Die Axiome der Anschauung in Kants "Kritik der reinen Vernunft" 9783110228434, 9783110228427

Kant’s Critique of Pure Reason culminates in an explanation of the possibility of experience by way of a system of twelv

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German Pages 154 [163] Year 2010

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Table of contents :
Frontmatter
Inhalt
Einleitung
1. Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes
2. Grundsätze des reinen Verstandes und Subsumtion
3. Die Gewissheit der Axiome der Anschauung
4. Die Axiome der Anschauung und die Möglichkeitder Mathematik
Zusammenfassung
Ausblick
Backmatter
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Die Axiome der Anschauung in Kants "Kritik der reinen Vernunft"
 9783110228434, 9783110228427

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Oliver Schliemann Die Axiome der Anschauung in Kants Kritik der reinen Vernunft

Kantstudien Ergänzungshefte im Auftrage der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Manfred Baum, Bernd Dörflinger, Heiner F. Klemme und Thomas M. Seebohm

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De Gruyter

Oliver Schliemann

Die Axiome der Anschauung in Kants Kritik der reinen Vernunft

De Gruyter

Gedruckt mit Hilfe der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg

ISBN 978-3-11-022842-7 e-ISBN 978-3-11-022843-4 ISSN 0340-6059 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Schliemann, Oliver. Die Axiome der Anschauung in Kants Kritik der reinen Vernunft / Oliver Schliemann. p. cm. - (Kantstudien Ergänzungshefte, ISSN 0340-6059 ; 162) Originally presented as the author’s thesis - Universität Bielefeld, 2009. Includes bibliographical references (p. ) and index. ISBN 978-3-11-022842-7 (hardcover : alk. paper) 1. Kant, Immanuel, 1724-1804. Kritik der reinen Vernunft. 2. Intuition. 3. Knowledge, Theory of. 4. Reason. 5. Causation. I. Title. B2779.S315 2010 121-dc21 2010036353

Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek The Deutsche Nationalbibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data are available in the Internet at http://dnb.d-nb.de. ” 2010 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/New York Printing: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ⬁ Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com

Danksagung Die vorliegende Arbeit wurde im Sommersemester 2009 von der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld als Dissertation angenommen. Für die Veröffentlichung habe ich sie in einigen Punkten überarbeitet und ergänzt. Ich bedanke mich bei meinen beiden Gutachtern Michael Wolff und Rüdiger Bittner für ihre hilfreichen Anmerkungen, die zu diesen Veränderungen Anlass gegeben haben. Ich danke ihnen ebenfalls sehr für ihre andauernde Bereitschaft, mich mit Gutachten zu meiner Arbeit und Person zu versorgen, die ich vor allem in der Promotionsphase für die verschiedensten Bewerbungen und Anträge brauchte. Besonders dankbar bin ich darüber hinaus für den fachlichen Austausch, den ich mit ihnen führen konnte. Insbesondere die zahlreichen Gespräche mit Michael Wolff, der diese Arbeit betreut hat, habe ich als einen Austausch erlebt, der von aufrichtigem Interesse und kritischer Offenheit geprägt war und der mich persönlich wie fachlich überaus bereichert hat. Mein Dank gilt außerdem Almut Kristine von Wedelstaedt und Jens Schnitker, die mit ihrer sowohl fachlichen als auch formalen Durchsicht sehr zur Verbesserung der fertigen Arbeit beigetragen haben. Das und mehr gilt auch für Christine Broermann, ihr danke ich sehr. Frau Jutta Schön danke ich für die hilfreiche Überprüfung der Querverweise. Danken möchte ich zudem Holger Lyre, der mich vor allem in der Zeit nach der Promotion in vielerlei Hinsicht ausgiebig unterstützt hat. Schließlich danke ich den Herausgebern der Kantstudien-Ergänzungshefte für die Aufnahme meiner Arbeit in ihre Reihe sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnisstiftung für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Magdeburg im September 2010

Oliver Schliemann

Inhalt Einleitung ............................................................................................................... 1 Teil I: Die Rekonstruktion der Axiome der Anschauung.............................11 1. Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes...............................................................................13 1.1. Phänomen und Apparens...............................................................19 Exkurs: Das Problem der Objektivität ....................................... 23-31 1.2. Der Schematismus der Größe .......................................................37 Exkurs: Das Apparens als bestimmter Raum ............................ 44-48 2. Grundsätze des reinen Verstandes und Subsumtion ..........................69 2.1. Der Begriff der Subsumtion...........................................................70 2.2. Die Subsumtion unter Kategorien ................................................83 Teil II: Zur Bedeutung der Axiome der Anschauung ...................................97 3. Die Gewissheit der Axiome der Anschauung ......................................99 4. Die Axiome der Anschauung und die Möglichkeit der Mathematik .................................................................119 Zusammenfassung und Ausblick....................................................................131 Zusammenfassung ......................................................................................131 Ausblick ........................................................................................................137 Literaturverzeichnis ..........................................................................................149 Namen- und Sachregister.................................................................................153

