Dimension der Wahrheit, die mit der Korrespondenz angezeigt ist, außer Reichweite zu geraten. Hinter Lockes Empirismus scheint sich also eine kohärenztheoretische Wahrheitsauffassung zu verbergen, die nicht die Übereinstimmung einer mentalen Entität mit dem vorgestellten Objekt als maßgebend für ihre Wahrheit oder Falschheit begreift, sondern die Übereinstimmung von mentalen Entitäten untereinander (Kohärenz). Soll die metaphysische Wahrheit der Dinge mit den zwei Arten propositionaler Wahrheit vermittelt sein und am korrespondenztheoretischen Wahrheitssinn festgehalten werden, so muss es eine Erkenntnisart geben, die diese Vermittlung leistet. Das kann nur die empirische Erkenntnis sein. Auf fundamentalem Niveau müssen Einzeldinge und ihre Eigenschaften erkannt werden.¹¹³ Locke gebraucht den Ausdruck Ideas allerdings auch in einem Sinn, in dem er Eigenschaften von Objekten bezeichnet (vgl. u. a. Locke, Essay (II.xxi.1). Er klassifiziert Qualitäten als Kräfte, Ideas zu bewirken.¹¹⁴ Die Interaktion von passivem Erkenntnisvermögen, das qua Wahrnehmung Ideas erhält, und der Wirklichkeit, die diese veranlasst, ist als Ursache-Wirkung-Verhältnis konzipiert. Er unterscheidet zwischen primären und sekundären Qualitäten. Die primären Qualitäten wie Ausdehnung, Gestalt, Festigkeit und Beweglichkeit kommen den materiellen Gegenständen, die als Komplexe von kleinsten atomaren Teilchen (Korpuskeln) gedacht werden, an sich zu. Ihre verschiedenen Konfigurationen veranlassen, mit besonderen Sinnesorganen ausgestattete Subjekte, Ideas von Farbe, Geschmack, Wärme etc. zu bilden (vgl. Locke, Essay IV.iii.16; III.iii.17). Diese sekundären Qualitäten werden den Gegenständen zugeschrieben. Sie sind als perzipierte Qualitäten in ihnen aber eigentlich nur Kräfte, die bei Wesen mit entsprechender Sinnlichkeit bestimmte Ideas veranlassen (Aktivkräfte), und zugleich, verstandesseitig betrachtet, korrelationale Passivkräfte. Durch Erfahrung erkennen endliche Vernunftwesen, die mit einer besonderen (biologisch spezifizierten) Sinnlichkeit ausgestattet sind, wie Eigenschaften materieller Gegenstände er-
Lockes empirische Erkenntnis besteht nach John Colman in der „sensitiven“ und der „experimentellen“ Erkenntnis, die nicht identisch sind. Erstere betrifft die Existenz von Einzeldingen; letztere betrifft die sekundären Qualitäten, Kräfte und Operationen von Körpern, und setzt erstere voraus (vgl. Colman 2010: hier: 205). Vgl. Locke, Essay (II.viii.8): „which Ideas, if I speak of sometimes, as in the things themselves, I would be understood to mean those Qualities in the Objects which produce them in us“.
2.3 Das wahrheitstheoretische Desiderat
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scheinen, nämlich als Ideas, nicht aber wie sie an sich im Gegenstand sind, nämlich als Kräfte. ¹¹⁵ Also sind zwar die wahrnehmbaren Eigenschaften der Dinge durch Erfahrung erkennbar, aber endliche Vernunftwesen haben Locke zufolge doch immer „imperfect Ideas of Substances“, weil ihnen deren reale Essenz, die ihren Eigenschaften und Operationen zugrunde liegt, prinzipiell unbekannt bleibt (vgl. Locke, Essay, IV.Vi.12).¹¹⁶ Die wahrheitstheoretische Problematik des Empirismus verschärft sich zusätzlich dadurch, dass in der kontingenten aposteriorischen Erkenntnis durch wiederholte Beobachtung stets bloß die Koexistenz von Qualitäten, nicht aber eine notwendige Verknüpfung erkannt wird. Ein weiterer Aspekt der Wahrheitsproblematik tritt auf, wenn Vorstellungen vermittels spontaner Fähigkeiten des Subjekts begrifflich geworden sind und in Urteilen zusammengefasst werden, die sich auf das Dasein der Dinge beziehen und einen Zusammenhang behaupten, der die Instanzen bisher gemachter und daher als wirklich verbürgter Erfahrung transzendiert. In apriorischen Aussagen werden notwendige Verknüpfungen von Eigenschaften in Substanzen behauptet. Die durch Erfahrung mögliche Erforschung der Koexistenz von Qualitäten in materiellen Substanzen ist aber stets Erkenntnis besonderer Objekte in singulären Aussagen. Generelle Wahrheiten können nicht a posteriori, sondern müssen a priori erkannt werden (vgl. Locke, Essay IV.iii.31, IV.vi.1). Empirisch allgemeinen Aussagen, die die Eigenschaften und das Verhalten von materiellen Substanzen betreffen, kommt im Empirismus keine Gewissheit, sondern nur Wahrscheinlichkeit zu.¹¹⁷ Denn singuläre empirische Aussagen sind zwar gewiss („Dieses Stück Gold ist fest.“), aber bei der Umformulierung zu allgemeinen Aussagen geht die Gewissheit verloren („Jedes Stück Gold ist fest.“) und der Grad der subjektiven Überzeugung muss von Gewissheit zu bloßer Wahrscheinlichkeit depotenziert werden (vgl. Locke, Essay IV.ix.1).¹¹⁸ Die Behauptung, dass die empirische Erkenntnis die Erkenntnis der Koexistenz materieller Eigenschaften ist, widerspricht nicht der Feststellung, empirisch allgemeine Aussagen seien bloß wahrscheinlich. Durch eine Fallunterscheidung lässt sich der drohende Widerspruch leicht auflösen: Relativ zu gemachter Erfahrung kann eine (geschlossene) Klasse singulärer empirischer Aussagen ver-
Die Korpuskeltheorie materieller Gegenstände hat Locke wahrscheinlich von Robert Boyle übernommen. Dabei soll der Sachverhalt, dass wir nicht wissen und nicht wissen können, wie die Dinge Ideas in uns verursachen, der Gewissheit der sinnlichen Erkenntnis keinen Abbruch tun (vgl. Locke, Essay IV.xi.11). Daher haben sie nicht als Fall echten Wissens zu gelten (vgl. Locke, Essay IV.iii.14). Auch Kant unterscheidet zwischen strenger Allgemeinheit und empirischen Verallgemeinerungen, die auf Induktion basieren und bloß komparativ allgemein sind (vgl. KrV B 4).
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allgemeinert werden. In dieser Hinsicht ist die empirisch allgemeine Erkenntnis die Erkenntnis der Koexistenz von Eigenschaften, aber keine Erkenntnis ihrer notwendigen Verknüpfung. Im Bezug nicht nur auf die Fälle bisher gemachter tatsächlicher Erfahrung, sondern auf schlicht alle Fälle, ist die empirisch allgemeine Erkenntnis bloß wahrscheinlich. Die Generalisierung empirisch allgemeiner Aussagen als offene Klasse ist zwar nahegelegt durch die bisher tatsächlich gemachte Erfahrung und daher wahrscheinlich, kann aber unter empiristischen Prämissen nicht (als rationales Verfahren) gerechtfertigt werden (vgl. Locke, Essay IV.vi.15).¹¹⁹ Locke zufolge wird die Koexistenz primärer Qualitäten a priori erkannt, z. B. die notwendige Verknüpfung von Gestalt und Ausdehnung. Bezüglich der sekundären Qualitäten soll ferner a priori gewiss sein, dass zwei Bestimmungen ein und desselben Bestimmungsspektrums des sinnlichen Wahrnehmungsapparats nicht in derselben Substanz koexistieren können, z. B. dass ein Blütenblatt nicht zugleich vollständig rot und zugleich vollständig gelb sein kann (vgl. Locke, Essay IV.iii.14– 15). Aber diese Erkenntnis betrifft die Relation von Begriffen und nicht die Existenz von Substanzen, weil nichts darüber gewusst werden kann, wie die Kräfte der Substanzen Wahrnehmungen in den Erkenntnissubjekten bewirken. Im Rahmen des Empirismus kann es weder eine Metaphysik der Natur geben, noch können metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaften a priori dargelegt werden. Den Naturwissenschaften kann ganz generell keine rechtfertigungstheoretische Grundlage ihrer Erkenntnisansprüche geboten werden. Denn die rechtfertigungstheoretische Lücke zwischen gemachter faktischer Erfahrung und ihrer Generalisierung zum Gesetz kann mit den Mitteln des Empirismus prinzipiell nicht geschlossen werden. Unter empiristischen Prämissen ist die Wahrheit allgemeiner Gesetzesaussagen nicht verfügbar, weil nicht alle Fälle bekannt sind. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff bleibt im Ausgang von empiristischen Prämissen somit unanwendbar. Denn die Ebene der eigentlich sub Die Unterscheidung zwischen der Generalisierung über die geschlossene vs. offene Klasse stammt von Colman (vgl. Colman 2010: 210). David Hume hat die skeptischen Konsequenzen des Empirismus prominent herausgestellt: Gemachte Erfahrung erzeugt Denkgewohnheiten unseres Geistes. Die Gewohnheit ist, Hume zufolge, die große Führerin im menschlichen Leben, ein gewisser Instinkt unserer Natur (vgl. Hume, EHU (V.ii.22). Sie allein mache unsere Erfahrung nützlich und lasse uns zukünftig einen gleichen Lauf der Ereignisse erwarten, wie wir sie in der Vergangenheit beobachtet haben. Aber das ist nur eine subjektive, nützliche Erwartungshaltung. Denn: „[T]here is nothing in any object, consider’d in itself, which can afford us a reason for drawing a conclusion beyond it; […] even after the observation of the frequent of constant conjunction of objects, we have no reason to draw any inference concerning any object beyond those of which we have had experience“ (Hume, Treatise, 1.3.12).
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stanziellen Realität bleibt epistemologisch verschlossen, wenn die Erkenntnis im Ausgang faktischer Erfahrung zu erklären versucht und reinen rationalen Prinzipien eine Absage erteilt wird. Locke kann die propositionale Wahrheit also nicht in vollem Umfang mit der metaphysischen Wahrheit vermitteln. Die mit dem Empirismus einhergehende WahrheitsskepsisE hat zwei Aspekte: Zum einen tritt im Empirismus eine prinzipielle Kluft zwischen der „metaphysischen Wahrheit“ der Dinge und der „propositionalen Wahrheit“ der Erkenntnis auf. Zum anderen kann die Geltung allgemeiner Aussagen, die notwendige Bestimmungen der Objektivität aussagen, prinzipiell nicht gerechtfertigt werden. In der Folge erscheint die naturwissenschaftliche Praxis im Empirismus ungerechtfertigt.
2.3.3 Kant Kant erklärt Wahrheit entlang eines Mittelwegs zwischen Empirismus und Rationalismus. Die spekulative Metaphysik, die Leibniz zur Absicherung der menschenmöglichen Wahrheit vor dem Hintergrund seines logizistisch-unendlichen Ideals errichtet, lehnt er ab. Anstatt die Möglichkeiten und Grenzen der Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens mit dem Maßstab eines unendlichen, spekulativ konstruierten Ideals zu vermessen, versucht Kant wie Locke die menschenmögliche Wahrheit aus sich heraus zu erklären.¹²⁰ Allerdings teilt Kant mit dem Rationalismus die These, dass es reine rationale Prinzipien gibt, die in der Formation jeglicher Erkenntnis eine essentielle Rolle spielen. Kants Erkenntnistheorie ist weder im engeren Sinn empiristisch noch rationalistisch. Denn im Kontrast zum Empirismus veranschlag er nicht die Erfahrung als Quelle aller Erkenntnis und im Kontrast zum Rationalismus lehnt er die Identifikation von logischer und materialer Wahrheit ab. Es lassen sich aber auch Gemeinsamkeiten mit beiden systematischen Alternativen ausmachen, die sich in einer wahrheitstheoretischen Betrachtung der KrV erschließen und in den folgenden Kapiteln dargelegt werden sollen. Der kantische Mittelweg zwischen WahrheitsskepsisE und WahrheitsskepsisR lässt sich vorab folgendermaßen skizzieren: Der Rationalismus erkennt rein rationale Erkenntnisprinzipien an, nämlich den Satz vom Widerspruch und den Satz vom Grund als fundamentale logische Prinzipien und Wahrheitskriterien analytischer Aussagen. Nach Maßgabe seiner Begriffsanalytischen Wahrheit konstruiert der Rationalismus in metaphysischer Spekulation die objektive Realität. Identi-
Unendliche Konzeptionen dienen in der KrV nur zur abstraktiv-kontrastiven Profilierung unserer endlichen Erkenntnisart.
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schen Aussagen wie Leibniz’ Vernunftwahrheiten, sind in Lockes Augen trivial (trifling propositions) (vgl. Locke, Essay IV.viii.7).¹²¹ Er kontrastiert sie mit „instruktiver“ Erkenntnis, die den Wissensbestand erweitert, weil das Prädikat zwar eine notwendige Konsequenz der genau festgelegten komplexen Idee (des Subjekts) ist, aber nicht in ihr enthalten ist (vgl. Locke, Essay, IV.viii.8).¹²² Die rationalistische Behauptung, auch Tatsachenwahrheiten seien (implizite) Identitäten, unterschreibt der Empirismus nicht. Wie Locke begreift auch Kant in Opposition zu Leibniz nicht alle Wahrheiten als explizit oder implizit identische Aussagen, sondern unterscheidet die synthetischen Urteile von den analytischen. Nicht dem Ursprung (a priori oder a posteriori) oder der logischen Form, sondern dem Inhalt nach differenziert er zwischen analytischen Urteilen auf der einen Seite, die „bloß erläuternd“ sind, weil das Prädikat vollständig im Subjekt enthalten ist, auch wenn diese Identität nicht unmittelbar evident sein mag, und synthetischen Urteilen auf der anderen Seite, die „e r w e i t e r n d sind und die gegebene Erkenntnis vergrößern“ (AA 4:266 f.). ‚Alle Körper sind ausgedehnt.‘ ist ein analytisches Urteil, weil die Ausdehnung im Begriff des Körpers schon enthalten ist; das Urteil ‚Einige Körper sind schwer.‘ ist hingegen synthetisch, weil hier das Prädikat nicht im allgemeinen Begriff des Körpers (dem Subjektterm des Urteils) enthalten ist (vgl. AA 4:266 f.).¹²³ Die Wahrheit analytischer Urteile ist a priori erkennbar, weil ihr transzendentales Prinzip der Satz vom Widerspruch ist. Aber analytische Urteile beziehen sich nicht auf materiale Objekte, sondern handeln von semantischen Verhältnissen. Eine Bestimmung der materialen Objektivität leisten Kant zufolge nur synthetische Urteile. Als synthetisch qualifiziert er nicht nur die empirischen Urteile, sondern auch die mathematischen und metaphysischen Urteile. Die Prinzipien synthetischer Urteile in einer reinen Philosophie zu untersuchen, ist Kants Innovation. ‚Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‘ ist die Leitfrage der transzendentalphilosophischen Untersuchung der KrV (vgl. AA 4:276, vgl. KrV B 19). Mit der apriorischen Rechtfertigung synthetischer Wahrheitsbedingungen ist das zentrale Beweisziel der kantischen Transzendentalphilosophie benannt und das zentrale Desiderat vorgestellt, das die in den Kapiteln 2 bis 4 entwickelte Interpretation leitet. Der mit dem Empirismus einhergehende Skeptizismus ist
Als Beispiele führt Locke tautologische Aussagen wie ‚Seele ist Seele‘ an (vgl. Locke, Essay, IV.viii.2– 4). Sein Beispiel für eine instruktive Erkenntnis ist das „reale Wissen“, dass jeder der äußeren Winkel eines Dreiecks stets größer ist als ein jeder der entgegengesetzten inneren Winkel, weil diese Relation, laut Locke, kein Merkmal der komplexen Idee ‚Dreieck‘ ist (vgl. Locke, Essay, IV.viii.8). Virtuelle Körper (z. B. geometrische Formen) haben kein Gewicht.
2.4 Fazit
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augenscheinlicher als der Skeptizismus, der aus dem Rationalismus folgt. Ersteren hat Hume offen eingestanden, letzterer wird in Kapitel 2 näher betrachtet, weil Kant, wie sich zeigen wird, die Wahrheitsthematik in den Text der KrV explizit einführt, um die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung als Wurzel von WahrheitsskepsisR zu kritisieren.
2.4 Fazit Die kantische Transzendentalphilosophie ist weder als radikaler Bruch mit deren alter Gestalt zu begreifen noch als glatte Fortführung, sondern als wahrheitstheoretisch motivierte Neubestimmung dieser Disziplin. Die Transzendentalphilosophie der Alten ist eine Fundamentalphilosophie, in der Ontologie und Epistemologie enggeführt werden. Sie möchte qua Begriffsanalyse die allgemeinsten transkategorialen Bestimmungen des Seienden einsehen. Dabei geht sie von der Annahme aus, Erkenntnis- und Seinsbedingungen seien zu identifizieren. Der aus dieser Engführung von Ontologie und Erkenntnistheorie resultierende Wahrheitsbegriff des Rationalismus (Begriffsanalytische Wahrheit) ist die Basis der Leibniz’schen Philosophie. Aus der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung folgt eine Wahrheitsskepsis (WahrheitsskepsisR): Unter der Prämisse, dass alle wahren Sätze identische Aussagen sind, erscheint die Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens einerseits im Hinblick auf Tatsachenwahrheiten (empirische Aussagen) defizitär und andererseits im Hinblick auf apriorische Erkenntnisreklamationen anmaßend. Locke pocht darauf, dass empirische Aussagen keine Identitäten (Tautologien) sind, sondern instruktive (synthetische) Erkenntnisse. Allerdings treten im Rahmen der empiristischen Erkenntnistheorie die „metaphysische“ Wahrheit der Dinge und die „propositionale“ Wahrheit der Erkenntnis (Ideas oder Sätze) auseinander (WahrheitsskepsisE). Infolgedessen kann die naturwissenschaftliche Erforschung der Objektivität im Empirismus nicht philosophisch legitimiert werden.¹²⁴
Falk hat gezeigt, dass die philosophische Skepsis die Bedeutung des Wahrheitsprädikats betrifft. Diese Skepsis bedroht nicht nur einen speziellen Gegenstand des philosophischen Diskurses (Wahrheit), sondern diesen in toto, falls man ihn als strikt nicht-empirisch charakterisiert und außer dem Rekurs auf die Differenz von faktischer Genese und (möglicher) Geltung von Wahrheitsansprüchen keine andere Möglichkeit sieht, diese Charakterisierung zu rechtfertigen und zwar deshalb, weil das skeptische Wahrheitsverständnis die objektive Geltungsdimension von Urteilen unterminiert. Das Skepsis-Problem lässt sich generell als die Forderung charakterisieren, die Möglichkeit von Wissen zu erklären, wobei die gewünschte, zufriedenstellende Erklärung eine Art Vermittlung
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Kant sucht in seiner neuen, strikt epistemologischen Transzendentalphilosophie nach dem Prinzip der Synthesis a priori, um die Wahrheitsskepsis generell zu widerlegen. Während seine rationalistischen Vorgänger Metaphysik als analytische Disziplin verstehen, begreift Kant die metaphysische Erkenntnis als synthetisch. Die Kritik der reinen Vernunft soll die Möglichkeit der Metaphysik als Wissenschaft klären, indem sie die spekulative Synthesis in ihrem vollen Umfang a priori durch Ausweis ihres Prinzips aufzuklären sucht. Diese vormetaphysische Wissenschaft handelt nicht von den allgemeinsten Bestimmungen des Seienden, sondern betrachtet „Ve r s t a n d und Vernunft selbst in einem System aller Begriffe und Grundsätze, die sich auf Gegenstände überhaupt beziehen, ohne Objekte anzunehmen, die g e g e b e n w ä r e n“ (KrV A 845/B 873). Der epistemologische Charakter von Kants neuartiger Transzendentalphilosophie ist näherhin als wahrheitstheoretisch zu bestimmen und zwar insofern als die reflexive Erkenntnis der KrV eine Erkenntnis von Erkenntnisprinzipien ist: Das in der KrV aufzuklärende Problem des Erkenntnisvermögens ist die Frage, wie die Übereinstimmung der Erkenntnis eines endlichen Intellekts, der nicht real-kausale Ursache seiner Erkenntnisobjekte ist, mit ihrem Gegenstand möglich ist, d. h. welches das Prinzip der materialen Wahrheit ist. Die Methode der kantischen Transzendentalphilosophie ist die transzendentale Erkenntnis. In der transzendentalen Erkenntnis sind zwei Fragestellungen verschränkt: Gefragt wird zum einen, welche Vorstellungen dem Erkenntnisvermögen a priori entspringen (genetischer Aspekt); gefragt wird zum anderen, wie diese apriorischen Vorstellungen objektiv gültig sein können (juridische Aspekt). Entlang des genetischen und juridischen Aspekts der transzendentalen Erkenntnis sind zwei Bedeutungsnuancen des Begriffs ‚transzendental‘ zu unterschieden (transzendental1, transzendental2), die im prinzipientheoretischen Vollsinn des Transzendentalen (transzendentalP) zusammenkommen: Im spezifisch kantischen Sinn heißen die apriorischen Möglichkeitsbedingungen der (synthetischen) Erkenntnis „transzendental“.
von Subjektivität und Welt aufzuzeigen hätte, wodurch einsehbar würde, dass und inwiefern eine radikalere Form von Irrtum als der selbstverständlich zugestandene normale empirische Irrtum ausgeschlossen werden könnte (vgl. Falk 2010).
3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik [K]einer Philosophie, die den transzendentalen Standpunkt von dem bloß logischen bestimmt zu unterscheiden weiß, [kann es] einfallen, […] die letzten Gründe des realen, philosophischen Wissens innerhalb des Gebiets der bloßen Logik zu suchen und aus einem Satze der Logik, bloß als solchem betrachtet, ein reales Objekt herausklauben zu wollen. (Gottlob Benjamin Jäsche, AA 9:8)
Kapitel 1 hat die zentrale Bedeutung der Wahrheitsfrage für Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie als Kritik der reinen Vernunft herausgestellt. Nun soll der Wahrheitsbegriff als Thema der KrV erörtert werden. Da die Passage (KrV A 57– 64/B 82– 88), in der Kant die Wahrheitsproblematik expressis verbis zum Thema macht, knappgehalten ist, könnte der Eindruck entstehen, die Wahrheitsproblematik stehe nicht im Vordergrund des transzendentalphilosophischen Untersuchungsprogramms der KrV. Diese Passage aus der Einleitung zur transzendentalen Logik wurde in der Forschung bisher selten hinreichend gewürdigt. In der Einleitung zu Kapitel 2 soll zunächst zweien in der Forschung verbreiteten Missverständnissen entgegengetreten werden. Im Anschluss kann dann der argumentative Gehalt dieser Passage und die Funktion dieses Textabschnitts für das transzendentalphilosophische Programm der KrV systematisch untersucht werden. Zu beachten ist dabei, dass diese häufig übergangene Stelle ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und eine genaue Analyse erfordert, weil ihre Funktion aufgrund ihrer komplizierten Anlage nicht leicht einzusehen ist. Allerdings ist es unerlässlich, die Stoßrichtung der Kritik, die Kant mit der wahrheitstheoretischen Diskussion an dieser Stelle verbindet, präzise zu bestimmen. Nur so kann die Funktion dieses konzeptuell entscheidenden Textabschnitts und die Virulenz der wahrheitstheoretischen Desiderate im Argumentationsgang der KrV nachvollzogen werden. Einleitend wird zunächst in 3.0.1 Kants Einführung der Wahrheitsproblematik im Text der KrV betrachtet und die Virulenz der Wahrheitsthematik im gesamten Text aufgezeigt. Dann wird in 3.0.2 die Funktion des Textabschnitts zur Wahrheitsproblematik in der KrV thematisiert, die bisher nicht präzise erfasst wurde. Im Anschluss wird die Struktur des dreiteiligen Hauptteils vorgestellt.
3.0.1 Die Einführung der Wahrheitsfrage im Text der KrV In der Einleitung zur zweiten Hauptabteilung der Elementarlehre der KrV wird zunächst die Disziplin einer transzendentalen Logik vorgestellt. Dann kommt https://doi.org/10.1515/9783110697858-007
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Kant im Kontext einer Abgrenzung der allgemeinen von der transzendentalen Logik auf die Wahrheitsfrage (Was ist Wahrheit?) zu sprechen. In den ersten beiden Abschnitten der Einleitung zur transzendentalen Logik, in der, wie die Unterüberschrift verrät, die Idee einer transzendentalen Logik entwickelt werden soll, wird zunächst zwischen einer Logik des allgemeinen und einer Logik des besonderen Verstandesgebrauchs unterschieden und innerhalb des allgemeinen Verstandesgebrauchs zwischen einer reinen und einer angewandten Logik differenziert (vgl. KrV A 50 ff./B 74 ff). Im Gegensatz zu der allgemeinen oder formalen Logik, „die von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, d.i. von aller Beziehung derselben auf das Objekt“ und „nur die logische Form im Verhältnisse der Erkenntnisse auf einander, d.i. die Form des Denkens überhaupt“ betrachtet (KrVA 55/B 79, Unterstr. SB), wird die Idee einer transzendentalen Logik vorgestellt. Die transzendentale Logik führt Kant als eine Disziplin ein, die sich wie die formale Logik auf allgemeine und reine Prinzipien a priori gründet. Im Gegensatz zu dieser abstrahiert sie aber nicht von allem Inhalt und betrachtet „nur die Form des Denkens überhaupt“ (KrV A 55/B 79, Unterstr. SB). Stattdessen abstrahiert sie nur vom empirischen Inhalt und hat die Form des reinen Denkens von Gegenständen zum Thema, also die reine Form der Erkenntnis (vgl. KrV A 55/B 79). Denn Erkenntnis besteht „in der bestimmten Beziehung gegebener Vorstellungen auf ein Objekt“ (KrV B 137, vgl. auch KrV A 320/ B 376).¹ Die Fragestellung der transzendentalen Logik erklärt Kant wie folgt: In der Erwartung also, daß es vielleicht Begriffe geben könne, die sich a priori auf Gegenstände beziehen mögen […] als Handlungen des reinen Denkens […] machen wir uns zum voraus die Idee von einer Wissenschaft des reinen Verstandes- und Vernunfterkenntnisses, dadurch wir Gegenstände völlig a priori denken. (KrV A 57/B 81).
Die transzendentale Logik soll demnach die Möglichkeiten apriorischer Bezugnahme auf Gegenstände durch reine Begriffe ausloten. Sie handelt weder von reinen oder sinnlichen Anschauungen noch von Begriffen, die empirischen oder ästhetischen Ursprungs sind, sondern von den reinen Verstandes- und Vernunftbegriffen als „Handlungen des reinen Denkens“ und ihrer objektiven Gültigkeit. Die Disziplin, die Kant „allgemeine“ Logik nennt und die heute „formale“ Logik genannt wird, handelt hingegen von den Formen des Denkens überhaupt und sieht von jeglicher inhaltlichen Bestimmung des Gedachten ab.²
Die Möglichkeit apriorischer Objektreferenz steht, wie Kapitel 1 deutlich gemacht hat, im Fokus der kritischen Evaluation unseres Erkenntnisvermögens durch die Kritik der reinen Vernunft. Im Folgenden werde ich von formaler Logik statt wie Kant von allgemeiner Logik sprechen.
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Zu Beginn des dritten Abschnitts der Einleitung kommt Kant dann – scheinbar unvermittelt – auf die Wahrheitsproblematik zu sprechen: (W) Die alte und berühmte Frage, womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte, und sie dahin zu bringen suchte, daß sie sich entweder auf einer elenden Diallele mußten betreffen lassen [Option 1], oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen, sollten [Option 2], ist diese: Was ist Wahrheit? Die Namenserklärung der Wahrheit, daß sie nämlich die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande sei, wird hier geschenkt, und vorausgesetzt; man verlangt aber zu wissen, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei. (KrV A 57 f./B 82)
An dieser Stelle führt Kant den Wahrheitsbegriff im tradierten, meist auf Aristoteles zurückgeführten Sinn ein, nämlich als Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand.³ Bevor der Frage nachgegangen werden kann, welchen Sinn die kantische Auseinandersetzung mit der Wahrheitsproblematik in der Einleitung zur transzendentalen Logik hat, muss einem ersten fundamentalen Missverständnis vorgebeugt werden, welches die Einordnung der Relevanz der Wahrheitsthematik für das korrekte Verständnis des umfassenderen Projekts der erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie zu verbauen droht. Dieses Missverständnis besteht darin, das ‚Hier‘ des letzten Satzes auf die kantische Lehre selbst zu beziehen, so als würde Kant diese „Namenserklärung der Wahrheit“ für seine Lehre schlicht voraussetzen und diese im Ausgang davon vortragen.⁴ Prauss hat darauf aufmerksam gemacht, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Wahrheit als „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand“ wird in der KrV gerade nicht „geschenkt“ und „vorausgesetzt“, sondern bildet ihr eigentliches Thema.⁵ In seiner erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie
Die aristotelische Definitionsformel ist genau genommen eine der Wahrheit und der Falschheit und findet sich in Meta IV z, 1011b25 – 28. Sie lautet: „Von etwas, was ist, zu sagen, daß es nicht ist, oder von etwas, was nicht ist, zu sagen, daß es ist, ist falsch; hingegen ist wahr, von etwas, was ist, zu sagen, daß es ist, und von etwas, was nicht ist, zu sagen, daß es nicht ist.“ Die Übersetzung ist von Jan Saif übernommen. In der Formel selbst ist von ‚Übereinstimmung‘ nicht die Rede, aber davon, dass Wahrheit einer Aussage in Abhängigkeit von der Konstellation der Sachen zukommt und in diesem Sinn kann gesagt werden, dass Aristoteles Wahrheit als ein Form der Übereinstimmung mit der Wirklichkeit definiert – freilich nur im Sinne einer Namenserklärung (vgl. Szaif 2006: 19). So etwa (Brentano 1930: 13; Heidegger: 215) und Howard Caygill in seinem Kant-Kommentar (Caygill 1995: 402). Martin Heidegger sieht allerdings, dass die kopernikanische Wende die alte Wahrheitserklärung als Adaequatio (Angleichung) der Erkenntnis an das Seiende nicht erschüttert, sondern voraussetzt und begründet (vgl. Heidegger 1929: 13). Prauss kommt das Verdienst zu, auf diesen Zusammenhang erstmalig deutlich hingewiesen zu haben (vgl. Prauss 1973: 74). Der Aufsatz erschien im Jahr 1969 und in überarbeiteter Form ein zweites Mal 1973.
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wendet Kant die Fragerichtung zurück und sucht nach einer Erklärung, wie sie möglich ist.⁶ Diese Tatsache lässt sich auf textueller Ebene vielfach belegen. Dort, wo Kant die Bedingung entscheidender argumentativer Schritte formuliert, wird deutlich, dass Kant in der KrV gerade zu erklären sucht, wie Wahrheit im Sinne von W möglich ist. Die These, dass die Frage, wie Wahrheit möglich ist, der argumentative Motor der gedanklichen Entwicklung der KrV ist, soll zunächst exegetisch nahegelegt werden, bevor der Versuch unternommen wird, eine wahrheitstheoretische Lektüre der KrV als Textinterpretation in der Durchführung zu erhärten. Als textueller Beleg ist an erster Stelle auf die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zu verweisen: Wahrheit ist – ihrer Worterklärung nach – die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand (vgl. W). Die „Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegenständen“ (KrV B 166) als notwendig auszuweisen, ist das erklärte Programm der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Kant sucht also durch die transzendentale Deduktion zu erklären, wie Wahrheit möglich ist. Die Übereinstimmungsmöglichkeit einer Erkenntnis und ihres Gegenstands wird in der transzendentalen Deduktion durch den wechselseitigen Verweis von reinen Begriffen und reinen Anschauungen in der Erkenntnis zu erklären versucht (vgl. KrV B 165 f.).⁷ Die kantische Argumentation basiert auf dem Ausweis reiner Anschauungsformen, die den reinen Begriffen a priori einen Inhalt bereitstellen: „denn, könnte dem Begriffe eine korrespondierende Anschauung gar nicht gegeben werden, so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgend einem Dinge möglich“ (KrV B 146). Also ist die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand Grundlage dieses zentralen Beweisstücks.⁸ Eine Reihe weiterer Stellen lässt sich anführen, um die Virulenz der Wahrheitsthematik im Argumentationsgang der KrV nachzuweisen: Im Abschnitt von den Phaenomena und Noumena hebt Kant hervor, dass seine kritische Untersuchung des menschlichen Erkenntnisvermögens lehre, dass sich die reinen Begriffe und Grundsätze des Verstandes, die „a priori wahr“ und „Quell aller Wahrheit“ sind (KrV A 237/B 296), immer auf empirische Anschauungen, „data zur möglichen Erfahrung“ (KrV A 239/B 298), beziehen, weil Begriffe immer sinnlich gemacht werden müssen, „d. i. das ihm [dem Begriff] korrespondierende Objekt Vgl. Kapitel 2.3.3. Dort wurde die systematische Bedeutung der Wahrheitsthematik für die Kritik des Erkenntnisvermögens herausgestellt. Vgl. dazu Kapitel 4. Vgl. dazu Kapitel 3.
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in der Anschauung darzulegen ist“ (KrV A 240/B 299). Auf diese Weise würden die Grenzen der Erkenntnisansprüche sicher bestimmt werden (vgl. KrV B 296 f.). Besonders prägnant kommt das wahrheitstheoretische Interesse der kantischen Transzendentalphilosophie im Beweis der zweiten Analogie der Erfahrung zum Ausdruck: Man sieht bald, daß, weil Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist, hier nur nach den formalen Bedingungen der empirischen Wahrheit gefragt werden kann, und Erscheinung, im Gegenverhältnis mit den Vorstellungen der Apprehension, nur dadurch als das davon unterschiedene Objekt derselben könne vorgestellt werden, wenn sie unter einer Regel steht, welche sie von jeder andern Apprehension unterscheidet, und eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht. (KrV A 191/B 236, Hervhb. SB) ⁹
Die Virulenz der Wahrheitsfrage im Text der KrV ist augenscheinlich, wenn die Verklausulierung der Namenserklärung der Wahrheit (Wahrheit ist „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand“ (KrV A 58/B 82), vgl. W) in Rechnung gestellt wird. In Anbetracht der systematischen Bedeutung des Wahrheitsproblems für einen endlichen Verstand und dessen systematischer Bedeutung für eine Erkenntnistheorie, wie sie im Kontext des Herz-Briefes oben besprochen wurden,¹⁰ und der soeben nahegelegten Einsicht, dass die Frage, wie die Möglichkeit der Wahrheit zu erklären ist, die Untersuchung der KrV anleiten, ist zu konstatieren, dass Kant in der KrV die Frage, wie Wahrheit im Sinne von W möglich ist, gerade zum Thema seiner Transzendentalphilosophie macht. Das epistemologische Projekt der KrV besteht darin, den tradierten Wahrheitsbegriff in seiner Möglichkeit einsichtig zu machen und somit den Status der bloßen Worterklärung theoretisch zu überwinden.¹¹ In diesem Zusammenhang ist allerdings daran zu erinnern, dass Kant in der Methodenlehre mit Blick auf die „argumentationslogische Divergenz“ (Zöller 1984: 13) zwischen den beiden reinen Vernunftwissenschaften, Mathematik und Philosophie, anmerkt, dass im Gegensatz zum logisch-deduktiven Verfahren der Mathematik philosophische „Definitionen“ bloße „Expositionen gegebener […] Begriffe“ sind, die erst am Ende einer Theorie angeführt werden können (vgl. KrV A 730/B 758). Vor diesem methodologischen Hintergrund erscheint der Ausgang von einem gegebenen Begriff – hier der traditionellen Erklärung der Wahrheit – geradezu zwingend.
Vgl. auch im Kontext des Ausweises, dass ein reiner Begriffs eine bloße „Idee“ ist: KrV A 489/B 517; zur Entgegensetzung von zur Wahrheit im Sinne der Nominaldefinition führenden Kategorien im Gegensatz zu den transzendentalen Schein bewirkenden Ideen: KrV A 642/B670; und der Opposition von Überredung als „bloßer Schein“ und Wahrheit: KrV A 820/B 848. Vgl. 2.2.4. Vgl. dazu 3.2. Auf diesen Sachverhalt hat bereits Prauss hingewiesen (vgl. Prauss 1973: 74).
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Schließlich ist darauf hinzuweisen, dass Kants Auseinandersetzung mit der Frage nach der Wahrheit in dem Jahrzehnt zwischen De Mundi und dem Erscheinen der Erstauflage der KrV anhand von Reflexionen und Vorlesungsmitschriften gut dokumentiert ist.¹²
3.0.2 Die Funktion des Textabschnitts zur Wahrheitsproblematik in der KrV Die Funktion des dritten Abschnitts der Einleitung zur transzendentalen Logik und damit die Beweisabsicht, die Kant mit dieser Passage der KrV verbindet, wurde nicht häufig untersucht. Jedoch kamen die wenigen Untersuchungen zu sehr unterschiedlichen Bewertungen, was Funktion und Gehalt dieser Stelle anbelangt. Die verschiedenen Deutungsvorschläge der Sekundärliteratur und ihre Begründungen werden nicht in einer eigenen Sektion abgehandelt. Stattdessen ist Kapitel 2 anhand inhaltlich-systematischer Gesichtspunkte gegliedert und verhandelt die m. E. relevante Literatur an Ort und Stelle. Es könnte vielleicht so scheinen, als wolle Kant in W mit der Rede von einer „Nominaldefinition“ statt einer „Realdefinition“ kundtun, dass er die traditionelle Erklärung der Wahrheit ablehnt. Auch dies wäre ein Missverständnis. Kant unterscheidet zwischen Nominaldefinitionen – logischen Worterklärungen – auf der einen Seite und Realdefinitionen – Sacherklärungen – auf der anderen Seite. Nominaldefinitionen sind „äußerlich“, weil sie willkürlich dem Namen einer Sache gegeben wurden und nur zur Unterscheidung des Definiendums von anderen dienen (vgl. AA 9:143).¹³ Demgegenüber sind Realdefinitionen „innerlich zureichend“, das Definiendum zu bestimmen und somit hinreichend, das Objekt zu erkennen, weil „sie die Möglichkeit des Gegenstandes aus innern Merkmalen darlegen“ (AA 9:143). Die Realdefinition enthält also im Unterschied zur Nominaldefinition „ein klares M e r k m a l , daran der G e g e n s t a n d (definitum) j e d e r z e i t s i c h e r erkannt werden kann“ und welches „den erklärten Begriff zur Anwendung brauchbar macht“ (KrV A 241 Anm. 1). Nominaldefinitionen hingegen sind von begrenzter Aussagekraft. Sie können nicht dazu dienen, das Definiendum (hier ‚Wahrheit‘) aus seinen inneren Bestimmungen zu erkennen, sondern lediglich dazu, es durch das Definiens von anderen Begriffen zu unterscheiden. Daher bezeichnen sie nur das „logische Wesen ihres Gegenstandes“ (AA 9:143). Kant bezeichnet in W die traditionelle Definition der Wahrheit, die Wahrheit als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand fasst, als „Nomi-
Vgl. Einleitung Kapitel 3. Zur Logik als Quelle kantischer Gedanken vgl. Fn. 159 auf S. 71.
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naldefinition“. Diese Tatsache bedeutet manchen Interpret*innen zufolge, dass Kant diese überlieferte Erklärung des Wahrheitsbegriffs ablehnt.¹⁴ Diese Ansicht lässt sich an zwei Punkten prüfen: (a) Da Fragen des Typus ‚Was ist X?‘ Wesensfragen sind, ist mit der Frage ‚Was ist Wahrheit?‘, wie sie Kant in W einführt, nach dem Wesen der Wahrheit gefragt. Wenn die Folgerung richtig wäre, dass Kant die traditionelle Erklärung der Wahrheit ablehnt, weil er sie als „Nominaldefinition“ bezeichnet, dann müsste aus Kants Definitionslehre folgen, dass Nominaldefinitionen per se abzulehnen sind. (b) Eine Ablehnung dieser Erklärung könnte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Sollte Kant, diese Erklärung der Wahrheit ablehnen, dann dürfte er sich in seiner Philosophie nicht auf diese Erklärung der Wahrheit stützen. Da Wahrheit ein zentraler Begriff der Erkenntnistheorie ist, müsste sich sogar nachweisen lassen, dass Kant eine andere Erklärung des Wahrheitsbegriffs vorschlägt. Ad (a): Die kantische Definitionslehre beinhaltet keineswegs, dass die Klassifizierung einer Begriffserklärung als „Nominaldefinition“ bedeutet, dass diese Definition falsch ist. Nominaldefinitionen sind nicht zwangsläufig falsch, wohl aber zwangsläufig unvollständig.¹⁵ Die Unvollständigkeit einer Definition kann Mehreres bedeuten: Eine Definition ist unvollständig, wenn (1) mindestens ein wesentlich mit dem Begriff verbundenes Merkmal außer Acht gelassen wird; wenn (2) die angegebenen Merkmale nicht ursprünglich sind; wenn (3) die Merkmale nicht hinreichend bestimmt sind, um das Verhältnis zwischen den in der Definition angegebenen Merkmalen und anderen dem Begriff wesentlich anhängenden Merkmalen einsichtig zu machen; und, wenn (4) unklar ist, ob der Begriff nicht leer ist.¹⁶ Also folgt aus Kants Rede von einer „Nominaldefinition“ der Wahrheit nicht ohne Weiteres, dass er diese Erklärung ablehnt.¹⁷ Allerdings
So z. B. Heino Hofmeister: „he dismissed the definition as peripheral and superfluous“ (Hofmeister 1972: 316). Nenon hat die Bedeutung der kantischen Definitionslehre zur Interpretation dieser Stelle untersucht (vgl. Nenon 1986: 19 – 38). Nenon weist auf diese vier Punkte hin. Hinsichtlich des letzten Punktes ist unklar, ob eine wirkliche Sache beschrieben worden ist (vgl. Nenon 1986: 36). Dazu muss die Möglichkeit der Wahrheit selbst eingesehen werden, also nachgewiesen werden, dass der Begriff nicht leer ist. Kant führt diesen Nachweis mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe (vgl. Kapitel 4). Es ist mitunter behauptet worden, Kant vertrete nicht den traditionellen, sondern einen kohärenztheoretischen Wahrheitsbegriff (vgl. Smith 1984: 36) u. a.. Diese Ansicht widerspricht nicht nur dem Text der KrV, sondern ist durch die kantische Argumentation auch aus systematischen
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legt sie die Vermutung nahe, dass es Aufgabe der transzendentalen Logik ist, diese Erklärung zu verbessern, wenn er die „Namenserklärung“ der Wahrheit in der Einleitung zu dieser Abteilung der Elementarlehre der KrV thematisiert. 2.3 und 3.0.1 haben bereits deutlich gemacht, dass es in der KrV um die Widerlegung der Wahrheitsskepsis geht, indem aufgeklärt wird, wie (materiale) Wahrheit möglich ist.¹⁸ Ad (b): Kant hält an der traditionellen Erklärung des Wahrheitsbegriffs fast durchgängig fest, insbesondere in der KrV. Zum Beleg seien einige Stellen angeführt: „Wahrheit, d. i. […] Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit Objekten“ (KrV A 237/B 296), „Wahrheit, (Einstimmung mit dem Objekt)“ (KrV A 157/B 197), „weil Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Objekt Wahrheit ist“ (KrV A 191/B 236). „Wahrheit […] beruht auf der Übereinstimmung mit dem Objekte“ (KrV A 820/B 848); an einer späteren Stelle wird Wahrheit als die „Übereinstimmung unserer Begriffe mit dem Objekte“ bestimmt (KrV A 642/B 670, Hervhb. SB). Einzig während einer kurzen Phase in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts hatte Kant eine kohärenztheoretische Position favorisiert, die er jedoch schnell wieder verwarf.¹⁹ Also bedeutet Kants Klassifikation der Übereinstimmung einer Erkenntnis und ihres Gegenstandes als „Nominaldefinition“ der Wahrheit nicht, dass er diese Erklärung ablehnt. Diese Rede wird andere Gründe haben, die in Kapitel 2 geklärt werden sollen (Desiderat1). Vor Beginn des Hauptteils sollen noch vier weitere Desiderate benannt werden, die instruktiv sind, um die Interpretation der Textpassage anzuleiten: (Desiderat2) In 3.0.1 wurde darauf hingewiesen, dass die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ im Kontext der Unterscheidung und Profilierung der transzendentalen Logik im Gegensatz zur formalen Logik aufgeworfen wird. Damit liegt die Ver-
Gründen abzuweisen: Mit der Kohärenz wäre ein allgemein notwendiges und hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis angegeben; Kant argumentiert allerdings, dass die Angabe eines solchen Wahrheitskriteriums prinzipiell unmöglich, da widersprüchlich, ist und vertritt generell die Auffassung, dass es keine Realdefinitionen philosophischer Begriffe geben kann. In Kants Augen kann die Philosophie als diskursive Vernunfterkenntnis also auch im Falle der Wahrheit nicht mehr leisten, als diesen Begriff aufzuklären, ohne je eine vollständig luzide Merkmalsdefinition, eine Realdefinition, dieses Begriffs zu erreichen. Diese Auffassung wird in diesem zweiten Kapitel erläutert und begründet. Empirismus und Rationalismus sind die beiden skeptizistischen Gegenpositionen. Der Empirismus hält den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff für nicht erfüllbar (WahrheitsskepsisE) und der Rationalismus begreift ihn fälschlicherweise als erfüllt (WahrheitsskepsisR). Insbesondere die rationalistische Gegenposition ist Thema dieses Kapitels. Die empiristische Wahrheitsskepsis liegt hingegen auf der Hand. Die kantische Argumentation gegen beide Varianten der Skepsis ist dann explizit Thema in den folgenden Kapiteln. Vgl. dazu Kapitel 3 (Einleitung).
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mutung nahe, Kant beabsichtige anhand der Wahrheitsthematik den Unterschied zwischen einer formalen und seiner transzendentalen Logik aufzuzeigen. Die Frage wird nämlich im dritten Abschnitt der Einleitung als Frage an die formale Logik aufgeworfen, wohl – so steht zu erwarten – um aufzuzeigen, dass die formale Logik in Konfrontation mit der Frage nach dem Wesen der Wahrheit in Verlegenheit gebracht wird. Zu klären ist also, worin die wahrheitstheoretische Unzulänglichkeit der formalen Logik besteht. (Desiderat3) Die formale Logik ist allerdings die Lehre vom wahrheitswerterhaltenden Schließen. Der Wahrheitsbegriff als solcher ist nicht ihr Gegenstand. Vielmehr ist der Bezug zur Wahrheitsthematik nur mittelbar gegeben, nämlich insofern ein unbestimmter Begriff von Wahrheit bei diesem Geschäft vorausgesetzt ist. Daher mag es überraschen, dass die Frage nach dem Wesen der Wahrheit überhaupt an die formale Logik gerichtet wird. Zu klären ist also, weshalb Kant die wahrheitstheoretische Defizienz der formalen Logik überhaupt bespricht. (Desiderat4) Außerdem ist zu beachten, dass die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ in W im Kontext einer historisch überlieferten Szenerie aufgeworfen wird, in welcher die Skeptiker*innen die Logiker*innen in die Enge zu treiben suchten. Es geht also um eine wahrheitsskeptische Herausforderung und es ist zu klären, worin genau sie besteht. (Desiderat5) Wenn Kant anhand der wahrheitstheoretischen Kapazität seine transzendentale Logik im Kontrast zur formalen Logik einführt, dann ist außerdem darzulegen, worin die wahrheitstheoretischen Kapazitäten dieser beiden Disziplinen bestehen und zu erwägen, ob und inwiefern dieser skeptischen Herausforderung mit den Mitteln einer transzendentalen Logik begegnet werden kann. In Kapitel 2 soll nun in exegetischer Hinsicht die These belegt werden, dass Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus als Organon einer logizistischen Metaphysik kritisiert. In systematischer Perspektive wird die Stichhaltigkeit dieser Kritik geprüft, um auf diesem Wege das wahrheitstheoretische Programm der Kritik der reinen Vernunft offenzulegen. In Teil 3.1 wird die Frage nach dem Wesen der Wahrheit als Frage an die formale Logik betrachtet und Kants Argumentation, die deren wahrheitstheoretische Limitation erweisen soll, analysiert und bewertet. Im Zuge dessen wird die skeptische Herausforderung benannt, die mit dieser Frage an die Logik gestellt wird. In Teil 3.2 soll die Funktion dieser Passage im transzendentalphilosophischen Programm der KrV erörtert und die Stoßrichtung der mit ihr verbunden Kritik präzise bestimmt werden. Um Kants Punkte zu verdeutlichen, wird in Teil 3.1 und in Teil 3.2 auf Arbeiten aus jüngerer Zeit zurückgegriffen. In Teil 3.3 werden die wahrheitstheoretischen Kapazitäten der formalen und der transzendentalen Logik verglichen und das antiskeptische Programm der KrV bestimmt. In diesem
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Kontext werden Anforderungen für eine zufriedenstellende logische Antwort auf die Wahrheitsfrage formuliert und von dem unterschieden, was von keiner Logik sinnvollerweise erwartet werden kann. Damit ist die Stoßrichtung der in den Kapitel 3 und 4 folgenden wahrheitstheoretischen Interpretation der KrV entfaltet.
3.1 Die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ als Frage an die formale Logik Die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ wird in W als eine Frage eingeführt, „womit man die Logiker in die Enge zu treiben vermeinte“ (KrV A 57/B 82). Der dritte Abschnitt der Einleitung zur transzendentalen Logik handelt von der Einteilung der Logik in Analytik und Dialektik, nachdem der erste Abschnitt von der Logik überhaupt und der zweite von der transzendentalen Logik im Unterschied zur formalen handelte (vgl. KrV A 57/B 82).²⁰ Als eine an die formalen Logiker*innen gerichtete Frage unterscheidet Kant zwei Optionen, nämlich „[…] daß sie sich entweder auf einer elenden Diallele [Dialexe, B] mußten betreffen lassen, oder ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen […]“ (KrV A 57 f./B 82, Hervhb. SB). Demnach sieht sich die formale Logik, sofern sie mit der Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ konfrontiert wird, vor die schlechte Alternative gestellt, entweder (Option 1) eine Antwort zu geben, die sich aber aus prinzipiellen Gründen als unbefriedigend erweisen lassen dürfte, oder (Option 2) die Antwort schuldig zu bleiben. Zunächst ist zu klären, weshalb die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ „ungereimt“ ist, wenn sie an die formale Logik gerichtet wird und diese bloß zu „unnötige[n] Antworten“ (KrV A 58/B 82) verleitet. Wie kann diese Frage im Rahmen der formalen Logik behandelt werden und vor welche Schwierigkeiten stellt sie die formale Logik? Im Text der KrV führt Kant insbesondere ein Argument an, das sich gegen die Möglichkeit richtet, im Rahmen der formalen Logik ein allgemeines Kriterium der Wahrheit anzugeben, das hinreicht, die Wahrheit oder Falschheit jeder Erkenntnisse einzusehen (Kriterium-Argument). Dieses Argument wird sich als zentral für die Belange der Kritik der reinen Vernunft als einer neuartigen epistemologischen Transzendentalphilosophie erweisen. Vor der Diskussion dieses Arguments soll jedoch zunächst eine ausführlichere Variante des Arguments analysiert werden,
Im darauffolgenden vierten Abschnitt geht es dann um die Einteilung der transzendentalen Logik in eine transzendentale Analytik und eine transzendentale Dialektik (vgl. KrV A 62 ff./B 87 ff.).
3.1 Die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ als Frage an die formale Logik
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die in der Logik zu finden ist. Um die Versuchung zu beleuchten, die formale Logik als die Disziplin anzusehen, die die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ beantworten kann, erfolgt in 3.1.1 eine Auseinandersetzung mit Alfred Tarskis formaler Definition des korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriffs, der in W als Namenserklärung der Wahrheit bezeichnet wird. Denn durch den Nachweis, dass die Erklärung, Wahrheit sei die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, sofern sie als Antwort auf die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ aufgefasst wird, zu Recht dem Diallelen-Vorwurf ausgesetzt ist, ist die wahrheitstheoretische Überbewertung der formal-logischen Mittel abgewehrt.²¹ Aufgrund ihrer zirkulären Struktur ist diese Antwort unnötig, da sie nur eine scheinbare Antwort ist (W, Option 1). In 3.1.2 wird durch die Analyse des Kriterium-Arguments aus der KrV der Grund einsichtig gemacht, aus dem die formale Logik bei der Aufgabe limitiert ist, die Wahrheitsfrage zu beantworten. In diesem Zusammenhang soll verdeutlicht werden, weshalb die formale Logik in Anbetracht dessen, was die skeptische Herausforderung bezweckt, ihre „Unwissenheit […] bekennen“ (KrV A 58/B 82) muss (W, Option 2).
Im Historischen Wörterbuch der Philosophie findet sich unter dem Stichwort ‚Diallele‘ die Auskunft, so heiße „die Zirkeldefinition, bei der das zu Definierende zur Definition verwendet wird; sie ist damit in der logischen Form dem ‚circulus vitiosus‘, dem Beweis durch das zu Beweisende selbst, gleich“ (Eisler 1972). Nenon unterscheidet drei Diallelen (vgl. Nenon 1986: 42– 57): (1) die „kriteriologische Diallele“, die Ausdruck des Problems ist, dass die Sätze, die zur Erklärung der Wahrheit angeführt werden, selbst wiederum wahr sein müssen; (2) die „epistemologische Diallele“, die den Kern der Korrespondenztheorie der Wahrheit trifft, indem sie nach der Möglichkeit der Korrespondenz einer subjektiven Erkenntnis mit ihrem objektiven Gegenstand fragt; (3) die „Diallele der Unbestimmtheit“, die aus der möglicherweise mit der in W gegebenen Namenserklärung verbundenen Erwartung erwächst, es müsse möglich sein, ein zugleich allgemeines und hinreichendes Kriterium der Wahrheit anzugeben (vgl. Nenon 1986: 54 f.). Die Stellen im kantischen Œuvre, wo die verschiedenen wahrheitstheoretischen Probleme thematisch sind, hat Nenon aufgelistet (vgl. Nenon 1986: 41 f.). Nenon meint, (2) sei nicht Thema in der Einleitung zur transzendentalen Logik, weil es hier ja um die Abgrenzung von formaler und transzendentaler Logik zu tun sei, auch wenn Kant dieses Problem in der KrV meinte zu lösen (vgl. Nenon 1986: 44 f.). In der thematischen Passage geht es seines Erachtens um die Diallele der Unbestimmtheit, die auch Kants transzendentale Logik nicht lösen könne, wohingegen sie im Stande sei, die Problemstellung, die Nenon als „epistemologische Diallele“ bezeichnet, zu lösen. Im Folgenden wird sich allerdings zeigen, dass Kant in dieser Passage eine Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung als wahrheitstheoretischer Wurzel einer logizistischen Metaphysik im Blick hat.
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3.1.1. Eine unnötige Antwort geben Im Hinblick auf Option 1 ist zu bedenken, dass in W nicht nach einer Nominaldefinition der Wahrheit gefragt, sondern diese „hier geschenkt, und vorausgesetzt“ (KrV A 58/B 82) wird. Prauss hat darauf hingewiesen, dass diese Voraussetzung in gewisser Hinsicht notwendig ist. Denn „jeder, der in die geschilderte Situation überhaupt soll eintreten können, muß über den Sinn von „Wahrheit“ schon verfügen, wenn er die Frage „Was ist Wahrheit?“ stellen oder beantworten oder auch nur verstehen will“ (Prauss 1973: 175 f.) Die Leistung einer Nominaldefinition besteht darin, einen Begriff durch einen „in der Regel sachlich informativeren[] Ausdruck anzugeben, der in allen möglichen Kontexten, in denen der erstere auftritt, salva veritate für ihn substituiert werden kann“ (Prauss 1973: 176).²² Die der Wahrheit ist ihrer traditionellen Definition zufolge die „Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand“ (KrV A 58/B 82). Die Frage, die die formale Logik zu beantworten hätte, wäre also: Was ist Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand?²³ Um die Grenzen der formalen Logik bei der Beantwortung dieser Frage nachzuzeichnen, soll zunächst verdeutlicht werden, dass eine formallogische Erklärung der Wahrheit als Übereinstimmung nur eine Antwort zu sein scheint und der kantische Diallelen-Vorwurf untermauert werden. Zu diesen Zwecken wird auf Tarskis Äquivalenzformel zurückgegriffen. Innerhalb der disziplinären Grenzen einer formalen Logik besteht die Möglichkeit, darauf zu verweisen, dass ein Satz genau dann wahr ist, wenn der in ihm behauptete Sachverhalt, p, als Tatsache besteht. Tarskis Schema statuiert diese Äquivalenz in allgemeiner Form:²⁴ (T1) P ist wahr genau dann, wenn p. (T2) P ist falsch genau dann, wenn nicht p.
Ein Kriterium wäre hingegen nur mit einer Realdefinition angegeben, wie ein Blick auf Kants Definitionslehre deutlich macht. Prauss setzt bei der Interpretation ähnlich an (vgl. Prauss 1973: 80). Diese Passage ist an den sehr instruktiven Darlegungen Prauss’ orientiert (vgl. Prauss 1973: 80 f; vgl. auch Tarski 1944: bes. 349 – 51). Im Folgenden wird nicht zwischen ‚Satz‘ und ‚Urteil‘ differenziert. Nach Kant besteht zwischen beiden ein modaler Unterschied: Der Unterschied zwischen problematischen und assertorischen Urteilen stiftet den Unterschied zwischen Urteilen und Sätzen: „Im Urteilen wird das Verhältnis verschiedener Vorstellungen zur Einheit des Bewußtseins bloß als problematisch gedacht; in einem Satze hingegen als assertorisch“ (AA 9:109).
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Die Variable ‚P‘ steht hier für einen Satz und die Variable ‚p‘ für den in diesem Satz behaupteten Sachverhalt. Wird etwa der Satz P1 ‚Heute regnet es.‘ eingesetzt, ergibt sich: (T1, P1) P1 ist wahr genau dann, wenn es heute regnet. (T2, P1) P1 ist falsch, wenn es heute nicht regnet.
Hier soll nicht behauptet werden, die moderne Semantik oder Tarski selbst würden beanspruchen, mit der Äquivalenzformel die Frage nach dem Wesen der Wahrheit zu beantworten.²⁵ Aber falls jemand beanspruchen sollte, mit dieser Formel das Wesen der Wahrheit zu erklären, dann träfe sie oder ihn der Vorwurf Kants, sich auf einer „elenden Diallele […] [Dialexe, B] betreffen [zu] lassen“ (KrV A 58/B 82). Worin genau dieser Vorwurf besteht, führt Kant in der KrV nicht näher aus. Jedoch handelt die Reflexion 2143 von dieser Diallele: Mein Urtheil soll mit dem obiect übereinstimmen. Nun kann ich das obiect nur mit meiner Erkentnis vergleichen dadurch, daß ich es erkenne. Dialele. (AA 16:251)²⁶
Ausführlicher ist die entsprechende Stelle in der Logik ²⁷: Wahrheit, sagt man, besteht in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit dem Gegenstande. Dieser bloßen Worterklärung zufolge soll also meine Erkenntniß, um als wahr zu gelten, mit dem Object übereinstimmen. Nun kann ich aber das Object nur mit meiner Erkenntniß vergleichen, dadurch, daß ich es erkenne. Meine Erkenntniß soll sich also selbst bestätigen, welches aber zur Wahrheit noch lange nicht hinreichend ist. Denn da das Object außer mir und die Erkenntniß in mir ist, so kann ich immer doch nur beurtheilen, ob meine Erkenntnis vom Object mit meiner Erkenntnis vom Object übereinstimme. Einen solchen Zirkel im Erklären nannten die Alten Diallele. (AA 9:50, Unterstreichung SB)
Die Formel findet sich erst unten: T*. Tarski ist diesbezüglich äußerst zurückhaltend. Er verweist zwar auf die altbekannte aristotelische Namenserklärung der Wahrheit, sagt aber an späterer Stelle, dass er nicht in den Streit um die richtige Wahrheitskonzeption („the right conception of truth“) eingreifen wolle, schon allein darum nicht, weil er gar nicht wisse, was eigentlich Gegenstand dieser Debatte sein solle. Ihm geht es lediglich darum, zu zeigen, dass durch eine Differenzierung zwischen Sprachebenen und der Fassung des Prädikats ‚ist wahr‘ als metasprachlichem Prädikat Antinomien wie die des Lügners vermieden werden können (vgl. Tarski 1944: bes. 342 f., 355, 347 f.). Vgl. auch Reflexion 2151: „Was ist Warheit. Dialele.“ (AA 16:253). Die von Gottlob Benjamin Jäsche edierte Logik ist zwar eine von Kant autorisierte Schrift, aufgrund der zweifelhaften Textqualität aber als Quelle kantischer Gedanken mit Vorsicht einzubringen. Da es an dieser Stelle jedoch um einen systematischen Punkt geht, der im Folgenden unabhängig von dieser Quelle entwickelt wird, scheint eine Bezugnahme an dieser Stelle nicht illegitim.
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Der Vorwurf, die formale Logik lasse sich von einer Diallele betreffen, lässt sie wie folgt erläutern: Ihrer Nominaldefinition zufolge ist Wahrheit die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand. (T1), (T2) regeln die Zuordnung von Wahrheitswerten zu Sätzen entsprechend. In Abhängigkeit vom Bestehen oder Nicht-Bestehen, des in P behaupteten Sachverhalts scheint hier Wahrheit im Sinne der Nominaldefinition als Übereinstimmung eines Satzes (P) mit dem Objekt (der Tatsache p) bestimmt. An erster Stelle der Äquivalenz-Formel ist in (T1), (T2) von einem Satz die Rede, an zweiter von einer Tatsache, dem weltseitigen Korrelat des an erster Stelle behaupteten propositionalen Gehalts. (T1) und (T2) operieren auf objektsprachlicher Ebene. Auf metasprachlicher Ebene kann nun mittels des T-Schemas die Bedeutung des Wahrheitsprädikats für eine vollständig interpretierte Objektsprache, L, bestimmt werden. Für jeden Satz φ von L gilt T*: ⌜φ⌝ ist wahr genau dann, wenn φ.
Die Bedeutung des Wahrheitsprädikats ist mit dieser Formel für L extensional festgelegt: Es umfasst all diejenigen Sätze, die wahr in L sind. Wenn L beispielsweise eine sehr simple formale Sprache ist, die nur zwei atomare Sätze beinhaltet (etwa ‚Schnee ist weiß.‘ und ‚Gras ist grün.‘) und außerdem die Junktoren ¬, ∨, dann kann für L Wahrheit rekursiv definiert werden, obgleich L unendlich viele verschiedene Sätze beinhaltet. In gewisser Hinsicht ist das ein wirkmächtiger Zug, insofern nämlich, als die Extension des Wahrheitsprädikats nun bestimmt ist. Es könnte allerdings scheinen, mit diesem Manöver sei noch viel mehr erreicht: Ihre bi-konditionale Form könnte den Anschein erwecken, mit ihr würden notwendige und hinreichende Wahrheitsbedingungen angegeben und sie hätte somit als Realdefinition der Wahrheit zu gelten. Notwendige und hinreichende Bedingungen werden zwar tatsächlich angegeben, aber diese definieren lediglich die Extension des metasprachlichen Wahrheitsprädikats. Nicht zu verwechseln sind diese Bedingungen mit notwendigen und hinreichenden Kriterien für die Anwendung des Wahrheitsprädikats, wie es eine Realdefinition erfordern würde. Denn welche Sätze der Objektsprache wahr sind, verrät die Formel nicht. Sie ist nicht mehr als eine formale Schematisierung des nominal korrespondenztheoretisch erklärten Wahrheitsbegriffs. Auf diese Formel zu verweisen, um eine Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit zu geben, hieße zu behaupten, dieser formallogischen Fassung des korrespondenztheoretischen Wahrheitssinns käme der Status einer Realdefinition zu. Problematisch ist das Äquivalenz-Schema der Korrespondenz also nicht als solches, sondern die Auffassung, es habe als Erklärung dafür zu
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gelten, worin Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand besteht. Eine Sache ist es, für eine vollständig interpretierte Objektsprache L den Sinn des Wahrheitsprädikats extensional in einer Metasprache mit dem Schema T*: ‚⌜φ⌝ ist wahr genau dann, wenn φ.‘ festzulegen. Eine ganz andere Sache ist es, festzustellen, ob ein bestimmter Satz φ aus L, wahr ist oder nicht, weil sein propositionaler Gehalt der Fall ist. In T* steht die Variable an erster Stelle, ⌜φ⌝, für den Namen von Sätzen und die Variable, φ, an zweiter Stelle für Sätze. Dementgegen legt (T1), (T2) die Wahrheitsbedingungen von Sätzen der Objektsprache, L, fest. T* stellt den korrespondenztheoretischen Wahrheitssinn also formal dar. Jedoch kann T* nicht als Erklärung dafür, was Übereinstimmung ist, angesehen werden, d. h. als Realdefinition der Wahrheit betrachtet werden. Denn die Bedeutung des Wahrheitsprädikats (‚ist wahr‘) wird durch T* nur auf metasprachlicher Ebene extensional gefasst. Damit ist etwas über das Verhältnis zweier Sprachen gesagt, aber nichts über das Verhältnis von Satz, Gehalt und Gegenstand. Ferner gibt dieses Schema keine positiven Kriterien an die Hand, um in konkreten Fällen, wahre von falschen Urteilen zu unterscheiden.²⁸ Um als Realdefinition gelten zu können, müsste die Formel aber ein Kriterium bereitstellen, um eine wahre Erkenntnis sicher zur erkennen. Statt dies zu leisten, korreliert sie lediglich Wahrheitswerte von Sätzen. Die Wahrheit der objektsprachlichen Sätze muss vorausgesetzt werden, damit im zweiten Zug die Bedeutung des Wahrheitsprädikats auf metasprachlicher Ebene extensional bestimmt werden kann. Also wird Wahrheit hier nicht erklärt, sondern vorausgesetzt. Diese Formel ist daher keine Erklärung des Wesens der Übereinstimmung und hat nicht den Status einer Realdefinition der Wahrheit. Sie als eine solche anzuführen, bedeutet, sich in eine Diallele zu verstricken, weil Wahrheit durch Wahrheit zu erklären versucht wird. Diese Antwort ist „unnötig“, weil sie nichts Neues leistet und aufgrund ihrer zirkulären Struktur als Definition ungültig. Kant weist also zu Recht darauf hin, dass die Frage im Kreise der formalen Logiker*innen nur zu „ungereimten Antworten“ verleitet, die das zu Erklärende mittels des zu Erklärenden erklären und sich damit ebenso verhalten, „wie wenn jemand vor Gericht eine Aussage thue und sich dabei auf einen Zeugen berufe, den niemand kenne, der sich aber dadurch glaubwürdig machen wolle, daß er behauptete, der, welcher ihn zum Zeugen aufgerufen, sei ein ehrlicher Mann“ (AA 9:50). Dieser Vorwurf seitens der Skepsis ist also berechtigt.
Unter negativen Wahrheitskriterien werden solche verstanden, die Falschheit zu erkennen geben; unter positiven solche, die Wahrheit zu erkennen geben.
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Damit ist deutlich geworden, dass die korrespondenztheoretische Nominaldefinition der Wahrheit nicht den Status einer Realdefinition hat und die Formel keine gültige Antwort auf die Wahrheitsfrage darstellt, weil diese formale Definition das Problem eines Kriteriums zur Feststellung, ob die Erkenntnis mit ihrem Gegenstand übereinstimmt oder nicht, offenlassen muss.²⁹ T* vermag kein Kriterium anzugeben, um konkrete Fälle wahrer Erkenntnis zu erkennen.³⁰
3.1.2. Eine Antwort schuldig bleiben Was man eigentlich zu wissen verlangt, fährt Kant in der KrV fort, sei, welches das allgemeine und sichere Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis sei (vgl. KrV A 58/B 82). Wird die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ als Frage nach einem „allgemeine[n] und sichere[n] Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis“ (KrV A 58/B 82) verstanden, kommt nach Kant im Rahmen der formalen Logik nur Option 2 in Betracht, nämlich eine Antwort schuldig zu bleiben. Dass mit den Mitteln der formalen Logik keine Antwort auf die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘, verstanden als Frage nach einem generellen hinreichenden Kriterium der Wahrheit, gefunden werden kann, beansprucht er durch folgendes Argument (Kriterium-Argument, K) auszuweisen: (K) Wenn Wahrheit in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstande besteht, so muß dadurch dieser Gegenstand von andern unterschieden werden; denn eine Erkenntnis ist falsch, wenn sie mit dem Gegenstande, worauf sie bezogen wird, nicht übereinstimmt, ob sie gleich etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte. Nun würde ein allgemeines Kriterium der Wahrheit dasjenige sein, welches von allen Erkenntnissen, ohne Unterschied ihrer Gegenstände, gültig wäre. Es ist aber klar, daß, da man bei demselben von allem Inhalt der Erkenntnis (Beziehung auf ihr Objekt) abstrahiert, und Wahrheit gerade diesen Inhalt angeht, es ganz unmöglich und ungereimt sei, nach dem Merkmale der
So auch Hofmeister, der zudem betont, dass Formalisierungen nur innerhalb formaler metasprachlicher Systeme Bedeutung haben und nichts über (reale) Objekte aussagen, sondern die nominalistische Dichotomie von Objekten und Sprache vielmehr voraussetzen (vgl. Hofmeister 1972: 318). Die Pointe von T* liegt gerade darin, dass die objektsprachliche Ebene von T1 und T2 verlassen wird, um die Kriterien-Aporie (das Zirkelproblem, Nenons ‚kriteriologische Diallele‘ [vgl. Anm. 21 S. 73]) zu vermeiden. Tarskis Lösungsstrategie des Wahrheitsproblems besteht darin, die KriterienAporie zu umgehen, indem der Wahrheitsbegriff semantisch definiert wird. Das Zirkelproblem wird hier vermieden, indem Wahrheit nicht durch Sätze bestimmt wird, die wiederum selbst wahr oder falsch sind, sondern durch eine metasprachliche Konvention, die als solche nicht selbst wiederum wahr oder falsch ist, also durch eine präskriptive Definition. Allerdings ist das epistemische Problem damit nicht gelöst, um das es Kant in der KrV zu tun ist.
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Wahrheit dieses Inhalts der Erkenntnisse zu fragen, und daß also ein hinreichendes, und doch zugleich allgemeines Kennzeichen der Wahrheit unmöglich angegeben werden könne. (KrV A 58 f./B 83)
Auch in K geht Kant von der Namenserklärung der Wahrheit aus: (1) Wahrheit besteht in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Objekt (vgl. KrV A 58/B 82).
Den Ausdruck ‚Erkenntnis‘ verwendet Kant im Sinne des lateinischen cognitio. Wie bereits angeführt,³¹ ist damit eine objektive Perzeption (Vorstellung mit Bewusstsein) bezeichnet. Durch den Gegenstandsbezug (Objektivität) ist sie von der Empfindung, einer bewussten Vorstellung des subjektiven Zustands, unterschieden (vgl. KrV A 320/B 376 f.). Die Nominaldefinition erklärt Wahrheit als relationale Eigenschaft von Erkenntnissen. Diese Bestimmung ist zu präzisieren, denn den Terminus ‚Erkenntnis‘ nutzt Kant als generische Bestimmung von objektiven sinnlichen Vorstellungen (Anschauungen) einerseits und objektiven begrifflichen Vorstellungen andererseits. Allerdings können, Kant zufolge, die Sinne nicht irren, sondern nur der Verstand. Daher ist der Ort der Wahrheit und des Irrtums nicht die Anschauung, sondern das Urteil (vgl. KrV A 293/B 350). Ein Urteil ist, erklärt Kant in §19, „nichts andres […], als die Art, gegebene Erkenntnisse zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“ (KrV B141). Begriffe sind nach Kant Prädikate zu möglichen Urteilen. Der Unterschied zwischen Urteilen und Begriffen besteht Kant zufolge lediglich darin, dass im Urteil die Handlung des Bestimmens gedacht wird (‚a ist B.‘, z. B. ‚Der Himmel ist wolkenlos.‘), im Begriff dagegen das Objekt als bestimmt (‚Ba‘, z. B. ‚der wolkenlose Himmel‘) (vgl. AA 11: 347). Die Materie des Urteils sind die „gegebenen, zur Einheit des Bewußtseins im Urtheil verbundenen Erkenntnisse[]“ und die Form ist die „Bestimmung der Art und Weise, wie die verschiedenen Vorstellungen, als solche, zu Einem Bewußtsein gehören“ (AA 9:101). Da der Gegenstand theoretischer Urteile dem Dasein nach unabhängig ist und Wahrheit und Irrtum „nur in dem Verhältnisse des Gegenstandes zum Verstande anzutreffen“ (KrV A 293/B 350) sind, ist Wahrheit und Irrtum (Falschheit) eine relationale Eigenschaft von Erkenntnisurteilen. ³² Ein theoretisches Urteil stimmt mit seinem Objekt überein oder nicht.³³ Denn der
Vgl. 2.3.1. Kant kennt außer den theoretischen mit den ästhetischen, praktischen weitere Urteilsarten. In der Folge sind, außer es ist eigens kenntlich gemacht, mit dem Terminus ‚Urteil‘ immer die Erkenntnisurteile des theoretischen Vernunftgebrauchs gemeint. Das Signum der Objektivität unserer Urteile ist unsere Fallibilität im Fürwahrhalten. Koch stellt heraus, dass die Unabhängigkeit der Objektivität von unseren Meinungen selbst ein Aspekt
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Sachverhalt, von dem in einem Urteil behauptet wird, er bestünde als Tatsache, kann unabhängig von diesem Urteil bestehen oder nicht bestehen.³⁴ Wahrheit und ihr Gegensatz Falschheit sind also relationale Eigenschaften von Urteilen.³⁵ (2) Ein Urteil ist entweder wahr oder falsch. (logische Bivalenz)³⁶
Mit (1) und (2) ist Wahrheit im Sinne der Korrespondenztheorie gefasst. (3) Wahrheit besteht in der Übereinstimmung eines Urteils mit seinem Objekt und Falschheit in deren Nicht-Übereinstimmung. |aus 1, 2
Mit diesem Wahrheitssinn verbindet Kant, dass Urteile je einen spezifischen Gegenstand haben. Jedes Urteil hat ein besonderes Objekt, weil der Gegenstand eines Urteils stets etwas Spezifisches ist, das anderes ausschließt. In Frage steht also die materiale Wahrheit der Erkenntnis. Sie besteht in der „Übereinstimmung einer Erkenntniß mit demjenigen bestimmten Objecte, worauf sie bezogen wird“, denn, so Kant, „ein Erkenntniß, welches in Ansehung Eines Objectes wahr ist, kann in Beziehung auf andre Objecte falsch sein.“ (AA 9:50 f.). Die Beziehung von Urteilen „auf ihr Objekt“ (KrV A 59/B 83), durch welche festgelegt ist, ob, abhängig vom Bestehen oder Nichtbestehen der Übereinstimmungsrelation, das Urteil wahr oder falsch ist, ist nur durch die zusätzliche Annahme verständlich, dass Urteile einen bestimmten „Inhalt (Beziehung auf ihr Objekt)“ (KrV A 58/B 83) haben.³⁷
des Gehalts dieser objektiven Geltung beanspruchenden Meinungen ist (und fasst dies als vortheoretische Objektivitätsthese) (vgl. Koch 2006: 52 f.). Vgl. 2.3.3. In der Logik erklärt Kant Wahrheit als die logische Vollkommenheit der Erkenntnis der Relation, die die „wesentliche und unzertrennliche Bedingung aller Vollkommenheit“ derselben darstelle (vgl. AA 9:49 f.). Das Bivalenz-Prinzip ist für Kant ein konstitutives logisches Prinzip: „[A]lle wahre Disjunktion kann nur bimembris sein und die logische Division ist auch bimembris“ (AA 9:130), aber kein notwendiges und hinreichendes Prinzip der materialen Wahrheit einer Erkenntnis (vgl. im Folgenden 2.3.1), sonst folgte der transzendentale Realismus und die mit diesem einhergehende Antithetik reiner Vernunft. Vgl. dazu im Folgenden bes. Teil 3.2 und 5.3 im vierten Kapitel. Objektiv kann eine Erkenntnis Kant zufolge nur entweder wahr oder falsch sein – ein Drittes ist ausgeschlossen; aber subjektiv kann sie entweder wahr oder falsch oder weder wahr noch falsch, schlicht logisch ungegründet sein und dennoch gegründet genug sein nach praktischen Gesetzen, d. h. „fähig seyn den Menschen so zu lenken, als wenn sie wahr wäre“ (vgl. AA 24:394). Dazu: Kapitel 4. Vgl. auch: „In dieser Übereinstimmung einer Erkenntniß mit demjenigen bestimmten Objecte, worauf sie bezogen wird, muß aber die materiale Wahrheit bestehen“ (AA 9:51). Darum legt Kant
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(4) Ein Urteil hat einen bestimmten (semantischen) Gehalt, mittels dessen es sich auf sein Objekt bezieht (Wahrheit) oder nicht (Falschheit).
