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German Pages 363 [364] Year 1981
Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781 * 1981
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Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft 1781 * 1981 Herausgegeben von Ingeborg Heidemann und Wolfgang Ritzel
Walter de Gruyter • Berlin • New York 1981
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Beiträge zur Kritik der reinen Vernunft : 1781 — 1981 / hrsg. von Ingeborg Heidemann u. Wolfgang Ritzel. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1981. ISBN 3-11-008368-X NE: Heidemann, Ingeborg [Hrsg.]
© Copyright 1981 by Walter de Gruyter& Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung, J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J.Trübner — Veit & Comp. Printed in Germany Alle Rechte des Nachdrucks einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Dem Herausgeber des Opus postumum und der weiteren seit 1936 erschienenen Bände der Akademie-Ausgabe von Kant's gesammelten Schriften GERHARD LEHMANN zum 80. Geburtstag
Vorwort Die vorliegende Festschrift gilt der Kritik der reinen Vernunft, die vor zweihundert Jahren erschienen ist, und sie gilt dem Kantforscher G E R H A R D L E H M A N N , dessen Lebenswerk der Erschließung der Philosophie Immanuel Kants gedient hat. Die Beiträge dieses Buches sind in der Intention entstanden, nur Forschungsaspekte im Rahmen der Interpretation der Kritik der reinen Vernunft aufzunehmen. Ihrer Anordnung nach beginnen sie mit Untersuchungen zur Vorgeschichte der Kritik der reinen Vernunft in Kants eigenem Werk und in historischer Sicht. Die Abhandlungen zur systematischen Interpretation folgen der Gliederung der Kritik der reinen Vernunft. Die Wirkungsgeschichte kommt in einem Beispiel zur Geltung, mit dem die Rezeption der Kritik der reinen Vernunft zur Diskussion gestellt wird. G E R H A R D L E H M A N N , der am 10. Juli 1980 das achtzigste Lebensjahr vollendete, war schon als einer der Mitarbeiter an dem 1934 veröffentlichten sechsten Band der III. Abteilung der Akademie-Ausgabe: Kant's bandschriftlicher Nachlaß, Band X I X der Gesamtausgabe, beteiligt. Mit Band VII (bzw. X X ) übernahm er die Herausgabe. Welche Aufgabe dem Bearbeiter des bis heute nicht im Original veröffentlichten Opus postumum (1936 und 1938, Band VIII und IX bzw. X X I und XXII) gestellt war, kann nur ermessen, wer selbst mit diesen Nachlaß-Konvoluten gearbeitet hat. Die „Einleitung" von G E R H A R D L E H M A N N , auch die „Erläuterungen" und der umfangreiche Apparat zur Darstellung des Manuskriptes und der Textvarianten geben nur einen Einblick in diese Forschungsarbeit. 1955 folgte der Band „Vorarbeiten und Nachträge" (X bzw. XXIII), in dem auch Lose Blätter, selbständige Reflexionen und Textemendationen Kants zur Kritik der reinen Vernunft veröffentlicht sind. Mit der Herausgabe der bisher erschienenen Bände der IV. Abteilung: Kant's Vorlesungen (1966ff. 9 Einzelbände), hat G E R H A R D L E H M A N N der Kantforschung Kollegnachschriften von Vorlesungen Kants zur Logik, Moralphilosophie, Metaphysik und Rationaltheologie und Kleinere Vorlesungen: Enzyklopädie Mathematik Physik, zugänglich gemacht.
VIII
Vorwort
Die Beiträge von GERHARD LEHMANN zur Interpretation der kritischen Philosophie liegen vor in den zwei Bänden seiner gesammelten Abhandlungen: Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants und Kants Tugenden. Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1969 und 1980. Für die Würdigung des Gesamtwerkes von GERHARD LEHMANN verweisen wir auf die Darstellung von Wolfgang Ritzel: Gerhard Lehmann — Zum 10. Juli 1980 —, in: Kant-Studien, 71. Jahrgang, Heft 3, 1980. Die Herausgeber
Inhalt
Vorwort
VII Regensburg
JOSEF SCHMUCKER,
Kants kritischer Standpunkt zur Zeit der Träume eines Geistersehers, im Verhältnis zu dem der Kritik der reinen V e r n u n f t . . . . REINHARD BRANDT,
Marburg
Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Locke und Johann Schultz) PETER BAUMANNS,
1
Vernunft (John 37
Bonn
Anschauung, Raum und Zeit bei Kant WOLFGANG RITZEL,
69
Bonn
Die Transzendentale Deduktion der Kategorien 1781 und 1787 . . . 126 PETER HEINTEL
und
THOMAS M A C H O ,
Klagenfurt
Zur Voraussetzungsproblematik des Systems der Grundsätze des reinen Verstandes und ihre Bedeutung für einen neuzeitlichen Wissenschaftsbegriff 161 FRIEDRICH KAULBACH,
Münster
Der Primat der Substanzkategorien in Kants Programm der„transzendentalen Logik" 182 HEINZ-JÜRGEN HESS,
Hannover
Zu Kants Leibniz-Kritik in der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe" 200
Inhalt
X INGEBORG HEIDEMANN,
Bonn
Das Ideal des höchsten Guts. Eine Interpretation des Zweiten Abschnittes im „Kanon der reinen Vernunft" 233 MALTE HOSSENFELDER,
Münster
Kants Idee der Transzendentalphilosophie und ihr Mißbrauch in Phänomenologie, Historik und Hermeneutik 306 Register von
WOLFGANG RITZEL
347
JOSEF SCHMUCKER,
Regensburg
Kants kritischer Standpunkt zur Zeit der Träume eines Geistersehers im Verhältnis zu dem der Kritik der reinen Vernunft
1. Schon die Schriften Kants aus dem Jahre 1762 — Einzig möglicher Beweisgrund, Versuch über die negativen Größen, Preisschrift über die Deutlichkeit der Grundsätze der natürlichen Theologie und der Moral — enthalten gewisse auffallende Ubereinstimmungen mit kritischen Positionen seines späteren Hauptwerks, der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t : so die grundsätzliche Skepsis bezüglich der metaphysischen Beweise für die Immaterialität der menschlichen Seele, die These von dem wesentlich synthetischen Charakter der mathematischen Methode und — last not least — die Widerlegung der drei traditionellen Gottesbeweise mit substantiell den gleichen Gedankengängen, wie wir sie dann im dritten Hauptstück der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k antreffen, letzteres eine erstaunliche Tatsache, die unwillkürlich die Frage stellen läßt: Wie ist es zu verstehen, daß Kant in der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t diese Argumente noch so widerlegte wie 20 Jahre vorher in der frühen vorkritischen Phase, wenn diese Widerlegung andererseits doch das Ergebnis ihres ersten, grundlegenden Teiles (= der transzendentalen Ästhetik und Analytik) und damit die Konsequenz der Prinzipien des transzendentalen Idealismus sein soll? Naturgemäß wird diese Frage auch eine wichtige Rolle spielen in der Behandlung unseres Titelproblems: Wie steht es mit dem kritischen Standpunkt Kants etwa 3 bis 4 Jahre später, also um die Mitte des Jahrzehnts zur Zeit der T r ä u m e e i n e s G e i s t e r s e h e r s ? Hat dieser sich inzwischen, bei aller Befangenheit im vorkritischen Denken, noch in weiteren wesentlichen Punkten den Positionen der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t genähert?
2
Josef Schmucker
Zieht man lediglich die bezeichnete Veröffentlichung vom Ende 1765 in Betracht, so scheint sich auf den ersten Blick gegenüber 1762 nicht viel geändert zu haben. Zwar wird der Empirismus der Methode noch entschiedener betont und für die rationale Psychologie bzw. für die Pneumatologie radikal zu Ende gedacht, indem dieses weitläufige Stück Metaphysik gerade wegen des Mangels einer möglichen Fundierung in Erfahrungsgegebenheiten endgültig ad acta gelegt wird 1 , aber im Grunde ist das, so neu Kants Formulierungen auch klingen mögen, nur die konsequente Entfaltung seiner kritischen Bemerkung zur rationalen Psychologie in der P r e i s s c h r i f t 2 . Im Bereich dieser Thematik wird man also kaum einen wesentlichen Fortschritt gegenüber 1762 feststellen können. Freilich hat der Philosoph in den T r ä u m e n e. G. nicht nur zu den Problemen der Pneumatologie bzw. rationalen Psychologie Stellung genommen, er hat sich darüber hinaus, wenn auch in mehr andeutenden, aber doch vielsagenden Ausführungen kritisch geäußert zur spekulativen Metaphysik als solcher, und zwar in einer Weise, daß damit praktisch die Annahme nicht vereinbar ist, er habe zu dieser Zeit noch festgehalten an der Gültigkeit seines einzig möglichen Beweisgrundes von 1762, den er doch am Ende dieses Jahres noch voll vertreten hatte. Kündigt sich in diesen Äußerungen zur Metaphysik ein grundsätzlich neuer Standpunkt gegenüber 1762 und damit gegebenenfalls eine wesentlich größere Nähe zur Position bzw. zu Positionen der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t an? Führen wir uns die wichtigsten diesbezüglichen Aussagen Kants in den T r ä u m e n e. G. vor Augen! Am Ende des ersten Teiles lesen wir im Anschluß an das Verdikt über die Pneumatologie: „Es ist mehrenteils umsonst, das kleine Maß seiner Kraft auf alle windichten Entwürfe ausdehnen zu wollen. Daher gebeut die Klugheit sowohl in diesem als in a n d e r e n F ä l l e n den Zuschnitt der Entwürfe den Kräften angemessen zu machen und, wenn man das Große nicht füglich erreichen kann, sich auf das Mittelmäßige einzuschränken" 3 . Zum Abschluß des 2. Hauptstücks des zweiten Teiles ist dann von den zweierlei Vorteilen der Metaphysik die Rede: „Der erste ist, den Aufgaben ein Genüge zu tun, die das forschende Gemüt aufwirft, wenn es verborgenen Eigenschaften 1 2 3
Kants Gesammelte Schriften (KGS) II, 351 f. Ibid. 293. Ibid. 352, Sperrung Verf.
Kants kritischer Standpunkt
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der Dinge durch Vernunft nachspäht", und hier täusche der Ausgang nur zu oft die Hoffnung, wie gerade auch im gegenwärtigen Fall der Pneumatologie; der andere sei der Natur des menschlichen Verstandes mehr angemessen und bestehe darin, einzusehen, ob die Aufgabe aus demjenigen, was man wissen kann, auch bestimmt sei und welches Verhältnis die Frage zu den Erfahrungsbegriffen habe, darauf sich alle unsere Urteile jederzeit stützen müssen. Insofern sei die Metaphysik eine Wissenschaft von den G r e n z e n d e r m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t , und da ein kleines Land jederzeit viel Grenze habe, überhaupt auch mehr daran liege, seine Besitzungen wohl zu kennen und zu behaupten, als blindlings auf Eroberungen auszugehen, so sei dieser Nutzen der erwähnten Wissenschaft der unbekannteste und zugleich der wichtigste, wie er denn auch nur ziemlich spät und dach langer Erfahrung erreicht werde 4 . Die abschließenden Bemerkungen des letzten Absatzes dieses 2. Hauptstücks, die zugleich das Thema des folgenden vorbereiten, betreffen ebenfalls nicht nur die Pneumatologie, sondern die spekulative Metaphysik im allgemeinen: „Vorher wandelten wir wie D e m o k r i t im leeren Räume, wohin uns die S c h m e t t e r l i n g s f l ü g e l der Metaphysik gehoben hatten, und unterhielten uns daselbst mit geistigen Gestalten. Jetzt, da die s t i p t i s c h e Kraft der Selbsterkenntnis die seidenen Schwingen zusammengezogen hat, sehen wir uns wieder auf dem niedrigen Boden der Erfahrung und des gemeinen Verstandes; glücklich! wenn wir denselben als unseren angewiesenen Platz betrachten, aus welchem wir niemals ungestraft hinausgehen, und der auch alles enthält, was uns befriedigen kann, so lange wir uns am Nützlichen halten" 5 . Im 3. Hauptstück, „Praktischer Schluß aus der ganzen Abhandlung", geht es dann um eben dieses Thema der U b e r f l ü s s i g k e i t der hochfliegenden spekulativen Entwürfe der Metaphysik, zunächst hinsichtlich der Natur der Seele und deren Konsequenzen, ihrer Unsterblichkeit etc. Denn hier sei die wahre Weisheit die Begleiterin der Einfalt und bei ihr gebe das Herz dem Verstände die Vorschrift, wodurch gemeiniglich die großen Zurüstungen der Gelehrsamkeit entbehrlich würden, weil „ihre Zwecke . . . nicht solcher Mittel (bedürften), die 4 5
Ibid. 367f. Ibid. 368.
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Josef Schmucker
nimmermehr in aller Menschen Gewalt sein können" 6 . Und nachdem er betont, wie problematisch, ja schädlich es für die Sittlichkeit sei, die tugendhafte Gesinnung von den metaphysischen Einsichten über die Natur der Seele und ihr Fortleben nach dem Tode abhängig zu machen, expliziert er in diesem Punkt die erwähnte Vorschrift des Herzens für den Verstand: „Aber es hat wohl niemals eine rechtschaffene Seele gelebt, welche den Gedanken hätte ertragen können, daß mit dem Tode alles zu Ende sei, und deren edle Gesinnung sich nicht zur Hoffnung der Zukunft erhoben hätte. Daher scheint es der menschlichen Natur und der Reinigkeit der Sitten gemäßer zu sein: die Erwartung der künftigen Welt auf die Empfindungen einer wohlgearteten Seele, als umgekehrt ihr Wohlverhalten auf die Hoffnung der andern Welt zu gründen". Und hier folgt nun die einzige Stelle der Abhandlung, in der ausdrücklich auch die Gottesfrage in diese neue radikal kritische Sicht mit einbezogen wird: „So ist auch der m o r a l i s c h e G l a u b e bewandt, dessen Einfalt mancher Spitzfindigkeit des Vernünfteins überhoben sein kann, und welcher einzig und allein dem Menschen in jeglichem Zustande angemessen ist, indem er ihn ohne Umschweif zu seinen wahren Zwecken führt" 7 . Daß mit dem Hinweis auf den „moralischen Glauben" die praktische Gotteserkenntnis auf Grund des Sittlichen gemeint ist, geht aus dem Vergleich mit Parallelstellen in Rousseaus Emile und der parallelen Reflexion aus den „Bemerkungen zu den Beobachtungen" hervor®, die wie die T r ä u m e e. G. selbst den starken Einfluß dieses Hauptwerks des Genfers offenbaren: das bedeutet, daß nun der m o r a l i s c h e G l a u b e für Kant die Rolle übernommen hat, die er 1762 noch den „genugsam überführenden Beweistümern" der gesunden Vernunft, die „selbst noch innerhalb der Schranken gemeiner Einsichten" sind, zugeschrieben hatte 9 . Was sich also in seiner Stellung zur Metaphysik gegenüber den Schriften des Jahres 1762 geändert und worin er sich dem Standpunkt der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t weiterhin genähert hat, ist hier die radikale Abwertung aller den Bereich der Erfahrung überschreitenden spekulativen Erkenntnis, die er „der Sorge müßiger Köpfe überlassen" 6 7 8 9
Ibid. Ibid. Ibid. Ibid.
372. 373. X X , 57; Vgl.'„Die Ursprünge der Ethik Kants . . . " , Meisenheim 1961, 159f. II, 65.
Kants kritischer Standpunkt
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will 10 , verbunden mit jener überraschenden reflexiven Wendung in der Bestimmung des Wesens der Metaphysik als einer Wissenschaft von den Grenzen der menschlichen Vernunft. Diese neue Sicht der Metaphysik gehörte gewiß auch zu den wesentlichen Lehren der methodologischen Untersuchungen und Entwürfe, mit denen er, wie aus den Briefen der Mitte des Jahrzehnts hervorgeht, zu dieser Zeit beschäftigt war. Wir wissen aus seinem Brief an Lambert vom 31. 12. 65, daß er damals an einem größeren Werk über die eigentümliche Methode der Metaphysik arbeitete und diesem zwei kleinere „Ausarbeitungen" vorausschicken wollte, deren Stoff ihm fertig vorlag, mit denen er durch Beispiele die abstrakten Grundsätze seiner neuen Methodenlehre verständlich machen wollte. Ihre Titel: „Die metaphysischen Anfangsgründe der natürlichen Weltweisheit" und „Die metaphysischen Anfangsgründe der praktischen Weltweisheit". Wenn in den T r ä u m e n e. G. und in diesen methodologischen Versuchen die Zielsetzung der Metaphysik darin gesehen wird, sich der Grenzen der menschlichen Vernunft bewußt zu werden, d. h. darin, das dem Menschen zugängliche Land des Wissens und dessen Bedingungen festzusetzen und diesen Bereich von dem ihm nicht mehr durch wissenschaftliche Erkenntnis zugänglichen abzugrenzen, so haben wir damit eine erste vage Vorstellung von der Konzeption des späteren Hauptwerks; denn auch die K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t ist nach Kant ein Traktat über die Methode der Metaphysik mit diesen zwei Hauptteilen, dem positiven der Grundlegung der wissenschaftlichen Erkenntnis und dem negativ kritischen, der den Schlüssen der reinen spekulativen Vernunft den Wissenscharakter bestreitet. Zu diesen Andeutungen und Ausführungen über die Methode und das Wesen der Metaphysik in den T r ä u m e n e. G. kommt nun eine Anzahl bedeutsamer Stellen in den beiden Briefen an Lambert und Mendelssohn vom 31. 12. 65 bzw. vom 8. 4. 66, die uns schon deutlicher und konkreter erkennen lassen, was hinter den mehr allgemeinen Formulierungen der genannten Abhandlung an revolutionärem Gehalt bzw. Zündstoff sich verbirgt. In dem Brief an Lambert heißt es in bezug auf die gängige Metaphysik: „Allein mich dünkt, daß dieses die Euthanasie der falschen Philosophie sei, da sie in läppischen Spiel10
Ibid. 373.
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Josef Schmucker
werken erstirbt und es weit schlimmer ist, wenn sie in tiefsinnigen und falschen Grübeleien mit dem P o m p von strenger Methode zu G r a b e getragen wird. E h e wahre Weltweisheit aufleben soll, ist es nötig, daß die alte sich selbst zerstöre, und, wie die Fäulnis die vollkommenste Auflösung ist, die jederzeit vorausgeht, wenn eine neue Erzeugung anfangen soll, so macht mir die Crisis der Gelehrsamkeit zu einer solchen Zeit, da es an guten Köpfen gleichwohl nicht fehlt, die beste Hoffnung, daß die so längst gewünschte große Revolution der Wissenschaften nicht mehr weit entfernet s e i " 1 1 . Deutlicher noch wird er in seinem Brief an Mendelssohn vom 8. 4. 66, in dem wir gleich in Absatz 2 auf das überraschende Bekenntnis stoßen: „ Z w a r denke ich vieles mit der allerkläresten Überzeugung und zu meiner großen Zufriedenheit, was ich niemals den Mut haben werde zu sagen; niemals aber werde ich etwas sagen, was ich nicht d e n k e " . E r verrät dann im folgenden, daß er „die aufgeblasene Anmaßung ganzer Bände voll Einsichten dieser Art [seil, der Metaphysik], so wie sie jetziger Zeit gangbar sind, mit Widerwillen, ja mit einigem Hasse ansehe, „indem ich mich vollkommen überzeuge, daß der Weg, den man gewählt hat, ganz verkehrt sei, daß die im Schwang gehenden Methoden den Wahn und die Irrtümer ins Unendliche vermehren müssen und daß selbst die gänzliche Vertilgung aller dieser eingebildeten Einsichten nicht so schädlich sein könne als die erträumte Wissenschaft mit ihrer so verwünschten F r u c h t b a r k e i t " . U n d er spricht weiter davon, daß es Genies wie Mendelssohn — und sicher hat er sich dabei auch selbst im Auge — z u k o m m e , „ i n dieser Wissenschaft eine neue Epoche zu machen, die Schnur ganz aufs neue anzulegen und den Plan zu dieser noch immer aufs bloße Geratewohl angebauten Disciplin mit Meisterhand zu z e i c h n e n " , um dann nochmals auf die gängige Metaphysik zu sprechen zu k o m m e n : „ W a s aber den Vorrat vom Wissen betrifft, der in dieser Art öffentlich feil steht, so ist es kein leichtsinniger Unbestand, sondern die Wirkung einer langen Untersuchung, daß ich in Ansehung desselben nichts ratsamer finde, a l s i h m das d o g m a t i s c h e K l e i d a b z u z i e h e n u n d die v o r g e g e b e nen E i n s i c h t e n
skeptisch
z u b e h a n d e l n " , wovon der N u t z e n
allerdings nur negativ sei, aber zum Positiven vorbereite. Was seine eigenen Bemühungen in dieser Hinsicht angehe, berichtet er, „ s o glaube 11
Ibid. X , 56 f.
K a n t s kritischer S t a n d p u n k t
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ich seit der Zeit, als ich keine Ausarbeitungen dieser Art geliefert habe, zu wichtigen Einsichten in dieser Disciplin gelangt zu sein, welche ihr Verfahren festsetzen und nicht bloß in allgemeinen Aussichten bestehen, sondern in der Anwendung als das eigentliche Richtmaß brauchbar sind" 1 2 . Das wohl Wichtigste in den Zeugnissen dieser Briefe für unser Thema ist, daß der gesamten gängigen dogmatischen Metaphysik auf Grund ihrer verkehrten Methode der Charakter eines gesicherten ( = dogmatischen) Wissens abgesprochen wird und ihre sämtlichen Schlüsse in Zweifel gezogen werden, wobei man ohne Frage in erster Linie an die drei Disziplinen der speziellen Metaphysik, die rationale Psychologie, die rationale Kosmologie und die rationale Theologie zu denken hat. Freilich von seinen positiven neuen Einsichten in das Wesen und die Methode der Metaphysik im allgemeinen und der genannten drei Disziplinen der speziellen Metaphysik, zu denen er nach dem Brief von Mendelssohn seit den Schriften des Jahres 62 gelangt ist, erfahren wir hier (über das bereits in den letzteren und in den T r ä u m e n e. G . selbst Enthaltene hinaus) nicht Näheres. Daß sie aber tiefgreifend und revolutionär gewesen sein müssen, geht aus seinem Bekenntnis hervor, er denke vieles mit der allerkläresten Uberzeugung und zu seiner großen Zufriedenheit, was er niemals den Mut haben werde zu sagen. Das liegt offenbar in der Richtung „der so längst gewünschten großen Revolution der Wissenschaften", von der er im Brief an Lambert gesprochen hatte. Uber seine grundsätzliche Skepsis gegenüber der gängigen dogmatischen Metaphysik informieren uns weiterhin einige wichtige autobiographische Reflexionen der siebziger Jahre, die sich auf seine vorkritische Entwicklung beziehen. Hier ist die interessanteste und aufschlußreichste ohne Zweifel R 5116. In ihr berichtet Kant: „Ich habe von dieser Wissenschaft [seil, der Metaphysik] nicht jederzeit so geurteilt. Ich habe anfänglich davon gelernet, was sich mir am meisten anpries. In einigen Stücken glaubte ich etwas eignes zu dem gemeinschaftlichen Schatze zutragen zu können, in andern fand ich etwas zu verbessern, doch jederzeit in der Absicht, dogmatische Einsichten dadurch zu erwerben. Denn der so dreist hingesagte Zweifel schien mir so sehr die 12
Ibid. 69ff., Sperrung Verf.