Einleitung Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist eine Rekonstruktion der sogenannten Axiome der Anschauung, einer bestimmten Klasse von Grundsätzen, die Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft erwähnt. Folgende Überlegungen geben zu dieser Aufgabe Anlass. An mehreren Stellen seiner Kritik der reinen Vernunft verweist Kant auf die Nützlichkeit der Kategorientafel für die Aufgabe, ein System der Philosophie zu errichten. Teils verweist er auf sie, um anzudeuten, wie der Leser gewisse von der Kritik gelassene Leerstellen des philosophischen Systems ausfüllen kann, teils zieht er sie zur ausdrücklichen Konstruktion des Systems heran, soweit in der Kritik geleistet.1 Dieser Praxis folgt Kant auch in Bezug auf die Grundsätze des reinen Verstandes. So kündigt er die Tafel der Grundsätze mit den Worten an: Die Tafel der Kategorien giebt uns die ganz natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze, weil diese doch nichts anders, als Regeln des objectiven Gebrauchs der ersteren sind. Alle Grundsätze des reinen Verstandes sind demnach [...] (A 161 / B 200)

Diesen einleitenden Sätzen Kants folgt in der Kritik der reinen Vernunft die Tafel der Grundsätze, in welcher die Titel der Grundsätze der Reihe nach aufgezählt werden. Nun besteht aber eben hierin eine gewisse Diskrepanz zwischen der Kategorien- und der Grundsatztafel. Denn erstere führt nicht nur vier verschiedene Titel, sondern auch insgesamt zwölf unter diesen Titeln befindliche Kategorien auf. Da in der Tafel der Grundsätze die Titel der verschiedenen Grundsatzklassen jeweils als Plural auftreten2, lässt sich allerdings vermuten, dass sich hinter diesen Titeln jeweils eine Mehrzahl von Grundsätzen verbirgt. Insofern im oben angeführten Zitat die Kategorientafel als dasjenige beschrieben wird, was „die ganz natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze“ gibt, ist weiterhin zu vermuten, dass diese Mehrzahl von Grundsätzen genau der Ordnung der Kategorien entspricht. So wären also zwölf Grundsätze des reinen Verstandes zu _____________ 1 Zum ersten Punkt vgl. z. B. A 82 / B 108, A 229 / B 282, zum zweiten z. B. A 142 / B 181, A 290 / B 346, A 344 / B 402. Die Kritik der reinen Vernunft zitiere ich wie allgemein üblich nach der ersten (A) und zweiten Auflage (B) von 1781 bzw. 1787. 2 Kant teilt diese Grundsätze in Axiome, Antizipationen, Analogien und Postulate.

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erwarten, nämlich unter jedem der vier Titel genau drei. Dieser Erwartung verleiht auch Jonathan Bennett Ausdruck, wenn er schreibt: One would expect Kant to present twelve principles, grouped into four trios; but in fact he does no such thing. The ‘Analogies of Experience’ are indeed three statements, to the effect that all experience must fall under the categories of substance, of cause, of community; and the ‘Postulates of Empirical Thought’ are also three in number. But under each of the headings ‘Axioms of Intuition’ and ‘Anticipations of Perception’ there is only a single a priori principle. Kant describes the single principle which he offers in each of these cases as ‘the principle of’ the Axioms or the Anticipations.3

In diesem Zitat weist Bennett nicht nur auf den Umstand hin, dass man aufgrund der Systematik gemäß den Kategorien genau drei Axiome der Anschauung erwarten würde, sondern er benennt auch zugleich das der vorliegenden Arbeit zugrunde liegende Problem: Entgegen der beschriebenen Erwartung führt Kant in dem ausdrücklich mit dem Titel „Axiomen der Anschauung“ versehenen Abschnitt keine Dreizahl von entsprechenden Verstandesgrundsätzen auf, sondern lediglich einen einzigen Grundsatz, den er in der zweiten Auflage das „Prinzip“ der Axiome der Anschauung nennt (vgl. B 201). Schon der Titel dieses Prinzips deutet an, dass es sich dabei um einen von den Axiomen der Anschauung verschiedenen Grundsatz handeln muss. Denn wäre das Prinzip der Axiome der Anschauung selbst eines der gesuchten Axiome, so wäre es sein eigenes Prinzip. Eine derartige Lesart würde das Prinzip von vornherein dem Verdacht einer merkwürdigen Zirkularität aussetzen und ist daher nicht besonders überzeugend. Auch die Systematik der Grundsätze spricht dafür, dass Prinzipien und Grundsätze von einander zu unterscheiden sind. Der Abschnitt über die Analogien der Erfahrung stellt diesen drei Grundsätzen jedenfalls noch einen von ihnen verschiedenen Grundsatz voran, den Kant das „Prinzip derselben“ nennt (B 218). Geht man von der These aus, dass die Anweisung, welche die Tafel der Kategorien „zur Tafel der Grundsätze“ gibt, durchaus regelmäßig ist, wird man sich der Behauptung Bennetts anschließen müssen, dass im Grundsatzkapitel prima facie vier Trios von Verstandesgrundsätzen zu erwarten wären, denen jeweils ein ihnen zugehöriges Prinzip vorangestellt ist: „[Kant] is apparently trying to suggest that for each trio of categories he has three statements plus an underlying 'principle' […].“4 Dem herausgestellten Umstand, dass die Axiome der Anschauung in dem nach ihnen benannten Abschnitt der Kritik der reinen Vernunft nicht ausdrücklich vorkommen, ist in der Literatur bisher weitgehend mit der _____________ 3 Bennett, Kant’s Analytic, S. 165. 4 Ebd.