Kant zufolge hat also jedes wahre Urteil einen Gegenstand, durch den es wahrgemacht wird.Wenn ein Urteil wahr ist, dann ist es wahr, weil es mit seinem Objekt übereinstimmt und nicht mit irgendeinem anderen. Mit (4) sind daher zwei Bedingungen aufgestellt: (a) Das Vorliegen eines Objektbezugs (Referenz) und (b) dass das Objekt, auf das Bezug genommen wird, zutreffend bestimmt wird (Prädikation). Diese Dualität der Bedingungen formuliert Kant explizit, wenn er sagt, eine Erkenntnis (ein Urteil) sei falsch, wenn sie „mit dem Gegenstand, auf den sie bezogen wird (a), nicht übereinstimmt, obgleich sie etwas enthält, was wohl von andern Gegenständen gelten könnte (b)“ (KrV A 58/B 83). Umgekehrt gilt dann, dass ein Urteil dann und nur dann wahr ist, wenn es mit dem Objekt, auf das es bezogen ist (a), übereinstimmt, weil sein Inhalt nur Bestimmungen enthält, die auf diesen Gegenstand zutreffen (b). Dass Urteile einen „Inhalt“ haben, bedeutet also, dass ein Objektezug vorliegt (a) und, dass in dem Urteil nur zutreffende Bestimmungen von dem Objekt ausgesagt werden (b). Die Übereinstimmungsrelation besteht, wenn beide Bedingungen erfüllt sind. In diesem Fall ist das Urteil wahr.Wenn die erste Bedingung (a) erfüllt ist und die zweite (b) nicht, dann ist das Urteil falsch.³⁸ Das Bestehen oder Nichtbestehen der Übereinstimmung (Wahrheit oder Falschheit) müsste im Rahmen einer Realdefinition kriteriell fixiert sein. Hinsichtlich eines solchen Kriteriums müsste gelten: (5) Ein hinreichendes Kriterium der Wahrheit ist von allen Erkenntnissen gültig.
Um die geforderte Universalität zu erreichen, wäre nämlich von allem „Unterschied der Gegenstände“ der Erkenntnisse, allem „Inhalt der Erkenntniß (Beziehung auf ihr Object)“ (KrV A 58/B 82) zu abstrahieren. (6) Das allgemeine Kriterium der Wahrheit abstrahiert von allem Inhalt der Erkenntnisse.
Ein allgemeines, hinreichendes Wahrheitskriterium wäre gegenüber den spezifischen Inhalten der Urteile indifferent und soll doch zugleich zureichen, die wahren Urteile von den falschen zu unterscheiden. Das aber ist unmöglich, weil
in der Nominaldefinition fest, Wahrheit sei Übereinstimmung von Erkenntnis mit ihrem Objekt (KrV A 58/B 82). Davon zu unterscheiden ist der Fall, in dem Bedingung (a) nicht erfüllt ist (vgl. 3.3.2).
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die Wahrheit des Urteils gerade durch den spezifischen Inhalt der Erkenntnisse besteht (wegen [4]). Also folgt: (7) Ein allgemeines, hinreichendes Kriterium der Wahrheit ist unmöglich.
|aus 4, 5, 6
Die Logiker*innen haben daher, sofern sie die Frage akzeptieren und als Frage nach einem „allgemeinen[n] und sichere[n] Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis“ (KrV A 58/B 82) begreifen, in der Tat „ihre Unwissenheit“ (KrV A 57 f./ B 82) zu bekennen. Die Antwort schuldig zu bleiben, hieße allerdings, nur dann „die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen“ (KrV A 58/B 82), wenn die Frage als berechtigt zu akzeptieren wäre. Die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ ist aber, als Frage nach einem generellen, hinreichenden Wahrheitskriterium verstanden, „an sich ungereimt“, weil ein „allgemeine[s] und sichere[s] Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis“ (KrV A 58/B 82) – wie Kant betont – Widersprüchliches verlangt und unmöglich beantwortet werden kann. „Ein allgemeines materiales Kriterium der Wahrheit ist nicht möglich; es ist sogar in sich selbst widersprechend“, stellt Kant in der Logik klar, da es erfordert „von allem Unterschiede der Objecte zugleich [zu] abstrahiren und auch nicht [zu] abstrahiren“ (AA 9:50 f.). Die Aufgabe, ein allgemeines und zureichendes Kriterium der Wahrheit der Erkenntnis anzugeben ist daher „schlechthin und für jeden Menschen unmöglich“(AA 9:50). Das Kriterium-Argument hat die Form einer Reductio ad absurdum und erweist es als generell unmöglich, die materiale Wahrheit der Urteile durch die Angabe eines allgemeinen und hinreichenden Kriteriums zu erklären. Also ergibt sich aus dem Kriterium-Argument nicht nur, dass mit den Mitteln der formalen Logik kein allgemeines und zugleich hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis angegeben werden kann, sondern auch, dass die Anforderung, ein hinreichendes Kriterium bereitzustellen, mittels dessen in jedem einzelnen Fall entschieden werden kann, ob das Urteil wahr ist oder nicht, per se eine absurde Anforderung ist. Sie kann prinzipiell nicht erfüllt werden. Als Ergebnis des ersten Teils ist mit Blick auf den Rationalismus und dessen Begriffsanalytischer Wahrheitsauffassung festzuhalten, dass die Möglichkeit der Wahrheit, verstanden als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, mit den Mitteln der formalen Logik nicht erklärt werden kann. Eine Realdefinition der Wahrheit lässt sich nicht angeben, weil es kein allgemeines und zugleich hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis geben kann. Kants Rede in von einer Namenserklärung der Wahrheit in W zeigt also an, welcher Status dieser Erklärung zukommt (ad Desiderat1). Bereits Sextus Empiricus hatte darauf hingewiesen, dass im Fall der Wahrheit Beweis und Kriterium in die Diallele geraten und sich so beide als unglaubwürdig erweisen (vgl. PH
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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I.114 ff.).³⁹ Kant gesteht dies zu und zeigt gegen den Rationalismus, dass die korrespondenztheoretische Erklärung der Wahrheit nicht als Realdefinition aufgefasst werden darf. Inwiefern mit diesem Ausweis eine Kritik der rationalistischen Wahrheitsauffassung (Begriffsanalytische Wahrheit) verbunden ist, thematisiert der folgende Teil.
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus Kant weist mittels der wohlbedachten Formulierung, dass die Skeptiker*innen bloß „vermeinte[n]“, die Logiker*innen mit der alten und berühmten Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ in die Enge treiben zu können, darauf hin, dass sich die schlechte Alternative „sich entweder auf einer elenden Diallele […] betreffen lassen“ oder „ihre Unwissenheit, mithin die Eitelkeit ihrer ganzen Kunst bekennen“ zu müssen (KrV A 57 f./B 82), für die Logiker*innen nicht alternativlos stellt. Sie haben die Frage zurückzuweisen, um nicht „den belachenswerten Anblick zu geben, daß einer (wie die Alten sagten) den Bock melkt, der andre ein Sieb unterhält.“ (KrV A 58/B 82 f.)⁴⁰ Der Zweck der kantischen Auseinandersetzung mit den wahrheitstheoretischen Kapazitäten der formalen Logik in der Einleitung zur transzendentalen Logik ist nicht primär darin zu sehen, eine disziplinäre Grenzverletzung der formalen Logik zu brandmarken. Die formale Logik kann ihr Geschäft betreiben, ohne sich auf die skeptische Herausforderung einzulassen und die Frage wohlbedacht abweisen. Als solche kann sie daher nicht Adressatin der kantischen Kritik sein. In Teil 2.2 soll nachgewiesen werden, dass Kants Kritik auf ein methodologisches Missverständnis scheinbarer Metaphysik zielt und dessen wahrheitstheoretische Wurzel offenlegt. Dieses Missverständnis besteht darin, die formale Logik als Organon metaphysischer Theoriebildung zu gebrauchen. Es wurzelt in einer wahrheitstheoretischen Verfehlung: Kants wahrheitstheoretische Ausführung in der Einleitung zur transzendentalen Logik richtet sich gegen den Versuch, allein mit formallogischen Mitteln über Gegenstände urteilen zu wollen und damit gegen die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung und die mit ihr verknüpfte Erkenntnismethode dogmatisch-spekulativ verfahrender rationalisti-
Das skeptische Argument der Kriterium-Aporie macht keinen Unterschied zwischen Kriterium des Wissens und Kriterium der Wahrheit. Aus Sicht der Skeptiker*in liegt hier dasselbe Sachproblem vor: die Rechtfertigung von Wissen ist mit denselben Schwierigkeiten konfrontiert wie die Rechtfertigung von Wahrheit (vgl. Heidemann 2007: 202). Auf diesen Punkt hat bereits Prauss hingewiesen (vgl. Prauss 1973: bes. 77).
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scher Metaphysik.⁴¹ Demnach wäre die Funktion der Passage darin zu sehen, die Weggabelung zwischen einer „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) und einer logizistischen Metaphysik aufzuzeigen.⁴² Nach seiner Wende zur kritischen Philosophie rechnet Kant entgegen dem Rationalismus mit einem Auseinanderfallen von realer und logischer Möglichkeit und damit von Denk- und Seinsbedingungen. In 3.1 wurde deutlich, dass eine formal-logische Wahrheitsbedingung nicht zur materialen Wahrheit durchdringt. Die materiale Wahrheit besteht in der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit dem Objekt, auf das sie bezogen wird.⁴³ In der formalen Logik ist aber von allem Inhalt der Erkenntnis zu abstrahieren. Damit ist notwendigerweise von den Bedingungen der materialen Wahrheit abstrahiert und die reale Möglichkeit eines Begriffs ist nicht beurteilbar: Wer kein Kriterium für materiale Wahrheit hat, hat ipso facto kein Kriterium für reale Möglichkeit. Für den Rationalismus hingegen ist der Satz vom Widerspruch das metaphysische Prinzip des Möglichen. Wenn die Bedingungen der formalen Wahrheit für hinreichende Bedingungen der materialen Wahrheit gehalten werden, werden die formallogischen Prinzipien zu metaphysischen Prinzipien. Der Wahrheitsbegriff verkümmert in der Folge hinsichtlich empirischer Urteile zu einem radikal nicht-epistemischen Begriff. Die epistemische Dimension des Wahrheitsbegriffs ist für Kant, wie das Kriterium-Argument offenbart, von entscheidender Bedeutung. Es könnte scheinen, Kant setze diese epistemische Dimension des Wahrheitsbegriffs schlicht voraus. Allerdings lässt sich diese Notwendigkeit aus dem Kontext seiner Definitionslehre verständlich machen. Gemäß dieser gilt generell, dass eine Realdefinition in der Angabe aller wesentlichen und ursprünglichen Merkmale des Begriffs besteht, die notwendig und hinreichend sind, um alle übrigen Merkmale abzuleiten, die dem Begriff wesentlich anhängen.⁴⁴ In diesem Sinn ist das Wesen nichts „hinter“ diesen Merkmalen Verborgenes, sondern kommt gerade in der Angabe der vollständigen ursprünglichen Merkmale des Begriffs zum Ausdruck. Generell ist zwar zwischen den Definitionen der Sachen einerseits und Kriterien, die hinreichen festzustellen, was unter einen Begriff fällt, ohne das Wesen dieses Etwas zu er-
Zur Verbreitung des Ansatzes, die formallogische Regeln, in erster Linie den Satz vom Widerspruch, wahrheitstheoretisch zu überbewerten und mit diesen Mitteln metaphysische Theoriebildung zu betreiben im deutschen Sprachraum zu Kants Lebzeiten (vgl. Albrecht 2006). Prauss hat darauf hingewiesen, dass sich am Wahrheitsproblem die Wege der formalen und der transzendentalen Logik prinzipiell scheiden (vgl. Prauss 1973: 74 f.). Vgl. die Formulierung der Nominaldefinition, Wahrheit sei Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Objekt in W, vgl. auch AA 9:51. Solche Realdefinitionen sind außerhalb der Mathematik und willkürlich gemachter Begriffe nicht zu erreichen (vgl. AA 9:97).
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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klären, andererseits zu unterscheiden. Der PH-Wert einer Flüssigkeit kann beispielsweise mit Lackmuspapier getestet werden, um festzustellen, ob es sich bei der Flüssigkeit um eine Säure handelt, ohne dass dadurch das Wesen der Säure erklärt wäre.⁴⁵ Jedoch ist gerade mit der Frage nach dem Wesen der Wahrheit die Frage nach einem Kriterium verbunden, das hinreicht, um die wahre Erkenntnis „jederzeit“ und sicher „von allen anderen zu unterscheiden“ (AA 24:920, vgl. KrVA 241 f. Anm. 1) Denn eine Realdefinition enthält „ein klares M e r k m a l , daran der G e g e n s t a n d (definitum) j e d e r z e i t s i c h e r erkannt werden kann“ und welche „den erklärten Begriff zur Anwendung brauchbar macht“ (KrV A 241 Anm. 1). Der Wahrheitsbegriff steht und fällt also mit einem Wahrheitskriterium, das ihn anwendbar macht.⁴⁶ Allerdings ist die Angabe von Kriterien, die die Anwendung eines Begriffs regeln, eine Sache – die Angabe sämtlicher wesentlicher, ursprünglicher Begriffsmerkmale, also die Angabe einer Realdefinition, eine andere. Diese Unterscheidung ist wichtig im Folgenden. Ein radikal nicht-epistemischer Wahrheitsbegriff lässt sich unabhängig von der kantischen Definitionslehre mit Blick auf den metaphysischen Realismus, der eine zentrale Rolle in der jüngeren von Michael Dummett (Dummett 1993) angestoßenen Debatte zwischen wahrheitstheoretischem Realismus und Antirealismus spielt, kritisieren und zurückweisen. Um die Gründe offenzulegen, die einsichtig machen, weshalb Kant zu Recht von der epistemischen Bedeutung des Wahrheitsbegriffs ausgeht, wird zunächst in 3.2.1 Kochs Kritik des metaphysischen Realismus nachvollzogen, um diese dann in 3.2.2 auf den Wahrheitsbegriff des Rationalismus zu übertragen. Auf diesem Wege soll der Zusammenhang zwischen Wahrheitstheorie und Metaphysik aufgezeigt werden, der gemäß der vorgeschlagenen Lesart der KrV eine zentrale Rolle in Kants epistemologischer Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft spielt. Gezeigt werden soll, dass die Identifikation der Bedingungen von logischer und materialer Wahrheit zu einem nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff führt, der den Wahrheitsbegriff unanwendbar werden lässt. Gezeigt werden soll darüber Das Bespiel habe ich von Heidemann übernommen (vgl. Heidemann 2007: 202; vgl. auch Nenon 1986: 34 f.). Dokumentation des Kampfes mit der Anwendungsfrage: In der Logik Philippi wird das Problem eines obersten Kriteriums folgendermaßen bestimmt. Die Regeln der Wahrheit zu untersuchen, scheint unmöglich, weil ich sie dazu selbst anwenden muss (AA 24:386). Die entsprechende Stelle in der Logik Blomberg lautet: „wenn ein Merckmahl Criterium der Wahrheit angegeben werden soll, so wird davon ein Urtheil eine Regul gegeben werden müssen. Das Oberste Criterium kann also nicht angegeben werden.“ (AA 24:81, vgl. AA 24:389): „Allgemeine Merkmale kann man nicht geben in der Anwendung.“; vgl. auch Reflexion 2126: „Was ist Wahrheit. […] Dieser Satz ist nur durch solche Regeln beantwortlich, die schon voraussezten daß ich das Wahre vom Falschen unterscheiden kann“ (AA 16:144).
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
hinaus, dass der illegitime Gebrauch der formallogischen Prinzipien zur Errichtung „mannigfaltiger metaphysische Gaukelwerke“ (KrV A 63/B 88) auf dieser wahrheitstheoretischen Verfehlung basiert. In der zunächst in 3.2.1 besprochenen Variante des metaphysischen Realismus wird das logische Bivalenz-Prinzip metaphysisch reinterpretiert; in der im folgenden Abschnitt 3.2.2 besprochenen zweiten Variante eines transzendentalen Realismus der Satz vom Widerspruch. In beiden Fällen besteht der Fehler darin, formallogische Prinzipien als materiale Prinzipien zu deuten.
3.2.1 Kritik eines nicht-epistemischen Wahrheitskriteriums am Beispiel des metaphysischen Realismus Vielleicht mag die Option, an der korrespondenztheoretischen Wahrheitskonzeption festzuhalten und ein nicht-epistemisches Wahrheitskriterium in Kauf zu nehmen, prima facie attraktiv erscheinen. Warum sollte nicht die Erklärung der Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis mit ihrem Gegenstand als Realdefinition (contra Kants Kriterium-Argument) statuiert und behauptet werden, eben damit sei das Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis angegeben? Welche Rolle spielt es, ob diese Wahrheitsbedingung ein epistemisches Kriterium ist oder nicht? Der wahrheitstheoretische Hintergrund einer solchen logizistischen Metaphysik besteht, wie Koch gezeigt hat, darin, ein Merkmal des Wahrheitsbegriffs, nämlich den „realistischen Aspekt der Wahrheit“ (Koch), absolut zu setzen (vgl. Koch 2006: bes. 38, 156 – 9).⁴⁷ Diese einseitige Wahrheitskonzeption hat Koch mit Blick auf den metaphysischen Realismus kritisiert. Der metaphysische Realismus postuliert, so Kochs Diagnose, aus logischen Erwägungen eine Klasse theoretischer Entitäten, nämlich verdinglichte Tatsachen als „wohlumrissene Wahrmacher für Sätze“ (Koch 2006: 61). Im Hintergrund steht die Annahme, dass das Bivalenz-Prinzip als ein konstitutives Prinzip der (klassischen) Logik in einem starken Sinn für alle Aussagen, in denen Erkenntnisurteile versprachlicht werden, gilt: Jeder Behauptungssatz ist gemäß der Position des metaphysischen Realismus entweder wahr oder falsch und zwar in Abhängigkeit davon, ob ihm eine Tatsache korrespondiert oder nicht. Da es viele Behauptungsätze gibt, die wir weder verifizieren noch falsifizieren können, müssen als Konsequenz dieses einseitig ak Koch unterscheidet drei „Aspekte“ der Wahrheit: 1) einen „realistisch-repräsentationalen“, mit dem die objektive Geltungsdimension von Urteilen verbunden ist, 2) einen „phänomenalen“, der die „Unverborgenheit“ der Gegenstände der Erkenntnis betont, und 3) einen „praktischnormativen“ Aspekt, der die berechtigte Behauptbarkeit akzentuiert (vgl. Koch 2006: hier: 38).
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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zentuierten Wahrheitsbegriffs nicht-epistemische Wahrmacher angenommen werden. Beispielsweise hat der Satz ‚Im Universum gibt es außerirdisches Leben.‘ dem metaphysischen Realismus zufolge in dem Sinn unabhängige Wahrheitsbedingungen, dass er genau dann wahr ist, wenn es im Universum außerirdisches Leben gibt, wobei es keine Rolle spielt, ob wir dies jemals feststellen werden oder auch nur könnten. Auch wenn es uns prinzipiell unmöglich wäre, seine Wahrheit oder Falschheit je festzustellen, ist er dieser Position gemäß entweder wahr oder falsch. Der metaphysische Realismus führt folglich, um seinem einseitigen Wahrheitsbegriff Genüge zu tun, radikal nicht-epistemische Wahrmacher als eine Klasse theoretischer Entitäten ein. Mit dieser Existenzbehauptung entsteht eine metaphysische Position, der eine logische Notwendigkeit zugrunde liegt.⁴⁸ Ihre „skeptizistische Rückseite“ hat Koch mit folgendem Argument kritisiert (vgl. Koch 2006: 43 f., 2012): Wenn die Wahrmacher unserer Urteile in der Übereinstimmung mit einem epistemisch unzugänglichen Ansichsein der Dinge bestehen, „some mythical states of affairs“ (Dummett 1993: 469), dann hat unser Urteilen und Begründen, unsere gesamte epistemische Praxis, nichts mit Wahrheit zu tun. Denn dieser Konzeption gemäß können selbst unsere bestbegründeten Überzeugungen falsch sein. Also können wir die Wahrheit allenfalls mit einer 50 %igen Erfolgschance erraten, weil mit allen affirmativen Aussagen sowie ihren negativen Korrelaten der gesamte mögliche Bereich abgedeckt ist. Ob der Erfolgsfall eingetreten ist oder nicht, könnte jedoch niemals erkannt werden. Die skeptizistische Rückseite des metaphysischen Realismus ist nun darin zu sehen, dass unsere gesamte epistemische Praxis im Lichte seiner Wahrheitskonzeption als ein sinnloses Spiel erscheint. Der metaphysisch-realistische Wahrheitsbegriff ist radikal nicht-epistemisch. Als solcher ist der Begriff ‚Wahrheit‘ aber nicht länger anwendbar. Denn wir könnten ja – da unsere epistemische Praxis ihn nicht tangiert – einfach raten, statt zu urteilen und zu begründen. Prinzipiell kann im metaphysischen Realismus zwar prima facie ein theoretisches Wahrheitskriterium angegeben werden: Ein Urteil ist dann wahr, wenn es mit seinem Gegenstand übereinstimmt. Aber der Wahrheitsbegriff wäre in den positiven Wissenschaften ebenso wie in der alltäglichen Praxis unanwendbar und ginge mangels Anwendungsbedingungen als Begriff verloren.⁴⁹
Die semantische Dimension der Debatte ist für den Punkt, um den es an dieser Stelle zu tun ist, unerheblich und wird ausgeblendet. Eine antiskeptische Bedeutungstheorie, die sich aus der wechselseitigen Stützung von Subjektivität (Personsein) und Wahrheit speist, entwickelt allerdings Falk (vgl. Falk 2010). Von antirealistischer Seite wird zu Recht eingewandt, dass derlei radikal nicht-epistemisch konzipierte, weltseitige Wahrmacher Wahrheit selbst zu einem nicht-epistemischen Begriff machen, der unsere Rechtfertigungspraxis nicht mehr als epistemische Praxis zu begreifen erlaubt
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Für die Zwecke dieser Arbeit ist insbesondere Kochs Diagnose interessant: Die Position des metaphysischen Realismus setzt ein Merkmal des Wahrheitsbegriffs, den „realistischen Wahrheitsaspekt“ (Koch), absolut.⁵⁰ Koch weist darauf hin, dass für den wahrheitstheoretischen Realismus generell die Alternativlosigkeit der klassischen zweiwertigen Logik als Form unseres Denkens spricht. Wenn aber der „realistische Aspekt der Wahrheit“ absolut gesetzt wird, um dem Bivalenz-Prinzip Rechnung zu tragen, dann wird das logische Prinzip als metaphysisches Prinzip reinterpretiert und in der Folge die Existenz einer Klasse theoretischer Entitäten postuliert, nämlich verdinglichte Tatsachen als nicht-epistemische Wahrmacher. Als Konsequenz dieser Engführung von Logik und Metaphysik gerät allerdings Wahrheit nicht nur aus unserem Blickfeld, sondern der Wahrheitsbegriff geht mangels Anwendungsbedingungen als Begriff verloren.⁵¹ Also muss ein positives Kriterium der Wahrheit ein epistemisches Wahrheitskriterium sein. Das bedeutet: Ein Kriterium für das Vorliegen von Wahrheit muss das Wissen um dieses Vorliegen einschließen.
3.2.2 Die Verfehlung der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung Die Spitze der soeben in Anlehnung an Koch vorgetragenen Kritik des metaphysischen Realismus liegt darin, dass diese Position unhaltbar ist, weil der Wahrheitsbegriff als nicht-epistemischer Begriff unanwendbar wird. Diese Kritik lässt sich allerdings nicht eins zu eins auf den Rationalismus übertragen, da Gründe im Rationalismus durchaus eine Rolle spielen. Der Wahrheitsbegriff wird im Rationalismus zwar nicht generell von unserer epistemischen Praxis entkoppelt, aber das dem Menschen mögliche Wissen wird vor dem Hintergrund einer idealen
und Wahrheit unverständlich werden lässt. Jedoch ist die Preisgabe des (logischen) BivalenzPrinzips, zu der sich der Anti-Realismus im Beharren auf die epistemische Dimension des Wahrheitsbegriffs genötigt sieht (und Wahrheitswertlücken als ontische Lücken einführt), keine Option ist, insofern die Logik als das Gesetz unseres Denkens alternativlos ist. Koch weist daher darauf hin, dass der – aus der Zweiwertigkeit der Aussage folgende – realistische Aspekt der Wahrheit nicht absolut gesetzt werden darf, sondern zwei weitere „Aspekte“ oder Begriffsmerkmale der Wahrheit, nämlich der phänomenale und der praktisch-normative, gleichfalls in Rechnung zu stellen sind. Mit dem realistischen Wahrheitsaspekt ist dann nur die Bipolarität (= schwache Zweiwertigkeit – das sind Aussagen ihrer Definition nach) als konstitutives Prinzip und die Bivalenz (= starke Zweiwertigkeit) als nur regulatives Prinzip von Aussagen in Kraft gesetzt (vgl. Koch 2006: 66 f.). Koch hat die skeptizistische Kehrseite des metaphysischen Realismus, der, seiner Diagnose zufolge, den ‚realistischen Aspekt“ der Wahrheit absolut setzt, herausgearbeitet (vgl. Koch 2006: 51– 60; vgl. auch Koch 2012: 101 f.).
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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göttlichen Erkenntnis als defizitär und derivativ herabgesetzt. Übertragbar ist die Kritik in folgender Hinsicht: Logische Erwägungen werden metaphysisch reinterpretiert und infolgedessen die Existenz theoretischer Entitäten postuliert. Im Rationalismus sind die kontingenten Tatsachenwahrheiten aus der Sphäre des aus menschlicher Warte Wissbaren ausgeschlossen und werden durch eine metaphysische Spekulation als epistemische Tatsachen integriert. Gemäß der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung besteht die Wahrheit jeder affirmativen Aussage darin, dass sämtliche Merkmale des Prädikats unter dem Subjektterm enthalten sind. Folglich ist jede wahre Aussage, aus der Perspektive des Prädikats betrachtet, eine identische Aussage. Nicht nur Aussagen der Form A=A fallen darunter, sondern auch Aussagen der Form AB=A.⁵² In 2.3.1 wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Wahrheit kontingenter Tatsachenbehauptungen, die als implizit identische Aussagen begriffen werden, aus der Warte eines endlichen Vernunftwesens nicht einzusehen ist, weil ein solches außer Stande ist, eine unendliche inhaltliche Mannigfaltigkeit von Bestimmungen zu überblicken. Allerdings wird postuliert, dass die Identität besteht. Das Widerspruchsfreie gilt dem Rationalismus als das Real-Mögliche. Ein Vernunftwesen, das fähig ist, eine unendliche Mannigfaltigkeit von Bestimmungen zu überblicken, ist eine notwendige Annahme, um im Ausgang von der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung den Status der kontingenten Tatsachenwahrheiten als epistemische Tatsachen zu garantieren. Die rationalistische Erkenntnistheorie, die eine Annäherung an die Identität von Subjekt und Prädikat kontingenter Tatsachenwahrheiten qua Begriffsanalyse proklamiert, muss eine kognitive Instanz postulieren, die als metaphysischer Garant das vollkommene Ideal dieser Erkenntnis und ihrer Wahrheit darstellt. Wie der metaphysische Realismus geht der Rationalismus in seiner metaphysischen Theoriebildung von logischen Erwägungen aus. Im Vordergrund steht hier allerdings nicht das Bivalenz-Prinzip (Tertium non datur), sondern das Prinzip der Identität und Differenz als metaphysisches Pendant zum logischen Satz vom Widerspruch und das vor dem Hintergrund der begriffsanalytischen Definition der Wahrheit des Rationalismus (Begriffsanalytische Wahrheit) zu diesem konversen Prinzip des Satzes vom Grund.⁵³ Beide Positionen kommen
Darauf hat Liske aufmerksam gemacht (vgl. Liske 2000: 56). Leibniz gilt das Kausalitätsprinzip als erste Folge aus der Begriffsanalytischen Wahrheitsdefinition, die er mit der vorgeordneten logischen Fassung des Prinzips als Implikation der Wahrheitsdefinition begründet. Denn andernfalls gäbe es – entgegen des rationalistischen Wahrheitsbegriffs – eine Wahrheit, die nicht a priori durch analysierende Rückführung auf eine Identität bewiesen werden könnte (vgl. Leibniz 1880: 1645).
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darin überein, in Konsequenz eines primär logisch-metaphysischen Wahrheitsbegriffs Behauptungen über eine epistemisch unzugängliche Sphäre des Seienden aufstellen. Solche nicht-epistemischen Wahrheitskonzeptionen sind wahrheitsskeptische Positionen. Auf beiden Seiten ist derselbe Fehler zu diagnostizieren (ad Desiderat2): Wie der metaphysische Realismus transformiert auch der Rationalismus logische Prinzipien in metaphysische Prinzipien. Diese Transformation wurzelt in der Identifikation von logischer und materialer Wahrheit, d. h. in der Reinterpretation der logischen Bedingungen des Denkens als positive Wahrheitskriterien des Erkennens.⁵⁴ Unter Maßgabe einer einseitigen logizistischen Wahrheitsauffassung, die ein formal-logisches Prinzip (entweder das Tertium non datur [metaphysischer Realismus] oder den Satz vom Widerspruch [Rationalismus]) absolut setzt, werden logische Prinzipien als metaphysische Prinzipien missbraucht. Im metaphysischen Realismus ergibt sich unter der Voraussetzung, dass die Erklärung der Wahrheit als Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand – contra Kant – eine Realdefinition sei, das Wesen der Wahrheit also vollständig erfasse, ein generelles, notwendiges und hinreichendes, allerdings nichtepistemisches Wahrheitskriterium, nämlich ‚Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand‘. Daraus resultiert eine Metaphysik, welche die Objektivität als ein Ansichsein der Dinge veranschlagt, für das unsere epistemische Praxis (unser Urteilen und Begründen) keine Rolle spielt. Im Rationalismus ergibt sich unter Voraussetzung der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung, dass alle Wahrheiten explizite oder implizite Identitäten sind. Der Satz vom Widerspruch und der Satz vom Grund sind nach Maßgabe dieser Wahrheitskonzeption die beiden uneingeschränkt gültigen Prinzipien der Wahrheit. Das Realmögliche ist dann das Widerspruchsfreie und ein unendlicher Intellekt birgt alle Wahrheit, der sich der menschliche Verstand in seiner Endlichkeit qua Begriffsanalyse bloß anzunähern vermag, ohne sie je erreichen zu können. Wie im metaphysischen Realismus wird im Rationalismus aus logischen Erwägungen eine theoretische Entität angenommen. Auch im Falle des Rationalismus resultiert die metaphysische Theorie aus der Wahrheitskonzeption beziehungsweise aus einem einseitig akzentuierten Wahrheitsbegriff. Die menschliche Erkenntnis gilt hier als ungenügend und ist als Erkenntnis nur mittels einer metaphysischen Hilfskonstruk-
Als zwei Prinzipien der logischen, formalen Wahrheit bestreitet ihre Geltung natürlich auch Kant nicht (vgl. u. 3.3.1 zur formalen Wahrheit). Positive Wahrheitskriterien sind hinreichende epistemische Bedingungen der Wahrheit eines Urteils, negative Wahrheitskriterien sind notwendige Wahrheitsbedingungen und epistemische Kriterien der Falschheit.
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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tion, nämlich einem Prinzip der Vermittlung zwischen den Urteilen des menschlichen Intellekts und dem Sein der Dinge, begreifbar.⁵⁵ Kant hat also gute Gründe, einen epistemischen Sinn der Frage nach einem Kriterium der Wahrheit zu beanspruchen. Denn nur durch ein epistemisches Wahrheitskriterium bleibt der Wahrheitsbegriff anwendbar. Der Wahrheitsbegriff hat also wesentlich eine epistemische Bedeutung. Da ein generell hinreichendes und notwendiges Kriterium der Wahrheit eines jeden Urteils – wie das KriteriumArgument zeigt – unmöglich angegeben werden kann (vgl. 3.1.2) und der Satz vom Widerspruch nur das Prinzip der logischen Wahrheit ist, kann es bei der skeptischen Herausforderung nur darum gehen, ein Prinzip der materialen Wahrheit anzugeben. Um die Anwendung des Wahrheitsbegriffs in materialen Urteilen zu sichern, ist ein epistemisches Kriterium synthetischer Urteile auszuweisen (ad Desiderat4). Während die pyrrhonischen Skepsis behauptet, Wahrheit sei unerkennbar und eine Epoché hinsichtlich der Frage empfiehlt, ob es ein Kriterium gibt oder nicht, wird sich zeigen, dass Kant die Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs sicherstellt, indem er die Möglichkeit der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand aufklärt. In Teil 3.3 soll nun die Funktion der wahrheitstheoretischen Betrachtungen in der Einleitung zur transzendentalen Logik bestimmt werden. Bis hierher wurde deutlich, dass es spekulativ-metaphysische Theoriebildungen gibt, die aus wahrheitstheoretischen Verkürzungen resultieren. Der Reinterpretation formallogischer Prinzipien als metaphysische Prinzipien liegt das Versäumnis zugrunde, die Bedingungen der materialen Wahrheit epistemologisch aufzuklären. Der Missbrauch formallogischer Prinzipien ist als das wahrheitstheoretische Fundament des „Blendwerk[s]“ (KrV A 64/B 88) einer logizistischen Metaphysik hervorgetreten und als Zielscheibe der Kritik erkennbar, die Kant an dieser Stelle formuliert. Das „Blendwerk“ (KrV A 64/B 88) einer solchen Metaphysik offenbart sich als Dialektik.⁵⁶ Bevor in Teil 2.3 das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) thematisiert wird, die das Fundament bereitstellt, den dialektischen Schein zu kritisieren, soll zunächst Kants Vorstellung der „Dialektik“ generell und der transzendentalen Dialektik als Teil der Transzendentalphilosophie aus der Einleitung zur ‚transzendentalen Logik‘ näher betrachtet werden, um Funktion und Zielscheibe der Kritik näher zu bestimmen, die Kant in diesem Teil der transzendentalen Logik anbringt.
Die metaphysische Voraussetzung, zu der der Rationalismus gezwungen ist, wird in Kapitel 3, speziell in 4.3.3, mit Kants epistemologischer Lösung der Wahrheitsfrage kontrastiert und kritisiert, indem dargelegt wird, dass sie ungeeignet ist, die Wahrheitsskepsis auszuräumen. Vgl. dazu Kapitel 4, insbes. Teil 5.3.
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3.2.3 Der illegitime Gebrauch der formalen Logik: Der dialektische Schein Kant beginnt die transzendentale Logik mit dem Ausweis der wahrheitstheoretischen Insuffizienz der formalen Logik, um die Erkenntnismethode der spekulativdogmatischen Metaphysik in ihrem Fundament zu kritisieren.⁵⁷ Die Auseinandersetzung mit der Wahrheitsproblematik zu Beginn der transzendentalen Logik hat die Funktion, aufzuzeigen, dass „sich niemand bloß mit der [formalen] Logik wagen [kann], über Gegenstände zu urteilen“ (KrV A 60/B 85).⁵⁸ Dadurch soll auf die Notwendigkeit der transzendentalen Logik aufmerksam gemacht werden, die Kant zufolge also gerade in wahrheitstheoretischer Perspektive als essentiell für die reine diskursive Vernunfterkenntnis zu gelten hat. Im zweiten Teil der transzendentalen Dialektik kritisiert er einen Missbrauch der formalen Logik, der darin liegt, sie „wie ein O r g a n o n zur wirklichen Hervorbringung wenigstens zum Blendwerk von objektiven Behauptungen“ zu gebrauchen (vgl. KrV A 61/B 85), wozu die „scheinbare Kunst, allen unseren Erkenntnissen die Form des Verstandes zu geben, ob man gleich in Ansehung des Inhalts derselbe noch sehr leer und arm sein mag“, verleiten könnte (vgl. KrV A 60 f./B B 85 f.). Dieser Missbrauch der formalen Logik als „vermeintes Organon“, in welchem man sich anmaßt, bloß mit der Logik über Gegenstände zu urteilen und scheinbar Objektivität beanspruchende Behauptungen aufzustellen, heißt nach Kant „Dialektik“ (KrV A 61/B 85). Diese sei generell eine „sophistische Kunst, seiner Unwissenheit, ja auch seinen vorsätzlichen Blendwerken den Anstrich der Wahrheit zu geben [dadurch], daß man die Methode der Gründlichkeit, welche die Logik überhaupt vorschreibt, nachahmete, und ihre Topik zu Beschönigung jedes leeren Vorgebens benutze“, mithin nichts als eine „L o g i k d e s S c h e i n s “ (KrV A 61/B 86). Eine solche Unterweisung sei der Würde der Philosophie aber nicht angemessen und daher werde er die Benennung Dialektik lieber „als eine K r i t i k d e s d i a l e k t i s c h e n S c h e i n s “ der Logik beizählen (vgl. KrV A 62/B 86). Kants transzendentale Dialektik als der zweite Teil der transzendentalen Logik ist „eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken und ihre Ansprüche auf Erfindung und Erweiterung […] zur bloßen Beurteilung
Diese kann Kant zufolge allerdings nur unter einem historischen Gesichtspunkt als „Metaphysik“ bezeichnet werden, denn vor der kritischen Philosophie gab es seines Erachtens aufgrund der Widersprüche, die der transzendentale Realismus birgt, gar keine Metaphysik als Wissenschaft. Vgl. dazu Kapitel 4, insbes. 5.3. Der Fehler liegt in der Auffassung, die reine diskursive Vernunfterkenntnis sei – wie die Mathematik – zu Realdefinitionen fähig.
3.2 Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheit des Rationalismus
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und Verwahrung des reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen“ (KrV A 63 f./B 88). Den Missbrauch sieht Kant, wie er in der Einleitung zu transzendentalen Logik deutlich macht, darin begründet, dass vor seiner Innovation einer transzendentalen Logik die Wahrheitsfrage noch „ohne eigene Bleibe“ war, und sich so „notgedrungen immer wieder in einem ihr fremden Bereich, nämlich dem formalen Logiker stellen [musste]“ (Prauss 1973: 78). Die Frage nach dem Wesen der Wahrheit wurde den formalen Logiker*innen aufgedrängt, obwohl sie, wie gezeigt wurde, nicht zur Disziplin der formalen Logik gehört. Der Grund hierfür ist wohl darin zu sehen, dass die Logik immerhin von Urteilen und Schlüssen handelt. Urteile sind logisch bivalent – wahr oder falsch. Und die Schlussregeln, die die Logik darlegt, sind die Regeln des wahrheitswerterhaltenden Schließens. Somit liegt immerhin ein mittelbarer Bezug zum Wahrheitsbegriff vor. Da sie von den „allgemeinen und notwendigen Regeln des Verstandes“, der „logische[n] Form“, der jede Erkenntnis „völlig gemäß sein“ muss, handelt, könnte der Anschein entstehen, diese formalen Regeln des Verstandes hätten den Status positiver Wahrheitskriterien. Kant insistiert zu Recht, dass es sich bei ihnen bloß um negative Wahrheitsbedingungen handelt.⁵⁹ Der Grund für die wahrheitstheoretische Unzulänglichkeit der formalen Logik ist darin zu sehen, dass sie als eine rein formale Disziplin von allem Inhalt der Erkenntnis abstrahiert. Mit dem KriteriumArgument wendet sich Kant nicht gegen die tradierte Namenserklärung der Wahrheit, sondern weist darauf hin, dass damit kein positives Wahrheitskriterium bereitgestellt ist. Zwar ist die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand eine generelle Wahrheitsbedingung, aber diese Bedingung ist abstrakt. In der Einleitung zur transzendentalen Logik versucht Kant also deutlich zu machen, dass die Dialektik, die er im zweiten Teil der transzendentalen Logik kritisiert, auf einem Missbrauch der formalen Logik basiert. Dieser Missbrauch resultiert aus einer verfehlten Deutung ihrer wahrheitstheoretischen Kapazitäten. Da die formale Logik, die ihre Universalität gerade ihrer bloßen Syntaktizität schuldet, aber darum „gar nichts über den Inhalt der Erkenntnis lehret“, d. h. gegenüber den Gegenständen „gänzlich gleichgültig“ zu sein hat, ist es eine „Zumutung, sich derselben als eines Werkzuges (Organon) zu gebrauchen, um seine Kenntnisse, wenigstens dem Vorgeben nach, auszubreiten und zu erweitern“ (KrV A 61/B 86).⁶⁰ Dies muss auf die bloße „Geschwätzigkeit“ hinauslaufen,
Vgl. dazu 3.3.1. Die formale Logik ist gerade aufgrund ihrer reinen Formalität oder Syntaktizität universell anwendbar. Aus ihrer syntaktischen Universalität folgt ihre semantische Universalität.
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
„alles, was man will, mit einigem Schein zu behaupten, oder auch nach Belieben anzufechten“ (KrV A 61 f./B 86). Durch die Umdeutung des bloß negativen Wahrheitskriteriums der formalen Logik in ein positives werden, wahrheitstheoretisch betrachtet, auf hohlem Sockel „metaphysische Gaukelwerke“ (KrV A 63/B 88) errichtet. Denn ein Irrtum, der nicht die Form der Erkenntnis, sondern deren Inhalt betrifft, kann nicht allein mit formal-logischen Mitteln festgestellt werden, also nicht allein dadurch, dass ein Urteil daraufhin geprüft wird, ob es mit den Regeln des Verstandes und der Vernunft übereinstimmt. Daher ist die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den logischen Gesetzen nicht hinreichend, um die „materielle (objektive)“ Wahrheit von Erkenntnisurteilen auszumachen (vgl. KrV A 59 f./B 84 f.). Die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den logischen Gesetzen entscheidet nicht positiv über die materiale Wahrheit eines Urteils.⁶¹ Darum ist die rationalistische Identifikation von logischer und materialer Wahrheit falsch. Niemand kann also mit der formalen Logik über Gegenstände urteilen, weil der Satz vom Widerspruch bloß ein negatives Kriterium bereitstellt, aber „noch lange nicht hinreicht, materielle (objektive) Wahrheit dem Erkenntnisse darum auszumachen“ (KrV A 60/B 85). Aus einem solchen Missbrauch der „allgemeine[n] Logik, die bloß ein K a n o n zur Beurteilung ist“ (KrVA 61/B 85), entsteht nichts als ein „Blendwerk von objektiven Behauptungen“ (A 61/B 85). Daher darf nach dem juridischen Urteil der Kritik reiner Vernunft niemand beanspruchen, „bloß mit der [formalen] Logik über Gegenstände zu urteilen“ (KrV A 60/B 85).⁶² Kants Kritik zielt im Kern also darauf ab, nachzuweisen, dass es illegitim ist, „bloß mit der Logik […] über Gegenstände zu urteilen“, d. h. objektive Behauptungen aufzustellen und als Wahrheitskriterium nichts weiter als „die Benutzung und die Verknüpfung derselben [der Erkenntnisse] in einem zusammenhangenden Ganzen nach logischen Gesetzen“ in Anschlag zu bringen (vgl. KrVA 60/B 85). Mit dem illegitimen Gebrauch der formalen Logik, um spekulativ-dogmatisch metaphysische Thesen aufzustellen, ist die Zielscheibe der kantischen Kritik identifiziert, die er in dieser Passage mit der Differenzierung zwischen der for-
Die der logischen und als solcher formalen Wahrheit entgegengesetzte „materielle (objektive)“ Wahrheit (Kant) nenne ich die materiale Wahrheit, die immer den Inhalt einer Erkenntnis angeht, aber nicht notwendigerweise materiell im Sinne von „stofflich“ ist. Die Nominaldefinition der Wahrheit (vgl. W) ist nicht falsch, aber liefert keine epistemischen Kriterien der materialen Wahrheit. Zu Kants Ausweis der epistemischen Bedingungen der Wahrheit synthetischer Urteile (der materialen Wahrheit einer Erkenntnis) vgl. 5.2, bes. 5.2.4. In der Vorrede zur Logik betont ganz in dieser Linie auch Jäsche, dass Kant das Prinzips der Identität und Differenz selbstevident anerkannte und nur dessen Gültigkeit einschränkte, „indem er es aus dem Gebiet der Metaphysik, darin es der Dogmatismus gelten zu machen suchte, verwies, und auf den bloß logischen Vernunftgebrauch […] beschränkte“ (vgl. AA 9:6 f.).
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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malen und der transzendentalen Logik anhand der Wahrheitsfrage verbindet. Kritisiert wird ein methodologischer Fehler, nämlich die notwendige formale Forderung der Widerspruchsfreiheit eines Gedankens als hinreichendes Kriterium für die objektive Realität zu erachten und in der Folge den traditionellen korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff im Sinne einer Kohärenztheorie der Wahrheit umzudeuten (ad Desiderat3).⁶³
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“ Bisher wurde Kants mit der Wahrheitsthematik verbundene Kritik in der Einleitung zur transzendentalen Logik in ihrer negativen Stoßrichtung bestimmt. Mit dem Kriterium-Argument zeigt Kant, dass die Forderung, ein allgemeines und zugleich hinreichendes Wahrheitskriterium anzugeben, absurd ist.⁶⁴ Sofern die skeptische Herausforderung dies verlangt, ist sie Unsinn. Die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus, wonach der Satz vom Widerspruch als ein solches Wahrheitskriterium angesehen wird, ist verfehlt. Kants Kritik des rationalistischen Wahrheitsbegriffs beruht im Kern auf dem Nachweis, dass die Erklärung, Wahrheit sei die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, keine Realdefinition ist und die rationalistische Identifikation von logischer und materialer Wahrheit falsch ist. Muss es aber angesichts der herausgestellten prinzipiellen Unmöglichkeit, ein generell hinreichendes Kriterium der Wahrheit anzugeben, nicht irritieren, dass er selbst den ersten Teil seiner transzendentalen Logik, die transzendentale Analytik, als „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) bezeichnet? Um diese Irritation aufzulösen, ist zu klären, was mit einer „Logik der Wahrheit“ gemeint ist und welchen Beitrag Kants transzendentale Analytik zur Beantwortung der Wahrheitsfrage im Kontrast zur formalen Logik leistet. Auf diese Weise kann das Programm der transzendentalen Analytik entwickelt und die systematische Stellung dieses Stücks kantischer Transzendentalphilosophie bestimmt werden.
Auch Schulz kommt zu dem Schluss, dass die Passage zur Wahrheitsfrage eingangs der transzendentalen Logik als Kritik an der zeitgenössischen Schulphilosophie, also dem Rationalismus, zu lesen ist. Sie stellt heraus, dass Kant entgegen den dort virulenten kohärenztheoretischen Ansätzen gerade zurück auf die tradierte korrespondenztheoretische Wahrheitsauffassung verweist (vgl. Schulz 1993: bes. 8 f., 106 – 46). Vgl. 3.1.2. Auch Locke fragt nach einem epistemischen Kriterium der materialen Wahrheit (vgl. Locke, Essay IV.iv.3). Zur empiristischen Erkenntnistheorie vgl. 4.1.1.
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
In der Forschungsliteratur hat die Tatsache, dass Kant mit dem KriteriumArgument die formale Logik in wahrheitstheoretischer Hinsicht als defizitär ausweist und seine transzendentale Analytik als „Logik der Wahrheit“ (KrVA 62/B 87) bezeichnet, für Verwirrung gesorgt. Prauss meint, die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ werde zu einer „ungereimten Frage“ (vgl. KrV A 58/83), wenn sie an die formale Logik gerichtet wird (vgl. Prauss 1973: 76).⁶⁵ Er folgert, dass diese Frage ganz und gar aus dem Bereich der formalen Logik auszuschließen sei und behauptet, ihre adäquate Behandlung werde erst mit der transzendentalen Logik möglich, womit er nahe legt, die transzendentale Logik sei im Stande, eine Realdefinition der Wahrheit zu entwickeln (vgl. Prauss 1973: 78). Scheffer insistiert dementgegen im Anschluss an Hans Wagner, dass Kant die formallogischen Prinzipien zwar nicht als allgemeine und hinreichende Kriterien der Wahrheit einer jeden Erkenntnis erachtet, aber mit der Nennung der formallogischen Prinzipien die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ in Kants Augen sehr wohl partiell beantwortet sei. Denn Kant bestreite nicht, dass die „Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“ (KrV A 59/B 84) eine allgemeine und notwendige Bedingung der Wahrheit einer jeden Erkenntnis ist (vgl. Scheffer 1993: 252 f; vgl. a. Wagner 1977: 73). Beide Positionen machen einen wichtigen Punkt deutlich. Scheffer betont – contra Prauss – zu Recht, dass die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ in Kants Augen als Frage nach einem allgemeinen und hinreichenden Wahrheitskriterium aller Erkenntnisse generell eine ungereimte Frage ist, die zu beantworten für die transzendentale Logik nicht minder ein Ding der Unmöglichkeit darstellt. Damit ist nämlich generell Unmögliches verlangt. In Teil 2.2 wurde deutlich, dass die Einführung der Wahrheitsfrage als eine an die formale Logik gerichtete Frage darauf abzielt, die Klassifikation der formal-logischen Wahrheitsbedingungen als positive Wahrheitsbedingungen zu kritisieren. Prauss hebt seinerseits zu Recht hervor, dass Zielscheibe der kantischen Kritik die Überbewertung der wahrheitstheoretischen Kapazitäten der formalen Logik ist und dass Kant offenbar der Ansicht ist, mit seiner transzendentalen Analytik etwas leisten zu können, was der formalen Logik nicht möglich ist. Ferner wurde deutlich, dass Kant in der Einleitung zur transzendentalen Logik nicht darauf abzielt, die formal-logischen Wahrheitsbedingungen als nichtig zu erweisen, sondern ihre Negativität herauszustellen. Da mit dem Ausdruck ‚Logik der Wahrheit‘ mehr versprochen zu sein scheint, nämlich die Realmöglichkeit der Bezugnahme auf Objekte verständlich zu ma-
Was an dieser Frage ungereimt ist, wurde in 3.1.2 geklärt.
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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chen, sollen im Folgenden zwei Schritte unternommen werden, um das wahrheitstheoretische Programm der transzendentalen Logik zu bestimmen: Zunächst soll in 3.3.1 geklärt werden, welchen Beitrag die formallogischen Prinzipien zur Beantwortung der Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ zu leisten vermögen, um daran anschließend in 3.3.2 darzulegen, wie und in welchem Umfang die transzendentale Logik in der Lage ist, die offenen wahrheitstheoretischen Desiderate zu erfüllen. Im Zuge dessen soll deutlich werden, wie Kant der skeptischen Herausforderung in der KrV begegnen möchte (Desiderat5) und was die transzendentale Analytik also zu leisten hat.
3.3.1 Die formal-logische Wahrheit Die formale Logik handelt von den allgemeinen und notwendigen Formen des Denkens. Ein Urteil, das gegen die Gesetze des Verstandes und der Vernunft verstößt, ist falsch. Jedoch ist ein Urteil, das ihnen genügt, nicht notwendigerweise wahr. Es kann immer noch dem Objekt widerstreiten (vgl. KrV A 59/B 84).⁶⁶ Die logische Form, d. h. die Übereinstimmung eines Urteils mit den Gesetzen des Verstandes, hat daher den Status eines negativen Wahrheitskriteriums. Zur „materiale[n] (objektive[n]) Wahrheit“ (KrV A 59 f./B 84 f.) ist dieses Kriterium längst nicht hinreichend. Im Unterschied zum Rationalismus sieht Kant, dass zwischen der formalen und der materialen Wahrheit zu unterscheiden ist.⁶⁷ Die formale Logik vermag kein hinreichendes Kriterium bereitzustellen, um zu prüfen, ob eine Erkenntnis mit ihrem Objekt übereinstimmt oder nicht. Sie gibt jedoch ein Kriterium für die Konformität des Denkens mit sich selbst an die Hand. Mit der „Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den allgemeinen und formalen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“, verfügt die formale Logik also in der Tat über ein universelles, notwendiges Wahrheitskriterium. Dieses ist aber ein „bloß logische[s] Kriterium der Wahrheit“ (KrV A 59 f./B 84, Hervhb. SB) und negativ: die conditio sine qua non der (materialen) Wahrheit (vgl. KrV A 59 f./B 84). In der Logik ⁶⁸ wird betont, wie wichtig die Frage sei, „[o]b und in wie fern es ein sicheres, allgemeines und in der Anwendung brauchbares Kriterium der
Vgl. auch die entsprechende Stelle aus der Logik: AA 9:50 f. Vgl. Teil 3.2.2. Auch an dieser Stelle geht es um eine systematische Frage, nämlich die Frage, welche Prinzipien der formalen, logischen Wahrheit zuzuordnen sind, um die wahrheitstheoretischen Kapazitäten der formalen Logik umfänglich darzustellen. Aufschlussreich sind diese Hinweise aus der Logik mit Blick auf die in Teil 3.2. vorgetragene Kritik der Identifikation von formaler und materialer Wahrheit. Für die in Teil 3.3.2 folgende Entwicklung der wahrheitstheoretischen Ka-
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
Wahrheit gebe“ und erklärt, dass ihre Entscheidung es erfordere, zwischen der Materie der Erkenntnis, mittels deren sie sich auf ihr Objekt bezieht, und der Form der Erkenntnis, „ohne welche ein Erkenntniß gar kein Erkenntniß überhaupt sein würde“, zu unterscheiden (AA 9:50). Ein allgemeines materiales Kriterium ist unmöglich, weil es die generell inkonsistente Anforderung stellt, von allem Inhalt der Erkenntnis zugleich zu abstrahieren und auch wieder nicht.⁶⁹ Allgemeine formale Kriterien der Wahrheit hält Kant hingegen sehr wohl für möglich. Denn die formale Wahrheit tangiert gar nicht das Erkenntnisobjekt, sondern nur die „Zusammenstimmung der Erkenntnis mit sich selbst bei gänzlicher Abstraktion von allen Objekten insgesamt und von allem Unterschied derselben“ (AA 9:51). Die allgemeinen logischen Merkmale der Wahrheit sind allgemeine logische Merkmale der Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst (vgl. AA 9:51). Sie liegen als allgemeine Gesetze des Denkens im Verstand und der Vernunft und sind daher a priori einsehbar. In der Logik führt Kant drei formal-logische Kriterien der Wahrheit an, die den logischen Modalitäten zugeordnet werden:⁷⁰ den Satz vom Widerspruch, den Satz vom Grund und das Tertium non datur.⁷¹ Durch den Satz vom Widerspruch wird pazitäten der transzendentalen Logik sind diese Punkte weniger relevant, werden an dieser Stelle aber angeführt, um die Darstellung zu komplettieren. Dies wurde bereits deutlich (vgl. 3.1.2). In der Logik spricht Kant bzgl. der „formalen“ Wahrheit, wie er in der KrV formuliert, von „logischer“ Wahrheit. Gemeint ist in beiden Fällen die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den Gesetzen unseres Verstandes. Da die transzendentale Wahrheit der transzendentalen Analytik ebenfalls eine logische Wahrheit ist, wird im Folgenden die formal-logische Wahrheit als solche oder als „formale“ Wahrheit bezeichnet. Die transzendentale Wahrheit hingegen ist der a priori einsehbare Aspekt der materialen Wahrheit, ihre Möglichkeitsbedingung. In seiner kritischen Philosophie unterscheidet Kant, anders als der Rationalismus, zwischen diesen Prinzipien als logischen Prinzipien und ihrer transzendentalen Bedeutung. Als logische Prinzipien konstituieren sie die Gesetze der Übereinstimmung des Denkens mit sich selbst, betreffen also nicht Gegenstände, sondern Urteile; nur als transzendentale Prinzipien bedingen sie die objektive Erkenntnis. Der Satz vom Widerspruch ist das allgemeine, notwenige und hinreichende Prinzip der Denkbarkeit eines Begriffs und insofern ein logisches Prinzip. Seine transzendentale Bedeutung ist darin zu sehen, dass jeder Erkenntnisgegenstand immer auch denkbar sein muss (logische Möglichkeit). Das ist der Fall, wenn sein Begriff in dem Urteil, das diesen Bezug herstellt, weder einen impliziten noch einen expliziten Widerspruch aufweist. Dies festzustellen ist die transzendentale Funktion analytischer Urteile. Die objektive Geltung des Satzes vom Grund als Kausalitätsprinzip betrifft nur die empirischen, kontingenten Erfahrungsgegenstände: Übertragen auf die Zeitfolge ist der Satz vom Grund das Prinzip der Kausalität von Gegenständen und als solches ein transzendentales Prinzip, d. h. ein synthetisches Prinzip, das die Erkenntnis von Gegenständen a priori bedingt. Das Tertium non datur ist ein logisches Prinzip, demzufolge von zwei widersprechenden Urteilen (p und non-p) nur eines wahr sein kann und das andere falsch sein
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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Kant zufolge die „innere Möglichkeit eines Erkenntnisses für problematische Urteile“ bestimmt (vgl. AA 9:52 f.). Auf dem Satz vom Grund beruht die formallogische Wirklichkeit einer Erkenntnis als „Stoff zu assertorischen Urteilen“ (AA 9:53). Und das Tertium non datur gründet die formal-logische Notwendigkeit apodiktischer Urteile, nämlich „daß notwendig so und nicht anders geurteilt werden müsse, d. i. das Gegensteil falsch sei“ (AA 9:53). Der Satz vom Widerspruch bestimmt also die formal-logische Möglichkeit eines Urteils, der Satz vom Grund die formal-logische Wirklichkeit und das Tertium non datur die formal-logische Notwendigkeit. Der Satz vom Widerspruch sichert Kant zufolge als negatives Prinzip die „innerliche[] logische[] Wahrheit (AA 9:51). Das positive Prinzip dieser formalen Wahrheit sei der Satz vom Grund. Denn eine formal wahre Erkenntnis müsse nicht nur konsistent sein, sondern auch Gründe haben und keine falschen Folgen (vgl. AA 9:51). Der Satz vom Grund regelt den formal-logischen Zusammenhang eines Urteils mit anderen Urteilen (Gründen und Folgen) und ist insofern „äußerlich“. Kant spricht diesbezüglich von der „Rationabilität“ der Erkenntnis. (AA 9:51 f.) Während der Satz vom Widerspruch das Prinzip der kategorischen Urteile ist, ist der Satz vom Grund das Prinzip hypothetischer Urteile (vgl. AA 9:123, 129.). Die Rationabilität ist ein positives formal-logisches Kriterium mit den folgenden Regeln: (1) Aus einer falschen Folge kann auf die Falschheit des Grundes geschlossen werden. Wenn der Grund wahr wäre, müsste notwendigerweise auch die Folge wahr sein. Der umgekehrte Schluss gilt nicht. Denn ein falscher Grund kann wahre Folgen haben (ex falso quodlibet) (vgl. AA 9:52). In dieser apagogischen Schlussart (modus tollens) wird die Folge als ein negativ und indirekt zureichendes Kriterium der Wahrheit eines Urteils angesehen. Kant weist darauf hin, dass dieses Verfahren in der Geometrie häufig angewandt wird und den Vorteil birgt, dass die Herleitung einer falschen Folge genügt, um die Falschheit einer Erkenntnis zu beweisen. In der reinen diskursiven Vernunfterkenntnis ist dieses Verfahren jedoch unbrauchbar, wie Kant in der Methodenlehre der KrV betont, weil die philosophischen Beweise immer direkt geführt werden und Einsicht in die Gründe der Wahrheit geben müssen. Damit weist er die aus der Mathematik entlehnte Beweismethode der dogmatisch-spekulativen Metaphysik zurück. Im
muss. Ein Drittes ist ausgeschlossen. Zu Kants Kritik der philosophischen Methode mittels dieses Prinzips einen Satz apagogisch zu beweisen (vgl. 5.3).
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
Abschnitt über die Antithetik der reinen Vernunft demonstriert er, dass sich die Vernunft mittels apagogischer Beweise nur in einer Dialektik verfängt.⁷² (2) Ein Grund ist wahr, wenn alle seine Folgen wahr sind (vgl. AA 9:52). Kant weist darauf hin, dass diese Schlussart mit der Schwierigkeit behaftet ist, dass „sich die Allheit der Folgen nicht apodiktisch erkennen läßt“, weshalb man durch diese Schlussart nur zu einer „wahrscheinlichen und h y p o t h e t i s c h -wahren Erkenntnis (Hypothesen) geführt wird, nach der Voraussetzung: daß da, wo viele Folgen wahr sind, die übrigen alle auch wahr sein mögen“ (AA 9:51). Um sicherzustellen, dass, sofern der Vordersatz eines hypothetischen Urteils wahr ist, auch jederzeit der Nachsatz wahr ist, müssten alle möglichen Fälle der Verknüpfung dieser Urteile in Rechnung gestellt werden, um auszuschließen, dass bei Wahrheit des Vordersatzes auch nur in einem Fall der Nachsatz falsch ist. Hypothesen erlaubt Kant in der reinen Philosophie, die apodiktische Gewissheit sucht, allerdings nicht (vgl. KrV A xv).⁷³ Da in dieser Schlussart nur Wahrscheinlichkeit zu erreichen ist nach dem Prinzip, dass da, wo „alle Folgen, die uns bis jetzt vorgekommen sind aus dem vorausgesetzten Grund [das hypothetische Urteil] […] erklären lassen […,] kein Grund da [ist], warum wir nicht annehmen sollten, daß sich daraus alle möglichen Folgen werden erklären lassen“ (AA 9:85), ist sie nur als heuristische Methode positiver Wissenschaften zu gebrauchen. Das Tertium non datur stützt als das Prinzip disjunktiver Urteile den Satz vom Grund. Um nämlich nach dem modus ponens ausgehend von der Wahrheit eines Vordersatzes positiv auf die Wahrheit des Nachsatzes schließen zu können, muss vorausgesetzt werden, dass das zugrundeliegende hypothetische Urteil absolut allgemein gilt. Dieses Prinzip zeigt also den hypothetischen Charakter der in Schlüssen nach dem modus ponens verwendeten Urteile an, indem es voraussetzt, dass ein angenommener Grund ganz allgemein als hinreichender Grund für seine Folgen in allen möglichen Fällen in Frage kommt. Nach diesem Grundsatz (a ∨ ¬a)
Zur ostensiven Beweisart und der Kritik des apagogischen Beweisverfahrens vgl. Kapitel 4, insbes. 5.3. In der Methodenlehre heißt es: „Die Gründlichkeit der Mathematik beruht auf Definitionen, Axiomen, Demonstrationen“ (KrV A 726/B 754). Die Philosophie kann nichts davon im Sinne der Mathematik leisten, noch nachahmen. Philosophie besteht darin, seine Grenzen zu kennen („der Meßkünstler [bringt], nach seiner Methode, in der Philosophie nichts als Kartengebäude zu Stande […], der Philosoph nach der seinigen in dem Anteil der Mathematik nur ein Geschwätz erregen [kann]“ (KrV A 727/B 755). Gegen die „dreiste Anmaßung einer apodiktischen Gewißheit“, die vorgibt die Existenz eines vollkommenen Wesens einzusehen, vgl. KrV A 612/B 640; in der Methodenlehre präzisiert Kant: Im Feld der reinen Vernunft sind sie nicht als Kriegswaffen erlaubt, um ein Recht zu erwerben, sondern nur, um es zu verteidigen (vgl. KrV A 777/B 805).
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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folgt nämlich aus dem Gegenteil jedes wahren Grundes eine falsche Folge.⁷⁴ Er bringt somit „das Fürwahrhalten einer Voraussetzung als Grundes“ (AA 9:84) zum Ausdruck – eine Voraussetzung allerdings, „zu deren völliger Gewißheit wir nie gelangen können“ und daher wird durch den Satz vom ausgeschlossenen Dritten jedes hypothetische Urteil als Hypothese ausgewiesen, der wir uns „ergeben […], als wäre sie völlig gewiß, obgleich sie es nur durch Induktion ist“ (AA 9:85).⁷⁵ Diese drei Prinzipien sind hinreichend zur Bestimmung der formal-logischen Wahrheit eines Urteils. Aber die formal-logische Wahrheit ist nicht die Wahrheit simpliciter. Solange vollständig von der Materie eines Urteils abstrahiert ist, kann nur die Übereinstimmung des Denkens mit sich selbst überprüft werden, aber nicht die Übereinstimmung des Denkens mit der Objektivität. Der Rationalismus geht irrigerweise davon aus, mit den formal-logischen Prinzipien eine Realdefinition der Wahrheit an der Hand zu haben. Denn die formalen logischen Modalitäten erklären nicht, wie das Denken objektiv gültig sein kann. Das Widerspruchsfreie ist das Denkbare, aber die Widerspruchsfreiheit ist kein positives Kriterium der realen Möglichkeit. Die objektive Realität einer Erkenntnis kann nicht unter vollständiger Abstraktion von ihrem Inhalt bestimmt werden. In der Einleitung zur transzendentalen Analytik als erster Abteilung der transzendentalen Logik thematisiert Kant speziell den Satz vom Widerspruch. Denn im Rahmen der „Analytik der Begriffe“ ist zunächst die innerliche Wahrheit eines Urteils zu erklären. Diese Erklärung soll im Rahmen einer transzendentalen Logik, die nicht von allem, sondern nur vom empirischen Inhalt der Erkenntnis abstrahiert, erfolgen. Zu fragen ist, unter welchen Bedingungen ein Urteil auf Objekte Bezug nimmt.⁷⁶ Der wahrheitstheoretische Unterschied zwischen der formalen und der transzendentalen Logik ist entlang der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen und ihren Wahrheitsbedingungen zu erklären. Wie bereits deutlich wurde, ist die epistemische Dimension des Wahrheitsbegriffs für die kantische Transzendentalphilosophie von entscheidender Bedeutung.⁷⁷ Der Satz vom Widerspruch ist, Kant zufolge, das transzendentale Prinzip analytischer Urteile, denn „[k]einem Dinge kommt ein Prädikat zu, welches ihm widerspricht“ (KrV A 151/B 190). Im Hinblick auf analytische Urteile hat der Satz vom Widerspruch den Status eines positiven, d. h. allgemeinen und hinreichenden und zu-
Vgl. Reflexion 2185 in: AA 16:261. Zu diesen Ergebnissen gelangt auch Scheffer in seiner Untersuchung der Bedeutung der formallogischen Wahrheitsbedingungen (vgl. Scheffer 1993: 27– 29). Die Rationabilität einer Erkenntnis im Zusammenhang mit ihren Gründen wird erst in der zweiten Sektion der transzendentalen Logik thematisch. Vgl. 3.2.
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
dem epistemischen Wahrheitskriteriums. Dieser Status qualifiziert ihn zu einem im kantischen Sinn „transzendentalen“ Prinzip.⁷⁸ Jedoch ist der Satz vom Widerspruch für die Wahrheit eines Urteils dann und nur dann hinreichend, wenn das Urteil analytisch ist. Ein Urteil ist analytisch, wenn der Prädikatausdruck bereits implizit im Subjektbegriff enthalten ist. So ist beispielsweise das Urteil ‚Alle Körper sind ausgedehnt‘ analytisch, weil die Bestimmung, ausgedehnt zu sein, im Begriff des Körpers bereits gedacht wird. Wahrheit kann der Satz vom Widerspruch hier garantieren, weil das gegenteilige Urteil einen Widerspruch enthält, also formal unmöglich ist. Die formale Wahrheit eines Urteils ist daher mittels des Satzes vom Widerspruch a priori erkennbar und darum ist er ihr im kantischen Sinn „transzendentales“ Prinzip. Im Allgemeinen stellt der Satz vom Widerspruch aber nur eine negative, d. h. notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der Wahrheit dar. Ein Urteil, das gegen das Widerspruchsprinzip verstößt, ist allein aus formalen Gründen falsch. Jedoch sind widerspruchsfreie Urteile nicht notwendigerweise wahr. Material betrachtet können sie trotz ihrer Widerspruchsfreiheit immer noch falsch oder grundlos sein (vgl. KrV A 151/B 190). Der Satz vom Widerspruch ist also ein logisch-formales Prinzip von negativem Gebrauch. Dieses Prinzip gehört insofern zur Transzendentalphilosophie, als die Widerspruchsfreiheit nicht nur eine notwendige Bedingung der formalen Wahrheit eines Urteils darstellt, sondern ein epistemisches Wahrheitskriterium analytischer Urteile ist und daher im erkenntnistheoretischen Sinn Kants als „transzendentales“ Prinzip von Urteilen zu gelten hat. Allerdings reicht die formale Logik nicht bis an die Dinge hin. Der Satz vom Widerspruch fordert nur, dass Subjekt und Prädikat eines kategorischen Urteils so verbunden werden, dass in einem verneinenden Urteil dem Subjekt kein Prädikat abgesprochen wird, das als Teilbegriff schon im Subjektbegriff liegt (vgl. KrV B 11), und dass dem Subjekt keine Eigenschaft zugesprochen wird, die mit seinem vollständig analysierten Subjektbegriff unverträglich wäre (vgl. KrV B 192).⁷⁹
Bärthlein hat darauf hingewiesen, dass Kant die uneingeschränkte Geltung des Satzes vom Widerspruch „ohne viel Diskussion[] als ein selbstverständliches Stück der Transzendentalphilosophie betrachten“ konnte, da diese in der vorkantischen Philosophie nicht in Abrede gestellt wurde (Bärthlein 1976: 374). Die Passage zum Satz vom Widerspruch als dem alleinigen Prinzip aller analytischen Urteile fällt in der KrV entsprechend knapp aus (vgl. KrV A 150/B 189 – A 153/B 193). Der Satz vom Widerspruch ist hinreichend, um die Wahrheit oder Falschheit analytischer Urteile festzustellen und hat daher als ihr Prinzip zu gelten (vgl. KrV, A 150 – 53/B 189 – 93). Das Widerspruchsprinzip (~[p∧~p]) nötigt als „konstitutives Prinzip des Denkens“ (Koch) einen entdeckten Widerspruch zu beseitigen. Aber die formale Logik gilt aufgrund ihrer inhaltlichen Leere, ihrer reinen Syntaktizität, „nur für das Denken“ und gibt den Dingen „kein Profil“, wie Koch diesen Punkt ausdrückt (vgl. Koch 2015: 3 f.).
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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Dieser Grundsatz kann befolgt werden, ohne dass es erforderlich wäre, festzustellen, welche Eigenschaften gegebene Gegenstände tatsächlich haben.⁸⁰ Einzig die a priori zu leistende Analyse der Teilbegriffe des Subjekt- und des Prädikatausdrucks ist dazu erforderlich. Wenn der Gegenstand G ein Fall von B ist und B das Prädikat P enthält, dann folgt, dass P von G gilt. Die Feststellung, ob ein konkreter Gegenstand G ein Fall von B ist, erfordert jedoch andere Prinzipien.⁸¹ Die rationalistische Metaphysik geht umgekehrt von der analytischen Wahrheit aus, dass analytische Urteile immer wahr sind und konzipiert die objektive Realität nach Maßgabe der formallogischen Wahrheit (Widerspruchsfreiheit) als Identitäten. Ein Prinzip synthetischer Urteile wird nicht in Betracht gezogen, weil gemäß der rationalistischen Erkenntnistheorie, als Folge der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung, schlicht alle Aussagen implizite oder explizite Identitäten sind. Ihr generelles, notwendiges und hinreichendes Wahrheitskriterium wäre dann der Satz vom Widerspruch. Mit dem Kriterium-Argument weist Kant auf die Absurdität dieser Ansicht hin. Es ist generell unmöglich, ein zugleich vollkommen allgemeines und doch hinreichendes Kriterium der Wahrheit aller Urteile anzugeben. Damit tritt die Verfehlung der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung des Rationalismus offen zutage. Der Satz vom Widerspruch kann nicht als ein solches Kriterium angesehen werden, weil damit per impossibile etwas Widersprüchliches gleistet wäre.
3.3.2 Die transzendental-logische Wahrheit Kant unterscheidet von der logisch-formalen Wahrheit die materiale (objektive) Wahrheit. Die materiale Wahrheit kann, sofern sie empirisch und an Empfindung gebunden ist, kein Thema der kantischen Transzendentalphilosophie sein. Denn diese abstrahiert als apriorische Disziplin von aller Empfindung (vgl. KrV A 19 f./B 34). Allerdings hat die objektive Geltung empirischer Urteile, die Erfahrung als empirische Wahrheit, Kant zufolge a priori einsehbare Bedingungen. Inwiefern die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes die formallogischen Prinzipien als Wahrheitskriterien ergänzen, soll nun umrissen werden, um zu klären, welchen Beitrag die transzendentale Logik zur Beantwortung der Wahrheitsfrage zu leisten vermag. Während die formale Logik von allem Inhalt der Erkenntnis vollständig abstrahiert und als rein syntaktische Disziplin ausschließlich deren logische Form
Darauf weist Scheffer hin (vgl. Scheffer 1993: 12). Ich danke Aljoscha Beck für den Vorschlag zu dieser Erläuterung.