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Josef Schmucker
Unwissenheit mit dem Tone der Vernunft zu sein, daß ich demselben kein Gehör ab. Wenn man mit wirklichem Ernst, die Wahrheit zu finden, nachdenkt, so verschont man zuletzt seine eignen Produkte nicht mehr, ob es zugleich scheine, daß sie uns ein Verdienst um die Wissenschaft verheißen. Man unterwirft, was man gelernt oder selbst gedacht hat, gänzlich der Critik. Es dauerte lange, d a ß ich auf s o l c h e W e i s e die g a n z e d o g m a t i s c h e T h e o r i e d i a l e k t i s c h f a n d . Aber ich suchte was Gewisses, wenn nicht in Ansehung des Gegenstandes, so doch in Ansehung der Natur und der Grenzen dieser Erkenntnisart. Ich f a n d a l l m ä h l i c h , d a ß v i e l e von den S ä t z e n , d i e w i r als o b j e k t i v a n s e h e n , in d e r T a t s u b j e k t i v s e i e n , d. i. d i e c o n d i t i o n e s e n t h a l t e n , u n t e r d e n e n w i r a l l e i n den G e g e n s t a n d e i n s e h e n o d e r b e g r e i f e n " . Und er schließt, es habe ihm damals noch eine unter Regeln gebrachte Kritik der reinen Vernunft gefehlt, wozu es der Einsicht bedurfte, wie überhaupt eine Erkenntnis a priori möglich sei, statt dessen habe er noch immer nach der Methode gesucht, „das dogmatische Erkenntnis durch reine Vernunft zu erweitern" 1 3 . Diese Einsicht in die Möglichkeit einer apriorischen Erkenntnis und damit einer unter Regeln gebrachten Kritik der reinen Vernunft erlangte er mit der subjektiven Deutung von Raum und Zeit (1769) und der Kategorien (1771/72); diesbezüglich sagt er dann in der parallelen Reflexion 5015: „Vor der Disputation hatte ich schon die Idee von dem Einfluß der subjektiven Bedingungen der Erkenntnisse in die objektiven". Diese autobiographischen Reflexionen sind eine aufschlußreiche Ergänzung und Konkretisierung dessen, was wir aus den T r ä u m e n e. G. und aus den Briefen an Lambert und an Mendelssohn erfahren haben. Wenn er hier sagt, daß er im Bestreben, die Wahrheit zu finden, seine eigenen Produkte nicht verschont und alles, was er gelernt und selber gedacht, gänzlich der Kritik unterworfen habe, so ist damit gewiß in erster Linie sein einzig möglicher Beweisgrund gemeint, und wenn er berichtet, daß er schließlich nach langer Zeit die ganze dogmatische Theorie d i a l e k t i s c h fand, so deckt sich das in der Sache mit den Aussagen der oben angeführten Briefe aus der Mitte des Jahrzehnts. Wir müssen also den Abschluß dieser langen Entwicklung um diese Zeit oder
13
Ibid. XVIII, 9 5 f . , Sperrung Verf.
Kants kritischer Standpunkt
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etwas früher ansetzen, wie auch aus den folgenden noch näher zu analysierenden Dokumenten hervorgehen wird. Von besonderem Interesse ist an der R 5116 sodann vor allem der Hinweis, daß er in dieser Kritik der metaphysischen Erkenntnis nichts Gewisses mehr suche in Ansehung des Gegenstandes, sondern in Ansehung der Natur und der Grenzen dieser Erkenntnisart, was wiederum in dieser allgemeinen Formulierung eine Parallele zu der Kennzeichnung der Aufgaben der Metaphysik in den T ä u m e n e. G . bedeutet. Aber hier wird diese allgemeine Konstatierung noch in einer entscheidenden Weise präzisiert, die dann für die ganze kommende Entwicklung bestimmend bleiben und in den großen Reflexionenkomplexen von K und X eine wesentliche Rolle spielen wird: er hat erkannt, daß viele von den Sätzen, die wir als objektiv ansehen, in der Tat subjektiv sind, d. i. die c o n d i t i o n e s e n t h a l t e n , u n t e r denen wir allein den G e g e n s t a n d e i n s e h e n u n d b e g r e i f e n . Diese Begründung mag auf den ersten Blick überraschen, sie sagt aber ein Grundlegendes dieser ganzen Kritik Kants an der traditionellen Metaphysik aus; denn mit diesen Sätzen sind näherhin, wie auch aus dem folgenden deutlich wird, die Konklusionen unserer Schlüsse auf die letzten und unbedingten Prinzipien des Gegebenen gemeint. Man wird unwillkürlich fragen: wieso soll diesen Begriffen gerade deswegen, weil sie die Bedingungen darstellen, das Gegebene zu begreifen und einzusehen, nur s u b j e k t i v e Gültigkeit zukommen? Ist nicht gerade die Tatsache, daß wir nur unter ihrer Voraussetzung den Gegenstand begreifen können, ein Beweis, daß sie o b j e k t i v gültig sind? Aber hier wird ein Glied der Begründungskette nicht ausdrücklich angeführt, das für Kant selber offen auf der Hand lag: nämlich der d i a l e k t i s c h e Charakter eben dieser Schlüsse und ihrer conceptus terminatores, der ja mit der allgemeinen Charakterisierung der ganzen dogmatischen Theorie als d i a l e k t i s c h e r konkret gemeint war. Wir haben aber aus der gleichen Zeit in der Reflexion 3732, die Adickes ohne Fragezeichen der Phase e 2 , d. h. der Zeit vor oder um die Mitte des Jahrzehnts, zurechnet, ein klares Zeugnis für diesen Tatbestand: denn in ihr wird ausdrücklich und sehr präzis der „dialektische" bzw. problematische Charakter der Endbegriffe der drei Disziplinen der Metaphysica specialis festgestellt und begründet: „Conceptus, de cuius possibilitate nihil constat, remanens demta conditione, sub qua sola ipsius possibilitatem iudicare licet, est p r o b lern a t i c u s . Sic
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Josef Schmucker
necessitas entis absoluta, elementum corporis simplex, actio nulla ratione determinata" 1 4 . Diese Reflexion ist von großer Wichtigkeit, weil sie den subjektiven Charakter der Begreiflichkeit der Gegenstände durch unsere Vernunft begründet: unsere metaphysischen Schlüsse auf die letzten Prinzipien des Gegebenen enden unvermeidlich in Begriffen, deren Möglichkeit unsere Vernunft nicht mehr einzusehen vermag, weil sie gerade ihrem formalen Gehalt nach jene Bedingungen verneinen, aus denen sie allein in ihrer Möglichkeit begriffen werden könnten. In der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t sagt Kant in Bezug auf den hier an erster Stelle genannten conceptus terminator, den der necessitas entis absoluta: „Denn alle Bedingungen, die der Verstand jederzeit bedarf, um etwas als notwendig anzusehen, vermittelst des Worts U n b e d i n g t wegwerfen, macht mir noch lange nicht verständlich, ob ich alsdann durch einen Begriff eines Unbedingtnotwendigen noch etwas, oder vielmehr gar nichts denke" (B 621). Das ist also für Kant der Grund der bloß subjektiven Gültigkeit dieser metaphysischen Schlüsse der Vernunft und ihrer Endbegriffe: daß sie selber, obwohl sie letzte Bedingungen der Begreiflichkeit der Gegenstände darstellen, in ihrer Möglichkeit nicht mehr begreiflich und daher problematisch sind, d. h. ihre Gegenstände unlösbare Probleme darstellen. Durch diese Kritik der Endbegriffe unserer Vernunftschlüsse hat Kant ohne Zweifel bereits eine der wesentlichsten Positionen seiner späteren „Kritik der reinen Vernunft" erreicht. Eine wichtige Ergänzung zu den bisher gewonnenen Ergebnissen enthalten die beiden Berliner Losen Blätter 29 und 27, die Adickes unter n. 3716 und 3717 an den Anfang der Reflexionen der Phase e gestellt und wie die R 3732 als e 2 zugehörig datiert hat (freilich so, daß er auch die späte Phase von r) (67/68) noch als möglich offen läßt). Diese Fragmente bzw. Reflexionenkomplexe stellen in Wahrheit eine S e n s a t i o n dar für den, der sich die vorkritische metaphysische Entwicklung Kants zum Gegenstand der Forschung wählt, wenigstens wenn sich die bezeichnete frühe Datierung aufrecht halten läßt; denn sie repräsentieren im ganzen ein so fortgeschrittenes Stadium in der kritischen Entwicklung des Philosophen, daß man es zu diesem frühen Zeitpunkt kaum für möglich halten möchte, und Verfasser dieses hatte 14
Ibid. XVII, 273 f.
K a n t s kritischer S t a n d p u n k t
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sich vor Jahren selbst aus eben diesem Grund spontan für die spätere Datierung (tj 2 ) entschieden. Aber bevor wir auf die Frage der Datierung näher eingehen, wollen wir zunächst jene Sätze aus diesen relativ reichen Reflexionengruppen vorstellen, die im tiefsten revolutionär sind und die zukünftige Lehre von der Dialektik der reinen Vernunft in sozusagen embryonalem Zustand enthalten: R 3716: 1. Das principium der Identität und der Contradiction sind vor die Vernunft, was Raum und Zeit vor die Sinne sein . . . Das principium der höchsten Realität ist parallel dem Inbegriff aller Empfindungen. 2. Dieser Satz [ = des zureichenden Grundes] will aber nur sagen, daß nichts n a c h d e r V e r n u n f t könne erkannt werden ohne einen Grund. (Wenn wir etwas durch die Vernunft setzen wollen, so bedürfen wir einen Grund. D . i. die Setzung a priori ist durch einen Grund . . .) 3. Die Analysis beruht auf den Sätzen der Identität und des Widerspruchs. Alle diese und andere Sätze aber gründen sich auf den, daß der Verstand nichts absolute setze, sondern nur sofern er durch eine Condition entweder analytisch oder synthetisch dazu genötigt ist. 4. Die M e t a p h y s i k ist nicht eine P h i l o s o p h i e ü b e r die O b j e k t e , denn d i e s e k ö n n e n nur d u r c h die Sinne g e g e b e n w e r d e n , sondern über das Subjekt, nämlich dessen V e r n u n f t g e s e t z e . Wir haben Gesetze zum Gebrauche unserer Vernunft a posteriori; diese können nicht auf Begriffe, sondern nur auf Gegenstände der Erfahrung appliziert werden. Die Metaphysik traktiert also nur das Subjekt dogmatisch, das Objekt aber in Ansehung synthetischer Urteile problematisch . . . Die Allgemeinheit wird entweder synthetisch verstanden und gilt alsdann nur von den Erfahrungsfällen der Synthesis oder analytisch und gilt nach der Vernunft von Begriffen. 5. D i e E r k e n n t n i s s e s i n d v o n d o p p e l t e r A r t : e n t w e d e r die, w e l c h e auf G e g e n s t ä n d e g e h e n , die g e g e b e n s i n d , o d e r : auf die B e g r i f f e der F o r m , wie die V e r n u n f t einen jeden G e g e n s t a n d betrachtet. Die letzten sind bloß s u b j e k t i v und k ö n n e n auch allein eine A l l g e m e i n heit der V e r n u n f t haben15. R 3717: 1. Das principium der Form aller Erfahrungen sind Raum und Zeit; das principium der Form aller Urteile der reinen Vernunft: Identität und 15
Ibid. 256ff., Sperrung Verf.
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Widerspruch. Das principium der Form aller Urteile der Vernunft a posteriori: Grund und Kraft. 2. A l l e N o t w e n d i g k e i t u n d Z u f ä l l i g k e i t , die wir uns v o r s t e l l e n k ö n n e n , ist b e d i n g t . D i e u n b e d i n g t e ist p r o b l e m a t i s c h g e d a c h t . S c h l e c h t e r d i n g s z u fällig (e. g. freie H a n d l u n g ) und s c h l e c h t e r d i n g s n o t w e n d i g l a s s e n s i c h b e i d e n i c h t d e n k e n . 2. Alle abstrakten Erkenntnisse haben erste Gründe a posteriori. Das allgemeine Urteil, was nicht durch die Abstraktion a posteriori und also empirisch entstanden ist, ist nicht abstrakt, sondern ein rein Vernunfturteil. In der Metaphysik müssen die Gründe der Erkenntnis a priori hergenommen sein, obgleich die Objekte a posteriori . . . 3. A u ß e r d e m S a t z e d e s z u r e i c h e n d e n G r u n d e s gilt auch d i e s e r : alle a n a l y s i s schließt u m g e k e h r t die M ö g l i c h k e i t einer s y n t h e s i s ein. D e m n a c h muß bei jeder R e i h e s u b o r d i n i e r t e r D i n g e ein E r s t e s s e i n , w e i l s o n s t k e i n e k o m p l e t e synthesis und also auch nicht analysis s t a t t f i n d e n w ü r d e . . .. Die mathematische analysis ist immer eine philosophische synthesis, nur da ich das Ganze vor den Teilen denke; denke ich aber die Teile vor dem Ganzen, so ist es eine mathematische synthesis. Alle [mathematische] synthesis beruht auf der Coordination und geschieht durch Verstand. Die analysis philosophica aber auf der Subordination und geschieht durch Vernunft. 4. Die Seele hat drei Dimensionen. Den Sinn und dessen Klarheit, den Verstand und dessen Form sowohl als Materie (d. i. Weitläufigkeit) der Coordination, und die Vernunft, das ist H ö h e der Subordination. 5. D i e M a t h e m a t i k z e i g t d i e g r ö ß t e W ü r d e der m e n s c h l i c h e n V e r n u n f t , die M e t a p h y s i k aber die S c h r a n ken und ihre eigentümliche B e s t i m m u n g 1 6 . Hier haben wir in der Tat in den elementaren Grundzügen jene radikale Kritik der reinen Vernunfterkenntnis, die uns dann weiter entfaltet und begründet in dem weitläufigen Reflexionenkomplex der Phase K (1769) und schließlich in systematischer Gestalt in der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k des Hauptwerkes wieder begegnet: nämlich daß der Verstand bzw. die Vernunft nichts absolut setze, sondern nur so fern sie durch eine Bedingung analytisch oder synthetisch dazu genötigt seien, bzw. daß alle Objekte oder Erkenntnisinhalte (und damit alles Absolute) durch die Sinne gegeben werden müssen und folglich alle 16
Ibid. 2 6 0 f f . , Sperrung Verf.
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intellektuelle und rationale Erkenntnis nur die Form betreffen könne; vor allem aber ist es dann die grundsätzlich subjektive Wertung und Beurteilung der reinen Vernunfterkenntnis (im Unterschied zum Vernunftgebrauch a posteriori): daß die Begriffe, Urteile und Schlüsse der r e i n e n Vernunft sich nicht unmittelbar auf die gegebenen Gegenstände beziehen können, sondern nur auf die B e g r i f f e d e r F o r m , w i e d i e V e r n u n f t j e d e n G e g e n s t a n d b e t r a c h t e t , so daß die ganze Metaphysik mit ihren Grundprinzipien und Grundbegriffen nicht als eine Philosophie über Objekte, sondern über das Subjekt und dessen Vernunftgesetze betrachtet werden muß. Unter diesen Grundprinzipien der Metaphysik gibt es solche aller Urteile der reinen Vernunft, nämlich das der Identität und des Widerspruchs, und solche der auf die durch die Sinne gegebenenen Objekte angewandten Vernunft, vor allem die drei metaphysischen Begriffe der Synthesis: Raum, Zeit und Kraft, von denen die beiden ersten als Form aller Erfahrungen, der letztere aber (mit dem des Grundes) als Form aller U r t e i l e der Vernunft a posteriori bezeichnet werden. In der Mitte zwischen diesen unmittelbar auf das in der Erfahrung Gegebene bezogenen apriorischen Vernunftbegriffen, die den „Gebrauch unserer Vernunft a posteriori" umschreiben, und den genannten Prinzipien, die „die Form aller Urteile der reinen Vernunft" ausmachen, stehen aber dann noch zwei Grundsätze der reinen Vernunft, die den Vernunftgebrauch nicht a posteriori, sondern a priori im Hinblick auf die Gegenstände der Erfahrung zum Inhalt haben, nämlich jene, die das in der Erfahrung Gegebene a priori durch die Vernunft begründen und einsehen lassen, gemäß dem Satz, daß in der Metaphysik die Gründe der Erkenntnis a priori genommen sein müssen, obgleich die Objekte a posteriori. Sie betreffen also die Vernunfterkenntnis des Erfahrungsgegebenen und heißen das Prinzip vom zureichenden Grund und das darin implizierte eines Ersten und Absoluten. Die Anwendung des Prinzips vom Grund führt nämlich in dem Zurückgehen in die Bedingungen oder die Gründe, d. h. in der metaphysischen analysis des Gegebenen, notwendig zu einem ersten, schlechterdings unbedingten Prinzip, von dem her allein eine metaphysische synthesis, d. h. Ableitung a priori und damit rationale Einsicht in das Gegebene möglich wird. Diese metaphysische analysis und die ihr korrespondierende synthesis stellt also die r a t i o n a l e Erkenntnisform des Gegebenen dar. Das in
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ihnen implizierte erste und absolute Prinzip aber bleibt dabei notwendig unbegriffen und unbegreifbar, weil es formell gerade das negiert, wodurch alles Begreifen, d. h. Ableiten der Vernunft aus apriorischen Gründen, allein möglich würde, nämlich ein bestimmender Grund. So gelangt die metaphysische Analyse als Bedingung der metaphysischen Synthese (= Ableitung a priori) unvermeidlich zu grundsätzlich problematischen, weil unbegreiflichen Erstbegriffen, von denen unsere Berliner Fragmente nur zwei, die R 3732 aber drei ausdrücklich erwähnen: die ersteren das schlechterdings Notwendige und das schlechterdings Zufällige, die letztere necessitas entis absoluta, elementum corporis simplex, actio nulla ratione determinata. Es liegt auf der Hand, daß damit der Bereich der Vernunftideen als subjektiv notwendiger, objektiv aber problematischer Endbegriffe unserer reinen Vernunftschlüsse vom Gegebenen aus bezeichnet ist, während in den metaphysischen Begriffen der Synthesis des aposteriorischen Vernunftgebrauchs: Raum, Zeit und Kraft, die unmittelbar auf Erfahrungsgegenstände angewandt nur synthetische Urteile von problematischem Charakter ergeben können, das spätere Kategorienproblem sich anmeldet, wobei interessanterweise schon unterschieden wird zwischen Raum und Zeit als Form aller Erfahrungen und Grund und Kraft als Form der U r t e i l e der Vernunft a posteriori. Nun bleibt allerdings die Frage, ob man die frühe Datierung dieser Fragmente (in die Phase e 2 ), wie sie Adickes angenommen hat, aufrecht halten kann oder aber sich im Hinblick auf ihren Inhalt, für die auch von Adickes noch in Betracht gezogene spätere Datierung in der Phase T)2 (67/68) entscheiden muß. Während diese Frage für die Bestimmung der Richtung der vorkritischen Entwicklung Kants, im ganzen gesehen, von untergeordneter Bedeutung bleibt, insofern diese sich nach dem Zeugnis der frühen Reflexionen zur Metaphysik in jedem Fall direkt auf die Grundlehren der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k zubewegt und sie noch vor der Etablierung der Prinzipien des Kritizismus (in den Jahren 1769 und Anfang 1772) erreicht, so ist sie doch von erheblichem Gewicht für unsere spezielle Thematik, in der es um den kritischen Standpunkt Kants u m d i e M i t t e d e s J a h r z e h n t s geht. Wie gesagt, scheint zunächst ihr fortgeschritten kritischer Standpunkt eindeutig für die spätere Datierung zu sprechen, und es fehlt auch nicht an Stimmen,
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die die frühe Datierung von Adickes ausdrücklich als irrig bezeichnen 17 . Trotzdem sprechen nach u. U. die weitaus überwiegenden Gründe für diese letztere. Es sind vor allem drei, die zusammengenommen ein solches Gewicht haben, daß sie den Schluß auf sie u. E. praktisch unvermeidlich machen. Fürs erste sprechen, wie wir meinen, die von Adickes in den Anmerkungen zu R 3716 angeführten ä u ß e r e n Z e u g n i s s e mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit für die frühe Datierung. Was sind das für Zeugnisse und was sagen sie aus? Um ihre Tragweite zu beurteilen, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß in der R 3716 sich folgende Sätze finden: „Alle Ideen der Metaphysik sind analytisch, außer von Raum, Zeit und Kraft" und: „Die Grundbegriffe der analysis sind: Möglichkeit, Unmöglichkeit, Notwendigkeit, Zufälligkeit, Einheit etc. etc., der synthesis: Raum, Zeit und Kraft". Denn die von Adickes angeführten Zitate aus Jäsches „Mancherley zur Geschichte der metakritischen Invasion" vom Jahre 1800 wiederholen diese Sätze ausdrücklich als die charakteristische metaphysische Lehre Kants zur Zeit, da Herder seine Vorlesungen hörte, also 1762—64, und zwar so, daß sie offensichtlich nach den angeführten Stellen der R 3716 zitieren; Jäsche berichtet dort nämlich, Kant habe (wie dieser ihm selbst mitgeteilt) „um dieselbe Zeit, als Herder zu seinen Zuhörern gehörte, die Begriffe Raum, Zeit und Kraft als die drei Grundbegriffe aller Synthesis aufgestellt und von denselben behauptet, daß sie die einzigen synthetischen Begriffe der Metaphysik, alle übrigen metaphysischen Ideen hingegen, z. B. die metaphysischen Grundbegriffe der Möglichkeit, Unmöglichkeit, Notwendigkeit, Zufälligkeit, Einheit usw. nur analytisch wären". Vor allem die an der gleichen Stelle abbrechende Aufzählung der analytischen Ideen zeigt, daß Jäsche in der Tat nach unseren Fragmenten zitiert, was zugleich die Annahme nahelegt, daß es auch bei der „Handschrift von einer seiner Vorlesungen", die Jäsche bei Gelegenheit der Mitteilung Kants von diesem erhalten hat (wie er weiter in der genannten Schrift berichtet), um unsere Berliner Losen Blätter handelt. Dies wird bestätigt durch eine M e m o r i a l n o t i z Kants, die sich, wie Adickes bemerkt, offenbar auf diese Verhältnisse bezieht: „Von meinem ältesten mit Papier durchschossenen Baumgartenschen Handbuch der Philoso17
So D . H e n r i c h in: Studien zu Kants philos. Entwicklung, Hildesheim 1967, 11 ( A n m . 6).