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Annahme begegnet worden, die Axiome der Anschauung seien nichts anderes als die Axiome der Mathematik.5 Diese Annahme liegt auch durchaus nicht ganz fern, da Kant einen engen Zusammenhang zwischen den Axiomen der Anschauung und der Mathematik zu erkennen gibt. Zum einen sagt er, allein durch das Prinzip der Axiome der Anschauung sei „die reine Mathematik in ihrer ganzen Präcision auf Gegenstände der Erfahrung anwendbar“.6 Zweitens redet er im Abschnitt über die Axiome der Anschauung ausdrücklich von der „Mathematik der Ausdehnung (Geometrie) mit ihren Axiomen“ (A 163 / B 204). Schließlich kann man Kants Behauptung in der Methodenlehre der Kritik, Axiome könne es nur in der Mathematik, nicht aber in der Philosophie geben, leicht so verstehen, dass die Axiome der Anschauung, da sie ja „Axiome“ heißen, mathematische Sätze sein müssen. Trotz dieser Indizien ist eine Lesart, nach der die Axiome der Anschauung nichts anderes sind als die Axiome der Mathematik, durchaus problematisch. An erster Stelle ist dagegen einzuwenden, dass es keinen direkten Beleg für eine derartige Identifizierung gibt. Kant sagt an keiner mir bekannten Stelle seines Werkes, dass die Axiome der Anschauung die Axiome der Mathematik seien. Zweitens ist aber auch mit dem Hinweis, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Mathematik, nicht viel gewonnen, denn die Frage, wie diese Axiome denn genau lauten, ist damit noch keineswegs geklärt. Die Mathematikgeschichte bietet eine Fülle möglicher Axiome, und zwar selbst dann, wenn man von Axiomensystemen, die erst in der Zeit nach Kant die wissenschaftliche Bühne betreten haben, absieht. Entsprechend drückt sich zum Beispiel Paul Guyer in dieser Frage eher ausweichend aus, wenn er sagt, „the genuine axioms of intuition […] are none other than the axioms of the relevant portion of mathema-

_____________ 5 Vermutlich der erste, der diese These vertreten hat, ist der Kant-Schüler George Samuel Albert Mellin, Wörterbuch, Bd. 1, S. 452: „Sie [scil. Die Axiome der Anschauung] sind wahre Axiomen [...], nehmlich die Axiomen der Mathematik.“ – Vgl. neuerdings auch Guyer, Claims, S. 190 f.; Rosenberg, Accessing Kant, S. 165 sowie Tetens, Kommentar, S. 132. 6 A 165 / B 206. Wörtlich ist hier von einem „transzendentale[n] Grundsatz der Mathematik“ die Rede. In dem gesamten Abschnitt über die Axiome der Anschauung ist aber außer von ihrem Prinzip von keinem anderen transzendentalen Grundsatz die Rede, so dass dieser Verweis nicht sinnvoll anders bezogen werden kann. Diese Lesart wird auch durch A 733 / B 761 gestützt, wo Kant noch einmal in dem Zusammenhang auf das Prinzip der Axiome der Anschauung Bezug nimmt, dass sogar die Möglichkeit der Mathematik in der Transzendentalphilosophie gezeigt werden müsse.