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
untersucht, abstrahiert die transzendentale Logik nicht von allem Inhalt, sondern nur vom empirischen, und untersucht die Regeln des reinen Denkens eines Objekts (vgl. KrV A 55/B 79 f.). Im Gegensatz zur allgemeinen, formalen Logik ist die transzendentale Logik eine besondere und in gewissem Sinn materiale Logik, nämlich eine Logik der reinen Form der Gegenstandserkenntnis. Als Logik teilt sie bestimmte Züge der formalen Logik, unterscheidet sich von ihr aber hinsichtlich ihrer wahrheitstheoretischen Kapazitäten. Eine Logik ist Kant zufolge generell im Wesentlichen eine „Analytik“ (AA 9:16), die ihre Grundsätze „von dem objektiven […] und möglichen Gebrauch des Verstandes […] abstrahiert“, und nicht von „dem subjektiven und wirklichen […] deriviert“ (Reflexion 1603 in: AA 16:33). Denn die logischen Gesetze sind keine empirischen Prinzipien, sondern die Gesetze der „Verwendung von Begriffen auf diejenigen Formen hin, deren Einhaltung eine notwendige Bedingung jeder denkbar möglichen Erkenntnis ist“ (Scheffer 1993: 10). Das gilt für die formale wie für die transzendentale Logik gleichermaßen. Qua Logik sind sie normative Disziplinen, Lehren der richtigen Erkenntnis, deren Gebrauch nur in selbstbezüglicher Betrachtung konstitutiv ist, im Objektbezug aber regulativ. Sie sind ein „Kanon“, kein „Organon“ der Erkenntnis.⁸² In diesem Sinn ist Kants Auskunft zu verstehen, die transzendentale Logik trete in ihrer ersten Abteilung als „Analytik des reinen Verstandes“ an die Stelle der Ontologie (vgl. KrV A 246 f./B 303). Im Hinblick auf ihre wahrheitstheoretischen Kapazitäten unterscheiden sich beide Disziplinen: Die formale Wahrheit besteht in der Übereinstimmung des Denkens bzw. des Verstandes mit sich selbst. Sie begrenzt den Raum der logischen Möglichkeit. Der logischen Form des Denkens kann keine Erkenntnis widersprechen, weil die logischen Regeln (Satz vom Widerspruch, Satz vom Grund, Tertium non datur) konstitutive Regeln des Denkens sind. Ein widersprüchlicher Begriff ist ein Unding (nihil negativum), das insofern der Möglichkeit entgegengesetzt ist, als sich widersprüchliche Begriffe selbst aufheben, wie beispielsweise die PseudoBegriffe ‚runder Quader‘ oder ‚eckiger Kreis‘.⁸³ Die Prinzipien der formalen Logik betreffen aber nur „die Form der Wahrheit, d. i. des Denkens überhaupt“, weshalb sie zwar notwendige Kriterien der Wahrheit sind, aber keine hinreichenden. Denn eine Erkenntnis, die der logischen Form völlig gemäß ist, kann immer noch dem Gegenstand widersprechen. Die objektive Gültigkeit des Denkens verhandelt die transzendentale Logik. Als Analytik des reinen Verstandes trägt sie sämtliche „Elemente der reinen
Vgl. u. a. Reflexion 1603 in: AA 16:33. Die Normativität der transzendentalen Logik betont auch Elena Ficara (vgl. Ficara 2006: 22, 180 – 88). Vgl. Kants Tafel der Einteilung des Nichts in KrV A 292/B 348.
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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Verstandeserkenntnis“ vor und bezieht sich damit auf die „Prinzipien, ohne welche überall kein Gegenstand gedacht werden kann“ (KrV A 62 f./B 87). Durch diese Prinzipien soll die objektive Realität des Denkens (von Begriffen) gesichert werden. Die formale Möglichkeit eines Begriffs ist seine logische Widerspruchsfreiheit. Allerdings hat auch die reale Möglichkeit eines Begriffs, d. h. die Möglichkeit des Objekts, das durch den Begriff gedacht wird, laut Kant eine apriorische Bedingung, nämlich, dass er mit der Form der Erfahrung überhaupt übereinstimme (vgl. KrV A 220 f./B 268). Diese objektive Realität nennt Kant auch „transzendentale Wahrheit“ (KrV A 221 f./B 269). Er reklamiert, dass die transzendentale Wahrheit a priori einsehbar ist, und dass sie die empirische Erkenntnis fundiert (vgl. KrV A 125, A 146/B 185). In vollem Umfang eingelöst sind diese beiden Thesen erst mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe.⁸⁴ An dieser Stelle kann aber immerhin abstrakt bestimmt werden, was die Analytik des reinen Verstandes zu der „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) macht und so deren Programm entwickelt werden. Die transzendentale ist im Gegensatz zur formalen Logik eine besondere Logik, nämlich eine Logik, die einen Begriff nicht nur unter den Bedingungen eines diskursiven Verstandes analysiert, sondern seine reale Möglichkeit, d. h. inwiefern er objektive Geltung beanspruchen kann, in den Blick nimmt. Sie handelt nicht von der formalen, sondern von der transzendentalen Wahrheit und hat die Form einer Erfahrung überhaupt auszuweisen. Dieses Desiderat kann nur erfüllt werden, wenn die besonderen Bedingungen der menschlichen Anschauung, nämlich deren Formen Raum und Zeit, berücksichtigt werden.⁸⁵ Die formale Logik ist gänzlich allgemein und abstrakter als die transzendentale Logik. Denn sie abstrahiert von allem Inhalt der Erkenntnis und prüft nur deren Zusammenstimmen mit den Prinzipien des Denkens überhaupt. Im Zusammenhang mit dem Kriterium-Argument ist deutlich geworden, dass sie den Gegenstandsbezug der Erkenntnisse nicht erklären kann, sondern voraussetzen muss. Dementgegen macht die transzendentale Logik den Gegenstandsbezug der Erkenntnisse gerade zu ihrem Thema und ist insofern als eine „materiale Logik“ zu qualifizieren. Sie beinhaltet die Prinzipien der Objektreferenz des Denkens, d. h. die generellen, notwendigen Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile (vgl. AA 9:105 f. Anm. 2, KrV B 99). Im Gegensatz zur formalen Logik ist die transzendentale Logik also eine besondere, materiale Logik, die den Gegenstandsbezug des diskursiven Denkens
Vgl. Kapitel 4. Vgl. dazu Kapitel 3.
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3 Die Nominaldefinition der Wahrheit und die (transzendentale) Logik
für ein raumzeitliches Mannigfaltiges untersucht. Ihr Thema ist nicht die formale, sondern die transzendentale Wahrheit. Die formale Logik kann einen Begriff nur formal „subjektivisch“ (AA 9:94) erwägen, die transzendentale Analytik soll hingegen die objektive Geltung des Denkens a priori erklären und hat die Prinzipien der Synthesis a priori darzulegen.⁸⁶ Die in der Analytik des Verstandes zu beantwortende Frage lautet: Wie ist die Übereinstimmung eines Urteils mit seinem Gegenstand prinzipiell möglich? Um sie zu beantworten, abstrahiert sie nur von dem empirischen Inhalt, verfügt aber mit dem reinen Mannigfaltigen von Raum und Zeit über einen formalen Inhalt. ⁸⁷ Ihre Aufgabe ist es, im Ausgang von der gegebenen Erklärung des Wahrheitsbegriffs, ihrer tradierten Worterklärung, die Möglichkeit des Definiendums darzulegen, d. h. zu erklären, wie die Übereinstimmung eines Urteils und seines Gegenstandes im Prinzip möglich ist.⁸⁸ In 2.1 wurde deutlich, dass die logische Erklärung der Wahrheit in W die wesentliche epistemische Bedeutung des Wahrheitsbegriffs nicht erfasst. Das Manko, das in ihrer Abstraktheit liegt, soll in der transzendentalen Analytik des reinen Verstandes behoben werden. Sie hat zu erklären, wie die materiale Wahrheit der Erkenntnis prinzipiell möglich ist, um die Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs zu sichern. Die Kritik der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung hat deutlich gemacht, dass der Satz vom Widerspruch nur die notwendige und hinreichende generelle Bedingung der logischen Wahrheit des Denkens überhaupt ist, nicht aber der materialen Wahrheit. Dieses logische Prinzip ist das epistemische Kriterium der Wahrheit für analytische Urteile – ihr transzendentales Prinzip. Um die Anwendbarkeit des Wahrheitsbegriffs auf Objekte zu sichern, muss die transzendentale Analytik ein Prinzip der materialen Wahrheit ergänzen. Das bedeutet:
Auf diesen Unterschied weist auch Baum hin (vgl. Baum 1983: 234). Die kantische Transzendentalphilosophie verfolgt die Frage, wie synthetische Urteile a priori durch die transzendentale Erkenntnis in ihren zwei Aspekten möglich sind (vgl. dazu Kapitel 1). Auch Rosenkoetter betont die Unterscheidung eines apriorischen Inhalts von einem konkreten, materialen Inhalt des Denkens, an dem die Möglichkeit der transzendentalen Logik hängt (vgl. Rosenkoetter 2009: 206). Die reinen Inhalte der transzendentalen Logik sind Gegenstand der Untersuchung in Kapitel 3. Kant unterscheidet in der Logik nicht nur zwischen Nominal- und Realdefinitionen, sondern auch zwischen synthetischen und analytischen Definitionen. Synthetische Definitionen sind Definitionen gemachter Begriffe, analytische solche gegebener Begriffe (vgl. AA 9:141). Während die Mathematik zu synthetischen Definitionen befähigt ist, da sie „ursprünglich gemachte Begriffe“ in der reinen Anschauung zu konstruieren vermag, sind philosophische Definitionen Kant zufolge immer analytisch, nämlich „Expositionen gegebener […] Begriffe“ (vgl. KrV A 729 f./B 757 f.).
3.3 Das Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“
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Sie muss ein epistemisches Wahrheitskriterium synthetischer Urteile entwickeln, also ihr transzendentales Prinzip ausweisen (ad Desiderat5).⁸⁹ Vor diesem Hintergrund lässt sich der Unterschied zwischen der formalen und der transzendentalen Logik anhand der Differenz von analytischen und synthetischen Urteilen erklären: Synthetische Urteile vermehren die Erkenntnis materialiter, analytische formaliter, indem sie die Erkenntnis durch Auseinandersetzungen der Merkmale des Subjektbegriffs zu mehr Klarheit bringen (vgl. AA 9:111 Anm. 1).⁹⁰ Die formale Logik dient der Kennzeichnung derjenigen Urteile beliebigen Inhalts, die formal betrachtet korrekt sind. Ihre Verwendung besteht darin, bezüglich gegebener Vorstellungen – sie mögen existierende oder nichtexistierende Dinge betreffen – in einem „analytischen Verfahren[] Deutlichkeit zu erzeugen“ (AA 9:64).⁹¹ Allerdings kann die Widerspruchsfreiheit eines Urteils auch dann gegeben sein, wenn die Begriffe zwar widerspruchsfrei verbunden sind, jedoch im Gegenstand nicht verbunden sind (vgl. KrV B 190). Beispielsweise liegt zwar kein Widerspruch in dem Urteil ‚Das Möbel ist blau‘, weil der Begriff ‚blau‘ und der Begriff ‚Möbel‘ einander nicht a priori widerstreiten. Aber das Möbel mag dennoch nicht blau sein, sondern rot oder schwarz etc., sodass das formallogisch mögliche Urteil seinem Objekt widerstreitet. Die objektive Realität eines Begriffs oder – was dasselbe ist – die Wahrheit eines synthetischen Urteils kann mit den Mitteln der formalen Logik nicht festgestellt werden. Als „synthetische Urteile“ klassifiziert Kant solche Urteile, deren Prädikat „B … ganz außer dem Begriff A [liegt], ob es zwar mit demselben in Verknüpfung steht“, wohingegen die Verknüpfung des Prädikats mit dem Subjekt in analytischen Urteilen durch Identität gedacht wird (vgl. KrV B 10). Das Verhältnis von Subjekt und Prädikat in synthetischen Urteilen ist weder ein Verhältnis der Identität noch des Widerstreits. Daher hat die formale Logik mit der Erklärung dieser Urteilsklasse nichts zu schaffen (vgl. KrV A 154/B 193).⁹² Sie sind Gegenstand der transzendentalen Logik. Diese dient der Kennzeichnung derjenigen Urteile, denen ein Gegenstandsbezug eignet, die also etwas Objektives vorstellen. Die transzendentale Logik ergänzt den Satz vom Widerspruch als transzendentales Prinzip analytischer Urteile um weitere notwendige Wahrheitsbedin-
Zu dem mit der transzendentalen Deduktion bewiesenen generellen Prinzip (Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz) eines synthetischen Urteils und der daraus fließenden kategorialen Formen (vgl. 5.2). Vgl. auch Reflexion 3127 in AA 16:671. Vgl. auch Reflexion 2393 in AA 16:342. Der Rationalismus kann diese Urteilsklasse nicht kennen, denn aufgrund seiner Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung ist es nicht denkbar, dass einem Subjekt ein Prädikat zugeschrieben werde, dass nicht bereits implizit im Subjektbegriff läge.
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gungen, die hinreichen, die Wahrheitsfähigkeit eines Urteils festzustellen. Diese Bedingungen sind epistemische Wahrheitskriterien synthetischer Urteile. Sie sichern als Prinzipien der Synthesis den Objektivitätsbezug des menschlichen Denkens bzw. dienen der Prüfung, ob in einem Urteil eine wahrheitsdifferente Bezugnahme auf Objekte vorliegt oder nicht. Positiv sind diese Wahrheitskriterien, insofern sie die Konditionen der Wahrheitsmöglichkeit eines Urteils festlegen, weil sie die Bedingungen der Möglichkeit des Gegenstandsbezugs eines Urteils angeben. Die transzendentale Logik gibt also nicht nur eine fundamentalere, sondern auch eine umfassendere Antwort auf die Wahrheitsfrage, indem sie die Prinzipien synthetischer Urteile aufklärt und so der formal-logischen Wahrheit als negative Wahrheitsbedingungen der Erkenntnis weitere Bedingungen an die Seite stellt. Aber auch die transzendentale Logik vermag kein allgemeines, hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis anzugeben.⁹³ Mit Blick auf konkrete wahrheitsdifferente Urteile (empirische Urteile) sind diese Bedingungen nur notwendig. Hinreichend können sie als a priori einsehbare, generelle Bedingungen des Objektivitätsbezugs menschlichen Denkens auch gar nicht sein. Sie stellen nur die notwendigen, allgemeinen Wahrheitsbedingungen konkreter Urteile dar, die materiale Wahrheit beanspruchen, und erlauben somit immerhin die Zurückweisung synthetischer Erkenntnisse jenseits der Sphäre möglicher Erfahrung.⁹⁴ Auch Kants „transzendentale Analytik“ ist also kein Organon, sondern ein bloßer „Kanon des reinen Ve r s t a n d e s “ (KrV A 796/B 824). Darin ist jedoch keine Defizienz der transzendentalen Logik zu sehen. Denn mehr kann von einer Logik prinzipiell nicht geleistet werden. Zwar kann und muss sie den „In-
Die transzendentale Logik ist also als die Disziplin bestimmt, die „den Ursprung, den Umfang und die objektive Gültigkeit solcher Erkenntnisse bestimmete, würde t r a n s z e n d e n t a l e L o g i k heißen müssen, weil sie es bloß mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun hat, aber lediglich, so fern sie auf Gegenstände a priori bezogen wird“ (KrV A 57/B 81 f., Hervheb. SB), und wird enggeführt mit der Definition der Transzendentalphilosophie, wie Kant sie in der Metaphysik Mrongrovius bestimm (vgl. AA 29:752). Sie ist als die Wissenschaft von den Grenzen und Möglichkeiten apriorischer Referenz durch reine Begriffe konzipiert, die er in De Mundi noch ausgespart hatte. Auch in der KrV hält Kant an der These fest, dass Verstand und Vernunft über eigene apriorische Inhalte verfügen (scil. reine Verstandesbegriffe und reine Vernunftbegriffe) sowie daran, dass von dem logisch-formalen Verstandes- und Vernunftgebrauch jeweils ein „transzendentaler“ zu unterscheiden ist. In De Mundi hatte er die Theorie der transzendentalen Logik noch ausdrücklich ausgespart. Vgl. dazu: De Mundi §5, AA 2:393 f. Auf diesen Punkt macht Hinske aufmerksam (vgl. Ritter/Gründer 1998: 1381). Zum Ausweis der reinen Verstandes- und Vernunftbegriffe in der transzendentalen Erkenntnis der KrV vgl. die folgenden beiden Kapitel. Denn die reinen Verstandesbegriffe sind nichts anderes als die Momente der Einheit des Denkens eines gegebenen Mannigfaltigen, die nur im Bezug auf ein raumzeitliches Mannigfaltiges der Anschauung objektiv gültig sind (vgl. 4.2.3 und 5.2.4).
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begriff der Grundsätze a priori des richtigen Gebrauchs gewisser Erkenntnisvermögen“ generell dartun⁹⁵ und kann auf dieser Basis einen falschen Gebrauch kritisieren, aber die Wahrheit oder Falschheit konkreter materialer, also empirischer Urteile muss a posteriori untersucht werden. Wagner hat angemerkt, dass die Überschätzung des Transzendentallogischen die Kehrseite der Unterschätzung des Formallogischen für die Wahrheit ist (vgl. Wagner 1977: 73). Diese Bemerkung richtet sich gegen Prauss’ Auffassung, die transzendentale Logik sei im Stande die Frage nach dem Wesen der Wahrheit zu beantworten, während die formale Logik ein „fremde[r] Bereich“ war, in dem sie gestellt wurde, solang sie – mangels einer transzendentalen Logik – noch ohne „eigene Bleibe“ war (vgl. Prauss 1969: 173). Prauss zufolge sind die in der transzendentalen Logik entwickelten Bedingungen dann positive Wahrheitsbedingungen einer jeden Erkenntnis (vgl. Prauss 1969: hier: 180). Unter Berücksichtigung des Beitrags der formalen Logik zur Erklärung des Wahrheitsbegriffs vertritt Scheffer die Auffassung, Kant entwickle in der transzendentalen Logik eine „mentalistische Kohärenztheorie“ der Wahrheit, der zufolge das kohärente Erleben gemäß der zusätzlichen synthetischen Bedingungen des Verstandes als positives Wahrheitskriterium einer jeden Erkenntnis zu gelten habe.⁹⁶ Allen kohärenztheoretischen Deutungsvorschläge ist jedoch entgegenzuhalten, dass Kant explizit an dem korrespondenztheoretischen Wahrheitssinn festhält, dem zufolge Wahrheit eben nicht kohärenztheoretisch als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit den logischen Gesetzen, auch nicht den transzendentallogischen Prinzipien, zu verstehen ist, sondern als Übereinstimmung eines Erkenntnisurteils mit seinem Gegenstand.⁹⁷ Ferner spricht gegen diese Auffassung, dass Kant eine Realdefinition der Wahrheit generell für unmöglich hält, weil ein solitäres allgemeines und zugleich hinreichendes Kriterium der Wahrheit gerade wegen des spezifischen Gehalts von Erkenntnisurteilen eine inkonsistente Forderung ist.⁹⁸ Eine Kohärenztheorie, die in dem Satz vom Widerspruch das generelle, hinreichende Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis vermutet oder in dem kohärenten Erleben (Scheffer) stellt die bloß normative (kanonische) Bedeutung der tran-
Vgl. Kants Definition eines ‚Kanons‘ in KrV A 796/B 824. Ähnlich Walker. Das zentrale Prinzip der kantischen Kohärenztheorie der Wahrheit lautet nach Walker: Die Wahrheit der Phänomene besteht darin, dass ein kohärentes System von Überzeugungen (beliefs) über sie gebildet wird und nicht darin, dass sie mit einer unabhängigen Wirklichkeit übereinstimmen (vgl. Walker, Ralph Charles Sutherland 1989: 68, vgl. 62). Vgl. Einleitung zu Kapitel 3. Denn schließlich ist die Logik für Kant generell, auch die transzendentale, eine „Wissenschaft a priori von den nothwendigen Gesetzen des Denkens, aber nicht in Ansehung besonderer Gegenstände, sondern aller Gegenstände überhaupt“ (AA 9:16).
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szendentalen Logik nicht in Rechnung und deutet sie stattdessen konstitutiv.⁹⁹ Auch im Rahmen einer transzendentalen Logik kann kein allgemeines und hinreichendes Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis angegeben werden.¹⁰⁰ In 3.1.2 wurde zwischen zwei Bedingungen unterscheiden, die erfüllt sein müssen, wenn ein Urteil inhaltlich mit seinem Objekt übereinstimmt. Die transzendentale Analytik erklärt als „Logik der Wahrheit“ wie die erste Bedingung (a), nämlich der Objektbezug eines Urteils, erfüllt sein kann und damit wie Wahrheit prinzipiell möglich ist. Wenn die erste Bedingung (a) nicht erfüllt ist, stellt eine Begriffsverbindung nichts Objektives vor und kann weder wahr noch falsch sein. Statt Erkenntnis wurde Schein produziert.¹⁰¹ Erkenntnis ist die wahrheitsvalente Bestimmung eines Objekts. Schein hingegen ist mangels Objektbezug der Vorstellung nicht wahrheitsfähig. Die Bedingung der Objektreferenz (a) ist die Bedingung der Wahrheitswertfähigkeit und damit Bedingung der Möglichkeit der Erkenntnis als wahrheitsvalenter Repräsentation eines Objekts. Diese Bedingungen verhalten sich analog zum Satz vom Widerspruch, dem Prinzip analytischer Urteile: Ein falsches analytisches Urteil ist logisch unmöglich – ein synthetisches Urteil ist, sofern (a) nicht erfüllt ist, mangels Objektbezug kein wahrheitsdifferentes Urteil –, es ist „ohne […] alle Wahrheit“ (vgl. KrV A 62 f./B 87).¹⁰² Da die transzendentale Logik die objektive Realität des menschlichen Denkens analysiert, seine „transzendentale Wahrheit“ (KrV A 222/B 269), ist sie die „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87). Scheffer weist also zu Recht darauf hin, dass sowohl die Prinzipien der transzendentalen Logik als auch die der formalen Kriterien der Wahrheitsfähigkeit von Urteilen sind. Seiner Auffassung nach sind die transzendentallogischen Prinzipien insofern enger als die formallogischen, als dass sie bestimmen, „in
Scheffers besondere Bedingungen, die im Fall konkreter empirischer Urteile zu den allgemeinen synthetischen Wahrheitsbedingungen hinzutreten, sind immer Bedingungen, für deren Vorliegen es kein bewusstseinsimmanentes Wahrheitskriterium geben kann. Die Wahrheitsbedingung eines empirischen Urteils ist, dass es mit seinem Gegenstand übereinstimmt und nicht das es sich ohne Widerspruch in den Bestand akzeptierter Erkenntnisse integrieren lässt (vgl. 3.1.2). Im Folgenden soll untersucht werden, wie Kant die Möglichkeit des korrespondenztheoretischen Wahrheitssinns, den er für indispensabel hält, aufzuklären sucht. Somit haben alle kohärenztheoretischen Interpretationen der KrV als verfehlt zu gelten. Nenon unterstreicht zu Recht, dass es Kant vielmehr darum geht, die Erwartungen, die die Namenserklärung der Wahrheit hervorrufen mag, zu dämpfen (vgl. Nenon 1986: 54 f.). Dummett hat zugestanden, dass Strawsons Bedingung, die besagt, dass der Subjektbegriffs eines Urteils erfüllt sein muss, soll dieses Urteil wahrheitsvalent sein, eine Bedingung ist, die mit dem wahrheitstheoretischen Realismus kompatibel ist (vgl. Dummett 1993: hier: 467). Ob die zweite Bedingung (b) erfüllt ist, lässt sich a priori nicht entscheiden.
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welchen Urteilen überhaupt irgendwelche Dinge in ihren Eigenschaften bestimmt oder voneinander unterschieden werden“ (Scheffer 1993: 254). Mittels der transzendentallogischen Prinzipien werden laut Scheffer in einem zweiten Schritt unter den formallogisch korrekten Urteilen diejenigen ausgesondert, die „angesichts der notwendigen sinnlichen Bedingungen unserer Erkenntnisse von Gegenständen wirklich zur Bestimmung von Gegenständen dienen könnten“ (Scheffer 1993: 254).¹⁰³ Oben wurde dargelegt, dass die formallogischen Prinzipien zwar in der Tat insofern weiter sind als die transzendentallogischen, als es zwar syntaktisch korrekt gebildete Urteile geben kann, denen aber der Gegenstandsbezug mangelt. Eben aus diesem Grund ist die formale Wahrheit einer Erkenntnis nur eine notwendige, aber keine hinreichende, also eine bloß negative Wahrheitsbedingung der Erkenntnis. Die transzendentale Logik fasst im Gegensatz zur formalen Logik die positiven Bedingungen der Wahrheitsfähigkeit eines Urteils, indem ihre synthetischen Prinzipien die Objektreferenz eines Urteils formulieren. Darum sind die transzendentallogischen Wahrheitsbedingungen nicht nur spezifischer, sondern erkenntnistheoretisch betrachtet auch fundamentaler: Es sind die allgemeinen, notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Wahrheitsdifferenz. Die transzendentale Logik ist also die Logik der Wahrheitsvalenz, d. h. der wahrheitswertfähigen Beurteilung eines Objekts in materialer Hinsicht.¹⁰⁴ Wie in 2.3.1 deutlich wurde, ist Scheffers These, dass auch die formallogischen Prinzipien Wahrheitsbedingungen sind, zwar beizupflichten, allerdings sind die transzendentallogischen Wahrheitsbedingungen erkenntnistheoretisch betrachtet fundamentaler als die abstrakteren formallogischen Wahrheitsbedingungen. Indem die transzendentale Logik die Prinzipien ausweist, die erfüllt sein müssen, sofern ein Urteil (oder: ein Begriff) objektiv gültig sein soll, also wahrheitsvalent Objektives vorstellt, analysiert sie die im Vergleich zu den formallogischen fun-
Scheffer meint damit einen Punkt gegen Prauss zu machen, der Scheffers Darstellung zufolge die formallogischen Prinzipien nicht als Wahrheitsprinzipien begreift, indem er darauf beharrt, dass die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ dadurch zur ungereimten Frage wird, dass sie an die formale Logik gestellt wird, wogegen sie ihre adäquate Heimat in der transzendentalen Logik habe (Prauss 1969: bes. 168, 180). Scheffers Darstellung zufolge ergibt sich bei Prauss eine umgekehrte Ordnung weiterer und engerer Prinzipien, insofern nach Prauss, so Scheffer, die formale Logik unter den transzendentallogisch wahren, d. h. wahrheitsfähigen Urteilen im zweiten Schritt mittels der formallogischen Prinzipen wahre von falschen kategorischen, hypothetischen und disjunktiven zu unterscheiden (vgl. Scheffer (1993: 254). M. E. will Prauss aber einen anderen berechtigten Punkt machen, nämlich, dass die formale Logik zu keiner Realdefinition der Wahrheit befähigt ist und in erkenntnistheoretischer Hinsicht von der transzendentalen Logik abhängt. Zu diesem Ergebnis gelangt auch Prauss und behält recht (vgl. Prauss 1969: 181).
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damentalen Bedingungen der Wahrheit. Diese wahrheitstheoretisch fundamentalere Bedeutung der transzendentalen Logik hat Prauss betont. Mittels der transzendentallogischen Kriterien können unter den Urteilen, die aus formallogischer Sicht nicht zu beanstanden sind, diejenigen aus der Sphäre der Erkenntnis, d. h. der wahrheitsdifferenten Repräsentation von Objektivität, ausgesondert werden, die mangels Gegenstandsbezug gar keine objektive Realität beanspruchen können. Somit ist die doppelte – einerseits Erkenntnis sichernde, andererseits Erkenntnisansprüche abwehrende – Funktion der transzendentalen Logik deutlich geworden: In der Analyse des reinen Verstandes werden die materialen Bedingungen der Erkenntnis als synthetische Wahrheitskriterien ausgewiesen. Dadurch werden Bedingungen für den Gegenstandsbezug des menschlichen Denkens, d. h. Erkenntnisbedingungen, statuiert und die Wahrheitsansprüche empirischer Erkenntnis legitimiert. Dann und nur dann, wenn die transzendentallogischen Wahrheitsbedingungen erfüllt sind, ist in einem synthetischen Urteil Objektives wahrheitsvalent vorgestellt. Ein synthetisches Urteil, das gegen sie verstößt, ist als Erkenntnisurteil des spekulativen Vernunftgebrauchs disqualifiziert. Mit dem Ausweis genereller, notwendiger und hinreichender Bedingungen der Synthesis sind positive Bedingungen der Wahrheitsvalenz formuliert.Weiter kann aber auch die transzendentale Logik nicht gehen. Die Wahrheit empirischer Urteile hat konkrete Bedingungen, die keine Logik – weder eine formale noch eine transzendentale – darlegen kann. Denn alle a priori einsehbaren Bedingungen sind generelle Bedingungen, die nie hinreichen, die Wahrheit empirischer Urteile über konkrete Gegenstände vorzustellen. Diese Prinzipien haben nicht nur eine die empirische Erkenntnis legitimierende positive Funktion, sondern zugleich eine restringierende: Sie dienen in der transzendentalen Dialektik dazu, den transzendentalen Schein der zu Unrecht beanspruchten Erkenntnisse dogmatischer Metaphysik zu enttarnen.¹⁰⁵ Durch die Analyse der „Form der Erfahrung überhaupt“, die in der Analytik des Verstandes als erstem Teil der transzendentalen Logik geleistet wird, werden Prinzipien gewonnen, die den Gegenstandsbezug des Denkens positiv garantieren. Werden diese Regeln verletzt, ist das Denken nicht zwangsläufig formaliter widersprüchlich, aber inhaltsleer.¹⁰⁶
Die Funktion der kantischen Transzendentalphilosophie zur methodologischen Grundlegung der Metaphysik war Thema in Kapitel 1. Diesen Punkt betont auch Baum (vgl. Baum 1983: 234).
3.4 Fazit
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3.4 Fazit Kant begreift den epistemischen „Aspekt“ (Koch)¹⁰⁷ der Wahrheit mit Recht als ein wesentliches Merkmal des Wahrheitsbegriffs. In W führt er den traditionellen Wahrheitsbegriff als „Nominaldefinition“ ein, um anzuzeigen, dass eine antiskeptische Fundamentalphilosophie eine epistemologische Theorie entwickeln muss, die diesen Wahrheitsbegriff in seiner Möglichkeit verständlich macht. Die formale Logik gibt, sofern sie T* als Antwort auf die Frage nach dem Wesen der Wahrheit anführt, eine zirkuläre und damit überflüssige Antwort, die nichts erklärt. Das Kriterium-Argument zeigt, dass es generell unmöglich ist, ein zugleich allgemeines und doch hinreichendes Kriterium der Wahrheit aller Urteile anzugeben. Damit wird die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus zurückgewiesen. Denn sie basiert auf der verfehlten Auffassung, der Satz vom Widerspruch, der ein konstitutives Prinzip des Denkens und ein negatives Wahrheitskriterium der Erkenntnis ist, sei ein materiales Prinzip der objektiven Realität und ein positives Kriterium der Wahrheit. Kant kritisiert an dieser Stelle den Gebrauch der formalen Logik als Organon metaphysischer Theoriebildung. Mit der Thematisierung der Wahrheitsfrage zu Beginn der transzendentalen Logik bezweckt Kant, aufzuzeigen, dass der rationalistischen Metaphysik eine wahrheitstheoretische Verfehlung zugrunde liegt. Zu Beginn der transzendentalen Logik wird mit der Wahrheitsfrage der Scheidepunkt zwischen einer „Logik der Wahrheit“ und der logizistischen Metaphysik des Rationalismus markiert, die nichts als „transzendentalen Schein“ produziert. Durch den Nachweis, dass die formale Logik das Wesen der Wahrheit nicht erklären kann, weil ihre allgemeinen, notwendigen Prinzipien keine Prinzipien der materialen, sondern der formalen Wahrheit sind, soll der Verstand vor der „Gefahr, durch leere Vernünfteleien von den bloßen formalen Prinzipien des reinen Verstandes einen materialen Gebrauch zu machen, und über Gegenstände ohne Unterschied zu urteilen, die uns doch nicht gegeben sind, ja vielleicht auf keinerlei Weise gegeben werden können“ (KrV A 63/B 88), bewahrt werden. Kants materiale transzendentale Logik ist dementgegen die Disziplin, in der die Frage ‚Was ist Wahrheit?‘ adäquat behandelt werden kann. Ihr Thema ist nicht
Vgl. Koch 2006. Ich übernehme den Ausdruck ‚Aspekt‘ der Wahrheit, da Kant wie nunmehr deutlich wurde, in der Einleitung zur transzendentalen Logik mit der Kritik der rationalistischen Wahrheitsauffassung deutlich zu machen sucht, dass das in der Nominaldefinition angegebene Merkmal der Übereinstimmung weder als das einzige ursprüngliche Merkmal der Wahrheit zu begreifen ist, noch – wie das Kriterium-Argument darlegt – weiter bestimmt werden kann, weil die Erklärung der Wahrheit so allgemein sein muss, dass sie auf alle Objekte (wahre Erkenntnisse) passt und daher von allen materialen besonderen Kriterien absehen muss.
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Wahrheit im Gegensatz zu Falschheit, sondern die materiale Wahrheit in einem Sinn, der diesen Gegensatz transzendiert:¹⁰⁸ Sie hat die Prinzipien synthetischer Urteile als notwendige Bedingungen der materialen Wahrheit und damit positive Prinzipen der wahrheitsvalenten Bezugnahme auf Objekte auszuweisen. Die wahrheitsskeptische Herausforderung nimmt somit die konkrete Gestalt an, diese positiven Prinzipien der Wahrheitsvalenz des Denkens a priori zu beweisen. Mit ihnen wäre – contra WahrheitsskepsisE – nachgewiesen, dass das Denken seinen Faden nicht neben der objektiven Realität spinnt, sondern wirklich bis an die Objekte hinreicht und entgegen skeptischer Vermutungen keine Lücke zwischen Geist und Welt besteht.¹⁰⁹ Wenn es Kant gelingt, die epistemischen Bedingungen auszuweisen, unter denen das Denken im Urteilen auf wahrheitsvalente Weise Objektives vorstellt, bleibt für eine Skepsis, die die epistemische Dimension des Wahrheitsbegriffs bezweifelt, kein Raum. Um zu zeigen, dass der traditionelle logische Wahrheitsbegriff erfüllt ist, muss Kants Transzendentalphilosophie also epistemische Prinzipien der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand ausweisen. Kant weist – contra den Rationalismus und die mit ihm verbundene WahrheitsskepsisR – in der Einleitung zur transzendentalen Logik aus, dass die Wahrheitsbedingung analytischer Urteile rein formal ist. Die traditionelle Namenserklärung ist keine Realdefinition. Um den Objektbezug eines Urteils generell zu erklären, muss Kant a priori einsehbare positive Bedingungen der materialen Wahrheit durch eine Analyse des reinen Verstandes, d. h. epistemische Kriterien synthetischer Urteile, a priori beweisen. Sofern Kants transzendentale Analytik des reinen Verstandes dieses Programm einlösen kann, ist sie die ‚Logik der Wahrheit‘. Als zentrales Resultat von Kapitel 2 ist festzuhalten, dass Kants Novität einer transzendentalen Logik wesentlich wahrheitstheoretisch motiviert ist. Die Einlösung ihres antiskeptischen Desiderats, nämlich den Wahrheitsbegriff durch die Deduktion der Prinzipien materialer Wahrheit als erfüllt auszuweisen, ist allerdings nur im Ausgang von einer dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens möglich. Bevor Kants Antwort auf die Wahrheitsfrage in Kapitel 4 erörtert werden kann, soll daher in Kapitel 3 zunächst Kants These von der Zweistämmigkeit der menschlichen Erkenntnis besprochen werden.
So bereits Prauss (vgl. Prauss 1973: hier: 179). Die Sorge, dass die formal-logischen Prinzipien nicht als positives Wahrheitskriterien hinreichen, ist in jüngerer Zeit von John McDowell mit dem Schlagwort ‚spinning in a void‘ etikettiert worden (McDowell 1994).
4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens Unsere Natur bringt es so mit sich, daß die A n s c h a u u n g niemals anders als s i n n l i c h sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen affiziert werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand der sinnlichen Anschauungen zu d e n k e n , der Ve r s t a n d . Keine dieser Eigenschaften ist der anderen vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben, und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalte sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. […] Nur daraus, dass sie sich vereinigen, kann Erkenntnis entspringen. (KrV A 51/B 75)
Das alte skeptische Argument gegen die Möglichkeit der Wahrheit beziehungsweise gegen die Möglichkeit ihrer Erkenntnis zieht ein universell anwendbares epistemisches Kriterium der Wahrheit einer jeden Erkenntnis in Zweifel. Mit diesem Problem hat sich Kant nachweislich in dem Jahrzehnt zwischen 1770 und dem Erscheinen der Erstauflage der KrV 1781 auseinandergesetzt:¹ Wie kann man sich der Wahrheit einer Erkenntnis je versichern, wenn diese in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit einem Gegenstand „außer uns“ bestehen soll, aber andererseits doch der Gegenstand dem Subjekt nur als erkannter Gegenstand zur Verfügung steht (vgl. AA 24:387, 24:81, 9:50 u. a.)? In Anbetracht dieser skeptischen Herausforderung erwog Kant zunächst, wie in der Logik Philippi dokumentiert, eine ‚intersubjektivistisch-kohärentistische’ Konzeption und suchte die Wahrheit einer Erkenntnis in ihrer „Zusammenstimmung der Erkenntnisse vom Gegenstande mit sich selbst“ (AA 24:387) zu begründen. Schließlich sei das, was wir Gegenstand nennen, doch wiederum nur eine Erkenntnis. Zwei Kriterien der Wahrheit werden hier angegeben: (a) die a priori feststellbare „Zusammenstimmung mit den obersten Gesetzen des Verstandes überhaupt“ und (b) die auf dieser Basis von Fall zu Fall nur a posteriori zu konstatierende Einhelligkeit mit dem menschlichen Verstand überhaupt, die festgestellt werden kann, indem eine Erkenntnis anderen Menschen zur Prüfung vorgestellt wird (vgl. AA 24:388). Denn Wahrheit erfordere Allgemeingültigkeit: „Der Unterscheidungspunkt der Wahrheit ist der allgemeine Verstand und nicht einzig und allein der meinige“ (AA 24:390). Die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit sich selbst wird hier als hinreichend für die Übereinstimmung mit dem Objekt begriffen, sodass alle Subjekte, die mit einem gleichartigen Verstand ausgestattet
Nenon hat den entwicklungsgeschichtlichen Gang in Kants Stellung zu der von ihm als ‚epistemologische Diallele‘ (vgl. Anm. 21 S. 73) bezeichneten Problematik nachverfolgt (vgl. Nenon 1986: 167– 171). https://doi.org/10.1515/9783110697858-008
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
sind, notwendig in ihren objektiv gültigen Urteilen übereinstimmen (vgl. Reflexion 2124, 2128 in: AA 16:244, 246). Auch in der KrV führt Kant als „äußerlich[es]“ epistemologisches Kriterium der Wahrheit einer Erkenntnis seine Mitteilbarkeit und die Gültigkeit der Erkenntnis „jedes Menschen Vernunft“ zuzumuten an (vgl. KrV A 820/B 848). Da Wahrheit auf der Übereinstimmung mit dem Objekt beruhe, müssten schließlich „die Urteile eines jeden Verstandes einstimmig sein“ (KrV A 820/B 848). Kant zufolge liegt nämlich in dem Fall, da Subjekte ungeachtet ihrer Verschiedenheit in ihren Urteilen übereinstimmen, die Vermutung nahe, diese Übereinstimmung beruhe auf einem „gemeinschaftlichen Grunde, nämlich dem Objekte […], mit welchem sie daher alle zusammenstimmen und dadurch die Wahrheit des Urteils beweisen werden“ (KrV A 820 f./B 848 f.). In der KrV wird dieses äußere epistemische Wahrheitskriterium im Gegensatz zu Kants Auffassung aus dem Jahre 1772 explizit an den korrespondenztheoretischen Wahrheitsbegriff geknüpft (vgl. KrV A 820/B 848).² Dementgegen erachtet die kantische Position aus den frühen 1770er Jahren die Übereinstimmung mit den Gesetzen des Verstandes als hinreichend für die objektive materiale Wahrheit. Dem Rationalismus entsprechend meinte er zu dieser Zeit, die Sinnlichkeit erzeuge nur Schein und sei daher kein essentieller Bestandteil der Erkenntnis. Die kohärentistische Wahrheitsauffassung, die Kant zu dieser Zeit kurzfristig vertreten hat, entspricht noch ganz dem rationalistischen Denken, das die Universitätsphilosophie dieser Zeit in Deutschland kennzeichnete. In der Logik Philippi (1772) geht Kant offenbar wie in der kurz zuvor entstandenen Schrift De Mundi (1770) davon aus, dass es Gesetze der Vernunft gibt, die die Eigenschaften der Dinge an sich offenlegen. Doch wurde für Kant zu eben dieser Zeit fraglich, wie reine Begriffe und Grundsätze, die nicht aus der Erfahrung hergeleitet werden können, mit ihren Gegenständen übereinstimmen können.³ Zeugnis davon liefert der bereits erwähnte Brief an Herz.⁴ Die Erklärung, dass „Begriffe, die Gott schon so wie sie
Intersubjektivität und Objektivität können mit Blick auf die KrV keinesfalls als Wechselbegriffe gelten. Sofern sich ein Urteil nicht verallgemeinern lässt, ist dies nur ein Indiz, dass EmpirischSubjektives an die Stelle von Objektivem gesetzt sein könnte. Insofern dient die Probe auf Mitteilbarkeit nur dazu, Irrtümer abzuhalten. So auch Nenon (vgl. Nenon 1986: 247– 260). Nenon betont mit Recht, dass der Anschauungsbezug das unverzichtbare Element der Korrespondenztheorie Kants ist, durch welches die Beziehung auf ein dem Dasein nach unabhängiges Objekt gesichert wird und dass dieser Aspekt im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie nicht durch „allgemeine Zustimmung“ oder „notwendige Allgemeingültigkeit (für jedermann)“ (AA 4:98) ersetzt werden kann. In der Wiener Logik wird dagegen tradiert, Kant meine, die „Übereinstimmung der Erkenntniß mit sich selbst“ könne sogar eine Lüge als wahr erscheinen lassen und daher könne an der Kohärenztheorie nicht festgehalten werden (vgl. AA 24/2: 822 f.). Vgl. 2.2.4.
4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
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seyn müssen, um mit den Dingen zu harmonieren, in die Menschliche Seele pflanzte“ (AA 10:131), lehnt er bereits in diesem Brief ab. Dann aber muss sich die Frage stellen, wie der Anspruch, sie seien objektiv gültig, zu rechtfertigen ist. Zunächst hatte er in der „Übereinstimmung der Vorstellungen in einem Urtheil unter einander nach allgemeinen Gesetzen des Verstandes und der Vernunft“ das hinreichende Kriterium der objektiven materialen Wahrheit der Erkenntnis veranschlagt (vgl. Reflexion 2128 in: AA 16:246). Nachdem er einsah, dass das Prinzip ‚Deus ex machina‘ als Garant einer harmonischen Übereinstimmung „das Ungereimteste…“ ist (vgl. AA 10:131, vgl. KrV B 167 f.), was man zur Erklärung der objektiven Geltung der reinen Verstandesbegriff und Grundsätze anführen kann, stand die Rechtfertigung ihres objektiven Geltungsanspruchs und damit die materiale Wahrheit der Erkenntnis zur Disposition.⁵ Schon in den wohl auf die Jahre 1776 – 78 zu datierenden Reflexionen 2155 und 2161 gelten Kant die Gesetze des Verstandes und der Vernunft nicht länger als hinreichend für die objektive, materiale Wahrheit (vgl. AA 16: 254, 255). Die Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst erachtet Kant fortan als bloß negative, formale Wahrheit.⁶ Die materiale Wahrheit knüpft er nun an die „Übereinstimmung der Urtheile mit Anschauungen, also nicht formale tautologie und identitaet“ (AA 16:254). In diesem Sinne heißt es auch in der Reflexion 2161, die Kriterien der materialen Wahrheit „bestehen in der Übereinstimmung mit den Vorstellungen, die sich unmittelbar aufs object beziehen, also in der Übereinstimmung mit den anschauungen und Wahrnehmungen“ (AA 16:254). Die Analyse aller Wahrheiten als explizit oder implizit identische Aussage lehnt er nunmehr ab und sucht Wahrheit als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand fortan in der Korrespondenz von Denken und Anschauen. Die gesuchte Übereinstimmung muss im Modus der Notwendigkeit und daher a priori erklärt werden können. Denn nur eine allgemeingültige notwendige Korrespondenz von Anschauen und Denken kann die materiale Wahrheit der Erkenntnis garantieren. In der KrV wird durch die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die Möglichkeit der Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken erklärt und damit als notwendige Bedingungen für die Bezugnahmen auf Objektivität als materiale Wahrheitsbedingungen a priori ausgewiesen. Bevor in Kapitel 4 Kants Antwort auf die wahrheitsskeptische Herausforderung betrachtet wird, ist es notwendig, die Voraussetzung für Kants Lösung des Wahrheitsproblems zu identifizieren.
Zu Kants Argumenten gegen diese Lösung vgl. Teil 4.2. In der Reflexion 2155 spricht Kant von einem „formalen und propaedeutische[n] criterium der Wahrheit“, das eben bloß „negativ“ sei (AA 16:254).
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
In Kapitel 3 soll dargelegt werden, dass diese notwendige Voraussetzung in Kants dualistischer Konzeption des Erkenntnisvermögens zu sehen ist. Die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand muss in Kants transzendentalem Idealismus nicht länger erklärt werden als Übereinstimmung zwischen einem den Dingen an sich selbst zugewandten Denken und diesen vollkommen subjektunabhängigen Entitäten. Stattdessen stellt sich das Problem innerhalb einer solchen Konzeption als Frage nach der Korrespondenz zwischen diskursivem Denken und einem in der Anschauung präsenten Gegenstand, einer Erscheinung. Derart wird der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff überhaupt erst seiner Möglichkeit nach erklärbar. Das Korrespondenzproblem wird lösbar, weil die Übereinstimmung von Denken und Anschauungen dank einer dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens a priori erklärt werden kann.⁷ Untersuchungsgegenstand von Kapitel 3 ist Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als die Voraussetzung, die es ermöglicht, die Wahrheitsskepsis zu widerlegen.⁸ Gezeigt werden soll, dass Sinnlichkeit und Verstand als die beiden Stämme der menschlichen Erkenntnis zu begreifen und das Erkenntnisvermögen dualistisch zu konzipieren die Basis darstellt, um die skeptische Herausforderung zu bewältigen, epistemische Kriterien der materialen Wahrheit anzugeben. In Teil 4.1 werden die beiden monistischen Konzeptionen des Erkenntnisvermögens von Empirismus und Rationalismus betrachtet und die
Zu dieser Einsicht gelangt auf seinem Weg auch Nenon (vgl. Nenon 1986: 174). Dazu dann Kapitel 4. Einen Überblick über die Forschung zu diesem Aspekt der kantischen Philosophie bietet Heidemann (vgl. Heidemann 2002: 66 f., Anm. 3). Zu ergänzen ist lediglich, dass Koch in Subjektivität in Raum und Zeit im Anschluss an Strawson ein Argument anbietet, mit dem sich herausstellt, dass Begriffe nicht individuieren und daher Raum und Zeit als Individuationsprinzipien zu gelten haben. Heidemann konzediert, dass Kant in der KrV keine Begründung der erkenntnistheoretischen Dualität von Anschauung und Begriff anführt. Er sieht darin die Gefahr, dass man Kants Erkenntnistheorie in Ermangelung einer Begründung für den erkenntnistheoretischen Dualismus von Anschauung und Begriff dem „vielleicht schlagenden Einwand aus[zu]setzen [habe], ihre Grundprämisse beruhe auf einer bloßen Setzung oder sie sei nur ad hominem akzeptabel“ (Heidemann 2002: 68). Er schlägt im Rahmen einer „Rekonstruktionsthese“ vor, Kant setze die Dualität von Anschauung und Begriff zunächst als plausibles anthropogische Faktum voraus, um sie dann rekursiv zu beweisen, indem diese Voraussetzung durch die auf ihr basierenden erfolgreichen Argumentation als berechtigt erwiesen werde (vgl. Heidemann 2002: 77). Allerdings soll gezeigt werden, dass durch die Isolation der Sinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik und die Isolation des Verstandes zu Beginn der transzendentalen Logik gerade die strukturelle Heterogenität von Anschauung und Begriff ausgewiesen, statt vorausgesetzt wird. Der erkenntnistheoretische Unterschied von Anschauung und Begriff erweist nämlich Sinnlichkeit und Verstand als zwei vermögenstheoretisch zu unterscheidende Quellen spezifischer Arten objektiver Vorstellungen.
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Einwände besprochen, die Kant gegen sie vorbringt. Dabei soll deutlich werden, was eine dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens bedeutet und zu welchen Problemen monistische Konzeptionen führen. In diesem Kontext soll das zentrale Desiderat spezifiziert werden, das die kantische Transzendentalphilosophie zur Widerlegung der Wahrheitsskepsis zu erfüllen hat und die Voraussetzung der kantischen Lösung identifiziert werden. Teil 4.2 nimmt Kants dualistische Konzeption selbst in den Blick. Geklärt werden soll hier, wie Kant in der KrV methodisch verfährt, um die Zweistämmigkeit des Erkenntnisvermögens auszuweisen. Kants Argumente werden besprochen und seine Strategie, durch eine Analyse des Erkenntnisvermögens zwei „Stämme“ der Erkenntnis auszuweisen, wird nachvollzogen. Dabei soll deutlich werden, weshalb mit der dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens die Grundlage geschaffen ist, um zu erklären, wie materiale Wahrheit möglich ist. In Teil 4.3 wird Kants Lösung des Wahrheitsproblems abstrakt dargestellt und die Vorzüge der kantischen Konzeption im Kontrast zu den systematischen Alternativen einer empiristisch-monistischen oder rationalistisch-monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens herausgestellt.
4.1 Zwei monistische Konzeptionen des Erkenntnisvermögens Wenn die Dualität von Anschauung und Begriff thematisch ist, bedient sich Kant in der KrV einer metaphorischen Ausdrucksweise, die der im 18. Jahrhundert aufkommenden chemischen Wissenschaft entlehnt ist. Gleich einem „Chemiker“, der die Elemente der Materie scheidet, macht Kant zwei „Elemente“ der menschlichen Erkenntnis aus, „die völlig a priori in unserer Gewalt sind“ (KrV A 843/B 871): die Formen der Anschauung und die reinen Verstandesbegriffe.⁹ Der Ausdruck ‚Element‘ stammt von lateinisch elementum. Er fand im 13. Jahrhundert Eingang in den deutschen Sprachgebrauch und bezeichnete ursprünglich ‚Grundstoffe‘, im 18. Jahrhundert auch ‚Anfangsgründe‘ oder ‚Grundbegriffe‘ (vgl. Grimm 1862: 404 f.). Die Rede von Anschauung und Begriff als den zwei „Elementen“ der menschlichen Erkenntnis verweist auf deren Ursprünglichkeit und Irreduzibilität. ¹⁰ Um sie als die beiden Elemente der Erkenntnis
Die Metapher vom Chemiker verwendet Kant in der KrV mehrfach: u. a. KrV A 842 f./B 870 f, im Kontext der Deduktion KrV B 166, ebd. KrVA 98, im Kontext der Vorbereitung der A-Deduktion KrV A 115. Darin sind die reinen Verstandesbegriffe von den reinen Vernunftbegriffen (Ideen) unterschieden, die Begriffe aus Notionen sind (vgl. KrV A 320/B 377). Weil sie keine „Grundstoffe“
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auszuweisen, ist also zu zeigen, dass es sich um zwei irreduzible Arten objektiver Vorstellungen handelt, um „Grundstoffe“, die zur Erklärung der Erkenntnis gleichermaßen notwendig sind und auf keinen anderen „Stoff“ zurückgeführt werden können. Als zwei Elemente der Erkenntnis können sie aus keinem höheren Prinzip abgeleitet werden. Allerdings sind sie durch die transzendentale Erkenntnis der KrV ausweisbar, die in ihrem ersten genetischen Aspekt den Ursprung von Vorstellungen a priori untersucht. Die Metapher von den „Elementen“ der Erkenntnis konfligiert mit einigen Andeutungen, die sich im Text der KrV zu einem gemeinsamen Ursprung dieser beiden objektiven Vorstellungsarten finden: Zu Beginn der transzendentalen Ästhetik äußert Kant die Vermutung, dass die „zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis […] vielleicht aus einer gemeinschaftlichen, aber uns unbekannten Wurzel“ entsprängen (vgl. KrVA 15/B 29) und fasst in der Kategoriendeduktion der A-Auflage Sinnlichkeit und Verstand als die beiden äußersten „Enden“ unserer Erkenntnis, zwischen denen die transzendentale Funktion der Einbildungskraft vermittele (vgl. KrV A 124). Dem gemeinsamen Ursprung forscht er aber nicht weiter nach – was nach Maßgabe seiner Erkenntnistheorie ohnehin unmöglich und zur Aufklärung der Wahrheitsmöglichkeit nicht notwendig ist – sondern konstatiert lediglich, dass „sich die allgemeine Wurzel unserer Erkenntniskraft teilt und zwei Stämme auswirft“ (KrV A 835/B 863). Im Rahmen dieser Arbeit steht die Erklärung im Fokus, wie Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken möglich ist. Kapitel 3 stellt die Zweistämme-These als Voraussetzung der kantischen Erklärung heraus. Daher ist die Frage nach einer möglichen gemeinsamen, aber unbekannten Wurzel beider Erkenntnisstämme zu vernachlässigen und stattdessen die Irreduzibilität von Anschauung und Begriff einerseits zu thematisieren und andererseits zu erklären, inwiefern beide notwendiger Bestandteil der Erklärung sind, wie materiale Wahrheit möglich ist. Kant lehrt, dass nur im Zusammenspiel beider Elemente Erkenntnis zustande kommen kann (Zweistämme-These, vgl. KrV A 51/B 75). Der kantische Leitgedanke, dass die menschliche Erkenntnis als wesentliches Zusammenspiel zweier „Elemente“ zu begreifen ist, profiliert Kant durch die Abgrenzung von zwei monistischen Erkenntnismodellen: Leibniz i n t e l l e k t u r i e r t e die Erscheinungen, so wie Locke die Verstandesbegriffe nach einem System der N o o g o n i e (wenn es mir erlaubt ist, mich dieser Ausdrücke zu bedienen) insgesamt sensifiziert, d.i. für nichts, als empirische, oder abgesonderte Reflexionsbegriffe ausgegeben hatte. Anstatt im Verstande und der Sinnlichkeit zwei ganz verschiedene
(Elemente) sind, hat die Vernunft zwar eine spezifische Funktion, zur Erkenntnis beizusteuern, aber sie ist kein Erkenntnisstamm.
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Quellen von Vorstellungen zu suchen, die aber nur in Verknüpfung objektivgültig von Dingen urteilen könnten, hielt sich ein jeder dieser großen Männer nur an eine von beiden, die sich ihrer Meinung nach unmittelbar auf Dinge an sich selbst bezöge, indessen daß die andere nichts tat, als die Vorstellungen der ersteren zu verwirren oder zu ordnen. (KrV A 271/B 327)
Mit der Zweistämme-These wendet sich Kant gegen zwei illegitime Reduktionismen: (1) gegen eine empiristische Konzeption, die die Sinnlichkeit als einzige Erkenntnisquelle begreift, und (2) gegen die intellektualistische Konzeption des Rationalismus, die nur den Verstand als Quelle von Erkenntnis anerkennt. Zunächst sollen diese beiden Varianten einer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens betrachtet und ihre skeptizistischen Konsequenzen entfaltet werden (4.1.1 und 4.1.2). Aus der Kritik des illegitimen Reduktionismus, der beide kennzeichnet, ergibt sich ein zentrales Desiderat, das eine adäquate Antwort auf die Frage erfüllen muss, wie die materiale Wahrheit, d. h. die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, möglich ist. In Teil 4.2 soll dann untersucht werden, inwiefern Kants Konzeption dieser Anforderung gewachsen ist.
4.1.1 Die empiristische Variante einer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens Locke, der in mancherlei Hinsicht als Vorgänger Kants zu gelten hat, geht in seiner Erklärung unserer Erkenntnis davon aus, dass dem Verstand (mind) von den Dingen selbst (things themselves) einfache Ideas zugehen, die den „Stoff“ bilden, aus dem der Verstand durch seine Handlungen (acts) komplexe Ideas generiert.¹¹
Zur empiristischen Erkenntnistheorie vgl. 2.3.2. Aus dem Essay stammen die Differenzierung zwischen nominal und real Essence und die zwischen Intellectus Archetypus und Ectypus. Diese spielen eine entscheidende Rolle zur Erörterung der Realität der menschlichen Erkenntnis in Buch IV. Zur Differenzierung zwischen real und nominal Essence vgl. insbes. Locke Essay III.iii.15: real Essence meint das unbekannte eigentliche Wesen einer Sache („the real internal, but generally in Substances, unknown Constitution of Things, whereon their discoverable Qualities depend“), demgegenüber geht die nominal Essence auf die scholastische Einteilung der Dinge in Genus und Spezies zurück und meint bloß noch einen sortalen Namen (ein Genus). Sie findet im Kontext der kantischen Philosophie ihren Niederschlag in der Differenzierung zwischen Real- und Nominaldefinitionen. Außerdem hielt Kant Locke für den Urheber der synthetisch-analytisch-Unterscheidung. Davon zeugt die Reflexion 3738: „Locke vedetur discrimen synthticorum et analyticorum iudiciorumin sua diquisitione hominis subodorasse“) (dat. nach Aedickes 1764– 66 in: AA 17:279, vgl. Locke, Essay II.xi. Zum Verhältnis Kant-Locke vgl. Brandt 1981. Reinhard Brandt hat darauf hingewiesen, dass zur Erklärung der kantischen Abkehr vom traditionellen Primat der Begriffe vor dem Urteil und der Entwicklung der Begriffe aus Urteils-
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Gemäß dieser Konzeption verhält sich das Erkenntnisvermögen in erster Instanz rein passiv und formt in einem zweiten Schritt aus dem durch Affektion der Sinne dargebotenen Stoff andere Vorstellungen.¹² Locke zufolge ist also zu unterscheiden zwischen (a) einfachen Ideas auf der einen Seite und (b) komplexen Ideas auf der anderen. Er kennt drei Arten komplexer Ideas: (b.1) Modi, (b.2) Substanzen und (b.3) Relationen. Diese sollen durch drei Handlungen des Verstandes (Acts of Mind) entstehen: (1) indem einfache Ideas in eine Idea integriert werden (Integration); (2) durch Trennung von allen anderen Ideas, die sie in ihrer realen Existenz begleiten (Abstraktion); (3) aus dem Vergleich mehrerer Ideas, ohne sie in eine gemeinsame zu integrieren (Reflexion). Wenn Kant mit Blick auf Locke sagt, dessen empiristische Erklärung der reinen Verstandesbegriffe (‚Substanz‘, ‚Kausalität‘ u. a.) sei als „Noogonie“ (A 271/B 327) zu charakterisieren, stellt er heraus, dass Locke meint, diese Begriffe würden durch Handlungen des Verstandes am sinnlich gegeben Material (Integration, Abstraktion oder Reflexion) erzeugt. Nach Locke generiert sie der Geist (nous) in einem sekundären Schritt aus dem „Stoff“, den die Sinnlichkeit darbietet.¹³ Die Sinnlichkeit ist gemäß der empiristischen Erkenntnistheorie die einzige Erkenntnisquelle. Locke versteht Wahrheit im traditionellen Sinn, nämlich als „conformity between our Ideas and the reality of Things“ (Locke, Essay IV.iv.3) und fragt nach einem epistemischen Wahrheitskriterium: „But what shall be here the Criterion? How shall the Mind, when it receives nothing but its own Ideas, know that they agree with Things themselves?“ (Locke, Essay IV.iv.3). Er sieht kein Problem darin, die mit dem traditionellen Wahrheitsbegriff geforderte Übereinstimmung für einfache Ideas zu erklären. Denn diese sind Locke zufolge nichts als „the product of Things operating on the Mind in a natural way, and producing therein those Perceptions which by the Wisdom and Will of our Maker they are ordained and adapted to“ (Locke, Essay (IV.iv.4). Einfache Ideas sollen dank der weisen und
funktionen, also Verstandesakten (Stichwort: transzendentaler Verstandesgebrauch), eine Anlehnung an Locke äußerst nahe liegt, zumal beide die Verstandeshandlungen als eine in sich notwendige und geschlossene „Abfolge“ präsentieren (vgl. Brandt 1981: 56). Die Sensation liefert als äußere Wahrnehmung die sinnlichen Inhalte, Reflection ist demgegenüber Lockes Ausdruck zur Bezeichnung der inneren Wahrnehmung (vgl. Locke, Essay II.i.4). Heidemann hat darauf hingewiesen, dass Kant die Rede von ‚Stämmen‘ (KrV A 294/B 350) oder ‚Quellen‘ (KrV A 271/B 327) der Erkenntnis direkt von Locke übernommen haben könnte, der im Essay von „fountains of knowledge“ spricht (vgl. Locke, Essay II, 1, iii, iv, vgl. Heidemann 2002: 70). So ist es zu verstehen, wenn Kant am Ende der KrV im Abschnitt von der Geschichte der reinen Vernunft sagt, die Empiristen (gemeint ist in erster Linie Locke, aber auch Hume) hätten bloß „logische“ Begriffe (vgl. KrV A 854/B 882).
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wohlmeinenden Einrichtung „unseres Schöpfers“ automatisch mit ihren Gegenständen übereinstimmen. Als unproblematisch gelten ihm in dieser Hinsicht auch fast alle komplexen Ideas, „being Archetypes of the Mind’s own making“ (Locke, Essay IV.iv.5). Denn hier sei gar keine Konformität mit einer erkenntnisexternen Instanz gefordert. Einzig die Vorstellung von Substanzen stellt Locke zufolge ein Problem dar.¹⁴ David Hume zog die skeptischen Folgerungen, die aus einer empiristischen Theorie zu ziehen sind:¹⁵ Lockes Way of Ideas verbietet eigentlich die Annahme von universellen, apodiktischen Begriffen, die einen objektiven Geltungsanspruch mit sich führen. Wenn Erfahrung die Quelle aller Begriffe ist, dann entstammen alle Begriffe der Erfahrung und was immer die reflectio bei Analyse unserer Verstandestätigkeit entdeckt, ist aufgrund seines empirischen Ursprungs nie allgemeingültig und notwendig, sondern immer partikular und kontingent. Eine Begriffsgenese qua reflectio ist ein psychologistisches Erklärungsmodell, das es nicht gestattet, den Verstand als Urquell besonderer objektiv gültiger Begriffe – in Kants Terminologie: reiner Verstandesbegriffe – aufzufassen. Die Reduktion des Verstandes auf die Sinne dachte Hume konsequenter als Locke. Hume erkannte, dass Begriffe der Substanz oder der Kausalität ihren Ursprung a priori haben müssten, weil ihr allgemeiner notwendiger Geltungsanspruch sie als nicht-empirisch gewonnene Begriffe ausweist. Aber Hume konnte sich nicht erklären, wie es möglich sei, dass der Verstand „Begriffe, die an sich im Verstande nicht verbunden sind, doch als im Gegenstande notwendig verbunden denken müsse“ (KrV B 127). Ihm kam die kantische Lösung nicht in den Sinn, nämlich dass der Verstand durch diese Begriffe selbst Urheber der Erfahrung ist, worin seine Gegenstände angetroffen werden. Stattdessen leitete er sie wie Locke notgedrungen aus der Erfahrung ab (vgl. Hume, EHU 1.II.i). Wenn diese Begriffe durch wiederholte Assoziation der Erfahrung entsprungen sind, ist ihre Notwendigkeit eine bloß subjektive Notwendigkeit. Dann allerdings verfuhr Hume konsequenter als Locke und erklärt es für unmöglich, mit diesen Begriffen über die Erfahrungs Locke gibt vornehmlich Beispiele aus dem Bereich der Moral und der Mathematik (vgl. Locke, Essay IV.iv.6 f.). Zu Humes Anschluss an Locke und seiner gegenüber Locke konsequenteren empiristischen Theorie des Begrifflichen (vgl. Koch 2004: 69 – 81, hier: 71). Koch legt dar, dass in Humes Theorierahmen, der den Verstand auf Vorstellungsbilder (Erinnerungen und Einbildungen) einerseits und Verhaltensdispositionen andererseits reduziert, kein Raum für das Begriffliche als solches bleibt und weist darauf hin, dass der Naturalismus jedoch nur zu vermeiden ist, wenn der Kritik am Vorstellungsmodell des Geistigen auf nicht-naturalistische Weise Rechnung getragen wird, also der Verstand nicht letztlich auf Verhaltensdispositionen reduziert wird. Ich beschränke mich hier auf Hinweise zur Vorgängerkonzeption Lockes und, was Hume anbelangt, auf Kants Schilderungen.
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grenze hinauszugehen.¹⁶ Humes psychologische Gewohnheit ist eine subjektive Notwendigkeit, die fälschlich für objektiv gehalten wird. Zu betonen ist, dass auch das Verfahren der empirischen Naturwissenschaften, die, auf dem Induktionsprinzip aufbauend, Hypothesen allgemeinen Charakters über die Welt aufstellt, in Folge dieses Skeptizismus ungerechtfertigt erscheint. Das Induktionsprinzip besagt: Wenn Sachverhalte einander gleichen, dann ist es vernünftig, zu erwarten, dass sich nicht-untersuchte Instanzen ähnlich verhalten wie untersuchte. Dieses Prinzip muss a priori gerechtfertigt werden, um auszuschließen, dass wir uns so verfahrend bloß einer kollektiven Illusion hingeben. Um die Extrapolation von der geschlossenen Klasse beobachteter Instanzen auf die offene Klasse aller Instanzen vorzunehmen und für rational zu befinden, müssen der Substanz- und der Kausalitätsbegriff sowie der der Wechselwirkung (Kants Relationskategorien) als objektiv gültige Begriffe erwiesen werden statt als psychologische Mechanismen der Gewohnheit. Nur vor dem Hintergrund der objektiven Geltungsdimension der Kategorien ist diese Extrapolation im rationalen Sinn wahrscheinlich (komparativ allgemeingültig [vgl. KrV B 3]) statt ein bloß pragmatischer Notbehelf. Hiermit ist deutlich, dass der Empirismus, weil er die Autonomie des Verstandes nicht würdigt, den Geltungsanspruch naturwissenschaftlicher Erkenntnisansprüche nicht legitimieren kann. Die Rationalität des Induktionsprinzips und mit ihm die materiale Wahrheit der Erfahrung steht und fällt mit der objektiven Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe. Kant führt Lockes Inkonsequenz darauf zurück, dass diesem das eigentliche Prinzip der synthetischen Urteile nur dunkel vorschwebte. Daher habe Locke wenig Bestimmtes und auf Regeln Gebrachtes zum synthetischen Urteilen zu sagen (vgl. AA 4:270). Auch Hume stößt, aufgrund seiner empiristischen Grund-
Kant lobt Humes Konsequenz, die er bei Locke vermisst (vgl. KrV B 127). Locke hätte aus Ermangelung dieser Betrachtung (einer transzendentalen Deduktion) und weil er reine Begriffe des Verstandes in der Erfahrung fand, diese auch aus der Erfahrung abgeleitet und verfuhr inkonsequent, indem er damit Versuche zu Erkenntnissen machte, die weit über alle Erfahrungsgrenzen hinausgehen. So habe er der „Schwärmerei Tür und Tor“ geöffnet, weil die Vernunft „wenn sie einmal Befugnisse auf ihrer Seite hat, sich nicht mehr durch unbestimmte Anpreisungen der Mäßigung in Schranken halten läßt“ (vgl. KrV A 94 f.). Vgl. auch Prolegomena § 35: Der Einbildungskraft könne Schwärmerei vielleicht verziehen werden, weil sie durch einen „freien Schwung belebt und gestärkt wird“, aber: „Daß […] der Verstand, der denken soll, an dessen Statt schwärmt, das kann ihm niemals verziehen werden; denn auf ihm beruht allein alle Hilfe, um der Schwärmerei der Einbildungskraft, wo es nötig ist, Grenzen zu setzen“ (AA 4:317).
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annahmen, die ihm den Gedanken eines reinen Ideellen versperren, nicht bis zu ihrer Entdeckung vor.¹⁷ Das Unbefriedigende dieser „Noogonie“ liegt darin, dass diesem Erklärungsmodell zufolge alle Begriffe in letzter Instanz der Erfahrung entstammen. Somit ist in dieser Konzeption zwar ihre Anwendung auf Erfahrung problemlos zu erklären, jedoch nicht der universelle, apodiktische Geltungsanspruch, den die Kategorien als solche mit sich führen. Wenn die objektive Geltung dieser Begriffe nicht a priori gerechtfertigt werden kann, dann ist die Annahme, die begriffliche Bestimmung der Wirklichkeit würde dieser entsprechen und die Erkenntnis Wirklichkeit im korrespondenztheoretischen Sinn wahr oder falsch repräsentieren, ungerechtfertigt und die Wahrheitsskepsis die logische Konsequenz (WahrheitsskepsisE). Der generelle, apodiktische Geltungsanspruch der Kategorien kann durch keine empirische Deduktion gerechtfertigt werden. Damit ist das zentrale Desiderat identifiziert, das die kantische Transzendentalphilosophie zu erfüllen hat: Zu beweisen ist, dass die Kategorien reine objektiv gültige Begriffe sind, die nicht aus sinnlichem Material deriviert werden, sondern a priori dem Verstand entspringen.
4.1.2 Die rationalistische Variante einer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens Die zweite, rationalistische Variante einer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens, die Kant namentlich mit Leibniz verbindet,¹⁸ ist einseitig intellektualistisch. Statt wie Locke und Hume die Sinnlichkeit zu forcieren, begreift Leibniz allein den Verstand als Quelle der Erkenntnis. Der Sinnlichkeit kommt nach Maßgabe der rationalistischen Erkenntnistheorie bloß die Funktion zu, für eine Verwirrung der Vorstellungen zu sorgen.¹⁹ Im Rationalismus steht an
Ich habe das – wie so vieles mehr – von Koch gelernt (vgl. zu diesem Punkt: Koch 2004: 159 f.). Zu denken ist in diesem Kontext auch (vielleicht sogar primär) an Leibniz’ deutsche Nachfolger Wolff und Baumgarten. Leibniz hatte die Bedeutung der Lockeschen Philosophie erkannt und setzt sich mit ihr in den Nouveaux Essais auseinander. Obwohl sich Leibniz seit den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts mit Lockes Essay beschäftigte und an den Nouveaux Essais arbeitete, erfolgte die Publikation erst 1765 durch Raspe. Dieser Hinweis ist dem Aufsatz von Gerhart Schmidt entnommen, dem einige der folgenden Hinweise zum Verhältnis von Locke und Leibniz zu verdanken sind (vgl. Schmidt 1976: hier: 59).
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Stelle der sensualistischen und in letzter Instanz psychologistischen Erkenntnistheorie des Empirismus ein logisch-metaphysisches System.²⁰ Gemäß Leibniz’ Begriffsanalytischer Wahrheitsauffassung sind alle wahren Sätze explizite oder implizite Identitäten. Der Satz vom Widerspruch ist gemäß der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung das universelle, notwendige und hinreichende Kriterium der Wahrheit: Eine Erkenntnis ist wahr, weil ihr kontradiktorisches Gegenteil falsch ist (vgl. Leibniz 1880). Hier geht es nicht um ein logisches Wahrheitskriterium, sondern um ein materiales: Realmöglich ist das, was sich nicht widerspricht. Der Satz vom Widerspruch und der Satz vom Grund als korrelatives Prinzip sind gemäß dieser Konzeption positive Wahrheitskriterien. Das Wahre ist das Mögliche. Damit ist keine bloße Denkmöglichkeit gemeint, sondern eine wahre Idee darf „insofern Geltung für die Realität beanspruchen, als sie innerhalb der Realität möglich ist“ (Albrecht 2006: 239). Die vorkritische Metaphysik basiert methodologisch auf der (Re‐)Interpretation des Satzes vom Widerspruch und des Satzes vom Grund als positiven Wahrheitskriterien und damit als logischen und zugleich ontologischen Prinzipien.²¹ In der rationalistischen Erkenntnistheorie sind objektive Vorstellungen nicht der Art nach dichotomisch in Anschauungen und Begriffe zu unterscheiden, sondern logisch durch Grade der Deutlichkeit. ²² Der Grad der Deutlichkeit einer objektiven Vorstellung verhält sich umgekehrt proportional zu ihrem sinnlichen Anteil: Je weniger sinnliche Anteile eine Vorstellung birgt, desto deutlicher ist sie. Der Philosophie kommt die Aufgabe zu, die verworrenen Begriffe zu entwirren und deutliche Begriffe daraus zu machen. Es besteht ein gradueller Übergang von verworreneren zu deutlicheren Begriffen, an deren Ende die vollkommen luzide göttliche Erkenntnis steht, die den ideellen Maßstab darstellt, der sich die Philosophie durch Begriffsanalyse anzunähern sucht. Eine ursprüngliche Differenz in der Sphäre der Vorstellungen, wie sie Kant in seiner Transzendentalphilosophie mit deren Einteilung in sinnliche Anschauungen und diskursive Begriffe vornimmt, kennt der Rationalismus nicht. Den Unterschied von sinnlichen und in-
Vgl. 2.3.1. In Kapitel 2 wurde bereits thematisiert, inwiefern damit ihr eigentlicher Status als Prinzipien der logischen Wahrheit verkannt wird (vgl. dazu Heimsoeth 1914: 208 f.). In diesem Kontext wurde deutlich, dass der Satz vom Widerspruch ausschließlich das positive Wahrheitskriterium (das transzendentale Prinzip) analytischer Urteile ist, aber keine hinreichende Bedingung der objektiven Realität eines Begriffs ist. In Kapitel 4 wird die rationalistische Erkenntnistheorie im Ausgang von der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung in einer weiteren Hinsicht kritisiert (vgl. Kapitel 4, insbes. Teil 5.3). Ein Unterschied der Art nach ist ein transzendentaler Unterschied, einer nach Graden der Deutlichkeit ein logischer (vgl. dazu Teil 4.2).