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phie, da Herder mein Zuhörer war. Raum, Zeit und Kraft. Lange vor der Kritik". Mit dieser N o t i z will der Philosoph gewiß nicht nur sagen, daß er dieses älteste mit Papier durchschossene Handbuch zur Zeit Herders benutzt habe, sondern vielmehr, daß die betreffenen Sätze über Raum, Zeit und Kraft aus dieser Zeit stammen, d. h. daß sie damals niedergeschrieben wurden. Außerdem würde die sich auf eben diese Lehre beziehende Bemerkung „lange vor der Kritik" keinen überzeugenden Sinn geben, wenn sie erst in den Jahren 1767/68 in das genannte Kompendium eingetragen worden wäre. Denn die Eintragung wäre dann quasi unmittelbar vor den entscheidenden Umbrüchen erfolgt, durch die der Kritizismus grundgelegt wurde, nämlich die Entdeckung der Subjektivität von Raum und Zeit im Spätsommer 69 und der Subjektivität der Kategorien Anfang 1772. Wir sind also der Uberzeugung, daß diese äußeren Zeugnisse eindeutig für die frühe Datierung sprechen. Dazu kommen aber als zweites Moment gewisse innere Kriterien, die ebenfalls zu diesem Schluß führen. Die Reflexionenkomplexe der beiden Berliner Stücke enthalten nämlich nicht nur die von uns oben angeführten fortschrittlichen, ja revolutionären Thesen, sondern eine ganze Anzahl anderer Sätze, die in Inhalt und Form eine deutliche Parallele zu charakteristischen Lehren der e r s t e n H ä l f t e des Jahrzehnts darstellen und deren Niederschrift mir deshalb in der späten Phase von r] unwahrscheinlich zu sein scheint. So stoßen wir in der R 3716 auf eine Stelle, die in ihrem Gedankengang wie in ihrem Stil unmittelbar an die B e m e r k u n g e n z u d e n B e o b a c h t u n g e n erinnert, nämlich: „Alle Wissenschaften und Künste beziehen sich entweder auf die Cultur der gesunden Vernunft oder nicht. Im letzten Fall herrscht auch ein gänzlicher Mangel des Geschmacks. Das Zeitalter der gesunden Vernunft und der Künste und Wissenschaften ist nur das Zeitalter der Ehre; diese findet sich nur in Republiken und Monarchien, also nicht in der Lehnsverfassung, wo eine gar zu große Ungleichheit herrscht". Auch den unmittelbar vorausgehenden Absatz über das Prinzip der Beurteilung der Moralität kann man in diesem Zusammenhang sehen, da Kant in den B e m e r k u n g e n z u d e n B e o b a c h t u n g e n , wie wir in „ D i e U r s p r ü n g e d e r E t h i k K a n t s in s e i n e n v o r k r i t i s c h e n S c h r i f t e n u n d R e f l e x i o n e n " gezeigt haben, die Grundprinzipien seiner Ethik bereits in aller Ausdrücklichkeit formuliert hat. Besonders bemerkenswert ist eine andere Stelle, die in ihrer Thematik wie in ihrer Diktion
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an den E i n z i g m ö g l i c h e n B e w e i s g r u n d von 1762 denken läßt: „Alle Urteile sind entweder logisch, die das respective Sein enunciiren, oder real, die das absolute enunciiren. Alles Sein an sich selbst (position) ist ein Dasein entweder respective (hypothetice) oder categorice". Diese Reflexion erinnert zugleich an die Kennzeichnung der praktischen Imperative als hypothetischer und kategorischer an den betreffenden Stellen der B e m e r k u n g e n zu den B e o b a c h t u n g e n 1 8 . Dazu kommt, daß der Satz der R 3717, „Alle Notwendigkeit und Zufälligkeit, die wir uns vorstellen können, ist bedingt. Die unbedingte ist problematisch gedacht. Schlechterding zufällig (e. g. freie Handlung) und schlechterdings notwendig lassen sich beide nicht denken" sich weitgehend deckt mit der R 3732, die nach Adickes ohne Fragezeichen in die Phase e 2 zu datieren ist; ferner, daß die Stelle der R 3716: „Der Satz des zureichenden Grundes gründet sich darauf, daß man alles an und vor sich selbst aufheben kann, also, um etwas zu setzen, müsse etwas anderes gesetzt sein, dem diese Aufhebung widerstreitet . . ." der R 3731 parallel ist, die ebenfalls dieser frühen Phase zugehört und lautet: „Die Frage: warum etwas sei, setzet den Gedanken voraus, daß es möglich sei, daß etwas auch nicht sei . . . Was aber das Dasein der Substanz selbst anlangt, so gründet sich die Frage, warum sie sei, auf der inneren Möglichkeit, ihr Nichtsein zu gedenken". Schließlich sind die Stellen der R 3717: „Weil alle Negationen nur dienen, die Irrtümer zu verhüten und das Nichtwissen zu demonstrieren: so ist die Metaphysik eine sehr nützliche Wissenschaft, nicht sofern sie das Wissen erweitert, sondern Irrtümer verhütet. Man lernet das, was Sokrates wußte . . . Die Mathematik zeigt die größte Würde der menschlichen Vernunft, die Metaphysik aber die Schranken und ihre eigentümliche Bestimmung" wiederum sehr verwandt mit charakteristischen Gedankengängen der T r ä u m e e. G. und der Briefe an Lambert und Mendelssohn aus der Mitte des Jahrzehnts. Wir meinen, alle diese Stellen weisen mit den von Jäsche zitierten über die synthetischen und analytischen Grundbegriffe der Metaphysik in ihrer Thematik und in ihren charakteristischen Formulierungen zurück auf die Zeit vor oder um die Mitte des Jahrzehnts und sind in dieser Form in einer so späten Phase wie r)2 in den meisten Fällen nur sehr schwer vorstellbar. 18
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Dazu kommt aber noch ein dritter Grund, der mir ebenfalls von Gewicht zu sein scheint: Es ist das Verhältnis dieser beiden Gruppen von Reflexionen, auch in ihrem fortschrittlichen, revolutionären Teil betrachtet, zu dem außerordentlich umfangreichen Komplex derjenigen der Phase k, d. h. des Jahres 69, der die in unseren Fragmenten mehr angedeuteten als durchgeführten Grundsätze und Problemaspekte nun in aller Ausdrücklichkeit und Weitläufigkeit entfaltet. Die Reflexionen der Phase K offenbaren, im ganzen gesehen, einen so fortgeschrittenen Standpunkt im Verhältnis zu den Berliner Losen Blättern, daß diese letzteren ihnen gegenüber unwillkürlich als a r c h a i s c h erscheinen. Ich glaube, daß jeder, der die beiden Reflexionenkomplexe aufmerksam miteinander vergleicht, zu diesem Urteil kommen wird. Dabei ist zu bedenken, daß die unter k eingereihten Reflexionen, die das Stadium v o r der Entdeckung der Subjektivität von Raum und Zeit repräsentieren 19 , ihrem Inhalt nach sicherlich weiter zurückreichen als etwa nur bis zum Anfang des Jahres 69. Wenn man nun annimmt, die Berliner Blätter seien in die Phase T]2, also 67/68, zu datieren, so wäre der Entwicklungsspielraum zwischen den beiden Komplexen unwahrscheinlich kurz, zu kurz, wie mir scheint, um die im ganzen doch beträchtlichen Fortschritte zwischen beiden zu erklären. U m einen Begriff zu geben von der Entwicklunsspanne zwischen beiden Reflexionengruppen soll nur auf einen Punkt hingewiesen werden: in den Berliner Blättern stehen die Prinzipien der analysis, nämlich der Identität und des Widerspruchs, als oberste und umfassendste der Vernunft neben dem des zureichenden Grundes als dem Grundprinzip der metaphysischen Analyse und Synthese des Gegebenen, ohne daß ihr Verhältnis zueinander näher bestimmt würde; in den Reflexionen der Phase K wird dieses Verhältnis so gekennzeichnet, daß das Prinzip der Identität und des Widerspruchs a l s s o l c h e s d e r V e r n u n f t ü b e r h a u p t u n d s c h l e c h t h i n objektiv gültig ist, das des zureichenden Grundes aber als das grundlegende s y n t h e t i s c h e Prinzip der s p e z i f i s c h m e n s c h l i c h e n , d. h. der nur mittelbar erkennenden, V e r n u n f t mit seinen Schlüssen auf die Endprinzipien nur subjektive Gültigkeit haben kann. Die Betrachtungsweise ist hier wie in diesem Punkt, so 19
In ihnen werden Raum und Zeit noch als Vernunft« b z w . Intellektualbegriffe bezeichnet und zu den ontologischen Grundbegriffen gezählt, so in R R 3927, 3930, 3941, 3945, 3957, 3961, 4073.
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auch sonst um vieles differenzierter, die hinter den Reflexionen stehende Systematik wird wesentlich deutlicher herausgearbeitet. Nun könnte man allerdings gegen die frühe Datierung einen recht plausiblen Einwand erheben, nämlich vom Inhalt der Reflexionen der zwischen beiden Vergleichtermini liegenden Phasen rj, 6, i her, die nur sehr wenig von den revolutionären Ideen der beiden Berliner Stücke enthalten. Die Lösung der Schwierigkeit dürfte in dem Umstand zu suchen sein, daß die beiden verglichenen Reflexionengruppen (RR 3716/17 und Phase K) zwei verschiedenen durchschossenen Handbüchern der Metaphysik Baumgartens zugehören, von denen das ältere, dem die Berliner Blätter entnommen sind, verloren ist, das jüngere aber für die sechziger Jahre nur verhältnismäßig wenige Reflexionen enthält, während es dann in der Phase K, d. h. im Jahre 69, mit einer geradezu überwältigenden Fülle von Reflexionen einsetzt, und zwar solchen, die nun deutlich den kritisch revolutionären Duktus der Berliner Blätter wieder aufnehmen und weiterführen. Da es nun bei Kants Eigenart, schreibend zu denken, sehr unwahrscheinlich ist, daß er in diesen langen Jahren, in denen er außer der Gelegenheitsschrift der T r ä u m e e. G. nichts veröffentlicht hat, aber sehr intensiv mit Entwürfen über das Wesen und die Methode der Metaphysik beschäftigt war, nicht auch eine Fülle von Reflexionen, die diese Entwicklung widerspiegeln, niedergeschrieben hätte, so können wir, wie ich meine, mit gutem Grund annehmen, daß er die Thematik der Berliner Fragmente über das wahre Wesen und die wahre Methode der Metaphysik in dem älteren, heute verlorenen Kompendium Baumgartens weitergeführt hat, so daß wir darin die Verbindung vermuten können zwischen dem Inhalt der Berliner Fragmente und dem der Reflexionen der Phase K. Zusammenfassend können wir also sagen, daß wir nach dem Jahr 1762 mit den drei genannten bedeutenden Veröffentlichungen: Beweisgrund, Versuch über die negativen Größen und Preisschrift über die Deutlichkeit, um das Jahr 1765 e i n e n n e u e n u n d e n t s c h e i d e n d e n H ö h e p u n k t in der gesamten philosophischen Entwicklung Kants vor uns haben (neben dem folgenden dritten zu Beginn der siebziger Jahre: Dissertation von 1770 und Brief an Herz vom 21. 2. 72), einen Höhepunkt, in dem zu so früher Zeit bereits ganz fundamentale Grundzüge seines späteren Systems erstmals entworfen werden, nämlich einmal die Idee und die Grundprinzipien seiner späteren Kritik der reinen Vernunft
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bzw. seiner kritischen Ideenlehre auf Grund der in den Schlüssen der reinen Vernunft und ihren Endbegriffen wesenhaft implizierten D i a l e k t i k , ferner, wie aus dem Schlußteil der T r ä u m e e. G . hervorgeht, die Begründung des Glaubens an die Unsterblichkeit der Seele und an das Dasein Gottes mittels der wesentlich durch Rousseau angeregten „praktischen" Metaphysik auf Grund der sittlichen Gesinnung, d. h. die Keimzelle der späteren Postulatenlehre, und last not least, wie wir in „ D i e Ursprünge der Ethik K a n t s " dargetan haben, die erste grundlegende und zugleich bereits verhältnismäßig detaillierte Formulierung seiner „kritischen" Ethik, vor allem in einer Reihe von lateinischen Reflexionen der B e m e r k u n g e n z u d e n B e o b a c h t u n g e n 2 0 .
2. Von besonderem Interesse für unsere Thematik ist nun aber die Frage, wie weit bei Kant, im Zusammenhang mit dieser radikalen kritischen Neubestimmung des Wesens und der Methode der Metaphysik, bereits auch die Kritik der Disziplinen der M e t a p h y s i c a s p e c i a l i s fortgeschritten war; denn erst durch die Beantwortung dieser Frage ist ein weitergehender Vergleich seines kritischen Standpunktes um 1765 mit den drei Hauptstücken des 2. Buches der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k möglich. Aber in welchem Sinn kann man in der vorkritischen Zeit überhaupt von einer D i a l e k t i k in den Schlüssen der Vernunft bzw. in den Disziplinen der Metaphysica specialis sprechen, und was bedeutet dieser Begriff genau? Kant spricht in den vorkritischen Dokumenten noch nicht vom d i a l e k t i s c h e n Charakter dieser Schlüsse und ihrer Endbegriffe, sondern von ihrem problematischen, oder auch von ihrer bloß subjektiven Gültigkeit und davon, daß sie s k e p t i s c h zu behandeln sind. Aber in der R 5116 sagt er rückblickend auf seine vorkritische Entwicklung: „ M a n unterwirft, was man gelernt oder selbst gedacht hat, gänzlich der Kritik. Es dauerte lange, daß ich auf solche Weise die ganze dogmatische Theorie d i a l e k t i s c h fand". Der Terminus dialektisch für die nur subjektiv gültigen, objektiv aber problematischen Schlüsse der Vernunft in den Disziplinen der Metaphysica spe20
K G S X X , 148 ff.
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cialis ist offenbar späteren Datums und von Kant erst geprägt worden zur Zeit der Konzeption des Aufbaus der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t , in dem er die material-logischen F e h l s c h l ü s s e der reinen Vernunft auf diesen Gebieten dem zweiten Teil der Lehre von den Schlüssen, den d i a l e k t i s c h e n oder Fehlschlüssen, in der formalen Logik parallelisierte. Auf diese Weise umfaßt der Terminus D i a l e k t i k nicht nur die Antinomien der rationalen Kosmologie, sondern auch den psychologischen Paralogismus und das Scheitern der Gottesbeweise, den Begriff des absolut Notwendigen zu bestimmen und den des ens realissimum als realgültig zu erweisen. Der Sache nach aber war mit dem Aufweis der bloß subjektiven Gültigkeit und dem objektiv problematischen Charakter der Schlüsse der reinen Vernunft und ihrer Endbegriffe in diesen drei Disziplinen der gundlegend d i a l e k t i s c h e Charakter der ganzen dogmatischen Theorie gegeben. Wie weit läßt sich also der kritische Standpunkt Kants um 1765 in den drei Disziplinen der Metaphysica specialis mit dem der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k vergleichen? Was den psychologischen Paralogismus betrifft, so scheint hier noch der größte Unterschied zu bestehen zwischen der vorkritischen Kritik der rationalen Psychologie bzw. der Pneumatologie und dem Standpunkt der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t ; denn der Aufweis des Paralogismus in den rationalpsychologischen Schlüssen ist so von kritizistischen Gedankengängen geprägt, daß man in der Tat unwillkürlich zu der Annahme neigt, Kants Gegenargumentation sei in der Substanz abhängig von den Ergebnissen der transzendentalen Ästhetik und Analytik. Es gibt jedoch gewichtige Gesichtspunkte, die, allem unmittelbaren Anschein zum Trotz, in die gegenteilige Richtung weisen, daß nämlich die kritizistische Darbietung auch für das erste Hauptstück nur akzidentell ist. Darauf deutet bereits die Tatsache hin, daß der Philosoph schon in den T r ä u m e n e.G. in der Substanz zu demselben Ergebnis kommt wie dann mit der angeblich „kritizistischen" Argumentation der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k : daß nämlich der rationalpsychologische Grundschluß auf die Geistigkeit der Seele im Sinn einer wesenhaften Immaterialität ein Fehlschluß ist. Nimmt man hinzu, daß er nach den autobiographischen Reflexionen der siebziger Jahre schon vor der Entdeckung des subjektiven Charakters von Raum und Zeit „die ganze dogmatische Theorie dialektisch fand" und damit auch die rationale Psychologie, die einen Hauptteil derselben
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darstellt, dann legt dies den Schluß nahe, daß der „dialektische" Charakter dieser Disziplin in der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k nichts w e s e n t l i c h anderes bedeutet als der bereits in der vorkritischen Epoche als solcher erkannte. Im übrigen bleibt der Gedankengang Kants an entscheidender Stelle des ersten Hauptstücks in der Tat ausgesprochen vorkritisch, d. h. sowohl die Formulierung der rationalpsychologischen Argumentation selber wie deren Aufweis als Paralogismus erfolgt dort im Sinne der alten Metaphysica specialis. Kant formuliert in A 351 f. das Argument so: „Dasjenige Ding, dessen Handlung niemals als die Concurrenz vieler handelnden Dinge angesehen werden kann, ist einfach. Nun ist also die Seele oder das denkende Ich ein solches: Also u . s . w . " — Kants Kritik richtet sich gegen den Schluß, daß das Subjekt der in Begriffen, Urteilen und Schlüssen sich vollziehenden Denktätigkeit n u r als eine einfache, nicht zusammengesetzte Substanz gedacht werden könne. Bevor er aber den entscheidenden Syllogismus näher entwickelt und erläutert und dann kritisch zu ihm Stellung nimmt, bemerkt er einleitend: „Dies ist der Achilles aller dialektischen Schlüsse der reinen Seelenlehre, nicht etwa bloß ein sophistisches Spiel, welches ein Dogmatiker erkünstelt, um seinen Behauptungen einen flüchtigen Schein zu geben, sondern ein Schluß, der sogar die schärfste Prüfung und die größte Bedenklichkeit des Nachforschens auszuhalten scheint. Hier ist er. Eine jede z u s a m m e n g e s e t z t e Substanz ist ein Aggregat vieler, und die Handlung eines Zusammengesetzten, oder das, was ihm als einem solchen inhäriert, ist ein Aggregat vieler Handlungen oder Accidenzen, welche unter der Menge der Substanzen verteilt sind. Nun ist zwar eine Wirkung, die aus der Concurrenz vieler handelnden Substanzen entspringt, möglich, wenn diese Wirkung bloß äußerlich ist (wie z.B. die Bewegung eines Körpers die vereinigte Bewegung aller seiner Teile ist). Allein mit Gedanken, als innerlich zu einem denkenden Wesen gehörigen Accidenzen, ist es anders beschaffen. Denn setzet, das Zusammengesetzte dächte: so würde ein jeder Teil desselben einen Teil des Gedankens, aber zusammengenommen allererst den ganzen Gedanken enthalten. Nun ist dieses aber widersprechend. Denn, weil die Vorstellungen, die unter verschiedenen Wesen verteilt sind (z.B. die einzelnen Wörter eines Verses) niemals einen ganzen Gedanken (einen Vers) ausmachen: so kann der Gedanke nicht einem Zusammengesetzten als einem solchen inhärieren.
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Er ist also nur in e i n e r Substanz möglich, die nicht ein Aggregat von vielen, mithin schlechterdings einfach ist. — Der sogenannte n e r v u s p r o b a n d i dieses Arguments liegt in dem Satze: daß viele Vorstellungen in der absoluten Einheit des denkenden Subjekts enthalten sein müssen, um einen Gedanken auszumachen. Diesen Satz aber kann niemand a u s B e g r i f f e n beweisen; denn, wie wollte er es wohl anfangen, um dieses zu leisten? Der Satz: ein Gedanke kann nur die Wirkung der absoluten Einheit des denkenden Wesens sein, kann nicht als analytisch behandelt werden. Denn die Einheit des Gedankens, der aus vielen Vorstellungen besteht, ist collectiv, und kann sich den bloßen Begriffen nach ebenso wohl auf die collective Einheit der daran mitwirkenden Substanzen beziehen (wie die Bewegung eines Körpers die zusammengesetzte Bewegung aller Teile desselben ist), als auf die absolute Einheit des Subjekts. Nach der Regel der Identität kann also die Notwendigkeit der Voraussetzung einer einfachen Substanz bei einem zusammengesetzten Gedanken nicht eingesehen werden . . . " Das Argument selber ist also durchaus vorkritisch, kein einziges kritizistisches Moment ist in ihm feststellbar. Das gleiche gilt aber auch von seiner Widerlegung; denn diese entscheidet sich, wie die Entwicklung des Arguments selber zeigt, an der Frage der Widersprüchlichkeit oder Nichtwidersprüchlichkeit der Annahme eines zusammengesetzten Subjekts des Gedankens, wobei der Philosoph es sich mit seiner Lösung ohne Zweifel zu leicht macht; denn die Einheit des Gedankens, der sich in einer Mehrzahl von Begriffen artikuliert, oder gar die größere Einheit einer ganzen Wissenschaft, ist von spezifisch anderer Art als die zufällige und rein additive Einheit der aus vielen Teilbewegungen zusammengesetzten Bewegung eines Körpers. Aber aus der ganzen Art dieser Widerlegung wird deutlich, daß auch der Aufweis des Paralogismus substantiell vorkritisch ist und kein kritizistisches Element enthält. Unsere These ergibt sich aber auch noch aus einer allgemeineren Überlegung: Wie aus dem zweiten und vor allem aus dem dritten Hauptstück des 2. Buches der Transzendentalen Dialektik hervorgeht, ist das Thema und Ziel dieses Teils der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t , die natürliche Dialektik in den Schlüssen der reinen Vernunft und ihren conceptus terminatores aufzuweisen, die, wie die Vorrede B betont 2 1 , nur 21
K r . d . r . V . B XXVII ff.
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aufgelöst werden kann durch die Voraussetzung des Kritizismus, und zwar grundlegend durch die Annahme der Subjektivität von Raum und Zeit bzw. des bloßen Phänomencharakters der Gegenstände unserer äußeren und inneren Erfahrung. Also kann auch die Widerlegung der rationalen Psychologie im ersten Hauptstück keine grundsätzlich andere Funktion und Bedeutung haben. Freilich scheint auf den ersten Blick das zweite Hauptstück in dieser Hinsicht wenig Uberzeugendes beitragen zu können. Denn es ist seinerseits so von kritizistischen Gedankengängen durchsetzt, daß es sich diesbezüglich nicht wesentlich vom ersten zu unterscheiden scheint. J a der kritizistische Charakter drängt sich so auf, daß ein so bedeutender Forscher wie Wolfgang C r a m er zu der Auffassung gelangte, Kant habe formell von den Voraussetzungen der Analytik, d . h . von der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus, aus im zweiten und dritten Hauptstück die Probleme und Argumente der alten rationalen Kosmologie und Theologie zu formulieren versucht, was aber grundsätzlich unmöglich sei, so daß er von dieser Basis aus in Wahrheit nur A n a l o g a der alten Argumentationen zuwege gebracht und seine angebliche Widerlegung nichts anderes darstelle „als eine Attacke gegen selbstgefertigte Windmühlen" 2 2 . Das ist sicher sehr konsequent gedacht, zeigt aber u. E. auch die Unmöglichkeit bzw. Unhaltbarkeit seiner Grundvoraussetzung: daß Kant die Antinomienproblematik und die Gottesbeweisproblematik formell von der Voraussetzung des transzendentalen Idealismus aus konzipiert habe. Hat er sie aber unabhängig davon, also unter der Voraussetzung der absoluten Realität von Raum und Zeit, entwickelt, dann handelt es sich in seinem Aufweis der Dialektik in den Schlüssen der rationalen Kosmologie und Theologie nicht nur um eine echte Auseinandersetzung mit der alten Metaphysica specialis, sondern wir haben es dann auch mit einem Stück vorkritizistischer Kritik der alten Metaphysik zu tun. Was zunächst das zweite Hauptstück, die Kritik der rationalen Kosmologie mit ihrer Entwicklung der Antinomien angeht, so ist zwar (wie gerade bei W. Cramer deutlich wird) die kritizistische Verstellung der Argumentation noch beträchtlich; aber Kant verrät doch wiederum an einer bestimmten Stelle dieses Hauptstücks ganz eindeutig, daß die Ent22
W. Cramer, Gottesbeweise und ihre Kritik, Frankfurt 1967, 161.
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wicklung und der Aufweis der Antinomik in den Schlüssen der rationalen Kosmologie u n t e r der V o r a u s s e t z u n g des t r a n s z e n d e n t a l e n R e a l i s m u s u n d n i c h t des t r a n s z e n d e n t a l e n I d e a l i s m u s der Erfahrungswelt verstanden werden muß, also im vorkritischen Sinn, im Sinn der sechziger Jahre. Er sagt nämlich am Ende des Abschnittes VII: „Man kann aber auch umgekehrt aus dieser Antinomie einen wahren, zwar nicht dogmatischen, aber doch kritischen und doktrinalen Nutzen ziehen; nämlich die transzendentale Idealität der Erscheinungen dadurch indirekt zu beweisen . . . Der Beweis würde in diesem Dilemma bestehen. Wenn die Welt ein an sich existierendes Ganzes ist, so ist sie entweder endlich, oder unendlich. Nun ist das erstere sowohl als das zweite falsch (laut der oben angeführten Beweise der Antithesis einer-, und der Thesis andererseits). Also ist es auch falsch, daß die Welt (der Inbegriff aller Erscheinungen) ein an sich existierendes Ganzes sei. Woraus dann folgt, daß Erscheinungen überhaupt außer unseren Vorstellungen nichts sind, welches wir eben durch die transzendentale Idealität derselben sagen wollten. — Diese Anmerkung ist von Wichtigkeit. M a n s i e h e t d a r a u s , d a ß d i e o b i g e n B e w e i s e d e r v i e r f a c h e n (!) A n t i n o m i e n i c h t B l e n d werke, sondern gründlich waren, unter der V o r a u s s e t z u n g n ä m l i c h , d a ß E r s c h e i n u n g e n o d e r e i n e S i n n e n w e l t , d i e sie i n s g e s a m t in s i c h b e g r e i f t , D i n g e an sich s e l b s t w ä r e n . D e r W i d e r s t r e i t d e r d a r a u s (!) g e z o g e n e n S ä t z e e n t d e c k t aber, d a ß in der V o r a u s s e t z u n g e i n e F a l s c h h e i t l i e g e , u n d b r i n g t u n s d a d u r c h zu e i n e r E n t d e c k u n g d e r w a h r e n B e s c h a f f e n h e i t d e r D i n g e als G e g e n s t ä n d e d e r S i n n e " 2 3 . Daraus erhellt, wie man den Aufweis der Dialektik in der rationalen Kosmologie, d.h. der Antinomik ihrer Schlüsse auf die Letztprinzipien der gegebenen Welt, aufzufassen hat, nämlich als ausgehend von transzendentalen R e a l i s m u s der Dinge der Sinnenwelt, d. h. der „Erscheinungen" als Dingen an sich, so daß die kritizistische Redeweise, die von der Welt als „Inbegriff der Erscheinungen" spricht, eben nur Sprechweise und damit ein bloß akzidentelles Element des Ganzen darstellt. Nun ist mit diesem Beweis freilich noch nicht gesagt, daß Kant den Antinomiecharakter der kosmologischen Schlüsse auch schon in der vorkritischen Phase oder bereits zur Zeit der T r ä u m e e.G. erkannt und " Kr. d. r. V. B 534f. Sperrung Verf.