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tics itself“.7 Was genau dieser relevante Bereich der Mathematik ist, der die Axiome der Anschauung enthält, sagt Guyer uns leider nicht. Um so mutiger äußert sich dagegen Holm Tetens in dieser Angelegenheit: „Mit »Axiomen der Anschauung« sind bei Kant nichts anderes als die Axiome der Geometrie und der Arithmetik gemeint.“8 Auch hier ist nicht ganz klar, an welche Axiome Tetens eigentlich genau denkt. Im Falle der Arithmetik kommen aus historischen Gründen freilich weder die PeanoAxiome noch die Axiome der Zermelo-Fraenkel-Mengenlehre (ZFC) in Betracht, weil Kant sie natürlich nicht gekannt haben kann.9 Eine Axiomatisierung der Arithmetik hat zu Kants Zeiten dessen Freund und Kollege Johann Schultz geliefert. In einer sehr gelehrten und lesenswerten Arbeit hat Gottfried Martin versucht, „die Axiomentabellen von Kant […] den Anfangsgründen der reinen Mathesis von Joh. Schultz“ zu entnehmen, um auf diese Weise zu zeigen, dass der späte Kant entgegen seinen Äußerungen in der kritischen Phase die Meinung vertreten habe, die Arithmetik sei axiomatisch.10 Dieses Verfahren ist philologisch allerdings mehr als fragwürdig und der bloße Umstand, dass Schultz seine Arbeit mit Kant diskutiert hat, wie Martin, S. 64 f., anführt, dürfte – selbst wenn dieses Gespräch tatsächlich stattgefunden haben sollte – bei weitem nicht ausreichen, die von Schultz aufgestellten Axiome auch Kant unterzuschieben. Vielmehr wird man Kant angesichts seiner ausdrücklichen Aussagen die Meinung zuschreiben müssen, dass die Arithmetik keine Axiome hat.11 Es scheinen demnach zunächst einmal die Axiome der Geometrie die einzig verbliebenen Kandidaten für die Axiome der Anschauung zu sein. Aber auch hier ist die Sache nicht einfach. Natürlich scheiden wiederum _____________ 7 Guyer, Claims, S. 190 f. 8 Tetens, Kommentar, S. 132. 9 Rosenberg zieht in Erwägung, dass Kant die Peano-Axiome vielleicht als Axiome der Anschauung hätte gelten lassen, wenn er sie gekannt hätte. Vgl. Accessing Kant, S. 165. 10 Martin, Arithmetik, S. 19. 11 So beginnt Kant innerhalb des Abschnitts über die Axiome der Anschauung den Absatz über Arithmetik und Algebra (vgl. S. 127 f. der vorliegenden Arbeit) mit den Worten: „Was aber die Größe (quantitas) d. i. die Antwort auf die Frage: wie groß etwas sei, betrifft, so giebt es in Ansehung derselben, obgleich verschiedene dieser Sätze synthetisch und unmittelbar gewiß (indemonstrabilia) sind, dennoch im eigentlichen Verstande keine Axiomen.“ (A 163 f. / B 204) In ausgesprochener Klarheit äußert sich Kant zudem in seinem Brief an Schultz vom 25. November 1788: „Die Arithmetik hat freylich keine Axiomen, weil sie eigentlich kein Quantum, d. i. keinen Gegenstand der Anschauung als Größe, sondern blos die Qvantität, d. i. einen Begrif von einem Dinge überhaupt durch Größenbestimmung zum Obiecte hat.“ (AA X 555)

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aus historischen Gründen rein formale Axiome der Geometrie, wie sie seit Hilbert üblich geworden sind, von vornherein aus. Aber auch die gemeinhin als Axiome bezeichneten koinai ennoiai des Euklid kommen als von Kant akzeptierte Axiome der Mathematik und damit als Axiome der Anschauung nicht in Frage. Denn Sätze von der Art, dass Gleiches zu Gleichem hinzugetan oder voneinander abgezogen Gleiches gebe (was den euklidischen Axiomen 2 und 3 entspricht)12, bezeichnet Kant ausdrücklich als analytische Sätze (vgl. A 164 / B 204). Axiome sind nach Kants Ansicht aber „synthetische Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß sind“ (A 732 / B 760). Auch ein Vergleich der mathematischen Lehrbücher des 18. Jahrhunderts mit den Sätzen, die Kant ausdrücklich als geometrische Axiome kennzeichnet, bringt kein verlässliches Bild einer geometrischen Axiomatik. Offensichtlich klaubt Kant aus verschiedenen Lehrbüchern diejenigen mathematischen Sätze zusammen, die seiner eben genannten Definition eines Axioms entsprechen. Sie lauten: 1. 2. 3. 4.

Zwischen zwei Punkten kann nur eine gerade Linie sein.13 Zwei gerade Linien schließen keinen Raum ein.14 Drei Punkte liegen jederzeit in einer Ebene.15 Die gerade Linie ist die kürzeste zwischen zwei Punkten.16

Ob diese Liste als vollständig zu betrachten ist, lässt sich kaum sagen. Denn weder bezieht sich Kant auf eine vollständige Liste eines mathematischen Lehrbuchs, noch findet sich die oben stehende Axiomenliste in einer von Kant selbst angefertigten Systematik geometrischer Axiome. Die aufgelisteten Axiome entstammen vielmehr verschiedenen, äußerlich nicht _____________ 12 Vgl. Euklid, Elemente, S. 3. 13 A 163 / B 204, A 300 / B 356, Refl. 4634 (AA XVII 617), Refl. 5644 (AA XVIII 292 f.). 14 A 163 / B 204 und in dem Aufsatz Über eine Entdeckung, AA XX 406. 15 A 732 / B 760 f. 16 Prolegomena, AA IV 301 f. In keinem mir bekannten mathematischen Lehrbuch des 18. Jahrhunderts lassen sich alle Axiome der obigen Liste auffinden. Recht verbreitet ist das zuerst genannte Axiom, z. B. bei Kästner, Anfangsgründe, S. 168 und Hausen, Elementa, S. 93 (Kästner orientiert sich in der Geometrie ausdrücklich an Hausen, vgl. die Vorrede zu den Anfangsgründen) oder Sarganeck, Geometrie, S. 13. Auch in Christian Wolffs Anfangsgründen, Bd. 12, S. 129, findet sich dieses Axiom immerhin als „Grundsatz“. Das an zweiter Stelle genannte Axiom findet sich ebenfalls bei Hausen und bei Kästner (loc. cit.). Das dritte Axiom konnte ich bei Lambert immerhin noch in der Form eines Postulats ausmachen (Architectonic, Bd. 1, S. 62), das vierte taucht dagegen lediglich als Lehrsatz auf, z. B. in Wolffs Elementa, Bd. 29, S. 145 (Theorema 24).