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tellektuellen Vorstellungen begreift der Rationalismus als logisch-graduell: Sinnliche Vorstellungen sind undeutlicher als begriffliche Vorstellungen, in denen die Teilvorstellungen durch Begriffsanalyse auseinandergesetzt sind. Während sich Kant in seinen frühen Schriften an der Begriffslehre von Leibniz und Wolff orientiert, wendet er sich mit De Mundi entschieden von dieser ab, weil er fortan die rationalistische Bestimmung der Phänomene als verworrene Begriffe ablehnt.²³ Ein wichtiger Impuls zur gedanklichen Fortentwicklung hin zur kritischen Philosophie war die Einsicht, dass die von Wolff gegebenen, auf Leibniz zurückzuführenden Definitionen von Raum und Zeit zirkulär sind.²⁴ In LO § 572 erklärt Wolff: „Temporis definitio: Tempus adeo est ordo successivorum in serie continua“. Zirkulär ist diese Definition, weil der im Definiendum auftretende Begriff des Nacheinanders den zu definierenden Begriff der Zeit voraussetzt (vgl. De Mundi §14, in: AA 2:399). Dasselbe gilt für Wolffs Definition des Raumes: „Spatium est ordo simultanerorum, quatenus scilicet coexistunt“ (Wolff, LO § 589). Denn der Begriff des Nebeneinanders setzt den Begriff des Raumes voraus (vgl. De Mundi §15, in: AA 2:402). Aufgrund dieser Zirkularität sind Raum und Zeit im Rationalismus nicht real definierbar.²⁵ Kant wurde durch die Entdeckung des Problems inkongruenter Gegenstücke die Notwendigkeit deutlich, eine neue Raum-Zeit-Lehre zu entwickeln.²⁶ Schon in De Mundi vertritt er explizit die These, dass es sich bei der Vorstellung von Raum und Zeit ursprünglich gar nicht um Begriffe handelt, sondern um eine davon strikt verschiedene Vorstellungsart, nämlich Anschauungen. Er moniert, dass der Rationalismus sie fälschlicherweise als verworrene Vorstellungen bestimme (vgl. KrV A 264/B 320).²⁷ Nach Auffassung des Rationalismus ist eine sinnliche Vorstellung eine verworrene Vorstellung der Dinge, die zwar das, was ihnen an sich selbst zukommt, präsentiert, dies aber als Konglomerat von Merkmalen und Teilvorstellungen, die nicht mit Bewusstsein auseinandergesetzt
Zur kantischen Orientierung an der Leibniz-Wolff’schen Begriffslehre in seinen frühen Schriften vgl. AA 2:299; 20:278.; zu deren Ablehnung mit De Mundi gegen Wolff gerichtet vgl. AA 2:395. Gottfried Martin macht diese Zusammenhänge deutlich (vgl. Martin 1966). Er verweist auf die aus dem Jahre 1764 stammende Schrift Kants über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und Moral (vgl. AA 2:283 f., vgl. außerdem: De Mundi: §§14, 15 in AA 2:399, 402). Wolff schließt damit an Leibniz’ im dritten Brief an Clarke gegebene Definitionen an. Martin legt nahe, dass Kant daraus den Schluss zog, dass Raum und Zeit, da nicht real definierbar, in der Leibniz-Wolff’schen Philosophie als verworrene Begriffe zu gelten hätten (vgl. Martin 1966: 103). Erstmals dokumentiert in der Schrift Vom ursprünglichen Unterschied der Gegenden im Raume (1768) in AA 2:375 – 383. In De Mundi ist die Kritik nur gegen Wolff gerichtet (vgl. AA 2:395). Zu Kants genereller Kritik der rationalistischen Raum-Zeit-Theorie vgl. 4.2.1.
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sind. Diese These gilt Kant in seiner kritischen Zeit als eine „Verfälschung des Begriffs von Sinnlichkeit und Erscheinung, welche die ganze Lehre derselben unnütz und leer macht“ (KrVA 43/B 60).²⁸ Wird verkannt, dass die Sinnlichkeit ein Quell einer besonderen Art reiner Vorstellungen ist und „die sinnliche Anschauung eine ganz besondere subjektive Bedingung ist, welche aller Wahrnehmung a priori zum Grunde liegt, […] deren Form ursprünglich ist“, also „für sich allein gegeben“ (KrVA 268/B 324), ist es unmöglich, die objektive Geltung der Kategorien a priori zu rechtfertigen. Der Rationalismus leistet keine solche Rechtfertigung (transzendentale Deduktion) der reinen Verstandesbegriffe, sondern setzt deren objektive Geltung voraus. Ihm zufolge sind generell die Prinzipien des Denkens zugleich die Prinzipien der Dinge überhaupt. ²⁹ Anstatt wie Kant im Rahmen des transzendentalen Idealismus den Verstand als Gesetzgeber der Natur zu begreifen,³⁰ muss in der Folge einer einseitig intellektualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens, das einzig den Verstand als Erkenntnisquelle anerkennt, auf eine „Art von P r ä f o r m a t i o n s s y s t e m der reinen Vernunft“ (KrV B 167) zurückgegriffen werden. In §27 der B-Auflage wendet sich Kant explizit gegen eine Erklärung, der zufolge die reinen Verstandesbegriffe (und Grundsätze) „weder s e l b s t g e d a c h t e erste Prinzipien a priori unserer Erkenntnis, noch auch aus der Erfahrung geschöpft, sondern subjektive, uns mit unserer Existenz zugleich eingepflanzte Anlagen zum Denken wären, die von unserm Urheber so eingerichtet w[u]rden, daß ihr Gebrauch mit den Gesetzen der Natur, an welchen die Erfahrung fortläuft, genau stimmte“ (KrV B 167). Kant moniert zwei logische Punkte gegen diese Erklärung: zum einen, dass hier ein Regress in den Voraussetzungen vorbestimmter Anlagen zu künftigen Urteilen eintritt und zum anderen, dass den Kategorien bei dieser Erklärung die Notwendigkeit mangeln würde, die ihnen aus begrifflichen Gründen zukommt (vgl. KrV B 167 f.). Diese Erklärung verkehrt also ihre objektive Gültigkeit in die einer subjektiven Einrichtung. Die Übereinstimmung der logischen Prädikate mit den
Kant illustriert am Begriff des Rechts, dass die aus rationalistischer Warte vorgeschlagene Klassifikation verfehlt sei, sinnliche Vorstellungen als undeutliche und Verstandesvorstellungen als deutliche Vorstellungen zu begreifen. Der gewöhnliche Begriff des Rechts ist sicher eine undeutliche Vorstellung, insofern sein gewöhnlicher praktischer Gebrauch in der Regel nicht mit dem Bewusstsein der subtilen Differenzen verbunden ist, die eine wissenschaftliche Untersuchung auseinandersetzen könnte, aber dennoch ist er keine sinnliche Vorstellung (nichts, was erscheinen kann) (vgl. KrV A 43 f./B 61). Schon in De Mundi hatte er herausgestellt, dass die Sinnlichkeit sehr wohl klare Vorstellungen liefern könne, z. B. in der Geometrie, und die begriffliche Erkenntnis durchaus dunkel sein könne, z. B. in der Metaphysik (vgl. De Mundi §7 in AA 2:394 f.). Vgl. dazu Kapitel 4, insbes. 5.2.4 und 5.3. Zur Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus vgl. Teil 4.3.
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ontologischen muss vorausgesetzt werden. Derart hinge die Notwendigkeit der Kategorien von der Gnade einer Gottheit ab. Damit ist die objektive Gültigkeit der Kategorien nicht gerechtfertigt, sondern dogmatisch vorausgesetzt.³¹ Kant erläutert dies am Beispiel der Kausalität: [D]er Begriff der Ursache, welcher die Notwendigkeit eines Erfolgs unter einer vorausgesetzten Bedingung aussagt, würde falsch sein, wenn er nur auf einer eingepflanzten subjektiven Notwendigkeit, gewisse empirische Vorstellungen nach einer solchen Regel des Verhältnisses zu verbinden, beruhete. Ich würde nicht sagen können: die Wirkung ist mit der Ursache im Objekte (d. i. notwendig) verbunden, sondern ich bin nur so eingerichtet, daß ich diese Vorstellung nicht anders als so verknüpft denken kann; welches gerade das ist, was der Skeptiker am meisten wünscht; denn alsdenn ist alle unsere Einsicht, durch vermeinte objektive Gültigkeit unserer Urteile, nichts als lauter Schein, und es würde auch an Leuten nicht fehlen, die diese subjektive Notwendigkeit (die gefühlt werden muß) von sich nicht gestehen würden; zum wenigsten könnte man mit niemandem über dasjenige hadern, was bloß auf der Art beruht, wie sein Subjekt organisiert ist. (KrV B 168, Hervhb. SB)
Der Rationalismus ist also ebenfalls außerstande, den Skeptizismus abzuwehren, weil er die allgemeinen und notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit nicht a priori ausweist, sondern die objektive Geltung der Kategorien dogmatisch voraussetzt. Als Möglichkeitsbedingung, das in 4.1.1 gewonnene Desiderat zu erfüllen, hat zu gelten, dass die Sinnlichkeit als Ursprung einer spezifischen Art objektiver Vorstellungen auszuweisen ist, damit die objektive Gültigkeit der Kategorien a priori gerechtfertigt werden kann. Mit dem Ausscheiden des Präformationssystems bleiben nach Kant lediglich zwei Möglichkeiten, wie die „notwendige Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegenständen gedacht werden kann“ (KrV B 166). Nämlich: „[E]ntweder die Erfahrung macht diese Begriffe [die Kategorien], oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich“ (KrV B 166). Die skeptischen Konsequenzen der ersten Option wurden im Zusammenhang mit der empiristischen Erkenntnistheorie bereits deutlich.³² Daher verbleibt als antiskeptische Strategie nur die zweite Option: Nachzuweisen ist, dass die reinen Verstandesbegriffe die Erfahrung ermöglichen. Dieser Nachweis erfordert eine dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens, wie sie Kant in der KrV vertritt. Die skeptische Herausforderung besteht darin, zu erklären, wie die materiale Wahrheit, d. h. die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, möglich ist. Für Kants Versuch, diese Antwort durch eine Analyse des Erkennt-
Das spielt der Skepsis in die Karten (vgl. Walker, Ralph Charles Sutherland 1989: 62, 233, Anm. 2). Vgl. 4.1.1.
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nisvermögens (Kritik der reinen Vernunft) zu finden, ergibt sich aus den obigen Überlegungen folgendes transzendentalphilosophisches Programm: Um der Wahrheitsskepsis zu begegnen, muss gezeigt werden, dass der Verstand selbst eine Erkenntnisquelle ist. Dazu muss die objektive Geltung reiner Verstandesbegriffe bewiesen werden. Die Voraussetzung dieses Beweises besteht darin, zu zeigen, dass die Sinnlichkeit eine Erkenntnisquelle a priori ist. Im folgenden Teil wird Kants Ausweis der dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens besprochen.
4.2 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand Kant vertritt in der KrV die These, dass Sinnlichkeit und Verstand die beiden Erkenntnisstämme sind, die nur im Zusammenspiel Erkenntnis erzeugen (Zweistämme-These).³³ Die Metapher von den zwei Stämmen verweist darauf, dass die transzendentale Analyse der menschlichen Erkenntnis zwei disparate, jedoch gleichermaßen notwendige „Elemente“ zu Tage fördert. ³⁴ Die These von der elementar dichotomischen Grundstruktur der menschlichen Erkenntnis kommt an folgender Stelle der KrV prägnant zum Ausdruck: Unsere Erkenntnis entspringt aus zwei Grundquellen des Gemüts, deren die erste ist, die Vorstellungen zu empfangen (die Rezeptivität der Eindrücke), die zweite das Vermögen, durch diese Vorstellungen einen Gegenstand zu erkennen (Spontaneität der Begriffe); durch die erstere wird uns ein Gegenstand gegeben, durch die zweite wird dieser im Verhältnis auf jene Vorstellung (als bloße Bestimmung des Gemüts) gedacht. Anschauung und Begriffe machen also die Elemente aller unserer Erkenntnis aus, […]. (KrV A 50/B 74)
Zur Rechtfertigung der Zweistämme-These hat Kant also auszuweisen, dass wir über zwei irreduzibel disparate Arten objektiver Vorstellungen verfügen, die beide gleichermaßen essentieller Bestandteil der Erklärung sind, wie Erkenntnis zustande kommt und daher zwei verschiedenen Erkenntnisquellen zuzuordnen
Eine Theorie von der konkreten Funktionsweise des Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Verstand in der Erkenntnis legt Kant mit dem Schematismus in der Doktrin der Urteilskraft vor, die als solche jedoch nicht Gegenstand dieser Arbeit ist. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf die Frage, inwiefern Wahrheit, verstanden als Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, die in der Korrespondenz von Denken und Anschauen bestehen soll, Kant zufolge auf reine Formen der Anschauungen und reine Formen des Denkens angewiesen ist. Kants Zweistämme-These besagt als Resultat des ersten genetischen Aspekts der transzendentalen Erkenntnis, dass der Begriff ‚objektive Vorstellungen‘ disjunktiv ist: Eine objektive Vorstellung ist entweder Anschauung oder Begriff.
4.2 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand
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sind. Die Erklärung, wie Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Begriff im Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand zustande kommen kann, leistet Kant (abstrakt) mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Diese wird in Kapitel 4 thematisiert. Hier geht es zunächst um die Voraussetzungen dieser apriorischen Beweisführung, nämlich zum einen den Nachweis, dass es reine Anschauungen gibt und andererseits den Nachweis, dass es reine Begriffe gibt. Gezeigt werden soll, dass die Möglichkeit der Wahrheit auf Basis der dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens begründet werden kann, wohingegen monistische Konzeptionen an der Wahrheitsskepsis scheitern. Wenn es richtig ist, dass Kant in der KrV dank seines erkenntnistheoretischen Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand zu erklären vermag, dass Anschauen und Denken nicht nur als zwei zu unterscheidende „Leistungen“ des Erkenntnisvermögens zu gelten haben, sondern wenn er darüber hinaus im Stande ist, ihr Zusammenwirken a priori so zu erklären, dass die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand verständlich wird, dann müssen zunächst reine Elemente der Sinnlichkeit und reine Elemente des Verstandes ausgewiesen werden, um den Wahrheitsbegriff als erfüllten Begriff auszuweisen.³⁵ Der Ausweis, dass das menschliche Erkenntnisvermögen über reine Vorstellungen verfügt, ist mit dem genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis verbunden, wie er in Kapitel 1 vorgestellt wurde. Dem Erfordernis entsprechend, den apriorischen Ursprung zweier irreduzibler objektiver Vorstellungsarten (Anschauung und Begriff) auszuweisen, ist die Elementarlehre der KrV zweigeteilt. In ihrem ersten Teil, der transzendentalen Ästhetik, wird die Sinnlichkeit isoliert, um die sinnlichen „Elemente“ der Erkenntnis zu Tage zu fördern, nämlich die Anschauungsformen Raum und Zeit, die selbst reine Anschauungen sind. In ihrem zweiten Teil, der transzendentalen Logik, wird der Verstand isoliert, um die „Elemente“ des Denkens, nämlich reine Begriffe als die allgemeingültigen Regeln der Synthesis des sinnlich gegebenen Mannigfaltigen, zu Tage zu fördern (vgl. KrV A 22/B 36, A 62/B 87).³⁶
Dieser Ausweis ist Thema von Kapitel 4. Kapitel 1 hat diesen Ausweis des Ursprungs von Vorstellungen als ersten genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis ausgewiesen (vgl. 2.2.2). Die Schwierigkeit liegt in beiden Teilen der Elementarlehre unterschiedlich gelagert: In der transzendentalen Ästhetik sollen reine sinnliche Vorstellungen ausgewiesen werden. Hier liegt die Hauptschwierigkeit im genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis, scil. der metaphysischen Erörterung von Raum und Zeit, die sie als Formen der Sinnlichkeit ausweist. Dahingegen ist der Ausweis ihrer objektiven Gültigkeit unproblematisch. Beide Aspekte der transzendentalen Erkenntnis von Raum und Zeit legitimieren die kantische These, die Sinnlichkeit sei ein besonderer Erkenntnisstamm. In der transzendentalen Logik, die reine Begriffe ausweisen soll, liegt die
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4.2.1 Die Sinnlichkeit als Erkenntnisquelle: Die „metaphysische Erörterung“ von Raum und Zeit Da das menschliche Erkenntnisvermögen keine kausale Ursache seiner Gegenstände ist, muss seine Analyse ein rezeptives Vermögen zu Tage fördern, das Kant mit dem traditionellen Namen ‚Sinnlichkeit‘ fasst. Um den Nachweis zu führen, dass die Sinnlichkeit eine Erkenntnisquelle ist, muss gezeigt werden, dass ihr eine besondere Art objektiv gültiger Vorstellungen entspringt. Dem Rationalismus gilt die Sinnlichkeit nicht als kognitive Instanz, die Quelle spezifischer Vorstellungen ist, sondern soll nur unendlich komplexe, „verworrene“ und diskursive Vorstellungen darbieten, die durch den Verstand a priori qua Begriffsanalyse aufzuklären sind. Dem Empirismus gilt die Sinnlichkeit als einzige Erkenntnisquelle, die den gesamten Stoff für das Denken ursprünglich liefert: Nihil est in intellectu quod non (prius) fuerit in sensibus. Kant hingegen vertritt die Auffassung, dass der Sinnlichkeit besondere Vorstellungen a priori entspringen (reine Anschauungen). Durch den Nachweis, dass sinnliche Vorstellungen (Anschauungen) nicht auf Begriffe reduziert werden können, sondern gegenüber Begriffen objektive Vorstellungen strukturell heterogener Art sind – weil es reine Anschauungen gibt (Raum und Zeit), die qua Form Möglichkeitsbedingung der menschlichen Anschauung generell sind –, wird die sinnliche Anschauung als eine Vorstellungsart sui generis ausgewiesen und damit ipso facto die Sinnlichkeit als eigenständiger Erkenntnisstamm bestimmt. Um reine Formen und damit disparate Erkenntnisstämme auszuweisen, bedient sich Kant eines Isolationsverfahrens. In der transzendentalen Ästhetik soll contra den Rationalismus nachgewiesen werden, dass die Sinnlichkeit eine eigenständige Erkenntnisquelle ist. Sie wird isoliert betrachtet, um ihre reinen Formen ausfindig zu machen. Durch den apriorischen Nachweis sinnlicher Formen wäre gezeigt, dass der Sinnlichkeit objektive Vorstellungen spezifischer Art entspringen. Diesen Nachweis führt Kant durch eine ‚metaphysische Erörterung’ von Raum und Zeit. Gezeigt werden soll, dass das sinnliche Anschauen des Menschen notwendigerweise gemäß den universellen Formen Raum und Zeit erfolgt, die selbst in reiner Anschauung a priori angeschaut werden können (vgl. KrV A 22/B 36).³⁷ Unter einer Erörterung versteht Kant „die deutliche (wenngleich nicht ausführliche) Vorstellung dessen, was zu einem Begriffe gehört“ (KrV A 23/B
Schwierigkeit hauptsächlich im zweiten Aspekt der transzendentalen Erkenntnis, dem Beweis ihrer objektiven Geltung. „Diese reine Form der Sinnlichkeit wird auch selber reine Anschauung heißen“ (KrV A 20/B 34 f.).
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38). Sie ist ‚metaphysisch‘, „wenn sie dasjenige enthält, was den Begriff, als a priori gegeben, darstellt“ (KrV A 23/B 38).³⁸ Durch die metaphysische Erörterung von Raum und Zeit zeigt Kant zu Beginn der transzendentalen Ästhetik, dass das menschliche Erkenntnisvermögen mit Raum und Zeit reine sinnliche Formen aufweist und belegt damit, dass die formaliter generell und notwendigerweise raumzeitlich bestimmte menschliche Anschauung eine besondere Art objektiver Vorstellung ist, zu der das menschliche Erkenntnisvermögen befähigt ist. Durch die ‚metaphysische Erörterung’ von Raum und Zeit weist Kant also nach (1), dass Raum und Zeit ursprünglich keine Begriffe, sondern Anschauungen sind und (2), dass sie als Formen der Sinnlichkeit a priori gegeben sind. Um (1) zu beweisen, ist zu zeigen, dass Raum und Zeit ursprünglich keine abstrakten diskursiven, sondern unmittelbare intuitive Vorstellungen sind. Um (2) zu beweisen, ist zu zeigen, dass sie apriorische Möglichkeitsbedingungen empirischer Vorstellungen sind. Der Beweisgang der transzendentalen Ästhetik geht von der Rezeptivität der Sinnlichkeit aus, die im bereits dargelegten Sinn aus der Endlichkeit der theoretischen Erkenntnis folgt:³⁹ Durch „Affektion“ werden Vorstellungen gegeben.⁴⁰ Daher sind die Erkenntnisgegenstände zunächst – unter Abstraktion von der Leistung des Verstandes – der „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34), d. h. Erscheinungen im technischen Sinn der transzendentalen Ästhetik. Kant zufolge ist zwischen der Form und Materie der Erscheinung zu unterscheiden (KrV A 20/B 34). Die Materie der Erscheinung ist das, was der Empfindung korrespondiert und die Form ist das, „welches macht, daß das Mannigfaltige der Erscheinung in gewissen Verhältnissen geordnet werden kann“ (KrV A 20/B 34). Empfindung ist die „Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit“ (KrV A 19 f./B 34), also qua definitionem empirisch. Insofern aber von der Materie der Erscheinung eine Form unterschieden werden soll, müssten Möglichkeitsbedingungen der sinnlichen Präsenz des Realen im Bewusstsein ausweisbar sein, die nicht selbst durch Affektion gegeben werden können und doch der Rezeptivität des Vorstellungsvermögens zuzuordnen sind. Kant argumentiert nun, dass Raum und Zeit als Ordnungsdimensionen von Empfindungen die Möglichkeitsbedingungen der Vorstellung des Sensorischen
Transzendental ist sie, wenn diese Erklärung den Begriff als Prinzip anderer synthetischer Erkenntnisse a priori ausweist (vgl. KrV B 40). Vgl. 2.3.3. Der Begriff des ‚Affiziertwerdens‘ ist aufgrund seiner kausalen Konnotationen problematisch. Allerdings wehrt sich Kant bspw. in A 391 f. gegen die Auffassung, äußere Vorstellungen seien als kausaler Vorgang aufzufassen. Mit dieser tradierten Bezeichnung ‚Affektion‘ versucht Kant auszudrücken, dass das Subjekt den Erkenntnisstoff nicht selbst hervorbringt, sondern von den dem Dasein nach unabhängigen Gegenständen erhält (vgl. Nenon (1986: 183).
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als etwas Objektives sind und daher nicht aus der Erfahrung deriviert sein können, sondern als Form(en) der Erscheinung „im Gemüte a priori bereitliegen [müssen]“ (KrV A 20/B 34). Weil letzteres der Fall ist, können sie selbst „abgesondert von aller Empfindung […] betrachtet werden“ (KrV A 20/B 34).⁴¹ Wenn es eine solche „im Gemüte a priori bereitliegen[de]“ Form der Erscheinung gibt, dann ist sie eine „formale Beschaffenheit des Subjekts“ (AA 24:265). Sie ist Form der Sinnlichkeit – und als solche ist sie nicht nur eine Möglichkeitsbedingung des Vorstellens von etwas objektiv Realem, sondern auch für sich erkennbar in empfindungsfreier reiner Anschauung. Kants Argumentation in der metaphysischen Erörterung des Raumes soll nun näher betrachtet werden. Sie soll nachweisen, dass der Raum eine Vorstellung ist, die a priori entspringt (vgl. 2), und dass die Raumvorstellung ursprünglich nicht als Begriff, sondern als Anschauung zu qualifizieren ist (vgl. 1) (vgl. KrV A 23/B 38). Beweisziel des ersten Raumarguments ist der Nachweis, dass der Raum kein empirischer Begriff ist. Kant argumentiert: Die Bedingung der Möglichkeit dafür, Empfindungen auf etwas außerhalb meiner selbst zu beziehen und als außer- und nebeneinander vorstellen zu können, ist die Raumvorstellung als eine a priori zugrunde liegende Vorstellung. Weil die Möglichkeit der Erfahrung eines Außerund Nebeneinanderseins von Empfindungen (dem Sensorischem) auf die apriorische Vorstellung des Raumes als ihrer Möglichkeitsbedingung verweist, kann die Raumvorstellung nicht „aus den Verhältnissen der äußeren Erscheinung durch Erfahrung erborgt“, also empirisch abgeleitet sein (vgl. KrV A 23/B 38). Die Raumvorstellung ist also kein aus der Erfahrung derivierter empirischer Begriff, sondern eine Vorstellung a priori. Mit diesem ersten Raumargument der metaphysischen Erörterung des Raumes ist gezeigt, dass der Raum kein empirischer Begriff ist, sondern a priori entspringt. Allerdings ist mit diesem Argument nur gezeigt, was der Raum nicht ist: ein empirischer Begriff.Was er stattdessen ist, ist noch unbestimmt. In den folgenden drei Argumenten wird die Raumvorstellung Schritt um Schritt positiv bestimmt: Im zweiten Raumargument argumentiert Kant für die These, dass der Raum „eine notwendige Vorstellung a priori [ist], die allen äußeren Anschauungen zum Grunde liegt“ (KrV A 24/B 38 f., Hervhb. SB) (vgl. [2]). Sein Argument lautet: Man kann zwar von Gegenständen im Raum abstrahieren, aber nicht vom Raum selbst (vgl. KrV A 24/B 38 f.). Das dritte Raumargument spezifiziert die ursprüngliche Raum Auf der Lehre von der reinen Sinnlichkeit, die er in der transzendentalen Ästhetik vorträgt, basiert Kant zufolge die reine Mathematik und Naturwissenschaft. Vgl. die transzendentale Erörterung des Raumes, die die Möglichkeit der geometrischen Erkenntnis als einer synthetischen Erkenntnis a priori erklärt (KrV B 40 f.) und der Zeit, die die Möglichkeit der Arithmetik und reinen Bewegungslehre als synthetische Erkenntnis a priori erklärt (KrV A 31, B 47 und B 48 f.).
4.2 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand
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vorstellung weiter als „kein diskursiver oder, wie man sagt, allgemeiner Begriff von Verhältnissen der Dinge überhaupt“ (KrV A 24 f./B 39), sondern als intuitive Einzelvorstellung, und zwar als reine Anschauung (vgl. [1]).⁴² Kants Argument lautet: Alle konkret bestimmten Räume sind stets Einschränkungen des einen Raumes, der ihnen als apriorische Vorstellung zugrunde liegt (vgl. KrV A 24 f./B 39). Somit ist der besondere Charakter der Raumvorstellung bestimmt als nichtdiskursive, sondern intuitive Einzelvorstellung, die notwendigerweise allen äußeren Vorstellungen zu Grunde gelegt werden muss. Im vierten Raumargument wird die besondere Art der Raumvorstellung noch einmal unabhängig von der vorhergehenden Argumentation ausgewiesen, indem die aktuale Unendlichkeit der Raumvorstellung im Kontrast zur potentiellen Unendlichkeit der Anwendungsfälle des Raumbegriffs auf Räumliches als deren gemeinsames Merkmal herausgestellt wird (KrV B 39 f.). Der Raum als unendliche gegebene Größe enthält eine potentiell unendliche Anzahl von Vorstellungen „i n s i c h“ (KrV B 40), wohingegen ein Begriff eine potentiell unendliche Menge von Gegenständen als ihr gemeinsames Merkmal „u n t e r s i c h“ (KrV B 40) enthält. Kants Argument lautet: „[D]enn alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich“ (KrV B 40). Aus der aktualen Unendlichkeit folgt der apriorische Ursprung dieser Vorstellung, „weil ein aktual Unendliches einem endlichen Subjekt nicht in endlicher Zeit empirisch, d. h. durch kausale Einwirkung, gegeben werden kann“ (Koch 2004: 99). Die Zeitargumente schließen weitestgehend analog und liefern zu den Raumargumenten parallele Resultate:⁴³ Die Zeit muss als eine Vorstellung a priori zugrunde liegen, soll das Zugleich-Sein und die Sukzession in der Wahrnehmung Koch weist darauf hin, dass die Qualifikation der ursprünglichen Raumvorstellung als reine Anschauung im dritten Raumargument nur im Rückgriff auf eines der ersten zwei Argumente gelingen kann. Denn nach dem dritten setzt zwar der Allgemeinbegriff des Raumes eine Einzelvorstellung voraus. Um jedoch zu zeigen, dass die ursprüngliche Raumvorstellung eine reine Anschauung ist, genüge es nicht, zu zeigen (a), dass wir eine nicht-empirische Raumvorstellung haben und (b) dass wir den Raum anschaulich vorstellen. Die Reinheit des Raumes müsste noch einmal eigens bewiesen werden, weil das „Mitanschauen“ des Raumes beim Anschauen von Räumlichem auch dann empirisch sein könnte, wenn es unser Begriff des Raumes nicht ist. Die Identifikation der ursprünglichen Raumvorstellung a priori mit dem Raum als reine Anschauung gelingt im dritten Argument also nur auf Basis des bis dahin schon ausgewiesenen apriorischen Charakters der ursprünglichen Raumvorstellung, denn sonst steht die Möglichkeit offen, dass es sich bei der nicht-empirischen Raumvorstellung (a) um eine diskursive Vorstellung (den Raumbegriff) handelt, dessen Anwendung immer auf anschauliche Vorstellungen geht (b), wie von den Kategorien – den reinen Verstandesbegriffen – nur in Bezug auf Erscheinungen Gebrauch gemacht werden darf (vgl. Koch 2004: 98 f.). Das dritte der fünf Zeitargumente, die Kant anführt, liefert schon die transzendentale Erklärung des Zeitbegriffs (vgl. KrV A 31/B 47).
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vorstellbar sein, und stellt daher deren Möglichkeitsbedingung dar (KrV A 30/B 46). Die Simultaneität und Sukzession von Empfindungen ist nur unter der Bedingung einer a priori gegebenen Zeitvorstellung möglich, weil verschiedene Empfindungen nur als simultan oder sukzessiv vorgestellt werden können, wenn sich das Subjekt von seinen konkreten Empfindungen distanzieren und die Vorstellung „in ein Subjekt-Objekt-Verhältnis auflösen [kann], und zwar […] auf genuin zeitliche Weise“ (Koch 2004: 100), d. h. in verschiedenen zeitlichen Modi: als gegenwärtig, als vergangen oder als zukünftig. Auch die Zeit gehört daher nicht den Empfindungen als solchen an, sondern stellt eine weitere Bedingung ihrer Objektivierbarkeit dar. Sie ist daher eine apriorische Vorstellung, nämlich Form der Sinnlichkeit und ebenfalls als solche reine Anschauung (vgl. [2]). Auch die apriorische Zeitvorstellung ist ursprünglich Anschauung, nicht Begriff, weil auch die Zeit eine aktual unendliche Größe ist, da „alle bestimmte Größe der Zeit nur durch Einschränkungen einer einigen zum Grunde liegenden Zeit möglich [ist]“ (KrV A 32/B 47 f.) (vgl. [1]).⁴⁴ Mit ihrer metaphysischen Erörterung sind Raum und Zeit als intuitive Vorstellungen apriorischen Ursprungs erwiesen, die notwendig sind für die Objektivierbarkeit von Empfindungen. Ihre nicht-diskursive, sondern intuitive Eigenart liegt darin, dass sie als unmittelbare gegebene, sinnliche Vorstellungen Einzelnes repräsentieren. Während Begriffe abstrakte, allgemeine Einheiten sind, stellen Anschauungen aufgrund ihres unmittelbaren sinnlich-rezeptiven Gegenstandsbezugs Einzelnes vor. In der transzendentalen Ästhetik weist Kant raumzeitliche Anschauungen somit als eine besondere Art objektiver Vorstellungen aus, die sich grundlegend von diskursiven Vorstellungen unterscheiden. Sie sind unmittelbare singuläre Vorstellungen, weil Raum und Zeit und alle Teile derselben mit dem Mannigfaltigen in ihnen „viel[e] Vorstellungen als in einer, und deren Bewußtsein […] mithin als zusammengesetzt“ repräsentieren, während Begriffe „eben dasselbe Bewußtsein, als in vielen Vorstellungen“ enthalten (KrV B 136, Anm. 1). Schon in De Mundi hatte Kant herausgestellt, dass Raum und Zeit durch Koordinationsverhältnisse und nicht durch Subordinationsverhältnisse wie Begriffe bestimmt sind (vgl. AA 2:390). Die Form der Anschauung ist die Art, wie das Subjekt affiziert wird und sie muss als solche „a priori in unserem Vorstellungsvermögen liegen“ (KrV B 129). Denn sie kann nicht selbst wiederum gegeben werden, sondern muss als zweifache Ordnungsdimensionalität für das sinnlich
Die wesentlichen Inhalte dieser Darstellung sind von Koch übernommen – etwaige Fehler und mangelnde Präzision habe ich selbst zu verantworten (vgl. Koch 2004: 99 f.), vgl. ebd. zu Kants analoger Argumentation bzgl. der Zeit.
4.2 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand
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Mannigfaltige der Vorstellung vorausgesetzt werden. Raum und Zeit sind die Formen der menschlichen Sinnlichkeit und alle Gegenstände eines mit diesen Formen ausgestatteten Erkenntnisvermögens erscheinen in ihnen. Räumlichkeit und Zeitlichkeit sind formale Züge der Objektivität, die selbst a priori erkennbar sind. In der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nach der B-Auflage erläutert Kant in zwei Fußnoten, dass zwar die „Form der Anschauung“ nur Mannigfaltiges enthält und erst die „formale Anschauung […] Einheit der Vorstellung gibt“ (KrV B 160 Anm. 1), die Einheit der Raum- und Zeitvorstellung aber als vorbegriffliche Einheit zu Raum und Zeit selbst gehört (vgl. KrV B 160 f. Anm.1).⁴⁵ Im Gegensatz zur intuitiven Einheit von Raum und Zeit ist die diskursive Einheit für Kant immer abstrakt. In diesem Punkt tritt der Unterschied zwischen Kants epistemologischem Dualismus und Leibniz’ Erkenntnistheorie deutlich hervor. Im Gegensatz zu Kant gelten Leibniz Raum und Zeit nicht als Prinzipien der Individuation. Leibniz begreift Raum und Zeit als denkerische Abstraktion aus der phänomenalen Körperwelt, die nicht die substanzielle Realität darstellt.⁴⁶ Aufgrund ihres idealen, vom menschlichen Geist geschaffenen Charakters, der diese homogenen Ordnungssysteme schafft, um Identitäten zu erkennen, können sie Leibniz zufolge nicht ontologisch bestimmend sein und den Unterschied zweier Individuen begründen. Aus seiner Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung, der zufolge alle Wahrheit letztlich darin gründet, dass das Prädikat vollständig im Subjekt enthalten ist, folgt, dass alle Relationen auf nicht-relationale Eigenschaften zurückführbar sein müssen. Mit dem principium identitas indiscernibilium ist gefordert, dass zwei Gegenstände nicht sämtliche Eigenschaften teilen können. Unter Voraussetzung einer relationalen Auffassung von Raum und Zeit können dann zwei Gegenstände nicht allein in ihrer raumzeitlichen Position unterschieden sein (vgl. Leibniz vierten Brief an Clarke, in: (Clarke et al. 2014: 42 – 50). Die eigentlichen Substanzen der Leibniz’schen Metaphysik, die Monaden, sind daher nicht durch Raumzeitstellen, sondern durch Perspektiven unterschieden. Alle wahrhaft substanziellen Einheiten (Monaden) spiegeln das gesamte Universum aus ihren inhaltlich diversen Gesichtspunkten: Sie perzipieren alle dasselbe, aber unterschiedliche Ausschnitte in unterschiedlichem Maße klar und deutlich. Konkret sind für Leibniz nur begriffliche Bestimmungen und darum sind alle wahrhaften Individuen durch ihren vollständig bestimmten Individualbegriff (notio completa) individuiert. Ein Individualbegriff ist ein maximal determinierter
Vgl. dazu KrV B 136 Anm. 1. „Beim Verstande liegt die Einheit im Begriffe, bei den Sinnen in der Anschauung“ (AA 9:39). Zu Leibniz Phänomenalismus (vgl. Liske 2000: 47, 63).
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Begriff des göttlichen Verstandes, dem kein weiterer Begriffsinhalt hinzugefügt werden kann, ohne einen Widerspruch zu produzieren oder überflüssig zu sein (vgl. Leibniz 1903: 375). Damit sind sie auf genau ein Individuum festgelegt.⁴⁷ Das Principium identitatis indiscernibilium als intellektualistisches Prinzip rationalistischer Metaphysik kritisiert Kant in der KrV im Abschnitt von der ‚transzendentalen Amphibolie‘.⁴⁸ Er argumentiert dort unter Rückgriff auf seine in der transzendentalen Ästhetik entwickelte Raum-Zeit-Theorie und sein erstmalig 1768 in der Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume vorgestelltes Argument der „inkongruenten Gegenstücke“ – etwa einer idealen rechten und linken Hand –, dass zwei Gegenstände, die in allen inneren Bestimmungen übereinkommen, doch verschieden sein können, wenn sie unterschiedliche Raum-Zeit-Stellen einnehmen (vgl. KrV A 263 f./B 319 f., vgl. AA 2:377 ff.). Leibniz’ Raumtheorie zufolge sind die räumlichen Richtungsunterschiede (links-rechts, oben-unten, vorne-hinten) durch innere Relationen der Materie bedingt. Dann aber müssten sich spiegelsymmetrische Gegenstände zur
Aus der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung des Rationalismus folgen logische und metaphysische Prinzipien sowie eine generelle Engführung von Logik und Ontologie, die in der begriffslogischen Auffassung der Substanz als vollständiger Individualbegriff gipfelt. Die Grundannahme des Leibniz’schen „Panlogismus“ (Liske) ist die aus der begriffsanalytischen Wahrheitsdefinition folgende Annahme, die gesamte Wirklichkeit sei die Verwirklichung eines begrifflichen Modells (einer möglichen Welt). Aus dieser Grundannahme folgt unmittelbar, dass die in der Metaphysik thematischen Strukturen des Realen und die logischen Begriffsstrukturen genau parallel sein müssen. Diese Zusammenhänge der Philosophie Leibniz’ hat Michael-Thomas Liske dargelegt (vgl. Liske 2000: hier: 64– 72.). Kants Kritik der reinen Vernunft begreift Wahrheit nicht einseitig intellektualistisch, sondern stellt den eigenständigen Beitrag der Sinnlichkeit als „Erkenntnisstamm“ in Rechnung. Die Konsequenz der kantischen Theorie ist, dass allein die empirische Forschung ins Innere der Materie vordringt: „Die Materie ist substantia phaenomenon. Was ihr innerlich zukomme, suche ich in allen Teilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Wirkungen, die sie ausübt, und die freilich nur immer Erscheinungen äußerer Sinne sein können“ (KrV A 277/B 333). Das gilt für belebte wie unbelebte Materie gleichermaßen – das Wesen der Dinge muss erscheinen, auch wenn es nie vollständig zu fassen sein wird. Zu Kants Leibniz-Kritik (vgl.Willaschek 1998: 344– 49). Die Verwechslung des empirischen mit dem transzendentalen Verstandesgebrauch verleitet dazu, die logischen Reflexionsbegriffe (‚Einerleiheit’ und Verschiedenheit, Einstimmung und Widerstreit, das Innere und das Äußere, Materie und Form) als allgemeine Formen für den Vergleich von Vorstellungen, in Anwendung auf den Verstand und auf die Sinnlichkeit als gleichbedeutend aufzufassen. Die „transzendentale Überlegung“, ob eine Vorstellung vor die Sinnlichkeit oder den Verstand gehört, soll vor ihr bewahren (vgl. KrV A 260 ff./B 316 ff.).
4.2 Kants Dualismus von Sinnlichkeit und Verstand
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Deckung bringen lassen. Dies ist jedoch augenscheinlich nicht der Fall.⁴⁹ Daher genügt der graduelle logische Unterschied ‚deutlich – undeutlich‘ nicht, um die epistemologische Eigenart von sinnlichen Vorstellungen im Kontrast zu Begriffen zu erfassen. Mit diesem Argument formuliert Kant eine folgenschwere immanente Kritik gegen den Rationalismus. In der KrV trägt er seine alternative Raum- und Zeittheorie vor. Mit ihrer metaphysischen Erörterung ist in der transzendentalen Ästhetik contra Newton und contra Leibniz gezeigt, dass Raum und Zeit weder selbst subsistierende Wesenheiten sind, wie Newtons absolute Raum-Zeit-Theorie behauptet, noch gemäß Leibniz’ Vorschlag als relative Eigenschaften von Dingen an sich selbst zu fassen sind, sondern „Bedingungen der Rezeptivität unseres Gemüts [sind], unter denen es allein Vorstellungen empfangen kann“ (KrV A 77/B 102). Raum und Zeit sind Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnisgegenstände, nämlich räumlicher Richtungsunterschiede und zeitlicher Dimensionen, die im menschlichen Erkenntnisvermögen a priori verfügbar sein müssen.⁵⁰ Kant fasst sie daher als Formen der Sinnlichkeit (vgl. [2]) und reine Anschauungen (vgl. [1]). Die Sinnlichkeit wird in der transzendentalen Ästhetik als eine Quelle von Vorstellungen sui generis, nämlich Anschauungen, erwiesen.⁵¹ Raum und Zeit sind ursprünglich keine Begriffe, denn anders als diese werden sie „ mit der Bestimmung der Einheit“ des potentiell unendlichen „Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt“ (vgl. KrV B 160). Dass verschiedene Räume immer nur als Teile des einen Raums vorgestellt werden können (vgl. KrV A 25/B 39) und verschiedene Zeiten nur als Teile eben derselben Zeit (vgl. KrV A 31 f./B 47), zeigt ihre metaphysische Erörterung. Als rezeptiv-sinnliche Vorstellungen beziehen sich Anschauungen unmittelbar auf den Erkenntnisgegenstand und sind daher dessen singuläre Repräsentationen. Durch den Nachweis der intuitiven Eigenart sinnlicher Vorstellungen, unmittelbare Repräsentationen von objektiven Einzelnen zu sein (Anschauungen), ist die Sinnlichkeit als eigenständige kognitive Instanz erwiesen. Diesen Status fasst Kant in der KrV durch die Metapher des Erkenntnis-
Heidemann hat darauf hingewiesen (vgl. Heidemann 2002: 70). Bereits in De Mundi hatte Kant dieses Argument verwendet, um nachzuweisen, dass räumliche Eigenschaften nicht rein begrifflich, sondern nur anschaulich erfassbar sind (vgl. AA 2:402 f.; 377– 383;. AA 4:285 f.; 483 f.). Die Einsicht, dass wir zur faktischen Orientierung in Raum und Zeit über die räumlichen und zeitlichen Unterschiede a priori verfügen müssen, hat Koch zu einer ‚Theorie der Voraussetzungen a priori der Bezugnahme auf Einzeldinge‘ ausgearbeitet (vgl. Koch 2006: 116 – 140, bes. 139). Der Beweis erfolgt erkenntnistheoretisch, nämlich durch den ersten genetischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis.
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stamms. Durch den Nachweis, dass Raum und Zeit reine Anschauungen sind, ist also die Sinnlichkeit als besonderer Erkenntnisstamm erwiesen.⁵²
4.2.2 Die Synthesis-Lehre Im Erkenntnisvermögen liegt also eine rezeptive Quelle von objektiven Vorstellungen sui generis, nämlich die Sinnlichkeit als Quelle der Anschauung. Allerdings präsentiert die Sinnlichkeit nicht etwas Bestimmtes, sondern etwas Bestimmbares, nämlich ein sinnlich Mannigfaltiges, das durchlaufen, wiederaufgenommen und auf eine Einheit gebracht werden muss, um re-präsentiert zu sein. Die Bestimmung des sinnlich Mannigfaltigen leistet der Verstand. Er ist Kant zufolge selbst eine spontane Quelle von Vorstellungen spezifischer Art, nämlich von Begriffen. Ein Begriff ist im Gegensatz zur Anschauung (repraesentatio singularis) eine allgemeine objektive Vorstellung (repraesentatio generalis). Im Kontrast zu sinnlichen Anschauungen basieren Begriffe nicht auf passiv-rezeptiven, sondern auf spontanen Leistungen des Erkenntnisvermögens. Die diskursiven Begriffe eines endlichen Verstandes beruhen auf Funktionen, d. h. der „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (vgl. KrVA 68/B 93). Da die Form dieser Art objektiver Vorstellungen immer spontan erzeugt ist, eignet ihnen – entgegen der der rezeptiven Sinnlichkeit entspringenden Anschauung – kein unmittelbarer, sondern ein mittelbarer Objektbezug. Begriffe beziehen sich Kant zufolge indirekt auf Gegenstände, nämlich „vermittelst gewisser Merkmale“ (KrV A 19/B 33). Da ein Gegenstand nur in der Anschauung gegeben werden kann, müssen sich objektiv gültige Begriffe in letzter Instanz auf Anschauungen beziehen.⁵³ Aufgrund der diskursiven Natur des menschlichen Verstandes, der im Gegensatz zur Sinnlichkeit kein Vermögen der Anschauung ist,
Heidemann hat darauf hingewiesen, dass „Anschauung und Begriff die erkenntnistheoretische Seite und Sinnlichkeit und Verstand eher die vermögenstheoretische Seite der menschlichen Vorstellungsfähigkeit bezeichnen“ (Heidemann 1998: 84). Die sinnliche Anschauung eines endlichen Erkenntnisvermögens kann zum Zwecke ihrer Profilierung einer (per Negation) denkbaren intellektuellen Anschauung entgegengesetzt werden, die keiner Affektion bedürfte. Sie würde (erkenntnistheoretisch) „das Einzelne im Allgemeinen in zugleich anschaulich-begrifflicher Synthese erfassen“ (Heidemann 1998: 82). Vermögenstheoretisch ist sie kausale Ursache ihres Gegenstandes, wie in der moralischen und mathematischen Erkenntnis. Dem diskursiven Begriff kann zum Zwecke seiner Profilierung außerdem ein konkret allgemeiner Begriff wie in der Hegelschen Philosophie entgegengesetzt werden. Zu den unterschiedlichen Merkmalen von Anschauungen und Begriffe (vgl. Heidemann 2002: 84, 86).
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erfordert also „die Spontaneität unseres Denkens“, dass ein Mannigfaltiges „zuerst auf gewisse Weise durchgegangen, aufgenommen, und verbunden werde, um daraus eine Erkenntnis zu machen“ (KrV A 77/B 102).⁵⁴ Diese Handlung des Durchgehens, Aufnehmens und Verbindens nennt Kant „Synthesis“. Die Synthesis ist „dasjenige, was eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammlet, und zu einem gewissen Inhalte vereinigt; sie ist also das erste, worauf wir Acht zu geben haben, wenn wir über den ersten Ursprung unserer Erkenntnis urteilen wollen“ (KrV A 77 f./B 103). Da Begriffe nicht „d e m I n h a l t e n a c h analytisch entspringen“ können, müssen „[v]or aller Analysis unserer Vorstellungen […] diese zuvor gegeben sein“ (KrV A 77/B 103).Von diesem ersten Ursprung der Erkenntnis handelt, wie in Kapitel 2 deutlich wurde, die transzendentale Analytik, indem sie nach dem transzendentalen Prinzip synthetischer Urteile fragt, das ipso facto das notwendige Kriterium der materialen Wahrheit ist.⁵⁵ Ein zentraler Bestandteil der kantischen Erklärung, wie Begriffe inhaltlich entspringen, ist seine Synthesis-Theorie. In §15 der B-Auflage der KrV bringt Kant den basalen Gedanken dieser Lehre pointiert zum Ausdruck: Für alle Verbindung, auch für die Feststellung von Widersprüchen (der Merkmale A und non-A) oder Widerspruchsfreiheit (der Merkmale A(B…) und A) muss A oder non-A erst einmal mit A verknüpft werden. Die Verbindung, sagt Kant dort, ist nämlich selbst eine Vorstellung, und zwar die einzige, „die nicht durch Objekte gegeben, sondern nur vom Subjekt selbst verrichtet werden kann“ (KrV B 130, Hervhb. SB). Damit stellt er heraus, dass die Verbindung der singuläre Fall einer Vorstellung ist, die nicht rezeptiv gegeben werden kann, sondern auf die spontane Seite der menschlichen Vorstellungsfähigkeit verweist. Kant klassifiziert die Synthesis als einen „Aktus der Spontaneität der Vorstellungskraft“, „eine Verstandeshandlung“ (KrV B 130). Diese zentrale Einsicht der kantischen Erkenntnistheorie, dass eine Verbindung im Vorstellen immer spontan erzeugt werden muss, lässt sich ohne Schwierigkeiten beweisen. Die gegenteilige Annahme führt nämlich in einen in Alle Anschauung als sinnliche beruht auf Affektion, also letztlich auf der Rezeptivität der Eindrücke. Zwei Fälle sind denkbar: eine empirische Anschauung vs. eine reine Anschauung. Der Unterschied liegt in der kausalen Affektion unserer Sinnlichkeit durch dem Dasein nach unabhängige Gegenstände im Kontrast zu der Selbstaffektion des Erkenntnisvermögens im inneren Sinn, die a priori statthat. Dementgegen beruhen Begriffe auf Funktionen. Eine Funktion ist „die Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (KrV A 68/B 93). Der einzige Gebrauch, der von Begriffen gemacht werden kann, ist das Urteilen (KrV A 68/B 93). Das oberste Prinzip aller synthetischer Urteile lautet: „ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung“ (KrV A 158/B 197, vgl. dazu Teil 4.3.2 und 5.2.4).
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finiten Regress und erweist sich damit als absurd: Zu erklären ist die komplexe Vorstellung (V*). Aus der Annahme einer komplexen Vorstellung folgt analytisch, dass V* einfache Vorstellungen (V1-n) enthält.Wäre die Vorstellung der Verbindung (*) dieser einfachen Vorstellungen, die zusammengenommen die komplexe Vorstellung ausmachen, gegeben, so wäre sie nicht die Verbindung der einfachen Vorstellungen zu einer komplexen Vorstellung V*, sondern eine weitere einfache Vorstellung (Vn+1). Um zu erklären, wie nun diese ganzen Vorstellungen (Vn-(n+1)) zu einer komplexen Vorstellung werden sollen, erscheint nun eine Vorstellung der Verbindung zweiter Stufe notwendig (**), um die Verbindung der einfachen Vorstellungen (Vn-(n+1), darunter (*), zu einer komplexen Vorstellung zu integrieren. Wenn die Vorstellung der Verbindung (**) nun wieder eine gegebene Vorstellung ist, dann stellt sich das Problem ad infinitum von neuem.⁵⁶ Die Vorstellung der Verbindung muss also eine Vorstellung anderer Art sein: nicht rezeptiv, sondern spontan. Ein Erkenntnisvermögen, das Komplexes vorzustellen vermag, muss also über die spontane Fähigkeit verfügen, zu synthetisieren. Sie ist ein „Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ (KrV B 130). Die Spontaneität des menschlichen Erkenntnisvermögens fasst Kant als ‚Verstand‘. Dieser ist Kant zufolge letztlich gar nichts anderes als das Vermögen, a priori zu verbinden, d. h. zu urteilen (vgl. KrV A 69/B 94). Denn die „Verbindung liegt […] nicht in den Gegenständen, und kann von ihnen nicht etwa durch Wahrnehmung entlehnt und in den Verstand dadurch allererst aufgenommen werden, sondern ist allein eine Verrichtung des Verstandes“ (KrV B 134 f.). In der allgemeinsten Bedeutung bezeichnet ‚Synthesis‘ „die Handlung, verschiedene Vorstelllungen zu einander hinzuzutun, und ihre Mannigfaltigkeit in einer Erkenntnis zu begreifen“ (KrV A 77/B 103). Wenn das Mannigfaltige empirisch ist, dann ist sie empirisch. Rein ist sie, wenn ein Mannigfaltiges a priori gegeben ist (vgl. KrV A 77/B 103). Kants Theorie der reinen Synthesis bildet den Kern der transzendentalen Logik. Eine reine Synthesis erfordert einerseits ein reines Mannigfaltiges, das a priori gegeben ist. Da alle Synthesis auf einem Ein Eine ähnliche Erläuterung findet sich bei Koch (vgl. Koch 2004: 146). Damit ist kein Sinnesdatenatomismus nahegelegt. Koch spielt zwei Versionen des Regressarguments durch: die erste ist auf einen Sinnesdatenatomismus à la Hume festgelegt, die zweite depotenziert die atomaren Sinnesdaten zu virtuellen. Auf diese Weise wird eindrücklich vor Augen geführt, dass Kants Zweistämmigkeitsthese bedeutet, dass die Sinnlichkeit zwar als ein irreduzibler, aber nicht als autarker Erkenntnisstamm zu gelten hat und die Achillesferse der Sinnesdatentheorien wie sie Hume oder Locke vertreten haben vor Augen geführt (vgl. Koch 2004: 145). Auf ähnliche Weise kritisierte auch Francis Bradley die Bündeltheorie von Objekten. Das unter dem Namen Bradleys Regress bekannt gewordene Problem, zeigt, dass die Annahme, Relationen seien eigenständige reale Entitäten, in einen infiniten Regress führt (vgl. Bradley 1893).
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heitsgrund beruht, erfordert eine reine Synthesis andererseits apriorische Gründe, wodurch die „Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen notwendig wird“ (KrV A 78/B 104). Die transzendentale Ästhetik weist mit dem reinen Mannigfaltigen von Raum und Zeit Ersteres aus. Die transzendentale Logik hat in ihrer ersten Abteilung, der transzendentalen Analytik, diese objektiven Einheitsgründe der reinen Synthesis auszuweisen, das heißt reine Begriffe zu deduzieren und ihre objektive Geltung zu rechtfertigen. Da die Sinnlichkeit als ursprüngliche und rezeptive Vorbedingung der Synthesis zu gelten hat, ist Kants Logik der Wahrheit abhängig von den Ergebnissen der transzendentalen Ästhetik: Damit etwas Objektives synthetisiert werden kann, muss zunächst ein sinnliches Mannigfaltiges gegeben sein. Die Sinnlichkeit präsentiert die Erscheinung, den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34), notwendigerweise als ein raumzeitlich Mannigfaltiges. Raum und Zeit sind Möglichkeitsbedingungen einer empirischen Anschauung und als Formen der Sinnlichkeit selbst mitsamt ihrer Mannigfaltigkeit (räumliche und zeitliche Dimensionen) a priori vorstellbar in reiner Anschauung. Kants Analyse des Erkenntnisvermögens erweist die sinnliche Vorstellung, die etwas hier oder dort, früher oder später von mir, dem Subjekt dieser Vorstellungen, Verschiedenes präsentiert, als die erste Möglichkeitsbedingung des Objektgedankens. Für die transzendentale Logik, die zweite Abteilung der Elementarlehre der KrV, ergibt sich daraus, dass sie mit dem reinen Mannigfaltigen von Raum und Zeit über einen apriorischen Inhalt verfügt. Damit ist das Fundament gelegt, um zu erklären, wie Wahrheit realiter möglich ist. Kants entscheidende neue epistemologische Einsicht gegenüber Empirismus und Rationalismus besteht darin, dass Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit ursprünglich reine Anschauungen sind. Die objektive Gültigkeit reiner Begriffe basiert auf der reinen Synthesis a priori. Mit dem Ausweis, dass Raum und Zeit die Formen der menschlichen Sinnlichkeit sind, die selbst zum Gegenstand reiner Anschauung gemacht werden können (vgl. 3.2.1), ist nicht nur ein Einwand gegen den Rationalismus, sondern auch gegen den Empirismus erhoben. Der Empirismus verfügt nämlich nur über „logische Begriffe“ (vgl. KrV A 854/B 882). Er ist außer Stande die objektive Geltung reiner Begriffe zu rechtfertigen, weil er in seiner Theoriebildung von faktischer Erfahrung ausgeht. Sein methodischer Ansatz versperrt ihm die Einsicht in die Möglichkeitsbedingungen dieser Erfahrung. Ohne ein reines sinnliches Mannigfaltiges erscheinen Begriffe, die den Funktionen des Verstandes korrespondieren, leer. Rationalismus und Empirismus sind beide methodologisch außer Stande, die objektive Geltung von Begriffen, die nicht der Wahrnehmung entnommen werden können, zu rechtfertigen. Beide begreifen den Unterschied von sinnlichen und intellektuellen Vorstellungen als graduell und verfügen in Folge ihrer monisti-
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schen Konzeption des Erkenntnisvermögens über bloß „logische“ Begriffe. Im Unterschied zum Empirismus kann dem Rationalismus allerdings die Notwendigkeit einer Rechtfertigung des Anspruchs auf objektive Geltung „logischer“ oder reiner (Kant) Begriffe gar nicht in den Sinn kommen, weil der Rationalismus Logisches und Ontologisches generell eng führt. Dementgegen deutet sich an, wie es Kants dualistische Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens ermöglicht, die objektive Geltung reiner Verstandesbegriffe zu rechtfertigen: indem gezeigt wird, dass die Erkenntnis (eine wahrheitsvalenten objektiven Perzeption) den wechselseitigen Verweis von Anschauung und Begriff erfordert. Zunächst sind demnach reine Formen der Sinnlichkeit, und damit reiner Anschauungen, auszuweisen (transzendentale Ästhetik). Dann kann nach den Regeln zur reinen Synthesis, d. h. reinen Begriffen a priori, gefragt werden (transzendentale Logik). Reine Verstandesformen als Regeln der Bezugnahme auf Objektives a priori sind Bedingungen der materialen Wahrheit. Es ist ausgeschlossen, diese durch eine Phänomenologie des empirischen Verstandes auszuweisen. Die notwendige Folge einer bloß empirischen Ableitung der Kategorien ist die WahrheitsskepsisE: Die logische Form des Denkens komplexer objektiver Vorstellungen kann im Empirismus mangels einer reinen Form der Anschauung nicht als objektiv gültig ausgewiesen werden und ist daher als subjektiv-zufällig zu qualifizieren. Kant hingegen beansprucht im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie, die eine „phaenomologia generalis“ (AA 10:98) der reinen statt der empirischen Vernunft ist, die Formen der Synthesis als objektiv gültig ausgewiesen zu haben. „Gedanken ohne Inhalte sind leer“ (KrV A 51/B 75), d. h. ohne Gegenstand. Allerdings sind „Anschauungen ohne Begriffe […] blind“ (KrV A 51/B 75). Zur Erklärung der Erkenntnis ist daher auch deren zweiter „Stamm“ zu betrachten. Die Sinnlichkeit ist zwar mit der transzendentalen Ästhetik als eigenständige kognitive Instanz (als ein „Erkenntnisstamm“) erwiesen. Sie reicht aber für sich genommen nicht hin, die Erkenntnis als wahrheitsvalente Repräsentationen von Objekten zu erklären. Diese Erklärung erfordert es, den Verstand und seine (reinen) Begriffe zu berücksichtigen. Die reinen Formen des Verstandes zur Objektreferenz sind Gegenstand des folgenden Abschnitts.
4.2.3 Die „metaphysische Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe Die formale Logik hat es nur mit dem „Gebrauch der Urteile untereinander“ (KrV A 71/B 96), nicht mit den Begriffen ihrem Inhalt nach zu tun (vgl. AA 9:104, Anm. 2). Die Prinzipien der formalen Logik sind darum nur Prinzipien der denkimmanenten logischen Wahrheit. Wenn nun in der Transzendentalphilosophie der
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Beitrag des Denkens zur Erkenntnis betrachtet werden soll, das bedeutet das Denken als eine Leistung, die den Gegenstandsbezug ermöglicht, dann darf die Betrachtung nicht auf die Untersuchung von Begriffsverhältnissen beschränkt bleiben. Stattdessen sind die Funktionen von Begriffen in Urteilen im Hinblick darauf zu untersuchen, „was diese in Ansehung des gesamten Erkenntnisses für einen Gewinn“ verschaffen (vgl. KrV A 72/B 97).⁵⁷ Die transzendentale Logik untersucht also die Begriffsverwendung als die spontane Leistung des Erkenntnisvermögens, welche die Bezugnahme auf Objektivität ermöglicht. Sie abstrahiert „nicht von allem Inhalt der Erkenntnis“ (KrV B 80), sondern „hat ein Mannigfaltiges der Sinnlichkeit a priori vor sich liegen, welches die transzendentale Ästhetik ihr darbietet, um zu den reinen Verstandesbegriffen einen Stoff zu geben, ohne den sie ohne allen Inhalt, mithin völlig leer sein würde“ (KrV A 76 f./B 102). Als die Theorie von den Prinzipien der reinen Synthesis handelt die transzendentale Logik von der materialen Wahrheit. Der Ausweis der Kategorien als reine und nicht bloß logische Verstandesbegriffe, erfordert zunächst gegen den Empirismus zu zeigen, dass diese Begriffe der Tätigkeit des Verstandes a priori entspringen, um dann später – gegen beide, Empirismus und Rationalismus – zeigen zu können, dass sie genuin intellektuelle Bedingungen der Möglichkeit dafür sind, etwas Objektives vorzustellen (transzendentale Deduktion). Diesen ersten Nachweis führt Kant durch eine „metaphysische Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe:⁵⁸ Um zu zeigen, dass der reine Verstand unabhängig von der Sinnlichkeit eine Quelle objektiver Vorstellungen spezifischer Art (Begriff) ist, leitet Kant aus den transzendentallogischen Funktionen des Verstandes zwölf reine Verstandesbegriffe ab. Reinhard Brandt hat vorgeschlagen, Kants Abkehr vom traditionellen Primat des Begriffs vor dem Urteil bei der Entwicklung der reinen Verstandesbegriffe aus den Urteilsfunktionen (Verstandesakten) durch seine Anlehnung an Locke zu erklären (vgl. Brandt 1981: 56).⁵⁹ Allerdings ist die Ableitung der Verstandesbe-
Diese besondere Aufgabe der transzendentalen Logik stellt auch Scheffer heraus (vgl. Scheffer 1993: 217 f.). Ihre ‚transzendentale Deduktion‘ wird erweisen, sodass sie Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und darum objektiv real sind (vgl. Kapitel 4, bes. 5.2.4). Kants Zweistämme-These ist vollumfänglich erst mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe begründet. Ebenso wird auch erst in diesem Beweisteil nachgewiesen, dass die Kategorien objektiv gültig sind. Locke geht vom Vergleich beliebiger Ideas aus (Identität und Differenz), die im zweiten Schritt in ihrem relationalen Verhältnis erwogen werden. Dann folgt drittens der Übergang zur Wirklichkeit im Begriff der Substanz (Co-existence) und schließlich wird im letzten Schritt die Modalität der Existenz (real Essence) erwogen (vgl. Locke, Essay IV.i.4– 7). Brandt weist darauf hin, dass bei Kant wie bei Locke die Substanz an dritter Stelle und die Modalität des Daseins an vierter
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griffe aus Verstandesakten der kantischen Transzendentalphilosophie aus dem empiristischen Setting herausgelöst. Sie ist kein psychologischer, in der Zeit stattfindender Prozess, sondern logisch, d. h. a priori, zu denken. Die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Lockes und Kants Konzeption sollen im Folgenden kurz zur Sprache kommen, um dieses drohende Missverständnis auszuräumen. Locke beansprucht im ersten Buch des Essays die Innatisten und ihre Lehre von den angeborenen Begriffen widerlegt zu haben. Statt von angeborenen Begriffen auszugehen, rekurriert Locke auf die erwähnten ursprünglichen Verstandesakte (acts of mind), um zum höchsten Erkenntnisprinzip aufzusteigen. Eben diese drei Verstandesakte (Komparation (Locke: compounding), Reflexion, Abstraktion) führt Kant in der Logik als die drei Handlungen des Verstandes in der Erzeugung von Begriffen an.⁶⁰ Während aber Locke die Zeit als die generelle Form des Erkenntnisvermögens betrachtet und infolgedessen die Selbstapperzeption des Subjekts auf die Integration eines identischen Ich in verschiedenen Zeitphasen beschränkt (vgl. Locke, Essay II.xiv, II.xxvii.23),⁶¹ überarbeitet Kant im Übergang von De Mundi zur KrV seine Lehre von Raum und Zeit (transzendentale Ästhetik). Nach der verbesserten Theorie der KrV ist die Zeit einzig und allein Form der Sinnlichkeit – nicht die des gesamten menschlichen Geistes, also auch die des Verstandes, wie noch in De Mundi. In dieser Präzisierung besteht der wesentliche Fortschritt bezüglich der Raum-Zeit-Theorie von De Mundi zur Position der transzendentalen Ästhetik.⁶² Die Formen des Denkens und ihr Prinzip sind nach dieser neuen Konzeption unabhängig von der Sinnlichkeit. Die transzendentale Erkenntnis der KrV weist die dualistische Erkenntniskonzeption aus, die Kant im Gegensatz zu Locke und Hume in den Stand setzt, das apriorische Prinzip der synthetischen Urteile anzugeben. Entgegen dem Rationalismus löst Kant – analog zu Locke – die Kategorien aus ihrem logisch-ontologischen Vorgegebensein – etwa als angeborene oder eingepflanzte Ideen – und leitet sie aus ursprünglichen Verstandesfunktionen ab. Ihr Prinzip, die transzendentale Einheit der Apperzeption, ist ein apriorisches
steht. Die Tatsache, dass die vier Schritte just in dieser Form aufeinander folgen, könnte so verstanden werden, dass sich in ihnen eine prozessuale Annäherung des Gedanken an die Wirklichkeit vollzieht (vgl. Brandt 1981: 56). Durch drei Verstandesakte (Komparation, Reflexion und Abstraktion) erzeuge der Verstand Begriffe ihrer Form nach, erklärt Kant dort in §6 (vgl. AA 9:94). Brandt hat die Vorbereitung kantischer Gedanken bei Locke untersucht (vgl. Brandt 1981: hier: 55). Schon in dem bereits erwähnten Brief an Herz vom 21. 2.1772 vertritt Kant eindeutig diese neue Position (vgl. AA 10:134).
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transzendental-logisches Prinzip, kein empirisches, psycho-logisches Prinzip. Denn die Zeit ist Form der Sinnlichkeit und liegt als reine Form der Anschauung a priori als Möglichkeitsbedingungen aller faktischen Erfahrung zugrunde. Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist hingegen das oberste Prinzip des spontanen Verstandes, das als spontane Handlung eine Anwendung der transzendentallogischen Formen auf sinnliches Mannigfaltiges anleitet. Dies allerdings a priori – als reiner Verstandesakt.⁶³ Die Syllogistik ist in Kants Augen seit Aristoteles Zeiten eine reife Wissenschaft (vgl. KrV B viii). Auf die formale Logik, die in seinen Augen eine „schon fertige, obgleich noch nicht ganz von Mängeln freie Arbeit“ ist, kann er sich daher stützen, um „eine vollständige Tafel reiner Verstandesfunktionen, die aber in Ansehung alles Objekts unbestimmt [sind]“, zu erhalten (AA 4:323 f.). Entgegen später aufkommenden Vermutungen betont er in der KrV die Systematik seiner Urteils- und der entsprechenden Kategorientafel. Kant insistiert, diese sei aus dem Urteilsvermögen, dem Verstand, „erzeugt [worden], und nicht rhapsodistisch, aus einer auf gut Glück unternommenen Aufsuchung reiner Begriffe entstanden“ (KrV A 80 f./B 106). Ihre Systematik ist weitestehend aus der klassischen Syllogistik zu erklären.⁶⁴ Kant nennt die reinen Verstandesbegriffe im Anschluss an Aristoteles „Kategorien“ und präsentiert sie in der transzendentalen Logik als die Begriffe des Denkens von Gegenständen, deren objektive Geltung sich an der Anschauung a priori zu erweisen hat.⁶⁵ Sie entsprechen den Urteilsformen, die – abgesehen von zweien – aus der Syllogistik zu entnehmen sind. Die zehn Weisen der Verbindung von Begriffen in Urteile, die die Syllogistik als formallogische Lehre des Schließens erfasst, sind: Die Kategorien der Relation:Substanz-Akzidenz, Kausalität und Dependenz, Gemeinschaft.
Denn der Obersatz eines Syllogismus ist entweder ein kategoriales, ein hypothetisches oder ein disjunktives Urteil. Brandt erklärt Kants Lokalisation der
Auch in den Prolegomena weist Kant darauf hin, dass er im Urteilen das Prinzip der reinen Verstandesbegriffe entdeckt habe, die sich bloß als „Momente unterscheide[n], das Mannigfaltige der Vorstellung unter die Einheit des Denkens überhaupt zu bringen“ (vgl. AA 4:323, vgl. dazu auch die Besprechung der transzendentalen Deduktion in 5.2.4). In der transzendentalen Dialektik zeigt Kant ferner, dass auch die transzendentalen Ideen keine vorgefundenen Totalitätsbegriffe sind, sondern dem Schlussverfahren der Vernunft als Begriffe aus Notionen entspringen (vgl. Kapitel 4). Koch und Brandt haben darauf hingewiesen, vgl. (Koch 2004: 126 – 134; Brandt 1991: 65). Vgl. die transzendentale Deduktion in 5.2.
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Schlusslehre unter dem Titel ‚Relation‘ in seiner Untersuchung zur Urteilstafel mit dem Hinweis, dass „das Verhältnis, das hier als Funktion des Verstandes bestimmt wird, so geartet ist, daß es identisch in die Schlußlehre übernommen wird und sie damit vorstrukturiert, d. h. die Plätze schafft, an denen die Urteilskraft mit einem bestimmten Fall einsetzten und die Vernunft ihre Konklusion ziehen kann“ (Vgl. Brandt 1991: 65 f.). Es soll also nicht behauptet werden, dass das kategorische, hypothetische oder disjunktive Urteil die korrespondierenden Schlüsse schon enthalte und der selbstständige Akt der Urteilskraft (Subsumtion) und das Ziehen des Schlusses als Aktivität der Vernunft entfielen; sondern dass in den Relationen des Urteils, in welche die Minorprämisse und die Konklusion einbezogen sind, die Möglichkeiten vorbestimmt sind, die durch Urteilskraft und Vernunft im konkreten Fall realisiert werden. Zwei Kategorien der Quantität: Einheit und Vielheit.
Denn das Subjekt eines kategorischen Urteils ist allgemein oder besonders.⁶⁶ Einzelne Urteile verhalten sich, formallogisch betrachtet, wie allgemeine und machen daher keine besondere formallogische Urteilsform aus. Unter dem Titel der Quantität wird das begriffliche Subordinationsverhältnis durch die Extension des Subjektbegriffs gemäß der Bestimmung des Prädikatbegriffs bestimmt (vgl. Brandt 1991: 63). Zwei Kategorien der Qualität: Realität und Negation.
Denn in kategorischen Urteilen wird das Prädikat dem Subjekt zu- oder abgesprochen. Limitative Urteile spielen keine eigenständige Rolle in formalen Schlüssen. Die Kategorien der Modalität: Möglichkeit-Unmöglichkeit, Dasein-Nichtsein, NotwendigkeitZufälligkeit.
Denn in einem Syllogismus gelten die Prämissen assertorisch, die Teilsätze eines hypothetischen Urteils problematisch und die Konklusion, relativ zu den Prämissen, apodiktisch. Unter transzendentalem Gesichtspunkt sind noch zwei Urteilsformen und entsprechende Kategorien zu ergänzen: (a) die Form einzelner Urteile und ent-
Hypothetische und disjunktive Urteile setzen eigentlich kategorische Urteile in ein Verhältnis vgl. KrV A 73/B 98.
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sprechend die Allheit als dritte Kategorie der Quantität; und (b) die Form limitativer Urteile und entsprechend die Limitation als dritte Kategorie der Qualität. Ad (a): Die einzelnen Urteile sind in der transzendentalen Logik als besondere Urteilsform aufzuführen, obgleich sie in der formalen Logik „zu Recht“ wie die allgemeinen Urteile behandelt werden (vgl. KrV A 71/B 96). Als Begründung führt Kant an, dass sie der Größe nach im Vergleich mit anderen Erkenntnissen wesentlich von allgemeinen Urteilen unterschieden seien (vgl. KrV A 71/B 96). In der formalen Logik werden die einzelnen Urteile den allgemeinen legitimerweise zugeschlagen, weil die Folgerungsbeziehungen einzelner Urteile dieselben sind, wie die allgemeiner Urteile. Ob die Sterblichkeit in einem allgemeinen Urteil von allen Menschen behauptet wird (‚Alle X sind Y‘) oder nur von einem Menschen in einem einzelnen Urteil (‚ Dieses X ist Y‘), macht hinsichtlich der formallogischen Folgerungsverhältnisse keinen Unterschied. Denn in beiden Fällen gilt das Prädikat ohne Ausnahme vom Subjekt. Der Unterschied zwischen beiden Urteilsformen wird erst in der transzendentalen Logik relevant. Denn sie abstrahiert „nicht von allem Inhalt der Erkenntnis“ (KrV A 55/B 80), sondern betrachtet „das Urteil auch nach dem Werte oder Inhalt […] und was diese[s] in Ansehung des gesamten Erkenntnisses für einen Gewinn verschafft“ (KrV A 72/B 97), unter der Voraussetzung, dass ein Mannigfaltiges der Anschauung gegeben sei.⁶⁷ In ihrem Verweis auf die Anschauung reicht die transzendentale Logik bis an die Gegenstände hin. In dieser inhaltlichen Logik (der Lehre vom objektiven Denken) macht es einen Unterschied, ob das Prädikat von einem Gegenstand (einzelne Urteile) oder von allen Gegenständen gilt (allgemeine Urteile). In der transzendentalen Logik, die nicht von den Regeln des wahrheitswerterhaltenden Schließens handelt, sondern von Regeln der begrifflichen Bestimmung der objektiven Realität, macht es allerdings einen Unterschied, ob ein Prädikat von einem Gegenstand (‚Dieses X ist Y‘) oder von allen Gegenständen (‚Alle X sind Y‘) ausgesagt wird. Denn die Bedingung, in einem Fall von dem Subjekt X das Prädikat Y auszusagen (‚Dieser Schwan ist weiß‘), sind andere als die Bedingungen von allen X generell Y auszusagen (‚Alle Schwäne sind weiß‘). Prinzipiell gilt ein Merkmal entweder von allen Gegenständen, einigen oder nur von einem Gegenstand. Erst damit sind die transzendentallogischen Optionen erschöpft. Da ein wesentlicher Unterschied
Dementgegen vertritt Lorenz Krüger die Auffassung, Kant begreife die Urteilstafel als Verzeichnis der formallogisch zu unterscheidenden Formen von Begriffen in Urteilen (vgl. Krüger 1968: hier: 346 – 153). Scheffer korrigiert Krüger zu Recht mit dem Hinweis, dass die Aufnahme der Formen einzelner und limitativer Urteile in die Urteilstafel nur unter transzendentallogischen Gesichtspunkten erklärt werden kann, d. h. unter Voraussetzung der Möglichkeit allgemeiner Urteilsformen auf ein gegebenes Mannigfaltiges einer Anschauung überhaupt (vgl. Scheffer 1993: 245).