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vertreten habe. Aber es gibt andere Zeugnisse, die diese Erkenntnis auch ausdrücklich in die sechziger Jahre verlegen, ja sogar solche, die sie in die Mitte des Jahrzehnts datieren. Zu den ersteren gehört die R 5037, die nicht nur wie die R 5116 von der Erkenntnis des d i a l e k t i s c h e n Charakters der dogmatischen Theorie im allgemeinen spricht, sondern direkt von den Antinomien: „Ich sähe anfänglich diesen Lehrbegriff wie in einer Dämmerung. Ich versuchte es ganz ernstlich, Sätze zu beweisen und ihr Gegenteil, nicht um eine Zweifellehre zu errichten, sondern, weil ich eine Illusion des Verstandes vermutete, zu entdecken, worin sie stäke. Das Jahr 69 gab mir großes Licht" 2 4 . In ähnlicher Weise bezeugt Kants Brief an G a r v e vom 21. 9. 98 die entscheidende Rolle, die die Antinomienproblematik für ihn auf dem Weg zum kritizistischen Standpunkt gespielt hat. Er wendet sich in diesem Brief gegen eine These des ihm vom Adressaten dedizierten Werkes: „Beim flüchtigen Durchblättern desselben bin ich auf die N o t e S. 339 gestoßen: in Ansehung deren ich protestieren muß. — Nicht die Untersuchung vom Dasein Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r. V . : ,Die Welt hat einen Anfang —: sie hat keinen Anfang etc. bis zur vierten: Es ist Freiheit im Menschen — gegen den: es ist keine Freiheit, sondern alles ist in ihm Naturnotwendigkeit'; diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Skandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben" 2 5 . Diese Stelle weist, genau genommen, nicht nur zurück auf die vorkritische Zeit, sondern auf die Zeit, da er aus dem dogmatischen Schlummer aufgeweckt wurde, was aber nach den obigen Zeugnissen, vor allem der zitierten Briefe an Lambert und Mendelssohn, sicher bereits um die Mitte des Jahrzehnts geschehen ist. Aus diesem späten Brief an Garve läßt sich also schließen, daß in der vorkritischen metaphysischen Entwicklung Kants auf ihrem zweiten Höhepunkt um 1765 die Antinomienproblematik eine zentrale Rolle gespielt hat, was dann auch in eindrucksvoller Weise durch die Entwürfe der späten P r e i s s c h r i f t ü b e r d i e F o r t s c h r i t t e d e r M e t a p h y s i k bestätigt wird, in denen in wiederholtem Anlauf als die drei großen Perioden der Entwicklung der Metaphysik herausgestellt werden: die 24 25
KGS XVIII, 69. Ibid. XII, 257f.
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d o g m a t i s c h e , deren Stillstand und Infragestellung durch die Antinomienproblematik in der s k e p t i s c h e n , und schließlich als Ergebnis bzw. als Lösung die k r i t i z i s t i s c h e 2 6 . Es ist daher nicht zu verwundern, daß wir sowohl auf eine Reflexion wie auf eine Briefstelle stoßen, die diese Antinomienproblematik auch ausdrücklich in die Zeit vor und um die Mitte des Jahrzehnts zurückverlegen: Es ist einmal die schon zitierte R 3732, die auf diesem Hintergrund in einem neuen Licht erscheint, wenn in ihr die drei conceptus terminatores: necessitas entis absoluta, elementum corporis simplex, actio nulla ratione determinata, deswegen als p r o b l e m a t i s c h e Begriffe bezeichnet werden, weil sie formal das negieren, wodurch allein ihre Möglichkeit begriffen werden könnte; denn in dieser Bestimmung ist die Antinomik der zu ihnen führenden Gedankenreihen implizit enthalten. Das andere Zeugnis für diese frühe zeitliche Plazierung der Antinomienproblematik findet sich in Kants Brief an Bernoulli vom 16. 11. 81, in dem er, bezugnehmend auf sein im Brief vom 31. 12. 65 L a m b e r t gemachtes Angebot einer engeren Zusammenarbeit in Sachen Reform der Metaphysik und sich entschuldigend, daß er diesem dann doch nicht entsprochen hatte, schreibt: „Damals sähe ich wohl: daß es dieser vermeintlichen Wissenschaft an einem sicheren Probierstein der Wahrheit und des Scheins fehle, indem die Sätze derselben, welche mit gleichem Rechte auf Überzeugung Anspruch machen, sich dennoch in ihren Folgen unvermeidlicher Weise so durchkreuzen, daß sie sich einander wechselseitig verdächtig machen müssen. Ich hatte damals einige Ideen von einer möglichen Verbesserung dieser Wissenschaft, die ich aber allererst zur Reife wollte kommen lassen, um sie meinem tief einsehenden Freunde zur Beurteilung und weiteren Bearbeitung zu überschreiben" 2 7 . Aus diesem interessanten Stück geht wiederum deutlich hervor, daß hinter Kants kritischem Standpunkt um 1765, wie er ihn uns in seinem Brief an Mendelssohn vom 8. 4. 66 zu erkennen gibt, vor allem auch sein Ringen um die Antinomienproblematik stand. Im dritten (theologischen) Hauptstück verschwindet die kritizistische Einkleidung fast vollständig, so daß wir uns hier durchwegs in vorkritischen Gedankengängen bewegen. Gewiß gibt es einige kritizistische 26
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Siehe des Verf. Abhandlung „Was entzündete in Kant das große Licht von 1769?" in: Arch. f. Gesch. der Phil. (58) 1976, 398ff. K G S X , 277.
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Stellen, wie in Abschnitt II B 609ff oder auch schon im letzten überleitenden Absatz des zweiten Hauptstücks, durch den das ganze dritte auf die kritizistische Ebene gehoben werden soll, aber, näher betrachtet und konsequent zu Ende gedacht, würden diese sporadisch eingefügten Gedanken die ganze Diskussion über das transzendentale Ideal und die Gottesbeweise überflüssig oder zumindest völlig unernst und unglaubwürdig machen. W. Cramer hat richtig gesehen: Wenn man von der von Kant an diesen Stellen insinuierten Voraussetzung des transzendentalen Idealismus aus seine Kritik der alten Rationaltheologie interpretiert, muß man zu dem Schluß kommen, daß er Attacken gegen selbstgefertigte Windmühlen reitet, weil, wie der Autor bemerkt, seine Kritik dann deshalb keine Kritik sein kann, weil die Sache, die kritisiert wird, keinen Ort im System der Kritik hat 2 8 . Kants Kritik der theologia rationalis hat nur dann einen wirklich überzeugenden Sinn, wenn es die Kritik an den traditionellen Argumenten ist, und zwar eine Kritik, die von deren Voraussetzung ausgeht, nämlich der des transzendentalen Realismus der Erfahrungswelt, wie Kant ja in der Tat durchgehend auch von dieser Voraussetzung aus argumentiert. Wenn er schon im zweiten Hauptstück, das unvergleichlich stärker in kritizistischem Gewand dargeboten wird, an der oben zitierten Stelle des Abschnittes VII einräumt, daß die Argumente für die Thesen und Antithesen der Antinomie nur dann nicht Blendwerke, sondern gründlich seien, wenn man voraussetzt, daß Erscheinungen Dinge an sich selbst sind, dann gilt das a fortiori für das dritte Hauptstück, d. h. von der Lehre vom transzendentalen Ideal und den Beweisen für das Dasein Gottes. In welchem Verhältnis steht nun dieses dritte Hauptstück der D i a l e k t i k zu Kants kritischem Standpunkt um die Mitte der sechziger Jahre? Die Frage ist zunächst leicht zu beantworten, was seine Kritik der drei traditionellen Gottesbeweise betrifft; denn diese unterscheidet sich der Substanz nach nicht von jener der dritten Abteilung des B e w e i s g r u n d e s von 1762, und es kann nicht der geringste Zweifel bestehen, daß der Philosoph sie in dieser Form auch um die Mitte der sechziger Jahre voll und ganz aufrecht erhalten hat 2 9 . Es muß auch als sicher gelten, daß er, wie wir schon angedeutet haben, damals seinen einzig möglichen Beweisgrund in der ursprünglichen Form nicht mehr ver28 29
A.a.O. 161. Vgl. R 3812, KGS XVII, 301.
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treten konnte; denn das läßt sich aus den oben angeführten Zeugnissen aus der Zeit der T r ä u m e e. G. zwingend schließen. Die Frage ist jedoch: Was war damals an dessen Stelle getreten? Gibt es Gründe für die Annahme, daß der Philosoph zu so früher Zeit etwa schon die Lehre von dem Vernunftideal von bloß subjektiver Gültigkeit vertreten hat, so daß es nicht nur eine Parallele gäbe zwischen seinem damaligen Standpunkt und dem dritten Hauptstück hinsichtlich der G o t t e s b e w e i s e , sondern auch eine zwischen dem ersteren und dem 2. Abschnitt des letzteren mit seiner Lehre vom transzendentalen Ideal? Wir sind der Uberzeugung, daß dies tatsächlich der Fall ist. Denn aus den Reflexionen zur Metaphysik aus der Zeit um 1765 und den unmittelbar folgenden Jahren läßt sich nach u . Ü . mit großer Sicherheit schließen, daß Kant schon damals das Argument in jener spezifischen Weise umgestaltet hatte, die für die zweite Hälfte des Jahrzehnts charakteristisch ist: nämlich in die Lehre von dem bloß subjektiv gültigen Vernunftideal. Der entscheidende Ansatzpunkt dieser Umwandlung ist enthalten in einer Anzahl von Reflexionen der Phase die nach Adickes die Jahre um die Mitte des Jahrzehnts umfaßt (1764—66), vor allem R 3756: „Das Verhältnis der Identität und Contradiction negative gedacht, d.i. da ein Begriff dem andern nicht identisch ist, auch nicht widerstreitet, ist das Logische oder Formale der bloßen Möglichkeit, das Reale der Möglichkeit ist zugleich das Materiale derselben, und unser Begriff von demselben erstreckt sich so weit wie das Einfache unserer Empfindungen, imgleichen wie die primitiven Verhältnisse (respectus reales), die wir durch Erfahrung kennen lernen" 3 0 . Wie in R 3732 mit der Problematisierung des Begriffs der absoluten Notwendigkeit das Z i e l des einzig möglichen Beweisgrundes, so wird hier dessen A u s g a n g s p u n k t und Grundvoraussetzung in Frage gestellt bzw. aufgehoben: daß nämlich die logische Denkbarkeit eines Begriffs schon die Realmöglichkeit des durch den Begriff gedachten Gegenstandes bedeute; denn hier wird das Logische der Möglichkeit dem Realen derselben so gegenübergestellt, daß zum letzteren nicht nur die einfachen Denkinhalte, sondern auch die respectus reales zwischen ihnen gehören, die wir ebenso, wie jene selbst, nur aus der Erfahrung schöpfen können. Damit ist aber eine grundlegende Wende angezeigt gegenüber dem Ansatz des einzig mög30
Ibid. 284.
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liehen Beweisgrundes: während dieser ausgegangen war von einem Reich der Möglichkeiten, das ontologisch der Wirklichkeit der daseienden Dinge vorauslag und sich über deren Bereich hinaus erstreckte, ist nach unserer Reflexion das Mögliche nur mehr im Wirklichen selbst gegeben. Wir haben keinen anderen Zugang zum Möglichen als das uns in der Erfahrung gegebene Wirkliche, wie Kant in der R 4005 (Phase K1) formuliert: „Alle absolute Möglichkeit muß . . . durch Erfahrung gegeben werden; was da ist, ist an sich selbst möglich". Diese Verschiedenheit des Ausgangspunktes führt nun zu einer grundsätzlichen U m w a n d l u n g des Arguments, die in der Phase K ausführlich entfaltet erscheint, die aber auch bereits in der Phase ¡¡, also um die Mitte des Jahrzehnts, hinreichend bezeugt ist. So vor allem durch die R 3811: „Alle negationes sind Schranken. Die Schranken überhaupt sind nur möglich durchs Unbeschränkte. Demnach ist das Unbeschränkte das, wodurch alles andere möglich ist. . ." 3 1 . Der entscheidende Gedanke dieser Reflexion ist, daß alle eingeschränkten oder endlichen Dinge nur möglich sind durch ein unbegrenztes, d. h. durch ein ens realissimum. Aufgrund dieses Prinzips kann nun von den e i n g e s c h r ä n k t e n D i n g e n als s o l c h e n auf ein uneingeschränktes geschlossen werden, unabhängig davon, ob die möglichen Dinge über die tatsächlich existierenden hinausgehen, oder ob sie nur so weit reichen als diese. Zugleich aber wird in den Reflexionen dieser Phase das ens realissimum als ein solches der i n t e n s i v e n Größe oder des G r a d e s der Realität bestimmt, das nicht eine summarische Addierung aller niedrigeren Grade bedeutet, sondern einen obersten Grund, der alle niedrigeren Grade von Realität aus sich hervorgehen lassen kann. So die R 3775: „Ens ( . . . . ) maximum est realissimum, et generaliter, in quo non est quantitas synthetica sive extensiva, sed intensiva; in priori enim synthesis numquam est terminata". (Vgl., dazu die noch frühere R 3727: „Quantitas est vel compositi vel intensive talis, h.e. gradus. Gradus maior non est minorum totum, sed ratio, h.e. duplex gradus, qui duorum graduum aequalium potest esse causa . . .") 3 2 . Besonders eindrucksvoll wird dann dieses abolute maximum realitatis als maximum intensitatis und sein Verhältnis als eines Grundes zu den niedrigeren Gra31 32
Ibid. 300 f. Ibid. 290 bzw. 270.
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den von Realität in R 3889 dargestellt, eine Reflexion, die der folgenden Phase 0 (66—68) oder K \ dem Frühjahr 69, zugehört 3 3 . Die in diesem Zusammenhang entscheidende Frage aber ist, ob zu dieser frühen Zeit (um die Mitte des Jahrzehnts) der so abgewandelte Gedankengang des ehemaligen einzig möglichen Beweisgrundes von Kant bereits als nur mehr s u b j e k t i v g ü l t i g und damit als objektiv problematisch angesehen worden ist. N u n sprechen schon die weiter oben angeführten Zeugnisse dieser Epoche eindeutig für diese Auffassung, wenn sie auch nicht eingehen auf den speziellen Gedankengang des Arguments. Wir haben aber auch ein unmittelbares Zeugnis für unsere These in den Reflexionen der Mitte des Jahrzehnts, das diese Schlußfolgerung bestätigt, nämlich die R 3795 (£): „nondum constat, utrum maxima realitas in ente compossibilis sit simultaneo vel in serie successiva", was nur bedeuten kann, daß es fraglich bleiben muß, ob das aus der Endlichkeit der Dinge erschlossene maximum realitatis als einziges, unveränderliches Seiendes eine Realmöglichkeit darstelle, oder ob die maxima realitas nur als series succesiva, d. h. als Welt, real möglich sei. Damit ist die Realmöglichkeit der aus der Endlichkeit und Begrenztheit der Dinge erschlossenen omnitudo realitatis als maximum intensionis in Frage gestellt. In der Tat wird diese Konsequenz in aller Ausdrücklichkeit formuliert in der sehr bemerkenswerten Reflexion 3907 der unmittelbar folgenden Phase i (66—68) „Alle großen Eigenschaften, die ich von Gott aus der willkürlichen (!) Idee desselben sage, sind nur Expositionen der hypothetis, die ich annehme. Aber die ich aus dem Werk ziehe (diese aber sind nur praktisch vollkommen), treffen ein reales und durch wirkliche Dokumente gegebenes Wesen" 3 4 . Hier wird also der apriorische Begriff Gottes (aus der Begrenztheit der Dinge) als willkürlicher Begriff und als nur subjektiv notwendige Annahme oder H y pothesis bezeichnet, die objektiv problematisch bleibt, was auch aus der Gegenüberstellung zu den Beweisen aus den wirklichen Dokumenten, die ein Reales treffen, hervorgeht. Auch sogar die von Kant gebrauchten Ausdrücke „willkürlicher Begriff", „Hypothesis, die ich annehme", erinnern bereits an die Art, wie er im 2. Abschnitt des dritten Hauptstücks die transzendentale Gottesidee kennzeichnet. " 34
Ibid. 328. Ibid. 337.
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Josef Schmucker 3.
Wenn sich nun auf diese Weise der Inhalt der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k weitgehend als Entfaltung der n a t ü r l i c h e n D i a l e k t i k der reinen Vernunftschlüsse erweist, die nicht nur der Sache nach unabhängig ist von den Ergebnissen der Analytik, d.h. von der Position des transzendentalen Idealismus, sondern in der Tat auch entwicklungsgeschichtlich v o r den entscheidenden Schritten zum letzteren (Diss. von 1770 und Brief an Herz vom 21. 2. 72), nämlich schon in den Jahren um die Mitte des siebten Jahrzehnts erkannt worden war und einen wesentlichen Gegenstand des damaligen Ringens Kants um das Wesen und die Methode der Metaphysik gebildet hatte, wenn also m. a. W. der größte Teil der zweiten Hälfte des kritischen Hauptwerkes Kants von dieser vorkritischen Problematik erfüllt ist und der transzendentale Idealismus dort grundsätzlich nur als L ö s u n g der (natürlichen) Dialektik der reinen Vernunfterkenntnis fungieren kann, dann werden einige sonst rätselhafte Aspekte der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t mit einem Mal durchaus verständlich: vor allem, warum der umfangreichere zweite Teil des Werkes bei den Interpreten schon immer den Eindruck erweckte, daß er nicht mehr auf der kritischen Höhe der Ä s t h e t i k und der A n a l y t i k stehe, sondern wieder zurückfalle in eine Art von Metaphysik, die eigentlich durch die vorausgehenden Teile grundsätzlich überwunden war, und daß er deshalb bei den Interpreten und Kommentatoren auch stets ein wesentlich geringeres Interesse fand als der Ästhetik- und Analytikteil und deshalb von ihnen fast immer nur summarisch behandelt wurde, wie Heimsoeth bemerkt 3 5 . Es wird ferner ein anderes verständlich: warum nämlich die V o r l e s u n g e n K a n t s ü b e r R a t i o n a l t h e o l o g i e vor und auch nach dem Erscheinen der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t sich ihrerseits weitgehend in vorkritischen Gedankengängen bewegen und der Kritizismus darin nur eine untergeordnete Rolle spielt 36 , während man erwarten würde, daß mit den Ergebnissen der transzendentalen Analytik die ganze Ausgangssituation für die rationale Gotteslehre völlig verändert wäre und sie folglich auch gänzlich neu, nämlich prinzipiell vom kritizistischen Standpunkt aus konzipiert und behandelt werden müßte. In Wirklichkeit geschieht 35 36
H . Heimsoeth, Transzendentale Dialektik, Berlin 1966, VIIf. Vgl. KGS XXVIII, 2,2: Kants Vorlesungen über Rationaltheologie.
Kants kritischer Standpunkt
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dieses letztere auch in der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t nicht, und es ist deswegen a fortiori nicht von den Vorlesungen zu erwarten. Ferner wird durch die Voraussetzung des grundsätzlich vorkritischen Charakters des Aufweises der natürlichen Dialektik der reinen Vernunftschlüsse nun auch die besondere Gestalt der Kritik der Rationaltheologie in der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t selber verständlich. Es ist von den Interpreten (z.B. von Kl. Reich) wiederholt auf die erstaunliche Tatsache hingewiesen worden, daß die Kritik der Gottesbeweise in der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k sich im wesentlichen decke mit der der dritten Abteilung des B e w e i s g r u n d e s , und fürs zweite hat man es immer wieder als merkwürdig bzw. als Schwierigkeit empfunden, daß Kant in seiner Kritik der Gottesbeweise im theologischen Hauptstück den ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund nicht einmal mehr erwähnt, geschweige denn behandelt und kritisiert hat. Man hat für diese Probleme verschiedene Lösungen versucht, die aber alle nicht überzeugen können 37 . Die wirkliche Lösung für beide Probleme ist in der Tat sehr einfach: Kant hat seine vorkritische Kritik der Gottesbeweise, und zwar nach dem Schema, wie es bereits in der dritten Abteilung des B e w e i s g r u n d e s grundgelegt ist (nämlich: einzig möglicher Beweisgrund gegenüber den drei nicht möglichen bzw. nicht demonstrativen Wegen des Gottesbeweises) in die T r a n s z e n d e n t a l e D i a l e k t i k übernommen, mit dem einzigen Unterschied, daß der erstere hier in der Systematik des Dialektikteils der K r i t i k nicht in der f r ü h e n vorkritischen Form erscheint, sondern in der abgewandelten der Mitte der sechziger Jahre, nämlich als nur subjektiv gültiger, objektiv aber problematischer Schluß von den endlichen, begrenzten Wesen auf das in ihrem Begriff implizierte unendliche, unbegrenzte im Sinn einer i n t e n s i v e n Größe. Geht man dagegen von der Voraussetzung aus, daß auch die Kritik der Rationaltheologie in der T r a n s z e n d e n t a l e n D i a l e k t i k von Kant nach den Ergebnissen der A n a l y t i k neu konzipiert und von diesen Ergebnissen aus thematisch durchgeführt wurde, dann bleibt es in der Tat unverständlich, wie er in dieser als vollständig ausgegebenen Systematik der Gottesbeweise ein Argument übergehen konnte, das er selbst mindestens zehn Jahre lang als das wesentlichste bzw. als das einzig 37
Vgl. unsere Kritik der diesbezüglichen Position von Kl. Reich und D . Henrich in: Die Ontotheologie des vorkritischen Kant, Berlin 1980, 140 ff.
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mögliche demonstrative des Daseins Gottes betrachtet hatte; denn es ist offensichtlich, daß der 2. Abschnitt des dritten Hauptstücks (mit seiner Entwicklung der Lehre vom Ideal der reinen Vernunft) keine kritische Rezension und Auseinandersetzung mit dem ehemaligen einzig möglichen Beweisgrund darstellt, alle Versuche hier eine unmittelbare Beziehung herzustellen sind zum Scheitern verurteilt, weil sich dieser Abschnitt unmittelbar auf die wesentlich umgestaltete Form des ehemaligen Arguments bezieht, in der die Lehre vom Vernunftsideal oder dem transzendentalen Gottesbegriff bereits vorweggenommen ist. Nimmt man dagegen die vorkritische Entwicklung zur These von dem dialektischen Charakter der Schlüsse der reinen Vernunft (auf die Letztprinzipien des Gegebenen) in ihrem kritischen Gehalt ernst und anerkennt man andererseits, daß Kant die Lehre von der „Dialektik" der reinen Vernunft in diesen Schlüssen der Substanz nach unverändert in die T r a n s z e n d e n t a l e D i a l e k t i k übernommen hat, dann verschwinden jene sonst unlösbaren Schwierigkeiten und erweisen sich schlicht als Scheinprobleme. Noch ein Zweites wird vom vorkritischen Ursprung und Charakter der Lehre von der Dialektik der reinen Vernunftschlüsse her deutlich: daß die von Kant in der K r i t i k der r e i n e n V e r n u n f t gewählte Systematik (in der Anordnung und Darstellung ihrer Hauptteile) nicht die einzige Möglichkeit einer zusammenhängenden Darbietung der kritizistischen Metaphysik war, daß es vielmehr eine echte Alternative dazu gegeben hätte, wie sie Kant selbst in seinem Brief an Markus Herz vom 11. 5. 81 als eine mehr populäre Form derselben andeutet: „Schwer wird, schreibt er dort, diese Art Nachforschung immer bleiben, denn sie enthält die M e t a p h y s i k von d e r M e t a p h y s i k , und gleichwohl habe ich einen Plan in Gedanken, nach welchem sie auch P o p u l a r i t ä t bekommen kann, die aber im Anfange, da der Grund aufzuräumen war, übel angebracht gewesen sein würde, zumal das Ganze dieser Art der Erkenntnis nach aller seiner Artikulation vor Augen gestellt werden mußte; sonst hätte ich nur von demjenigen, was ich unter dem Titel der A n t i n o m i e der r. V. vorgetragen habe, anfangen dürfen, welches in sehr blühendem Vortrage hätte geschehen können und dem Leser Lust gemacht hätte, hinter die Quellen dieses Widerstreites zu forschen . . ." 3 8 . 38
KGSX, 269 f.
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Aus dieser Briefstelle wird zunächst nochmals deutlich, daß die Erkenntnis und der Aufweis der Dialektik der reinen Vernunft im Sinne Kants unabhängig ist von den Prinzipien des transzendentalen Idealismus; denn nach diesem Plan sollte ja gerade die Einsicht in den Widerstreit, in den sich die Vernunft verwickelt, zur Entdeckung des kritizistischen Standpunktes d.h. des transzendentalen Idealismus führen; dieser Widerstreit ist also gerade dadurch bedingt, daß die natürliche Vernunft in ihren Schlüssen der Metaphysica specialis von der Voraussetzung des transzendentalen R e a l i s m u s der Erfahrungsdinge ausgeht. Kant hätte also, seinem eigenen Entwicklungsgang, wie er ihn im Brief an Garve vom 21. 9. 98 angedeutet hat, folgend, mit der Entwicklung bzw. dem Aufweis der natürlichen Dialektik der Vernunftschlüsse in den drei Disziplinen der Metaphysica specialis beginnen können, um den Leser auf Grund dieser Dialektik, vor allem aber ihres zentralen Mittelstücks: der kosmologischen Antinomien, zur Uberzeugung von der Notwendigkeit einer Kritik des gesamten reinen, d.h. apriorischen, Vernunftvermögens zu führen, die dann der gewohnten Einteilung transzendentale Ästhetik, transzendentale Analytik der Begriffe und Grundsätze des Verstandes und transzendentale Ideenlehre der Vernunft hätte folgen können. Dabei hätte die letztere zugleich als die eigentliche L ö s u n g der Dialektik der Vernunft herausgearbeitet werden können, vor allem auch in dem Sinn, daß durch die kritische Unterscheidung von D i n g an s i c h und E r s c h e i n u n g die Möglichkeit (Denkarbeit) der Gegenstände der Ideen im Bereich der Wirklichkeit an sich salviert wird, womit das System der theoretischen Vernunft positiv geöffnet war für die Realisierung vom Praktischen her, wie Kant es in der Vorrede B darlegt 3 9 . Diese Anordnung hätte in der Tat nach unserer heutigen Sicht der Dinge (freilich nicht nach der Kants) der schulmäßigen Strenge der in der K r i t i k d e r r e i n e n V e r n u n f t gewählten Systematik im Grunde nur wenig Abbruch getan, hätte aber gewiß den Vorteil gehabt, daß die sich von der Voraussetzung des natürlichen Verstandes (des transzendentalen Realismus der Erfahrungswelt) aus sich ergebende natürliche Dialektik der Schlüsse der reinen Vernunft klar hervorgetreten wäre. Aber Kant konnte sich offenbar nicht entschließen, in seinem Hauptwerk mit der Enthüllung dieser Dialektik zu beginnen, um die Vernunft sozusagen zu39
Kr.d.r.V. B XXVI ff.