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weiter zusammenhängenden Textstellen. Auch dann also, wenn man als Axiome der Geometrie genau diejenigen Sätze gelten lassen will, die Kant selbst für geometrische Axiome ausgegeben hat, lässt sich unter Voraussetzung der These, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Geometrie, nach wie vor nicht bestimmen, welche Sätze genau die Axiome der Anschauung eigentlich sind. Denn da man nicht sicher sagen kann, ob sich für Kant die Zahl der Axiome der Geometrie in der oben stehenden Liste erschöpft, kann man auch nicht sicher sein, dass nicht noch irgendwelche anderen Sätze als Axiome der Anschauung in Betracht kommen. Unter der Prämisse, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Mathematik, ist aber außerdem gar nicht einzusehen, warum ausgerechnet und ausschließlich den Axiomen der Geometrie diese Ehre zukommen sollte. Denn wenn die Axiome der Geometrie, als der „Wissenschaft, welche die Eigenschaften des Raums synthetisch und doch a priori bestimmt“ (B 40), in den Rang transzendentaler Grundsätze erhoben werden, lässt sich mit Recht fragen, wieso nicht auch entsprechende Sätze, die auf die Zeit, als der anderen Form der Sinnlichkeit, bezogen sind, dasselbe Recht für sich beanspruchen können. Diese Frage drängt sich um so mehr auf, wenn man den Geltungsgrund des Prinzips der Axiome der Anschauung so knapp auf den Punkt bringt wie Paul Guyer: Let us turn from Kant’s principle [of the axioms of intuition] to the argument he does offer in its behalf. This argument is simple. The last paragraph of the section gives it in just two steps: “Empirical intuition is possible only through the pure intuition (of space and time); therefore what geometry says of the latter holds without exception of the former” (A 165 / B 206). Whatever geometry (and, Kant should have added, chronometry) tells us about the measurement of space and time in pure intuition must also be applicable to the measurement of particular spaces and times occupied by particular empirical objects.17

Wenn die transzendentale Funktion des Prinzips der Axiome der Anschauung gerade darin besteht, nicht nur die Anwendung reiner Raum-, sondern auch reiner Zeitbestimmungen auf empirische Gegenstände zu rechtfertigen, so ist klar, dass der Geltungsbereich dieses Prinzips größer ist als der Bereich der Geometrie, die ja nur eine Wissenschaft von der Bestimmung des Raumes ist, nicht aber von der Zeit. Da demnach das Prinzip der Axiome der Anschauung nicht nur für Gegenstände in ihrer räumlichen, sondern auch in ihrer zeitlichen Erscheinungsform gilt, kommentiert Guyer Kants Äußerungen ganz nachvollziehbar dahingehend, dass Kant der Geometrie auch noch eine entsprechende Wissenschaft von der Zeit, die Chronometrie, zur Seite hätte stellen sollen. Wenn aber Ge_____________ 17 Guyer, Claims, S. 191.

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ometrie und Chronometrie in Kants Transzendentalphilosophie die gleiche Rolle spielen, mit dem einzigen Unterschied, dass die Geometrie die Form des äußeren, die Chronometrie hingegen die Form des inneren Sinnes bestimmt, dann ist nicht ohne weiteres einzusehen, dass nur die geometrischen Axiome die Axiome der Anschauung sein sollten. Man könnte einwenden, dass in der Kritik der reinen Vernunft zwar sehr wohl von geometrischen, keineswegs aber von chronometrischen Axiomen die Rede ist, ja, dass es zu Kants Zeiten nicht einmal eine ernstzunehmende Chronometrie gab. Aber schon der bereits oben erwähnte Johann Schultz scheint es in seiner Prüfung der Kantischen Critik der reinen Vernunft für kantisch zu halten, den geometrischen Axiomen noch gewisse „Axiome der Zeit“ an die Seite zu stellen.18 Diese Annahme ist keineswegs völlig abwegig. Denn in der Transzendentalen Ästhetik kommt Kant ausdrücklich auf zwei „Axiomen von der Zeit überhaupt“ zu sprechen. Auf diese Nothwendigkeit a priori gründet sich auch die Möglichkeit apodiktischer Grundsätze von den Verhältnissen der Zeit oder Axiomen von der Zeit überhaupt. Sie hat nur Eine Dimension: verschiedene Zeiten sind nicht zugleich, sondern nach einander […]. (A 31 / B 47)