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zwischen einzelnen und allgemeinen Urteilen im Hinblick auf die Extension des Prädikats hinsichtlich der Gesamtheit der angeschauten Gegenstände besteht, ist die Urteilstafel der transzendentalen Logik um die Form einzelner Urteile zu ergänzen. Dieser Urteilsform ordnet Kant die Kategorie der Allheit zu (vgl. KrV A 71/B 96). Ad (b): Außerdem sind in der transzendentalen Logik die limitativen Urteile als gesonderte Urteilsform anzuführen, die in der formalen Logik keiner besonderen Berücksichtigung bedürfen. In formallogischer Behandlung werden sie in ihrem positiven Gebrauch zu Recht den affirmativen Urteilen beigezählt, in ihrem negativen Gebrauch hingegen den verneinenden. Denn unter Abstraktion von allem Inhalt spielt es keine Rolle, ob das Prädikat verneinend (nicht-X) oder bejahend (X) ist. Relevant ist hier nur, ob es dem Subjekt zu- oder abgesprochen wird. In der transzendentalen Logik sind limitative Urteile jedoch gesondert zu führen, denn hinsichtlich der inhaltlichen Bestimmung von Gegenständen macht es einen Unterschied, ob in einem Urteil ein Gegenstand außerhalb der Sphäre eines Prädikats gesetzt oder dem Subjekt dieses Prädikat abgesprochen wird. Kant erläutert den Unterschied an einem Beispiel: Das Urteil ‚Die Seele ist nichtsterblich.‘ ist ein affirmatives Urteil. Mit ihm ist aber die Realität nicht positiv bestimmt, sondern nur ein Fehler verhindert. Denn limitative Urteile sind nur beschränkend, d. h. sie setzen einen Gegenstand (hier: Die Seele) nur außerhalb der Sphäre eines Begriffs (hier: des Sterblichen), indem sie angeben, zu welcher Klasse der Gegenstand nicht gehört. Damit ist die „unendliche Sphäre alles Möglichen“ nur beschränkt, ohne dass der fragliche Begriff (die Seele) affirmativ bestimmt wäre (vgl. KrV A 72/B 97). Die Sphäre seiner möglichen Bestimmungen ist immer noch unendlich, weil noch keine einzige positive Bestimmung gesetzt wurde, sondern nur ausgesagt, was als positive Bestimmung nicht in Frage kommt. Entgegen der mit den affirmativen Urteilen verbundenen Kategorie der Realität ist mit den limitativen ein in der transzendentalen Logik eigens zu führendes Moment der transzendentallogische Bestimmung der objektiven Realität verbunden, nämlich die Limitation. Unter Ergänzung dieser aus der Syllogistik entnehmbaren Formen um die Formen des einzelnen und des limitativen Urteils ergibt sich Kants Urteilestafel und, dieser entsprechend, die Tafel der Kategorien als Tafel der reinen transzendentallogischen Begriffe, die dem transzendentallogischen Verstandesgebrauch entsprungen sind. Der mit ihrer metaphysischen Deduktion etablierte Anspruch, aus den Urteilsformen a priori reine, objektiv gültige Begriffe gewonnen zu haben, statt bloß aus der Erfahrung derivierte „logische“ Begriffe, wie der Empirismus annehmen muss (vgl. KrV A854/B882), ist allerdings noch zu rechtfertigen. Die metaphysische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zeigt für sich genommen lediglich, dass es den transzendentallogischen Formen
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entsprechende „S t a m m b e g r i f f e des reinen Verstandes“ (KrV A 81/B 107) (Kategorien) gibt, die als synthetische Einheitsgründe des Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt „a priori auf Objekte gehen“ (KrV A 79/B 105). Die Kategorien erklärt Kant dementsprechend als die „Begriffe von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der l o g i s c h e n Fu n k t i o n e n zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (KrV B 128). Ihre objektive Gültigkeit weist Kant in der KrV durch eine „transzendentale Deduktion“ eigens aus, statt sie wie Aristoteles und der Rationalismus einfach zu unterstellen. Kant moniert außerdem contra Aristoteles, dieser habe die Kategorien mangels eines Prinzips nur „rhapsodistisch […] auf gut Glück“ aufgerafft und sich daher ihrer Vollzähligkeit nie sicher sein können (vgl. KrV A 81/B 106 f). Ferner kritisiert er, dass Aristoteles sogar einige Modi der reinen Sinnlichkeit (Ort-/Lageund Zeitbestimmungen [quando, ubi, situs, prius simul]) und der empirischen Sinnlichkeit (motus) den Kategorien zugeschlagen habe (vgl. KrV A 81/B 106 f.). Kants transzendentale Erkenntnis sichert hingegen den Unterschied sinnlicher und begrifflicher Vorstellungen von Gegenständen und sondert apriorische von empirischen Vorstellungen. Das System der reinen Verstandesbegriffe wird in der transzendentalen Logik aus dem Verstand und dessen Prinzip der transzendentalen Einheit der Apperzeption als Formen der Verbindung von Begriffen in Urteilen (transzendentallogischen Urteilsformen) gewonnen. Damit werden die Momente der begrifflichen Bezugnahme auf Objekte dem kantischen Anspruch nach vollständig und systematisch erfasst. Festzuhalten ist, dass Kant durch die metaphysische Erörterung von Raum und Zeit einerseits und die metaphysische Deduktion der Kategorien andererseits die Grundlage schafft, um die Wahrheitsmöglichkeit der menschlichen Erkenntnis als Zusammenspiel zweier „Erkenntnisstämme“ – Sinnlichkeit und Verstand – zu erklären. Gezeigt ist nun, dass das menschliche Erkenntnisvermögen mit den sinnlichen Anschauungen und den diskursiven Begriffen über zwei irreduzibel heterogene Arten objektiver Vorstellungen verfügt. Die strukturelle Heterogenität von Anschauung und Begriff ist darauf zurückzuführen, dass Anschauungen im Kontrast zu Begriffen auf Affektion beruhen und darum Einzelnes vorstellen. Begriffe hingegen beruhen auf Funktionen, d. h. auf Regeln der Synthesis und sind darum Allgemeinvorstellungen, die sich nur indirekt auf Gegenstände beziehen (vgl. KrV A 68/B 93 u. a.).⁶⁸ Darin liegt ihre „Grundverschiedenheit“, aus der „die Begriffe sind distributive Vorstellungen , die „einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal)“ zukommen, indem sie diese „unter sich“ enthalten (vgl. KrV B 39 f.); dementgegen beziehen sich Anschauungen unmittelbar auf Gegenstände und enthalten eine „unendliche Menge von Vorstellungen“ nicht wie der Begriff
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jeweils eigenständige Erkenntnisbedeutung sowie die Irreduzibilität von Anschauung und Begriff [resultiert]“ (Heidemann 2002: 89). Die wesentliche Disparität von raumzeitlicher Anschauung und diskursivem Begriff verweist auf einen metaphysischen Unterschied zwischen Sinnlichkeit und Verstand. Der metaphysische Unterschied zwischen beiden liegt darin, dass die Sinnlichkeit ein Vermögen der Rezeptivität, der Verstand hingegen ein Vermögen der Spontaneität ist. Durch die Aufklärung ihres apriorischen Ursprungs (genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis) aus zwei verschiedenen „Erkenntnisstämmen“ ist der Unterscheid zwischen Anschauung und Begriff als transzendental statt bloß logisch (Deutlichkeitsgrade) erwiesen: Begriffe entspringen der Spontaneität des Erkenntnisvermögens (dem Verstand), Anschauungen hingegen der Rezeptivität des Erkenntnisvermögens (der Sinnlichkeit). Sinnlichkeit und Verstand sind „Erkenntnisstämme“, da sich weder Anschauungen auf Begriffe reduzieren lassen noch umgekehrt Begriffe auf Anschauungen. Aufgrund der strukturellen Heterogenität beider Arten objektiver Vorstellungen und der Tatsache, dass beide gleichermaßen essentieller Bestandteil der Erklärung der menschlichen Erkenntnis sind, d. h. der wahrheitsvalenten Bezugnahme auf einen dem Dasein nach unabhängigen Gegenstand, ergeben sich Sinnlichkeit und Verstand als deren zwei „Stämme“.⁶⁹ Kants Erklärung der Wahrheitsmöglichkeit der menschlichen Erkenntnis als Zusammenstimmen von Denken und Anschauen basiert also wesentlich auf dem Nachweis, dass nicht nur das menschliche Denken über notwendige und daher a priori einsehbare Formen verfügt, sondern auch das menschliche Anschauen. Teil 4.3 thematisiert die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als notwendige Voraussetzung, um das wahrheitsskeptische Problem zu lösen.
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus Die skeptische Herausforderung besteht darin, Kriterien der materialen Wahrheit, d. h. der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, a priori anzugeben. Mit der dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens kann Kant dieser Herausforderung begegnen. Seine Theorie der Sinnlichkeit weist aus, dass Raum und Zeit als deren Formen a priori erkennbar sind in empfindungsfreier
„unter sich“, sondern als Einschränkungen des Raumes oder der Zeit „in sich“ (vgl. Heidemann 2002: 86). Dazu Kapitel 4.
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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reiner Anschauung. Auf dieser Grundlage kann der Nachweis geführt werden, dass der Verstand selbst ein Ursprung reiner Begriffe ist und generelle Kriterien für die wahrheitsdifferente Bezugnahme auf Objektivität a priori ausgewiesen werden. Bevor das zentrale Argument der KrV, die „transzendentale Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe, in Kapitel 4 besprochen wird, soll die kantische Lösung des Wahrheitsproblems als Abschluss des dritten Kapitels abstrakt entwickelt und gegenüber den skeptizistischen Kontrapositionen von Empirismus und Rationalismus profiliert werden. Zu diesem Zweck wird in 4.3.1 der mit der transzendentalen Ästhetik etablierte transzendentale Idealismus thematisiert und in 4.3.2 die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus gegenüber den metaphysischen Strategien, die Übereinstimmung zu erklären, abgegrenzt. In 4.3.1 bildet den kontrastiven Hintergrund die janusköpfige Kontraposition des empirischen Idealismus und transzendentalen Realismus. Inwiefern mit der Erkenntnistheorie des transzendentalen Idealismus der Ausweg aus der Wahrheitsskepsis eröffnet wird, soll in 4.3.2 zur Sprache kommen, indem die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus metaphysisch-spekulativen Konzeptionen entgegengesetzt wird, die immer zur Skepsis einladen. Damit sind Eckpfeiler Kants antiskeptischer Erkenntnistheorie gesetzt und die theoretischen Wege verzeichnet, in denen sich die antiskeptische Argumentation der KrV ihre Bahn bricht, um die menschliche Vernunft zwischen Empirismus und Rationalismus glücklich hindurch zu manövrieren.
4.3.1 Der transzendentale Idealismus In der transzendentalen Dialektik präsentiert Kant im Kontext der Auflösung des kosmologischen Streits seinen ursprünglich nur als Hypothese angenommenen „Lehrbegriff“ des transzendentalen Idealismus als Ergebnis seiner erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie (vgl. KrV B xx): [A]lles, was im Raume oder der Zeit angeschauet wird, mithin alle Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung, [sind] nichts als Erscheinungen, d. i. bloße Vorstellungen, die, so wie sie vorgestellt werden, als ausgedehnte Wesen, oder Reihen von Veränderungen, außer unseren Gedanken keine an sich gegründete Existenz haben. (KrV A 490 f./B 518 f.)
Die Unterscheidung zwischen ‚Dingen an sich‘ und ‚Erscheinungen‘ hat – dem epistemologischen Charakter der KrV entsprechend – einen erkenntniskritischen Sinn. In Frage steht dabei die epistemische Zugänglichkeit des Realen für das menschliche Bewusstsein. Diesen epistemologischen Sinn des transzendentalen Idealismus gilt es offenzulegen.
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Prauss hat darauf aufmerksam gemacht, dass Kant selbst statt der Formel ‚Ding an sich‘, die sich als Standardform in der Kant-Forschung etabliert hat, viel häufiger die Form ‚Ding an sich selbst‘ als Verkürzung von ‚Ding an sich selbst betrachtet‘ verwendet (vgl. Prauss 1989, bes. §1; hier: 20). Diese Wendung entspricht den lateinischen Ausdrücken ‚res per se considerata‘ oder ‚res per se spectata‘, die aus der scholastischen Tradition bekannt sind und in der deutschen Schulmetaphysik im 18. Jahrhundert gebräuchlich waren. In der deutschen Schulmetaphysik Leibniz-Wolff’scher Provenienz wurde mit diesen Ausdrücken an den scholastischen Begriff der ‚consideratio absoluta‘ angeknüpft. Ihren die kantische Transzendentalphilosophie auszeichnenden epistemologischen Sinn erhält die Unterscheidung erst mit der kritischen Philosophie. In De Mundi hatte Kant den Unterschied zwischen Phaenomena und Noumena noch im Sinne des Rationalismus gefasst und behauptet, dass die sinnlichen Erkenntnisse nur Vorstellungen der Dinge sind, wie sie erscheinen, die Verstandeserkenntnisse aber Vorstellungen der Dinge, wie sie sind“ (vgl. AA 2:392). Contra Wolff moniert Kant allerdings schon in dieser Schrift, dass eine bloß logische Abgrenzung zwischen sinnlichen und Verstandeserkenntnissen nicht hinreiche, den Unterschied zwischen Phaenomena und Noumena zu sichern (vgl. AA 2:395).⁷⁰ Den spezifischen transzendentalphilosophischen Sinn, der für die Interpretation der KrV maßgebend ist, gewinnt diese Unterscheidung in Kants erkenntniskritischem Räsonieren nach 1770. Während die scholastische Ontologie mit der ‚consideratio absoluta‘ die Natur und deren Gegenstände ihrer internen (Kant sagt „innere Bestimmungen“ [KrV A 283/B 339 u. a.]) und absoluten Möglichkeit nach zu betrachten vorgibt und als wahr nur das gelten lässt, was der Natur als solcher zukommt, bricht Kant in seiner kritischen Philosophie mit diesem Ideal einer essentialistischen Ontologie, denn die erkenntniskritischen Resultate der KrV erweisen dieses Ideal als eine bloße „Grille“ (KrV A 277/B 333).⁷¹ Gemäß der KrV ist die Unterscheidung zwischen ‚Ding an sich selbst betrachtet‘ und ‚Erscheinung‘ auf zwei Ebenen vorzunehmen, nämlich zum einen im empirischen Verstande und zum anderen in der transzendentalphilosophischen Reflexion. Die erste Differenzierung ist alltäglich vertraut: Ein sinnlich wahrnehmbares Objekt, z. B. eine Rose, gilt „im empirischen Verstande für ein Ding an sich selbst“ (KrV A 29/B 45), weil der Gegenstand, die Rose, zu unterscheiden ist von der Weise, wie sie sich einzelnen empirischen Subjekten als empirische Erscheinung präsentiert. Die spezifische empirische Erscheinung eines Gegen Zu den Sinnen der Unterscheidung zwischen Phaenomena und Noumena in der KrV (vgl. auch Willaschek 1998). Der Ausdruck ‚Grille‘ wurde im intellektuellen Milieu des 18. Jahrhunderts im Sinne von ‚Einbildung‘, ‚Hirngespinst‘, ‚Täuschung‘ gebraucht (vgl. Grimm 1862: Bd. 9, Sp. 321).
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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stands ist abhängig von den „verschiedenen Lagen zu den Sinnen“ des wahrnehmenden Subjekts (vgl. KrV A 45/B 63), etwa ob sie aus der Nähe oder Ferne, von hier oder dort wahrgenommen wird. Die sinnlich wahrnehmbaren Dinge sind etwas Eigenständiges, Objektives, „auch wenn sie jedem Auge anders erscheinen mögen“ (KrV A 30/B 45). Erträumte Dinge hingegen haben keine Eigenständigkeit und sind daher nicht objektiv, sondern durch und durch subjektiv. Diese Dinge an sich selbst der empirischen Betrachtung – also die Erkenntnisobjekte, unabhängig von der Perspektive des wahrnehmenden Subjekts beurteilt – sind in transzendentalphilosophischer Reflexion einerseits als ‚Erscheinungen‘ und zugleich andererseits als ‚Dinge an sich selbst‘ zu denken. Allerdings bleibt die zweite Betrachtungsart in der Spekulation eine negative Abstraktion. Da die Objekte in der theoretischen Erkenntnis nicht realiter erzeugt, sondern im diskursiven Denken wahr oder falsch bestimmt werden, werden die empirischen Dinge an sich selbst in der transzendentalphilosophischen Reflexion als Erscheinungen erkannt. Die transzendentale Ästhetik hat die Formen der Sinnlichkeit, Raum und Zeit, als erste Möglichkeitsbedingung des Objektgedankens erwiesen, sodass das Objekt in der transzendentalphilosophischen Analyse zunächst als ein raumzeitliches Mannigfaltiges zu bestimmen ist.⁷² Nichts ist wahrheitsfähig bestimmbar, was nicht anschaulich präsent sein kann. Da der spontane Verstand aber eine eigenständige Quelle von Vorstellungen ist (reinen Verstandesbegriffen), können die Formen des Denkens unabhängig von den konkreten Formen der menschlichen Sinnlichkeit operieren. Kontrastiv zu ihrem empirischen Gebrauch, wo die Formen des Denkens zur objektiv gültigen Bestimmung eines anschaulichen, näherhin raumzeitlichen Mannigfaltigen gebraucht werden, kann ein Etwas gedacht – aber nicht erkannt – werden, das nicht ein Mannigfaltiges einer menschlichen raumzeitlichen Anschauung vorstellt, sondern ein Mannigfaltiges einer wie auch immer gearteten Anschauung überhaupt darstellt, von dem kein positiver Begriff möglich ist.⁷³ Die Entgegensetzung zweier Perspektiven auf ein und dasselbe Objekt in der transzendentalphilosophischen Reflexion (Ding an sich selbst versus Erscheinung) zeichnet den transzendentalen Idealismus gegenüber Rationalismus und Empirismus aus und bewahrt ihn vor zwei Fehldeutungen des Realen, nämlich dem empirischen Idealismus und dem transzendentalen Realismus. Anhand der Termini ‚Ding an sich selbst‘ und ‚Erscheinung‘ lassen sich die Irrwege unkritischer Erkenntnistheorie dechiffrieren. Beide, empirischer Idealismus wie transzen Unter Abstraktion von der Leistung des Verstandes ist eine Erscheinung der „unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34). Die Bestimmung beruht auf den spontanen Leistungen des diskursiven Verstandes. Vgl. dazu die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe in 5.2.4.
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dentaler Realismus, sind außer Stande die objektive Geltung des menschlichen Denkens zu erklären und erweisen sich, obgleich sie im Ansatz als epistemologische Gegenpole zu charakterisieren sind, doch bei näherer Betrachtung als die beiden Seiten einer Münze Falschgeld, weil sie keine reine Sinnenlehre integrieren. Kant selbst profiliert seinen transzendentalen Idealismus vor der Kontrastfolie dieser doppelten Entgegensetzung: Der transzendentale Realismus begreift Erscheinungen als Dinge an sich selbst: Der Realist in transzendentaler Bedeutung macht aus diesen Modifikationen unserer Sinnlichkeit an sich subsistierende Dinge, und daher bloße Vorstellungen zu Sachen an sich selbst. (KrV A 491/B 519)
Der empirische Idealist begreift den Raum nicht als Form der Anschauung, sondern als „eigene Wirklichkeit“ und kann infolgedessen bezüglich räumlicher Objekte keinen sicheren Grund für die Unterscheidung zwischen Wahrheit und Traum angeben. Im empirischen Idealismus wird das Dasein ausgedehnter Wesen daher entweder geleugnet oder wenigstens bezweifelt.⁷⁴ Dementgegen werden die Erscheinungen des inneren Sinns im empirischen Idealismus aufgrund der unmittelbaren Evidenz der inneren Erfahrung als unzweifelhaft wirkliche Dinge begriffen und es wird ferner behauptet, „daß diese innere Erfahrung das wirkliche Dasein ihres Objekts (an sich selbst), (mit aller dieser Zeitbestimmung,) einzig und allein hinreichend beweise“ (KrV A 491/B 519). Zwischen beiden Positionen besteht ein enger Zusammenhang.⁷⁵ In der Kritik des vierten Paralogismus stellt Kant den Zusammenhang so dar: Der transzendentale Realist, der Raum und Zeit nicht als Formen der Sinnlichkeit, sondern als Dinge an sich ansieht, kann im Ausgang von äußeren Wahrnehmungen als Modifikationen der Sinnlichkeit im Gegensatz zum transzendentalen Idealismus nicht unmittelbar die Existenz der Außenwelt einsehen, sondern muss auf die Existenz der Dinge an sich außer dem erkennenden Subjekt schließen. ⁷⁶ Da dieser Schluss immer zweifelhaft ist, folgt logisch aus dem transzendentalen Realismus
Vgl. Kants Abgrenzung seines „transzendentalen“ Idealismus von dessen empiristischen Varianten, wie er sie von Descartes (als Problem) und Berkeley entwickelt sah in den Prolegomena in AA 4:293 f. Auf diesen weist Kant in der KrV an mehreren Stellen hin: u. a. im sechsten Abschnitt der Antinomie der reinen Vernunft, wo der transzendentale Idealismus als Schlüssel zur Auflösung der kosmologischen Dialektik dargestellt wird (vgl. KrV A 490 – 92/B 518 – 20) und in der Kritik des vierten Paralogismus (vgl. KrV A 369). Vgl. die Widerlegung des Idealismus in KrV B 274– 9.
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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der empirische Idealismus, demzufolge es möglich ist, dass Vorstellungen von Dingen außer uns nichts sind, als ein trügerisches Spiel der Einbildungskraft im inneren Sinn.⁷⁷ Die Idealität der Erscheinungen bedeutet, „daß Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind“ (KrV A 507/B 535). Per Negation dieser Bestimmung ergibt sich die Gegenposition des transzendentalen Realismus, der behauptet, dass die Erscheinungen außer unseren Vorstellungen nicht nichts, sondern etwas sind. Demnach wird mit der transzendentale Realität der Erscheinungen eine Zweiteilung im Bereich des Ontischen behauptet: eine epistemisch zugängliche Sphäre, die möglicher Gegenstandsbereich der menschlichen Erkenntnis ist, und einer epistemisch prinzipiell versperrten Sphäre.⁷⁸ Die Annahme eines prinzipiell epistemisch unzugänglichen, ontischen Bereichs resultiert allerdings in einer skeptizistischen Position und ist mit der antiskeptischen Intention der KrV unvereinbar. Die Bestimmung ‚transzendental real‘ nicht auf Erscheinungen zu beziehen, sondern auf die objektiven Gegenstände, ist keine Option. Denn Erkenntnisobjekte müssen als Gegenstände der Erkenntnis ideal sein. Wäre die Objektivität in keiner Weise ideal, also vorstellbar, wäre sie in einem radikalen Sinn epistemisch unzugänglich. Die wahrheitstheoretische Insuffizienz der Position des metaphysischen Realismus wurde bereits in Kapitel 2 dargelegt.⁷⁹ Im transzendentalen Sinn ideal müssen die Gegenstände der Erkenntnis als solche sein, sonst könnten sie weder empirisch erkannt, noch gar in einer apriorischen Theorie die Möglichkeitsbedingungen ihrer Erkenntnis erörtert werden. Der Sinn der epistemologischen Opposition von der Betrachtung des Gegenstandes als Ding an sich selbst oder als Erscheinung kann also nur die Prinzipien ihrer Beurteilung betreffen. In Kapitel 1 wurde der prinzipientheoretische Vollsinn des kantischen Transzendentalen im Auseinanderdividieren des legitimen empirischen in Abgrenzung vom illegitimen transzendentalen Verstandesgebrauch herausgearbeitet, aus dem heraus die Entgegensetzung von Ding an sich selbst und Erscheinung im Text der
Auf die wechselseitige Implikation von transzendentalen Realismus und empirischem Idealismus hat Heidemann hingewiesen (vgl. Heidemann 1998: 57 f.). Ontologische Interpretationen des transzendentalen Idealismus laufen häufig auf eben diese Behauptung hinaus – entweder in Gestalt einer Zwei-Welten-Interpretation des transzendentalen Idealismus, der Kant die These zuschreibt, hinter der manifesten Realität der phänomenalen Welt existiere eine epistemisch verborgene Welt der Dinge an sich, die erstere als ihre Wesensgründe fundiert, oder in Gestalt einer ontologische Variante der Zwei-Aspekte-Interpretation des transzendentalen Idealismus, der zufolge die Gegenstände der Erfahrung zwei Klassen von Eigenschaften haben, eine erkennbare und eine epistemisch unzugängliche (vgl. Allais (2015)). Vgl. Kapitel 2.
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KrV zu verstehen ist.⁸⁰ Im transzendentalphilosophisch gerechtfertigten, empirischen Verstandesgebrauch werden legitime Grundsätze aufgestellt, nämlich die transzendental wahren Grundsätze des reinen Verstandes. Demgegenüber wird im transzendentalen Verstandesgebrauch durch nicht zu rechtfertigende transzendente Grundsätze bloß transzendentaler Schein erzeugt. Die Wurzel dieses illegitimen Verstandesgebrauchs bespricht Kant in dem Abschnitt von der Amphibolie der Reflexionsbegriffe und kritisiert die ihm entspringenden Fehlschlüsse in der transzendentalen Dialektik.⁸¹ Die transzendentale Idealität der Erkenntnisgegenstände erweist die kantische Transzendentalphilosophie mit der in der transzendentalen Ästhetik entwickelten Lehre der reinen Sinnlichkeit. Die Erkenntnisgegenstände erben die transzendentale Idealität von der Bestimmung von Raum und Zeit als transzendental ideal und empirisch real. Im Kontext der kantischen Philosophie bedeutet ‚Idealität‘ im Allgemeinen die Bedingtheit eines Gegenstandes durch die Weise seiner Repräsentation. ‚Realität‘ bedeutet hingegen seine Unabhängigkeit von diesen Bedingungen. Dass Raum und Zeit und die in diesen Formen erscheinenden Objekte transzendental ideal sind, heißt, dass sie formal durch die erkennende Subjektivität bedingt sind und die formalen Bedingungen der Objektivität (Erfahrung überhaupt) a priori als Möglichkeitsbedingungen der epistemisch zugänglichen Objektivität einsehbar sind. Die transzendentale Deduktion wird zeigen, dass die Objektivität erkennbar ist, weil das formale Naturgesetz als reines System synthetischer Regeln (reine Verstandesbegriffe) im Erkenntnisvermögen bereitliegt.⁸² An dieser Stelle sei zur systematischen Einordnung ein Vorblick auf die Resultate der transzendentalen Deduktion gestattet: Die transzendentalen synthetischen Grundsätze des Verstandes stellen notwendige Kriterien für die Bezugnahme auf ein Erkenntnisobjekt bereit und sichern so a priori die Unterscheidung von Wahrheit (wirklicher Wahrnehmung) und bloßer Imagination (Traum). Im Gegensatz zum empirischen bleibt im transzendentalen Idealismus statt der Fiktion einer äußeren Realität allein der empirische Irrtum in Einzelfällen möglich.⁸³ Dass die Erscheinungen empirisch real sind, ist die Kehrseite dieser Bestimmung. Ihrer empirischen Realität ist im transzendentalen Idealismus dadurch Rechnung getragen, dass die apriorische Erkenntnis auf die formalen Bedin-
Vgl. 2.2.3. Vgl. Kapitel 4. Die Wurzel dieses illegitimen Verstandesgebrauchs liegt an der versäumten transzendentalphilosophischen Klärung des Ursprungs von Vorstellungen, die das Erkenntnisvermögen als zweistämmig erweisen. Vgl. Kapitel 4. Vgl. KrV A 491 f./B 520 f., vgl. auch AA 4:375.
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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gungen der Bezugnahme auf Objektivität als Anleitung der empirischen Erkenntnis restringiert ist. Die menschliche Erkenntnis vermag nach Kants Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens eben nicht qua consideratio absoluta a priori ins Innere der Natur vorzudringen. Mit der transzendentalen Deduktion sind die Synthesis-Regeln des empirischen Verstandesgebrauchs als die exklusive Weise ausgewiesen, auf Objektives Bezug zu nehmen. Damit ist der objektiv gültige Kategorien-Gebrauch auf die Synthesis eines gegebenen Mannigfaltigen der raumzeitlichen menschlichen Anschauung restringiert. Mit der Beschränkung des Gebrauchs der Kategorien auf den Bereich raumzeitlicher Gegenstände kann eine Verwechslung der Betrachtungsweisen eines Gegenstandes als Ding an sich selbst und seiner Betrachtung als Erscheinung ausgeschlossen werden. Ins Innere der Materie dringt also keine consideratio absoluta, kein transzendentaler Verstandesgebrauch vor, sondern nur die empirische Forschung, und zwar „am Leitfaden der Geschichte oder den Fußstapfen der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“ (KrV A 495/B 523).⁸⁴ Mit dem Lehrbegriff des transzendentalen Idealismus ist also die erkenntniskritische Differenzierung von Ding an sich selbst und Erscheinung als zwei Betrachtungsweisen desselben Erkenntnisobjekts gemeint. Mit dieser Lehre ist auf die Bedingungen hingewiesen, die Kants Transzendentalphilosophie für eine spekulative Erkenntnis ausweist, um ihr objektive Gültigkeit (Wahrheitsvalenz) zu sichern.⁸⁵ Nur die Betrachtung der Gegenstände als Erscheinungen führt zu einer wahrheitsvalenten Bestimmung dessen, was ist. Die Betrachtung der Gegenstände als Ding an sich selbst ist rein negativer Art – ein bloßes Denken, kein Erkennen, und damit ohne alle Wahrheit. Die These des transzendentalen Idealismus ist also keine ontologische, sondern eine epistemologische. Der transzendentale Idealismus ist eine erkenntnistheoretische Lehre, die die epistemische Zugänglichkeit der gesamten objektiven Realität sichert, aber die Vorstellung einer vollständigen Determination an sich existierender Objekte ablehnt und damit die Einlösung des Wahrheitssinns ermöglicht. Jeder Erkenntnisgegenstand ist potentiell in der Anschauung unmittelbar präsent. Für die wahrheitstheoretische Fragestellung der KrV ergibt sich aus der erkenntnistheoretischen Dualität von Sinnlichkeit und Verstand, Anschauen und Denken, das erfreuliche Resultat, dass der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff nicht länger – per impossibile – zwischen einer Vorstellung und einem vom Erkenntnisvermögen vollkommen unabhängigen Ding an sich selbst erklärt Kant nennt seinen transzendentalen Idealismus mitunter auch einen „formalen Idealismus“ im Unterschied zum „materialen, d. i. dem gemeinen, der die Existenz äußerer Dinge selbst bezweifelt oder leugnet“ (KrV B 519 Anm. 1). Die Kritik lehrt „das Object in zweierlei Bedeutung zu nehmen“ (KrV B xxvii).
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werden muss – etwa im Sinne eines metaphysischen Realismus wie er in Kapitel 2 Thema war. Stattdessen ist die Korrespondenz zwischen zwei Arten objektiver Vorstellungen zu erklären: zwischen der Anschauung, in der das Reale unmittelbar präsent ist, und dem diskursivem Denken, das die Erscheinung, den „unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (KrV A 20/B 34), bestimmt. Diese Bestimmung (Erkenntnis) kann wahr oder falsch sein. Die allgemeinen, notwendigen Bedingungen für die wahrheitsvalente Bezugnahme auf Objekte gibt die transzendentale Logik vor, indem sie die Formen des Denkens auf ein reines Mannigfaltiges der Anschauung a priori bezieht. Die Erkenntnistheorie des Rationalismus und des Empirismus teilen hingegen das generelle Problem monistischer Konzeptionen des Erkenntnisvermögens, nämlich die Annahme, das Denken bezöge sich auf Dinge an sich selbst. Die substanzielle Objektivität erscheint infolgedessen in beiden Varianten unerreichbar. Denn die Kluft zwischen äußeren Dingen und inneren Vorstellungen (Erkenntnissen) kann nie geschlossen werden, ohne einzusehen, dass Raum und Zeit Formen der Sinnlichkeit sind und die Sinnlichkeit einer von zwei ‚Stämmen‘ der menschlichen Erkenntnis ist, der aus sich heraus auf eine spontane Erkenntnisquelle verweist, die das scheinbar unmittelbar Gegebene der Anschauung zu einer wahrheitsfähigen Repräsentation von Objektivem vermittelt.⁸⁶ Unter der Maßgabe einer Objektivitätskonzeption, der zufolge die Gegenstände Dinge an sich selbst sind, ist es unmöglich, epistemische Kriterien der Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand anzugeben. Der entscheidende Vorzug des transzendentalen Idealismus für die Lösung des Wahrheitsproblems liegt also in der Einsicht, dass jedes Erkenntnisobjekt prinzipiell in der Anschauung unmittelbar präsent sein kann und wahrheitsvalent bestimmbar ist durch die diskursiven Leistungen des Verstandes. Die objektive Geltung des Denkens geht auf das raumzeitliche Mannigfaltige der Anschauung zurück, d. h. auf das im Prinzip sinnlich präsente Reale und nicht auf eine vermeintliche objektive Realität „hinter“ den Erscheinungen. Damit ist bereits skizzenhaft dargelegt, dass Wahrheit als Übereinstimmung von Denken und Anschauen im transzendentalen Idealismus erklärbar wird, indem sich das Erkenntnisvermögen als Gesetzgeber der Natur „formaliter spectata“ (KrV B 165) erweist. Auf Basis der dualistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens lässt sich eine höhere Form ausweisen, in der es autonom ist. Die epistemologische Revolution der KrV ankert also in der transzendentalen Ästhetik: Mit dem Ausweis, dass Raum und Zeit die Formen der sinnlichen Anschauung sind, ist die Objektivität als prinzipiell epistemisch zugänglich und offen für die begrifflichen
Vgl. die Synthesis-Theorie in 3.2.2 und zur transzendentalen Deduktion 5.2.4.
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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Bestimmungen des diskursiven Denkens erkannt. Den allgemeingültigen logischen Rahmen für die begriffliche Bestimmung der raumzeitlichen Objektivität bilden die transzendentallogischen Formen, die im Erkenntnisvermögen als Regeln für die Bezugnahme auf Objektives bereitliegen. Sie müssen als Kriterien der transzendentalen Wahrheit a priori ausweisbar sein, um den Rahmen zu setzten, der die diversen empirisch möglichen Synthesen in einer Erfahrung zusammenhalten. Das bedeutet, dass das Gesetz für die wahrheitsfähige Bezugnahme auf etwas Objektives im Erkenntnisvermögen a priori liegt und als formales Gesetz den Erkenntnisgegenständen diktiert wird. Mit der Autonomie des Erkenntnisvermögens wäre die menschenmögliche Wahrheit aus sich heraus erklärt. Dementgegen sind monistische Konzeptionen des Erkenntnisvermögens darauf angewiesen, eine höhere Macht zu postulieren, die die Konformität der Denkformen mit den Erkenntnisobjekten garantieren soll, was immer zweifelhaft bleiben muss (Wahrheitsskeptizismus).⁸⁷
4.3.2 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens Kants Transzendentalphilosophie hat also durch die Aufklärung der Leitfrage der KrV ‚Wie sind synthetische Urteile a priori möglich?‘ eine höhere Form des Erkenntnisvermögens auszuweisen. Dies gelingt in der transzendentalen Logik, weil diese Logik „das Eigentümliche“ hat, „daß sie außer der Regel (oder vielmehr der allgemeinen Bedingung zu Regeln), die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden sollen“ (KrV A 135/B 174 f.). Die transzendentale Ästhetik bietet ihr anhand des Raumes und der Zeit nämlich ein reines Mannigfaltiges für die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe a priori dar, die ihrerseits als schematisierte Verstandesbegriffe wiederum die Formen der materialen Wahrheit sind. In seiner höheren Form ist das Erkenntnisvermögen autonom: Es schreibt den Gegenständen das Gesetz vor. All dies hängt von dem Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien ab. Deren transzendentale Deduktion bildet das Herzstück der transzendentalphilosophischen Untersuchung der KrV. Ihre Bedeutung zur „Ergründung des Vermögens, welches wir Verstand nennen, und zugleich zu Be-
In der neuzeitlichen Philosophie hat René Descartes in den Mediationen über die Grundlagen der Philosophie diese Skepsis mit der Gedankenfigur eines Genius malignus verbunden (1. Meditation), die dann vorgeblich durch einen ontologischen Gottesbeweis im weiteren Räsonieren ausgeräumt wird (vgl. Descartes/Buchenau 1994).
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
stimmung der Regeln und Grenzen seines Gebrauchs“ ist Kant zufolge unübertroffen (vgl. KrV A xvi). Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe wird dadurch beweisen, dass es nicht nur sinnliche Möglichkeitsbedingungen der (erkennbaren⁸⁸) Objektivität gibt (Raum und Zeit als Formen der Anschauung), sondern darüber hinaus auch verstandesseitige (die Kategorien). Sinnlichkeit und Verstand sind die zwei „Stämme“ der Erkenntnis – Anschauung und Begriff ihre zwei „Elemente“. Wenn die objektive Gültigkeit der Kategorien erwiesen werden kann, dann sind sie prinzipiell auf alle Anschauungen und das Mannigfaltige, das sie darbieten, anwendbar. Durch die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf das reine Mannigfaltige der Anschauung wird in synthetischen Urteilen a priori das Gesetz erkannt, dem die Gegenstände der Erkenntnis unterworfen sind. Da nämlich „Erfahrung auf der synthetischen Einheit der Erscheinungen, d. i. auf einer Synthesis nach Begriffen vom Gegenstande der Erscheinungen überhaupt [beruht]“, hat die Erfahrung „Prinzipien ihrer Form a priori zum Grunde liegen, nämlich allgemeine Regeln der Einheit in der Synthesis der Erscheinungen“ (KrV A 156 f./B 195 f.), die ein (abstraktes) oberstes Verstandesprinzip (Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz) entfalten:⁸⁹ Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz: Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung. (KrV A 158/B 197)
Die transzendentale Deduktion wird die Kategorien als die synthetischen Einheitsbedingungen für das Mannigfaltige der Anschauung in einer möglichen Erfahrung erweisen. Hinsichtlich jeder Kategorie gibt es dann – als Ausbuchstabierung dieses Prinzips – einen synthetischen Grundsatz a priori, der deren objektiv gültigen Gebrauch regelt, d. h. den Gebrauch der Kategorien, in dem das kategoriale Urteilen legitimerweise beansprucht, eine wahrheitsvalente Bestimmung der realen Objektivität zu sein. Diese synthetischen Verstandesprinzipien sind die gesuchten allgemeingültigen, notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit. Die transzendentale Deduktion hat in einem nicht-zirkulären Beweis die objektive Gültigkeit der Kategorien für das raumzeitliche Mannigfaltige der
Im Gegensatz zur bloß denkbaren. Andererseits ist die Möglichkeit der Erfahrung „das, was allen unsern Erkenntnissen a priori objektive Realität gibt“ (KrV A 156/B 195, vgl. 5.2.4).
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
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Anschauung a priori zu demonstrieren, sodass der Wahrheitsbegriff als prinzipiell erfüllt ausgewiesen und damit seine Anwendbarkeit gesichert ist. In der Doktrin der Urteilskraft werden diese Regeln des objektiv gültigen Kategoriengebrauchs konkretisiert. Hier finden sich die einzigen beiden Stellen, an denen im Text der KrV der Begriff ‚transzendentale Wahrheit‘ vorkommt. Zunächst heißt es im Kapitel über den Schematismus: In dem Ganzen aller möglichen Erfahrung liegen aber alle unsere Erkenntnisse, und in der allgemeinen Beziehung auf dieselbe besteht die transzendentale Wahrheit, die vor aller empirischen vorhergeht, und sie möglich macht. (KrV A 146/B 185)
Dann heißt es im dritten Abschnitt des darauffolgenden Grundsatz-Kapitels, das von der Systematik der synthetischen Grundsätze handelt: Nur daran also, daß diese Begriffe [die Relationskategorien] die Verhältnisse der Wahrnehmungen in jeder Erfahrung a priori ausdrücken, erkennt man ihre objektive Realität, d. i. ihre transzendentale Wahrheit, und zwar freilich unabhängig von der Erfahrung aber doch nicht unabhängig von aller Beziehung auf die Form einer Erfahrung überhaupt, und die synthetische Einheit, in der allein Gegenstände empirisch können erkannt werden. (KrV A 221 f./B 269)⁹⁰
Das „Ganze aller möglichen Erfahrung“ bedeutet das Gebiet aller menschenmöglichen Erkenntnis und damit der wahrheitsvalenten Beurteilung von Objektivität. Die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes sind die Prinzipien dieser Erkenntnis. Sie bestimmen die „Form einer Erfahrung überhaupt“ und damit das Gesetz, dem die Erkenntnisobjekte notwendigerweise unterworfen sind. Als das System der synthetischen Einheit markieren sie in zweifacher Hinsicht die Grenzen der Erkenntnis: einerseits – in Bezug auf die empirische Erkenntnis – die Grenze zwischen Wahrnehmung und bloßem Spiel der Einbildungskraft (dem metaphysischen Traum i. S. des somnio objective sumpto) [WahrheitsskepsisE]),⁹¹ und andererseits – in Bezug auf die apriorische Erkenntnis – die Grenze zwischen der Erkenntnis des notwendigen universalen Gesetzes der Objektivität und den illegitimen apriorischen Erkenntnisansprüchen, die Wahrheitsvalenz nur vorgaukeln (WahrheitsskepsisR). Im Gegensatz zum empirischen Idealismus und transzendentalen Realismus kann der transzendentale Idealismus die Grenzen der Erkenntnis „nach innen und außen“ sichern und bestimmen.
Vgl. KrV A 237 und B 296. Zu Kants Anknüpfung an das metaphysische Problem des Somnio objektive sumpto im Kontext der Wolff’schen Philosophie (vgl. Carboncini-Gavanelli 1991: bes. 234– 41).
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
Contra WahrheitsskepsisE werden hinreichende Kriterien für die Bezugnahme auf Objektivität a priori ausgewiesen. Damit ist die Wahrheitsvalenz der kategorialen Urteile des empirischen Verstandesgebrauchs gesichert und die skeptische Vorstellung eines somnio objective sumpto abgewiesen. Contra WahrheitsskepsisR wird mit dem Ausweis, dass diese Kriterien die notwendigen Bedingungen des wahrheitsvalenten Urteilens sind, zugleich die Grenze der menschenmöglichen Erkenntnis „nach außen“ gesichert: Erkenntnisreklamationen, die den empirischen Verstandesgebrauchs transzendieren, sind nun als eine nicht-wahrheitsfähige Schwärmerei durchschaubar. Kants Transzendentalphilosophie stellt mit den synthetischen Grundsätzen des reinen Verstandes allgemeine und notwendige Wahrheitsbedingungen auf, die dem Satz vom Widerspruch als transzendentale Prinzipien zur Seite gestellt werden. Der Satz vom Widerspruch ist das Prinzip der logischen Wahrheit. Die synthetischen Verstandesgrundsätze sind die Prinzipien der transzendentalen Wahrheit. Sie bestimmen die Grenzen und sichern die Möglichkeit materialer Erkenntnis von Gegenständen überhaupt. Wie in Kapitel 2 deutlich wurde, genügt logische Wahrheit, d. h. die widerspruchsfreie Denkbarkeit von Etwas, nicht zu dessen Erkenntnis und stellt keine hinreichende Bedingung der materialen Wahrheit dar.⁹² Aus dem Satz vom Widerspruch fließt keine metaphysische Erkenntnis, denn, „[d]aß in einem solchen [synthetischen] Begriffe kein Widerspruch enthalten sein müsse, ist zwar eine notwendige logische Bedingung; aber zur objektiven Realität des Begriffs, d. i. der Möglichkeit eines solchen Gegenstandes, als durch den Begriff gedacht wird, bei weitem nicht genug“ (KrV A 220/B 267 f.). Die transzendentale Logik begründet also die für jede Erkenntnistheorie wesentliche Differenz zwischen der logischen Möglichkeit eines Begriffs, welcher die bloße Denkbarkeit seines Gegenstandes entspricht, die mittels des Satzes vom Widerspruch erkannt wird, und der realen Möglichkeit, der „objektiven Realität des Begriffs, d. i. der Möglichkeit eines solchen Gegenstandes“ (KrV A 220/B 268), die nur synthetisch erkannt werden kann.⁹³ Objekt ist gemäß dem transzendentalen Idealismus nämlich „das, in dessen Begriff das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung vereinigt ist“ (KrV B 137). Da die menschliche Anschauungsart sinnlich ist und die Formen dieser sinnlichen Anschauung Raum und Zeit sind, ist alles Gegebene ein (raum‐)zeitliches Mannigfaltiges. Ob irgendein rein begrifflich vorgestelltes Ding ein mögliches Objekt sei, ist daher niemals aus seinem Begriff
Vgl. Kapitel 2; vgl. KrV A 221/B 269, A 223/B 270. „Die Kategorien der Modalität haben das Besondere an sich: daß sie den Begriff, dem sie als Prädikat beigefüget werden, als Bestimmung des Objekts nicht im mindesten vermehren, sondern nur das Verhältnis zum Erkenntnisvermögen ausdrücken“ (KrV A 219/B 266).
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
165
allein erkennbar, sondern nur unter Rekurs auf die Form einer Erfahrung überhaupt zu entscheiden.⁹⁴ Zwischen logischer und realer Möglichkeit, Denk- und Erkenntnisbedingungen, formaler und transzendentaler Wahrheit und ihren Bedingungen ist zu unterscheiden. Weil das System der synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes „die synthetische Einheit [ist], in der allein Gegenstände empirisch können erkannt werden“ (KrV A 222/B 269), ist dieses System der transzendentalen Wahrheit das Fundament der empirischen Erkenntnis. Die metaphysische Deduktion zeigt, dass die Kategorien ursprünglich dem Verstand als spontaner Erkenntnisquelle entspringen. Die transzendentale Deduktion soll ihre objektive Geltung im empirischen Verstandesgebrauch nachweisen. Damit wäre gezeigt, dass der Verstand die „Form einer Erfahrung überhaupt“ (KrV A 222/B 269) diktiert. Kant erweist in seiner Transzendentalphilosophie also die Autonomie des Erkenntnisvermögens, indem er beweist, dass das Gesetz, dem alle Erkenntnisobjekte unterworfen sind, a priori im Verstand bereitliegt, weil es deren Möglichkeitsbedingung ist.⁹⁵ Die synthetische Einheit a priori, die auf Basis der Zweistämmigkeit unserer Erkenntnis in der transzendentalen Logik als System der synthetischen Verstandesprinzipien ausweisbar ist, definiert diese höhere Form. Die philosophische Wahrheitsfrage durch die Autonomie des Erkenntnisvermögens zu beantworten, bedeutet einen radikalen Bruch mit der vorkritischen Philosophie, der empiristischen wie der rationalistischen gleichermaßen. Was es in der Erkenntnistheorie zu erklären gilt, ist die in ihrer logischen Erklärung (Nominaldefinition) als Begriffsmerkmal angegebene Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, und zwar im Modus der Notwendigkeit. So verschieden die Erkenntnistheorie des Rationalismus im Vergleich zu derjenigen des Empirismus prima facie auch anmuten mag, aufgrund ihrer monistischen Konzeption des Erkenntnisvermögens müssen doch beide in ihrer Erklärung das im Grunde identische metaphysisches Prinzip heranziehen: Eine prästabilierte Harmonie soll die Koordination der subjektiven Ordnung des Denkens mit der objektiven Ordnung des Seienden garantieren. Der Ausdruck ‚prästabilierte Harmonie‘ ist ein Kunstausdruck Leibniz’, der dazu dienen soll, die Kommunikation der einfachen Substanzen (Monaden) untereinander zu erklären. Er bezieht sich auf die Regelung des Verhältnisses von
Kants Beispiel an dieser Stelle ist der Begriff der Substanz (vgl. KrV A 221/B 268), vgl. auch die Postulate des empirischen Denkens, bes. KrV A 226/B 279 f.). Die kritische Philosophie hat damit das Erkenntnisvermögen als Seelenvermögen ausgewiesen.
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
Monade zu Monade, auf die „Konkomitanz“ aller Folgen von Prädikaten, die jeweils ihre vollständigen Begriffe ausmachen (vgl. Leibniz, Théo, §58). Diese Harmonie ist laut Leibniz von Gott vorherbestimmt.⁹⁶ Auf phänomenaler Ebene sollen dank der prästabilierten Harmonie die Erscheinungen der als geistiger Automat verstandenen Seele (Leibniz, Théo, 4) auf der einen Seite mit den Bewegungen des Körpers auf der anderen notwendig übereinstimmen. Die Ordnung der Vorstellungen soll der Bewegung des Körpers genau entsprechen, eine Entsprechung wie zwei voneinander unabhängige Uhren, deren Hersteller Gott ist (vgl. Leibniz, Théo, 188).⁹⁷ Eine solche Annahme ist auch in empiristischen Erkenntnistheorien zu finden. An die Stelle Gottes tritt in Humes Empirismus allerdings die Natur als die Instanz, die die Prinzipien zur Verbindung einzelner Ideas eingerichtet hat. Laut Hume hat sie Verbindungen zwischen einzelnen Ideas etabliert, die angeleitet von den drei Prinzipien Ähnlichkeit, Kontiguität und Kausalität die Aufmerksamkeit von einer Idea zu ihrer korrelativen Idea leiten (Hume, EHU V.ii.13 f.). Die Kausalität ist Hume zufolge eine stärkere Idea als die anderen beiden, weil diese seiner Ansicht nach allein durch sinnliche Erfahrung und Erinnerung erklärt werden können. Allerdings sei auch sie nichts weiter, als die durch Gewohnheit erworbene Idee von einem (momentan präsenten) Objekt zu der Idee eines anderen überzugehen.⁹⁸ Im Zusammenhang mit der Kausalität spricht auch Hume von einer „prästabilierten Harmonie“: Here, then, is a kind of pre-established harmony between the course of nature and the succession of our Ideas; and though the powers and forces, by which the former is governed, be wholly unknown to us; yet our thoughts and conceptions have still, we find, gone on in the same train with the other works of nature. Custom is that principle, by which this correspondence has been effected; so necessary to the subsistence of our species, and the regulation of our conduct, in every circumstance and occurrence of human life. (Hume, EHU V.ii.21)
Die prästabilierte Harmonie impliziert außerdem eine Zweckmäßigkeit zwischen den Wirkursachen des Reiches der Natur und den Finalursachen des Reiches der Gnade (vgl. Leibniz, Théo, 18, 62; Mon, 88). Andernfalls wäre der Kosmos widersprüchlich, was mit der Begriffsanalytischen Wahrheitsauffassung ausgeschlossen ist (vgl. 2.3.1). Auch für diesen instruktiven Hinweis danke ich Aljoscha Beck sowie für alle übrigen, die explizit zu erwähnen ich versäumt haben mag. Zu Humes Ursprungshypothese, der zufolge die Vorstellung der notwendigen Verknüpfung aus einer Mehrzahl von Eindrücken entspringt, die wir voneinander folgenden, ähnlichen Ereignissen haben, deren Erläuterung durch das Modell einer seriellen Assoziation und dessen Kritik geliefert wird (vgl. Kienzle 2013: 115 – 133).
4.3 Die Autonomie des Erkenntnisvermögens im transzendentalen Idealismus
167
Aufgrund der hohen Bedeutung dieser Idee für die Subsistenz aller Menschen könne diese Handlung des Verstandes kaum den so fehleranfälligen Ableitungen unserer Vernunft überantwortet sein (vgl. Hume, EHU V.ii.22). Bei Hume sind diese Prinzipien allesamt psychologische Prinzipien der Assoziation, also Prinzipien der menschlichen Natur in einem biologischen Sinn. Auch Hume geht also von einer Korrespondenz zwischen der Ordnung der Ideas und der Ordnung der Dinge aus und macht eine prästabilierte Harmonie geltend, um zu erklären, dass die Prinzipien der Natur mit den Prinzipien der menschlichen Natur übereinstimmen. Damit steht er Leibniz’ rationalistischer Epistemologie viel näher als prima facie zu vermuten stünde, wenn er auch die Ideenwelt der menschlichen Natur als ein weiteres Werk der Natur begreift und der Auffassung ist, dass die „powers and forces“ der objektiven Natur uns gänzlich unergründlich seien (vgl. Hume, EHU V.ii.22). Auch wenn diese Stelle vielleicht als eine ironische Spitze Humes gegen Leibniz’ Lehre zu lesen ist, enthüllt sie doch die Verlegenheit einer unkritischen Theorie, die Entsprechung zwischen Denken und Sein (wenn auch hier als zwei Naturen konzipiert) nur durch ein metaphysisches Prinzip, das sie garantieren soll, erklären zu können, welches dann wahlweise als Werk einer gnädigen Gottheit oder einer weisen Natur aufgefasst werden kann.⁹⁹ Anstatt von einer Dichotomie zweier Ordnungen auszugehen und deren Harmonie durch eine metaphysische Behauptung zu erklären,¹⁰⁰ zeigt Kant, dass der Verstand das Gesetz erlässt, das das Erkenntnisvermögen den Erkenntnisobjekten vorschreibt. In der kantischen Konstellation liegt das epistemologische Kernproblem im Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien, die im Ausgang von einer Dichotomie zweier disparater Erkenntniselemente (Anschauung und Begriff) nachzuweisen ist. Dies bedeutet eine Verlagerung der vormals metaphysisch aufgefassten Dichotomie zwischen subjektiver Denkordnung und objektiver Seinsordnung in die Struktur der Erkenntnis. Im transzendentalen Idealismus ist das unter der Prämisse eines monistischen Erkenntnisvermögens unlösbare skeptische Problem, die Möglichkeit der materialen Wahrheit zu erklären, zu einer prinzipiell lösbaren Aufgabe herabgesetzt. Die „Harmonie“, wenn man denn so möchte, muss nun als eine zwischen zwei Erkenntniselementen bestehende erklärt werden: Zu erklären ist die notwendige Form des Zusammenstimmens von Anschauung und Begriff in der Erkenntnis. Kants Transzendentalphilosophie suspendiert das mit ihr obsolet gewordene Prinzip einer zweckmäßig eingerichteten Übereinstimmung (Harmonie) zwischen Subjekt und Objekt der Erkenntnis
Auf diese Verwandtschaft hat bereits Deleuze hingewiesen (vgl. Deleuze 1983: 22). Zu den skeptischen Konsequenzen vgl. 4.1.2.
168
4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
zugunsten der Idee einer notwendigen Unterwerfung des Objekts (Erscheinung) unter das a priori im Erkenntnisvermögen liegende Gesetz.¹⁰¹ Im Zeitalter der Aufklärung wirft Kant mit seiner erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie derart ein neues Licht auf die traditionelle Vorstellung der transzendentalen Wahrheit.¹⁰² Fortan wird diese nicht länger im Bezug vom Seienden auf einen archetypischen Intellekt betrachtet, sondern unter den Prämissen des intellectus ectypus aufzuklären gesucht: Unter dieser veränderten Perspektive liegt die transzendentale Wahrheit in der Form des diskursiven endlichen Intellekts, der in seiner Erkenntnis auf ein sinnlich Gegebenes angewiesen ist. Ein absolut Seiendes, ein Etwas, das losgelöst ist von den Bedingungen seiner Erkennbarkeit für endliche Vernunftwesen, gilt nicht länger als Erkenntnisobjekt, sondern als abstraktiv gefasster negativer Gedanke der Erkenntnisgrenzen. Diese Umstellung ist allerdings keine Wahl zwischen verschiedenen, gleichermaßen gangbaren Optionen. Kant zeigt in der KrV, dass der transzendentale Realismus, dem eine Erkenntnis der Dinge an sich selbst als epistemologisches Ideal vorschwebt, nicht zur Erkenntnis führt, sondern zur Skepsis. Allein die Position des transzendentalen Idealismus ist eine haltbare epistemologische Position, weil sie einen Ausweg aus der Wahrheitsskepsis eröffnet und darüber hinaus, den Grund, der in die Wahrheitsskepsis führt, offenlegt: Die Erkenntnisgegenstände sind Erscheinungen, bedingt durch die Formen der Sinnlichkeit und des Verstandes und gerade darum mögliche Gegenstände der Erkenntnis. Der transzendentale Idealismus basiert auf einer dualistischen Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens. Kant macht in seiner Transzendentalphilosophie deutlich, dass die Erkenntnistheorie der beiden Antipoden einer kritischen Epistemologie, Empirismus und Rationalismus, die Erkenntnismöglichkeit der Gegenstände gerade nicht erklären kann, sondern aufgrund ihrer monistischen
Auch Deleuze sieht hierin den fundamentalen Kern der ‚kopernikanischen Revolution‘ Kants (vgl. Deleuze 1983: 22 f.). Auf diese in der „transzendentalen Philosophie“ veränderte Grundausrichtung der Fragestellung „nach den Bedingungen der Möglichkeit alles Seienden[,] sofern es als wahr soll erkannt werden“, hat bereits Ernst Tugendhat hingewiesen (vgl. Tugendhat 1992: 431). Er setzt dem „absolut Seienden“ ein „absolut Gegebenes“ (Tugendhat) entgegen, welches den Ausgangspunkt der kantischen Theorie transzendentaler Wahrheit bilden soll. Allerdings ist dieses Gegebene im Kontext der kantischen Philosophie nicht in einem zu starken Sinn als „absolut“ Gegebenes zu begreifen. Denn sollte das Gegebene nicht im Prinzip auch denkbar sein, wäre es nicht kognitiv und könnte keinen Beitrag zur Erklärung der transzendentalen Wahrheit liefern. Wilfried Sellars hat die Gründe dargelegt, weshalb ein solches Gegebenes ein Mythos ist (vgl. Sellars 1997). Gemäß Kants in der KrV entfalteten Epistemologie ist die Sinnlichkeit dementgegen eine Quelle von objektiven Erkenntnissen spezifischer Art (Anschauungen) und damit per se ein kognitives Vermögen.
4.4 Fazit
169
Konzeptionen des Erkenntnisvermögens an der Erklärung der Wahrheitsmöglichkeit scheitern.
4.4 Fazit Kant übernimmt in seiner Erkenntnistheorie sowohl rationalistisches als auch empiristisches Gedankengut und schmiedet aus den berechtigten Einsichten beider Lager eine neue Theorie der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die das nunmehr dualistisch konzipierte Erkenntnisvermögen als Gesetzgeber der Natur erweist. Im Gegensatz zu den monistischen Konzeptionen des Empirismus und Rationalismus ist seine Theorie der menschlichen Erkenntnisfähigkeit geeignet, die Wahrheitsskepsis abzuwehren. Die Parallele zum Empirismus ist primär darin zu sehen, dass sowohl für Locke und Hume als auch für Kant nicht Ideen, sondern kognitive Vermögen angeboren sind. Im Unterschied zum Empirismus und in Einigkeit mit dem Rationalismus, stellt Kant aber heraus, dass sinnliche Wahrnehmung das kognitive Vermögen, Sinneseindrücke im Lichte allgemeiner Strukturen zu verarbeiten, voraussetzt und das intellektuelle Vermögen selbst apriorischer Quell spezifischer Inhalte (reiner Begriffe) ist. Der Verstand ist ein „Erkenntnisstamm“, weil ihm eine besondere Art objektiver Vorstellungen a priori entspringen – reine Begriffe als transzendentallogische Formen –, die ein notwendiges „Element“ der Analyse menschlicher Erkenntnis sind. Die transzendentale Erkenntnis weist allerdings auch die Sinnlichkeit als „Erkenntnisstamm“ aus. Auch ihr entspringen objektive Vorstellungen spezifischer Art – reine Anschauungen als Formen der Sinnlichkeit –, die ebenfalls als notwendiges „Element“ der Analyse der menschlichen Erkenntnis zu gelten haben. Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens ist den monistischen Konzeptionen des Rationalismus und des Empirismus in explanatorischer Hinsicht überlegen. Monistische Konzeptionen des Erkenntnisvermögens führen zu skeptizistischen Konsequenzen, weil sie ein metaphysisches Prinzip heranziehen müssen, um die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand zu erklären. Der Status dieses Prinzips ist der eines Postulats. Statt mittels einer immanenten Analyse des menschlichen Erkenntnisvermögens zu erklären, wie Wahrheit möglich ist, verweisen sie auf eine externe Instanz. Die Annahme einer klugen Natur oder einer gnädigen Gottheit bleibt aber immer eine dogmatische Spekulation, die Skepsis provoziert. Dementgegen kann Kant die Wahrheitsmöglichkeit erkenntnisimmanent als Übereinstimmung von Anschauung und Begriff erklären, weil er die menschliche Erkenntnis als zweistämmig ausweist. Die transzendentalphilosophische Analyse des Erkenntnisvermögens eröffnet
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4 Kants dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens
den Ausweg aus der Wahrheitsskepsis: Die Kategorien als reine Verstandesbegriffe, die nicht aus dem sinnlichen Material deriviert werden, sondern ursprünglich aus dem reinen Verstand a priori entspringen, können, dank den reinen Formen der Sinnlichkeit, a priori als objektiv gültig ausgewiesen werden. Dies ist das Programm der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Locke hat als Stichwortgeber für die kantische Transzendentalphilosophie zu gelten, insofern er die Frage nach der Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand für den menschlichen endlichen Verstand exponiert und ihre Beantwortung auf dem Wege einer Analyse der subjektiven Verstandesakte in Angriff genommen hat, statt kurzerhand von angeborenen oder eingepflanzten Begriffen auszugehen.¹⁰³ Aber erst Kant, durch Humes skeptische Schlussfolgerungen aus seinem dogmatischen Schlummer erweckt (vgl. AA 4:260), hat mit seiner dualistischen Erkenntniskonzeption den Boden bereitet, auf dem sie zu einer Erklärung der Möglichkeit von Wahrheit gedeihen konnte. Die tragende Säule der kantischen Erklärung, wie Wahrheit möglich ist, ist seine duale Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens: Im transzendentalen Idealismus muss die Korrespondenz nicht zwischen einer zunächst extra-mental veranschlagten Seinsordnung, einer Objektivität nach Maßgabe der Ding-an-sichselbst-Betrachtung, und deren mentaler Repräsentation erklärt werden, sondern zwischen zwei mentalen „Elementen“: Anschauung und Begriff. Zu erklären ist „nur“ das harmonische Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand für die
Das erste Buch des Essays ist der Widerlegung der Lehre von den angeborenen Ideen gewidmet. Kapitel II zielt darauf, die Unmöglichkeit angeborener spekulativer Prinzipien nachzuweisen. Das Argument hält den Innatisten im Kern entgegen, dass angeborene Ideen universelle Zustimmung erforderten, diese aber faktisch nicht statthaben. Nicht einmal bei den fundamentalsten wissenschaftlichen Propositionen, etwa jener, dass zwei und zwei gleich vier ist, ist dies der Fall, und zwar schon deswegen nicht, weil die halbe Menschheit oder auch nur Kinder hinsichtlich dieser unstrittigen Wahrheiten so „utterly ignorant“ sind, diese aber selbstevident sein müssten (vgl. Locke, Essay I.ii). Die Tatsache, dass Locke dennoch für die Ausarbeitung der KrV keinen prominenten Bezugspunkt darstellt und zum inkonsequenten Autor wird, während Wolff zum ersten Logiker avanciert (vgl. AA 24:509) und Kant sich stattdessen des Instrumentariums der Wolff-Baumgarten’schen Metaphysik bedient, könnte auf den Wandel der Einschätzung Lockes durch Kants Staatsoberhaupt, Friedrich II. von Preußen, zurückzuführen sein. Friedrich II. hatte 1770 noch an alle preußischen Fakultäten eine Anweisung versandt, die mit der Randnotiz versehen war: „Die Professores müssen in der Medizin besonders bei des Boerhaven’s Methode bleiben, in der Astronomie Newton, in der Metaphysik Locke folgen“ (Harnack 1900: 373). Aus dem Jahre 1779 ist ein Erlass des Etats-Ministers von Zedlitz tradiert, wonach für das Studium der Logik eine Orientierung an Wolff verlangt und Locke erst gar nicht erwähnt wird (vgl. Friedrich der Zweite 1856: 253 – 257). Auf beide Bezüge hat Brandt hingewiesen (vgl. Brandt 1981: 45, 53 Anm. 23).
4.4 Fazit
171
Erkenntnis einer prinzipiell epistemisch zugänglichen – erscheinenden – Objektivität.
5 Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Denken Wir können uns keinen Gegenstand denken, ohne durch Kategorien; wir können keinen gedachten Gegenstand e r k e n n e n , ohne durch Anschauungen, die jenen Begriffen entsprechen. Nun sind alle unsere Anschauungen sinnlich, und diese Erkenntnis, so fern der Gegenstand derselben gegeben ist, ist empirisch. Empirische Erkenntnis aber ist Erfahrung. Folglich is t uns keine Erkennt nis a priori möglich, als l ediglich von G e g e n s t ä n d e n m ö g l i c h e r E r f a h r u n g . (KrV B 165 f.)
In Kapitel 3 wurde deutlich, dass sich das Wahrheitsproblem für Kant in veränderter Gestalt stellt. Die Frage nach der Möglichkeit der Wahrheit zielt nicht länger auf einen Grund außerhalb der Erkenntnis, welcher als metaphysisches Prinzip die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstand garantiert, sondern fragt, wie das Erkenntnisvermögen selbst Gesetzgeber der Natur sein kann. Die transzendentale Erkenntnis der KrV weist aus, dass die apriorische Erkenntnis von den Gegenständen möglicher Erfahrung „nicht alle von der Erfahrung entlehnt [ist], sondern, was sowohl die reinen Anschauungen, als die reinen Verstandesbegriffe betrifft, so sind sie Elemente der Erkenntnis, die in uns a priori angetroffen werden“ (KrV B 166). Im transzendentalen Idealismus besteht die Schwierigkeit dann darin, die notwendige Übereinstimmung der beiden Erkenntnis-Elemente (Anschauung und Begriff) zu erklären, um die Möglichkeit der Wahrheit auszuweisen. In Kapitel 1 wurde der epistemologische Sinn der kantischen Neubestimmung der Transzendentalphilosophie als Selbsterkenntnis des Erkenntnisvermögens herausgearbeitet. Dabei wurde deutlich, dass im Zentrum seiner Kritik des Erkenntnisvermögens die Erklärung steht, wie eine Erkenntnis mit ihrem Gegenstand übereinstimmen kann. Die Frage nach der Möglichkeit der Wahrheit im Sinne der notwendigen Übereinstimmung einer Erkenntnis und ihres Gegenstandes wurde dann in Kapitel 2 als zentrales Sujet der KrV ausgewiesen. Mit Blick auf die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus wurde dort Kants Programm einer transzendentalen Logik entwickelt, die in ihrer ersten Abteilung eine „Analytik der Wahrheit“ ist. Dabei wurde der Ausweis notwendiger materialer Wahrheitsbedingungen als deren zentrales Desiderat herausgestellt. In Bezug auf synthetische Urteile haben diese denselben Status wie der Satz vom Widerspruch, der das epistemisches Wahrheitskriterium analytischer Urteile ist. In Kapitel 3 wurde die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als das Fundament identifiziert, das die Erklärung der Wahrheit im Rahmen der transzendentalen Logik ermöglicht. Deutlich wurde dort außerdem, dass die Lösung des Wahrheitsproblems mit dem unabdingbaren Desiderat verbunden ist, eine https://doi.org/10.1515/9783110697858-009
5 Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Denken
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höhere Form auszuweisen, in der das Erkenntnisvermögen autonom ist. In Kapitel 4 kann nun Kants Antwort auf die Frage, wie Wahrheit möglich ist, besprochen werden. Damit wird der konkrete Sinn der Neubestimmung der Transzendentalphilosophie als Selbstkritik der reinen Vernunft zum Zweck einer methodologischen Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft einsichtig und der epistemologische Charakter der Kritik der reinen Vernunft mit seiner wahrheitstheoretischen Fragestellung offenbar: Der „Schlüßel zu dem gantzen Geheimnisse, der bis dahin sich selbst noch verborgenen Metaphys[ik]“ liegt in dem Grund der Beziehung einer Vorstellung auf ihren Gegenstand (vgl. AA 10:130). Das bedeutet: Der Schlüssel liegt in der adäquaten Bestimmung der Prinzipien materialer Wahrheit. Gegenstand von Kapitel 4 ist Kants Erklärung der Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken mit Blick auf die methodologische Grundlegung der Metaphysik. Um die kantische Transzendentalphilosophie als Wegbereiterin einer wissenschaftlichen Metaphysik zu begreifen, ist darzulegen, welche Rolle die transzendentalen Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile spielen, die Kant mittels einer „transzendentalen Deduktion“ der reinen Verstandesbegriffe in der KrV ausweist. Ausgangspunkt dieses Kapitels bildet Kants Einsicht, dass deren Missachtung dazu führt, dass die Metaphysik zu jenem „Kampfplatz endloser Streitigkeiten“ (KrV A viii) verkommt, angesichts dessen sich eine radikale Vernunftskepsis aufdrängt. Zu erklären ist, wie es Kant gelingt, mittels einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die Wahrheitsskepsis auszuräumen. In Teil 5.1 wird mit dem Empirismus einerseits und dem Rationalismus andererseits eine doppelte skeptische Front namhaft gemacht, zwischen der Kant die Vernunft hindurchführen muss, soll Metaphysik als Wissenschaft möglich sein. Aus der Betrachtung der zweifachen Gegnerschaft werden zwei zentrale Anforderungen für die Interpretation der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gewonnen: (a) gegen den Empirismus ist einerseits die objektive Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe zu beweisen und damit die WahrheitsskepsisE zu widerlegen; (b) andererseits ist der objektiv gültige Kategoriengebrauch so zu restringieren, dass – gegen den Rationalismus – der Beitrag der Vernunft zur Erkenntnis erklärt werden kann, ohne dass Widersprüche produziert werden, durch die die mit der Analytik scheinbar gesicherte Verstandeserkenntnis diskreditiert würden. Mit der Widerlegung von WahrheitsskepsisR ist dann auch die Möglichkeit transzendentaler Freiheit gesichert, die eine notwendige Voraussetzung der praktischen Philosophie darstellt. In Teil 5.2 wird die transzendentale Deduktion der Kategorien als Kants Erklärung der Wahrheitsmöglichkeit vor dem Hintergrund dieser doppelten Anforderung besprochen und geprüft. Damit ist die Grundlage bereitet, um in Teil 5.3 zu zeigen, dass der
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5 Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Denken
Selbstwiderspruch reiner Vernunft auf einem illegitimen Verstandes- und Vernunftgebrauch beruht, der sich mit den Mitteln des transzendentalen Idealismus erkenntnistheoretisch auflösen lässt. Auf diesem Wege soll deutlich werden, wie der in Kapitel 1 herausgestellte epistemologische Sinn der Kantischen Transzendentalphilosophie als Methodentraktat zur wissenschaftlichen Metaphysik mit der Lösung des Wahrheitsproblems zusammenhängt.
5.1 Vorbemerkungen zur transzendentalen Deduktion In der B-Vorrede zur KrV heißt es: Wenn […] die Kritik nicht geirrt hat, da sie das Objekt in zweierlei Bedeutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst; wenn die Deduktion ihrer Verstandesbegriffe richtig ist, mithin auch der Grundsatz der Kausalität nur auf Dinge im ersten Sinne genommen, nämlich so fern sie Gegenstände der Erfahrung sind, geht, eben dieselbe aber nach der zweiten Bedeutung ihm nicht unterworfen sind, so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (als sichtbare Handlungen) als dem Naturgesetz notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne hiebei ein Widerspruch vorgeht. (KrV B xxviif., Hervhb. SB)
Zwei Lehren sind diesem Zitat zu entnehmen: Zum einen wird der transzendentale Idealismus, mit dem die epistemologische Unterscheidung zwischen Dingen an sich selbst und Erscheinungen gesetzt ist, hier als Resultat der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe präsentiert. Zum anderen wird die Beschränkung der menschlichen Erkenntnisfähigkeit auf die Betrachtung des Erkenntnisobjekts als Erscheinung als Möglichkeitsbedingung des Freiheitsgedankens dargestellt.¹ Dass Freiheit auch in spekulativer Perspektive ein logischmöglicher Gedanke bleibt, ist eine notwendige Bedingung für die praktische Philosophie, weil sie zum Zwecke der Moral als notwendige Eigenschaft des Willens angenommen werden muss und daher nicht aus theoretischen Gründen für unmöglich gelten darf (vgl. KrV B xxvi Anm. 1, vgl. auch B 166 Anm. 1). Kapitel 2 hat deutlich gemacht, dass die skeptische Herausforderung, die Kant im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie zu lösen hat, in dem Desiderat zu sehen ist, ein transzendentales Prinzip der materialen Wahrheit auszuweisen. Kapitel 3 hat gezeigt, dass die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens die Bedingungen sine qua non ist, dieses Desiderat zu erfüllen. In Kapitel 4 soll Auch in der A-Auflage betont Kant die unübertroffene Bedeutung, die der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zuzurechnen ist (vgl. KrV A xvi).
5.1 Vorbemerkungen zur transzendentalen Deduktion
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nun Kants Antwort auf die wahrheitsskeptische Herausforderung untersucht werden. Gezeigt werden soll, dass sich der Zusammenhang zwischen dem transzendentalen Idealismus und der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe aus wahrheitstheoretischer Perspektive erschließt. Um diese These zu bestätigen, ist dem Ansatz und der Leitthese dieser Untersuchung zufolge darzulegen, dass die Wahrheitsskepsis mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vollumfänglich widerlegt ist. In Teil 5.1 gilt es, zunächst Klarheit über das Beweisprogramm der transzendentalen Deduktion zu erlangen. In 5.1.1 wird die doppelte wahrheitsskeptische Gegnerschaft der kantischen Argumentation in der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe vorgestellt. Diese war bereits als WahrheitsskepsisE und WahrheitsskepsisR thematisch, wird an dieser Stelle aber mit Blick auf die Antinomie der reinen Vernunft im transzendentalen Verstandesgebrauch weiter aufgeklärt, und zwar indem die wahrheitsskeptischen Konsequenzen vor Augen geführt werden, die in Folge einer versäumten Deduktion der reinen Verstandesbegriffe auftreten und den Freiheitsgedanken als notwendige Voraussetzung des praktischen Vernunftgebrauchs und damit diesen selbst unmöglich erscheinen lassen. Derart soll einerseits Kants Widerlegung der Wahrheitsskepsis in der KrV nachvollzogen werden und andererseits der Zusammenhang zwischen Kants Erkenntniskritik und der praktischen Philosophie verdeutlicht werden. Daran anschließend soll durch eine Charakterisierung des Beweisverfahrens der transzendentalen Deduktion deren Beweisprogramm in den Abschnitten 5.1.2 bis 5.1.4 näher bestimmt werden, um die Interpretation der Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als Mittelweg zwischen der mit dem Empirismus verbundenen WahrheitsskepsisE und der mit dem Rationalismus verbunden WahrheitsskepsisR vorzubereiten, die in Teil 5.2 folgen wird. Zunächst wird der Begriff einer transzendentalen Deduktion von dem einer empirischen Deduktion abgegrenzt (5.1.2), dann wird der mit der transzendentalen Deduktion verbundene juridische Deduktionssinn vom logischer Sinn einer Deduktion unterschieden (5.1.3) und die transzendentale Deduktion schließlich als ostensiver Beweis näher spezifiziert (5.1.4).
5.1.1 Die doppelte skeptische Gegnerschaft Während die Skeptiker in der Schilderung des Sextus Empiricus im Gegensatz zu den Dogmatikern und den Akademikern die Seelenruhe nicht in der Erkenntnis des Wahren inmitten der wandelbaren Dinge suchten, sondern in der Befolgung
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des Prinzips, „daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht“ (PH I.12),² begann für Kant die Revolution des philosophischen Denkens mit der Erkenntnis, dass die Philosophie in ihrer Suche nach reiner diskursiver Vernunfterkenntnis im Kern von einem scheinbar notwendigen Selbstwiederspruch herausgefordert ist.³ Von dieser initialen Beunruhigung berichtet Kant in einem Brief an Christian Garve vom 21. September 1798 rückblickend: Nicht die Untersuchung zum Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit ist der Punct gewesen von dem ich ausgegangen bin sondern die Antinomie der r. V. […] dieses war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben. (AA 7:254 f.)