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nächst in das Stadium der Skepsis und des Stillstandes zu führen und von da zur Kritik des gesamten apriorischen Vernunftvermögens, wie er dann tatsächlich in den Entwürfen zur späten P r e i s s c h r i f t ü b e r d i e F o r t s c h r i t t e d e r M e t a p h y s i k getan hat, und zwar deswegen nicht, — wie man aus den Andeutungen der obigen Briefstelle vermuten kann, — weil er von Anfang an reinen Tisch machen wollte mit den Voraussetzungen der alten Metaphysik und darum in seinem kritischen Hauptwerk nicht mit einer weitläufigen Diskussion der alten Argumente beginnen wollte, die ja, wie aus ihrer jetzigen Gestalt im zweiten Teil des Werkes hervorgeht, mehr als das halbe Buch ausgemacht hätte. So hat er es vorgezogen, in einer von unten nach oben aufsteigenden Systematik, die den Hauptabteilungen der f o r m a l e n L o g i k parallel läuft, diese Kritik der metaphysischen Schlüsse unter dem zusammenfassenden Titel einer dialektischen „transzendentalen Schlußlehre" an den Schluß zu setzen, womit aber der Nachteil verbunden war, daß nun der transzendentale Idealismus nicht nur als A u f l ö s u n g der Dialektik der natürlichen Vernunft erscheint, was er in Wahrheit auch ist, sondern zugleich der Anschein erweckt wird, er sei auch ihre V o r a u s s e t z u n g , was nicht zutrifft, da diese der t r a n s z e n d e n t a l e R e a l i s m u s der Erfahrungswelt ist.
R E I N H A R D BRANDT,
Marburg
Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft (John Locke und Johann Schultz) Nach Kants Maxime für das Verstehen der Kritik der reinen Vernunft soll sich der Leser der Idee im Ganzen bemächtigen. 1 Die Übersicht über den Gliederbau des Systems gewährleistet das Verständnis der Funktion und der Bedeutung des einzelnen. Da der Autor selbst das Ganze architektonisch strukturiert, ist das geforderte procedere zirkelfrei möglich und zweifellos für die Kritik der reinen Vernunft wie für jede philosophische Schrift, die ihren Gedanken architektonisch darstellt, unabdingbar nötig. Die postulierte Vorgehensweise, das Mannigfaltige auf die Einheit der Idee im Ganzen zu beziehen, ist kein Garant der Vermeidung des vitium subreptionis oder des Hineinlesens der eigenen Vorstellungen in den fremden Text. Ein Mittel der Absicherung gegen diesen Fehler ist die Untersuchung des pro und contra, aus dem die Theorie erwachsen ist und das die Richtung der einzelnen Argumente bestimmt. Die folgenden Erörterungen sind ein Beitrag zu diesem subsidiären Verfahren. Es wird — in provisorischer Skizze — partiell zu klären versucht, welche Rolle John Locke bei der Entstehung der Kritik der reinen Vernunft spielte. Hierbei erweist sich der Rückgang in die Phase um 1772 als notwendig, für die die Kritik an der Dissertation von 1770 und der Versuch der Rettung des Haltbaren in ihr bestimmend ist. Einer der Kritiker ist Johann Schultz, dessen Rezension in den Königsbergischen Gelehrten und Politischen Zeitungen von 1771 schwer zugänglich ist und deswegen hier abgedruckt wird. 1
Kritik der reinen Vernunft B XLIV. Die Kritik der reinen Vernunft (KrV) wird im folgenden nach A- und B-Auflage zitiert, die übrigen Schriften Kants nach Band-, Seiten- und zuweilen Zeilenangaben der Akademie-Ausgabe. — Zum gedanklichen Kontext der „Idee im Ganzen" vgl. KrV A 832ff., Refl. 1684; XXVIII, 2,2,995.
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Reinhard Brandt
John Lockes Bedeutung für die Kritik der reinen Vernunft zu bestimmen scheint zunächst ein wenig Erfolg versprechendes Unternehmen, weil Kant ihm in der Schrift selber sichtlich die Bedeutung abspricht. Er ist an den wenigen Stellen, wo er genannt wird, vor allem das Muster eines inkonsequenten Denkers: Locke entwickelte eine Physiologie des Verstandes, und statt bei dieser empirischen Beschäftigung mit dem „Sensualsystem" zu bleiben und allenfalls als deklarierter Skeptiker auf rationale Erkenntnis zu verzichten oder ihre Möglichkeit zu leugnen, versuchte er, eine Metaphysik im traditionellen Stil zu entwikkeln — Locke, „der, nachdem er alle Begriffe und Grundsätze von der Erfahrung abgeleitet hatte, soweit im Gebrauche derselben geht, daß er behauptet, man könne das Dasein Gottes und die Unsterblichkeit der Seele (obzwar beide Gegenstände ganz außer den Grenzen möglicher Erfahrung liegen) ebenso evident beweisen, als irgendeinen mathematischen Lehrsatz" (A 854—55). Er verfuhr mit seinen aus der Erfahrung abgeleiteten Begriffen „so inkonsequent, daß er damit Versuche zu Erkenntnissen wagte, die weit über alle Erfahrungsgrenze hinausgehen" (B 127). Locke verstößt also gegen die letzte der drei elementaren Regeln des Verstandes- und Vernunftgebrauchs: „1. Selbst denken; 2. An der Stelle jedes andern denken; 3. Jederzeit mit sich einstimmig denken. Die erste ist die Maxime der vorurteilsfreien, die zweite der erweiterten, die dritte der konsequenten Denkungsart" (V 294) 2 . Daß Kant Locke in der Kritik der reinen Vernunft nicht weiter berücksichtigt — er weist nur einige Male auf ihn hin und wiederholt dabei, was der Leser schon weiß — scheint nur folgerichtig. Ein positiver Akzent findet sich lediglich in einer zunächst rein historischen Erinnerung: Locke hat als erster den Ursprung unserer Erkenntnis verfolgt und den Aufstieg von den einzelnen Wahrnehmungen zu den allgemeinen Begriffen beobachtet (A 86); aber nichts deutet darauf hin, daß dieser Verweis mehr ist als eine bloß geschichtliche gelehrte Anmerkung. Locke wird nicht als integrierender Faktor einer systematischen Auseinandersetzung gesehen.
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Vgl. Refl. 454, 455, 456. In der letzteren Reflexion wird die ergänzende Erklärung gegeben: „1. Zu wissen, was man will. 2. Worauf es ankommt. 3. Worauf alles dieses hinausläuft. Nämlich den Wert der Dinge zu beurteilen". Am Ende der Logik DohnaWundlacken ( X X I V , 783—84) wendet Kant dieses Schema auf die Genese der KrV an. Vgl. dazu unten S. 58.
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Entsprechend diesem negativen Befund der Kantischen Schrift wird in der Literatur zur Kritik vom Essay concerning human understanding oder gar einer andern Publikation Lockes kaum Kenntnis genommen 3 . Die Situation scheint zutreffend geschildert in einer neueren Arbeit mit dem Titel John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation4. Der Autor wendet sich gegen die Tendenz besonders der englischen Literatur, Locke zu einem bestimmenden Faktor der deutschen Aufklärung zu machen. „Whatever his influence was in England or France, it was negligible in Germany" (446): Lockes Einfluß, der seinen — auch nur geringen — Höhepunkt in den fünfziger und sechziger Jahren hatte, blieb immer limitiert durch die grundsätzliche Ausrichtung auch gewisser Sympathisanten am alles beherrschenden System von Leibniz und Wolff. Kant hat dieses Bild gerechtfertigt; so wenigstens in den expliziten Verweisen der Kritik der reinen Vernunft. Die Gegenwart Lockes in der Kantischen Philosophie erschöpft sich jedoch nicht in der Nennung seines Namens in der Kritik. Ein erstes Beispiel hierfür könnten die oben genannten drei Maximen des gemeinen Menschenverstandes sein. Es ist auffällig, daß Locke an den Anfang seiner Anleitung zur Erkäntniß der Wahrheit5 drei Fehler stellt, die ähnlich disponiert sind wie die Kantischen Maximen: ,,1) Die erste Gattung bestehet aus denen, welche überhaupt selten Vernunftschlüsse machen, sondern nach dem Exempel anderer handeln und denken, . . . um sich der Mühe und Beschwerlichkeit des eignen Nachdenkens und Prüfens zu überheben. 2) Zur 3
Für Schriften, die das Verhältnis von Kant zu Locke zum Thema haben, vgl. meine Bibliographie im Anhang der jetzt erscheinenden Neuauflage der Wincklerschen Ubersetzung von Lockes Untersuchung über den menschlichen Verstand (F. Meiner, Hamburg). Wertvoll scheint mir einzig die Arbeit von M . W . Drobisch, Über Locke, den Vorläufer Kant's, in: Zeitschrift für exacte Philosophie, 2, 1862, 1—32. Anregungen verdanke ich der Arbeit von Lüder Gäbe, Zur Aprioritätsproblematik bei Leibniz— Locke in ihrem Verhältnis zu Descartes und Kant, in: Sinnlichkeit und Verstand, ed. H . Wagner, Bonn 1976, 7 5 - 1 0 6 .
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Klaus P. Fischcr, John Locke in the German Enlightenment: An Interpretation, in: The Journal of the History of Ideas 36, 1973, 4 3 1 - 4 6 . Johann Lockens Anleitung zur Erkäntniß der Wahrheit nebst desselben Abhandlung von den Wunderwerken. Aus dem Englischen übersetzt von Georg David Kypke, Königsberg 1753. Kypke weist in der (nicht paginierten) Vorrede darauf hin, daß M. Knutzen die Lockesche Schrift Of the Conduct of the Understanding übersetzt hat, aber vor der Publikation starb (vgl. Martin Knutzen, Elementa philosophiae rationalis seu Logicae, Königsberg—Leipzig 1747, § 353: ,,. . . de dirigendo intellectu in cognoscenda veritate . . . eius versionem Germanicam prelo iam subiecimus").
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zweiten Gattung gehören diejenigen, welche die Leidenschaften in die Stelle der Vernunft setzen . . . 3) Zur dritten Gattung gehören diejenigen, welche der Vernunft willig und aufrichtig folgen, die aber, weil es ihnen an demjenigen fehlet, welches man eine weitläufige, gesunde und von allen Seiten zutreffende Einsicht nennen könte, nicht alles übersehen können, was zur Streitfrage gehöret, . . . Denn weil kein Mensch alles siehet, und weil wir gemeiniglich, einerley Sache, so zu sagen, unsern verschiedenen Stellungen gemäß, von verschiedenen Seiten betrachten: so ist es nicht ungereimt zu denken, auch für keinen Menschen zu verächtlich nachzuforschen, ob nicht ein andrer Begriffe von Dingen haben könte, welche er nicht bemerket, und wovon seine Vernunft einen Gebrauch machen würde, wenn sie ihm in den Sinn kämen."6 Es ist kaum zu bezweifeln, daß der Lockesche Text die — von Kant modifizierte — Vorlage der drei Maximen bildet. Daß er die Schrift Lockes kannte und benutzte, ist u. a. gesichert durch die Logikvorlesungen mit ihren impliziten Verweisen 7 . Das Selbst- (nämlich frei von Autoritäten) denken (Punkt 1 bei Locke und Kant) findet sich als Forderung besonders innerhalb der Vorurteilslehre bei vielen Autoren 8 ; die Erweiterung der Denkungsart jedoch ist dem Konzept der deutschen Schulmetaphysik fremd, die keine Erweiterung, sondern Aufklärung sucht, die sinnlich Vorgegebenes durch Verstandesbegriffe verdeutlicht, die analytisch vorgeht, nicht synthetisch. Zwar gibt es die Vorstellung der Notwendigkeit der Erweiterung der Gelehrtenerkenntnis z. B . in Georg Friedrich Meiers Auszug aus der Vernunftslehre (§ 57—§ 60), über die Kant sein Logik-Kolleg hielt 9 , aber Meier denkt 6
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Der hierauf folgende Text bezieht sich weiter auf den für Locke zentralen dritten Fehler. Zum Postulat der Erweiterung vgl. auch § 21, § 24, § 59 u . ö . Vgl. X X I V , 94 und 142 das Bild vom Gosen, das auf die Lockesche Schrift zurückgehen wird, s. den Hinweis von Gerhard Lehmann X X I V , 996—97. „ G o s e n " ist nach dem Lexikon für Theologie und Kirche, Hrsg. von Höfer und Rahner, Freiburg 1960, Bd. 4 eine „Bibl. Bezeichnung für den ägyptischen Landstrich, der den einwandernden israelitischen Hirtennomaden als Wohnsitz angewiesen wurde (Genesis 45, 10; 46, 34; . . .)". Der sprichwörtliche Gebrauch vom Gosen ist ungewöhnlich, er wird im Grimmschen Wörterbuch nicht angeführt. — „Locke rät daher das Studium der Mathematik sehr dringend an" (XXIV, 444) bezieht sich auf die Anleitung, vgl. 36ff. Vgl. Werner Schneiders, Aufklärung und Vorurteilskritik. Studien zur Geschichte der Vorurteilstheorie (erscheint demnächst), passim. Der einschlägige Text ist XVI, 202—203 wiedergegeben.
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nur an die individuelle Akkumulation von Wissen (notwendig besonders deswegen, weil man zu vieles vergißt). Locke dagegen will wie Kant eine Erweiterung durch Konfrontation mit andern Urteilen; darauf zielt das von beiden in diesem Zusammenhang verwendete Gosen-Bild (vgl. A n m . 7). D a s Erweiterungs-Programm bezieht sich bei L o c k e und Kant jedoch nicht nur auf die Kontrolle der eigenen durch fremde Urteile, sondern auch auf den grundsätzlichen Erkenntnisgewinn; mit einem Vergleich Kants, in dem er die stationäre Sichtung der H a b e der dynamischen Erweiterung entgegenstellt: „ K a u f m a n n : der nicht gewinnen, sondern wissen will, wie er steht. Die erste Handlung ist synthetisch, die andere analytisch" (Refl. 2355). Locke ist entschieden auf grundsätzlichen Gewinn der Erkenntnis bedacht, und Kant folgt ihm mit seinem grundsätzlichen Programm. Für die Konzeption der synthetischen Urteile benutzt Kant den Lockeschen Essay. „ N o t a explicans vel a u g e n s " wird in einer Reflexionsanmerkung der Unterschied von analytisch und synthetisch, erläuternd und erweiternd beschrieben (Refl. 2397). D e r Begriff des augere ist die lateinische Ubersetzung des Lockeschen enlarge 1 0 . Es ist bekannt, daß Kant L o c k e für den Urheber der Unterscheidung von analytischen und synthetischen Urteilen gehalten hat — „ L o c k e videtur discrimen syntheticorum et analyticorum iudiciorum in sua disquisitione hominis s u b o d o r a s s e " (Refl. 3738) 1 1 . Wie immer die Begriffe analytisch und 10
Kant benutzt die lateinische Ubersetzung des Lockeschen Essay von [Ezekiel Burridge], London 1701, Leipzig 2 1709, 3 1741. Die dritte Auflage wurde von M. G. H. Thiele neu bearbeitet; vermutlich benutzte Kant diese Ausgabe, sie findet sich jedoch nicht in Arthur Warda, Immanuel Kants Bücher, Berlin 1922, während die Ausgabe von 1709 im Besitz von J. F. Gensichen war, vgl. das Auktionsverzeichnis von 1808, 21 (Nr. 587), in dem auch die Gensichen von Kant überlassenen Bücher angeführt werden (hierauf weist mich W. Stark hin). Ich benutze im folgenden die korrigierte Ausgabe von Thiele. — Zum augere s . u . a . IV, 12,14. - Ein Stück Wirkungsgeschichte der lateinischen Fassung des Lockeschen Essay. Moses Mendelssohn lernte Latein mit einem Lexikon und Johannis Lockii, Armigeri, Libri IV de Intellectu Humano (vgl. M. Mendelssohn, Gesammelte Schriften, Leipzig 1843-45, V, 206). Auf die Locke-Rezeption Kants vor der Dissertation von 1770 wird hier und im folgenden nicht eingegangen. Für die Phase um 1765 sei nur hingewiesen auf Klaus Reichs Einleitung der Träume eines Geistersehers und der Raumschrift von 1768 (Hamburg 1975): „John Locke steht — obwohl nicht genannt — als wahrer ,Kritiker der Vernunft' im Hintergrund" (V).
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Diese Reflexion wird von Adickes in die Zeit von 1764—66 gelegt, die vorhergehende Wendung ( „ N o t a explicans vel augens") war ein Zusatz einer von Adickes nicht sicher
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synthetisch bei Kant im Wechsel seiner Auffassungen zu verstehen sind — die Parteinahme für Locke und dessen wirkliche oder vermeintliche Ergänzung der bloß analytischen Urteile um die Erweiterungsurteile gegen die bloß „analytische Philosophie" 12 ist für Kant fundamental und wird von den unterschiedlichen Fassungen des Begriffs analytisch und synthetisch nicht berührt. „Subodorare" (wohl wie „subolere": wittern, bemerken) ist der Ausdruck, den Kant in der oben zitierten Reflexion für die spezifische Form der Antizipation der Unterscheidung der beiden Urteilsarten durch Locke benutzt. „Synthetische Sätze können nicht durch die Vernunft erkannt werden. Denn die Vernunft kann nicht koordinieren, sondern nur subordinieren. Synthetische Sätze sind entweder Erfahrungen oder anschauende Sätze des Verstandes. Diese trifft man in der Mathematik, jene in der Physik an. Locke nennt die ersteren propositiones coexistentiae, welches von vielen nicht verstanden wurde." 1 3 In den Prolegomena wird der gleiche Sachverhalt anders dargestellt: Es finde sich in Lockes Versuchen über den menschlichen Verstand ein Wink zur Einteilung der Urteile in analytische und synthetische, allein es herrsche in dem, was Locke zu den synthetischen Urteilen sage, wenig Bestimmtes und auf Regeln Gebrachtes. Das eigentliche Prinzip habe Locke nur dunkel vorgeschwebt, wie auch in andern ähnlichen Fällen, wo „die Verfasser selbst nicht einmal wußten, daß ihren eigenen Bemerkungen eine solche Idee zum Grunde liege" (IV 270). Kant bringt hier Locke in ein Evolutionsschema, gemäß dem die Vernunft allmählich im Laufe der Geschichte zu sich kommt und sich aus der Retrospektive zeigt, was frühere Autoren, ohne daß sie es selbst wußten, eigentlich meinten — die sich selbst verborgene Entdeckung synthetischer Urteile durch Locke wird gewissermaßen mit Leibniz, nämlich der Idee einer progressiven Analysis und Aufklärung des latent Vorhandenen, begreiflich gemacht.
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datierten Reflexion (1769—72?). — Ich gehe in diesem Zusammenhang auf Probleme der Datierung auch der Vorlesungsmitschriften nicht ein, sondern lege die Angaben der Akademie-Ausgabe zugrunde. Der Begriff der „analytischen Philosophie" wird von Kant u.a. in seiner Anthropologie-Vorlesung gebraucht, vgl. das Ms. germ. Quart 400 der Berliner Kgl. Bibliothek p. 39. X X I V , 4 4 3 - 4 4 . Zum Nicht-Verstehen von Locke vgl. weiter X X I V , 122 und Refl. 5066, Zur Lockeschen Urteils-Lehre s. noch VIII, 245.
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Wir sind der Vermutung gefolgt, daß Kants Konzept der Erweiterung des Urteils und der Erkenntnis im Gegensatz zur bloß analytischen Aufklärung des schon Gegebenen von John Locke stammt. Die Vermutung wurde dadurch gestützt, daß Kant Locke als Entdecker der Differenz von Erläuterungs- und Erweiterungsurteilen ansieht. Man könnte versuchen, die Gegenwart Lockes in einzelnen Passagen der Kritik der reinen Vernunft aufzuspüren, so etwa in der — bzw. einer der — grundsätzlichen Zielbestimmung(en), die bei Kant lautet: den Grund und die Bedingungen der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori aufzudecken und diese Erkenntnis „in einem System nach ihren ursprünglichen Quellen, Abteilungen, Umfang und Grenzen . . . zu bestimmen." (A 10; vgl. A XII: „ . . . die Bestimmung sowohl der Quellen, als des Umfanges und der Grenzen . . ."). Bei Locke ist die Zielsetzung: . . . originem, certitudinem, et extremos limites humanae cognitionis indagare" (I, 1,2). Kant übernimmt von Locke das Programm seiner Erkenntnistheorie. — Aber dieses Verfahren könnte nur zum Auffinden erratischer Blöcke im Systemganzen führen. Einen Zusammenhang vermittelt erst die genetische Interpretation, der wir uns im folgenden zuwenden. Die frühen siebziger Jahre sind für Kant gekennzeichnet durch die Auseinandersetzung mit der eigenen und fremden Kritik an der Dissertation von 1770. „Die erste und vierte Sektion können als unerheblich übergangen werden, aber in der zweiten, dritten und fünften, ob ich solche zwar wegen meiner Unpäßlichkeit gar nicht zu meiner Befriedigung ausgearbeitet habe scheint mir eine Materie zu liegen, welche wohl einer sorgfältigeren und weitläufigeren Ausführung würdig wäre", schreibt Kant am 2. 10. 1770 an J. H. Lambert (X, 9 6 - 9 9 ; 98). Entscheidend also soll sein die Raum-Zeit-Theorie, und, auf ihrer Grundlage, die Lehre vom vitium subreptionis, des Für-Objektiv-Haltens bloß subjektiver (besonders sinnlicher) Erkenntniskomponenten. Es werden beiseite geschoben die Erörterungen über die Form des mundus intelligibilis (nicht deren epistemologische Möglichkeit!) von Sektion 4 und die Paradoxie im Weltbegriff (nicht deren Weiterbestehen beim Wegfall der neuen Raum-Zeit-Lehre!) von Sektion 1. Den Kritiken nun von J. H. Lambert (X, 103-111), J. G. Sulzer (X, 111-113), M. Mendelssohn (X, 113 — 116) und J. Schultz (s. Anhang) ist zweierlei gemeinsam: Keiner der Autoren akzeptiert die subjektivistische Raum-Zeit-Theorie,
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und keiner geht auf die Paradoxie im Weltbegriff ein, die Kant laut Sektion 1 mit der neuen Theorie lösen wollte. So waren einzig sein Schüler M. Herz (auf den sich Kant in keiner publizierten Schrift als Philosophen bezog) und er selbst von der Richtigkeit der neuen Lehre überzeugt; Kant konnte zu einer objektivistischen Auffassung nicht zurückkehren, wie seine Rezensenten es leichterhand vorschlugen, und fand, daß die eigene Lösung nicht überzeugte. Kant mußte versuchen, den Ansatz, dessen Notwendigkeit er für bewiesen hielt, besser zu gestalten. Ein entscheidendes Argument, das Kant zu einer Korrektur veranlaßte, bezog sich auf die Rolle der Zeit. J . Schultz stellt dogmatisch an den Anfang seiner Kritik die These, daß ein intuitus intellectualis möglich ist: „Denn vermöge der innerlichen Empfindung beschauet die Seele sich selbst und alles, was gegenwärtig in ihr vorgeht" (s. unten S. 63). Kant hatte dieser Gegenposition selbst in die Hände gearbeitet durch eine fundamentale Unklarheit in seiner Zeitlehre: Die Dissertation faßte die Zeit nicht nur als Prinzip der Anschauung, sondern auch des Denkens. Der intellectus humanus ist insgesamt der Zeitlichkeit unterworfen (vgl. Anmerkung 2 von § 1; sodann § 28). Es ist also dem Einwand von Schultz stattzugeben — und damit zu einer objektivistischen Raum-Zeit-Theorie zurückzukehren — oder es muß die Intellektualerkenntnis von der sinnlichen wirklich getrennt werden. Kant faßt in seinem Brief an M. Herz vom 21. 2. 1772 (X, 1 2 9 - 1 3 5 ; 134) die Zeit als Form der inneren Sinnlichkeit, man muß lesen: nur als diese, und zwar in zweifacher Abgrenzung. Die Zeit ist nicht die Form der äußeren Anschauung und nicht die Form des Denkens. Beides hatte er in der Dissertation vertreten. Mit der neuen Auffassung vertritt Kant die gleiche Position wie John Locke: Die Zeit ist das Prinzip unseres Vorstellungswechsels, erst vermittels dieses auch das Prinzip des räumlichen Geschehens, und sie hat keinen Einfluß auf die Prinzipien des Verstandes wie z. B. den Satz vom Widerspruch. 1 4 Mit der Restriktion der Zeit auf die Form des inneren Sinnes kann der Raum der Zeit vorangestellt werden, wie es in der Kritik der reinen Vernunft geschieht. Die 14
Vgl. zur subjektivistischen Zeitauffassung Lockes Essay II, 14. L o c k e formuliert, wenn ich richtig sehe, den Satz vom Widerspruch nie mit einer Zeitbestimmung; die lateinische Ubersetzung allerdings bringt regelmäßig das simul hinein, s . z . B . I, 2 , 4 ; 12; IV, 1 , 4 ; 7 , 5 (ed. 1709 und 1741).