Diese Zeitaxiome dürfte Kant Lamberts Architectonic entnommen haben, wie ihre bis in den Wortlaut hineinreichende Ähnlichkeit mit Lamberts erstem und viertem chronometrischen Grundsatz vermuten lässt: 1°. […] [D]ie Theile der Zeit sind nicht zugleich. […] 4°. Die Dauer und Zeit haben nur eine Dimension.19

_____________ 18 Schultz, Prüfung, Erster Teil, S. 235. Vgl. ebenfalls den zweiten Teil, S. 263-265 (§ 85). Schultzens Prüfung ist durchaus in der Absicht der Verteidigung kantischer Positionen geschrieben, weshalb ich ihm unterstelle, dass er seine Ergänzung der Zeitaxiome für dem Geiste der Kritik entsprechend hält. Auch Mellin, Wörterbuch, Bd. 6, S. 277-278, scheint die von Schultz aufgestellten Axiome als erforderlich für das Verständnis der kantischen Philosophie zu erachten, da er sie unter dem Stichwort „Zeitwissenschaft, Chronometrie“ anführt, erläutert und ergänzt. 19 Lambert, Architectonic, S. 65 (§ 83). Auch eines von Lamberts Postulaten der Chronometrie, „Jede Zeit kann durch eine Linie vorgestellet […] werden“ (ebd.), findet in der Kritik seinen deutlichen Widerhall, nämlich in Kants Bemerkung, „daß wir die Zeit, die doch gar kein Gegenstand äußerer Anschauung ist, uns nicht anders vorstellig machen können, als unter dem Bilde einer Linie, so fern wir sie ziehen“ (B 156). – Man darf auch annehmen, dass Kant mit den Gedanken Lamberts vertraut war. In seinem Brief vom 13. November 1765 (AA X 5154) richtet Lambert die Bitte an Kant, dem Königsberger Verleger Kanter in Sachen seiner Architectonic ein Schreiben zu überbringen. Im Antwortbrief vom 31. Dezember 1765 lässt Kant erkennen, dass er Lamberts Schriften kennt. Dazu kann zu diesem Zeitpunkt die zitierte Architectonic zwar noch nicht gehören, si-

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Allem Anschein nach hatte Kant demnach durchaus so etwas wie eine der Geometrie analoge Wissenschaft von der Zeit vor Augen, wenn auch sicherlich nicht in der ausgereiften Form der vorhandenen geometrischen Axiomatiken. Der Einwand, Kant hätte von einer Chronometrie nichts gewusst oder gar wissen können, ist daher nicht stichhaltig, so dass sich unter der Prämisse, die Axiome der Anschauung seien nichts anderes als die Axiome der Mathematik, weiterhin die Annahme aufdrängt, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Geometrie und Chronometrie. Man erinnere sich aber an die oben angeführte Aussage Bennetts (s. o., S. 2), wonach man unter den einzelnen Grundsatzklassen jeweils ein Trio von Grundsätzen erwarten würde, mithin genau drei Axiome der Anschauung. Derweil haben sich unter der Annahme, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Mathematik, die möglichen Kandidaten für diese reinen Verstandesgrundsätze stark vermehrt. Den vier von Kant ausdrücklich als geometrische Axiome bezeichneten Sätzen wären als Kandidaten wohl noch zwei „Axiomen von der Zeit überhaupt“ hinzuzufügen. Außerdem kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Kant noch weitere Sätze als Axiome der Geometrie oder Chronometrie akzeptiert hätte, die somit ebenfalls einen Platz auf der Bewerberliste für die Axiome der Anschauung beanspruchen könnten. Selbst wenn man annimmt, die Axiome der Anschauung seien nichts anderes als die Axiome der Mathematik, wird man daher gut 230 Jahre nach Erscheinen der Kritik der reinen Vernunft kleinlaut zugeben müssen, dass die Kantforschung die erste Klasse transzendentaler Verstandesgrundsätze nicht kennt. Welche mathematischen Axiome in diesem Falle nämlich die Axiome der Anschauung sein sollten, ist ein nach wie vor ungelöstes Rätsel. Dass diese Unkenntnis nicht die Unkenntnis eines unbedeutenden und zu vernachlässigenden Details ist, liegt auf der Hand. Nicht nur spielen die Axiome der Anschauung eine wichtige Rolle für die Grundlegung der Mathematik und aufgrund der Mathematisierbarkeit der Naturwissenschaft mittelbar auch für diese; als transzendentalphilosophische Grundsätze geben sie darüber hinaus auch einen Grund dafür an, wie Erfahrung überhaupt möglich ist und weshalb gewisse mathematische Eigenschaften der Erfahrungswelt notwendigerweise zukommen. Die Axiome der Anschauung geben somit grundlegende Auskunft in wissenschaftstheoretischen, epistemologischen und ontologischen Fragen. Diese _____________ cherlich aber Lamberts Neues Organon, das eine Parallelstelle zu der Aufzählung der Grundsätze in der Architectonic enthält (vgl. Lambert, Neues Organon, Bd. 1, S. 501). Auch ist angesichts der Hochachtung Kants für Lambert kaum vorstellbar, dass er die Architectonic nach ihrem Erscheinen im Jahre 1771 nicht gelesen haben sollte.