Wie kommt es zu diesem „Scandal des scheinbaren Selbstwiderspruchs der Vernunft“? Im transzendentalen Verstandesgebrauch wagt „sich der Verstand allein […], synthetisch über Gegenstände überhaupt zu urteilen, zu behaupten, und zu entscheiden“ (KrV A 63/B 88). Die Sinnlichkeit wird als essentielle und eigenständige kognitive Instanz verkannt und die formale, logische Wahrheit mit der materialen, objektiven Wahrheit identifiziert. Jedoch führt die Identifikation der formalen mit den materialen Wahrheitsbedingungen, die dieser Position zugrunde liegt, in eine Antithetik der Vernunft, einen „nie beyzulegenden Streit“, der sie „in den hoffnungslosesten Skepticism stürzen mußte[]“ (AA 20:287). Bei dem Versuch, unter Voraussetzung des transzendentalen Realismus einen vollständigen, kausal in Raum und Zeit geschlossenen Weltbegriffs a priori zu konzipieren, verstrickt sich die Vernunft in eine vierfache Antithetik.⁴ Kant prä Im Grundriss der pyrrhonischen Skepsis unterscheidet Sextus Empiricus zwischen drei Typen von Philosophien: 1) Es gibt diejenigen, die behaupten, das Wahre gefunden zu haben (die Schule der Dogmatiker, zu denen er u. a. Aristoteles, Epikur und die Stoiker rechnet); 2) Es gibt diejenigen, die die Dinge für unerkennbar erklären (unter dieser Rubrik werden Kleitomachos und Karneades und andere Akademiker geführt); 3) Es gibt diejenigen, die noch suchen (die skeptische Schule) (vgl. PH I.1– 4). Im 6. Abschnitt erklärt Sextus, das motivierende Prinzip der Skepsis sei die Seelenruhe. Die skeptische Schule unterscheide sich von anderen Philosophien dadurch, dass sie nicht in der Erkenntnis, „was wahr ist in den Dingen und falsch“ die Seelenruhe zu finden suche, sondern ihr „Hauptbeweisprinzip“ sei, „daß jedem Argument ein gleichwertiges entgegensteht“ (PH I.12). Die pyrrhonische Skepsis ist eine Praxis, die mit der Entgegensetzung zweier Sätze anhebt und via Gleichwertung (isosthenia) und Urteilsenthaltung (epoché) das Ziel der Seelenruhe (ataraxia) erreichen möchte. Zur phyrrhonischen Skepsis (vgl. Heidemann 2007: 13 – 116, hier: 16). Der transzendentale Realismus im Gegensatz zum transzendentalen Idealismus war insbes. Thema in 4.3.1. Seine wahrheitstheoretische Verfehlung, nämlich logische Wahrheitsbedingung für Bedingungen der materialen Wahrheit, also der Erkenntnis, zu erachten, untersuchte Kapitel 2 (vgl. insbes. Teil 3.2). Zur Auflösung der scheinbar notwendigen Antithetik vgl. insbes. 5.3.2.
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sentiert sie in der transzendentalen Dialektik entlang der vier Kategorien-Gruppen (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) als folgende vier Fragen betreffend: (1) Gibt es einen ersten Anfang der Welt, ist sie räumlich begrenzt? (2) Besteht die zusammengesetzte Substanz aus einfachen Teilen oder nicht? (3) Gibt es transzendentale Freiheit oder nur Naturkausalität? (4) Existiert ein schlechthin notwendiges Wesen als Teil oder Ursache der Welt?⁵ Hinsichtlich dieser Fragen scheint ein vierfacher Selbstwiderspruch der Vernunft zu entstehen, weil sich schlüssige Beweise für zwei scheinbar kontradiktorisch entgegengesetzte Thesen führen lassen. Für die kantische Auflösung der Antithetik sind zwei methodologische Punkte entscheidend: Zum einen, dass sich die Antithetik in einem indirekten Beweisverfahren ergibt und zum anderen, dass sie auf der Ansicht basiert, dass Thesis und Antithesis einen kontradiktorischen Gegensatz bilden.⁶ Im apagogischen Beweisverfahren wird von der Widerlegung der Gegenposition, die aufgefasst wird als kontradiktorischer Gegensatz der These, die bewiesen werden soll, auf die Wahrheit der eigenen Position geschlossen.⁷ Weil sich derartige Beweise aber Kant zufolge in allen Fällen sowohl für die Seite der Thesis als auch für die Seite der Antithesis führen lassen, gerät die Vernunft in einen antinomischen Zustand. Die Antinomie der reinen Vernunft stellt eine Bedrohung für die Wahrheitsfähigkeit des Erkenntnisvermögens dar: Wenn sowohl ein Satz (Thesis) wie sein Gegensatz (Antithesis) für die reine Vernunft in eben demselben Maße beweisbar sind, so bleibt nur die Wahl zwischen der schlechten Alternative, sich entweder (a) dogmatisch auf die Seite von Thesis oder der Antithesis zu schlagen oder (b), die Vernunft als Erkenntnisvermögen radikal in Zweifel zu ziehen. Allerdings sind in Kants Augen weder Dogmatismus noch Skeptizismus legitime Methoden der Metaphysik, sondern bedeuten beide den „Tod einer gesunden Philosophie“ (KrV A 407/B 434). Reine Vernunfterkenntnis scheint in Anbetracht der Antithetik generell unmöglich. Denn die Vernunft scheint sich als ein Vermögen zu erweisen, das statt Erkenntnis Selbstwidersprüche produziert. Dies betrifft nicht nur ihren spekulativen Gebrauch, sondern zieht Konsequenzen für ihren praktischen Gebrauch nach sich: Insofern in Anbetracht der dritten Antinomie Freiheit logisch unmöglich
Zur Antinomie der reinen Vernunft vgl. KrV A 405 – 567/B 432– 595. Die Güte der Beweise wird daher an dieser Stelle nicht hinterfragt, sondern vorausgesetzt. Zum apagogischen Beweisverfahren vgl. KrV A 789 f./B 817 f. Diese Beweisart ist Kant zufolge nur in den Wissenschaften erlaubt, in denen es unmöglich ist, „das Subjektive unserer Vorstellungen dem Objektiven, nämlich der Erkenntnis desjenigen, was am Gegenstande ist, unterzuschieben“ (KrV A 791/B 819, Hervhb. im Original), also v. a. der Mathematik.
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wird – sie ist notwendig nach dem Argument der Thesis und unmöglich nach dem Argument der Antithesis –, wäre der Vernunft das Feld ihrer zweckmäßigen Tätigkeit verbaut. Der praktische Vernunftgebrauch, den Kant an die Stelle der rationalistischen Metaphysica specialis setzen wird, ist in Anbetracht der Antinomie nicht möglich. Freiheit muss als notwendig vorauszusetzende Eigenschaft des Willens immerhin widerspruchsfrei denkbar sein. Also muss Kant nicht nur für die Belange der theoretischen Erkenntnis, sondern auch in Hinblick auf die Möglichkeit eines praktischen Vernunftgebrauchs die Vernunft aus dem antinomischen Zustand befreien.⁸ Für Kant entpuppte sich die Entdeckung der Antinomie geradezu als instruktiver Glücksfall, wie der oben zitierte Brief an Garve bezeugt. Sie war das „denkerische Movens“ (Kreimendahl), das Kant zur Ausarbeitung seiner „gantz neue[n] Wissenschaft“ (AA 10:144 f.) inspirierte, die er Kritik der reinen Vernunft nannte (vgl. Kreimendahl 1998: 414). Allerdings führt die in der transzendentalen Dialektik thematische Antinomie der Vernunft generell die Notwendigkeit vor Augen, die Bedingungen der menschenmöglichen Vernunfterkenntnis zu hinterfragen. Denn im reinen Vernunftgebrauch, der ohne den „Probierstein der Erfahrung“ (KrV A viii) auszukommen hat, ist ein Fehler nicht leicht auszumachen. In Anbetracht der Antinomien muss aber der „Verdacht“ aufkommen, dass der Antithetik ein von beiden Seiten – Thesis wie Antithesis – geteilter Fehler zugrunde liegen könnte (vgl. KrVA 485/B 518) und sogar muss, soll sie auflösbar sein und die reine Vernunfterkenntnis (Philosophie) als menschliche Möglichkeit erwiesen werden. Durch die Antinomie ist die Vernunft aufgefordert, das beschwerlichste aller ihrer Geschäfte, nämlich das der Selbsterkenntnis zu übernehmen und einen Gerichtshof einzusetzen, der sie bei ihren gerechten Ansprüchen sichere, dagegen aber alle grundlose Anmaßungen, nicht durch Machtsprüche, sondern nach ihren ewigen und unwandelbaren Gesetzen, abfertigen könne und dieser ist kein anderer als die Kritik der reinen Vernunft selbst. (KrV A xif.)⁹
In §14 der KrV umreißt Kant das Ziel der folgenden Argumentation: Die transzendentale Deduktion müsse die menschliche Vernunft zwischen zwei Klippen glücklich hindurchbringen, nämlich der Schwärmerei auf der einen Seite und dem Skeptizismus auf der anderen. Die Kontraposition zu Kant tritt demnach in zwei Gestalten auf: Entweder (1) werden die Verstandesbegriffe und Grundsätze für Zur Antithetik selbst und Kants erkenntniskritischer Lösung vgl. Teil 5.3. Am Ende der Methodenlehre reflektiert Kant, die Kritik der reinen Vernunft sei eine unentbehrliche Wissenschaft, die die Vernunft „durch ein […] völlig einleuchtendes Selberkenntnis“ vor der Verwüstung bewahre, „welche eine gesetzlose spekulative Vernunft sonst ganz unfehlbar, in Moral sowohl als Religion, anrichten würde“ (vgl. KrV A 849/B 877).
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bloß subjektiv notwendig (im Sinne Humes psychologischer Notwendigkeit) erachtet und hinter ihrem objektiven Geltungsanspruch eine Täuschung der Vernunft vermutet (Skeptizismus).¹⁰ Oder (2) die objektive Geltung des kategorialen Urteilens wird nicht gerechtfertigt, sondern vorausgesetzt und infolgedessen über die Erfahrungsgrenzen hinaus ausgedehnt (Schwärmerei). Im ersten Fall (1) kommt der Gedanke eines Auseinandertretens der Struktur des Denkens und der Struktur der Objektivität auf, weil die objektive Geltung des kategorialen Urteilens nicht gesichert erscheint (WahrheitsskepsisE ¹¹). Im zweiten Fall (2) produziert die Vernunft Selbstwidersprüche und rückt die vermeintlich gesicherte Verstandeserkenntnis in ein fragwürdiges Licht. Wenn man synthetische Sätze ohne Deduktion allgemein gelten ließe, wäre „alle Kritik des Verstandes verloren“ (vgl. KrV A 233/B 285).¹² In der Folge erscheint auch der praktische Vernunftgebrauch unmöglich: Wenn Freiheit kein möglicher Gedanke ist, sondern aufgrund der dritten Antinomie logisch unmöglich, dann ist der Vernunft auch das Feld ihres genuin praktischen Interesses – das Feld ihrer zweckmäßigen Tätigkeit – verbaut (WahrheitsskepsisR). Vor diesem Hintergrund ist deutlich, dass der kantische Versuch, mittels einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe die menschliche Vernunft glücklich zwischen den zwei Klippen – auf der einen Seite Skeptizismus (WahrheitsskepsisE) und Schwärmerei (WahrheitsskepsisR) auf der anderen – hindurchzubringen, zwei Anforderungen zu genügen habt: (1) Der Ausweis objektiver Gültigkeit der reinen Verstandesbegriffe muss entgegen der WahrheitsskepsisE die objektive Gültigkeit der Kategorien ausweisen; andererseits (2) muss deren objektiv gültiger Gebrauch derart in Grenzen gesetzt werden, dass die WahrheitsskepsisR vermieden wird. In anderen Worten: Aufgabe der transzendentalen Deduktion ist es, nur den empirischen Verstandesgebrauch als wahrheitsfähig zu erweisen. Damit ist das antiskeptische Beweisprogramm der transzendentalen Deduktion umrissen: Contra WahrheitsskepsisE müssen die reinen Verstandesbegriffe somit als objektiv gültige Begriffe ausgewiesen werden. Dazu muss gezeigt werden, dass der Anspruch ihrer „ursprüngliche Erwerbung“ aus den Urteilsfunk-
Vgl. 4.1.1. Zum Skeptizismus in Folge des Vorschlags eines Mittelwegs im Sinne eines Präformationssystem vgl. 4.1.2, vgl. KrV B 167 f. Die beiden Varianten der Skepsis betreffen die reinen Verstandesbegriffe und die Frage ihres legitimen Gebrauchs (vgl. dazu AA 5:54). Hier stellt Kant die theoretische Gemengelage so dar, dass gegen Hume der Begriff der Kausalität zunächst als realmöglicher Begriff durch Ausweis seiner Anwendungsbedingungen gesichert werden muss.
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tionen (§§ 9, 10) rechtmäßig ist.¹³ Contra WahrheitsskepsisR muss der objektiv gültige Gebrauch der Kategorien derart in bestimmte Grenzen gesetzt werden, dass die Vernunft nicht als ein Selbstwidersprüche generierendes Vermögen erscheint. Mit dem Ausweis ihrer objektiven Gültigkeit sind also zugleich die Bedingungen zu spezifizieren, unter denen sie zu Recht objektive Gültigkeit beanspruchen. ¹⁴ Bevor in Teil 5.2 Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als antiskeptischer Beweis besprochen wird, sollen zunächst in den Abschnitten 5.1.2 bis 5.1.4 Hinweise zum Beweisverfahren entwickelt werden, um die Interpretation dieses schwierigen, jedoch zentralen, Beweisstücks anzuleiten. Grundlage der folgenden Ausführungen ist die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe nach der B-Auflage der KrV.
5.1.2 Transzendentale vs. empirische Deduktionen Die „n o t w e n d i g e Übereinstimmung der Erfahrung mit den Begriffen von ihren Gegenständen“ kann – nach Ausscheiden der Option, sie durch ein Präformationssystem zu erklären¹⁵ – nur auf zwei Weisen gedacht werden: „[E]ntweder die Erfahrung macht diese Begriffe, oder diese Begriffe machen die Erfahrung möglich“ (KrV B 166).¹⁶ Allerdings kann eine empirische Deduktion die Notwendigkeit
Vgl. das in 4.1.1 entwickelte zentrale Desiderat der antiskeptischen Argumentation Kants in der KrV. Dem praktischen Vernunftgebrauch entsteht dadurch kein Nachteil. Denn die Kategorien sind im Denken durch die Bedingungen unserer sinnlichen Anschauung nicht eingeschränkt, sondern haben ein unbegrenztes Feld. Nur das Erkennen dessen, was wir uns denken, das Bestimmen des Objekts, bedarf der Anschauung. Bei deren Mangel kann der Gedanke immer noch seine wahren und nützlichen Folgen auf den Vernunftgebrauch des Subjekts haben, aber dieser ist nicht auf die Bestimmung des Objekts, sondern auch auf die des Subjekts und dessen Wollen gerichtet – und gehört somit nicht in die Transzendentalphilosophie (vgl. KrV B 166 Anm. 1). Vgl. 4.1.2. So hatte er das Programm der Deduktion im §14 der KrV A 92/B 124 f. eingeführt: „Es sind nur zwei Fälle möglich, unter denen synthetische Vorstellung und ihre Gegenstände zusammentreffen, sich auf einander notwendiger Weise beziehen, und gleichsam einander begegnen können. Entweder wenn der Gegenstand die Vorstellung, oder diese den Gegenstand allein möglich macht. Ist das erstere, so ist diese Beziehung nur empirisch, und die Vorstellung ist niemals a priori möglich. Und dies ist der Fall mit Erscheinung, in Ansehung dessen, was an ihnen zur Empfindung gehört. Ist aber das zweite, weil Vorstellungen an sich selbst (denn von deren Kausalität, vermittelst des Willens, ist hier gar nicht die Rede,) ihren Gegenstand dem Dasein nach nicht hervorbringt, so ist doch die Vorstellung in Ansehung des Gegenstandes alsdenn a priori
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nicht rechtfertigen, die die reinen Verstandesbegriffe wesentlich mit sich führen. Denn eine empirische Deduktion der Begriffe und Grundsätze, die in der Erfahrung anzutreffen sind, kann die objektive Gültigkeit dieser Begriffe und Grundsätze nicht ausweisen, sondern nur deren subjektive Notwendigkeit als wesentliche Funktionen des menschlichen Verstandes. Diese Notwendigkeit wäre nichts weiter als die auf die zufällige Einrichtung des menschlichen Erkenntnisvermögens zurückzuführende Art, wie dieses Erkenntnisvermögen die Objektivität notwendigerweise denken muss. Jedoch könnte ihr objektiver Geltungsanspruch auf diesem Weg nicht ausgewiesen werden. Die Tatsache, dass die Gegenstände der Erfahrung diesen Denknotwendigkeiten tatsächlich entsprechen, wäre etwas, auf das als Effekt eines Wunders, göttlicher Gnade oder einer weisen Vorsorge der Natur zu hoffen wäre. Eine empirische Deduktion kann daher die Wahrheitsskepsis in keiner der beiden Varianten (weder WahrheitsskepsisE, noch WahrheitsskepsisR) ausräumen. Ohne eine Rechtfertigung des objektiven Geltungsanspruchs dieser Begriffe, die mit einer Bestimmung der Grenzen ihres objektiv gültigen Gebrauchs einhergehen muss, hindert nämlich grundsätzlich nichts daran, sie erst aus der Erfahrung abzuleiten und dann doch jenseits deren Grenzen zu gebrauchen. Ein solches Vorgehen kann allenfalls als Inkonsequenz getadelt werden, die Kant Locke vorwirft.¹⁷ Der Beweis, dass sich die Kategorien als synthetische Vorstellungen auf Objekte beziehen, kann also nur a priori erbracht werden. Nur ein apriorisches Beweisverfahren ist geeignet, ihre apodiktische Geltung zu begründen. Während empirische Begriffe unter entsprechenden Bedingungen notwendigerweise mit ihren Gegenständen übereinstimmen, muss die Vernunft im Falle synthetischer Vorstellungen a priori „die objektive Gültigkeit der Begriffe und die Möglichkeit der Synthesis derselben a priori dartun“ (KrV A 782/B 815). Derartige Beweise heißen „transzendentale Deduktionen“. Sie erweisen im Gegensatz zu empirischen Deduktionen eine synthetische Vorstellung a priori als Möglichkeitsbedingung ihres Gegenstandes. Durch das Merkmal der Apriorität sind transzendentale Deduktionen grundsätzlich von empirischen unterschieden. Sie gehen nicht von der Erfahrung aus, sondern von apriorischen Vorstellungen.¹⁸
bestimmend, wenn durch sie allein es möglich ist, etwas als einen Gegenstand zu erkennen“ (KrV A 92/B 124 f.). Vgl. KrV B 127, vgl. A ix. In der KU findet sich eine transzendentale Deduktion des Prinzips einer objektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntniskräfte, das „als regulatives Prinzip der Möglichkeit einer systematischen Erkenntnis der besonderen (empirischen) Formen und Gesetzen der Natur zugrunde liegt“ (vgl. AA 5:179 – 185). Außerdem findet sich dort eine transzendentale Deduktion des Prinzips einer subjektiven Zweckmäßigkeit der Natur für die Erkenntniskräfte, die nachweisen
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Mit Blick auf Humes empirische Deduktion weist Kant in der Vorrede zu den Prolegomena darauf hin, dass es um den Ursprung der „reinen“ Verstandesbegriffe im Verstand geht, nicht um „die Unentbehrlichkeit derselben im Gebrauche“ (AA 4:259). Als dem Verstand entspringende reine Begriffe müssen sie objektiv gültig sein. Ihre metaphysische und ihre transzendentale Deduktion sind also nicht in einem starken Sinn auseinanderzusetzen, sondern als zwei Aspekte der transzendentalen Erkenntnis wesentlich aufeinander bezogen.¹⁹ Wenn der Verstand, wie mit der metaphysischen Deduktion der Kategorien beansprucht, die Quelle reiner Begriffe ist, muss dieser Anspruch a priori durch ihre transzendentale Deduktion als rechtmäßig ausgewiesen werden – der genetische und der juridische Aspekt machen das Ganze der transzendentalen Erkenntnis aus. Eine Deduktion ist nämlich „die Erklärung der Art, wie sich Begriffe a priori auf Gegenstände beziehen können“ (KrV A 85/B 117). Sie wird dadurch erbracht, dass erklärt wird, wie „s u b j e k t i v e B e d i n g u n g e n d e s D e n k e n s [ … ] o b j e k t i v e G ü l t i g k e i t haben, d. i. Bedingungen der Möglichkeit aller Erkenntnis der Gegenstände abgeben“ (KrV A 89 f./B 122).
soll, dass „dieses konstitutiv für die Möglichkeit des (subjektiven) Gefühls eines interesselosen Wohlgefallens am Schönen (und am Erhabenen) ist, das jedermann mit Notwendigkeit angesonnen wird“ (vgl. AA 5:279 – 336; 5:244– 278). Der oberste Grundsatz der praktischen Philosophie hingegen als kategorischer Imperativ ist keiner Deduktion fähig, sondern steht als einziges Faktum der Vernunft für sich selbst fest (vgl. AA 5:42– 50). Allerdings erhält die Idee der Freiheit aus dem Bewusstsein des kategorischen Sollens eine Rechtfertigung, aber nur im epistemologisch abgeschwächten Modus einer Beglaubigung („Ceditiv“, AA 5:48) ihrer Möglichkeit und Wirklichkeit als regulatives Prinzip fürs moralische Handeln (vgl. AA 5:404). Zur Möglichkeit des höchsten Guts als dem praktisch-notwendigen Ziel eines durch den kategorischen Imperativ angeleiteten, moralisch bestimmten Willens und damit des moralischen Handelns aus dem subjektiv notwendigen Vernunftglauben an die Ideen von Gott, Freiheit und Unsterblichkeit, deren objektive Notwendigkeit aber unerklärlich bleibt (vgl. AA 5:113; 5:124– 132). Außerdem stellt Kant eine transzendentale Deduktion des Begriffs der ursprünglichen Erwerbung aus, um die Möglichkeit des Eigentums zu beweisen (vgl. AA 6:268 – 270), eine transzendentale Deduktion, um die Möglichkeit des vermittelten Erwerbs von Eigentum (Erwerbung durch Vertrag) zu legitimieren (vgl. AA 6:272 f.) und eine naturrechtliche Deduktion des Rechts des Eigentümers gegen den Nachdrucker (vgl. AA 8:79 – 87). Brandt hat auf eine mögliche Vorlage für Kants Beweisverfahren in der Deductions-Bibliothek (1778) hingewiesen, wo es heißt: „Unter Deductionen aber werden, in einer etwas weitläufigeren Bedeutung solche Schriften verstanden, worinnen die streitigen Rechte und die darauf gründenden Ansprüche streitender Parteien untersucht und verteidigt werden“ (Brandt 2017: 1, Anm. 2). Vgl. Kapitel 1.
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5.1.3 Juridischer vs. logischer Deduktionssinn In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts hatte die Kategorienlehre ihre Bedeutung größtenteils eingebüßt. Mangels einer Deduktion der Kategorien aus einem Prinzip wurde die Anzahl und Auswahl der Kategorien weitestgehend für willkürlich und unbegründet befunden und zumeist nur flüchtig erwähnt oder abgelehnt, wie in der Wolff’schen Schule. In der mittelalterlichen Adaption der aristotelischen Kategorienlehre war deren logisch-ontologische Bedeutung herausgestellt worden, so etwas von Boethius, dem zufolge sie sowohl als „genera significationum“ wie auch als „genera rerum“ zu begreifen sind (vgl. Baumgartner et al. 1972: Sp. 725). Schließlich verbot sich ganz ursprünglich ja der Gedanke, eine deduktive Ableitung der Kategorien aus einem Prinzip zu versuchen. Denn der Aristotelischen Lehre zufolge gelten sie als die zehn ursprünglichen Weisen, etwas als seiend auszusagen, die eben nicht als Arten einer vermeintlich obersten Gattung (Sein) gelten können.²⁰ Das macht deutlich, vor welchen Schwierigkeiten Kant mit seinem Programm einer Kategoriendeduktion stand. Die Novität der kantischen Kategorienlehre liegt primär darin, dass mit ihrer Deduktion ein legitimer von einem illegitimen Gebrauch unterschieden wird. Sie dient so als Scharnier zwischen dem Erkennen, d. h. der wahrheitsvalenten Bezugnahme auf Objektives, und bloßem Denken und damit der Kritik unrechtmäßig erhobener apriorischer Erkenntnisansprüche. Kant betont, dass der Beweis „synthetisch“ erfolgen muss und grenzt sein deduktives Beweisverfahren von dem logisch-deduktiven Schlussverfahren ab. Es ist unmittelbar einleuchtend, dass die Beweisgründe synthetischer Sätze nicht durch ein logisch-deduktives Verfahren gesichert werden können. Denn ein logisch-deduktiver Vernunftschluss ist „eine Form der Ableitung einer Erkenntiß aus einem Princip“, deren Möglichkeit darauf basiert, dass die Majorprämisse einen Begriff enthält, „der da macht, daß alles, was unter der Bedingung desselben subsumirt wird, aus ihm nach einem Princip erkannt wird.“ (KrV A 300/B 357). Die objektive Realität der Kategorien kann nicht auf diese Art und Weise ausgewiesen werden. Denn in den reinen Verstandesbegriffen liegt nichts, woraus ihr Anwendungsfeld abgeleitet werden könnte. Der Beweis der objektiven Realität der Kategorien kann also nicht im logischen Sinn deduktiv geführt werden. Schließlich könnte als Obersatz des Beweises auch nur der Satz dienen, der erst durch den Beweis als gerechtfertigt ausgewiesen werden soll: ‚Die Kategorien sind Bei der Kategorienlehre stand stets die Wissensorganisation im Zentrum, wobei zuweilen fraglich war, ob die Kategorien ihren Ort in der Logik oder in der Metaphysik haben (vgl. Baumgartner et al. 1972: hier: 725 f., 722, 716 f.). Zum Aristotelischen Argument gegen den Gattungscharakter von ’Sein’ (vgl. Koch 1993).
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Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung‘ (vgl. KrV A 93/B 126). Mit diesem Satz ist ihre objektive Gültigkeit ausgewiesen. Denn „Begriffe, die den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben, sind eben darum notwendig“ (KrV A 94/B 126). Wenn dieser Satz als Prämisse des Beweises gebraucht würde, wäre der Beweis zirkulär. Zwar spricht Kant von diesem Satz als einem „Principium“ (KrV A 94/B 126), aber auf diese Einsicht ist die ganze Nachforschung gerichtet. Er ist die Konklusion der transzendentalen Deduktion, deren Programm es ist, ihn zu rechtfertigen. Er kann nicht als deren Startpunkt als Obersatz einer logischen Ableitung fungieren.²¹ Der Deduktionssinn ist hier also kein logischer, sondern ein juridischer. Das bedeutet, dass die formalen Bedingungen ihres Erwerbs durch Ableitung aus den elementaren Verstandesformen gerechtfertigt werden müssen, indem ihre Anwendbarkeit nachgewiesen wird.²² Transzendentale Deduktionen zeigen, dass synthetische Sätze a priori ihre Gegenstände als Beweisgründe ermöglichen (vgl. KrV A 92 f./B 124 f.; A 737/B 765). Bei der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe geht es also um die Rechtfertigung der „Befugnis“ des Kategorien-Gebrauchs. Bei diesem Beweis steht folglich der zweite juridische Aspekt der transzendentalen Erkenntnis in Frage.²³ Durch die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe wird die Befugnis des rechtmäßigen Gebrauchs dieser apriorischen Vorstellungen eingesehen. Juridische Deduktionen sind von logischen Deduktionen durch das Merkmal der Synthetizität unterschieden. Mit der Ableitung der „Befugnis ihres Gebrauchs“ aus einem „Rechtsgrund“ (vgl. KrV B 117) ist dieser Beweis der Zirkularität enthoben.
5.1.4 Ostensive vs. apagogische Beweise Kants Auskunft, transzendentale Deduktionen müssten immer direkt geführt werden und „ostensiv“ sein (KrV A 789/B 817), ist hilfreich, um die Struktur des Baum hat allerdings darauf hingewiesen, dass die juridische Argumentationsweise der Deduktion und die syllogistische Form eines Beweises für Kant nicht in Konflikt miteinander stehen (vgl. Baum 1986: bes. 10), vgl. ebd. auch zur Darstellung, Kritik und Einordnung der von Dieter Henrich angestoßenen Debatte. Überzeugend kritisiert wurde Henrichs Vorschlag zur Beweisstruktur allerdings bereits von Raymond Brouillet (vgl. Brouillet 1975; vgl. a. Wagner 1980). Kants juridisch-deduktives Beweisverfahren, das er für die Zwecke seiner neuartigen epistemologischen Transzendentalphilosophie eigens etablieren musste, ist ein synthetisch-deduktives Rechtfertigungsverfahren. Der Sinn von „juridisch“ liegt darin, dass die formalen Bedingungen des Erwerbs gerechtfertigt werden müssen. In diesem Fall bedeutet dies, dass die Möglichkeit, sogar die Notwendigkeit, die reinen Verstandesbegriffe anzuwenden, ausgewiesen werden muss. Vgl. 2.3.1.
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Arguments zu verstehen.²⁴ Mit indirekten („apagogischen“) Beweisen wird Kant zufolge, „zwar Gewissheit, aber nicht Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhanges mit den Gründen ihrer Möglichkeit“ erreicht (KrV A 789/B 817). Eine transzendentale Deduktion ist also kein apagogischer Beweis, der aus der Widerlegung der Antithesis auf die Wahrheit der zu beweisenden These schließt, sondern ein direkt geführter ostensiver Beweis, der nicht nur die Wahrheit eines Satzes begreiflich macht, sondern diese Wahrheit aus den „Gründen ihrer Möglichkeit“ darlegt.²⁵ Der Beweis ist offenkundig in zwei Teile gegliedert. In der Forschung hat es sich durchgesetzt, von einem zweistufigen Beweis zu sprechen. Der erste Beweisteil umfasst die §§ 15 bis 20, der zweite die §§ 22 bis 26. In § 21 wird das im ersten Schritt erreichte Resultat des Arguments eingeordnet und das Programm für den zweiten Teil des Beweises angegeben. Wie der Titel von § 20 reklamiert, soll mit dem ersten Teil gezeigt sein, dass „[a]lle sinnlichen Anschauungen […] unter den Kategorien [stehen], als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann“ (KrV B 143). Häufig wurde gefragt, was nach dem Ergebnis des § 20 im zweiten Teil des Beweises überhaupt noch gezeigt werden müsse. Allerdings merkt Kant in § 21 mit Blick auf die Resultate der Argumentation bis § 20 an, hiermit sei erst der „Anfang“ einer Deduktion getan (vgl. KrV B 144). Erst der Titel von § 26 lautet: „Transzendentale Deduktion des allgemein möglichen Erfahrungsgebrauchs der reinen Verstandesbegriffe“ (KrV B 159). In Vorbereitung der in 5.2. folgenden Analyse sei an dieser Stelle die formale Struktur des Beweises abstrakt skizziert: In den §§ 20 und 26 führt Kant je zwei doppelte Syllogismen an, die im Sinne eines ostensiven Beweisverfahrens die Gründe der Möglichkeit der zu beweisenden Sätze in ihrem Zusammenhang darstellen und so deren Wahrheit aus ihren Gründen darlegen. Die Struktur derartiger Beweise kann vielleicht insofern als „rekursiv“ (Baum) charakterisiert werden, als von dem Bedingten (Minor) zu seiner Bedingung (Major) zurückgeschlossen wird (vgl. Baum 1986: 152). Die tragenden Prämissen der Beweise
Kant zufolge kann es zu jedem Satz nur einen einzigen solchen Beweis geben, weil jeder transzendentale Satz nur von einem Begriff ausgeht und die „synthetische Bedingung der Möglichkeit des Gegenstandes nach diesem Begriffe“ aussagt (vgl. KrV A 787/B 815). Hier ist insbesondere an die transzendentalen Grundsätze zu denken. Reinhold Aschenberger hat Zweifel angemeldet, ob sich Kant selbst daran hält (vgl. Aschenberg 1982: 265 f.) Kants methodologischer Punkt ist einsichtig. Ob er sich konsequent daran hält, kann im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden. Zur transzendentalen Deduktion als ostensivem Beweis vgl. KrV A 794/B 822.
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werden in den vorhergehenden Paragraphen gesichert.²⁶ Die syllogistischen Beweise bestehen aus je fünf Sätzen. Argument § 20: S1: (P1) „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist. (§17.) (Minor1) S2: (P2) Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§19.) (Major1) S3: (K1) Also ist alles Mannigfaltige, so fern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird. (Minor2) S4: (P3) Nun sind aber die Kategorien nichts andres, als eben diese Funktionen zu urteilen, so fern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist. (§13.) (Major2) S5: (K2) Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien.“ (KrV B 143)²⁷
Argument § 26: S6: (P1) „Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann. (Minor1) S7: (P2) Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als A n s c h a u u n g e n selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten) also mit der Bestimmung der E i n h e i t dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transz. Ästh.)1 |²⁸ (Major1)
Ein logische-deduktives Beweisverfahren hätte hingegen von der Konklusion als einem Prinzip auszugehen und die Prämissen daraus abzuleiten. Das aber ist unmöglich. Nur die mittlere Spalte ist der aus der KrV entnommene Text; die strukturierenden Elemente S1, P1 und Major, Minor etc. habe ich beigefügt. Ebenso im Folgenden. KrV B 160 Anm. 1 unter Verweis auf §24: „Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die F o r m d e r A n s c h a u u n g bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen gehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinn-
5.1 Vorbemerkungen zur transzendentalen Deduktion
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S8: (K1) Also ist selbst schon E i n h e i t d e r S y n t h e s i s des Mannigfaltigen, außer oder in uns, mithin auch eine Verbindung, der alles, was im Raume oder der Zeit bestimmt vorgestellt werden soll, gemäß sein muß, a priori als Bedingung der Synthesis der A p p r e h e n s i o n schon m i t (nicht in) diesen Anschauungen zugleich gegeben. (Minor2) S9: (P3) Diese synthetische Einheit aber kann keine andere sein, als die der Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen A n s c h a u u n g ü b e r h a u p t in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere s i n n l i c h e A n s c h a u u n g angewandt. (Major2) S10: (K2) Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung.“ (KrV B 160 f.)
Beide Argumente schließen analog: Die ersten beiden Sätze sind die Prämissen, die die Beweislast tragen. Zunächst wird die Minorprämisse (Minor1) eingeführt, die dann unter die Majorprämisse (Major1) subsumiert und so auf die vorläufige Konklusion (K1) geschlossen wird. Diese fungiert dann wiederum als Minor- (K1 = Minor2) zu einer weiteren Majorprämisse (Major2), die im vierten Satz (S4, S9) eingeführt wird. Bei Major2 handelt es sich in beiden syllogistischen Beweisen um Sätze, die bereits erwiesen wurden, nämlich zunächst in Satz 4 (S4) von § 20 um die Erklärung der Kategorie aus der metaphysischen Deduktion, die hier tiefer verstanden werden soll; und dann in Satz 9 (S9) um die in § 20 bereits für die Anschauung überhaupt erwiesene notwendige Verbindung des sinnlichen Mannigfaltigen zur objektiven Bewusstseinseinheit, die auf Grundlage des ersten Beweisteils in § 26 nun auf die menschliche sinnliche Anschauung angewandt werden kann, um ein tieferes Verständnis zu erreichen. Die tragenden Beweisgründe werden in den vorhergehenden Paragraphen einsichtig gemacht und als notwendig ausgewiesen. Vereinfacht gesprochen ist der Beweisgrund des ersten Teils in § 20 die Definition des Urteils als die Verstandeshandlung, durch die gegebene Vorstellungen unter die objektive Einheit der Apperzeption gebracht werden, um sie als Objektives zu denken. ²⁹ Der Beweisgrund des zweiten Teils in § 26 ist die Tatsache, dass die eigentümliche Einheit von Raum und Zeit den Kategorien und damit der Urteilseinheit notwendigerweise gemäß sein muss. Die Resultate der §§ 20 und 26 sind verschieden: § 20 beweist, dass das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung überhaupt notwendig unter Kategorien steht (vgl.
lichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauungen a priori zum Raum und zu der Zeit, nicht zum Begriffe des Verstandes. (§24.)“ Die transzendentale Einheit der Apperzeption ist die notwendige Bedingung des Denkens von Objektivität.
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KrV B 143). § 26 beweist, dass die Kategorien als Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung notwendig auch von allen Gegenständen der Erfahrung gelten (vgl. KrV B 161) und damit die objektive Realität der Kategorien für Erfahrungsgegenstände darstellen.³⁰
5.2 Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als kantischer Mittelweg zwischen Empirismus und Rationalismus Die Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ist „unumgänglich notwendig“ (KrV A 87/B 119), sagt Kant, weil diese nicht analytisch die Bedingungen enthalten, „unter denen Gegenstände in der Anschauung gegeben werden“ (KrV A 89/B 122). Als Begriffe des reinen Verstandes sind ihnen ihre Anwendungsbedingungen nicht eingeschrieben und diese können daher aus ihnen nicht analytisch abgeleitet werden, sondern müssen ihnen synthetisch beigebracht werden. Wenn aus der Tätigkeit des Verstandes und seinen Denkformen reine Verstandesbegriffe entspringen, wie Kant mit ihrer metaphysischen Deduktion aus dem transzendentallogischen Verstandesgebrauch reklamiert, ist nämlich folgende, immerhin prima facie denkbare Option auszuschließen: Weil die Anschauungen unabhängig von Begriffen sind, insofern der Zusammenhang von Anschauungen und Begriffen nicht analytisch, sondern synthetisch ist, ist zunächst denkbar, dass „Gegenstände erscheinen“ könnten, die nicht zu den Regeln des Denkens passen, sodass der „Verstand sie den Bedingungen seiner Einheit gar nicht gemäß fände, und alles so in Verwirrung läge, daß […] in der Reihenfolge der Erscheinungen sich nichts darböte, was eine Regel der Synthesis an die Hand gäbe“ (KrV A 89 f./B 122 f.). Die Notwendigkeit einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe lässt sich im Kontrast zur transzendentalen Ästhetik verdeutlichen: Der Nachweis, dass Raum und Zeit objektiv gültig sind, erfordert keinen solchen Beweis. Denn ihre objektive (empirische) Realität folgt analytisch aus der Einsicht, dass es sich bei Raum und Zeit um Formen der Anschauung handelt. Durch den Nachweis, dass Raum und Zeit die a priori im Gemüt bereitliegenden Formen der sinnlichen Anschauung sind, ist ipso facto gezeigt, dass sie formale Möglich-
Diese formale Struktur des Beweises hat Baum ausgewiesen (vgl. Baum 1986: 78 – 82), vgl. auch Kants Hinweis in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften in AA 4:475.
5.2 Die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe
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keitsbedingungen der sinnlichen Erscheinungen sind.³¹ Dementgegen ist die objektive Realität der Kategorien, die reine synthetische Begriffe sind, das Beweisziel der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Mit einem apriorischen Beweis ihrer objektiven Realität wäre ihr generell notwendiges Zusammenstimmen mit ihren Gegenständen erwiesen (vgl. KrV A 92/B 124) und der traditionelle Wahrheitsbegriff als Übereinstimmung von Anschauen und Denken ursprünglich erklärt.³² Bei der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als denjenigen der reinen synthetischen Vorstellungen, die notwendigerweise mit ihren Objekten übereinstimmen (sollen), geht es also um die transzendentalen Prinzipien synthetischer Urteile und damit um die kantische Antwort auf die wahrheitsskeptische Herausforderung im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie. Gemäß der obigen Erwägungen wird die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe also in Form eines ostensiven synthetischen Beweises a priori nachweisen, dass die reinen Verstandesbegriffe die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind und dabei nicht nur die Rechtmäßigkeit ihres objektiven Geltungsanspruchs für alle Gegenstände der Erfahrung ausweisen (contra WahrheitsskepsisE), sondern diesen zugleich auf den Bereich möglicher Erfahrung beschränken (contra WahrheitsskepsisR).³³ Damit wäre die Wahrheitsskepsis generell widerlegt. Während die Tatsache, „daß Gegenstände der sinnlichen Anschauung denen im Gemüt a priori liegenden formalen Bedingungen der Sinnlichkeit [notwendigerweise] gemäß sein müssen, […] daraus [klar ist], weil sie sonst nicht Gegenstände für uns sein würden“, ist „nicht so leicht einzusehen“, weshalb „sie aber auch überdem den Bedingungen, deren der Verstand zur synthetischen Einheit
Dieser Beweis ist in der Transzendentalphilosophie notwendig, nicht in der Mathematik, weil letztere nur von formalen (mathematischen) Gegenständen handelt und erstere auch von der Verbindlichkeit der mathematischen Erkenntnis zur Bestimmung der Objektivität (vgl. Baum 1986: 56). Mit der Realdefinition der Kategorien ist dann die Wahrheitsmöglichkeit erklärt, d. h. gezeigt, dass der Wahrheitsbegriff anwendbar ist. Im epistemologischen Setting der kantischen Transzendentalphilosophie betrifft die Rechtfertigung von Erkenntnisansprüchen 1) die Erfahrung in ihrer Möglichkeit durch konstitutive bzw. objektive Prinzipien (transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe); und 2) durch regulative oder subjektive Prinzipien, wodurch den transzendentalen Ideen der reinen Vernunft auch im spekulativen Vernunftgebrauch eine gewisse objektive Gültigkeit gesichert werden (vgl. KrV A 669 – 688/B 697– 716). Hier geht es um die besonderen empirischen Bestimmungen der Gegenstände der Erfahrung, die in den disparaten Disziplinen aposteriorischer wissenschaftlicher Forschung festgestellt werden und doch als Produkte einer systematisch-wissenschaftlichen Forschung betrachtet werden müssen, um der Einheitsforderung der Vernunft Genüge zu tun.
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des Denkens bedarf, gemäß sein müssen“ (KrV A 90/B 122 f.) Kants Beweis dieser Notwendigkeit soll nun betrachtet werden. In Abschnitt 5.2.1 wird der Beweisgang bis § 20 besprochen, dann wird in 5.2.2 erörtert, was bis dorthin erreicht wurde und was noch zu zeigen aussteht. Anschließend wird in 5.2.3 der zweite Beweisschritt untersucht und in 5.2.4 erfolgt schließlich die wahrheitstheoretische Einordnung des Resultats.
5.2.1 Zu den §§ 15 – 20: Der erste Beweisschritt Das Argument in § 20 hat die Form eines doppelten Syllogismus, dessen Prämissen in den vorhergehenden Paragraphen gesichert werden. Dieser „Anfang“ der Deduktion (B 144) soll den Satz rechtfertigen: „Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann“ (KrV B 143), der die Überschrift von § 20 darstellt. Das Argument aus § 20 hat folgende Struktur: S1: (P1) „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die Einheit der Anschauung allein möglich ist. (§17.) (Minor1) S2: (P2) Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§19.) (Major1) S3: (K1) Also ist alles Mannigfaltige, so fern es in Einer empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird. (Minor2) S4: (P3) Nun sind aber die Kategorien nichts andres, als eben diese Funktionen zu urteilen, so fern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist. (§13.) (Major2) S5: (K2) Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien.“ (KrV B 143)
Die erste Prämisse (P1), die im ersten Syllogismus als Minorprämisse (Minor1) fungiert, lautet: „Das mannigfaltige in einer sinnlichen Anschauung Gegebene gehört notwendig unter die ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil durch diese die E i n h e i t der Anschauung allein möglich ist.“ (KrV B 143) Kant verweist auf § 17. In § 17 wird die ursprünglich synthetische Einheit der Apperzeption (des Selbstbewusstseins) als der oberste Grundsatz des menschlichen
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diskursiven Verstandes ausgewiesen.³⁴ In der transzendentalen Ästhetik wurde als „oberste[r] Grundsatz aller Anschauung in Beziehung auf die Sinnlichkeit“ (KrV B 136) erkannt, dass das Mannigfaltige der Anschauung „unter den formalen Bedingungen des Raums und der Zeit stehe“ (KrV B 136).³⁵ Die generelle Möglichkeitsbedingung der Erkenntnis seitens des diskursiven Verstandes ist nun die „synthetische Einheit des Bewußtseins“, weil jede Anschauung „unter […ihr] stehen muß, u m f ü r m i c h O b j e k t z u w e r d e n“ (KrV B 138). Dieser Satz ist selbst analytisch, denn er sagt nichts weiter, als, daß alle meine Vorstellungen in irgend einer gegebenen Anschauung unter der Bedingungen stehen müssen, unter der sich sie allein als meine Vorstellungen zu dem identischen Selbst rechnen, und also als in einer Apperzeption synthetisch verbunden, durch den allgemeinen Ausdruck Ich denke zusammenfassen kann. (KrV B 138, vgl. KrV B 135)
Die ursprünglich synthetische Einheit des Selbstbewusstseins ist nicht zu verwechseln mit der quantitativen Einheit der Kategorie; sie ist der „höchste Punkt, an dem man allen Verstandesgebrauch heften muss […], ja dieses Vermögen ist der Verstand selbst“ (KrV B 134 Anm. 1).³⁶ Für einen diskursiven Verstand ist die Vorstellung des Erkenntnisobjekts als Anschauung gegeben, die ein sinnliches Mannigfaltiges enthält, das verbunden werden muss, um als eine bestimmte Einheit re-präsentiert zu sein. Da die Verbindung eines Mannigfaltigen aus prinzipiellen Gründen nicht gegeben werden kann, wie §15 zeigt,³⁷ und nicht wahrnehmbar ist (vgl. KrV B 134), muss sie gedacht, d. h. spontan ideell erzeugt werden. Damit ist kein Konstitutionsidealismus nahegelegt. Kant möchte vielmehr deutlich machen, dass die Verbindung ein „Actus der Spontaneität der Vorstellungskraft“ (KrV B 130) ist und nicht der rezeptiven Sinnlichkeit. In § 16 B erklärt Kant nun eine ideelle Einheit zu ihrer Möglichkeitsbedingung, indem er zeigt, dass die Einheit des reinen Selbstbe-
Die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption ist objektiv (vgl. KrV B 138). Vgl. 4.2.1. In der B-Auflage ergänzt Kant den §12, um seine „transzendentale“ Einheit von dem transzendentalen Einen der klassischen Transzendentalphilosophie abzugrenzen. Er stellt heraus, dass mit den Begriffen des transzendental Guten (perfectio, vgl. Kapitel 1, Abschnitt 2.1.2 zu Wolffs und Baumgartens „Transzendentalphilosophie“), des transzendental Wahren und Einen die Tafel der Kategorien nicht ergänzt, „sondern nur, indem das Verhältnis dieser Begriffe auf Objekte gänzlich bei Seite gesetzt wird, das Verfahren mit ihnen unter allgemeine logische Regeln der Übereinstimmung der Erkenntnis mit sich selbst gebracht“ wird (vgl. KrV B 115 f.). Dementgegen ist das Verhältnis reiner Begriffe zum Objekt gerade das Thema der transzendentalen Logik (vgl. Kapitel 2). Vgl. 4.2.2.
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wusstseins (Ad-Perzeption) die Vorstellung Ich-denke hervorbringt, die alle anderen begleiten können muss: Das: I c h d e n k e , muß alle meine Vorstellungen begleiten k ö n n e n ; denn sonst würde etwas in mir vorgestellt werden, was gar nicht gedacht werden könnte, welches eben so viel heißt, als die Vorstellung würde entweder unmöglich, oder wenigstens für mich nichts sein. (KrV B 131 f.)
Die objektive Einheit des Bewusstseins wird in § 18 von der subjektiven Bewusstseinseinheit unterschieden. Die subjektive Einheit des Bewusstseins ist empirisch und zufällig, denn ob „ich mir des Mannigfaltigen als zugleich, oder nach einander, e m p i r i s c h bewußt sein könne, kommt auf die Umstände, oder empirischen Bedingungen, an“ (KrV B 139). Die „reine Form der Anschauung in der Zeit, bloß als Anschauung überhaupt, die ein gegebenes Mannigfaltiges enthält“, die nur in der „notwenige[n] Beziehung des Mannigfaltigen der Anschauung zum Einen: Ich denke“ steht, also zu der reinen Verstandessynthesis, ist hingegen die objektiv gültige Bewusstseinseinheit. Die Bedingungen der allgemeingültigen und notwendigen objektiven Bewusstseinseinheit als verstandesseitige Bedingung der Erkenntnis wird in § 19 spezifiziert: Wenn die Synthesis objektiv gültig sein soll, dann dürfen zwei Vorstellungen nicht bloß nach empirischen Gesetzen assoziiert werden, sondern das Objekt muss im Urteil bestimmt werden. Kants Beispiel in § 19 ist der Unterschied zwischen der bloß subjektiven Assoziation der Vorstellungen eines Körpers (V1) und der Schwere (V2). Zwei Fälle lassen sich hier unterscheiden: Entweder ich sage (1): „Wenn ich einen Körper trage, so fühle ich einen Druck der Schwere“ (KrV B 142, Hervhb. SB) – bei Ihnen mag das anders sein. Hier werden die Vorstellung des Körpers (V1) und die Vorstellung der Schwere (V2) bloß nach empirischen Gesetzen aufgrund ihres simultanen Auftretens assoziiert. Oder aber ich urteile „Der Körper i s t schwer“ (KrV B 142). Nur das Urteil ist hinreichend, die beiden Vorstellungen als im Objekt verbunden vorzustellen. Das Urteil ist nichts anderes, als „die Art, gegebene Erkenntnisse [Vorstellungen, SB] zur o b j e k t i v e n Einheit der Apperzeption zu bringen. Darauf zielt das Verhältniswörtchen ist in denselben“ (KrV B 141 f.). Das Mannigfaltige der Anschauung muss unter den Kategorien stehen, also den „Begriffe[n] von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (KrV B 128), weil sie sonst nicht als objektive Vorstellung in meinem Bewusstsein auftreten könnten. Also ist die Anwendung der aus den Urteilsformen
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gewonnenen reinen Verstandesbegriffe die verstandesseitige Bedingung der Erkenntnis, d. h. der Bezugnahme auf ein Objekt.³⁸ Die aus § 19 gewonnene zweite Prämisse (P2) des Schlusses aus § 20 (Major1) lautet daher: „Diejenige Handlung des Verstandes aber, durch die das Mannigfaltige gegebener Vorstellungen (sie mögen Anschauungen oder Begriffe sein) unter eine Apperzeption überhaupt gebracht wird, ist die logische Funktion der Urteile. (§ 19.)“ Sie fungiert im ersten Syllogismus als Obersatz (P2, Major1). Durch Subsumption der ersten Minorprämisse (Minor1, P1) unter diesen Obersatz wird die vorläufige Konklusion (K1) erreicht, die besagt, dass „alles Mannigfaltige, so fern es in E i n e r empirischen Anschauung gegeben ist, in Ansehung einer der logischen Funktionen zu urteilen bestimmt, durch die es nämlich zu einem Bewußtsein überhaupt gebracht wird“ (KrV B 143). Dieses vorläufige Resultat wird durch einen zweiten Syllogismus fortbestimmt, in dem K1 als Minorprämisse (Minor2) fungiert. Als Majorprämisse (Major2 = P3) führt Kant die „Erklärung“ der Kategorien ein: „Nun sind aber die K a t e g o r i e n nichts andres, als eben diese Funktionen zu urteilen, so fern das Mannigfaltige einer gegebenen Anschauung in Ansehung ihrer bestimmt ist“ (KrV B 143). Er verweist auf § 13. Da § 13 allerdings von der Notwendigkeit und Eigenart einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe im Kontrast zu ihrer empirischen Ableitung handelt, erscheint der Verweis auf § 13 fehlerhaft. Hingegen kann der Satz mit einem Verweis auf § 10, in welchem Kant die Kategorientafel vorstellt, oder mit Verweis auf § 14, in dem die Erklärung der Kategorien noch einmal angeführt wird (KrV B 128), eingeführt werden.³⁹ Damit ist die Konklusion (K2) – „Also steht auch das Mannigfaltige in einer gegebenen Anschauung notwendig unter Kategorien“ – erreicht und der erste Beweisteil abgeschlossen.
Ficara hat dargelegt, dass Kant schon in der Periode 1775 – 76, die der Duisburger Nachlass dokumentiert, diese Objektivität stiftende Leistung der Subjektivität vor Augen stand: Der Gegenstand ist der „allgemeingültige[] Punkt[]“, der in der Bestimmung durch ein allgemeingültiges Gesetz gesichert werden kann und nur so kann Wahrheit und universelle Geltung eines Urteils gesichert werden (vgl. Ficara 2006: 69, vgl. AA 17:649). Vgl. Kants Erklärung der Kategorien: „Sie sind Begriffe von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der l o g i s c h e n Fu n k t i o n e n zu Urteilen als b e s t i m m t angesehen wird“ (KrV B 128).
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5.2.2 Einordnung des bis §20 erzielten Resultats und Entwicklung des Desiderats für den zweiten Beweisschritt Bevor der zweite Beweisschritt thematisiert werden kann, ist zunächst zu klären, was bis § 20 erreicht wurde und was noch zu zeigen aussteht. In der Kantliteratur wurde im Kontext der Rekonstruktion der transzendentalen Deduktion nach der B-Auflage diskutiert, worin genau die Notwendigkeit eines zweiten Beweisschritts zu sehen ist.⁴⁰ Baum sieht den Unterschied zwischen den Resultaten der §§ 20 und 26 darin, dass im ersten Beweisschritt die Geltung der Kategorien von Gegenständen einer Anschauung überhaupt bewiesen wäre und erst in § 26 ihre Geltung von allen Gegenständen unserer Sinne erklärt werde (vgl. Baum 1975). Die Differenz ergebe sich aus der doppelten Aufgabe, einerseits die objektive Geltung der Kategorien zu rechtfertigen und andererseits zu erklären, wie es möglich ist, durch Kategorien Gegenstände zu erkennen (vgl. Baum 1975: 13 f. u. a.). Allerdings kann die objektive Geltung der Kategorien nicht ausgewiesen werden, ohne zu erklären, wie sie sich auf Anschauungen beziehen können. Denn die objektive Realität eines Begriffs hängt wesentlich von seinen Anwendungsbedingungen ab: Wenn bewiesen werden soll, dass reine Verstandesbegriffe objektiv gelten, dann muss die Möglichkeit ihrer Anwendung a priori erklärt werden. In § 21 erklärt Kant, dass in den §§ 15 – 20 von der „Art, wie das Mannigfaltige zu einer empirischen Anschauung gegeben werde“, abstrahiert wurde, „um nur auf die Einheit, die in die Anschauung vermittelst der Kategorien durch den Verstand hinzukommt, zu sehen“ (KrV B 144). Im ersten Beweisteil werden also die Breit diskutiert wurde Henrichs Vorschlag, die Differenz zwischen den Resultaten der §§ 20 und 26 in einer Umfangsrestriktion zu sehen (Henrich 1973). Henrich zufolge gilt das Ergebnis des § 20 nur für Anschauungen, die bereits Einheit haben, es sei aber noch offen, „in welchem Umfang einheitliche Anschauungen aufgefunden werden können“. Diese Einschränkung im Geltungsbereich des Resultats werde in § 26 aufgehoben, weil nun feststehe, dass „Raum und Zeit Anschauungen [sind], die Einheit enthalten, und die zugleich alles in sich einschließen, was unseren Sinnen nur vorkommen kann“ (vgl. Henrich 1973: 93 f.). Bernhard Thöle hat contra Henrich darauf aufmerksam gemacht, dass schwer ersichtlich sei, worauf die Einschränkung beruhen soll, da Kant bereits in § 17 ohne Andeutung irgendeiner Einschränkung sagt, dass „alles Mannigfaltige der Anschauung unter Bedingungen der ursprünglich synthetischen Einheit der Apperzeption stehe“ (KrV B 136) (vgl. Thöle 1981: hier: 305). Im Rahmen dieser Arbeit kann keine vollständige Übersicht über die verschiedenen Interpretationen der zwei Beweisteile der B-Deduktion geleistet werden. Es ist aber darauf hinzuweisen, dass der hier unterbreitete Vorschlag, die Differenz in dem mit dem Kategoriengebrauch verbundenen Denken von Objektivität und deren Erklärung als Möglichkeitsbedingungen der Erkenntnis von Objektivität, dem Vorschlag Thöles nahesteht (vgl. Thöle 1981). Auch Allison kritisiert Henrich in diesem Sinn und interpretiert die Struktur des Beweisgangs ähnlich (vgl. Allison 2006: 159 – 201).
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verstandesseitigen Möglichkeitsbedingungen einer Erkenntnis, d. h. einer objektiv gültigen Vorstellung oder – was dasselbe ist – einer Vorstellung, die materiale Wahrheit beanspruchen kann, unter den Bedingungen eines diskursiven Verstandes ausgewiesen, der sich nur mittelbar auf die Erkenntnisobjekte bezieht. Sein ursprünglicher Beitrag zur Erkenntnis besteht in der Synthese eines sinnlich dargebotenen Mannigfaltigen der Anschauung überhaupt. Die Rede von einer sinnlichen Anschauung überhaupt zeigt an, dass im ersten Beweisteil von Raum und Zeit als der Art des Gegebenseins eines sinnlichen Mannigfaltigen für das menschliche Erkenntnisvermögen abstrahiert ist (vgl. KrV B 148, 150). Bis § 20 wird das kategoriale Urteilen als die Leistung des Verstandes ausgewiesen, durch die ein sinnliches Mannigfaltiges der Anschauung überhaupt zur objektiven Bewusstseinseinheit gebracht wird: Sofern das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung unter Kategorien gebracht wird, ist das sinnliche Mannigfaltige der Anschauung als etwas Objektives repräsentiert. Das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung muss demnach als objektive Vorstellung prinzipiell unter den Kategorien stehen. Anders können die sinnlichen Anschauungen nicht als objektive Vorstellung ins Bewusstsein treten. Die Kategorien sind nämlich die „Begriffe von einem Gegenstand überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (KrV B 128). Wenn der Verstand ein eigenständiger Erkenntnisstamm ist und als solcher Ursprung einer irreduziblen Art objektiver Vorstellungen (Begriffe), muss es möglich sein, Begriffe der Verknüpfung von Vorstellungen zu generieren, ohne Rücksicht auf bestimmte sinnlich gegebene Vorstellungen zu nehmen (vgl. KrV B 144).⁴¹ Damit ist aus der Natur des menschlichen diskursiven Verstandes die generelle Voraussetzung dafür ausgewiesen, das Mannigfaltige einer sinnlichen Anschauung überhaupt als Erkenntnisobjekt zu denken: Ein diskursiver Verstand denkt Objektivität durch die Synthesis des Mannigfaltigen einer sinnlichen Anschauung überhaupt im kategorialen Urteilen. Nur dadurch erhalten die Vorstellungen die Einheit, die notwendige Bedingung ihrer objektiven, bewussten Perzeption ist. Aber dieses Denken von Objektivem nach den verschiedenen kategorialen Modi (Quantität, Qualität, Relation, Modalität) ist noch kein Erkennen. Denn zur Erkenntnis gehört außer dem Begriff eine korrespondierende Anschauung. Das Denken ist die Handlung, gegebene Anschauung auf einen Gegenstand zu beziehen. Ist die Art dieser Anschauung auf keinerlei Weise gegeben, so ist der Gegenstand bloß transzendental, und der Verstandesbegriff hat keinen andern, als transzendentalen Gebrauch, nämlich die Einheit des Denkens eines Mannigfaltigen überhaupt. Durch eine reine Kategorie
Auf die Notwendigkeit dieser Abstraktion weist auch Scheffer hin (vgl. Scheffer 1993: 225).
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nun, in welcher vor aller Bedingung der sinnlichen Anschauung, als der einzigen, die uns möglich ist, abstrahiert wird, wird also kein Objekt bestimmt [also erkannt, SB], sondern nur das Denken eines Objekts überhaupt, nach verschiedenen modis, ausgedrückt. (KrV A 247/B 304, Hervhb. SB)⁴²
Da der transzendentale Verstandesgebrauch nur die Einheit des Denkens des Mannigfaltigen einer sinnlichen Anschauung überhaupt ausdrückt, ist mit § 20 der Beitrag der kategorialen Synthesis zur Erkenntnis noch nicht erklärt. Das bloße Denken von Objektivität, das – wie bis § 20 gezeigt wurde – notwendigerweise dadurch geschieht, dass qua kategorialem Synthetisieren das Mannigfaltige der Anschauung überhaupt zur objektiven Bewusstseinseinheit gebracht wird, ist noch kein Erkennen.⁴³ Denn von den Bedingungen der Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige der Anschauung ist noch abstrahiert (vgl. Thöle 1991: 280). Sofern aber einem Begriff prinzipiell keine korrespondierende Anschauung gegeben werden könnte, „so wäre er ein Gedanke der Form nach, aber ohne allen Gegenstand, und durch ihn gar keine Erkenntnis von irgend einem Dinge möglich; weil es, wo viel ich wüßte, nichts gäbe, noch geben könnte, worauf mein Gedanke angewandt werden könne“ (KrV B 146). Erst der zweite Beweisschritt erklärt die zur Erkenntnis notwendige Verstandesleistung substanziell. Denn erst in den §§ 22 bis 26 wird die objektive Realität der Kategorien erwiesen, indem ihre Anwendbarkeit auf das reine Mannigfaltige der raumzeitlichen menschlichen Anschauung erklärt wird. Mit der objektiven Realität der Kategorien sind im zweiten Beweisschritt zugleich die Grenzen des Bereichs, innerhalb dessen das Denken legitimerweise beansprucht, Erkenntnis zu sein, also eine wahrheitsvalente Bestimmung des Objekts, bestimmt. Ganz in diesem Sinne ist in den Prolegomena mit Blick auf die Deduktion zu lesen, es Vgl. KrV A 155/B 194 f.: „Wenn eine Erkenntnis objektive Realität haben, d.i. sich auf eine Gegenstand beziehen und in demselben Bedeutung und Sinn haben soll, so muß der Gegenstand auf irgendeine Art gegeben werden können. Ohne das sind die Begriffe leer, und man hat dadurch zwar gedacht, in der Tat aber durch dieses Denken nichts erkannt, sondern bloß mit Vorstellungen gespielt.“ In § 39 der Prolegomena führt Kant aus, dass die Kategorien „für sich selbst nichts als logische Funktionen“ sind, die „als solche […] nicht den mindesten Begriff von einem Objekte an sich selbst ausmachen, sondern bedürfen, daß sinnliche Anschauung zum Grunde liege…“ (AA 4:324). Auf diese Differenz weist Kant im ersten Satz des § 22 hin: „Sich einen Gegenstand denken, und einen Gegenstand erkennen, ist also nicht einerlei“ (B 146). Denn „[d]ie Verstandesbegriffe beziehen sich durch den bloßen Verstand auf Gegenstände der Anschauung überhaupt, unbestimmt ob sie die unsrige oder irgend eine andere, doch sinnliche sei, sind aber eben darum bloße Gedankenformen, wodurch noch kein bestimmter Gegenstand erkannt wird.“ (§ 24, KrV B 150, vgl. KrV B 298 – 300).
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müsse die Frage untersucht werden, wie synthetische Sätze a priori möglich sind, damit „aus den Prinzipien ihrer Möglichkeit die Bedingungen ihres Gebrauchs, de[r] Umfang und die Grenzen desselben“ bestimmt werden können (vgl. AA 4:276). Im ersten Beweisschritt wird der diskursive Verstand in seiner inneren Organisation durchleuchtet und bis auf sein prinzipientheoretisches Fundament zurückverfolgt. Der Beweisgrund der Argumentation bis §20 „beruht auf der vorgestellten E i n h e i t der A n s c h a u u n g , dadurch ein Gegenstand gegeben wird, welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt, und schon die Beziehung dieses letzteren auf Einheit der Apperzeption enthält“ (KrV B 144, Anm. 1). Gezeigt wird, dass das Mannigfaltige einer Anschauung mittels der kategorialen Synthesis des Verstandes „als zur n o t w e n d i g e n Einheit des Selbstbewußtseins vorgestellt“ wird (KrV B 144). Der Grundsatz der objektiven Einheit der Apperzeption ist das oberste Prinzip des menschlichen diskursiven Verstandes (Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz). Den diskursiven Verstand kontrastiert Kant in den §§ 17 und 21 mit einem denkbaren intuitiven Verstand, der selbst anschaut. Der intuitive Verstand ist im Gegensatz zu dem diskursiven als ein Verstand zu denken, „durch dessen Selbstbewußtsein zugleich das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, ein Verstand, durch dessen Vorstellung zugleich die Objekte dieser Vorstellung existierten“ (KrV B 138 f.). Ein solcher Verstand „würde einen besondern Actus der Synthesis des Mannigfaltigen zu der Einheit des Bewußtseins nicht bedürfen, deren der menschliche Verstand, der bloß denkt, nicht anschaut, bedarf“ (KrV B 139). Für einen intuitiven Verstand hätten die Kategorien keine Bedeutung, weil ein solcher Verstand keines besonderen Aktes der Synthesis bedürfte, um das Mannigfaltige der Anschauung zur Einheit des Bewusstseins zu bringen. Denn das Mannigfaltige der Anschauung wäre nicht durch eine andere Erkenntnisquelle, sondern durch sein Selbstbewusstsein gegeben. Das Mannigfaltige der sinnlichen Anschauung zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen, ist nun gerade die Funktion der Kategorien, die daher die „Regeln für den [diskursiven, SB] Verstand [sind], dessen genuines Vermögen im Denken besteht, d. i. in der Handlung die Synthesis des Mannigfaltigen, welches ihm andersweitig gegeben worden, zur Einheit der Apperzeption zu bringen, der also für sich gar nicht erkennt, sondern nur den Stoff zum Erkenntnis, die Anschauung, die ihm durchs Objekt gegeben werden muß, verbindet und ordnet“ (KrV B 145).⁴⁴
Diese Ordnungsfunktion käme den Kategorien auch in einer empiristischen Konzeption der menschlichen Erkenntnis à la Locke zu. Damit dürfte deutlich sein, dass die Differenz zwischen
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Die Entgegensetzung des menschlichen diskursiven Verstandes und eines denkbaren intuitiven Verstandes hat eine wahrheitstheoretische Pointe: Sie verdeutlicht, dass gerade die Begriffe des diskursiven Verstandes als mittelbare Vorstellungen des Gegenstandes, die Fallibilität der menschlichen theoretischen Erkenntnis erklären. Die Objektreferenz durch Begriffe eines diskursiven Verstandes ist nicht per se eine wahre Vorstellung des Objekts, sondern dessen wahre oder falsche Repräsentation. Die Bivalenz der theoretischen Erkenntnis ist wiederum Ausdruck der Tatsache, dass das Objekt, d. h. ein dem Dasein nach unabhängiger Gegenstand, vorgestellt wird. Ein Verstand, durch dessen Denken das Mannigfaltige der Anschauung gegeben würde, könnte nicht irren.⁴⁵ Er bedürfte keiner Kategorien, weil er das Objektive nicht durch synthetisches Urteilen auf irrtumsanfällige Weise erkennen, sondern durch sein anschauendes Denken erschaffen würde.⁴⁶ Das menschliche Selbstbewusstsein ist jedoch kein solches, durch das bereits ein Mannigfaltiges gegeben ist. Es hat das Mannigfaltige, welches die sinnliche Anschauung darbietet, zu synthetisieren, um sein Objekt zu erkennen. Dies geschieht generell mittels Begriffen als Regeln der Einheitsstiftung. Die reinen Verstandesbegriffe sind die allgemeingültigen, notwendigen Regeln der objektiven Bewusstseinseinheit und damit die verstandesseitige formale Möglichkeitsbedingung einer Erkenntnis.⁴⁷ Der erste Beweisschritt erweist
einer solchen Konzeption (die allerdings den objektiven Geltungsanspruch der Kategorien nicht erklären kann) und der kantischen im zweiten Beweisschritt zu sehen ist: Nur dank einer reinen Form der Anschauung ist die objektive Gültigkeit der Kategorien deduzierbar. Seine Bezugnahme auf Reales kann nur als Schöpfung gedachte werden (vgl. KrV B 138, 139). Dabei ist gar nicht unbedingt an die alte Konzeption eines schöpferischen Urwesens zu denken, denn schon die moralische Erkenntnis bietet Beispiele für diese Erkenntnisart. Auch Koch stellt den Zusammenhang zwischen der Bivalenz unseres Objektbezugs im kategorialen Urteilen als Bezugnahme auf eine dem Dasein nach unabhängige Realität (Objektivität) heraus (vgl. Koch 2004: 168 f.). Die „Objektivität“ eines intuitiven Verstandes konzipiert Koch als intelligiblen Ursachverhalt, wo veritatives und existentiales Sein koinzidieren, da der anschauende Verstand selbst die ganze Realität und das Prinzip ihrer Einteilung in mannigfaltige Objekte wäre – er bzw. die Realität wäre das Absolute als ein singulärer intelligibler Ursachverhalt, der zugleich das denkende Erkennen seiner selbst wäre; verschiedene Objekte gäbe es nur als intelligible Momente dieses Absoluten (bspw. als Platonische Ideen). Die Objektivität einer solchen Erkenntnis wäre allerdings fraglich. Zu dem Zusammenhang zwischen dem diskursiven Verstand und der spezifischen Einheit seines Selbstbewusstseins und dessen Prinzip (vgl. Heidemann 2002). Heidemann legt dar, dass Begriffe Repräsentationen des Analytisch-Identischen dessen sind, was ansonsten verschieden ist. Die Möglichkeit solche Allgemeinvorstellungen bilden zu können, setzt eine logische Identität voraus: die analytische Einheit der Apperzeption als Prinzip des diskursiven Denkens. Begriffe entstehen einerseits durch Abstraktion, nämlich indem das verschiedenen Vorstellungen gemeinschaftlich Zukommende als Komplexion von „Teilvorstellungen“ (KrV A 25/B 39 f.) vorgestellt
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die Kategorien als gedankliche Möglichkeitsbedingungen der Gegenstände, aber damit noch nicht ihre objektive Realität. Wie und ergo dass der menschliche diskursive Verstand qua kategorialer Synthesis erkennt, ist noch zu zeigen.⁴⁸ Die Differenz im Geltungsbereich des Resultats von § 20 („Alle sinnlichen Anschauungen stehen unter den Kategorien, als Bedingungen, unter denen allein das Mannigfaltige derselben in ein Bewußtsein zusammenkommen kann“ [KrV B 143]) und des Resultats von § 26 („die Kategorien [sind] Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung“ [KrV B 161]) ist also im Lichte von Kants Erläuterung zu sehen, dass Kategorien als Begriffe von Gegenständen der Anschauung überhaupt nur dann mehr sind als „bloße Gedankenformen“, wenn gezeigt ist, wie sie sich auf die sinnliche Anschauung des Menschen anwenden lassen.⁴⁹ Darin ist das Beweisziel der Argumentation im zweiten Beweisschritt der transzendentalen Deduktion zu sehen. Dieses Beweisziel kann nicht durch eine simple Subsumtion der menschlichen raumzeitlichen Anschauung unter die Anschauung überhaupt erreicht werden. Die objektive Realität der Kategorien ist erst erwiesen und ihr Beitrag zur Erkenntnis erst dann vollständig gesichert, wenn gezeigt ist, wie sie prinzipiell auf das raumzeitliche Mannigfaltige der menschlichen Anschauung angewandt wer-
wird, und zwar unter Absehung der Differenzen. Weil Begriffe die analytischen Einheiten dessen sind, was unter sie fällt, sind sie allgemein und beruhen andererseits auf Funktionen als „Einheit der Handlung, verschiedene Vorstellungen unter einer gemeinschaftlichen zu ordnen“ (KrV A 68/ B 93). Mit dem Ausdruck ‚Funktion‘ fasst Kant die einheitsstiftende, spontane Tätigkeit des Verstandes, Vorstellungen unter Begriffe zu fassen. Die durch Funktionen geregelte Verwendung von Begriffen bedeutet also nichts anderes, als zu urteilen – Begriffe sind Prädikate zu möglichen Urteilen (KrV A 69/B 94). Allerdings setzt die analytische Urteilseinheit stets Synthesis voraus: „Derselbe Verstand“ bringt „durch eben dieselbe Handlung, wodurch er in Begriffen, vermittelst der analytischen Einheit, die logische Form eines Urteils zustande brachte […] vermittelst der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen in der Anschauung überhaupt, in seine Vorstellungen einen transzendentalen Inhalt, weswegen sie reine Verstandesbegriffe heißen, die a priori auf Objekte gehen“ (KrV A 79/B 105). Thöle fasst die Differenz zwischen den beiden Beweisteilen ähnlich: Im ersten Teil sei nur bewiesen, dass wir ein Vermögen haben, „gegebene Vorstellungen in Begriffe zu verwandeln und zur objektiven Einheit der Apperzeption zu bringen“, ohne dass gezeigt sei, dass eine Entsprechung des in der Anschauung Gegebenen mit dem so gedachten Objekt, also Erkenntnis vorliegt (vgl. Thöle 1981: 307). Ähnlich Wolfgang Carl in: Carl 1998: 209; vgl. KrV B 148 f. Darum kann aus „bloßen Kategorien“, ohne Anschauungsbezug, „kein synthetischer Satz gemacht werden“ (KrV B 289).
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den.⁵⁰ Da die Anwendbarkeit der Kategorien erst im zweiten Beweisteil erklärt wird, ist erst mit diesem Schritt die Erkenntnisleistung der Kategorien (ihre objektive Realität) bewiesen. Ein synthetisches Urteil erfordert nämlich stets über den Begriff hinaus zur Anschauung zu gehen: Wenn man von einem Begriffe synthetisch urteilen soll, so muß man aus diesem Begriffe hinausgehen, und zwar zur Anschauung, in welcher er gegeben ist. Denn bliebe man bei dem stehen, was im Begriff enthalten ist, so wäre das Urteil bloß analytisch, und eine Erklärung des Gedankens, nach demjenigen, was wirklich in ihm enthalten ist. (KrV A 721/B 749)
Im Fokus des zweiten Beweisteils steht also die Frage, wie die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf sinnliches Mannigfaltiges a priori und damit ihre objektive Realität zu erklären ist. Aufgrund der Heterogenität von Anschauung und Begriff als zwei irreduziblen Arten objektiver Vorstellungen ist in Rechnung zu stellen, dass „ohne Funktionen des Verstandes […] allerdings Erscheinungen in der Anschauung gegeben werden [können]“ (KrV A 89/B 122). Zur Erklärung der Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken ist dann nicht nur der Einheitsgrund aller Anschauungen als das kategoriale Synthetisieren des diskursiven Verstandes auszuweisen, wie bis § 20 geschehen, sondern es ist ebenso notwendig, umgekehrt nachzuweisen, dass die Einheit von Raum und Zeit dieser intellektuellen Einheit jederzeit gemäß sein muss (§ 26). Die Kategorie zeigt nämlich Zweierlei an, zum einen, „daß das empirische Bewußtsein eines gegebenen Mannigfaltigen Einer Anschauung […] unter einem reinen Selbstbewußtsein“ steht, und zum anderen, dass „empirische Anschauung unter einer reinen sinnlichen [Anschauung steht], die gleichfalls a priori Statt hat“ (KrV B 144). Die Konklusion des ersten Beweisteils stellt den Zusammenhang zwischen gegebenem Anschauungsmannigfaltigen und notwendigem Kategorienbezug heraus. Der Fokus liegt dann im zweiten Schritt auf der reinen Anschauung (Raum und Zeit als formale Anschauungen). Während im ersten Schritt von der Form der Anschauung abstrahiert wurde und es genügte von der sinnlichen Anschauung überhaupt zu handeln, braucht die Form des Denkens, die bereits als kategoriales Urteilen bestimmt ist, im zweiten Beweisschritt nicht mehr als solche thematisch zu sein, sondern kann vorausgesetzt werden. Hier genügt es also, vom Denken überhaupt zu handeln (vgl. KrV B 146 f.).
Vgl. zur „Anwendbarkeit der Kategorien“: KpV in AA 5:54, (vgl. auch Thöle 1991: 280 – 285). Die notwendige Anwendbarkeit der Kategorien auf die raumzeitliche Anschauung wird in den §§ 24 und 25 der KrV erklärt.