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genetische Analyse folgt dort dem Prozeß der Bewußtseinskonzentration von außen nach innen, von der — mit Locke — sensatio zur reflectio. Aber ist Locke in den siebziger Jahren überhaupt ein akzeptabler Autor für Kant? Er ist gewiß ein aktueller Philosoph, wenn sich die Aktualität nach den Vorstellungen des Philosophenkönigs richtet, der eine Anweisung an alle preußischen Fakultäten von 1770 mit der Randnotiz versah: „Die Professores müssen in der Medizin besonders bei des Boerhaven's Methode bleiben, in der Astronomie Newton, in der Metaphysik Locke folgen". 1 5 Wenn Locke in den siebziger Jahren für Kant eine Rolle spielen soll, so wird nach dem Vorhergehenden die erste Frage die nach der Konsequenz oder Inkonsequenz seiner Vorstellungen in der Beurteilung Kants sein. Hält Kant eine Inkonsequenz für nicht so gravierend, oder ist Locke in seinen Augen ein konsequenter Autor? Die Frage läßt sich eindeutig beantworten. In der Enzyklopädievorlesung heißt es: „Locke, der für einen Anhänger des Aristoteles gehalten wird, behauptet, daß alle unsere Begriffe erworben sind. Die Begriffe liegen nicht in uns, sondern das Vermögen zu reflektieren. Aristoteles glaubte, daß unsere Erkenntnisse aus den Sinnen geschöpft sind und entspringen. Das lehrte Locke nicht, sondern daß sie bei Gelegenheit der Sinne entspringen" (XXIX, 1, 1,16) 16 . Vermutlich die gleiche Auffassung gibt eine Reflexion wieder: „ . . . Locke hatte das Vorzügliche, daß, da er die intellectualia nicht vor connata erkannte, er den Ursprung suchte . . . die intellectualia des Plato waren angeboren, weil sie intuitus sind, des Aristoteles waren erworben als conceptus. Sie sind aber nicht von den Sinnen entlehnt, sonst könnte Locke sie nicht über die Grenzen der Erscheinung brauchen" (Refl. 4894). Kant also vertritt hier die genau entgegengesetzte Position von der, die sich in der Kritik der reinen Vernunft findet. Die frühe Konsequenz-These faßt die reflectio als freie Verstandeshandlung, die spätere These der Inkonsequenz identifiziert die reflectio mit dem sensus internus. Bei der ersten Auffassung wird unterstellt, daß alles Material der menschlichen Erkenntnis durch die äußeren Sinne kommt und dann im 15
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Zitiert nach Adolf von Harnack, Geschichte der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Berlin 1900, I, 1, 373. Kant wird an die Vorrede der Nouveaux Essais denken, in der Leibniz sein eigenes System dem Platonischen, das Lockesche dem Aristotelischen angleicht.
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Verstand bearbeitet wird, wobei die reflectio unserer Tätigkeit zusieht: „reflectionem voco, cum ideae, quas praebet (sc. die reflectio), tales tantummodo sunt, quales mens ex suarum intus operationum contemplatione adipiscitur" (Essay II, 1,4). Die zweite Interpretation nimmt sensatio und reflectio bzw. sensus internus als zwei selbständige Materialquellen. Locke selbst neigt meist dieser zweiten Auffassung zu. Leibniz versuchte zu zeigen, daß man den Anfang von Buch II auch im Sinn der ersten Auffassung interpretieren kann: „Peutestre que nostre habile Auteur ne s'eloignera pas entièrement de mon sentiment. Car après avoir employé tout son premier livre à rejetter les lumieres innées, prises dans un certain sens, il avoue pourtant au commencement du second et dans la suite que les idées qui n'ont point leur origine de la sensation, viennent de la reflexion. O r la reflexion n'est autre chose qu'une attention à ce qui est en nous, et les sens ne nous donnent point ce que nous portons deja avec n o u s . " 1 7 . O b diese Interpretation von Leibniz Kants eigene Locke-Auffassung beeinflußt hat, wird sich schwer entscheiden lassen. Sie stimmt jedenfalls mit der von ihm in den siebziger Jahren zeitweilig vertretenen überein. Locke also wird als konsequenter Autor gesehen. Kant ist der Meinung, in ihm den für ihn wichtigsten philosophischen Autor zu haben: „ L o c k e n s Buch de intellectu humano ist der Grund von aller wahren L o g i c a " ( X X I V , 37). „ L o c k e hat den allerwesentlichsten Schritt getan, dem Verstand den Weg zu bahnen. Er hat ganz neue criteria angegeben. Er philosophiert subjective, da Wolff und alle vor ihm objective philosophierten. Er hat die Genesin, die Abstammung und den U r sprung der Begriffe untersucht. Seine Logik ist nicht dogmatisch, sondern kritisch. Wolff fragt: was ist ein Geist? Locke: wo kommt die Idee
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Die Passage findet sich im 4. Absatz der Vorrede der Nouveaux Essais (G. W. Leibniz, Die philosophischen Schriften, ed. C . J. Gerhardt, Berlin 1882, V, 45). Das Problem der Fassung des inneren Sinnes als einer psychologischen Wahrnehmung oder bloßen Verstandeshandlung geht zurück auf den Grundtext aller Erkenntnistheorie, den Dialog Theätet; Plato spricht bei' der Gewinnung von durch die äußere Sinnlichkeit nicht gegebenen Begriffen sowohl von einer Wahrnehmung (aisthesis) der Seele wie auch von einem nicht-sinnlichen Akt der dianoia; vgl. 184d—185e. Hier ist auch der Ursprung bloß aufgezählter Verstandesbegriffe und ihres Gegensatzes zu finden, Plato nennt Sein und Nichtsein, Gleichheit und Ungleichheit, Identität und Verschiedenheit, Eines und Viel-Zahl ( 1 8 5 c 9 - d l ) .
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vom Geist in meiner Seele her? Sie hat niemals einen Geist gesehen; woher kommen diese Gedanken?" (XXIV, 338). 18 Locke also vertritt die fortschrittlichste erkenntnistheoretische (hier noch „logisch" genannte) Position, und Kant schließt sich ihm an. „Jetzt endlich lebt am meisten die kritische Philosophie auf, und die Engländer haben darin das größte Verdienst" (XXIV, 37). — Die Meinung, Locke sei im Gegensatz zu Aristoteles ein konsequenter Autor, beruhte, so zeigte sich, auf der Ansicht, er leite Verstandesbegriffe nicht aus der Empirie ab, sondern gewinne sie bei Gelegenheit der Erfahrung. Diese Vorstellung nun deckt sich mit der Position, die Kant selbst an einer Stelle in der Dissertation vertritt: die Begriffe der Metaphysik „non quaerendi sunt in sensibus, sed in ipsa natura intellectus puri, non tamquam conceptus connati, sed e legibus menti insitis (attendendo ad eius actiones occasione experientiae) abstracti, adeoque acquisiti" (§ 8; vgl. XXIV, 452 und Refl. 4172 letzter Satz). Die Verortung dieser Gruppe der traditionellen Verstandesbegriffe — possibilitas, existentia, necessitas, substantia, causa, etc. —19 im Theoriekonzept der Dissertation scheint schwer möglich zu sein, denn sie sind weder Intellektualbegriffe des usus realis noch des usus logicus, die im § 5 als einzig mögliche Varianten vorgestellt werden. Sie gehören nicht zum usus logicus, weil sie nicht nur vorgegebenes Material ordnen und nach dem Satz vom Widerspruch vergleichen; sie gehören nicht zum usus realis, weil dieser 18
Vgl. Leibniz a . a . O . 76: „ . . . car il est incontestable que les sens ne suffisent pas pour en faire voir la nécessité (sc. der vérités nécessaires), et qu'ainsi l'esprit a une disposition (tant active que passive) pour les tirer luy même de son fonds; quoyque les sens soient nécessaires pour luy donner de l'occasion et de l'attention pour cela . . .". Kant: „Zwar können wir nur bei Gelegenheit der sinnlichen Empfindungen diese Tätigkeiten des Verstandes in Bewegung setzen und uns gewisser Begriffe von den allgemeinen Verhältnissen abstrahierter Ideen nach Gesetzen des Verstandes bewußt werden; und so gilt auch hier Lockens Regel, daß ohne sinnliche Empfindung keine Idee in uns klar wird; . . . (Refl. 3920, datiert gegen Ende 1769). Ahnlich, 254, 19-24; 452, 2 9 - 3 1 .
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Vgl. Leibniz a . a . O . 100: „ O r l'ame renferme l'estre, la substance, l'un, le même, la cause, la perception, le raisonnement, et quantité d'autres notions, que les sens ne sauraient donner. Cela s'accorde assés avec vostre Auteur de l'Essay, qui cherche la source d'une bonne partie des idées dans la reflexion de l'esprit sur sa propre nature". Derartige Aufzählungen von Grundbegriffen begegnen auch bei andern Autoren (z.B. Descartes in einem Brief an Elisabeth vom 21. 5. 1643 (in der Werkausgabe von Adam und Tannery, Correspondance III, 663—68 [665]); R. Cudworth, De aeternis justi et honesti notionibus IV, 1, 8 u. ö. in der Ausgabe des Systema huius universi von Mosheim, Leyden 2 1773, II, 685—86); bei Locke gibt es keinen derartigen Katalog von Intellektualbegriffen.
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die Dinge so erkennt, wie sie reverá sind und nicht, wie sie uns in raumzeitlicher Erfahrung erscheinen. Diese Fundamentalbegriffe bilden die Keimzelle der späteren Kategorien; am Anfang der siebziger Jahre weiß sich Kant mit Locke einig über die Form ihres Ursprungs. Kant scheint sich auch bei der weiteren Suche nach einer theoretisch befriedigenden Fassung der Verstandesbegriffe an Locke zu orientieren. Dazu folgende Überlegung: In den Logiken Blomberg und Philippi unterscheidet Kant das logische vom Realwesen; das erstere heißt auch Nominalwesen. „Der erste Grund alles desjenigen aber, was in den Begriff der Sache von mir gedacht wird, ist das logische Wesen. Der erste Grundbegriff aber von all dem, was der Sache sehr wirklich und in der Tat zukommt, ist das Realwesen" (XXIV, 116). Das logische Wesen umfaßt das, was ich mit einem bestimmten Ausdruck verbinde; so denkt man sich beim Wort „Materie" Ausdehnung, Undurchdringlichkeit etc. Das Realwesen dagegen „begreift überhaupt alles das in sich, was einer Sache nur je wirklich zukommen kann" (XXIV, 117). Von keinem Erfahrungsgegenstand läßt sich je das Realwesen erkennen — „daher hat sich Locke bemüht anzuzeigen, daß niemand, so gelehrt er auch sei, eine richtige Definition vom Menschen anzugeben im Stande sein könne" (XXIV, 124) 20 . Der Archetypos, das Exemplar der Erkenntnis, ist nicht in unsere Gewalt gegeben, die Erfahrung kann uns mit neuen Merkmalen einer Sache vertraut machen, die wir vorher nicht kannten: „Bei den empirischen Begriffen sind Dinge außer uns . . . die Exemplaria und unsere Begriffe sind die Exemplata" (XXIV, 124). Anders ist dies bei den Begriffen der Mathematik und der Moral; bei ihnen wird der Gegenstand von uns selbst hervorgebracht, mit seiner Nominaldefinition verfügen wir zugleich über sein Realwesen. „Die definitiones der Moral sind alle real" (XXIV, 217), desgleichen die der Mathematik (vgl. u. a. XXIV, 268-269). 20
Vgl. auch die folgende Bemerkung, die auf Locke zielen muß: „ N e w t o n hat auch das Realwesen ausspähen wollen; es hat aber ein Gelehrter gezeigt, daß es unmöglich gew e s e n " ( X X I V , 409). Wenn Kant fortfährt: „Weil das Realwesen der G r u n d ist aller Erscheinungen, die man sieht; so kann man es nicht einsehen. Denn aus der Wirkung kann man nicht den Grund einsehen", so wird man schließen dürfen, daß L o c k e als Ferment bei der Destruktion der in der Dissertation noch vertretenen Intellektualerkenntnis der Dinge an sich wirkt.
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Jeder Leser des Essay concerning human understanding erkennt hier die Lockesche Scheidung von nominal und real essence und die von Archetypos und Ektypos wieder. Locke orientiert sich an ihr erstmals am Ende des zweiten Buches (Kapitel 30 und 31), die gesamte Erörterung von Buch III ist hieran strukturiert und in Buch IV benutzt sie Locke unter anderem für die Erörterung der Realität unserer Erkenntnis (IV, 4). Es werden hierbei drei Klassen von Vorstellungen erörtert: die einfachen Ideen, die modi und die Substanzen; bei den ersten beiden ist eine Identität von Nominal- und Realessenz gegeben, nicht jedoch bei der dritten Klasse. Bei den ideae simplices ist die menschliche mens „pure passiva" (II, 30, 3), sie sind immer real und adäquat, von ihnen gilt das „rerum veritati convenire" (II, 30,2). „Die einfachen Begriffe haben das Merkmal an sich, daß sie jederzeit wahr sind", heißt es bei Kant ( X X I V , 88, Zeile 31—32; vorher „simple Ideae", Zeile 13). Bei den modi mixti wie den Vorstellungen der Moral und der Mathematik gilt: „Hae ideae cum ipsaemet Archetypae sint, nequeunt ab Archetypis suis differre" (II, 30,4), Real- und Nominalessenz fallen wie bei den ideae simplices zusammen. „Complexae nostrae modorum ideae, cum voluntariae collectiones sint idearum simplicium, quae per mentem conjunguntur, sine respectu ad reales Archetypos, aut perpetua quaedam et certa exemplaria alicubi existentia, sunt et quidem non possunt non esse ideae adaequatae" (II, 31,3). Anders bei den Substanzen. Der Archetypos liegt außerhalb der Idee, die damit weder real noch adäquat ist. „Archetyporum istorum ectypa haec imperfecta sunt et inadaequata" (II, 31,6). Die von Locke entwickelte Struktur benutzt Kant im Brief an * Markus Herz vom Februar 1772 bei der Exposition des Grundproblems der „Kritik der reinen Vernunft", und zwar in folgender Weise: Verstehbar ist die Möglichkeit des intellectus archetypus und ectypus. Beim ersteren werden die Objekte vom Verstand selbst erzeugt wie in der Moral (X, 130, Zeile 27) und der Mathematik ( X , 131, Zeile 11), beim zweiten enthält „die Vorstellung nur die Art, wie das Subjekt von dem Gegenstand affiziert wird" (X, 130, Zeile 9 - 1 0 ) . Aber wie ist die Beziehung von dem, „was man in uns Vorstellung nennt" ( X , 130, Zeile 8 und 17) auf Gegenstände der Erfahrung zu verstehen? Die Antwort auf diese Frage, die Kant bis dahin „sowie andre" (nicht: wie alle andern Philosophen) außer acht gelassen hatte, enthält den
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Schlüssel zu der sich selbst noch verborgenen Metaphysik (X, 130, Zeile 3-6). Locke hatte die Frage exponiert, aber nicht in der gleichen Radikalität wie Kant. Nach Locke bezieht sich unser Begriff auf bestimmte Gegenstände, ohne diese je in ihrer gesamten Komplexität zu erfassen. Nominal- und Realessenz fallen immer auseinander; entsprechend ist eine Naturwissenschaft im strengen Sinn nicht möglich, wohl aber ein Korrekturprozeß unserer Ideen von den Dingen. Kant sieht hier vielleicht schon die drohenden Konsequenzen von H u m e : Locke ist, nimmt man ihn beim Wort, Skeptiker. Die Frage muß daher grundsätzlich gestellt und beantwortet werden: Wie ist eine Beziehung der Vorstellungen in uns auf Gegenstände überhaupt möglich? Der Unterschied in der Radikalität der Fragestellung hängt mit dem oben erörterten Problem des Ursprungs der Verstandesbegriffe zusammen. Lockes w a y of ideas verbietet in Wirklichkeit die Annahme von Begriffen apriori, die bei Gelegenheit der Erfahrung in uns evoziert werden und die die reflectio bei der Analyse unserer Verstandestätigkeit entdeckt. Lockes Begriffe verdanken sich der Erfahrung, und damit ist ihre Anwendung auf Erfahrung problemlos möglich — nur eben die Adäquatheit ist nicht gewährleistet, weil wir immer neue Entdeckungen an den Dingen, die wir nicht selbst erzeugen, machen können. Anders bei Kant. Die Begriffe, mit denen wir Erfahrungen machen, sollen Begriffe des intellectus purus sein, ihr Ursprung liegt also in einer Quelle, die mit Erfahrung nichts zu tun hat. Die Radikalität der Frage beruht also darauf, daß die beiden zusammenzubringenden Elemente Sinnlichkeit und Verstand völlig heterogen sind. Kant will in seiner neukonzipierten „Kritik der reinen Vernunft" jetzt die Natur und Grenzen der Metaphysik bestimmen (X, 132, Zeile 1 und 12). Der hier verwendete Grenzbegriff ist identisch mit dem Lockeschen, nicht mit dem, den Kant selbst in dem zunächst geplanten Werk mit dem Titel „Die Grenzen der Sinnlichkeit und der Vernunft" (X, 129) verwendet. Dieser letztere Titel gibt in einer etwas ungenauen Form das Unternehmen der Bestimmung der Prinzipien des mundus intelligibilis und sensibilis der Dissertation wieder; ungenau deswegen, weil das Thema der Schrift nicht eine unparteiische Grenzfixierung ist, sondern die Grenzverletzung durch die bloß subjektive, besonders die
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sinnliche Erkenntniskraft 21 . Es wird die Metaphysik gerettet gegen Angriffe des Empirismus, nicht umgekehrt die sinnliche Erkenntnis vor Ubergriffen des Intellektuellen geschützt und der Friede durch die Festlegung der beiderseitigen Grenzen hergestellt (so wenig wie später in der Moralphilosophie die Grenze von Sinnlichkeit und Vernunft fixiert, sondern die praktische Vernunft gegen das vitium subreptionis der Sinnlichkeit verteidigt wird). Mit der Formulierung des Briefes an J. H. Lambert vom 2. 9. 1770: es handelt sich um eine Wissenschaft, „darin den Prinzipien der Sinnlichkeit ihre Gültigkeit und Schranken bestimmt werden, damit sie nicht die Urteile über Gegenstände der reinen Vernunft verwirren, wie bis daher fast immer geschehen ist" (X, 96—99; 98). Es ist eine Propädeutik, „welche die eigentliche Metaphysik von aller solcher Beimischung des Sinnlichen präservierte" (ibid.) Die Besinnung nur auf die theoretische Philosophie (X, 129—130) führt zur Grenzbestimmung der Metaphysik im Lockeschen Sinn einer Erkenntnislimitierung überhaupt — wiederum ein der deutschen Schulmetaphysik unbekanntes Vorhaben. Die eingangs erläuterte Erweiterung des Realbestandes wird vollzogen vor dem Hintergrund einer Limitierung der grundsätzlichen Möglichkeit, und hier tritt Kant von der traditionellen Metaphysik, die er in der Dissertation retten wollte (wenn auch mit dem Zugeständnis eigentümlicher Formprinzipien an die Sinnlichkeit) völlig zu Locke über: Ohne Sinnlichkeit ist Erkenntnis nicht möglich, die Metaphysik mit ihren drei großen Themen Ich, Welt, Gott kann nicht halten, was sie versprach. Und umgekehrt: Ohne die Aufhebung einer reinen Intellektualerkenntnis gibt es keine Erkenntnis der Erscheinungswirklichkeit, die erkenntniszerstörende Dialektik der Vernunft ermöglicht erst die Analytik des Verstandes. Mit dieser dialektischen Verschränkung von Begrenzung und Erweiterung (von deren genauer Fassung vor allem durch die Entwicklung der Antinomien der reinen Vernunft Kant am Anfang der siebziger Jahre noch weit entfernt ist) wird präzisiert, was im Lockeschen Essay gelehrt wird. Locke benutzte die Programmformel des Essay conceming human understanding auch für die Schrift, in der er seine staatsrechtlichen Prin21
Auch J. Schultz spricht von einer bloßen „Vermischung des Sinnlichen und Intellectualen", vgl. unten S. 59. Im Brief an J. Bernoulli v o m 16. 1 1 . 1781 formuliert Kant ebenfalls in diesem Sinn: „Im Jahre 1770 konnte ich die Sinnlichkeit unserer Erkenntnisse durch bestimmte Grenzzeichen ganz wohl vom Intellektuellen unterscheiden . . ." (X, 2 7 6 - 7 9 ; 277).
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zipien darlegte: „ A n Essay concerning the True Original, Extent, and End of Civil Government" lautet der Untertitel des Second Treatise of Government. In dem Toleranzbrief von 1689 lautet die Formel „This is the original, this is the use, and these are the bounds of the legislative" 22 . Die Grenzen der Erkenntnis und des civil government bemessen sich jeweils an dem menschlichen Subjekt; das souveräne Ich ist die alle Erkenntnis und Staatsmacht stiftende, erfüllende und begrenzende Instanz. Bei Descartes war das cogito nur Garant und Muster einer möglichen gewissen Erkenntnis; es spielt, sobald es als solches gewonnen ist, keine konstitutive Rolle mehr für die weiteren Schritte in der Erkenntnisgewinnung. Bei Locke ist das reale, die Erkenntnis erzeugende Subjekt im ganzen Essay präsent, es wird zum wirklichen Ort des Geschehens. Nur eine vom Subjekt selbst vollzogene, selbst produzierte Erkenntnis kann Anspruch auf diesen Titel erheben — sie ist entweder meine, weil von mir erzeugte Erkenntnis oder wertloser Schein. Diese Idee bestimmt das ganze Werk wie die analoge politische Idee der Selbstbestimmung den Second Treatise. Locke gelangt hierbei jedoch nicht zu einer systematisch-abgeschlossenen Form; schon mit dem für ein voluminöses Werk ungewöhnlichen Titel eines „ E s s a y " weist er darauf hin, daß kein Systembau intendiert ist. Vergleicht man die Kritik der reinen Vernunft mit der Dissertation von 1770, so fällt folgendes auf: In der Kritik der reinen Vernunft ist das alle Erkenntnis ermöglichende, einheitsstiftende Ich denke als transzendentales Subjekt und das Gegenstück, das denkende Ich als scheinhaftes Objekt einer rationalen Psychologie essentiell für die Idee der Theorie. Die Dissertation dagegen berücksichtigt in keiner Form das erkennende Subjekt als identisches Ich, weder die Lehre der transzendentalen Apperzeption noch die des psychologischen Paralogismus lassen sich explizit oder implizit der frühen Schrift entnehmen. Man wird vermuten, daß die Vorstellung des erkenntniserwerbenden Subjekts in der Konzeption der Kritik der reinen Vernunft der gleichen Quelle entstammt wie schon die 22
In der Ausgabe des Toleranzbriefes von Julius Ebbinghaus (Hamburg 2 1966) Seite 84. Kant wird von der politischen Philosophie Lockes keine unmittelbare Kenntnis gehabt haben. Er las mit Sicherheit keine englischen Schriften (entgegen Adickes Annahme XV, 201), und die einzige deutsche Ubersetzung des Second Treatise, Le Gouvernement Civil, oder die Kunst Wohl zu Regieren, Frankfurt und Leipzig 1718, fiel praktisch dead born from the press. Vgl. auch Diethelm Klippel, Politische Freiheit und Freiheitsrechte im deutschen Naturrecht des 18. Jahrhunderts, Paderborn 1976, 80ff. u . ö .