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Auskunft zu verstehen, ohne die Axiome der Anschauung überhaupt in ihrem Wortlaut zu kennen, dürfte eine verfehlte Hoffnung sein. Es stellt sich daher selbst unter der Annahme, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Mathematik, die Aufgabe, diese Grundsätze des reinen Verstandes eindeutig in ihrem Wortlaut zu rekonstruieren. Wie schon eingangs zitiert, war Kant der Meinung, dass die Tafel der Kategorien „die ganz natürliche Anweisung zur Tafel der Grundsätze“ gibt (A 161 / B 200). Entsprechend wird in der anstehenden Rekonstruktion der Axiome der Anschauung ihr Verhältnis zu den Kategorien der Größe, als der ersten Kategorienklasse, besondere Berücksichtigung finden. Dieses Verhältnis besteht kurz gesagt darin, dass die Axiome der Anschauung Erscheinungen unter Kategorien subsumieren. Was damit gemeint ist, ist ebenfalls eine zu klärende Frage. Ferner ist zu berücksichtigen, dass alle Grundsätze des reinen Verstandes einer gewissen sinnlichen Bedingung unterworfen sind. Diese Bedingung ist der Schematismus des reinen Verstandes. Wie man diesen Schematismus in Bezug auf die den Axiomen der Anschauung zugeordneten Kategorien der Größe zu verstehen hat, ist ebenfalls Thema der vorliegenden Arbeit. Der vordere Teil meiner Untersuchung, welcher die Rekonstruktion der Axiome der Anschauung liefern wird, umfasst dementsprechend zwei Kapitel. Im ersten Kapitel geht es um die Bedeutung des Schematismus, sowohl im Allgemeinen, d. h. vor allem hinsichtlich seiner Bedeutung für die Gegenstandskonstitution oder das Problem der Objektivität (Kapitel 1.1), als auch im Besonderen, d. h. hinsichtlich der Frage, welche Rolle speziell der Schematismus der Größe im Rahmen des Objektivitätsproblems spielt (Kapitel 1.2). Im zweiten Kapitel wird dann nach einer allgemeinen Erläuterung des Begriffs der Subsumtion (Kapitel 2.1) der Schematismus im Zusammenhang mit der Subsumtion unter Kategorien erörtert, d. h. in seinem Kontext der Grundsätze des reinen Verstandes. In diesem Teil werde ich die bis dahin herausgearbeitete Hypothese bezüglich der Form der Grundsätze des reinen Verstandes anhand einer Untersuchung der Postulate des empirischen Denkens und der Analogien der Erfahrung verifizieren und soweit spezifizieren, dass die Axiome der Anschauung durch Einfügen des Begriffs der Erscheinung, der Kategorien der Größe und ihrer Schemata in die herausgestellte allgemeine Form eines reinen Verstandesgrundsatzes in ihrem Wortlaut rekonstruiert werden können (Kapitel 2.2). Bei dieser Rekonstruktion wird sich herausstellen, dass die Axiome der Anschauung nicht die Axiome der Mathematik, ja, dass sie überhaupt keine mathematischen Sätze sind. Es ergibt sich daher die Notwendigkeit, das Ergebnis des ersten Teils der vorliegenden Arbeit in einem zweiten Teil mit den Passagen in Einklang zu bringen, welche die Forschung zu

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der verbreiteten Annahme bewegt haben, die Axiome der Anschauung seien die Axiome der Mathematik. Hierbei wird insbesondere zu erklären sein, wieso die Axiome der Anschauung keine „synthetische[n] Grundsätze a priori, so fern sie unmittelbar gewiß sind“, sind (A 732 / B 760) und dennoch „Axiome“ heißen (Kapitel 3). Auch die im letzten Kapitel (Kapitel 4) behandelte Frage ergibt sich aus dem Umstand, dass die Axiome der Anschauung nicht die Axiome der Mathematik sind. Wären nämlich die Axiome der Anschauung die Axiome der Mathematik, so wäre einigermaßen selbstverständlich, inwiefern sie eine grundlegende Rolle für die Mathematik spielen. Als Axiome stünden sie am Anfang aller Mathematik und alle Lehrsätze wären nur möglich, sofern sie aus diesen Axiomen abgeleitet werden. Das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung, demgemäß die Axiome der Anschauung nicht die Axiome der Mathematik sind, verlangt daher nach einer alternativen Erklärung für die Grundlegungsfunktion der Axiome der Anschauung für die Mathematik, die im letzten Kapitel gegeben wird.