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5.2.3 Zu den §§ 22 – 26: Der zweite Beweisschritt Das Argument aus § 26 verläuft formal betrachtet parallel zu dem aus § 20. Es besteht aus fünf Sätzen, die einen doppelten Syllogismus bilden, in welchem die Konklusion des ersten Syllogismus als Minor-Prämisse des zweiten fungiert. S6: (P1) „Wir haben Formen der äußeren sowohl als inneren sinnlichen Anschauung a priori an den Vorstellungen von Raum und Zeit, und diesen muß die Synthesis der Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinung jederzeit gemäß sein, weil sie selbst nur nach dieser Form geschehen kann. (Minor1) S7: (P2) Aber Raum und Zeit sind nicht bloß als Formen der sinnlichen Anschauung, sondern als A n s c h a u u n g e n selbst (die ein Mannigfaltiges enthalten) also mit der Bestimmung der E i n h e i t dieses Mannigfaltigen in ihnen a priori vorgestellt (siehe transz. Ästh.).1 |⁵¹ (Major1) S8: (K1) Also ist selbst schon E i n h e i t d e r S y n t h e s i s des Mannigfaltigen, außer oder in uns, mithin auch eine Verbindung, der alles, was im Raume oder der Zeit bestimmt vorgestellt werden soll, gemäß sein muß, a priori als Bedingung der Synthesis der A p p r e h e n s i o n schon m i t (nicht in) diesen Anschauungen zugleich gegeben. (Minor2)
KrV B 160 Anm. 1 unter Verweis auf §24: „Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt, (wie man es wirklich in der Geometrie bedarf,) enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die F o r m d e r A n s c h a u u n g bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt. Diese Einheit hatte ich in der Ästhetik bloß zur Sinnlichkeit gezählt, um nur zu bemerken, daß sie vor allem Begriffe vorhergehe, ob sie zwar eine Synthesis, die nicht den Sinnen gehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben werden, so gehört die Einheit dieser Anschauungen a priori zum Raum und zu der Zeit, nicht zum Begriffe des Verstandes (§24.)“. Im Schematismus werden die Anwendungsbedingungen der reinen Verstandesbegriffe als Zeitbestimmungen ausgewiesen und diese so im Zusammenspiel mit der reinen Form des inneren Sinns dann zu Erkenntnisbedingungen konkretisiert. Mit den transzendentalen synthetischen Grundsätzen sind die notwendigen und hinreichenden Bedingungen der Bezugnahme auf Objektives a priori ausgewiesen und die Wahrheitsfrage im Rahmen der kantischen Transzendentalphilosophie zu einer umfassenden Antwort geführt. Thöle hat moniert, dass Kants Theorie von der Anwendung der Kategorien auf die uns gegebenen Erscheinungen unbefriedigend sei, weil Kant die Anwendungsbedingungen der einzelnen Kategorien gerade nicht liefere, sondern sich auf den Hinweis beschränke, dass es sich um reine Zeitbestimmungen handele. Thöle vermutet, dass Kant auch nach der zweiten Auflage mit der Theorie der Schematisierung der Kategorien nicht zurechtgekommen ist, was er in einem Brief an J. S. Beck vom 1. Juli 1794 selbst eingesteht (vgl. AA 11:515, vgl. Thöle 1991: 284).
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S9: (P3) Diese synthetische Einheit aber kann keine andere sein, als die der Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen A n s c h a u u n g ü b e r h a u p t in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere s i n n l i c h e A n s c h a u u n g angewandt. (Major2) S10: (K2) Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung.“ (KrV B 160 f.)
In der ersten Minor-Prämisse (P1, S6) ist von einem Gemäß-Sein der Synthesis der Wahrnehmung (Apprehension) des Mannigfaltigen der Erscheinungen mit Raum und Zeit als den Formen der sinnlichen Anschauung des Menschen die Rede, die einander notwendigerweise entsprechen müssen. Die Begründung lautet: „weil sie [die Synthesis] selbst nur nach dieser Form geschehen kann“ (KrV B 160). In der Major-Prämisse (P2, S7) wird unter Verweis auf die transzendentale Ästhetik herausgestellt, dass Raum und Zeit selbst als reine (formale) Anschauungen a priori mit der „Bestimmung der E i n h e i t dieses Mannigfaltigen in ihnen“ (KrV B 160 f.) vorgestellt werden. Diese beiden Prämissen tragen die Beweislast im zweiten Schritt des Beweisgangs und dringen auf eine nähere Erläuterung. In B 160 nimmt Kant unter Verweis auf § 24 eine Präzisierung vor, die innerhalb der transzendentalen Ästhetik keine Rolle spielte und daher ausgeblendet wurde: Der Raum, als G e g e n s t a n d vorgestellt enthält mehr, als bloße Form der Anschauung, nämlich Zusammenfassung des Mannigfaltigen, nach der Form der Sinnlichkeit gegebenen, in eine a n s c h a u l i c h e Vorstellung, so daß die F o r m d e r A n s c h a u u n g bloß Mannigfaltiges, die f o r m a l e A n s c h a u u n g aber Einheit der Vorstellung gibt. (KrV B 160, Anm. 1)
Dasselbe gilt für die Zeit. Die Einheit von Raum und Zeit selbst in ihrer Differenz in ihrem Verhältnis zur begrifflichen Einheit ist für das Verständnis des zweiten Beweisschrittes entscheidend. James Conant weist zu Recht darauf hin, dass die Einheit von Raum und Zeit nicht strikt mit der kategorialen Einheit identifiziert werden darf (vgl. Conant, bes. 113 – 17). Identisch im strikten Sinn ist nur ihr Prinzip: die transzendentale Einheit der Apperzeption. Ein erster Hinweis auf das Verhältnis zwischen der Einheit von Raum und Zeit und der Verstandessynthesis ist bereits im Vorfeld der Deduktion zu finden: Die Synthesis überhaupt ist die bloße Wirkung der Einbildungskraft, einer blinden, obgleich unentbehrlichen Funktion der Seele […]. Allein, diese Synthesis auf Begriffe zu bringen, das ist eine Funktion, die dem Verstand zukommt, und wodurch der uns allererst die Erkenntnis in eigentlicher Bedeutung verschaffet. (KrV A 78/B 103)
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Die Synthesis überhaupt ist der generische Begriff, der als konkrete epistemologische Gestalten einerseits die intellektuelle Synthesis des Verstandes und andererseits die figürliche Synthesis der Einbildungskraft umfasst. Dass die reine Synthesis des Verstandes allgemein vorgestellt reine Begriffe hervorbringt, zeigt Kant in der metaphysischen Deduktion.⁵² Thema der transzendentalen Deduktion ist der Nachweis, dass die Einheit in der Synthesis des Mannigfaltigen, gleichviel ob dieses Mannigfaltige begrifflich oder sinnlich ist, notwendigerweise den Kategorien gemäß ist, „weil sie nach einem gemeinschaftlichen Grund der Einheit geschieht“ (KrV A 78/B 104). Von der objektiven Bewusstseinseinheit als dem gemeinschaftlichen Prinzip der intellektuellen Synthesis des Verstandes und der „figürlichen“ Synthesis der produktiven Einbildungskraft handelt § 24. Die Einheit von Raum und Zeit ist zwar wie alle Synthesis nicht unabhängig von dem synthetisierenden Verstand, aber geht aller konkreten intellektuellen Synthesis voraus. Die transzendentale Synthesis der Einbildungskraft wird in § 24 erklärt als „diejenige [Verstandes‐]Handlung aufs passive Subjekt, dessen Vermögen er [der Verstand, SB] ist“ und durch die „er [der Verstand] die Sinnlichkeit innerlich in Ansehung des Mannigfaltigen, was der Form ihrer Anschauung nach ihm gegeben werden mag, zu bestimmen vermögend ist“ (KrV B 153). Der Verstand vermag nämlich die Sinnlichkeit qua Selbstaffektion des inneren Sinns a priori zu bestimmen.⁵³ Durch die Synthesis der produktiven Einbildungskraft kann in einer „erste[n] Anwendung“ (KrV B 152) des Verstandes auf die Sinnlichkeit der Kategorie ein formales Korrelat (Schema) gegeben werden, dass ihre Anwendungsbedingung ist und sie realisiert (vgl. Thöle 1981: 309 f.).⁵⁴ Die intellektuelle Synthesis, die im ersten Beweisschritt Thema war, macht verständlich, dass der Verstand in der Lage ist, sich der „Einheit der Handlung“ auch unter Abstraktion von der Art der Sinnlichkeit bewusst zu werden. Die Tatsache, dass die figürliche Synthesis der intellektuellen Synthesis notwendigerweise gemäß sein muss, obwohl sie nicht strikt identisch, sondern zwei begrifflich zu unterscheidenden Funktionen des Erkenntnisvermögens zuzuordnen sind, erklärt sich aus ihrem gemeinschaftlichen Prinzip. Aus der objektiven Einheit der Apperzeption des diskursiven Verstandes folgt notwendigerweise, dass
Vgl. Kapitel 3, bes. 4.2.2 und 4.2.3. Die Möglichkeit der figürlichen Synthesis beruht 1) auf den apriorischen Anschauungsformen und 2) auf der Möglichkeit der Selbstaffektion (vgl. KrV B 150, B 157 Anm.1). Eine Ausführliche Erörterung des Schematismus würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Im Folgenden wird auf die wahrheitstheoretische Funktion der Schemata fokussiert: Sie sind die Anwendungsbedingungen der Kategorien, die sie realisieren.
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Vorstellungen zu keinen anderen Bedingungen als denen der Urteilseinheit gegeben werden können. In der figürlichen Synthesis der produktiven Einbildungskraft, einer Wirkung des Verstandes auf die Sinnlichkeit (vgl. KrV B 152), erkennt sich der diskursive Verstand seiner inneren Möglichkeit nach und – mit Blick auf die Anwendungsbedingungen seiner Funktionen – seiner realen Möglichkeit nach.⁵⁵ Die objektive Einheit der Apperzeption gegebener Vorstellungen ist von der objektiven Einheit intellektueller Vorstellungen zu unterscheiden. Sie ist etwas, das aller Synthesis des diskursiven Verstandes vorausgeht. Die objektive Einheit der Apperzeption gegebener Vorstellungen, denen die Bewusstseinseinheit anhängt, ist die Art, wie der Verstand, dessen Vorstellungen nicht durch das Selbstbewusstsein schon gegeben sind, sich seiner eigenen Identität bewusstwerden kann. Durch die transzendentale Analyse des Verstandes ist sie als die generelle Art und Weise zu erkennen, wie sich Wesen, die mit einem diskursiven Verstand ausgestattet sind, ihrer Identität in der Synthesis anderweitig gegebener Vorstellungen bewusst werden können. Das Gegebensein von Vorstellungen durch ein vom Verstand verschiedenes Vermögen bedeutet, dass diese Vorstellungen qua sinnlicher Affektion dieses erkenntnisfähigen Wesens durch andere Gegenstände ins Bewusstsein treten. Da sie als bloße Gemütsbestimmungen auftreten, ist nicht ausgemacht, ob und wie sich diese gegebenen Vorstellungen auf Objekte beziehen lassen. Jedoch wird die Objektreferenz im Urteil gedacht, dessen Formen jede bewusste Vorstellung notwendigerweise gemäß sein muss. Im Urteil liegt nämlich per se der Anspruch, Objekte vorzustellen. Da ihnen die Bewusstseinseinheit anhängt, müssen die sinnlich gegebenen Vorstellungen, obgleich sie nicht durch ihr Gegebensein zur Einheit der Vorstellung eines Objekts verbunden sind, doch den Bedingungen der objektiven Einheit im Bewusstsein von Vorstellungen überhaupt (Anschauung oder Begriff) gemäß sein, oder – was dasselbe ist – in Ansehung der Urteilsformen bestimmt sein. Für das Denken des diskursiven Verstandes ist der Begriff eines Objekts überhaupt also nicht nur „immer der Begriff eines Objekts, dessen Anschauung überhaupt in Ansehung der synthetischen Funktion der Einheit im Urteil bestimmt ist“ (Baum 1986: 151), sondern darüber hinaus ist die Kategorie immer der „Begriff eines Objekts überhaupt, dessen sinnliche Anschauung in ihrer Mannigfaltigkeit durch die figürliche Synthesis der Einbildungskraft den Urteilsformen gemäß ist“ (Baum 1986: 151). Erstere Einsicht wurde im ersten Beweisschritt der transzendentalen De-
In der Deduktion nach der A-Auflage wird die Einbildungskraft als das synthetisierende Vermögen, das zwischen den Erkenntnisstämmen Sinnlichkeit und Verstand vermittelt, stärker in den Fokus der Betrachtung gerückt (vgl. KrV A 95 – 130).
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duktion der reinen Verstandesbegriffe aus Vernunftgründen eingesehen. Letztere Einsicht wird im zweiten Beweisschritt als Notwendigkeit erkannt. Die „E i n h e i t d e r S y n t h e s i s des Mannigfaltigen, außer oder in uns“ (KrV B 160), kann durch die Subsumtion der Minorprämisse (P1, S6) unter die Majorprämisse (P2, S7) in der Konklusion (K1, S8) des ersten Syllogismus bestimmt werden, als „Bedingung der Synthesis der A p p r e h e n s i o n“ ( KrV B 1 6 1 ) , die „m i t (nicht in) diesen Anschauungen zugleich gegeben [ist]“ (KrV B 1 6 ). Damit ist die Adäquatio-Bedingung aus Vernunftgründen eingesehen, der „alles, was im Raume oder der Zeit bestimmt vorgestellt werden soll“, notwendigerweise gemäß sein muss (KrV B 161 f.). Diese Einheit qualifiziert Kant als synthetisch und identifiziert sie im zweiten Syllogismus in prinzipientheoretischer Hinsicht unter Einführung der mit dem ersten Beweisschritt (§ 20) gesicherten dritten Prämisse (P3, S9) als „Verbindung des Mannigfaltigen einer gegebenen A n s c h a u u n g ü b e r h a u p t in einem ursprünglichen Bewußtsein, den Kategorien gemäß, nur auf unsere s i n n l i c h e A n s c h a u u n g angewandt“ (B 161). Damit ist die Beweisführung der transzendentalen Deduktion abgeschlossen: Folglich steht alle Synthesis, wodurch selbst Wahrnehmung möglich wird, unter den Kategorien, und, da Erfahrung Erkenntnis durch verknüpfte Wahrnehmungen ist, so sind die Kategorien Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung. (KrV B 161)
Damit sind die reinen Verstandesbegriffe als objektiv gültig ausgewiesen und ihre Anwendbarkeit auf die raumzeitliche Mannigfaltigkeit der menschlichen Anschauung ist erklärt. Nach der transzendentalen Deduktion steht sie fest, so dass sie in der Doktrin der Urteilskraft für jede einzelne Kategorie nur noch konkretisiert zu werden braucht.⁵⁶ Die Formen der Sinnlichkeit liegen im Erkenntnisvermögen a priori zugrunde und der Verstand kann daher die Sinnlichkeit a priori derjenigen synthetischen Einheit gemäß bestimmen, die Bedingung der Möglichkeit der objektiven Einheit der Apperzeption ist (vgl. Baum 1986: 151). Durch die kategoriale Synthesis wird also die „Vorstellung von einem noch unbestimmten Gegenstande“ (KrV A 69/B 94) (Anschauung) als etwas Objektives bestimmt. Das „Dritte“, was als Medium synthetischer Urteile a priori fungiert, ist die Form des inneren Sinns (Zeit) als „der Inbegriff, darin alle unsere Vorstellungen enthalten sind“ (KrV A 155/B 194). Die Einbildungskraft verbindet Vorstellungen entweder durch bloß subjektiv gültige Assoziation oder durch kategoriales Ur Das Ende der eigentlichen Argumentation zeigt Kant in B durch Beendigung der ParagraphenEinteilung an (vgl. KrV B 169).
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teilen. Die Kategorien sind die Regeln der objektiven Bewusstseinseinheit. Das Schema der Einbildungskraft ist die Bedingung, unter der der gesetzgebende Verstand mittels seiner Begriffe Urteile fällt, die jeder konkreten Erkenntnis der Mannigfaltigkeit als Prinzip dienen. Mit der notwendigen Geltung der Kategorien für alle Gegenstände der Erfahrung im zweiten Beweisschritt sind die Schemata als die sie realisierenden Anwendungsbedingungen und die transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätze als epistemische Wahrheitskriterien synthetischer Urteile a priori ausgewiesen.⁵⁷ Die Realdefinition der Kategorien ist nur unter Rekurs auf sinnliche Anwendungsbedingungen möglich. Ohne ihr raumzeitliches Schema ist eine Kategorie eine „leere“ Gedankenform, ohne allen Inhalt, und damit ohne alle Wahrheitsmöglichkeit (vgl. KrV A 240/B300–A 246/ B 302).⁵⁸ Mit der durch die transzendentalen Schemata geregelten Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf das sinnliche Mannigfaltige der Anschauung ist die Wahrheit auf fundamentalphilosophischem Niveau erklärt: Wahrheitsfähig ist das Denken, weil und wenn seine Begriffe formal möglicher Erfahrung gemäß sind. Die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes legen dar, wie von den Kategorien, die synthetische Begriffe sind, ein objektiv gültiger Gebrauch gemacht werden kann.⁵⁹ Mit Abschluss der transzendentalen Deduktion ist also die objektive Gültigkeit der Kategorien a priori ausgewiesen. Ihre allgemeine, notwendige Geltung muss in der kantischen Transzendentalphilosophie nicht länger ad hoc in die philosophische Theorie eingepflanzt werden, sondern ist philosophische Gewissheit. Kant löst die Kategorien aus ihrem logisch-ontologischen Vorgegebensein als angeborene oder „eingepflanzte“ Ideen heraus. Im Rahmen seiner Transzendentalphilosophie werden sie durch die transzendentale Erkenntnis der KrV aus den ursprünglichen transzendentallogischen Verstandesfunktionen abgeleitet (genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis) und zunächst als „Begriffe von einem Gegenstande überhaupt, dadurch dessen Anschauung in Ansehung einer der logischen Funktionen zu Urteilen als bestimmt angesehen wird“ (KrV B 128), gewonnen. Dem zweiten juridischen Aspekt der transzendentalen Erkenntnis gemäß ist darüber hinaus ihr „rechtmäßiger“ Gebrauch a priori auszuweisen,
Mit diesen Anwendungsbedingungen sind die Kategorien real definiert (vgl. Scheffer 1993: 229). Zur Frage der Definierbarkeit der Kategorien vgl. auch KrV A 83/B 10, (vgl. Willaschek 1998: 332). Kant erklärt beispielsweise mit Blick auf die Kausalität: „Daß alles, was geschieht eine Ursache habe, kann gar nicht aus dem Begriffe dessen, was überhaupt geschieht, geschlossen werden; vielmehr zeigt der Grundsatz, wie man allererst von dem, was geschieht, einen bestimmten Erfahrungsbegriff bekommen könne“ (KrV A 301/B 358).
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d. h. die Möglichkeit ihrer Anwendung zu erklären (vgl. KrV A 85/B 117). Die transzendentale Deduktion ist der Rechtfertigungsbeweis ihres apriorischen Gebrauchs. Sie erweist die objektive Gültigkeit der Kategorien als Begriffe a priori, indem sie zeigt, dass sie apriorische Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und ipso facto ihrer Gegenstände sind. Der Beweis fußt im zweiten Schritt darauf, dass dem menschlichen Erkenntnisvermögen mit Raum und Zeit reine Formen der Sinnlichkeit eignen, welche ipso facto die Formen der phänomenalen Objektivität sind. Dank der reinen Formen der Sinnlichkeit (Raum und Zeit) kann den Kategorien eine objektive gültige Anwendung im empirischen Verstandesgebrauch a priori gesichert werden. Die mit der transzendentalen Deduktion a priori ausgewiesene kategoriale Synthesis ist das formale Gesetz der Natur, weil Gegenstände nur zu ihren Bedingungen erscheinen können. Das Erkenntnisvermögen ist unter Leitung des Verstandes Gesetzgeber der Natur. Die einzigen synthetischen Einheitsgründe, die dem Verstand zur Verfügung stehen, sind die logischen „Funktionen der Einheit in Urteilen“ (KrV A 69 f./B 94 f.), die darum aber nicht nur dem Urteil Einheit geben, sondern auch den Kategorien als Einheitsgründe der Synthesis von Anschauungsmannigfaltigem zugrunde liegen. Es ist ein und dieselbe Verstandeshandlung, die Termini in Urteilen verbindet und zugleich das Anschauungsmannigfaltige bestimmt. Die höhere Form des Erkenntnisvermögens liegt also im diskursiven Verstand. Er diktiert das Gesetz der „Erfahrung überhaupt“ und bestimmt, „was als ein Gegenstand derselben erkannt werden kann“ (KrV B 165). Als die Regeln der wahrheitsfähigen Bestimmung der raumzeitlichen Welt sind die synthetischen Verstandesgrundsätze notwendige Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile. Mit ihnen als Gesetz der „richtig und durchgängig zusammenhängenden“ Erfahrung ist die „empirische Wahrheit der Erscheinungen genugsam gesichert und von der Verwandtschaft mit dem Träumen hinreichend unterschieden“ (KrV A 492/B 520 f.). Erscheinungen können als Gegenstände der Erfahrung von bloßen subjektiven Vorstellungen der Wahrnehmung unterschiedene Objekte nämlich nur vorgestellt werden, wenn sie unter Regeln stehen, die „eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht“ (KrV A 191/B 236.). Denn dann ist es das Objekt, welches die Bedingung dieser notwendigen Regel der Wahrnehmung enthält, und seine Erscheinung von jeder anderen Wahrnehmung unterscheidet (vgl. KrV B 242 f./A 197). Kant löst das „Rätsel“, von dem in § 26 der Deduktion die Rede ist, nämlich wie es begreiflich sein soll, dass die Natur sich nach den Gesetzen richten müsse, die die Kategorien ihr vorschreiben, d. h. wie es also möglich sein soll, die „Verbindung des Mannigfaltigen der Natur“ a priori zu erkennen, indem er die Möglichkeit der Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken erklärt. So
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wird verständlich, weshalb eine Verbindung gemäß der objektiven Bewusstseinseinheit objektiv gültig ist, d. h. Objektives wahrheitsvalent bestimmt.
5.2.4 Einordnung des Resultats der transzendentalen Deduktion Mit dem Resultat des § 26 ist die Wahrheitsskepsis widerlegt. Indem bewiesen wurde, dass die Kategorien im empirischen Verstandesgebrauch objektiv gültig sind, wurden epistemische Kriterien der materialen Wahrheit ausgewiesen, die den traditionellen Wahrheitsbegriff, dessen logische Erklärung (vgl. W) nur den „realistischen Aspekt“ (Koch) dieses Begriffs erfasst, in seiner Anwendung sichern. Also ist der Wahrheitsbegriff prinzipiell erfüllt. Die transzendentalen Prinzipien synthetischer Urteile sind die Möglichkeitsbedingungen der Objektreferenz und damit der Wahrheitsvalenz eines Erkenntnisurteils. Kant entwickelt in der KrV also eine Theorie, die den traditionellen Wahrheitsbegriff als einen anwendbaren und damit prinzipiell erfüllten Begriff ausweist. Mit den transzendental wahren Prinzipien synthetischer Urteile a priori ist die Schnittstelle gefunden, die die materiale empirische Wahrheit mit der formalen logischen Wahrheit vermittelt. Damit ist der Weg aus der Wahrheitsskepsis (in beiden Varianten) gewiesen, in der sich Empirismus und Rationalismus verfangen: Weil diese Prinzipien nicht nur notwendige, sondern auch hinreichende Bedingungen der Wahrheitsvalenz des Denkens sind, ist die WahrheitsskepsisE widerlegt. Weil sie die notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit sind, ist damit außerdem der legitimermaßen objektive Geltung beanspruchende Kategoriengebrauch derart restringiert, dass die mit dem Rationalismus einhergehende WahrheitsskepsisR abgewehrt werden kann, in deren Licht die Vernunft als ein Vermögen erscheint, das anstatt einen Beitrag zur Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis zu leisten, diese scheinbar diskreditiert. Mit der transzendentalen Deduktion ist Wahrheit im Sinne der Korrespondenz von Anschauen und Denken erklärt und gezeigt, dass Sinnlichkeit und Verstand in der Tat als zwei „Stämme“ der Erkenntnis zu gelten haben, die „n u r i n Ve r k n ü p f u n g objektivgültig von Dingen urteilen“ (KrV A 271/B 327). Indem die Möglichkeit der Wahrheit prinzipiell erklärt wurde, ist außerdem gezeigt, dass der Wahrheitsbegriff nicht leer ist, sondern seine Anwendung im Bereich der (wirklichen und möglichen) Erfahrung hat. Der transzendentale Verstandesgebrauch, in dem nach bloßen Begriffen geurteilt wird, ist somit als illegitim enttarnt und der mit ihm verbundene Erkenntnisanspruch zurückgewiesen. In der Einleitung zu dieser Arbeit wurde das skeptische Begründungsproblem der Existenz eines Wahrheitskriteriums als Trilemma vorgestellt. Scheinbar bietet sich hier nur die Wahl zwischen drei schlechten Alternativen: entweder (Option 1)
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eine zirkuläre Begründung des Kriteriums durch ein bereits anerkanntes Kriterium zu versuchen, (Option 2) das Kriterium dogmatisch vorauszusetzen oder (Option 3) das Kriterium mittels eines anderen Kriteriums zu begründen, das wiederum durch ein weiteres begründet werden müsste (Regress). In dieser theoretischen Landschaft gilt es nun die kantische Argumentation in der KrV, nämlich mittels einer „transzendentalen Deduktion“ die objektive Geltung der reinen Verstandesbegriffe auszuweisen, zu verorten, um den Erfolg dieser antiskeptischen Argumentation zu bewerten. Mit Blick auf die beweistheoretische Problematik, die oberste Grundsätze als solche mit sich bringt, ist zunächst generell anzumerken, dass oberste Prinzipien grundsätzlich keine logische Deduktion, sondern nur eine Hinführung gestatten, die dem Verständnis näherbringt, worin ihr Gehalt und ihre ursprüngliche Geltung besteht. Daher ist der Deduktionssinn ein juridischer. Den Satz vom Widerspruch betrachtet Kant als allseits anerkanntes Erkenntnisprinzip, das immerhin ein positives Prinzip analytischer Urteile ist, beschränkt ihn allerdings – contra den Rationalismus – geltungstheoretisch auf eine generell notwendige (negative) Bedingung der Erkenntnis.⁶⁰ Der Satz vom Widerspruch ist – contra die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung – nicht das transzendentale Prinzip aller Erkenntnisse, sondern nur der analytischen. Das oberste Prinzip der synthetischen Urteile wird mit der transzendentalen Deduktion eigens ausgewiesen. Das generische Prinzip der synthetischen Verstandesgrundsätze ist das Oberste synthetische Verstandesprinzip: Oberster synthetischer Verstandesgrundsatz: Das oberste Principium aller synthetischen Urteile ist also: ein jeder Gegenstand steht unter den notwendigen Bedingungen der synthetischen Einheit des Mannigfaltigen der Anschauung in einer möglichen Erfahrung. (KrV A 158/B 197)
Dieses Prinzip besagt nichts anderes als das Resultat der transzendentalen Deduktion. Mit Blick auf den Beweisgang der transzendentalen Deduktion ist sodann vor dem Hintergrund der obigen Ausführungen festzustellen:⁶¹ Es handelt sich um den a priori geführten Beweis der objektiven Realität der Kategorien, deren Resultat qua Vernunft als apodiktisch gewiss erkannt wird. Gemäß dem juridischen Deduktionssinn wird das zu beweisende Prinzip (die Kategorien sind Bedingungen a priori der Möglichkeit der Erfahrung und gelten also a priori von allen Gegenständen der Erfahrung) in zwei Schritten bewiesen und nicht vorausgesetzt. Vgl. Kapitel 2. Vgl. auch die in 5.1.2 bis 5.1.4 herausgestellten Merkmale dieses Beweisverfahrens.
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Der Beweis ist also nicht zirkulär (contra Option 1), sondern synthetisch. Denn die objektive Gültigkeit der Kategorien wird gerechtfertigt, indem ihnen eine Anwendung auf Erfahrungsobjekte gesichert und damit das Feld ihrer epistemischen Funktion begrenzt wird.Weil ein Beweis geführt wird, ist auch der zweite Vorwurf, nämlich das Kriterium dogmatisch vorauszusetzten, abzuweisen (contra Option 2). Ebenso wenig ist der dritte Vorwurf, nämlich das Kriterium durch ein anderes Kriterium zu beweisen, einschlägig. Denn das einzige andere a priori zur Verfügung stehende Wahrheitskriterium ist der Satz vom Widerspruch. Dieser kommt jedoch als transzendentales Prinzip analytischer Urteile als Beweisgrund eines synthetischen Beweises nicht in Frage (contra Option 3). Vielmehr ist das geltungstheoretische Prinzip des Beweises die transzendentale Einheit der Apperzeption.⁶² Die Einheit der Apperzeption, die ursprünglich synthetisch ist, wird im ersten Beweisschritt als das höchste Prinzip des Verstandesgebrauchs generell ausgewiesen.⁶³ Zu erwähnen bleibt schließlich noch, dass der Beweis ostensiv ist: Die Wahrheit des Resultats („die Kategorien [sind] Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, und gelten also a priori auch von allen Gegenständen der Erfahrung“ [KrV B 161]) wird aus ihren Gründen direkt erkannt. In dem Argument des § 26 wird in den ersten beiden Prämissen (S6, P1 und S7, P2) die Sinnlichkeit mit ihren reinen Formen eingeführt und die mit ihnen gegebene Verbindung (figürliche Synthesis) als durch den Verstand bedingt (S9, P3 aus § 20) eingesehen. Damit ist deutlich, dass der Beweis das Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand in der Genese der Erkenntnis darlegt. In beiden Teilen des Beweisgangs wird je auf den anderen Erkenntnisstamm als Beweisgrund verwiesen: auf den Verstand im ersten Beweisschritt, um die Einheit der Anschauung zu erklären, auf die Sinnlichkeit im zweiten Beweisschritt um die Realisierung der reinen Verstandesbegriffe zu erklären. Durch diesen notwendigen wechselseitigen Verweis ist dann mit § 26 die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis erklärt.⁶⁴
Zum Beweisverfahren gäbe es noch viel zu diskutieren, was für die in dieser Arbeit verfolgten Zwecke aber nicht unmittelbar relevant ist und daher ausgespart wird. Vgl. 5.2.1. Ähnlich Baum: „Der Schluss von jedem der beiden auf den Grund seiner Möglichkeit im jeweils anderen, das mit ihm zusammentrifft, ist ein Schluss auf den einzig möglichen Grund, nachdem die anderen Möglichkeiten, die Notwendigkeit der Beziehung zu erklären, ausgeschieden sind“ (vgl. Baum 1986: 67). Die anderen ausscheidenden Möglichkeiten sind 1) eine Konzeption, die den Grund der Übereinstimmung von Erkenntnis und Gegenstand im Objekt verortet, womit zwar die Notwendigkeit erklärt wäre. Damit können aber nur empirische Begriffe, keinesfalls jedoch Begriffe a priori erklärt werden. Die ausscheidende Möglichkeit 2) ist der von Kant in § 27 angedeutete Mittelweg des Crusius, nämlich ein Präformationssystem anzunehmen, in dem derart eine dritte Instanz (Gott) die notwendige Übereinstimmung garantiert. Diese zweite Erklärung ist zum einen deswegen ungenügend, weil Objektivität des kategorialen Denkens als
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Der Beweis rechtfertigt die Zweistämme-These, weil hier das Zusammenspiel von Anschauung und Begriff in der Erkenntnis nachgewiesen wird. Ein transzendentaler Grundsatz des reinen Verstandes ist also nicht nur der Satz vom Widerspruch als Prinzip analytischer Urteile, sondern den transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätzen eignet als Konkretionen des Obersten synthetischen Verstandesgrundsatzes derselbe Status.⁶⁵ Die transzendentale Deduktion ist ihr Beweis. Indem Kant diese transzendentalen Prinzipien dem Satz vom Widerspruch an die Seite stellt, wird der Wahrheitsbegriff (vgl.W) in seiner Anwendung gesichert.⁶⁶ Die Lösung des geltungstheoretisch aufzuklärenden Problems der Objektreferenz wird in der transzendentalen Deduktion mit dem Grundsatz der transzendentalen Einheit der Apperzeption erreicht. Als transzendentales Prinzip alles Verstandesgebrauchs ist mit ihr der Verstand als das System (der Inbegriff) der „Prinzipien ohne die kein Objekt gedacht werden kann“ (KrV A 62/B 87) erwiesen. Die transzendentale Analytik ist die „Logik der Wahrheit“), weil ihr keine Erkenntnis widersprechen kann, „ohne alle Beziehung auf ein Objekt, mithin alle Wahrheit“, zu verlieren (vgl. KrV A 62 f./B 87). Der Verstand und seine Regeln „sind nicht allein a priori wahr, sondern sogar der Quell aller Wahrheit, d. i. der Übereinstimmung unserer Erkenntnis mit Objekten, dadurch, daß sie den Grund der Möglichkeit der Erfahrung, als des Inbegriffes aller Erkenntnis, darin uns Objekte gegeben werden mögen, in sich enthalten“ (KrV A 237/B 296).⁶⁷ Die Analytik des reinen Verstandes hat sich somit als die Logik der Wahrheit erwiesen, weil sie als Teil der transzendentalen Logik offenbart, dass und unter welchen Bedingungen der Wahrheitsbegriff anwendbar ist: Mit der Erklärung, wie die Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf sinnliches Mannigfaltiges a priori möglich ist, sind im zweiten Beweisteil die Wahrheitsbedingungen synthetischer
solchem nicht von außen, sondern aus sich heraus notwendig ist (das ist durch die metaphysische Deduktion der Kategorien aus den Urteilsfunktionen auch bereits überholt). Zum anderen würde hier die Erkenntnis einer wohlmeinenden Gottheit schon vorausgesetzt, die ihrerseits die Möglichkeit reinen Verstandeserkenntnis voraussetzt, die eben in Frage steht (vgl. Baum 1986: 66 f.), vgl. dazu 4.1. Die einzelnen Grundsätze, die Kant in der Doktrin der Urteilskraft im Ausgang von diesem Prinzip in Anleitung der Kategorientafel beweist, können im Rahmen dieser Arbeit nicht im Einzelnen besprochen werden. Stattdessen wird auf die für die wahrheitstheoretischen Belange entscheidende transzendentale Deduktion fokussiert. Die transzendentale Logik erklärt den Ursprung von Begriffen, die mittels des analytischen Verfahrens der formalen Logik dann geordnet werden können. Das betont auch Hofmeister (vgl. Hofmeister 1972: 318).
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Urteile etabliert, die in der Doktrin der Urteilskraft für jede einzelne Kategorie konkret entwickelt werden.⁶⁸ Mit dem Resultat des § 26 ist – contra WahrheitsskepsisE – die Wahrheitsvalenz des empirischen Verstandesgebrauchs gesichert: Wahrheitsvalent sind synthetische Urteile, wenn Vorstellungen durch die Kategorien zur objektiven Bewusstseinseinheit gebracht werden.⁶⁹ Die synthetischen Verstandesgrundsätze sind positive, d. h. notwendige und hinreichende Bedingungen der Wahrheitsvalenz materialer Urteile und ihrer epistemischen Wahrheitskriterien. Als solche beinhalten sie das Wissen um ihr Vorliegen.⁷⁰ Diese transzendentalen Grundsätze sind die Regeln der objektiv gültigen Bestimmung der Erkenntnisobjekte, die als positive, epistemische Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile einen hinreichenden Grund für die Bezugnahme auf Objekte bereitstellen. Weil sie epistemische Prinzipien sind, die das Wissen um ihr Vorliegen einschließen, ist damit die Distinktion zwischen Wahrheit und Traum gesichert:⁷¹ Dann und nur dann, wenn zwei Vorstellungen diesen Regeln gemäß synthetisiert werden, ist die Vorstellung auf etwas Objektives bezogen und kein bloßes Spiel der Einbildungskraft. Denn Erscheinungen können nur als das Objekt einer Wahrnehmung vorgestellt werden, wenn „sie unter einer Regel stehen […, die] eine Art der Verbindung des Mannigfaltigen notwendig macht“ (KrV A 191/B 236, vgl. AA 4:375). Das Objekt ist nämlich dasjenige an der Erscheinung, was die notwendige Regel der Apprehension bedingt (vgl. KrV A 191/B 236). Diesen Grundsätzen eignet als Erkenntnisprinzipien ein im kantischen Sinn transzendentaler Status. Kant erweist mit ihnen eine wahrheitstheoretische Schnittstelle zwischen den materialen Erfahrungsurteilen auf der einen Seite und der logisch-formalen Wahrheit des Denkens auf der anderen. Sie sind die a priori einsehbaren epistemischen Bedingungen der materialen Wahrheit. Ein Urteil, dass die transzendental-synthetischen Regeln der Objektreferenz erfüllt, ist eine wahre oder falsche Erkenntnis des Objekts, das es vorstellt. Ein Urteil, das diesen nicht genügt, stellt nichts Objektives vor und steht damit nicht in der Möglichkeit, material wahr oder falsch zu sein.⁷² Die transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätze sind in diesem Sinn die a priori einsehbaren positiven Be-
Und zwar durch Beweise dieser synthetischen Sätze a priori (außer bei den Postulaten des empirischen Denkens). Auch Baum weist darauf hin, dass den synthetischen Verstandesprinzipien die Funktion von Wahrheitskriterien zukommt (vgl. Baum 1986: 105, Anm. 67). Die Umkehrung gilt nicht: Wenn sie nicht erfüllt sind, muss kein Wissen darüber vorhanden sein, dass sie nicht erfüllt sind. Auf diese bedeutsame Funktion weist auch Scheffer hin (vgl. Scheffer 1993: 224 f.). Vgl. 3.1.2 und 3.3.2.
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dingungen der Wahrheitsvalenz eines Urteils. Sie legitimieren als Gesetz des empirischen Verstandesgebrauchs die empirische Wahrheit. Aber sie stellen aufgrund ihrer Abstraktheit keine hinreichenden Bedingungen der materialen Wahrheit konkreter synthetischer Urteile dar, sondern sind deren negative Bedingung: Wenn sie nicht erfüllt sind, kann ein synthetisches Urteil keine objektive Geltung beanspruchen. Insofern sind sie die notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit, die sich mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als die empirische erwiesen hat: Sie sind die „formalen Bedingungen der empirischen Wahrheit“ (KrV A 191/B 236). Die in der transzendentalen Logik ausgewiesene transzendentale Wahrheit legitimiert als formales Gesetz die empirische Wahrheit und restringiert die materiale Wahrheit auf das Urteilen des empirischen Verstandesgebrauchs.⁷³ Analog zum Satz vom Widerspruch haben die in der transzendentalen Analytik ausgewiesenen Verstandesprinzipien den Status genereller negativer Wahrheitsbedingung: Ein empirisches Urteil, das ihnen nicht widerstreitet, ist nicht per se wahr.⁷⁴ Konkrete empirische Begriffe haben konkrete Anwendungsbedingungen, über deren Vorliegen sich a priori nichts aussagen lässt. Aus logischer Warte lässt sich hier nur die abstrakte Bedingung angeben, dass eine Erkenntnis genau dann wahr ist, wenn sie mit ihrem Objekt übereinstimmt (vgl. W).⁷⁵ Weil die transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätze als Prinzipien der Wahrheitsvalenz die konstitutiven Prinzipien des Denkens eines Gegenstandes überhaupt sind, sind sie selbst nicht bivalent, sondern einwertig wahr –
Nenon begreift hingegen die empirische Wahrheit als „Wahrheit schlechthin“ (Nenon 1986: 66), aus der die formalen Prinzipien des Verstandes seiner Ansicht nach ihre „sekundäre Gültigkeit“ ableiten (vgl. Nenon 1986: 61) und verkehrt damit das von Kant herausgestellte Legitimierungsverhältnis zwischen beiden in sein Gegenteil. Nenons Interpretation zufolge will Kant in seiner Theorie der transzendentalen Wahrheit jedem Begriff eine inhaltlich erfüllte Zeit als Korrelat zuordnen. Die gegenständlichen Korrelate interpretiert Nenon unter empiristischen Prämissen, veranschlagt in den inhaltlich erfüllten Zeitbestimmungen ein Drittes, das weder mit den Kategorien, noch mit den Schemata zu identifizieren sei, aber beiden korrespondiere und versucht nachzuweisen, dass Kants Unterscheidung zwischen der subjektiven Aufeinanderfolge der Wahrnehmungen in der Apprehension und der objektiven Zeitordnung der wahrgenommenen Ereignisse und Zustände eine Unterscheidung zwischen einer subjektiven Zeit der Apprehension und einer objektiven Zeit erfordert, „welche das Subjekt a priori und spontan entwirft“ (vgl. Nenon 1986: 119 – 128). Die kantische Unterscheidung ist aber nicht als Gegensatz zweier Zeitordnungen zu verstehen, sondern als Ausbuchstabierung der Bedingungen der Objektreferenz, d. h. als Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile. Scheffer hält sie hingegen für hinreichend, weil eine völlige neue Verknüpfung gegebener Empfindungen die kohärente Erfahrung existierender Gegenstände verletzen würde, da Kant zufolge verschiedene Zeiten immer nur Teile derselben Zeit sind (vgl. Scheffer 1993: 236). Vgl. Kapitel 2.
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ebenso wie der Satz vom Widerspruch, das konstitutive Prinzip des Denkens überhaupt. Das Resultat der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ist epistemologisch aufzufassen.⁷⁶ Bei der Grundlegung „der ganzen Naturwissenschaft (als Philosophie)“ (AA 5:51) im Rahmen einer Kritik der reinen Vernunft kann es nur darum gehen, die objektive Geltung des Denkens zur Bestimmung der Wirklichkeit a priori zu rechtfertigen.⁷⁷ In der KrV gelangt Kant im Zuge der Untersuchung unserer apriorischen Erkenntnisart von Gegenständen überhaupt (vgl. Te-B) zu dem Resultat, dass es keine synthetische Erkenntnis aus bloßen Begriffen gibt, sondern synthetische Erkenntnis aus dem Zusammenspiel von Sinnlichkeit und Verstand resultiert. Zwar sind die Verstandesgrundsätze als allgemeine Sätze, die als Obersätze in Vernunftschlüssen Verwendung finden können, Erkenntnisprinzipien. Sie sind aber „an sich dem Ursprunge nach“ keine „Prinzipien“ im Sinne von „Erkenntnisse[n] aus bloßen Begriffen“, sondern beruhen auf möglicher Erfahrung. Damit ist deutlich, dass die synthetische Verstandeserkenntnis „an sich selbst […] nicht auf bloßem Denken“ beruht und kein „Allgemeines nach Begriffen“ in sich enthält (vgl. KrV A 302/B 359). Diese Verstandesprinzipien haben einen epistemischen Status: Sie sind die allgemeinen, notwendigen und also negativen Bedingungen der materialen Wahrheit der Erkenntnis und die allgemeinen, hinreichenden und also positiven Bedingungen der Wahrheitsvalenz. Während die Legislatur des Verstandes im Rahmen einer essentialistischen Metaphysik material wäre und die inneren Bestimmungen der Dinge beträfe, beschränkt sie Kant durch seine immanente Kritik des Erkenntnisvermögens auf eine formale Gesetzgebung. Besondere Gesetze der
Kants Programm einer philosophischen Grundlegung der Physik als reine Naturwissenschaft, welches er in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft verfolgt, dürfte als gescheitert betrachtet werden. Zu Kants Programm der Fundierung der Physik durch metaphysische Gründe in den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft und dessen Scheitern (vgl. Holger Lyre in: Lyre 2006). Die Alternative bestünde darin, die Geltung des Apriori aufzuweichen und die Geltung apriorischer Sätze relativ zu einer bestimmten Physik, die empirische Prinzipien enthält, zu begreifen. Die Fallibilität einer solchen apriorischen Erkenntnis, die dann nicht mehr rein ist, scheint aber mit dem kantischen Apriori unvereinbar. Für den Entwurf naturwissenschaftlicher Systeme, die hypothetisch gelten, bis sie überholt sind, könnte dies – in den Naturwissenschaften – allerdings sinnvoll sein. Brigitte Falkenburg hat darauf hingewiesen, dass erst mit Kant die zuvor selbstverständliche Verbindung von Naturwissenschaft und Naturphilosophie fraglich wurde. Noch Newton nannte seine bahnbrechende Mechanik Principia mathematica philosophiae naturalis und Leibniz verstand seinen „durch die prästabilierte Harmonie der Monaden metaphysisch fundierten Materiebegriff als einen Beitrag zur Physik“ (vgl. Falkenburg 1987: 9).
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Natur stehen zwar unter dieser Legislatur, können aber nicht vollständig a priori deduziert, sondern müssen empirisch erforscht werden (vgl. KrV B 165).⁷⁸ Nach Maßgabe der erkenntniskritischen Resultate der KrV dringt ins Innere der Materie allein die empirische Forschung vor.⁷⁹ Kants kopernikanische Revolution hat somit eine wahrheitstheoretische Pointe, denn es geht um die Frage, welche Logik unserem apriorischen Räsonieren über Objektivität angemessen ist: Die bloß formale, die im transzendentalen Verstandesgebrauch das vermeintlich Innere der Natur zu erkennen vorgibt, oder die transzendentale Logik, die die wahrheitsfähige Beurteilung der Objektivität im empirischen Verstandesgebrauch auch unter die sinnlichen Erkenntnisbedingungen stellt? Das Resultat der transzendentalen Deduktion bedeutet eine endgültige Absage an eine essentialistische Ontologie und überantwortet den Ausbau der materialen Wahrheit – der ObjektErkenntnis – der empirischen Forschung: Die Materie ist substantia phaenomenon. Was ihr innerlich zukomme, suche ich in allen Teilen des Raumes, den sie einnimmt, und in allen Wirkungen, die sie ausübt, und freilich nur immer Erscheinungen äußerer Sinne sein können. (KrV A 277/B 333)
Die synthetischen Verstandesprinzipien sind epistemische Wahrheitskriterien synthetischer Urteile. Die menschliche Erkenntnis erforscht die Materie in einem unendlichen Progress wissenschaftlicher Theoriebildung, statt qua consideratio absoluta in das Innere der Materie vorzudringen, wie die scholastische Ontologie und noch Leibniz in seiner Metaphysik vermuteten. Dem Resultat der transzendentalen Analytik zufolge sind die synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes „bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen“ und keine synthetischen Erkenntnisse der Dinge überhaupt (KrV B 303, vgl. A 247).⁸⁰
Vgl. dazu: „[A]lle Gesetze der Natur [stehen] unter höheren Grundsätzen des Verstandes, indem sie diese nur auf besondere[] Fälle der Erscheinungen anwenden“ (KrV A 159/B 198). Dieses Thema vertieft Kant in der KU. Zu Kants Kritik des transzendentalen Verstandesgebrauchs in der Konstruktion einer Metaphysik der inneren Bestimmungen der Dinge mit Blick auf Leibniz vgl. den Abschnitt von der transzendentalen Amphibolie in: KrV A 260 ff/B316 ff., insbes. A 263 – 68/B 319 – 24. Die empirischen Gesetze müssen „als besondere Bestimmungen der reine Gesetze des Verstandes möglich sein, können aber nicht von diesen a priori abgeleitet, sondern nur a posteriori erkannt werden“ (KrV A 127). ‚Expositionen‘ sind Kant zufolge apriorische Begriffsanalysen (vgl. KrV A 729/B 756), also das, was alleiniges Geschäft der Philosophie sein kann. Vgl. das Postulat der Möglichkeit eines Dings: Sein Begriff muss nicht nur widerspruchsfrei sein, sondern mit den „formalen Bedingungen einer Erfahrung überhaupt zusammenstimmen“ (vgl. KrV A 220/B 267).
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Im Prinzip ist mit dem Resultat, dass die transzendentalen synthetischen Verstandesgrundsätze die generellen, notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit sind, d. h. des objektiv gültigen Verstandesgebrauchs, auch die WahrheitsskepsisR ausgeräumt, die mit der rationalistischen Erkenntnistheorie einhergeht. Denn aus der Erkenntnis, dass das kategoriale Denken von Objekten in Bezug auf das sinnlich gegebene Mannigfaltige von Raum und Zeit Erkenntnis ist, folgen Regeln für die bestimmende Urteilskraft. Folglich weist die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe zusammen mit ihrer objektiven Geltung auch das Feld aus, in dem kategoriales Urteilen objektive Geltung beanspruchen kann: Da die ursprünglich synthetische transzendentale Einheit des Selbstbewusstseins das Prinzip sowohl der figürlichen als auch der intellektuellen Synthesis ist, erweist die transzendentale Deduktion das objektivierende kategoriale Urteilen in Bezug auf das raumzeitliche Mannigfaltige der menschlichen Anschauung als objektiv gültig. Im selben Zug wird die menschenmögliche Erkenntnis auf den Bereich möglicher und wirklicher Erfahrung restringiert.Weil die Kategorien nur in der sinnlichen Anschauung realisiert werden, ist der objektiv gültige Gebrauch des Verstandes auf den empirischen restringiert.Wahrheitsfähig ist das kategoriale Urteilen also nur in Bezug auf ein raumzeitliches Mannigfaltiges, also im empirischen Verstandesgebrauch.⁸¹ In den §§ 22– 26 wird somit nicht nur aus Vernunftgründen dargelegt, dass die Kategorien objektiv von Gegenständen möglicher Erfahrung gelten, sondern auch dass ihr objektiver Gebrauch auf dieses Feld beschränkt ist. Diese Beschränkung resultiert aus der Natur des diskursiven Verstandes, dessen Selbstbewusstsein nicht kausaler Grund seiner Objekte ist, dem ein Mannigfaltiges also in der Anschauung dargeboten werden muss.⁸² Mit Blick auf die doppelte skeptische Herausforderung, zwischen der Kant hofft, die menschliche Vernunft mittels der Kategorien-Deduktion glücklich hindurchzubringen, ist festzuhalten, dass contra WahrheitsskepsisE die objektive Realität der Kategorien a priori bewiesen wurde. Dieses Resultat ist mit §26 erreicht: Durch den Ausweis, dass die Kategorien als Prinzipien der objektiven Einheit der Apperzeption den inneren Sinn a priori bestimmen und damit die Prinzipien der Bezugnahme auf Objektivität bereitstellen, ist gezeigt, dass die Kategorien apriorische Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung sind – „Begriffe,
Ein über die Sphäre möglicher Erfahrung hinausgehender Verstandesgebrauch ist im ersten Beweisschritt noch nicht ausgeschlossen, sondern nur das kategoriale Urteilen als Bedingung der objektiven Bewusstseinseinheit (im Denken) ausgewiesen. Inwiefern damit auch der Beitrag der Vernunft zur Erkenntnis erklärt werden kann und dem Anschein entrinnt, sie würde die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis unterminieren, soll aber in Teil 5.3 noch eigens betrachtet werden.
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung
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die den objektiven Grund der Möglichkeit der Erfahrung abgeben, sind eben darum notwendig“ (KrV A 94/B 126). Durch die Erklärung der objektiven Realität der reinen Verstandesbegriffe im zweiten Beweisschritt ist ihr objektiv gültiger Gebrauch auf die empirische Sphäre restringiert. Die transzendentale Logik erklärt die Möglichkeit synthetischer Urteile a priori (KrV B 193, vgl. A 104). Sie berichtigt und sichert die Urteilskraft (KrV B 174), indem sie sie daran hindert, von dem Terrain des objektiv gültigen kategorialen Urteilens im transzendentalen Verstandesgebrauch hinter die Grenzen ihrer objektiven Geltung abzuschweifen und illegitimerweise Erkenntnis in einem Verstandesgebrauch zu reklamieren, wo kein Objektbezug vorliegt. Mit der transzendentalen Deduktion ist also im Prinzip auch WahrheitsskepsisR widerlegt. Dieser Punkt ist allerdings noch zu vertiefen. Denn gegen die WahrheitsskepsisR ist noch zu zeigen, dass die Restriktion des objektiv gültigen Kategoriengebrauchs auf den empirischen Verstandesgebrauch die scheinbare Antinomie der Vernunft (als solche) auflöst. In Teil 5.3. kann nun abschließend der Beitrag der Vernunft zur menschlichen Erkenntnis erörtert werden.
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung durch den transzendentalen Idealismus Eine epistemologische Fundamentalphilosophie hat die Wahrheitsskepsis vollständig abzuweisen und die erzielten Resultate der Analytik zu sichern. Um die aus dem Rationalismus entwachsende WahrheitsskepsisR zu widerlegen, ist noch zu zeigen, wie die Antithetik der Vernunft mit den wahrheitstheoretischen Resultaten der Analytik aufgelöst werden kann. Erst mit diesem Schritt ist die antiskeptische Argumentation, die Kant in der KrV entwickelt, vollumfänglich dargestellt. Dazu ist nachzuweisen, dass jede Funktion des Erkenntnisvermögens einen positiven epistemischen Beitrag leistet und der dialektische Schein, den ein bestimmter Gebrauch der Vernunft erzeugt, aufzuklären. Wenn sich zeigen lässt, dass die kantische Transzendentalphilosophie dies leisten kann, während konkurrierende Erkenntnistheorien dazu außerstande sind, dann ist damit die Überlegenheit dieser Theorie ausgewiesen. In Teil 5.3 soll demonstriert werden, dass die soeben entfalteten Resultate der transzendentalen Analytik das Fundament bereitstellen, die Antithetik der reinen Vernunft als Produkt eines un-restringierten Kategoriengebrauchs zu kritisieren und mit den Mitteln des transzendentalen Idealismus auf erkenntniskritischem Wege aufzulösen. Damit wäre die in Teil 5.2. aufgestellte These, dass mit dem Hinweis auf die mit der Kategorien-Deduktion in abstracto etablierten notwendigen Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile, die in der Doktrin der Ur-
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5 Wahrheit als Korrespondenz von Anschauung und Denken
teilskraft konkretisiert werden, die spekulativen Erkenntnisansprüche reiner Vernunft abgewiesen werden können. Thema dieses Teils sind die Fragen, unter welchen Bedingungen die Vernunft Widersprüche produziert, wie Kant diese in der KrV auflöst und worin, Kant zufolge, der positive Beitrag der Vernunft zur Erkenntnis besteht. Zunächst wird in 5.3.1 Kants These vorgestellt, der zufolge auch die Vernunft eine Erkenntnisquelle ist und das Problem umrissen, das sich ergibt, wenn von den wahrheitstheoretischen Einsichten, die in der Analytik erzielt wurden, abstrahiert wird. In 5.3.2 wird Kants Auflösung dieses Problems erörtert. In diesem Zusammenhang sollen drei Punkte zur Sprache kommen: (1) Es soll gezeigt werden, dass die wahrheitstheoretischen Ergebnisse der transzendentalen Deduktion als Schlüssel zur Auflösung dienen. (2) Die epistemische Funktion der Vernunft im transzendentalen Idealismus soll dargelegt werden. Schließlich (3) soll zumindest angedeutet werden, wie die Restriktion des Erkenntnisanspruchs auf den Bereich der in Raum und Zeit erscheinenden Phänomene und das Verdikt, vom Sinnlichen zum Übersinnlichen mit den Mitteln der spekulativen Vernunft fortzuschreiten, die Vernunftideen für das praktische Fürwahrhalten freigeben, das ohne spekulativ-theoretischen Wahrheitsanspruch diese Grenze zu überflügeln vermag.
5.3.1 Problemexposition: Der scheinbare Selbstwiderspruch der Vernunft Wie Wahrheit möglich sei, ist Kant zufolge leicht einzusehen, weil der Verstand hier nur seinen eigenen Gesetzen folge. Die eigentliche Schwierigkeit liege darin, zu begreifen, wie eine verstandeswidrige Form des Denkens möglich sei (vgl. AA 9:51). Im Denken ergibt sich allerdings prima facie ein notwendiger Selbstwiderspruch der Vernunft, weil sich gültige Beweise für zwei scheinbar kontradiktorisch entgegengesetzte Sätze führen lassen. Kant bestreitet nicht, dass in dem Erkenntnisvermögen spezifische Vorstellungen a priori liegen, die den Funktionen der Vernunft entspringen. Der Rationalismus versäumt es, der Metaphysik eine epistemologische Transzendentalphilosophie voranzustellen, die nach dem Ursprung (genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis) und dem legitimen Gebrauch (juridischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis) fragt.⁸³ Mit der Hypothek einer transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe geht das Versäumnis einher, nach dem legitimen Gebrauch der Vernunft in der Erkenntnis zu fragen. Kant hingegen
Vgl. Kapitel 1.
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung
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zeigt, wie reine Vernunftbegriffe a priori entspringen. Er sichert ihnen eine gewisse „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ (KrV A 663/B 691), nämlich eine positive epistemologische Funktion.⁸⁴ Aber entgegen dem Rationalismus lehnt er die Voraussetzung der objektiven Gültigkeit der transzendentalen Ideen tout court ab. Denn diese Präsupposition führt zu skeptizistischen Konsequenzen. Zunächst soll Kants Darstellung des Ursprungs besonderer Begriffe in der Vernunft betrachtet werden. Im Anschluss wird das Problem entfaltet, dass diese Vernunftbegriffe mit sich führen. Die Vernunft bestimmt Kant hinsichtlich ihrer logischen Funktion als das Vermögen, mittelbar zu schließen (vgl. KrV A 299/B 355). Im transzendentalen Gebrauch ist sie „real[…], da sie selbst den Ursprung gewisser Begriffe und Grundsätze enthält, die sie weder von den Sinnen, noch von dem Verstand entlehnt“ (KrV A 299/B 355). Wie der Verstand als das „Vermögen der Regeln“ sowohl einen logischen wie auch einen transzendentalen Gebrauch umfasst, so umfasst auch die Vernunft als das „Ve r m ö g e n d e r P r i n z i p i e n“ (KrV A 299/B 356) ihrerseits beide Gebrauchsweisen. Die Vernunft führt allerdings im Gegensatz zum Verstand, der assertorisch erkennt, zu apodiktischer Erkenntnis. Denn die Vernunft erkennt das Bedingte durch Subsumtion seiner Bedingung unter ein allgemeines Prinzip als notwendig unter dieser Regel stehend (vgl. AA 9:120). In der Vernunfterkenntnis wird also „das Besondere im Allgemeinen durch Begriffe“ erkannt. Sie ist somit die „Ableitung einer Erkenntnis aus einem Prinzip“ (vgl. KrV A 300/B 357). Wie dem Verstand entspringen auch ihr Vorstellungen spezifischer Art, nämlich transzendentale Ideen. ⁸⁵ Analog zur metaphysischen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe gibt der logische Vernunftgebrauch die „Stammleiter der Vernunftbegriffe“ an die Hand (KrVA 299/B 356). Als „das Vermögen zu schließen, d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urteils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urteilen“ (KrV A 330/B 387), sucht sie das Bindeglied, den Mittelbegriff, der in seiner vollständigen Extension die Prädikation eines gegebenen Begriffs von einem Objekt bedingt.⁸⁶ Bei den reinen Vernunftbegriffen (transzendentale Ideen) handelt es sich um Begriffe eines Unbedingten als Totalität der Bedingungen, unter denen Objekte möglicher Erfahrung
Da Kant die Vernunftideen aus den Funktionen der Vernunft herleitet, kann mit Förster von einer „metaphysischen Deduktion“ der Ideen die Rede sein (vgl. Förster 2012: 44 f.). Eine ‚Idee‘ erklärt Kant als „einen notwendigen Vernunftbegriff, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann“ (KrV A 327/B 383). So bedingt beispielsweise ‚Mensch‘ als Mittelbegriff die Beifügung von ‚sterblich‘ (Oberbegriff) zu Cajus (Unterbegriff) oder ‚Zusammengesetztes‘ die Beifügung von ‚veränderlich‘ (Oberbegriff) zu ‚Körper‘ (Unterbegriff) (vgl. KrV A 322/B 378 und A 330/B 387).
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als bedingt vorgestellt werden. Die Vernunftbegriffe unterscheiden sich von den reinen Verstandesbegriffen. Zwar gelten die Kategorien a priori von allen Objekten möglicher Erfahrung, aber das in der totalitären Perspektive der Vernunft gesuchte letzte Bindeglied kann kein apriorischer Begriff von der Art der Kategorien sein. Denn diese Begriffe sollen nicht die Einheit des Mannigfaltigen des sinnlich Gegebenen der Anschauung, sondern die Einheit der Verstandeserkenntnisse prinzipiieren, damit die menschenmögliche Erkenntnis insgesamt ein systematisches Ganzes bildet. Die transzendentalen Ideen sind „Regel[n] oder Prinzipie[n] der systematischen Einheit alles Verstandesgebrauchs“ (KrV A 665/B 693, vgl. KrV A 323/B 378 f.). Die Vernunft generiert spezielle Begriffe, die die Möglichkeit der Erfahrung überschreiten, um die Verstandeseinheit ideell anzuleiten. Die Prinzipien des reinen Verstandes sind keine Erkenntnisse aus Begriffen, da sie ohne die reine Anschauung nicht einmal möglich wären. Dementgegen sind die reinen Vernunftbegriffe synthetische Vorstellungen aus Begriffen. Nur diese Begriffe, die transzendentalen Ideen, nennt Kant im engeren Sinn Prinzipien (vgl. KrV 301/B 357 f.). Sie bedingen die Einheit der Verstandeserkenntnisse, wie dessen Prinzipien die Einheit der Anschauung. Dem logischen Verfahren der Vernunft sind zwei Hinweise auf das „transzendentale Pricipium derselben in der synthetischen Erkenntnis durch reine Vernunft“ (KrV A 306/B 363) zu entnehmen: (a) Die Vernunfteinheit ist wesentlich von der Einheit des Verstandes verschieden, denn der Vernunftschluss geht auf Begriffe und Urteile, nicht auf Anschauungen. Darum geht der „reale Vernunftgebrauch“ im Gegensatz zum (reinen) Verstandesgebrauch nicht unmittelbar auf die Anschauung, sondern „nur auf den Verstand und dessen Urteile“ (KrV A 306 f./B 363). Zweitens (b) fragt die Vernunft nach der allgemeinsten Bedingung einer Konklusion. Im prosyllogistischen Regress schreitet sie stets von der Bedingung (Mittelbegriff), die die Subsumtion einer gegebenen Bedingung (Untersatz) unter eine allgemeine Regel (Obersatz) ermöglicht, zu der allgemeineren Bedingung fort, die die Subsumtion des ursprünglichen Obersatzes unter eine allgemeinere Regel bedingt. Die Maxime des logischen Vernunftgebrauchs lautet: Logische Maxime: zu dem bedingten Erkenntnis des Verstandes [ist] das Unbedingte zu finden, womit die Einheit desselben vollendet wird. (KrV A 307/B 364).
Diese Logische Maxime ist die Regel zur Systematisierung diverser Verstandeserkenntnisse. Denn sie gibt eine allgemeine Regel an die Hand, wie durch kategorische, hypothetische oder disjunktive Prosyllogismen die Verstandeserkenntnisse zu einem Ganzen der Erkenntnis zu ordnen sind. Unter der Annahme „[W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe einander unter-
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geordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben, (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten)“ (KrV A 307 f./B 364) wird diese Logische Maxime zum obersten Prinzip der reinen Vernunft (Oberstes Vernunftprinzip).⁸⁷ Das Oberste Prinzip der Vernunft in ihrem objektiven Gebrauch lautet: Oberstes Vernunftprinzip: [W]enn das Bedingte gegeben ist, so ist auch die ganze Reihe einander untergeordneter Bedingungen, die mithin selbst unbedingt ist, gegeben, (d. i. in dem Gegenstande und seiner Verknüpfung enthalten) (KrV A 307 f./B 364)
Dieses Prinzip klassifiziert Kant als synthetisch, weil das Bedingte analytisch nur auf irgendeine Bedingung verweist, nicht aber auf das Unbedingte (vgl. KrV A 308/B 364). Die Begriffe, die sich aus dem Obersten Vernunftprinzip ergeben, transzendieren alle Erscheinungen. Es handelt sich um synthetische Begriffe, die a priori im Schlussverfahren aus dem Obersten Vernunftprinzip entspringen, indem die Vernunft die Verstandesbegriffe der Relation zu Ideen erhebt (vgl. KrV B 557). Die Genese der transzendentalen Ideen in Orientierung an den Relationskategorien ist Kant zufolge ein zwei-schrittiges Verfahren: [1] Wir heben von dem Gegenstand der Idee die Bedingungen auf, welche unseren Verstandesbegriff einschränken […]. [2] Und nun denken wir uns ein Etwas, wovon wir, was es an sich selbst sei, gar keinen Begriff haben, aber wovon wir uns doch ein Verhältniß zu dem Inbegriffe der Erscheinungen denken, das demjenigen analogisch ist, welches die Erscheinungen unter einander haben. (KrV A 674/B 702; vgl. A 409/B 435 f.)
Im ersten Schritt werden die sinnlichen Bedingungen aufgehoben [1], beispielsweise das Schema der regelgeleiteten zeitlichen Sukzession des Mannigfaltigen im Falle der Kausalität (und damit deren Anwendungsbedingung zum Zwecke der Referenz auf etwas Objektives). Dann [2] denkt die Vernunft analogisch zu dem Verhältnis der Erscheinungen untereinander gemäß der drei Relationskategorien ein Etwas, das zu „dem Inbegriffe der Erscheinungen“ (KrV A 674/B 702) in eben demselben Verhältnis steht, wie die Erscheinungen untereinander (InhärenzSubsistenz, Ursache-Wirkung, Gemeinschaft). Diese „Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten“ (KrV A 322/B 379) ist auf drei Weisen konzipierbar, weil der Verstand ein Verhältnis auf eine dieser drei Weisen denkt. Die Vernunft schreitet also im Denken eines Unbedingten auf dreifache Art durch Prosyllogismen fort: durch Prosyllogismen zu kategorischen, hypothetischen oder disjunktiven Urteilen. Reine Vernunft bildet derart (a) die Idee eines „Subjekt[s], Vgl. Logik: „Was unter der Bedingung einer Regel steht, das steht auch unter der Regel selbst“ (AA 9:120, Sperrung aufgehoben).
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welches selbst nicht mehr Prädikat ist“, als „Unbedingtes der kategorischen Synthesis in einem Subjekt“, (b) die Idee einer „Voraussetzung, die nichts weiter voraussetzt“ als Unbedingtes „der hypothetischen Synthesis der Glieder einer Reihe“ und (c) die Idee eines „Aggregat[s] der Glieder der Einteilung, zu welchem nichts weiter erforderlich ist“ als Unbedingtes „der disjunktiven Synthesis der Teile in einem System“ (KrV A 323/B 379 f., Sperrung aufgehoben SB). Daher sind die drei reinen Vernunftbegriffe (a) der Begriff der absoluten Einheit des denkenden Subjekts, (b) der Begriff des schlechthin Unbedingten in der Reihe gegebener Bedingungen eines Objekts und schließlich (c) der Begriff von einem ens realissimum, einem Wesen aller Wesen (vgl. KrV A 335/B 392 f.).⁸⁸ Die transzendentale Erkenntnis weist die Vernunft derart als eine eigene Quelle von Vorstellungen aus (genetischer Aspekt), die die menschliche Vernunft notwendigerweise generiert. Die contra WahrheitsskepsisR entscheidende Einsicht birgt allerdings der juridische Aspekt der transzendentalen Erkenntnis. Bevor in Abschnitt 5.3.2 die kritische Lösung dargestellt wird, soll zunächst die wahrheitsskeptische Problematik, die mit den transzendentalen Ideen verbunden ist, zur Sprache kommen, damit deutlich wird, welche Schwierigkeit hier thematisch ist. Im Folgenden wird die Dialektik der Vernunft am Exempel der Freiheitsantinomie besprochen. Freiheit stellt als notwendige Voraussetzung des praktischen Vernunftgebrauchs den Fluchtpunkt der kantischen „Umänderung der Denkart“ (KrV B XXII Anm. 1) dar. Kants neue epistemologische Transzendentalphilosophie limitiert nämlich den spekulativen Vernunftgebrauch zugunsten ihres praktischen Gebrauchs – darin besteht das Ziel der Methodenkritik der Metaphysik als Wissenschaft, die Kant mit der Kritik der reinen Vernunft leistet. Der zweite Begriff reiner Vernunft, die Idee eines schlechthin Unbedingten in der Reihe gegebener Bedingungen, führt zu einer „ganz natürlichen Antithetik“ (KrV A 407/B 433) der menschlichen Vernunft. Sie bringt die Vernunft in Versuchung […], sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beides ist der Tod einer gesunden Philosophie (KrV A 407/B 434).
Eine Antithetik fasst Kant als den Widerstreit scheinbar dogmatischer Erkenntnisse, ohne einem von beiden Recht zu geben (KrV A 420/B 448).
Kant bezeichnet sie als psychologische, kosmologische und theologische Idee (vgl. KrV A 671/ B 699) und legt damit ihre Identifikation mit den traditionellen Gegenständen der speziellen Metaphysik, der Seele des Menschen, der Welt in toto und Gott, nahe.
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Bei dem Versuch, das reale Verhältnis unter den Erscheinungen hinsichtlich der Idee einer „absolute[n] Vollständigkeit der Entstehung einer Erscheinung überhaupt“ (KrV A415/B 443) (dritte kosmologische Idee) zu denken, ergibt sich scheinbar folgender Widerspruch: (Thesis)
„Die Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Kausalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen notwendig.“ (KrV A 444/B 472)⁸⁹
(Antithesis) „Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur.“ (KrV A 445/B 473)
Freiheit bedeutet im transzendentalen Verstande eine besondere Kausalität, nämlich die „unbedingte Kausalität der Ursache in der Erscheinung“ (KrV A 419/B 447, Hervhb. SB) (transzendentale Freiheit). Transzendentale Freiheit ist ihrerseits durch keine weitere Ursache bedingt. Die Thesis behauptet, dass dieser Begriff notwendig ist, die Antithesis, dass er unmöglich ist. Bei dem Versuch, die Idee der Welt mit dem Verstand zu erfassen, d. h. spekulativ zu beurteilen, gerät die Vernunft durch dialektische Schlüsse in den Zustand der Antinomie, weil sich ihre Gesetzgebung in einem Widerspruch verfängt (vgl. KrV A 340/B 398, A 407/B 434). Da sich Kant zufolge für beide Seiten des Widerstreits ein gültiger Beweis führen lässt, ist die Vernunft in einen Selbstwiderspruch zwischen Thesis und Antithesis zerrissen. Denn es ist aufgrund des Satzes vom Widerspruch logisch unmöglich, einen Satz und seinen kontradiktorischen Gegensatz für wahr zu erachten. Also wäre einzugestehen, dass die Vernunft und ihre Ideen keine positive epistemische Funktion haben, sondern das Erkenntnisvermögen hinsichtlich seiner Wahrheitsfähigkeit diskreditieren. In Anbetracht der dritten Antinomie
Der Terminus ‚Welt‘ bedeutet nach Kant „das mathematische Ganze aller Erscheinungen und die Totalität ihrer Synthesis, im Großen sowohl als im Kleinen, d. i. sowohl in dem Fortschritt derselben durch Zusammensetzung, als durch Teilung“ (KrV A 418/B 446). Dieselbe Welt heißt ‚Natur‘, „so fern sie als ein dynamisches Ganzes betrachtet wird, und man nicht auf die Aggregation im Raume oder der Zeit, um sie als eine Größe zu Stande zu bringen, sondern auf die Einheit im Dasein der Erscheinungen siehet“ (KrV A 418 f./B 446 f.).Von ‚kosmologischen Ideen‘ ist die Rede, weil sie auf das „Unbedingte unter den Erscheinungen gerichtet sind“ und die Synthesis zu einer Vollständigkeit gesteigert wird, die alle mögliche Erfahrung übersteigt (vgl. KrV A 419 f./B 447). Die dritte Antinomie ist eine dynamische Antinomie, weil sie von der „Einheit im Dasein der Erscheinungen“ handelt und fragt, nach welchem Gesetz diese in toto zu erklären sind.
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erscheint beispielsweise die objektive Geltung des Kausalitätsbegriffs, die mit der transzendentalen Analytik gesichert schien, in einem fragwürdigen Licht.⁹⁰ In den dialektischen Schlüssen der Vernunft wird die Gegenthese gesetzt, um sie als widersprüchlich zu erweisen und auf die eigene These zu schließen. Die Argumentation der Thesis geht von der Annahme aus, es gäbe keine andere als die Kausalität nach Naturgesetzen. Folglich setzt alles, was geschieht, einen vorherigen Weltzustand voraus, aus dem es notwendig folgt. Da aber jeder Vorgängerzustand selbst wieder durch einen Vorgängerzustand bedingt ist, ergibt sich ein unendlicher Regress von Vorgängerzuständen, aber keine erste Ursache. Auf Seiten der einander bedingten Ursachen ist immer nur ein subalterner Anfang, aber keine Vollständigkeit zu erreichen. Wenn aber nach den Gesetzen der Natur gilt, „daß nichts ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache geschehe“, dann ist der Satz, dass alle Kausalität nur nach Naturgesetzen möglich ist, in seiner Universalität widersprüchlich. Damit ist die Annahme, es gäbe einzig Kausalität nach Naturgesetzen, aus welcher die Erscheinungen insgesamt abgeleitet werden können, widerlegt. Die Gegenthese statuiert, dass eine Kausalität aus Freiheit als die „absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen“ (KrV A 445 f./B 473 f.), notwendig ist, um eine hinreichende Bedingung zu all den bedingten Wirkungen und subalternen Ursachen anzugeben. Die Argumentation der Antithesis geht von der Annahme aus, es gebe transzendentale Freiheit. Sie versucht, diesen Begriff als widersprüchlich zu erweisen, indem sie ihn mit dem Kausalgesetz des Verstandes, der zweiten Analogie der Erfahrung, kontrastiert: Angenommen, es gibt transzendentale Freiheit. Die zweite Analogie der Erfahrung besagt dementgegen, dass jeder Weltzustand einen Vorgängerzustand voraussetzt, durch den er kausal verursacht wird. Dieser Grundsatz wurde in der transzendentalen Analytik als Verstandesgrundsatz in seiner universellen Geltung für Erscheinungen bewiesen. Um die Naturkausalität aufzuweichen, kann nicht auf Freiheitsgesetze verwiesen werden, die „in die Kausalität des Weltverlaufs eintreten“, weil sie als solche selbst wiederum nichts anderes als Natur wären (vgl. KrV A 448/B 476). Die Annahme transzendentaler Freiheit konfligiert also mit dem Verstandesgrundsatz der Kausalität. Also, schließt die Argumentation pro Antithesis, ist transzendentale Freiheit bloß ein „leeres Gedankending“ (KrV A 446/B 474 f.). Der antinomische Selbstwiderspruch der Vernunft besteht darin, dass die dialektischen Vernunftschlüsse transzen-
Zur Auslösung der Antithetik gerade durch die Ergebnisse der transzendentalen Analytik vgl. im Folgenden 5.3.2.