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Idee einer kritischen Erkenntnisbegrenzung, nämlich John Locke. Eine genetische Fixierung ist hierbei außerordentlich schwierig, weil Kant sich allmählich von Locke abzusetzen scheint und bei der Ausarbeitung der Kritik der reinen Vernunft das Instrumentarium der Wolff-Baumgartenschen Metaphysik benutzt. Locke wird zum inkonsequenten Autor, Wolff anvanciert zum ersten Logiker 23 . Die Kritik der reinen Vernunft selbst zeigt jedoch noch Elemente des Impulses, den Kant von Locke bei der Revolutionierung der Metaphysik erhielt. Auf ein Stück Lockescher Ich-Theorie hat schon Drobisch hingewiesen. Er referiert die Ausführungen aus dem Essay zum Problem vom Materialismus und Spiritualismus (IV, 3,6). Nach Locke ist eine Entscheidung zwischen den beiden Positionen nicht möglich. „Haec (sc. die Entscheidung zwischen Materialismus und Immaterialismus) est, inquam, res, quae nostram plane cognitionem transcendere mihi videtur". Wer sich auf das Geschäft einer freien Prüfung der Schwierigkeiten dieser beiden Hypothesen einläßt, „nulla inveniet argumenta, quibus alterutram sententiam confirmare et stabilire possit, quoniam, quacumque etiam ratione animam consideraverit, vel ut substantiam non extensam, vel ut materiam extensam cogitantem, difficultas, qua in horum utroque rite comprehendendo conflictabitur, seu in contrariam ipsum abducet sententiam, quoties alteram tantum ex his duabus animum applicuerit". „Ist es hier nicht, als ob man Kant hörte, der in der Kritik der psychologischen Paralogismen sich in ganz ähnlicher Weise mit folgenden Worten vernehmen läßt: „Wenn der Materialismus zur Erklärungsart meines Daseins untauglich ist, so ist der Spiritualismus zu demselben ebenso wohl unzureichend und die Schlußfolge ist, daß wir auf keine Art, welche es auch sei, von der Beschaffenheit unserer Seele, die die Möglichkeit ihrer abgesonderten Existenz betrifft, irgendetwas erkennen können"". (B 420). 24 23
Vgl. X X I V , 509: „Unter den Neueren sind zwei, die die allgemeine Logik im ganzen betrachten, nämlich Leibniz und Wolff, und des letzteren allgemeine Logik ist die beste, die man hat". Kant befindet sich bei dieser erneuten Wende wieder im Einklang mit Friedrich II. Im Erlaß an den Etats-Minister von Zedlitz von 1779 wird für die Logik das Studium von Wolff verlangt, Locke wird nicht mehr erwähnt (vgl. Œuvres, Berlin 1856, X X V I I , 3, 2 5 3 - 2 5 7 ; „Zum Unterricht in der Logik ist die beste im Deutschen von Wolff", 253).
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M. W. Drobisch a. a. O . 12. Der zitierte Locke-Text stammt aus der vierten Auflage des Essay und findet sich entsprechend noch nicht in der Burridge-Ubersetzung (die die dritte Auflage von 1695 zugrunde legt), sondern erst bei Thiele.
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Sowohl Locke wie auch Kant verfügen über eine Theorie des Selbst, die eine derartige Indifferenzerklärung der Streitfrage von Materialismus und Spiritualismus ermöglicht und erzwingt; sie wird von Locke unter dem Titel der personal identity in II, 27 entwickelt. Betrachtet man nur die theoretische Komponente, nicht die praktisch-rechtliche und theologische, so ist für die Lockesche Konzeption essentiell, daß das Ich seiner selbst in einem modus der Unmittelbarkeit auch über Zeiträume hinweg bewußt ist; das Bewußtsein meiner selbst in verschiedenen Zeiten ist keine Selbstwahrnehmung oder -beobachtung, es gibt keine Möglichkeit der Verifikation der Selbstidentifizierung, sondern ein der zeitlichen Differenz enthobenes identisches Ich im unmittelbaren Bewußtsein. Die Identität des Ich ist damit von der Identität einer — wie immer beschaffenen — Seelensubstanz gelöst. Es ist durchaus denkbar, daß ein identisches Ich verschiedenen Substanzen gleichsam innewohnt. „Diversae etenim substantiae per eandem conscientiam (Burridge: notitiam consciam) cuius sunt participes (Burridge: [ubi eius sunt participes]) non minus in unam personam, quam corpora diversa, per vitam eandem, uniuntur in unum animal, cuius Identitas, in substantiarum immutatione ista, per unitatem vitae unius continuae, servatur" (II, 2 7 , 1 0 ) 2 S . Kant benutzt die gleiche Vorstellung mit dem Bild einer Reihe von elastischen Kugeln, die ihren Bewegungsimpuls aufeinander übertragen. „ N e h m t nun, nach der Analogie mit dergleichen Körpern, Substanzen an, deren die eine der andern Vorstellungen, samt deren Bewußtsein einflößte . . . Die letzte Substanz würde also aller Zustände der vor ihr veränderten Substanzen sich als ihrer eigenen bewußt sein, weil jene zusamt dem Bewußtsein in sie übertragen worden . . . " (A 364) 2 6 . Während Locke die Identität der Person auf diesem Ich beruhen läßt, fährt Kant fort: „ . . . und demunerachtet, würde sie doch nicht eben dieselbe Person in allen diesen Zuständen gewesen sein". 25
Ausführlicher Vf. im Locke-Artikel der Klassiker der Philosophie, ed. O . Höffe, Bd. I, München 1981 und in der demnächst erscheinenden Ausgabe eines anonymen Essay on Consciousness (London 1728) bei F. Meiner, Hamburg.
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Vgl. L. Gäbe a . a . O . 103: „Das kantische Paralogismenkapitel der KrV, insbesondere Auflage A, zeigt deutliche Anklänge an Locke's Kapitel II, 27 (Anm.: Insbesondere der Gedanke der Übertragung des Bewußtseins von einer Substanz auf die andere; A 363 Anm.)" — Eine Überlegung Kants zu dem verhandelten Problem: „Locke denkt damit durchzukommen, daß er sagt: wir haben eben so wenig deutlichen Begriff vom Körper als vom Geist" (Refl. 5101, ohne sichere Datierung).
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Geht man von hier über zur Theorie der transzendentalen Apperzeption, so zeigt sich, daß Locke keinen Einfluß auf die nähere Ausgestaltung ausüben konnte. Bei ihm wird die Selbstapperzeption des Subjekts auf die Integration eines identischen Ich in verschiedenen Zeitphasen beschränkt, sie wird nicht dazu benutzt, die einheitliche logische Struktur des Erkennens zu begründen. Zum Abschluß dieser provisorischen Skizze noch folgende Überlegung: Kant hat sich bei der grundlegenden Revision der Dissertation von 1770 an Lockes Essay angeschlossen und versucht, mit ihm die neu entstandenen Probleme zu artikulieren und zu lösen. Wegen der propositiones coexistentiae (u. a. XXIV, 443—44) spielt hierbei das IV. Buch eine besondere Rolle. Am Anfang dieses Buches (IV, 1,3) fand Kant folgende Tafel: 1. Identitas aut diversitas, 2. Relatio. 3. Coexistentia, aut connexio necessaria. 4. Realis existentia. Betrachtet man daneben die Urteilstafel der Kritik der reinen Vernunft (A 70) und ihr Verhältnis zur Kategorientafel (A 80), so fällt folgendes auf: Bei beiden Autoren basiert die^ Tafel auf Handlungen des Verstandes. Bei Locke ist die erste Handlung die der Identifizierung einer gegebenen Idee: „Prima est et praecipua agitatio mentis, qua, quamprimum notionibus aut ideis quibusdam imbuitur, ideas suas dispicere, et quatenus eas dispicit, scire, quid unaquaeque sit, atque eo pacto discrimen illarum, atque alteram non alteram esse, percipere potest" (IV, 1,4). Auch in den drei andern Fällen rekurriert Locke auf die Geisteshandlung (act of the mind), deren leitender Gesichtspunkt in der Tafel angegeben wird. Es zeigte sich schon oben, daß Locke keinen Katalog höchster Intellektualbegriffe oder Kategorien kennt wie Cudworth, Leibniz oder Kant in der Dissertation. Diese höchsten Begriffe, deren man nach Locke nur durch Intuition und nicht durch labour of the thought habhaft werden könnte, wären für ihn geradezu erkenntniswidrig, da sie bloß geschenkt und nicht erworben, also nicht in unserer Gewalt wären. Locke glaubt, ihre von den Innatisten behauptete Erkenntnisträchtigkeit und überhaupt ihre Wirklichkeit im I. Buch des Essay widerlegt zu haben. Der Rekurs auf ursprüngliche Verstandesakte ist die Form, wie er zu höchsten Erkenntnisprinzipien gelangt, es ist die operationale Alternative zum widerlegten Intuitionismus. Bei Kant werden analog die traditionellen Kategorien aus ihrem logisch-ontologischen Vorgegebensein herausgelöst und aus den ursprünglichen Funk-
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tionen des Verstandes abgeleitet (wie nachher in der Dialektik die Ideen keine vom Menschen vorgefundenen Totalitäten sind, sondern sich aus den Vernunfthandlungen des Schließens herleiten). Die Vermutung, daß Kant bei der Aufhebung des traditionellen Primats der Begriffe vor dem Urteil (im Schema Begriff-Urteil-Schluß, das von Kant selbst für die Abfolge Kategorien-Grundsätze-Ideen benutzt wird) und der Entwicklung der Begriffe aus Funktionen des Verstandes im Urteil der Handlungsphilosophie von John Locke folgt, gewinnt dadurch an Suggestivkraft, daß Locke ebenso wie Kant die Handlungen des Verstandes als eine in sich notwendige und geschlossene Abfolge darstellt. Die vier Schritte folgen in dieser und keiner andern Form aufeinander 27 , in ihnen vollzieht sich eine prozessuale Annäherung von den Gedanken an die Wirklichkeit: Locke geht aus vom Vergleich beliebiger Ideen; die zweite Station bezieht sich auf Relationen, nach den Beispielen vornehmlich auf die Verhältnisse, bei denen Archetypos und Ektypos identisch sind, also in der Moral und Mathematik; es folgt dann drittens der Ubergang zur Wirklichkeit im Begriff der Substanz; der letzte Schritt bezieht sich auf die (Modalität der) Existenz. Die Lockesche Urteilstafel zeigt also die Form, wie sich Erkenntnis „gradweise dem Verstände einverleibt", um den plastischen Ausdruck Kants (A 76) zu benutzen. Es sind diese und keine andern acts of the mind für die Erkenntnis der Ideen und der Wirklichkeit hinreichend und notwendig: „Intra quatuor haec genera convenientiae et repugnantiae, omnis, puto, nostra cognitio continetur" (IV, 1,7). Daß Kant selbst von seiner Urteils- und Kategorientafel die Vollständigkeit und Notwendigkeit der in ihnen angegebenen Abfolge annahm, läßt sich vielfach belegen. Eben darin sieht er den Fortschritt gegenüber Aristoteles, der prinzipienlos die Begriffe aufraffte, wie sie ihm in den Weg kamen (A 81). Wie bei Locke, steht in der Kantischen Kategorientafel die Substanz an dritter, die Modalität des Daseins an vierter Stelle. Es wird sich auch hier schwer entscheiden lassen, ob ein genetischer Zusammenhang mit Locke tatsächlich vorliegt; als ein iudicium praevium jedoch, das sich vielleicht der weiteren Erkenntnis einverleiben läßt, scheint mir diese Vermutung nicht nutzlos zu sein.
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So wenigstens in der unmittelbar auf die Tafel folgenden Erläuterung (IV, 1,4—7). Später ( z . B . IV, 3 , 7 ) und in andern Schriften ist Locke wie üblich kein Pedant in solchen Dingen.
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Der Titel der vorliegenden Ausführungen kündigt lediglich Materialien zur Entstehung der Kritik der reinen Vernunft an. Der Grund dieser Beschränkung liegt darin, daß die Bestimmung des Einflusses Lockes auf die Kantische Schrift hier nur exponiert wurde. Es bedarf einer weiteren methodischen Absicherung und Präzisierung vor allem durch die Einbeziehung konkurrierender Positionen, so etwa im Fall der ArchetyposEktypos-Vorstellung, die nicht nur bei Locke begegnet, wenn auch die Verwendung eindeutig auf den Essay concerning human understanding zurückverweist. Des weiteren ist das Ergebnis auf den status quo der Forschung zu beziehen. Gesichert scheint mir durch die vorliegende Bestandsaufnahme folgendes zu sein: Bestimmte Details der Kritik der reinen Vernunft können nicht im bloßen Rückbezug auf die kontinentale Metaphysiktradition erörtert werden, wie dies z . B . in der einflußreichen Arbeit von H. Heimsoeth zum Persönlichkeitsbewußtsein und Ding an sich 28 geschieht — Locke wird in der gesamten Darstellung überhaupt nicht erwähnt. Das gleiche gilt für die Analyse der Urteils- und Kategorientafel: der Clou des Kantischen Ansatzes ist nicht in der Tradition der Aristotelischen Logik vorgeprägt, sondern bei Locke 2 9 . Für die Idee im Ganzen der Kritik der reinen Vernunft ist die Dialektik von Erweiterung und Limitierung menschlicher Erkenntnis fundamental; dieser Gedanke wird von Kant im Rückgriff auf den Essay gegen die Metaphysiktradition inklusive seiner eigenen Dissertation von 1770 entwickelt. Die von Kant selbst beschworene Revolution der Denkart knüpft an die Lockesche Subjektivitätsphilosophie an, in der das dialektische Konzept von Ja und Nein in der Erkenntnis verankert ist. Das erste Vorbild der Kritik der reinen Vernunft ist der Lockesche Essay, und keine andere Schrift nimmt in der Phase der Abwendung von Locke (unter Bewahrung der von ihm erhaltenen Impulse) die Stelle des Essay ein. Dies besagt jedoch nicht, daß Kant in der Konzeption der UrKritik Locke vorbehaltlos folgte. Er hielt seit 1770 an Lehrelementen 28
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Der Aufsatz erschien in: Immanuel Kant. Festschrift zur zweiten Jahrhundertfeier seines Geburtstages, Leipzig 1924, 43 — 80. Vgl. Giorgio Tonelli, La tradizione delle categorie aristoteliche nella filosofia moderna sino a Kant, in: Studi Urbinati, N . S . 32, 1958, 121 — 143. Locke wird zwar erwähnt (138, 139), aber es wird nicht seine Urteilstafel berücksichtigt.
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fest, die dem Engländer fremd sind. Das wichtigste dürfte der Formbegriff sein — er spielt für Locke keine Rolle, während er für die Kantische Raum-Zeit-Theorie und die in Analogie zu ihr entwickelte transzendentale Logik fundamental ist. Am Ende der Logik Dohna-Wundlacken findet sich ein Hinweis Kants, daß es beim Denken hauptsächlich auf zwei Stücke ankomme: „1. genau zu wissen, was man eigentlich will, und hernach 2. worauf es dabei ankommt. Nun führt er z. B. an, wieviel Mühe es ihm gemacht, da er mit dem Gedanken, die Kritik der reinen Vernunft zu schreiben, umging, zu wissen, was er eigentlich wolle. Zuletzt habe er gefunden, alles ließe sich in die Frage fassen: Sind synthetische Sätze apriori möglich? — Ja. Aber es kommt darauf an, daß wir ihnen korrespondierende Anschauung geben können" ( X X I V , 783 — 84; vgl. Anm. 2). Es zeigte sich, daß das neuartige grundsätzliche Problem der synthetischen Urteile mit Lockeschen Mitteln im Brief an M. Herz von 1772 exponiert wird. An der späteren Entwicklung scheint Locke nicht mehr beteiligt zu sein; die Kantische Lösung durch die Bezugnahme des Denkens auf eine reine Form der Anschauung ist ihm fremd, und so wird Locke aus der Endfassung des Werks eliminiert. Versucht man jedoch, Kants Idee im Ganzen und die Ideen im einzelnen der Intention des Autors entsprechend kritisch zu analysieren und auf ihre Kohärenz hin zu prüfen, so ist die Bestimmung Lockescher Elemente ein unumgängliches Hilfsmittel. Die Einbeziehung der neu edierten Vorlesungsmitschriften ermöglicht dabei eine wesentlich exaktere Bestimmung als die Benutzung nur der Kritik der reinen Vernunft, der wenigen einschlägigen Briefstellen und der kaum sicher zu datierenden Reflexionen.
Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen.
Mit allergnädigster Freyheit. 94tes Stück. Freytag, den 22. November 1771. Immanuel Kant de mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis dissertatio pro loco professionis log.et metaphys.ordin.Regiom. die XXI.Aug. 1770. Das Gepräge des Frohndienstes, das man an Schriften dieser Art zu erblicken, so sehr gewohnt ist, macht die öffentliche Anzeige derselben gemeinhin entbehrlich. Allein hier würde es Gleichgültigkeit gegen die Verbesserung der Weltweisheit seyn, wenn wir eine Schrift unangezeigt ließen, die für die Metaphysik ein so wichtiges Phänomenon, und zu dem schon entschiedenen Ruhm ihres Verfassers ein so ansehnlicher Beitrag ist. Der Herr Professor eröfnet Aussichten, die, wenn sie die Probe halten, der ganzen Metaphysik eine neue Epoche ankundigen, und selbst im Falle des Gegentheils sehr beförderlich seyn können, derselben mehr Präcision und Gewißheit zu geben. Sein Zweck ist kein geringerer, als die Metaphysik von der so sehr gewöhnlichen Vermischung des Sinnlichen und Intellectualen zu reinigen, und deshalb nicht nur die verschiedenen principia formalia der sinnlichen und verständlichen Welt aufzusuchen, sondern auch diesen principiis in der Ausübung ihre gehörige Gränzen anzuweisen. Nachdem er daher im ersten Abschnitt den Begrif der Welt genau zergliedert, welche er per Synthesin durch ein Ganzes aus Substanzen, welches kein Theil ist, erkläret, wie im Gegentheil per analysin das E i n f a c h e durch einen Theil, welcher kein Ganzes ist: so untersucht er im 2ten den Unterschied des Sinnlichen und Verständlichen überhaupt. In einer jeden sinnlichen Vorstellung unterscheidet er die Materie und die Form. Die erstere ist die Empfindung selbst, die letztere ist die
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Gattung des Sinnlichen, welche herauskommt, in so weit die verschiedenen Gegenstände welche die Sinne berühren, durch ein gewisses natürliches Gesetz der Seele coordiniret werden, und ist also eigentlich kein gewisses Schema oder Abbildung des Objects, sondern bloß ein der Seele eingepflanztes Gesetz, die empfundenen Gegenstände zu coordiniren. Was dagegen die intellectualia betrift, so setzt er einen doppelten Gebrauch des Verstandes, den r e e l l e n , der die Begriffe der Sachen und Beziehungen selber giebt, und den l o g i s c h e n , durch welchen die Begriffe, woher sie irgend kommen mögen, einander bloß subordiniret, und nach dem Satze des Widerspruchs unter einander verglichen werden. Letzterer ist daher allen Wissenschaften gemein; mithin kann das Sinnliche nie intellectual werden, so sehr man es auch logisch subordiniret und zu allgemeinen Begriffen erhebet, daher sind auch die allgemeinsten empirischen Gesetze nichts destoweniger bloß sinnlich. Die intellectualen Begriffe sind also nicht a b s t r a c k t e oder vom Sinnlichen abgezogene, sondern eigentlich a b s t r a h i r e n d e , oder r e i n e Begriffe, die der Verstand selbst giebt, ohne auf irgend andere Vorstellungen, die damit verbunden sind, Acht zu haben. D a unser Intuitus an ein gewisses princi/pium der Form gebunden ist, unter welcher allein die Seele etwas unmittelbar oder als ein Singulare wahrnehmen kann, welches der Verfasser in Raum und Zeit setzet, und unser intuitus überdem leidend ist, so können wir, sagt er, vom Intellectuellen keine anschauende, sondern bloß eine symbolische Erkenntniß haben u. s. w. Nach diesen allgemeinen Voraussetzungen untersucht der V. im dritten Abschnitt die principia der Form der sinnlichen, und im 4ten, der verständlichen Welt. Die erstem sind R a u m und Z e i t . Er beweiset daher, daß diese beiden Begriffe nicht von den Sinnen herrühren, sondern von ihnen schon vorausgesetzet werden, daß sie nicht allgemeine, sondern besondere Begriffe, und mithin reine Intuitus sind; und aus allem diesem schließt er, daß Raum und Zeit weder etwas objectives und reales, noch Substanzen, Accidenzen oder Verhältnisse, sondern nichts anders sind, als eine vermöge der Natur unserer Seele nothwendige subjective Bedingung, alles Sinnliche nach einem Gesetz zu coordiniren; und daß mithin Raum und Zeit die beiden ersten und allgemeine principia formae Universi Phaenomeni sind. D a nun Raum und Zeit bloß den subjectiven Grund von der Form der sinnlichen Welt enthalten, so bleibt noch immer die Frage übrig, auf welchem principio diese Bezie-
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hung aller Substanzen, welche intuitive betrachtet, der Raum genennet wird, beruhe, oder wie es objectiv möglich sey, daß mehrere Substanzen, sowohl materielle als immaterielle in gegenseitigem commercio seyn, und auf die Art ad idem Totum gehören, welches die Welt heißt — eine Frage, die also bloß dem Verstände auflöslich ist. Dieses principium ist nicht die bloße Existenz der Substanzen, denn vermöge derselben haben sie keine andere nothwendige Beziehung gegen einander, als daß etwa die eine die Ursache der andern ist; diese Beziehung aber ist nicht ein gegenseitiges commercium, sondern von Seiten der einen eine Dependenz, und daher ist zu ersteren noch ein besonderer Grund nöthig. Der Verfasser beweiset demnach, daß dieses principium formae mundi intelligibilis in der Dependenz aller von Einen liege. Denn da ein Ganzes aus nothwendigen Substanzen unmöglich ist, weil jede schon ihre Existenz vollkommen für sich hat, so bestehet die Welt aus lauter zufälligen Substanzen, folglich sind sie alle entia ab alio, und zwar ab Uno, denn gesetzt, sie wären caussata mehrerer nothwendiger Wesen, so könnten die Wirkungen nicht in commercio seyn, weil ihre Ursachen in keiner gegenseitigen Beziehung stehen. Mithin ist die Einheit in der Verbindung der Substanzen der Welt, eine Folge der Abhänglichkeit aller von einer einzigen Ursache; und folglich ist die Ursache der Form der Welt zugleich die Ursache ihrer Materie. Wenn dahero mehrere nothwendige Ursachen wären, so würden ihre Werke nicht eine Welt, sondern Welten seyn, und umgekehrt, wenn mehrere Welten existiren, so giebt es mehrere nothwendige Ursachen | Nachdem der Verfasser auf diese Weise die principia der Form sowohl der sinnlichen als verständlichen Welt bestimmet hat, so leitet er endlich im letzten Abschnitt hieraus den methodum circa sensitiva et intellectualia in Metaphysicis her. In allen Wissenschaften, deren principia anschauend gegeben werden, d.i. in der Naturlehre und Mathematik giebt der Gebrauch die Methode; das heißt, die Wissenschaft muß erst durch Versuchen und Erfinden einen gewissen Umfang erreichet haben, wenn man ihre Methode bestimmen will, indem hier bloß der logische Gebrauch des Verstandes statt findet. Allein in der reinen Weltweisheit, dergleichen die Metaphysik ist, wo der Gebrauch des Verstandes in Ansehung der Principien reell ist, muß die Methode der Wissenschaft vorgehen, und da man heut zu Tage von keiner eigenen Methode für die Metaphysik weiß, sondern sich bloß mit einer Logik,
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die allen Wissenschaften gemein ist, behilft: so ist es kein Wunder, daß man darinn in Jahrhunderten kaum etwas weiter gekommen ist. Der Verfasser versucht aber, hier einen Theil dieser Methode zu entwerfen, nämlich in so weit die Metaphysik von der Vermischung des Sinnlichen und Verständlichen zu reinigen ist. In dieser Absicht setzt er die allgemeine Regel fest: die eigenthümlichen principia der sinnlichen Erkenntniß müssen nicht ihre Gränzen überschreiten, und die intellectualia afficiren. D a nun die principia formalia des Sinnlichen Raum und Zeit sind; so leitet er daraus näher folgendes allgemeines principium, auf welches alle in diesem Stück fehlerhafte Grundsätze reduciret werden müssen, her: wenn von einem gewissen verständlichen Begrif etwas generaliter prädiciret wird, welches zu den Beziehungen des Raums und der Zeit gehöret; so muß der Satz nicht objective ausgesprochen werden, sondern er zeigt bloß die Bedingung an, ohne welche der gegebene Begrif nicht sinnlich gedacht werden kann. Aus diesem principio, welches er auf drey Specialfälle revocirt, folgert er dahero, daß folgende Grundsätze; nämlich: alles, was existirt, ist irgendwo und irgendwann, — eine jede wirkliche Menge läßt sich durch eine Zahl angeben — alles, was unmöglich ist, widerspricht sich — was zufällig existirt, ist einmal nicht gewesen — daß alle diese Grundsätze bloße axiomata subrepticia sind. Daher sind alle Fragen von den Oertern der immateriellen Substanzen in der Körperwelt, vom Sitz der Seele, oder warum Gott die Welt nicht eher geschaffen habe, leer und ungereimt; und die Gegenwart der immateriellen Substanzen in der Körperwelt ist nicht local, /sondern virtual. Daß daher das Weltgebäude endlich, daß das verstrichene Alter der Welt ad mensuram dabilis, daß die Anzahl der einfachen Theile eines Körpers bestimmt sey, sind bloß erschlichene Sätze, die von der Sinnlichkeit herrühren. Daher ist bey einer Kraft der Mangel des Widerspruchs noch kein Beweis ihrer Möglichkeit, und die Welt ist sempiternus i. e. omni tempori simultaneus, ob sie gleich zufällig existiret. Zum Beschluß berühret der V. noch einige ähnlich erschlichene Grundsätze, die zwar nicht von der Sinnlichkeit herrühren, aber doch den Verstand dadurch hintergehen, weil sie sich sehr zum freyen G e brauch desselben schicken, und die er daher principia Convenientiae nennet. Dahin gehöret der Satz, daß alles in der Welt nach der Ordnung der Natur geschehe. Dahin gehöret die einem philosophischen Genie eigene Neigung zur Einheit, aus welcher die Regel getroffen: die
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principia müssen nicht ohne die höchste N o t h gehäufet werden. Dahin gehöret endlich der Satz, daß nichts von Materie entstehe oder untergehe. Alle diese Sätze nehmen wir nicht deshalb an, als ob sie völlig erwiesen wären, sondern weil, wenn wir davon abgehen möchten, unser Verstand von dem gegebenen Object fast gar kein sicheres Urtheil fällen könnte. (Die Fortsetzung folgt künftig.)