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dentale Freiheit zugleich als notwendig (Thesis) und unmöglich (Antithesis) erweisen. Die in der KrV verhandelten dialektischen Lehrsätze betreffen Fragen, die nicht willkürlich konstruiert sind, sondern solche, auf die „jede menschliche Vernunft in ihrem Fortgange notwendig stoßen muss“, und Kant meint, den „natürlichen und unvermeidlichen Schein“ des Gegensatzes unschädlich zu machen, aber nicht tilgen zu können (vgl. KrV A 422/B 449 f.). Der „transzendentale“ Schein bezüglich des Welt-Begriffs entsteht, weil die Bedingungen der „Vernunfteinheit in bloßen Ideen“ keinesfalls adäquat gedacht werden können. Denn sie sollen zugleich zwei inkompatiblen Anforderungen genügen, nämlich einerseits als „Synthesis nach Regeln, dem Verstande“, und andererseits „als absolute Einheit derselben, der Vernunft kongruieren“ (KrV A 422/B 450). Vorausgesetzt, dass beide Beweise valide sind, lässt sich diese Antithetik in dogmatischer Manier nicht auflösen.⁹¹ Ein notwendiger Vernunftbegriff (transzendentale Freiheit) scheint die Vernunft in einen Selbstwiderspruch zu verwickeln. Wie ihre Begriffe (die transzendentalen Ideen) eine positive epistemische Funktion haben können, erscheint unbegreiflich. Stattdessen lässt die Vernunft die Verstandeserkenntnis nun in einem fragwürdigen Licht erscheinen (WahrheitsskepsisR). In Kapitel 1 wurde die Funktion der Kritik der reinen Vernunft als Methodentraktat zur Metaphysik herausgearbeitet. Das mit dem spekulativen Vernunftgebrauch verbundene Ziel, die Naturwissenschaften als Philosophie zu fundieren, ist nun in weite Ferne gerückt. Wenn nämlich die Verstandeseinheit durch Vernunft hergestellt werden soll, diese aber stattdessen Widersprüche produziert, dann kann kein System wissenschaftlicher Erkenntnisse errichtet werden. Angesichts der Antinomie der Vernunft ist die Legitimierung naturwissenschaftlicher Erforschung der Wirklichkeit (auch des empirischen Verstandesgebrauchs) für gescheitert zu erklären. Mit WahrheitsskepsisR ist darüber hinaus eine Skepsis verbunden, die den praktischen Vernunftgebrauch betrifft. Denn in Anbetracht der Antinomie ist auch kein praktischer Gebrauch der Vernunft möglich: Freiheit ist als Eigenschaft des Willens eine notwendige Voraussetzung des praktischen Vernunftgebrauchs und muss auch im theoretischen Vernunftgebrauch immerhin als logisch möglicher, d. h. widerspruchsfreier Gedanke gesichert werden.⁹²
Die Gültigkeit der Beweise kann im Rahmen dieser Arbeit nicht eigens erörtert werden. Moral setzt notwendig Freiheit „im strengsten“, d. h. ihren transzendentalen Begriff, voraus (vgl. KrV B xxviii).
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Soll die WahrheitsskepsisR abgewehrt werden und der Vernunft der kritische Weg offenstehen, vom Bedingten zum Unbedingten im praktischen Vernunftgebrauch fortzuschreiten, so ist die Denkbarkeit, die logische Möglichkeit, von Freiheit in der Transzendentalphilosophie als Kritik des Erkenntnisvermögens zu erweisen und die Antithetik mit epistemologischen Mitteln aufzulösen.⁹³ Das bedeutet: Das Oberste Vernunftprinzip darf nicht mit dem Obersten Verstandesgrundsatz konfligieren. Im folgenden Abschnitt wird Kants erkenntniskritische Auflösung besprochen.⁹⁴ Die erkenntnis- und wahrheitstheoretischen Grundlagen dazu wurden bereits erarbeitet.
5.3.2 Kants erkenntniskritische Auflösung der Antithetik reiner Vernunft Die kosmologischen Fragen gehen von einem wirklichen gegebenen Gegenstand aus (der empirischen Synthesis) und betreffen den „Fortgang der Synthesis, so fern er absolute Totalität enthalten soll“ (KrV A 479/B 507). Diese Fragen sind in der Transzendentalphilosophie unbedingt aufzulösen, weil hier der Gegenstand (die Erscheinung) empirisch gegeben und damit das Antezedens des Obersten Vernunftprinzips erfüllt ist. Dementgegen könnten die Frage nach einem transzendentalen Gegenstand, der schlechthin unbekannt ist (die Seele als ein einfaches Wesen oder eine schlechthin notwendige Ursache aller Dinge insgesamt), als „gänzlich nichtig und leer“ abgewiesen werden (KrV A 478/B 506). Aber bei den kosmologischen Ideen steht die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis in Frage. Denn die empirische Synthesis, die der Verstand in Bezug auf das Mannigfaltige der Anschauung leistet, scheint aus der Warte der Vernunft betrachtet in einen Widerspruch zu führen. Solange dieser Widerspruch nicht auf-
Die reale Möglichkeit der Freiheit kann im spekulativen Vernunftgebrauch gar nicht erwiesen werden, weil eine reine begriffliche Erkenntnis eines Realgrundes (einer Kausalität) unmöglich ist. Zu zeigen ist hingegen, dass sich Naturkausalität und transzendentale Freiheit nicht widerstreiten (vgl. A 558/B 586). Auf die transzendentale Idee der Freiheit gründet sich ihr praktischer Begriff, demzufolge sie „ein arbitrium sensitivum, aber nicht brutum, sondern liberum [ist], weil Sinnlichkeit ihre Handlung nicht notwendig macht, sondern dem Menschen ein Vermögen beiwohnt, sich, unabhängig von der Nötigung durch sinnliche Antriebe, von selbst zu bestimmen“ (KrV A 533 f./B 561 f.). Ohne transzendentale Freiheit würde auch keine praktische Freiheit sein (vgl. KrV A 534/B 562). Kant verbindet die Seite der Thesis mit der Position des Dogmatismus und die Seite der Antithesis mit der Position des Empirismus und hebt hervor, dass mit der Antithesis-Seite ein „tadelbarer“ Nachteil bezüglich des praktischen Vernunftinteresses einhergeht (vgl. KrV A 446 – 71/B 494– 99).
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gelöst ist, kann keine Rede davon sein, dass die Wahrheitsfähigkeit des menschlichen Erkenntnisvermögens tatsächlich gesichert ist. Eine „Antithetik“ nennt Kant den „Widerstreit der dem Scheine nach dogmatischen Erkenntisse, (thesin cum antithesi) ohne daß man einer vor der andern einen vorzüglichen Anspruch auf Beifall beilegt“ (KrV A 420/B 448). Sie betrachtet „allgemeine Erkenntnisse der Vernunft nur nach dem Widerstreite derselben unter einander und den Ursachen derselben“ (KrV A 420/B 448), beschäftigt sich aber nicht mit den einseitigen Behauptungen selbst. Die „transzendentale Antithetik“ ist die „Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft ihre Ursache und ihr Resultat“ (KrV B 448/B 421). Zur Auflösung der Antinomie untersucht Kant nicht die Argumente der Thesis und der Antithesis. Eine interne Kritik des Beweisverfahrens ist ohnehin nicht möglich, wenn die Schlüsse der Thesis und der Antithesis gleichermaßen gültig sind. Davon geht Kant aus. Darum ist keine dogmatische Lösung der Antinomie zu erreichen. Kants Auflösung der Antithetik geschieht auf erkenntniskritischem Weg: Die Streitfrage (hier: Gibt es transzendentale Freiheit?) wird nicht objektiv, sondern subjektiv betrachtet und gefragt wird „nach dem Fundamente der Erkenntnis, worauf sie gegründet ist“ (KrV A 484/B 512). Das Fundament wurde mit dem Obersten Vernunftprinzips bereits identifiziert. Dieses Oberste Vernunftprinzip wurde aus dem logischen Vernunftgebrauch entwickelt (genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis). Also kann nur noch der juridische Aspekt der transzendentalen Erkenntnis in Frage stehen: Kants Auflösung der Antinomie reiner Vernunft in ihren dogmatischen Schlüssen wird durch eine Reflektion auf den legitimen Gebrauch des Obersten Vernunftprinzips erfolgen. Kant betrachtet die Frage ‚Gibt es transzendentale Freiheit?‘ subjektiv, um zu sehen, „ob sie nicht selbst auf einer grundlosen Voraussetzung beruhe“ (KrV A 485/B 513). Da mit der transzendentalen Analytik feststeht, dass „[m]ögliche Erfahrung“ dasjenige ist, „was unseren Begriffen allein Realität geben kann“ und ohne die „aller Begriff nur Idee [ist], ohne Wahrheit und Beziehung auf einen Gegenstand“, ist die Idee (hier: transzendentale Freiheit) daraufhin zu prüfen, ob sie „in der Welt ihren Gegenstand antreffe“ und nicht umgekehrt, ob der empirische Begriff (die empirische Synthesis) der Idee angemessen ist oder nicht (vgl. KrV A 489/B 517), wie es in dem Widerstreit von Thesis und Antithesis der Freiheitsantinomie geschieht. Diese neue Perspektive ermöglicht es, den kosmologischen Widerstreit aufzulösen. Denn nun ist ersichtlich, dass die kosmologische Idee „einen leeren und bloß eingebildeten Begriff, von der Art, wie uns der Gegenstand dieser Ideen gegeben wird“, zu Grunde legt (vgl. KrV A 490/B 518). Die Thesis-Seite und die Antithesis-Seite gehen beide davon aus, dass der Vernunftbegriff (transzendentale Freiheit) in der empirischen Synthesis gegeben wird. Sie geraten in eine
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Dialektik, weil die absolute Totalität der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten, wenn sie den Bedingungen der Vernunft angemessen konzipiert wird, „für den Verstand zu groß“ ausfällt, und, wenn sie dem Verstand angemessen konzipiert wird, für die Vernunft zu klein ist (vgl. A 422/B 450). Diese Antithetik entsteht also dann, wenn versäumt wird, mittels einer transzendentalen Deduktion das Feld zu bestimmen, in dem die Kategorien objektive Geltung beanspruchen können. Werden die Kategorien, ohne ihre Anwendungsbedingungen in den Blick zu nehmen, als objektiv gültig gesetzt, dann gerät der Unterschied zwischen den Kategorien als reinen Verstandesbegriffen und jenen der Vernunft (transzendentalen Ideen) aus dem Blick. Folglich wird das Objekt dieser Begriffe im Feld der Erfahrung gesucht. Das bedeutet: Das Oberste Vernunftprinzip wird als konstitutives Prinzip angesehen, das unmittelbar zur Bestimmung der Objektivität dient. So betrachtet ist der Widerspruch von Thesis und Antithesis eine Kontradiktion. Kants Auflösung depotenziert die Kontradiktion von Thesis und Antithesis zu einem subkonträren Gegensatz. Dabei spielen die in der Analytik erzielten wahrheitstheoretischen Einsichten eine entscheidende Rolle:⁹⁵ Dort wurde demonstriert, dass der Wahrheitsbegriff als Übereinstimmung von Denken und Anschauen erfüllt ist, indem der objektiv gültige Kategoriengebrauch durch die Anwendbarkeit der Kategorien auf das sinnliche Mannigfaltige, das die raumzeitliche Anschauung darbietet, gerechtfertigt wurde. Damit steht fest, dass nur der reine Verstand über objektiv gültige, reine Begriffe verfügt. Die Vernunftbegriffe machen „nur den Ve r s t a n d e s b e g r i f f [] von den unvermeidlichen Einschränkungen einer möglichen Erfahrung[] f r e i “, und damit auch von seiner Wahrheitsvalenz und versuchen, „ihn […] über die Grenzen des Empirischen, doch aber in Verknüpfung mit demselben zu erweitern“ (KrV A 408 f./B 435). Ein solcher Begriff ist aber nicht länger eine objektiv gültige – wahre oder falsche – Bestimmung des Gegenstandes. Im transzendentalen Idealismus ist die scheinbare Antithetik (der „Widerstreit der dem Schein nach dogmatischen Erkenntnisse[] (thesin cum antithesi)“ [KrV A 420/B 448]) durch die Unterscheidung zweier Perspektiven auf das Erkenntnisobjekt möglich: seine Betrachtung als Erscheinung im empirischen Verstandesgebrauch versus seine Betrachtung als Ding an sich selbst im transzendentalen Verstandesgebrauch. Zu berücksichtigen ist dabei, dass mit der transzendentalen Deduktion einzig und allein der empirische Verstandesgebrauch als wahrheitsfähig ausgewiesen ist und die transzendental-
In dem Nachweis der Ungleichartigkeit dieser reinen Begriffe durch ihre Deduktion aus dem Verstand respektive der Vernunft sieht Kant eine wesentliche Leistung seiner Erkenntniskritik (vgl. KrV A 338/B 396).
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logischen Wahrheitsbedingungen als conditiones sine qua non der Objektreferenz gelten. Mittels der transzendentallogischen Wahrheitsbedingungen kann nun zwischen zwei Fällen ([1], [2]) differenziert werden: [1] Wenn eine Erkenntnis als bedingt angesehen wird, so ist die Vernunft genötigt, die Reihe der Bedingungen in aufsteigender Linie als vollendet und ihrer Totalität nach gegeben anzusehen. [2] Wenn aber eben dieselbe Erkenntnis zugleich als Bedingung anderer Erkenntnisse angesehen wird, die unter einander eine Reihe von Folgerungen in absteigender Linie ausmachen, so kann die Vernunft ganz gleichgültig sein, wie weit dieser Fortgang sich a parte posteriori erstrecke, und ob gar überall Totalität dieser Reihe möglich sei; weil sie einer dergleichen Reihe zu der vor ihr liegenden Konklusion nicht bedarf, indem diese durch ihre Gründe a parte priori schon hinreichend bestimmt und gesichert ist. (KrV A 332/B 389)
Die Antinomie der reinen Vernunft beruht, so Kants Diagnose, insgesamt auf dem dialektischen Argument: „Wenn das Bedingte gegeben ist, so ist auf die ganze Reihe aller Bedingungen desselben gegeben: nun sind uns Gegenstände der Sinne gegeben, folglich etc.“ (KrV A 497/B 525). Die Antinomie der reinen Vernunft beruht also auf einem konstitutiven Gebrauch des Obersten Vernunftprinzips. Kant stellt dementgegen heraus, dass eigentlich nur der Satz „wenn das Bedingte gegeben ist, uns eben dadurch ein Regressus in der Reihe aller Bedingungen zu demselben aufgegeben sei“ (KrV A 497 f./B 526, Hervhb. im Original) analytisch folgt. Dieser Satz steht nicht im Fokus der kantischen Kritik, sondern bleibt als „logisches Postulat der Vernunft“ unbeanstandet (vgl. KrV A 498/B 526, vgl. Logische Maxime). Für die Erkenntnisobjekte, die Erscheinungen, folgt– im Gegensatz zu einer Betrachtung der Objekte als Dinge an sich selbst – nicht, dass mit dem Bedingten als Erscheinung die „absolute Totalität der Reihe“ dieses Bedingten „mitgegeben und vorausgesetzt sei“, sondern bloß, dass sie zu suchen „a u f g e g e b e n“ ist (KrV A 499/B 527). Die Totalität, nach deren Erklärung in den kosmologischen Ideen gefragt ist, ist zur Erklärung der Erscheinungen nicht notwendig. Denn im empirischen Verstandesgebrauch ist es zwar notwendig, zu jedem Bedingten eine Bedingung anzunehmen, aber nicht ein schlechthin Unbedingtes (vgl. KrV A 483 ff./B 510 ff; AA 20:287).⁹⁶ Kant moniert, dass das dialektische Argument auf einer Äquivokation beruht: Der Begriff des Bedingten wird zunächst im Obersatz in transzendentaler Bedeutung genommen, d. h. als ent-schematisierte Kategorie, im Untersatz hingegen in empirischer Bedeutung. Weil nur der empirische Gebrauch einen Begriff der
In Kapitel 2 wurde deutlich, dass die Bedingungen der formalen Wahrheit nur unter Voraussetzung des transzendentalen Realismus auch Bedingungen der materialen Wahrheit sind und diese Identifikation mit Kant kritisiert. Kapitel 3 (vgl. insbes. Teil 4.3) hat gezeigt, dass der transzendentale Realismus vor der skeptischen Herausforderung nicht bestehen kann.
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Sukzession (Zeit) bei sich führt, wird zwar im Obersatz, aber nicht im Untersatz die „absolute Totalität der Synthesis“ vorausgesetzt. Folglich ist die Subsumtion des Untersatzes unter den Obersatz nicht möglich (vgl. KrV A 599 f./B 527 f.). Wenn nicht zwischen Erscheinungen und Dingen an sich selbst unterschieden wird und von den Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile, die sich aus der transzendentalen Deduktion der Kategorien ergeben, abstrahiert wird, dann scheint die Synthesis im Untersatz dieselben Bedingungen mit sich zu führen wie im Obersatz und der Schluss erscheint gültig (vgl. KrV A 500/B 528).⁹⁷ So entsteht die scheinbare Antinomie reiner Vernunft. Sobald aber die Wahrheitsbedingungen der Synthesis für die KausalitätsKategorie gemäß der zweiten Analogie der Erfahrung in Rechnung gestellt werden, wird der Unterschied zwischen beiden Begriffen des Bedingten offenbar: Im transzendentalen Verstandesgebrauch, führt der Begriff des Bedingten analytisch die Voraussetzung einer Totalität der Bedingungen bei sich. Denn hier gilt der Satz vom Grund als logisches Prinzip des Denkens konstitutiv. Kant zeigt in seiner erkenntniskritischen Transzendentalphilosophie allerdings, dass die logische Wahrheit des Denkens nicht simpliciter mit der materialen Wahrheit (der Erkenntnis) identifiziert werden darf.⁹⁸ Im Gegensatz zum Rationalismus setzt Kant die objektive Geltung der Kategorien nicht voraus, sondern rechtfertigt sie in ihrem legitimen Gebrauch zur Bestimmung von Objekten, indem er sie als notwendige Wahrheitsbedingungen im empirischen Verstandesgebrauch transzendental deduziert. Weil der Oberste synthetische Verstandesgrundsatz das transzendentale Prinzip synthetischer Begriffe ist, wird ihr Gebrauch im transzendentalen Verstand als nicht objektiv-gültig einsehbar. Darum ist der Grundsatz der Kausalität kein Grundsatz reiner Vernunft, sondern ein Grundsatz des Verstandes (vgl. KrV A 307/B 364 f.): Mögliche Erfahrung ist dasjenige, wodurch synthetische Begriffe objektive Realität a priori erhalten. Denn objektiv gültig ist die Kategorie nur in Bezug auf mögliche Erfahrung. Das Missverständnis eines konstitutiven Gebrauchs des Obersten Vernunftprinzips in den dogmatische Beweisen transzendentaler Ideen ist also die Folge eines un-restringierten Kategoriengebrauchs in der Erkenntnis und dieser resultiert seinerseits aus dem Versäumnis, die Kategorien transzendental zu deduzieren: Eine Philosophie, die Kategorien nicht als epistemische Bestimmungen des Denkens von Objekten auffasst und ihre Anwendungsbedingungen sucht, son Vgl. zur rationalistischen Identifikation von logischen und ontologischen Prinzipien 2.3.1. Der Satz vom Grund besagt in ontologischer Variante, dass es immer einen vollständig determinierenden Grund (und damit eine lückenlose Erklärung) geben muss, warum etwas vielmehr existiert als nicht existiert (sich so und nicht anders verhält). Vgl. Kapitel 2.
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dern sie stattdessen als ontische Bestimmungen des Seienden begreift, meint, keine Kategorien-Deduktion zu benötigen und verfängt sich darum in der Antinomie. Kant zufolge kann der Satz ‚Alles, was geschieht, hat eine Ursache.‘ nicht „an sich selbst […] (direkt) a priori“ eingesehen werden, ist also keine apodiktisch gewisse synthetische Erkenntnis a priori aus bloßen Begriffen (Dogma), obgleich er „in einem anderen Gesichtspunkte, nämlich dem einzigen Felde seines möglichen Gebrauchs, d. i. der Erfahrung, ganz wohl und apodiktisch bewiesen werden kann“ (vgl. KrV A 737/B 765). Als Prinzip des empirischen Verstandesgebrauchs stellt er eine notwendige Wahrheitsbedingung synthetischer Urteile dar: Die notwendige Verknüpfung aller Veränderungen nach dem Kausalgesetz ist eine Regel des „Zeitverhältnisse[s] der Erscheinungen“ (KrV A 177/B 219). Der „Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität“ (KrV A 189/B 232, die zweite Analogie der Erfahrung) stellt ein Kriterium bereit für den Unterschied zwischen einer objektiv gültigen Synthesis bezüglich der Veränderung zweier Weltzustände im Kontrast zu einer bloß subjektiv gültigen. Mit dieser formalen Bedingung der empirischen Wahrheit ist die Bedingung für die objektiv gültige Synthesis des realen Verhältnisses von Erscheinungen festgelegt und somit eine notwendige Wahrheitsbedingung für kausale Aussagen. Von den sinnlichen Anwendungsbedingungen der Kausalitätskategorie kann allerdings abstrahiert werden. Damit wird jedoch auch von der Form der materialen Wahrheit abstrahiert und darum darf dieses Denken nicht mit Erkenntnis, d. h. der Vorstellung einer Erscheinung als Objekt, verwechselt werden. Wenn von den sinnlichen Anwendungsbedingungen einer Kategorie abgesehen wird, wird ipso facto von ihrer objektiven Geltung abgesehen. Die Perspektivenunterscheidung zwischen der Betrachtung des Objekts als Erscheinung und seiner Betrachtung als Ding an sich selbst ermöglicht es also, die Antithetik aufzulösen. Die Betrachtung des Erkenntnisobjekts als Erscheinung ist seine wahrheitsfähige Bestimmung als material unabhängig vom Erkenntnisvermögen existierendes Objekt. In seiner Betrachtung als Ding an sich selbst wird derselbe Gegenstand vorgestellt, ohne einen Wahrheitsanspruch zu erheben und von den Bedingungen der Objektreferenz abgesehen. Durch diese Perspektivenunterscheidung erweist sich der Satz, „daß eine Wirkung in der Welt e n t w e d e r aus Natur, o d e r aus Freiheit entspringen müsse“, als nicht-exklusive Disjunktion (KrV A 536/B 564). Beides kann stattfinden, wenn zwischen den Betrachtungsweisen des Objekts als Erscheinungen im empirischen Verstandesgebrauch und seiner Betrachtung als Ding an sich im transzendentalen Verstandesgebrauch unterschieden wird: Aus transzendentaler Warte lässt sich sagen, dass als transzendentaler Grundsatz der empirischen Synthesis feststeht, dass alle Erscheinungen nach Naturgesetzen zusammenhängen (zweite Analogie der Erfahrung).
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Doch Erscheinungen haben keine an sich gegründete Existenz (absolute Realität). Sie hängen zwar nach empirischen Gesetzen zusammen und sind insofern erkennbar, können aber doch außerdem Gründe haben, die ihrerseits keine Erscheinungen sind. Diese Gründe sind nicht als Naturkausalität zu verstehen. Als intelligible Ursachen sind sie nicht wiederum kausal durch Erscheinungen bestimmt, sondern im transzendentalen Verstandesgebrauch zu denken als Kausalität außer der Reihe der Erscheinungen. Solche Gründe sind nicht erkennbar. In der Reihe der Erscheinungen treten lediglich ihre Wirkungen auf, die ihrerseits wiederum auch noch durch andere Ursachen, also andere Erscheinungen, bestimmt sein können (vgl. KrV A 536 f./B 564 f.). „[S]o wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (als sichtbare Handlungen) als dem Naturgesetz notwendig gemäß und so fern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne hiebei ein Widerspruch vorgeht“ (KrV B xxviif.). Während der Gegensatz von Thesis und Antithesis im dritten kosmologischen Widerstreit der Vernunft zunächst als kontradiktorischer Widerspruch erscheint, ist er im transzendentalen Idealismus zu einem subkonträren Gegensatz depotenziert. Nur sofern sich zwei Sätzen kontradiktorisch widersprechen, kann der Nachweis, dass die Gegenthese falsch ist, als Beweis für die eigene These gelten, denn dann ist die Disjunktion zwischen beiden exklusiv. Kant zufolge sind solche apagogischen Beweise allerdings nur in der Mathematik erlaubt, da es in dieser Wissenschaft unmöglich sei, „das Subjektive unserer Vorstellungen dem Objektiven, nämlich der Erkenntnis desjenigen, was am Gegenstande ist, unterzuschieben“ (KrV A 791/B 819). Diese sind hingegen in der Philosophie nicht gestattet, wo sich die apagogische Beweisart als das „eigentliche Blendwerk“ entpuppt (vgl. AA 20:291).⁹⁹ Somit ist deutlich, dass die Begriffsanalytische Wahrheitsauffassung des Rationalismus nicht nur zu den wahrheitsskeptischen Konsequenzen führt, die in Kapitel 2 besprochen wurden, sondern dass die WahrheitsskepsisR auch diese Dimension umfasst: Wenn der Satz vom Grund, der ein Prinzip der formalen Wahrheit ist, material interpretiert wird, resultiert der konstitutive Gebrauch des Obersten Vernunftprinzips und daraus wiederum der Selbstwiderspruch reiner Vernunft als metaphysisches Problem. Nach Maßgabe des konstitutiven Gebrauchs des Obersten Vernunftprinzips sind Thesis und Antithesis beide reine Vernunfterkenntnisse und stehen in kontradiktorischem Gegensatz, weil vermeintlich im apagogischen Beweisverfahren im Ausgang von der
Zur apagogischen Beweisart: vgl. KrV A 791– 4/B 819 – 23. In Kapitel 2 wurde die Identifikation der formalen (formallogischen) Wahrheit mit der materialen als Grundfehler rationalistischer Metaphysik kritisiert.
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung
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Gegenthesis auf die Wahrheit der eigenen Thesis geschlossen werden kann. Dementgegen können Thesis und Antithesis eines subkonträren Gegensatzes nicht beide falsch, wohl aber beide wahr sein. Die Wahrheit der Antithesis steht mit der zweiten Analogie der Erfahrung als a priori bewiesener Satz fest. Die Wahrheit der Thesis kann zwar nicht (mit spekulativen Mitteln) eingesehen werden, aber ihre Unmöglichkeit ebenso wenig. Also bleibt sie logisch möglich. ¹⁰⁰ Durch das juridische Urteil der Selbstkritik des Erkenntnisvermögens, der Kritik der reinen Vernunft, wird der dogmatisch nicht zu aufzulösende Schein des antinomischen Selbstwiderspruchs reiner Vernunft erkenntniskritisch aufgelöst, indem die transzendentallogischen Prinzipien der Gegenstandserkenntnis, die Prinzipien der materialen Wahrheit, ausgewiesen werden und die wahrheitstheoretische Insuffizienz der formalen Logik mit Blick auf synthetische Erkenntnisurteile herausgestellt wird. Die in 4.2.4 aufgestellte These, dass mit der transzendentalen Deduktion der Kategorien auch die WahrheitsskepsisR widerlegt ist, hat sich somit bestätigt. Kant führt in der transzendentalen Dialektik vor, indem er pro Thesis und Antithesis Gründe mit gleichem Gewicht anführt, dass durch die „skeptische Art[…], welche reine Vernunft an reine Vernunft tut“, an die Stelle eines „großen dogmatischen Wustes mit wenig Aufwand“ eine „nüchterne Kritik“ gesetzt wird, „die, als ein wahres Kathartikon, den Wahn zusamt seinem Gefolge, der Vielwisserei, glücklich abführ[t]“ (KrV A 486/B 514). Denn damit ist die gesamte rationalistische Metaphysica specialis als Produkt eines verfehlten Wahrheitsbegriffs und einer illegitimen Epistemologie enttarnt. Mit diesem Resultat ist Freiheit als Grundbegriff des praktischen Vernunftgebrauchs vom Schein des Widerspruchs befreit und die Neubestimmung der Metaphysik als praktische Dogmatik ermöglicht. Damit ist der in Kapitel 1 herausgestellte epistemologische Charakter der kantischen Neubestimmung der Transzendentalphilosophie zur Grundlegung der Metaphysik als Wissenschaft in vollem Umfang nachvollzogen. Mit der erkenntniskritischen Auflösung des transzendentalen Scheins der kosmologischen Idee ist die menschliche Erkenntnisfähigkeit gegen die Wahrheitsskepsis generell gesichert. Außerdem bleibt die transzendentale Freiheit ein möglicher Gedanke und der praktische Vernunftgebrauch eine gangbare Option. Das Feld der Erkenntnis ist die Objektivität, sofern sie ihrem Dasein nach nicht von der erkennenden Subjektivität abhängt. Gemäß dem transzendentalen Idealismus ist dies die gesamte Objektivität, die zwar nie komplett bestimmt, aber prinzipiell offen für Bestimmung ist. Die
Kants Ansicht, die Auflösung der kosmologischen Antithetik dank des transzendentalen Idealismus beweise die Richtigkeit dieser Theorie, die anfänglich nur Hypothese war (vgl. KrV B xxf.), bestätigt den antiskeptischen Interpretationsansatz.
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Erkenntnis lässt sich nun objektiv oder subjektiv betrachten. Objektiv ist eine Erkenntnis Kant zufolge entweder wahr oder falsch – ein Drittes ist hier ausgeschlossen. Subjektiv aber kann eine Erkenntnis entweder wahr oder falsch oder weder wahr noch falsch sein, nämlich dann, wenn sie logisch ungegründet ist. Eine solche Erkenntnis kann aber dennoch nach praktischen Gesetzen gegründet genug sein, d. h. „fähig seyn den Menschen so zu lenken, als wenn sie wahr wäre“ (vgl. AA 24:394). Durch die Kritik der reinen Vernunft, die mit den zwei Aspekten der transzendentalen Erkenntnis den apriorischen Ursprung von Vorstellung und deren objektive Geltung prüft, ist einzusehen, dass allein der Verstand über transzendentale Grundsätze verfügt, die die Erfahrung (empirische Erkenntnis) konstituieren. Demgegenüber sind die transzendentalen Ideen, die aus dem Obersten Vernunftprinzip folgen, in der theoretischen Erkenntnis nur regulativ zu gebrauchen. Mangels korrespondierender sinnlicher Schemata können sie nicht als Wahrheitsbedingungen eines realen Gegenstandes erwiesen werden (vgl. KrV A 664/B 692).¹⁰¹ Allerdings fordert die Vernunft doch, dass die besonderen, empirischen Bestimmungen der Gegenstände der Erfahrung, die in den disparaten Disziplinen aposteriorischer wissenschaftlicher Forschung erkannt werden, als Produkte einer systematisch-wissenschaftlichen Forschung betrachtet werden können. Transzendentale Idee heißt ein notwendiger Vernunftschluss, dem kein kongruierender Gegenstand in den Sinnen gegeben werden kann (KrV B 368 ff./B 671 ff.), der also nur „ein Gedanke der Form nach [ist], aber ohne allen Gegenstand“ (KrV B 146). Doch kommt den transzendentalen Ideen als regulative Prinzipien der Verstandeseinheit eine „objektive, aber unbestimmte Gültigkeit“ (KrV A 663/B 691) zu. Das transzendentale regulative Prinzip der systematischen Naturforschung ist – als Ausbuchstabierung des Obersten Vernunftprinzips im regulativen Gebrauch gemäß den drei Arten der Vernunftschlüsse – ein Dreifaches (vgl. KrV A 693/B 721): Die Vernunft bereitet also dem Verstande sein Feld 1. durch ein Prinzip der G e l e i c h a r t i g k e i t des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen [= Prinzip der Aggregation], 2. durch einen Grundsatz der Va r i e t ä t des Gleichartigen unter niederen Arten [= Prinzip der Spezifikation]; und um die systematische Einheit zu vollenden, fügt sie 3. noch ein Gesetzt der A f f i n i t ä t aller Begriffe hinzu, welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet. (KrVA 657/ B 686)
Zur Quasi-Deduktion der Ideen vgl. KrV A 669 – 688/B 697– 716.
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung
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Wenn eine systematische Erforschung der materialen Objektivität durch diverse naturwissenschaftliche Disziplinen möglich sein soll, dann muss diese Natur so organisiert sein, dass die Übergänge des diskursiven Denkens den Übergängen der Natur grosso modo entsprechen. Die Bestimmungen der erscheinenden Objekte müssen sich einerseits in abstraktere und speziellere Bedingungen strukturieren, damit kategorische Vernunftschlüsse möglich sind: Wenn die generelle Eigenschaft F von der Gattung a gilt, dann gilt F auch von b, sofern b eine Spezies von a ist. Außerdem müssen die Bedingungen der einzelnen Arten spezifisch sein, um hypothetische Vernunftschlüsse zu ermöglichen, d. h. es muss spezifische Arteigenschaften geben, damit eine Unterteilung in niedere Arten möglich ist: F gilt als artspezifische Eigenschaft von Individuen der Art a, aber nicht der Art b. Zur größten möglichen Ausbreitung der verstandesbasierten Erkenntnis ist außerdem nach dem Prinzip der „Affinität“ anzunehmen, dass die Merkmale der Art a zwar spezifisch gegenüber den Merkmalen der Art b sind, aber a und b sowohl einerseits Merkmale teilen, die sie als zwei Arten der Gattung x ausweisen, als es auch andererseits Instanzen von bspw. a gibt, die spezifische Merkmale haben, so dass a wiederum als Gattung zu weiteren Unterarten verstanden werden kann, dass also jede Art wiederum als Gattung betrachtet werden kann. Da den transzendentalen Ideen als Begriffe des Unbedingten, das als solches ein Übersinnliches ist, in der sinnlichen Anschauung prinzipiell kein kongruierender Gegenstand gegeben werden kann, ist „diese Kontinuität der Formen eine bloße Idee“ (KrV A 661/B 689). Sie dient zur Systematisierung der Suche nach Erkenntnissen im empirischen Verstandesgebrauch, der sie niemals erreichen, sondern sich ihnen nur asymptotisch annähern kann (vgl. KrV A 663/B 691). Die Vernunft hat den Verstand zum Gegenstand wie dieser die Sinnlichkeit. Die Grundsätze der Vernunft haben keine objektive Realität zur Bestimmung eines Gegenstandes, sondern verschaffen der Verstandeserkenntnis die größte Systematizität und Ausbreitung (vgl. KrV A 665 f./B 693 f.). Sie sind subjektive Grundsätze, d. h. „Maximen der Vernunft“ (KrV A 666/B 694). Werden derartige subjektive Grundsätze, die regulativ zu gebrauchen sind, für konstitutiv angesehen, dann „können sie als objektive Prinzipien widerstreitend sein“ (KrV A 666/B 694) und die Vernunft in den Zustand der Antinomie versetzen. Dementgegen kommt in ihnen, als Maximen betrachtet, nur „ein verschiedenes Interesse der Vernunft, welches die Trennung der Denkungsart verursacht“, zum Ausdruck – etwa ein gesteigertes „Interesse an der Mannigfaltigkeit (nach dem Prinzip der Spezifikation)“ oder der „Einheit (nach dem Prinzip der Aggregation)“ (KrV A 666/B 694). Zusammenfassend lässt sich festhalten: Die transzendentalen Ideen sind als absolute Totalität der Synthesis auf Seite der Bedingungen (der Inhärenz, Dependenz oder Konkurrenz) eines gegebenen Bedingten „ein reines und echtes Produkt, oder Problem, der reinen Vernunft“, das im theoretischen Gebrauch des
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Vernunftvermögens nicht aufgelöst werden kann (vgl. KrV A 335 f./B 392 f.). Der konstitutive Gebrauch des Obersten Vernunftprinzips basiert auf der rationalistischen Identifikation von Denk- und Seinsbedingungen. Kants Transzendentalphilosophie untersucht dementgegen den apriorischen Ursprung von Vorstellungen (genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis) und fragt nach ihrem legitimen Gebrauch in der Erkenntnis (juridischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis). Die transzendentale Deduktion beschränkt die objektive Geltung der Kategorien auf die Gegenstände möglicher Erfahrung, weil der Wahrheitsbegriff eine Korrespondenz von Anschauung und Begriff fordert. Im transzendentalen Idealismus ist der Konflikt zwischen dem Obersten Vernunftprinzip und dem Obersten Verstandesgrundsatz aus wahrheitstheoretischen Gründen durch eine Hierarchisierung gelöst: Weil Wahrheit in der Korrespondenz von Anschauen und Denken besteht, sind die Kategorien nur im empirischen Verstandesgebrauch objektiv gültig. Also überlässt die Vernunft in ihrem spekulativen Interesse, in dem es um die Bestimmung eines dem Dasein nach unabhängigen Objekts geht, alles dem Verstand (vgl. KrV A 326/B 383).¹⁰² Unter der Legislatur des Verstandes sind die transzendentalen Ideen jedoch keineswegs überflüssig. Obgleich durch die transzendentalen Ideen kein einziger Gegenstand mehr erkannt wird – die Erkenntnis durch sie also nicht quantitativ vermehrt wird –, organisieren sie doch den einhelligen Verstandesgebrauch in seiner größten Ausbreitung – vermehren die Erkenntnis also qualitativ. Sie haben eine heuristische Funktion mit Blick auf die Ausbreitung und Systematisierung der materialen (empirischen) Erkenntnisse. Zudem ermöglichen die transzendentalen Ideen einen Übergang von Naturbegriffen zu moralischen Ideen (vgl. KrV A 329/B 385 f.; AA 20:311; AA 9:92 u. a.). Durch den Nachweis, dass der spekulative Vernunftgebrauch aus sich heraus auf den praktischen Gebrauch der Vernunft verweist, öffnet die immanente Kritik reiner Vernunft das Feld einer praktischen Metaphysik. Die kantische Transzendentalphilosophie bereitet durch die Beschränkung der theoretischen Erkenntnisansprüche des Menschen einer neuartigen Metaphysik den Weg, in der alles auf die Moral gestellt ist: Es sind nämlich zwey Angeln, um welche sie [die Metaphysik] sich dreht: Erstlich die Lehre von der Idealität des Raumes und der Zeit, welche in Ansehung der theoretischen Prinzipien aufs Übersinnliche, aber für uns Unerkennbare, blos hinweiset […]; zweytens, die Lehre von der Realität des Freyheitsbegriffs […]. (AA 20:311, vgl. KrV A 800 f./B 828 f.)
Die Unterordnung der Vernunft in ihrem spekulativen Gebrauch unter den Verstand betont auch Deleuze (vgl. Deleuze 1983: 16). Die Antithetik der Vernunft besteht aus kritischer Warte betrachtet also nur scheinbar (vgl. KrV A 740/B 768, A 743/B 771).
5.3 Die Dialektik der reinen Vernunft und ihre Auflösung
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5.3.3 Abschließende Bemerkung Ein klassischer Einwand gegen Kants Transzendentalphilosophie ist die These von ihrer Irreflexivität. Die Irreflexivitätsthese besagt: Kant kann in der KrV allenfalls die Möglichkeit mathematischer und empirischer Erkenntnis sowie die Unmöglichkeit transzendent-metaphysischer Erkenntnis begründen, aber nicht die Möglichkeit der transzendentalphilosophischen Erkenntnis der Möglichkeit von mathematischer und empirischer sowie die Unmöglichkeit von transzendentmetaphysischer Erkenntnis, also die Möglichkeit ihrer selbst, verständlich machen.¹⁰³ Allerdings ist die Kritik der reinen Vernunft kein weiterer Fall objektiver Erkenntnis, sondern Selbsterkenntnis der Vernunft. Im Lichte der vorgeschlagenen Interpretation fragt sie nach der Möglichkeit des Wahrheitsbegriffs. Kants Projekt einer epistemologischen Transzendentalphilosophie, die als Methodentraktat der Metaphysik vorhergeht, um die Möglichkeit der Wahrheit (Übereinstimmung einer Erkenntnis und ihres dem Dasein nach unabhängigen Gegenstandes) einzusehen, fragt nach den transzendentalen Prinzipien synthetischer Urteile und hat ein doppeltes antiskeptisches Programm: Contra WahrheitsskepsisE ist die objektive Geltung der Kategorien auszuweisen, um die empirischen Wahrheitsansprüche zu legitimieren und den Naturwissenschaften ein Fundament zu geben. Contra WahrheitsskepsisR ist die objektive Geltung der Kategorien auf den Bereich möglicher Erfahrung zu beschränken, damit nicht nur Wahrheit als erfüllter Begriff eingesehen wird, sondern auch die Vernunft aus dem antinomischen Zustand befreit wird. Die Erklärung der Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis kann nun nicht in demselben Sinn wahr sein, wie eine Bestimmung der unabhängig existierenden Wirklichkeit. Da die in der KrV entwickelte transzendentale Erkenntnis kein Fall objektiver Erkenntnis ist, ist Kants Transzendentalphilosophie (Kritik der reinen Vernunft) kein Kandidat für eine reflexive Unterwerfung unter die Bedingungen der ausgewiesenen Erkenntnis. Sie ist keine objektive Erkenntnis, sondern Selbsterkenntnis des Erkenntnisvermögens. Die transzendentale Erkenntnis weist in ihren zwei Aspekten das menschliche Erkenntnisvermögen als dualistisch aus. Durch Untersuchung des transzendentalen Orts der Genese von Vorstellungen (Sinnlichkeit, Verstand oder Vernunft) und Bestimmung ihres rechtmäßigen Gebrauchs mit objektiven Geltungsanspruch werden Sinnlichkeit und Verstand als Quellen objektiv gültiger Vorstellungen (Anschauungen und Verstandesbegriffe) erkannt und der Gebrauch der Vernunft in der theoretischen Erkenntnis als regulativ bestimmt. Damit ist gezeigt, wie der traditionelle Wahrheitsbegriff realiter abgedeckt ist: Wahrheit
In dieser Hinsicht versuchte der Deutsche Idealismus Kants Philosophie zu „verbessern“.
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(und Falschheit) entsteht in der Interaktion von Sinnlichkeit und Verstand als Übereinstimmung von Anschauung und Begriff im empirischen Verstandesgebrauch. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff ist ein Begriff materialer Wahrheit. In dieser Arbeit wurde die Extrapolation der formallogischen Wahrheitsbedingungen auf die Erkenntnis tout court mit Kant kritisiert. Der Irreflexivitätsthese ist entgegenzuhalten, dass es ebenso verfehlt wäre, die Bedingungen der materialen Wahrheit tout court an die Philosophie heranzutragen, die ihre Möglichkeit zu erklären sucht. Die Kritik der reinen Vernunft ist eine Analyse des Erkenntnisvermögens, keine Theorie über die Welt. Sie muss nicht material, sondern formal wahr sein. Aber sie muss als epistemologische Fundamentalphilosophie die Kriterien der materialen Wahrheit entwickeln, will sie die Wahrheitsskepsis widerlegen. Von der materialen Wahrheit einer Erkenntnis kann ein formaler Wahrheitssinn unterschieden werden. Die formallogischen Bedingungen der Wahrheit sind der Satz vom Widerspruch und der Satz vom Grund. Eine philosophische Theorie hat also mindestens frei von Widersprüchen zu sein und ihre Erkenntnisse aus Gründen abzuleiten. Widersprüche, die Kant in der KrV beseitigt, sind zum einen das Problem der inkongruenten Gegenstücke durch die Theorie von Raum und Zeit als Formen der Sinnlichkeit in der transzendentalen Ästhetik, und zum anderen der Schein einer Antithetik reiner Vernunft durch Restriktion des objektiv gültigen Kategoriengebrauchs zur Bestimmung von Gegenstände möglicher (und in der Folge dann auch wirklicher) Erfahrung in der transzendentalen Logik. Diese generellen Bedingungen der logischen Wahrheit sind solange nur formal, als sie noch nichts über die explanative Kraft der Theorie aussagen. Kant verfolgt in der KrV aber eine besondere Methode: Das ostensive Beweisverfahren soll „Begreiflichkeit der Wahrheit in Ansehung des Zusammenhanges mit den Gründen ihrer Möglichkeit hervorbringen“ (KrV A 789/B 817). Die Wahrheit der KrV hat also besondere Kriterien: Wenn es um die Erklärung geht, wie der traditionelle Wahrheitsbegriff realiter abgedeckt sein kann, und sie diese Möglichkeit aus der Dualität von Anschauung und Begriff erklärt, die ihrerseits aus Sinnlichkeit und Verstand als den zwei irreduziblen Quellen der Erkenntnis ausgewiesen wurden, dann macht die Tatsache, dass der Wahrheitsbegriff erfüllt ist, aus diesen Gründen seine Möglichkeit einsichtig. Kants Transzendentalphilosophie ist ein besonderes Begründungsverfahren von Sätzen über Sätze mit objektivem Geltungsanspruch. Sie handelt als Theorie der transzendentalen Wahrheit von der Schnittstelle zwischen formaler und materialer Wahrheit, indem sie als Kritik der reinen Vernunft aus den Quellen der Erkenntnis eine widerspruchsfreie Theorie entwickelt, die den traditionellen Wahrheitsbegriff als erfüllt ausweist und die Wahrheitsfähigkeit der menschlichen Erkenntnis aus sich heraus erklärt.
5.4 Fazit
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5.4 Fazit Kants Beitrag zur Aufklärung des Wahrheitsbegriffs beseht in dem Ausweis epistemischer Wahrheitskriterien des Denkens eines Gegenstandes überhaupt. Diese synthetischen Grundsätze des reinen Verstandes ergänzen den Satz vom Widerspruch, der das transzendentale Prinzip analytischer Urteile ist, um transzendentale Prinzipien synthetischer Urteile. Sie ermöglichen es, Erkenntnis und Denkmöglichkeit, d. h. materiale und logische Wahrheit zu unterscheiden. In der KrV setzt Kant diese Wahrheitskriterien nicht dogmatisch voraus, sondern rechtfertigt sie, indem er mittels einer transzendentalen Deduktion zeigt, dass die transzendentallogischen Formen des Denkens (Kategorien) die Möglichkeitsbedingungen der Wahrheit sind, die nominal als Übereinstimmung von Erkenntnis und ihrem Gegenstand erklärt ist, indem sie die Synthesis des sinnlichen Mannigfaltigen, das die Anschauung präsentiert, a priori regeln. Die transzendentale Analytik (die „Logik der Wahrheit“ [KrV A 62/B 87]) weist aus, dass die „materielle (objektive) Wahrheit“ (KrV A 60/B 85) allein die empirische ist, deren Form a priori im Erkenntnisvermögen liegt. Die transzendentale Wahrheit legitimiert die materiale, indem sie Bedingungen für die Objektreferenz festlegt und damit die Wahrheitsfähigkeit synthetischer Urteile determiniert: Diese sind exklusiv dann wahrheitsfähig, wenn sie gebraucht werden, um sinnlich erscheinende Objekte zu bestimmen. Nur in diesem Verstandes- und Vernunftgebrauch wird legitimerweise Wahrheit beansprucht. Denn diese besteht formal betrachtet in der Übereinstimmung von Denken und Anschauen. Ihre a priori erkennbare Form ist mögliche Erfahrung. In einem Verstandes- und Vernunftgebrauch hingegen, der vermeint, Übersinnliches zu bestimmen, ist dieser Wahrheitsanspruch mangels Objektbezug prinzipiell verfehlt. Damit verbleibt einzig der empirische Irrtum eine denkbare Option. Es ist prinzipiell nicht möglich, einen solchen Irrtum, der aus besonderen Umständen der faktischen Situation resultiert, a priori auszuschließen.¹⁰⁴ Zur Widerlegung der Wahrheitsskepsis ist dies allerdings auch nicht erforderlich. Denn der empirische Irrtum stellt kein philosophisches Problem dar, sondern ist ganz im Gegenteil gerade Signum der Objektivität einer Erkenntnis und wird im objektiv gültigen Urteil per se immer potentiell mitbeansprucht.¹⁰⁵ Vermeintliche Er-
Ein unbemerkter Einfluss der Sinnlichkeit auf die Urteile des Verstandes in einer konkreten Situation und seine Folge (der Irrtum), kann nicht a priori ausgeschlossen werden. Koch hat den Zusammenhang zwischen dem realistischen Wahrheitsaspekt, der Fallibilität unserer objektive Geltung beanspruchenden Urteile, und der epistemischen Zugänglichkeit des objektiv Seienden, d. h. dem epistemischen Begriffsmoment der Wahrheit, als „informeller, vortheoretischer erkenntnistheoretischer Realismus“ gefasst und die Äquivalenz der Objektivität
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kenntnisansprüche des Übersinnlichen, die eine spekulativ dogmatische Metaphysik erhebt, entspringen also einem nicht-wahrheitsfähigen Verstandes- und Vernunftgebrauch. Auf Basis der „Logik der Wahrheit“ (KrV A 62/B 87) können sie im zweiten Teil der transzendentalen Logik als Produkte des transzendentalen Scheins enttarnt und als Erkenntnisansprüche zurückgewiesen werden. Auf diese Weise wird der vermeintliche Selbstwiderspruch der Vernunft erkenntniskritisch aufgelöst. Die transzendentalen Ideen stellen kein weiteres Objekt theoretischer Erkenntnis vor. Sie sind zwar a priori entspringende, reine Vernunftbegriffe, dienen in der Spekulation aber nur dazu, die systematische Einheit der Erkenntnis in ihrer größten Ausbreitung anzuleiten. Transzendentale Freiheit bleibt ein logisch möglicher Begriff, ein widerspruchsfreier Gedanke. Die Widersprüche resultieren nur aus dem transzendentalen Verstandes- und Vernunftgebrauch, der mit dem Ergebnis der transzendentalen Deduktion als illegitim kritisierbar ist. Mit dem Beweis der objektiven Gültigkeit der Kategorien ist einerseits die empirische Erkenntnis a priori fundiert und damit die mit dem Empirismus einhergehende WahrheitsskepsisE abgewiesen. Andererseits kann mit den notwendigen Bedingungen der materialen Wahrheit an der Hand der transzendentale Schein durchschaut und damit auch die WahrheitsskepsisR zurückgewiesen werden, die aus einer verfehlten Gleichsetzung von logischer und materialer Wahrheit resultiert. Damit ist Kants antiskeptische Argumentation in der KrV erfolgreich abgeschlossen.
unserer Urteile, unserer Fehlbarkeit und deren Zweiwertigkeit (regulative Bivalenz) ausgearbeitet (vgl. Koch 2006: insbes. 52– 54, 71).
6 Schlussbetrachtung Die traditionelle Erklärung der Wahrheit lautet: Wahrheit ist die Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand. Damit ist die abstrakte Bedingung der materialen Wahrheit erfasst, ohne epistemische Kriterien an die Hand zu geben, wie die materiale Wahrheit erkennbar ist. Die Skepsis bezweifelt die Erkennbarkeit der Existenz eines Wahrheitskriteriums. Die vorliegende Untersuchung erweist Kants Kritik der reinen Vernunft als eine neuartige epistemologische Transzendentalphilosophie, die einen Mittelweg zwischen zwei Formen der Wahrheitsskepsis bahnt. Wie Wahrheit möglich ist, kann weder der Rationalismus noch der Empirismus erklären. Der Grund hierfür liegt in ihrer monistischen Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens. Die Kluft zwischen der logischen Wahrheit des Denkens und der materialen Wahrheit überbrücken synthetische Urteile. Die Rechtfertigung ihrer Prinzipien gelingt Kant mit der transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, die einsichtig macht, dass die Kategorien im empirischen Verstandesgebrauch objektiv gültig sind. Kants immanente Analyse des Erkenntnisvermögens erweist so die dualistische Konzeption der menschlichen Erkenntnis als das epistemologische Fundament, das es ermöglicht, die Wahrheitsskepsis generell zu widerlegen. Dank des transzendentalen Idealismus ist einzusehen, dass der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff ein prinzipiell erfüllter Begriff ist. Wie gelingt diese Einsicht? Kant lehnt die rationalistische Identifikation von Denkformen und Seinsbestimmungen ab und sucht Wahrheit im Anschluss an Aristoteles als Korrespondenz einer Erkenntnis mit ihrem Objekt zu erklären. Der korrespondenztheoretische Wahrheitsbegriff wird im Zuge des epistemologischen Projekts einer Kritik der reinen Vernunft in seiner Möglichkeit einsichtig. Auf Grundlage der durch die transzendentale Erkenntnis gerechtfertigten, dualistischen Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens ist die für die Erklärung der Korrespondenz essentielle Korrelation von Urteilsformen und Objektivitätsstruktur a priori ausweisbar. Denn im transzendentalen Idealismus ist das Erkenntnisobjekt in der Anschauung unmittelbar präsent. So muss das Denken seine objektive Geltung nicht per impossibile an etwas ganz anderem, Nicht-Geistigen erweisen. Dementgegen ist demonstrierbar, dass die Form der Objektivität a priori im Verstande liegt, der diese Form den Erkenntnisobjekten diktiert. Einerseits wird auf diese Weise die nach Maßgabe der empiristischen Erkenntnistheorie unüberbrückbare Kluft zwischen einer geschlossenen Klasse empirisch allgemeiner Aussagen und ihrer Erhebung zum Gesetz a priori geschlossen, indem die Gesetzesform a priori gerechtfertigt wird. Andererseits werden damit Prinzipien der materialen Wahrhttps://doi.org/10.1515/9783110697858-010
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6 Schlussbetrachtung
heit a priori ausgewiesen, die die metaphysischen Spekulationen des Rationalismus als logizistisches Blendwerk enttarnen und die theoretischen Erkenntnisreklamationen nicht nur sichern, sondern auch in wohlbestimmte Grenzen setzten. Während Leibniz, ganz dem traditionellen Geist verhaftet, die menschliche Erkenntnis zugunsten einer göttlichen Erkenntnis einschränkt, spricht Locke ihr eine eigenständige Bedeutung zu. Human understanding ist autonom und basal, aber nicht abgesichert gegenüber skeptischen Attacken. Entendement humain ist „die nur menschliche Erkenntnisweise, die hinter dem göttlichen Kanon zurückbleibt“ (Schmidt 1976: 65), und damit ebenfalls nicht geeignet, der Wahrheitsskepsis entgegenzutreten. Kants in der KrV entwickelte Theorie ist eine Lehre der sui-suffizienten menschlichen Erkenntnis, die sich sowohl der skeptischen Bedenken empiristischer Couleur als auch der aus der Spekulation rationalistischer Metaphysik erwachsenden Skepsis zu erwehren vermag, indem sie formalinhaltliche Kriterien der materialen Wahrheit a priori ausweist. Die Kritik der reinen Vernunft macht begreiflich, dass das Sensorische die „Schnittstelle“ (Koch) ist, an der sich Geist und Welt berühren, weil Empfindungen von vornherein nur zu den Bedingungen propositionaler Objektivierung gegeben werden können (vgl. Koch 2004: 95).¹ Kant löst die skeptische Herausforderung, indem er mit den transzendentalen synthetischen Grundsätzen des Verstandes epistemische Kriterien der materialen Wahrheit a priori deduziert. So zeigt sich, dass der traditionelle Wahrheitsbegriff ein erfüllter Begriff ist: Die Korrespondenz besteht zwischen Anschauung und Begriff und nicht zwischen einer vollkommen extramentalen Entität und ihrer Vorstellung. In der KrV ergänzt Kant contra den Rationalismus die allgemeinen notwendigen Wahrheitsbedingungen einer Erkenntnis um die Wahrheitskriterien synthetischer Urteile und weist gegen den Empirismus nach, dass die Verarbeitung der uns durch die Sinne zugehenden Information in der Tat rationale Voraussetzungen hat, die sich a priori bestimmen lassen. Der kantische Mittelweg zwischen den beiden wahrheitsskeptischen Antipoden des Empirismus und Rationalismus wurde in vier Schritten ausgeleuchtet. In Kapitel 1 wurde Kants epistemologische Neubestimmung der Transzendentalphilosophie als Methodentraktat der Metaphysik besprochen. Als zentrale Aufgabe der Selbstkritik des Erkenntnisvermögens ergab sich das Wahrheitsproblem, nämlich die Frage, wie für einen endlichen Verstand der Grund der Beziehung einer Vorstellung auf ihren Gegenstand geltungstheoretisch zu erklä-
Koch hat die Vermittlung des Sensorischen mit dem Diskurs in Form einer ‚Lesbarkeitsthese‘ ausgearbeitet (vgl. Koch 2011).
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ren ist. Die Methode dieser Transzendentalphilosophie wurde als der Versuch spezifiziert, die Prinzipien der Synthesis durch die transzendentale Erkenntnis in ihren zwei Aspekten auszuweisen, d. h. in einem ersten Schritt den Ursprung von Vorstellungen im Erkenntnisvermögen auszuweisen (genetischer Aspekt) und dann ihn einem zweiten Schritt ihre objektive Geltung zu bestimmen (juridischer Aspekt). In Kapitel 2 wurde deutlich, dass der argumentative Motor der KrV die Frage ist, wie Wahrheit möglich ist und welches die epistemischen Prinzipien der Wahrheit in materialer Hinsicht sind. Die wahrheitsskeptischen Konsequenzen des Rationalismus wurden, angeleitet von Kants Thematisierung der Wahrheitsfrage in der Einleitung zur transzendentalen Logik, erörtert und es wurde dargelegt, dass sie auf einer illegitimen Überbewertung der wahrheitstheoretischen Kapazitäten der formalen Logik beruhen. Die Notwendigkeit, zwischen der formalen und der materialen Wahrheit zu unterscheiden, wurde herausgestellt und damit die Grundlage der rationalistischen Metaphysik zurückgewiesen. Im Kontrast zur formalen Logik wurde die Notwendigkeit und Aufgabe der transzendentalen Logik erörtert. Sie ist die Disziplin, die die Frage, wie eine Erkenntnis mit ihrem Objekte übereinstimmen kann (Wahrheit), klärt. Der Versuch, ein allgemeines, notwendiges und hinreichendes Kriterium der Wahrheit aller Erkenntnisse anzugeben, wurde in diesem Kontext als generell unmöglich eingesehen. Als Programm der transzendentalen Logik ergab sich die Entwicklung notwendiger epistemischer Wahrheitsbedingungen synthetischer Urteile. In Kapitel 3 wurde die dualistische Konzeption des Erkenntnisvermögens als die epistemologische Voraussetzung herausgestellt, dieses Programm zu erfüllen. Es wurden die Gründe dargelegt, weshalb sich der tradierte, korrespondenztheoretische Wahrheitssinn nur im Ausgang von einem zweistämmigen Erkenntnisvermögen a priori als Korrespondenz von Anschauen und Denken in seiner Möglichkeit aufklären lässt, nicht jedoch unter den Prämissen monistischer Konzeptionen des Erkenntnisvermögens. Mit Blick auf die KrV wurde nachvollzogen, wie Kant die Dualität des menschlichen Erkenntnisvermögens qua immanenter Analyse begründet: Die transzendentale Erkenntnis erweist das menschliche Erkenntnisvermögen als „zweistämmig“, indem sie die strukturelle Heterogenität von Anschauung und Begriff bis zu ihrem Ursprung in den reinen Formen von Sinnlichkeit und Verstand zurückverfolgt. Mit der „Zweistämmigkeit“ der Erkenntnis wird die Möglichkeit von Wahrheit als Autonomie des Erkenntnisvermögens erklärbar. Empirismus und Rationalismus müssen dementgegen, unter der Prämisse, das menschliche Erkenntnisvermögen sei monistisch, auf eine externe Instanz verweisen, um die Korrespondenz einer Vorstellung mit ihrem Gegenstand zu erklären. Diese metaphysische Spekulation wurde aufgrund
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ihres Dogmatismus zurückgewiesen, dessen Kehrseite immer der Skeptizismus ist. In Kapitel 4 wurde schließlich Kants transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe als antiskeptischer, erkenntniskritischer Mittelweg zwischen Rationalismus und Empirismus betrachtet. Im Beweis des notwendigen Zusammenspiels von Sinnlichkeit und Verstand in der Erkenntnis wurde die Möglichkeit der Wahrheit als Korrespondenz von Anschauen und Denken verständlich: Die transzendental-logische Form eines im theoretisch-spekulativen Vernunftgebrauch wahrheitsfähigen Urteils ist genau dann erfüllt, wenn die reinen Verstandesbegriffe gebraucht werden, um ein sinnliches Anschauungsmannigfaltiges zu synthetisieren. Unter diesen Bedingungen ist jedes materiale Urteil wahrheitsvalent: wahr oder falsch. Mit dem apriorischen Beweis der Kriterien für die wahrheitsfähige Bezugnahme auf Objektivität ist eine gravierendere Form der Skepsis als der empirische Irrtum ausgeschlossen. In systematischer Hinsicht hat die wahrheitstheoretische Untersuchung der KrV gezeigt, dass die traditionelle Erklärung, Wahrheit sei Übereinstimmung einer Erkenntnis mit ihrem Gegenstand, nur eine Nominaldefinition, d. h. eine logische Worterklärung ist. Die skeptische Herausforderung ist allerdings nicht sinnvoll, wenn sie verlangt, ein notwendiges und hinreichendes Kriterium der Wahrheit jeder Erkenntnis anzugeben. Aufgrund der Diversität der Gegenstände ist dies unmöglich. Diese Erklärung des Wahrheitsbegriffs ist nicht falsch, sondern abstrakt. Sie erfasst nicht die epistemischen Kriterien, die den Wahrheitsbegriff anwendbar machen. Die Begriffsanalytische Wahrheit des Rationalismus beruht auf der verfehlten Identifikation von logischer und materialer Wahrheit, die in der alten ontologischen Transzendentalphilosophie wurzelt. Der Satz vom Widerspruch ist das transzendentale Prinzip analytischer Urteile, aber nicht das der materialen Wahrheit. Kant löst die skeptische Herausforderung in der materialen transzendentalen Logik. Das antiskeptische Programm der transzendentalen Analytik als „Logik der Wahrheit“ besteht darin, zu dem Satz vom Widerspruch ergänzende transzendentale Prinzipien synthetischer Urteile a priori zu beweisen. Durch die Rechtfertigung des objektiven Geltungsanspruchs der Kategorien in Bezug auf das raumzeitliche Mannigfaltige der menschlichen Anschauung wird mittels der transzendentalen Deduktion der traditionelle Wahrheitsbegriff als prinzipiell erfüllt ausgewiesen. Die Übereinstimmung ist realiter erfüllt, weil die Korrespondenz zwischen sinnlicher Anschauung und diskursivem Begriff besteht, deren wahrheitsvalente Form das kategoriale Urteil ist. Die qua transzendentaler Erkenntnis ausgewiesene dualistische Konzeption des menschlichen Erkenntnisvermögens ist die epistemologische Grundlage, den Wahrheitsbegriff als erfüllten Begriff einzusehen. Die erfahrungstranszendenten metaphysischen Erkenntnisreklamationen sind vor dem Hintergrund der ausgewiesenen Bedingung der
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materialen Wahrheit als illegitim zu kritisieren und abzuweisen. Indem die Kritik der reinen Vernunft die transzendentalen Prinzipien synthetischer Urteile und damit die Kriterien der materialen Wahrheit analysiert, ist die dogmatisch-spekulative Metaphysik im Kern diskreditiert und die metaphysische Wissenschaft für eine Neubestimmung freigegeben.
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Personenregister Allison, Henry
5, 19, 194
Baum, Manfred 5, 44, 47 f., 106, 112, 184 f., 188 f., 194, 204 f., 210 – 212 Baumgarten, Alexander Gottlieb 13 f., 19, 25, 125, 170, 191 Brandt, Reinhard 54, 121 f., 145 – 148, 170, 182 Heidemann, Dietmar Hermann 1, 7, 20, 27, 31, 41, 83, 85, 118, 122, 139 f., 152, 157, 176, 198 Henrich, Dieter 184, 194 Hume, David 13, 58, 61, 122 – 125, 142, 146, 166 f., 169 f., 179, 182 Koch, Anton Friedrich 5, 7, 19, 36, 52, 79 f., 85 – 88, 102, 113, 118, 123, 125, 135 f., 139, 142, 147, 183, 198, 208, 239 f., 242
https://doi.org/10.1515/9783110697858-012
Leibniz, Gottfried Wilhelm 13, 33, 49 – 53, 59 – 61, 89, 120, 125 – 127, 137 – 139, 154, 165 – 167, 214 f., 242 Locke, John 13, 44, 46, 49, 53 – 61, 95, 120 – 125, 142, 145 f., 169 f., 181, 197, 242 Nenon, Thomas 3 – 5, 8, 69, 73, 78, 85, 110, 115 f., 118, 133, 213 Prauss, Gerold 3 f., 6 f., 65, 67, 74, 83 f., 93, 96, 109, 111 f., 114, 154 Scheffer, Thomas 3 – 5, 8, 96, 101, 103 f., 109 – 111, 145, 149, 195, 206, 212 f. Wolff, Christian 6, 12 – 17, 19, 23, 27, 31, 33 f., 49 f., 125, 127, 154, 163, 170, 183, 191
Sachregister Apperzeption 38, 186, 190 f., 193 – Einheit der Apperzeption 79, 187, 192, 197, 199, 203 – 205, 210, 216 – analytische Einheit der Apperzeption 198 – synthetische Einheit der Apperzeption 186, 190 f., 194 – transzendentale Einheit der Apperzeption 38, 146 f., 151, 187, 202, 210 f. Aspekte der transzendentalen Erkenntnis 20 f., 28 f., 35 f., 38, 40, 42, 131, 182, 234 – genetischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis 152, 206, 218, 227, 236 – juridischer Aspekt der transzendentalen Erkenntnis 218, 236 Aspekte der Wahrheit 86, 88, 208 – realistischer Aspekt der Wahrheit 86, 88, 208 – phänomenaler Aspekt der Wahrheit 86 – praktisch-normativer Aspekt der Wahrheit 86 Deduktion der Ideen 40, 234 – 236 – metaphysische Deduktion der Ideen 40 – transzendentale Deduktion der Ideen 234 – 236 Deduktion der Kategorien 120, 183 – metaphysische Deduktion der Kategorien 40, 144 – 151, 165, 182, 211 – transzendentale Deduktion 5, 7, 9 f., 35 f., 40, 66, 69, 105, 107, 117, 124, 128, 131, 137, 145, 147, 151, 153, 155, 158 – 162, 165, 170, 173 – 175, 178 – 182, 184 f., 188 f., 193 f., 199, 203, 205 – 209, 211, 213 – 218, 228, 230, 233, 236, 239 – 241, 244 – Resultat der Kategoriendeduktion 158 f., 174, 187, 194, 199, 208 – 217 Erkenntnis, empirische 17, 24, 38, 53, 56 f., 105, 112, 159, 163, 165, 172, 234, 237, 240
https://doi.org/10.1515/9783110697858-013
Erkenntnis, transzendentale 18, 21 f., 28 – 32, 34 – 39, 41 – 43, 62, 106, 108, 120, 130 – 132, 139, 146, 151, 169, 172, 182, 184, 206, 222, 227, 237, 241, 243 f. erkenntnistheoretischer Dualismus 5, 9, 66, 114 f., 118 f., 129 – 131, 152, 160, 169, 172, 174, 243 erkenntnistheoretischer Monismus 118 f., 121, 125, 144, 160 f., 165, 169, 243 Formen der Sinnlichkeit 6, 9, 40, 43, 66, 131, 133, 139, 143 f., 155 f., 160, 168 – 170, 203, 205, 207, 238 Idealismus 41, 118, 128, 152 f., 155 – 160, 163 f., 167 f., 170, 172, 174 – 176, 217 f., 228, 232 f., 236 f., 241 – empirischer Idealismus 41, 155 – transzendentaler Idealismus 41, 128, 152 – 161, 164, 167 f., 170, 172, 174, 175 f., 217 f., 228, 232 f., 236, 241 Kohärenztheorie der Wahrheit 3 f., 6 f., 56, 69 f., 95, 109 f., 116 Korrespondenztheorie der Wahrheit 2 – 6, 55 f., 58, 70, 73, 76 – 78, 80, 83, 86, 95, 109, 116 – 118, 120, 125, 131, 159 f., 167, 169 f., 173, 200, 207 f., 236, 238, 241 – 244 Logik 2, 6 f., 9 f., 13, 15, 24, 33, 49, 51, 63 – 65, 68, 71 – 73, 75, 80, 82 – 86, 88, 91 – 98, 104 – 106, 108 – 116, 138, 143, 146, 149, 161, 170, 183, 211, 215, 221, 239 f., 244 – allgemeine Logik 64 – formale Logik 2, 5 f., 9, 64, 70 – 74, 76 – 78, 82 – 84, 92 – 97, 102 – 107, 109, 111, 113, 144, 147, 149 f., 211, 233, 243 – transzendentale Logik 2, 4 – 7, 9 f., 13, 15, 24, 29, 31 – 33, 39 f., 49, 51, 63 – 65, 68, 70 – 73, 75, 80, 82 – 86, 88, 91 – 98, 101, 103 – 116, 118, 131, 138, 142 – 147, 149 –
256
Sachregister
151, 160 f., 164 f., 170, 172, 183, 191, 211, 213, 215, 217, 221, 238 – 240, 243 f. Oberstes Vernunftprinzip 221 Oberstes Verstandesprinzip 107, 162, 197, 209, pyrrhonische Skepsis
1, 13, 49, 91, 176
Raum 5, 15, 29 f., 36 f., 40 f., 43, 104 – 106, 114, 118, 123, 127, 131 – 140, 143, 146, 151 – 153, 155 f., 158, 160 – 162, 164, 176, 186 – 188, 191, 194 f., 200 – 203, 205 – 207, 215 f., 218, 223, 236, 238 – metaphysische Erörterung des Raumes 40, 131, 134 – 136, 139 f., 151 – transzendentale Erörterung des Raumes 40, 134 Realismus 80, 85 – 90, 92, 110, 153, 155 – 157, 160, 163, 168, 176, 229, 239 – metaphysischer Realismus 85 – 90, 160 – transzendentaler Realismus 41, 80, 92, 153, 156 f., 163, 168, 176, 229 – empirischer Realismus 158 Seelenvermögen 30, 43, 45, 165 Skepsis 45, 51, 61, 70, 77, 114, 129, 153, 161, 168 f., 176, 179, 225, 241 f., 244 Synthesis 22 f., 26 f., 38 f., 54, 62, 106, 108, 112, 131, 140 – 145, 151, 159 f., 162, 181, 186 – 188, 192, 195 – 197, 199, 201 – 205, 207, 210, 216, 222 f., 225 – 227, 230 f., 235, 239, 243 transzendentale Bedeutung 98, 156, 229 transzendentales Prinzip 2, 9, 12, 16, 21, 25, 27, 30, 38, 40, 47 – 49, 51 f., 60, 62, 80, 84, 86, 88 – 91, 94, 98 – 103, 106 f., 109 – 111, 113 f., 117, 120, 124, 126, 133, 138, 141, 146 f., 151, 160, 162, 164 f., 167 – 169, 172, 174, 176, 181 – 183, 186, 197 f., 202 f., 206, 209 – 211, 214, 216 f., 219, 221, 228, 230 – 232, 234 f., 239, 244 Transzendentalphilosophie der Alten 13 f., 16, 19, 61
Transzendentalphilosophie Kants 5, 9, 27 f., 114, 159, 161, 164, 167, 236 – 238 – Kants Neubestimmung der Transzendentalphilosophie 18, 63 Vernunft 2, 4, 6, 8, 11, 13, 18 f., 21 – 28, 32 – 34, 39 – 43, 45 – 47, 62 – 64, 71 f., 80, 92, 94, 96 – 98, 100, 108, 116 f., 120, 122, 124, 128, 130, 138, 144, 147 f., 153, 156, 167, 173 – 182, 189, 208 f., 214, 216 – 230, 232 – 238, 240 – 242, 245 Verstand 2, 5 – 7, 9, 12 f., 15 f., 23, 29 f., 34, 36 – 40, 43 – 48, 52 – 55, 62, 64, 66 f., 77 – 79, 82, 90, 92 – 94, 96 – 98, 103 – 106, 108 f., 112 – 118, 120 – 125, 128, 130 – 133, 137 f., 140, 142 – 148, 151 – 155, 158 – 165, 167 – 170, 174, 176, 179, 181 f., 186 – 191, 193 – 208, 210 f., 213 – 216, 218 – 221, 223 – 226, 228, 230, 234 – 244 Wahrheit, Begriffsanalytische 6, 15 f., 50, 59, 61, 71, 83, 89, 95, 113, 172, 209, 232, 244, Wahrheit, formale 84, 90, 94, 98 f., 102 – 104, 111, 113, 117, 212, 229, 232 Wahrheit, materiale 6, 9, 51, 59, 62, 80, 82, 84 f., 90 f., 94 f., 97 f., 103, 106, 108, 114, 116 – 121, 124, 129, 141, 144 f., 152, 161 f., 164, 167, 173 f., 176, 195, 208, 212 – 216, 229 – 231, 233, 238, 240 – 245 Wahrheit, Nominaldefinition der 63 – 70, 74, 76, 78 f., 94, 113, 165, 244 Wahrheit, traditionelles Adaequatio-Verständnis der 3, 6, 65 Wahrheit, transzendentale 1 – 9, 14 – 17, 21, 26, 32 f., 47 – 53, 55 – 61, 63 – 117, 120, 122, 126, 130 f., 137 f., 143 f., 156, 158 – 161, 163 – 165, 168 – 170, 172 f., 176 f., 185, 193, 200, 206 – 208, 210 – 213, 218, 227, 230 – 233, 236 – 241, 243 f. Wahrheitsbedingung/en 4 f., 12, 60, 77, 84, 86 f., 93, 96, 101, 108 – 112, 114, 117, 172 f., 176, 211 – 213, 229 f., 234, 238, 243 – formale, logische Wahrheitsbedingungen 8 f., 33, 41, 49 51, 64, 67, 71 – 73, 76, 78, 84, 90 – 99, 101 f., 104 – 108, 110, 112 f.,
Sachregister
114, 117, 134, 137, 148, 158 f., 161, 165, 176, 184 – 186, 188 f., 191, 198, 200 – 203, 207 f., 213 – 215, 231 f., 238, 243 – formal-logische Wahrheitsbedingungen 49, 73, 84, 90, 94, 96, 97 – 103 – notwendige Wahrheitsbedingung/en 32, 39, 90, 97, 105, 108, 164, 207, 217, 230 f., 242 – transzendental-logische Wahrheitsbedingungen 103 – 112, 147, 244 Wahrheitskriterium/en 1 f., 5, 49, 51, 59, 70, 82, 85 – 87, 93 – 97, 102 f., 108 – 110, 112, 116, 122, 126, 208, 210, 239 241 f. – Wahrheitskriterium analytischer Urteile 97 – Wahrheitskriterium synthetischer Urteile 48 – epistemische/s Wahrheitskriterium/en 86, 88, 90 f., 102, 107, 108, 172, 206, 212, 215, 239 – hinreichende/s Wahrheitskriterium/en 76, 81, 95, 103 – positive Wahrheitskriterien 90, 93, 114, 126
257
– negative/s Wahrheitskriterium/en 77, 90, 113 Wahrheitsskepsis 2, 8 – 10, 45, 53, 59, 61, 70, 114, 163 f., 173, 175, 179 – 181, 189, 208, 216 f., 222, 225 f., 232 f., 237, 240 – empiristische Wahrheitsskepsis (WahrheitsskepsisE) 2, 8 – 10, 45, 53, 59, 61, 70, 114, 125, 144, 163 f., 173, 175, 179, 181, 189, 208, 212, 216, 237, 240 – rationalistische Wahrheitsskepsis (WahrheitsskepsisR)2, 8 – 10, 53, 59, 61, 70, 114, 163 f., 173, 175, 179 – 181, 189, 208, 216 f., 222, 225 f., 232 f., 237, 240 Zeit
5, 7 f., 19, 30, 36 f., 40 f., 43, 71, 105 f., 114, 116, 118, 127 f., 131 – 140, 143, 146 f., 151 – 153, 155 f., 158, 160 – 162, 164, 176, 186 – 188, 191 f., 194 f., 200 – 203, 205, 207, 213, 216, 218, 223, 230, 236, 238 – metaphysische Erörterung der Zeit 40, 131, 135 f., 139 f., 151 – transzendentale Erörterung der Zeit 40