Königsbergische Gelehrte und Politische Zeitungen.
Mit allergnädigster Freyheit. 95tes Stück. Montag, den 25. November 1771. Fortsetzung, des im vorigen Stücke abgebrochenen gelehrten Artikels. Wir haben uns mit Fleiß in eine etwas ausführliche Anzeige des Hauptinhalts dieser vortreflichen Schrift eingelassen, um das metaphysische Publicum auf dieselbe aufmerksam zu machen, ob wir gleich, der Kürze halber, doch noch eine Menge neuer und höchst wichtiger Betrachtungen haben übergehen müssen. Eine umständliche Beurtheilung derselben behalten wir uns in einer andern periodischen Schrift vor. Jetzo begnügen wir uns bloß, einige von unsern vornehmsten Zweifel wider die Hauptsache zu berühren. Uns dünkt zuvörderst, daß in dieser Materie vor allen Dingen die genaueste Betrachtung des Unterschieds der äußerlichen und innerlichen Empfindungen unausbleiblich nothwendig ist, welche der Herr V. indessen gänzlich übergangen. Daher kommt es, daß er §. 10. allen intuitum intellectualium für uns unmöglich hält. Ein Satz, der durch die ganze Abhandlung zum Grunde liegt, und gleichwohl unserer Meinung nach unerweislich ist. Denn vermöge der innerlichen Empfindung beschauet die Seele sich selbst und alles, was gegenwärtig in ihr vorgehet, nämlich, sie empfindet unmittelbar die Gegenwart aller Veränderungen,
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die in ihr wirklich geschehen, sie mögen herrühren, woher sie wollen, und entweder Eindrücke von äußern Dingen, oder reine Vorstellungen des Verstandes, oder volitiones seyn, und ist sich dahero derselben bewußt. Dieser intuitus ist deshalb nichts desto weniger leidend, denn die Seele wird hier eben sowohl von der Gegenwart der innern Objecte afficirt, als es bey der äußerlichen Empfindung von der Gegenwart der äußern geschieht. Es kommt daher bey der Möglichkeit des Intuitus nicht auf die Beschaffenheit des Objects, ob es materiell oder immateriell ist, sondern bloß darauf an, daß es etwas existirendes und gegenwärtiges ist; und der Satz sollte demnach also heißen: Vom Möglichen findet kein intuitus statt, sondern bloß vom Wirklichen. Wir sehen auch nicht ein, woher die Beschauung der Geister unter einander unmöglich seyn sollte. Die Untersuchung der principiorum formae mundi im 3ten und 4ten Abschnitt betrift die Hauptmaterie und verdienet dahero die strengste Prüfung. Die Art, auf welche der V. die Begriffe des Raums und der Zeit behandelt, hat uns nicht nur wegen ihrer Neuheit, sondern auch wegen ihrer Evidenz vorzüglich gefallen. N u r kommt es zuletzt auf die Hauptfrage an, ob diese beiden Begriffe die eigenthümlichen principia formae mundi sensibilis, oder ob sie nicht vielleicht principia communia formae mundi tarn sensibilis, quam intelligibilis sind. Da der V. das erstere behauptet, so wünschten wir in allen Dingen die Unmöglichkeit des letztern auf die strengste Art erwiesen zu sehen. Allein aus allen seinen Prämissen folgt nichts mehr, als daß wir ohne den Begrif des Raums und der Zeit keine anschauende Erkenntniß von der / Körperwelt haben können. Denn daraus, daß diese Begriffe Intuitus sind, folgt, wie wir gezeigt, noch nicht, daß sie die Intellectualia nicht angehen. Mithin bleibt noch immer die Hauptfrage unentschieden, ob nicht Raum und Zeit die principia der gemeinschaftlichen Form alles Existirenden sind, ohne welche kein Wesen, es sey materiell oder immateriell, als existirend gedacht werden kann. In Ansehung der Zeit scheint uns dieses fast unwidersprechlich zu seyn, und wo wir nicht sehr irren, so verrathen die feinen scharfsinnigen Bemerkungen, die der V. S. 32. macht, daß er dieses selbst empfunden hat. Denn wenn der intuitive Begrif der Zeit sich auf alle möglichen Veränderungen, sowohl in der materiellen als unmateriellen Welt erstrecket, wie der V. selbst gestehet, indem zu einer jeden Veränderung die Perdurabilität des Subjects und eine Succeßion der entgegengesetzten Zu-
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stände nöthig ist; ja da selbst zur Existenz des Unveränderlichen die Perdurabilität des Subjects, wie wohl ohne Succeßion der entgegengesetzten Zustände erfodert wird: was heißt das anders, als die Zeit ist das gemeinschaftliche principium der Form für alle existirende Wesen, ohne welche weder sie selbst, noch ihr Zustand als existirend gedacht werden können? Und wenn also der Begrif der Zeit in Ansehung der sinnlichen Gegenstände nicht ein eingebildeter sondern wahrer Begrif ist, was kann uns denn berechtigen, ihn in Ansehung der intellectuellen Objecte bloß für eingebildet zu halten? Sind die Veränderungen in einer bloß immateriellen Welt nicht eben so wahre Succeßionen ihrer Zustände, als sie es in der Körperwelt sind. Ja, da nicht nur die intellectuellen Begriffe der caussae, und des caussati, sondern so gar der Satz des Widerspruchs ohne den Begrif der Zeit nicht gedacht werden kann, wie der V. selbst anmerket; so muß in einer bloß immateriellen Welt der Begrif der Zeit entweder eben so wahr seyn, als in der Körperwelt, oder es würde folgen, daß in derselben weder der reelle noch logische Gebrauch des Verstandes statt fände, welches doch ungereimt ist. In Ansehung des Raums scheint die Entscheidung zwar etwas schwerer zu seyn, aber sich doch auf eben die Seite zu neigen, als bey der Zeit. Der intellectuelle Begrif, den wir von einem Subject haben, ist weiter nichts als eine Beziehung gegen etwas anders, welches wir Kraft oder überhaupt Accidenz nennen. | Indessen ist ein Subject nicht eine bloße relatio, oder notio generalis, sondern ein absolute existens singulare, welchem die Existenz unmittelbar zukommt, dahingegen die Existenz der Accidenzen und Kräfte bloß eine mittelbare oder relative ist, und ihnen nur in so fern beigeleget wird, in wie fern sie zum Zustande des Subjects gehören. Mithin gehöret zum vollständigen Begrif des Subjects, daß es nicht nur in abstracto oder Beziehungsweise gegen das Accidenz, sondern außer diesem zugleich als ein singulare in concreto gedacht werde. Letzteres aber ist per notiones generales nicht möglich, folglich bloß per intuitum, und dieser ist eben der Raum. Mithin ist der Raum das principium der Form, ohne welche kein vollständiger Begrif einer Substanz, sie sey, welche sie wolle, möglich ist. Was endlich das principium formae mundi intelligibilis betrift, welches der Herr V . in der Dependenz aller von Einem setzet; so tragen wir kein Bedenken, dasselbe schlechterdings für unrichtig zu erklären. Denn aus dem Beweise des V. folgt nichts mehr, als daß die Substanzen in der
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Welt alle von einer einzigen nothwendigen Ursache abhängen müssen, und dieser Schluß ist schön und richtig. Daß aber umgekehrt alle Substanzen, die von einer einzigen nothwendigen Ursache abhängen, deshalb eine einzige Welt ausmachen, die ist nicht nur unerwiesen, sondern auch unrichtig. Denn warum sollte die nothwendige Ursache nicht verschiedene Tota hervorbringen können, deren keines mit dem andern in commercio ist? Der Natur der Substanzen ist dieses nicht zuwider, denn da eine jede derselben zufällig ist, so ist auch ihre Verknüpfung zufällig. Der Nothwendigkeit ihrer Ursache ist es eben so wenig zuwider, denn da diese nichts im Wesen der Substanzen ändert; so ist sie der Zufälligkeit ihrer Verknüpfungen eben so wenig hinderlich, als der Zufälligkeit ihrer Existenz. Und da dieses von einer jeden nothwendigen Ursache mit allen ihren Caussatis besonders gilt; indem keine einzige durch ihre Nothwendigkeit der Zufälligkeit der Verknüpfungen ihrer caussatorum Eintrag thut; so kann es auch der Einheit ihrer Ursache nicht zuwider seyn. Mithin ist die Verbindung der Substanzen zu einem Toto kein Folge ihrer Dependenz von Einem; und wir wundern uns dahero um so mehr, wie der V. letztere zum principio der erstem annehmen können, indem er § 22. selbst gestehet, daß ihm der Schluß von einer gemeinschaftlichen Ursache aller Substanzen auf ihre gegenseitige Verknüpfung und also auf die Form der Welt nicht einleuchtend genug vorkomme; an dieses doch gerade der Sinn seines principii ist. | Wir sehen uns genöthiget, um nicht zu weitläuftig zu werden, unsere Gedanken über verschiedene andere wichtige Puncte zurückzuhalten; und ob gleich wir selbst in der Hauptsache durch die Gründe des V. noch nicht überzeugt genug sind; so sind die Aussichten, die er eröfnet, uns gleichwohl so schätzbar, daß wir kein Werk kennen, welches mehr Stoff zur Verbesserung der Metaphysik darbieten könnte. Wir halten es daher für den Beruf eines jeden Metaphysikers, dasselbe aufs sorgfältigste und unpartheiisch zu untersuchen, und für eine Pflicht des Herrn Prof. sein metaphy/sisches System der Welt im Ganzen mitzutheilen. Wenigstens verbitten wir, ehe die Grundsätze des V. genau untersuchet, und ihre Richtigkeit oder Unrichtigkeit entschieden ist, alle fernere metaphysische Systeme, weil wir bey aller ihrer Gründlichkeit doch immer besorgen würden, ob man uns nicht sinnliche Waare für intellectuelle verkaufe. Kostet in der Kanterschen Buchhandlung 15 gr.
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Anmerkungen
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zur Schultz-Rezension
Der Wiedergabe der anonymen Rezension von Johann Schultz liegt eine Kopie der Universitäts-Bibliothek Bremen zugrunde. Es wurden außer zwei sinnentstellenden Druckfehlern (s. Anmerkungen) lediglich die Absätze so geändert, wie es der eindeutigen Disposition des Autors entspricht. Vertikale Striche (|) geben die Absätze des Originals an, Seitenwechsel des Originals sind mit Schrägstrichen (/) markiert. Die Zuschreibung der Rezension ist besonders durch die Bezugnahmen Kants völlig gesichert, vgl. die Verweise in der Akademie-Ausgabe XIII, 676 s. v. Johann Schultz (1739-1805). Seite 59, Zeile 17-22 Zur unkorrekten Kennzeichnung des Programms der Dissertation vgl. oben S. 51. Die Vorstellung von Schultz ist identisch mit der von Kant im Jahre 1771 (vgl. X, 123, Zeile 2,3 und rückblickend 129, Zeile 29), daher kann Kant 1772 schreiben, Schultz habe „die Absicht des Lehrbegriffs gut eingesehen" (X, 133). Seite 59, Zeile 2 3 - 2 6 Schultz übergeht den Inhalt der I. Sektion als unerheblich und referiert nur die „expositio" des ersten Satzes. Kant erklärt nicht, wie er formuliert, den Begriff der Welt und des Einfachen per synthesin und per analysin, sondern sagt, in einem substantiellen Zusammengesetzen werden die Analysis durch das Einfache, die Synthesis durch die Welt begrenzt; der Grenzbegriff („conceptus terminator") ist zentral für die Ausführungen. Seite 60, Zeile 1 Kant spricht im § 4 von der species oder forma der sensibilia, was natürlich nicht mit „Gattung" wiederzugeben ist, sondern mit „Gestalt". Seite 60, Zeile 4 Schultz versucht „proprie non est adumbratio aut Schema quoddam obiecti" zu übersetzen. Seite 60, Zeile 26 Schultz spricht durchgehend von „Raum und Zeit" wie auch Kant von „spatium et tempus" (§ 10, § 25), die Zeit wird jedoch vor dem Raum erörtert. Seite 61, Zeile 25 Im Text steht statt „auf diese Weise": „auf dieser Reise" Seite 63, Zeile 1 8 - 1 9 Hierzu ist Schultz vermutlich nicht gekommen, vielleicht weil Kant die Dissertation selbst nicht mehr akzeptierte. Eine indirekte Bestätigung, daß nur die vorliegende Rezension von ihm publiziert wurde, läßt sich dem Brief von Kant vom 3. 8. 1781 (X, 274) entnehmen „Ew.HochEhrw. bewiesen einmal in einer Rezension, womit Sie meine Inauguraldissertation beehrten, daß Ihre Scharfsinnigkeit..." — Kant ist offenbar nur die eine Rezension bekannt. Seite 64, Zeile 33 Es handelt sich um das Scholion zum § 22.
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Seite 65, Zeile 1 3 - 1 4 Vgl. Corollarium der Sectio III ( „ . . . quid sit impossibile, iudicare non possum, nisi de eodem subiecto eodem tempore praedicans A et non A " ) und § 28, Abs. 3. Seite 65, Zeile 25 Im Text steht: „bloß eine unmittelbare oder relative Ist". Ich folge bei der Korrektur einem Hinweis von Klaus Reich. Seite 66, Zeile 3 4 - 3 6 Zur Formel der Aufschiebung (suspensio) von Untersuchungen vgl. bei Kant X X I V , 192, 435, 546, 640, 860; Refl. 2508, IV, 255, 380.
PETER BAUMANNS,
Bonn
Anschauung, Raum und Zeit bei Kant I Von einer philosophischen Theorie des Raumes und der Zeit ist zu fordern, daß sie das Wesen dieser Gegenstände unter den Gesichtspunkten des Sein und der Erkenntnis bzw. Erkennbarkeit auf letztmögliche Weise durchdringe. Alle Aussagen über Raum und Zeit, heißt dies, die mit Wahrheitsanspruch auftreten, müssen mit der Philosophie der Zeit und des Raumes zusammenstimmen können. Umgekehrt aber gilt auch, daß in der Philosophie des Raumes und der Zeit den Evidenzen des vorbzw. frühphilosophischen Bewußtseins des Alltags wie der Einzelwissenschaften explizit oder auch bloß im Bestand des Gedachten Rechnung getragen sein muß. Zu den der Theorie vorgegebenen Bestimmungen von Zeit und Raum sind die folgenden zu zählen: die Unterscheidung von Nacheinander und Nebeneinander, die Unterscheidung von vorher (früher) und nachher (später) inbezug auf einen bestimmten Zeitpunkt, von realiter seiend, nicht mehr seiend und noch nicht seiend inbezug auf einen bestimmten Zeitpunkt, die Unterscheidung von vor und hinter und überhaupt alle Lokalisierungen inbezug auf einen bestimmten (festbestimmten oder wechselnd bestimmbaren) Ort, die Unterscheidung zwischen der Zeit bzw. dem Raum und dem Zeitlichen bzw. Räumlichen, die Unterscheidung zwischen Zeit bzw. Raum und den Zeiten bzw. Räumen (Zeitpunkten, Zeitstrecken, größeren und kleineren örtern), die Unterscheidung zwischen Zeit bzw. Raum oder auch dem Zeitlichen bzw. Räumlichen oder auch den Zeiten bzw. Räumen und ihrem Maß (die Unterscheidung zwischen dem Maß und dem Meßbaren, worin immer es zu setzen sein mag), die Unterscheidung von Einheit, Ganzheit, Kontinuität und Homogenität inbezug auf Zeit und Raum, die Unterscheidung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft als die Unterscheidung primär von jetzt-vorhin-demnächst, die
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sich mit der Unterscheidung von vor und nach, vorher und nachher nicht deckt, die Unterscheidung von Sukzession und Ordnung der Sukzession bzw. Anordnung des Sukzessiven im Sinne von Abstandsregelung, Sukzessionshäufigkeit, Sukzessionsrichtung und Richtungsvariabilität bzw. -reversibilität. Kants Lehre von Raum und Zeit, die innerhalb der „Kritik der reinen Vernunft" mit der transzendentalen Ästhetik ihren Anfang nimmt, kann so interpretiert werden, daß sie, obwohl sie die vorphilosophischen Desiderate weitgehend erfüllt, in Aporien führt. Und zwar zeigen sich extreme Schwierigkeiten sowohl im Bereich der grundlegenden Begriffe als auch im Argumentationsgefüge zugunsten der Idealität von Raum und Zeit als Anschauungsformen a priori.
II Es sei auswahlweise gefragt: Was versteht Kant unter „Anschauung", „Erscheinung" und „Ding an sich"? Nach dem berühmten Ausspruch A 51/B 75 sind Gedanken ohne Inhalt leer, Anschauungen ohne Begriffe blind. Nach A 19/B 33 zweckt das Denken als Mittel auf die Anschauung ab. Nach A 91/B 123 bedarf die Anschauung der Funktionen des Denkens auf keine Weise. Wie reimen sich diese Äußerungen zusammen? Ist die Anschauung von sich her blind, ist das Denken notwendiges Mittel der Anschauung, wie kann die Anschauung des Denkens gar nicht bedürfen? Was soll man sich überhaupt unter einer blinden Anschauung denken? Voraussetzung für ein angemessenes Verständnis ist zweierlei: Man hat sich vom normalsprachlichen Begriff der Anschauung zu lösen, und man hat die gedankliche Anstrengung auf sich zu nehmen, die Grundbegriffe der transzendentalen Ästhetik gemäß ihrer Fragestellung als erkenntnistheoretische Funktionsbegriffe zu rekonstruieren. Die beiden Bedingungen freilich erschweren sich gegenseitig: Einerseits ist eine äußerst analytisch-abstrakte Betrachtungsweise, auf der anderen Seite eine vorblickend synthetische Konzeptualisierung erfordert. Unter „Anschauung" nämlich ist bei Kant nichts weiter als ein Element der normalsprachlichen „Anschauung" zu verstehen. Bedeutet der Ausdruck in der normalsprachlichen Verwendung — wenn nicht gar nur den visuellen Objektbezug — ein erkennendes Sich-Richten
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auf Gegenstände der Art, daß Unmittelbarkeit des Gegenstandsbezuges und (insofern) Singularität des Gegenstandsbildes die konstitutiven Momente abgeben, so ist im Kantischen Anschauungsbegriff die Gegenstandssingularität nur als Woraufhin des Erkenntnisverhaltens und die Unmittelbarkeit der Gegenstandsintention nur im Sinne des Habens von formlosem Gegebenem zur Geltung zu bringen. An diskrete und einmalige Gegenstände ist zu denken und auch wiederum nicht zu denken. Ein Gehabtes ist als Auftretendes zu denken, das zu einer Gegenstandserkenntnis auf welchen Wegen auch immer allererst führt, und ein Vorstellen ist zu denken, das der subjektiven Führung und Inszenierung gleichwohl noch entbehrt. Nicht Steine, Bäume und Melodien sind als Angeschautes zu unterstellen, sondern es ist lediglich mit Modifikationen des abstrakten rezeptiven Subjekts zu rechnen. Kein Hinsehen auf . . . oder auch Hören auf . . . und keine Wahrnehmung ist diesem Vorstellen beizulegen, wie es sich indessen von der Normalsprache her aufdrängt, sondern ein bloßes Besetztsein mit Bewußtseins- und Erkenntnismaterial. Kein „Achten auf . . ." soll diesem Vorstellen eigen sein, gar keine Bewußtheit (folglich auch kein „Gehabtes" und kein „Auftretendes" im strengen Wortsinne), und doch soll ein solches Anschauen den Zustand des Subjekts betreffen. An so etwas ist gedacht: eine Grundlage der Erkenntnisrelation des Subjekts zu Objekten im Subjekt, die durch Unverfügtheit in einem mit Verfügbarkeit gekennzeichnet ist. Diese Denkaufgabe aber ist unlösbar. Eine Affektion des Subjekts, ein Betroffenwerden aus außersubjektivem Ursprung diesseits aller Reflexion des Subjekts, ein solches nichtapperzeptives Subjekts-Geschehen steht in Widerspruch zum Kantischen Subjektivitätsbegriff, der Subjektivität als Prinzipienregelung für Innerlichkeit, Bewußtsein, Egoität zum Inhalt hat. Ein „Subjekts"-,,Geschehen", so könnte auch pointiert werden, ist in sich widersprüchlich. Was auf der Seite des Subjekts Erkenntnis als Verhalten des Subjekts ausmacht, kann nicht in Verhältnissen bestehen, in denen sich das Subjekt befindet. Daß sich die Annahme außersubjektiver Bedingungen der Subjektivität und damit des Subjekts verbiete, soll damit nicht behauptet werden. Gegen diese Schlußfolgerung spricht sogar einiges, nicht zuletzt die Gebundenheit des Kantischen Subjekts an eine differenzierte Subjektivität, an die Gesetze seines logischen, theoretischen, praktischen und ästhetischen Sich-Verhaltens, die es als
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endliches Subjekt ausweisen und ein positiv-unendliches Subjekt zu einem für es unvollziehbaren Gedanken werden lassen. D e m Subjekt „Anschauung" im Sinne von Rezeptivität beizulegen, ein Betroffensein durch externe Verhältnisse, heißt freilich anderes und mehr, als es bloß unter Bedingungen gestellt zu sehen. Beides zu identifizieren, ist folglich der unverständliche Versuch, ein Angewiesensein auf . . . als Empfangen, Bekommen, Empfinden, Gegenwärtigen, Haben zu deuten. Was am Subjekt ist, wird mit dem verwechselt, was es bekommt und was es insofern als für es seiend hat: eine Verwechslung, die bereits der normalen Sprache geläufig ist, sofern es darin heißen kann, jemand (bezeichnenderweise niemals eine Sache) habe etwas an sich. „Anschauu n g " als „Rezeptivität" und „Passivität" von „Spontaneität" abgrenzen zu wollen, ist ein Vorhaben, das den doppelten Tätigkeitscharakter der Untätigkeit — das Gewolltsein des Mit-sich-geschehen-Lassens — verkennt. Die Uneindeutigkeit des Begriffs der „Anschauung" zwischen der Bestimmung als Bedingtheit oder Zustand und als Verhaltensweise des Subjekts hat innerhalb der Kantischen Theorie Folgen. Sie ermöglicht die Ausgestaltung der transzendentalen Ästhetik zu einer Theorie der „Sinnlichkeit" und damit zu der scheinbar überprüfbaren Lehre von „ D a t e n " , „Empfindungen" und Modalitäten des Empfindens. Was a priori ganz befremdlich anmutet, die Gleichsetzung der elementaren Modifikationen des bloß zuständlichen Subjekts mit einem mannigfaltigen Gegebenen für das Subjekt, ja mit Empfindungen (Innerlichkeitsphänomenen, die doch Reflexivität und Apperzeptivität voraussetzen), verschafft sich unter Ausnutzung der Ähnlichkeit im Zufallscharakter Eingang in die Transzendentalphilosophie. Auf diese Weise aber wird die Beziehung der transzendentalästhetischen „Sinnlichkeit" und des empirischen Subjekts qua physisch-psychischem Sinnenwesen als Problem verdeckt, indem die Empfindung, ein Konstitutionspro