Teil I: Die Rekonstruktion der Axiome der Anschauung

1. Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes Ein vollständiges Verständnis dessen, was Kant unter den Axiomen der Anschauung versteht, lässt sich nicht ohne Berücksichtigung seiner Theorie des Schematismus gewinnen. Diese Behauptung erklärt sich durch folgende Überlegung: Zunächst gilt: was für Sätze auch immer Kant als die Axiome der Anschauung ansehen mag, klarerweise rechnet er sie zu den Grundsätzen des reinen Verstandes. Denn in der sogenannten Tafel der Grundsätze, die Kant mit den Worten „Alle Grundsätze des reinen Verstandes sind demnach“ einführt, befindet sich unter der Ziffer 1 der Titel „Axiome der Anschauung“ (A 161 / B 200). Vor diesem Hintergrund beachte man ferner, dass die transzendentale Doktrin der Urteilskraft, in deren zweitem Hauptstück die Grundsätze des reinen Verstandes abgehandelt werden, mit einem Hauptstück beginnt, „welches von der sinnlichen Bedingung handelt, unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können, d. i. von dem Schematismus des reinen Verstandes“ (A 136 / B 175). Diejenigen „synthetischen Urteile[ ], welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen a priori herfließen“, nennt Kant an dieser Stelle die Grundsätze des reinen Verstandes (ebd.). Das heißt, die Grundsätze des reinen Verstandes haben zweierlei zu ihrer Voraussetzung: einerseits „fließen“ sie aus reinen Verstandesbegriffen, andererseits tun sie dies nur unter gewissen Bedingungen. Mit diesen Bedingungen ist – das macht der Kontext deutlich – die zuvor angesprochene „sinnliche[ ] Bedingung“ gemeint, „unter welcher reine Verstandesbegriffe allein gebraucht werden können“, mithin der „Schematismus des reinen Verstandes“. Die oben aufgestellte Behauptung, dass nur unter Berücksichtigung des Schematismus vollständig zu verstehen ist, was Kant die Axiome der Anschauung nennt, dürfte damit verständlich geworden sein. Der Schematismus gehört zu den Bedingungen der Grundsätze des reinen Verstandes und daher insbesondere zu den Bedingungen der Axiome der Anschauung. Bei der im letzten Absatz vorgetragenen Interpretation möge man sich nicht an dem Umstand stören, dass Kant sich mit der demonstrativen

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Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes

Wendung „unter diesen Bedingungen“, also mit einer Wendung im Plural, zurückbezieht auf einen Ausdruck, der im Singular steht („der sinnlichen Bedingung“). Diese Schwierigkeit lässt sich nämlich leicht lösen, wenn man den singularischen Ausdruck „der sinnlichen Bedingung“ als einen Kollektivsingular liest. Denn dass es sich der Sache nach nicht um nur eine einzige Bedingung, sondern um mehrere Bedingungen handeln muss, kann als gesichert gelten, weil nicht nur an der hier in Rede stehenden Textstelle von Bedingungen im Plural die Rede ist, sondern auch an einer im vorausgehenden Absatz unmittelbar vorhergehenden Parallelstelle. Auch dort verwendet Kant das Wort „Bedingungen“ im Plural, wenn er, den Schematismus andeutend, der Transzendentalphilosophie die Aufgabe zuweist, sie müsse „die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen [scil. den reinen Verstandesbegriffen] gegeben werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen“ (A 135 f. / B 175). Um Parallelstellen handelt es sich hierbei, weil das Thema dasselbe ist: die Bedingungen des Gebrauchs der Kategorien. Außerdem führt Kant in dem den Schematismus behandelnden ersten Hauptstück der Transzendentalen Doktrin der Urteilskraft eine Mehrzahl von Schemata auf, die jeweils einzelnen Verstandesbegriffen zugeordnet sind (Vgl. A 142 / B 182 bis A 145 / B 185). Im Anschluss an diese Aufzählung schreibt Kant über diese Schemata: Also sind die Schemate der reinen Verstandesbegriffe die wahren und einzigen Bedingungen, diesen eine Beziehung auf Objecte, mithin Bedeutung zu verschaffen […]. (A 145 f. / B 185)

Auch in dieser Passage ist das Thema der Gebrauch der Kategorien unter gewissen Bedingungen, nämlich der Verknüpfung der reinen Verstandesbegriffe mit Objekten unter Verwendung der entsprechenden Schemata. Auch an dieser Stelle spricht Kant von diesen Bedingungen im Plural. Die ausgesuchten Äußerungen Kants dürften hinreichend belegen, dass es sich bei der sinnlichen Bedingung, von der im Schematismuskapitel laut A 136 / B 175 die Rede sein soll, der Sache nach um eine Mehrzahl von Bedingungen handelt. In einer wohlwollenden Lesart wird man diesen Singular daher als Kollektivsingular auffassen. Dadurch wäre dann auch Kants Rückbezug auf diesen Ausdruck mittels der pluralischen Wendung „unter diesen Bedingungen“ grammatikalisch gerechtfertigt. Da also – wie soeben erläutert – zu einem vollständigen Verständnis dessen, was Kant die Axiome der Anschauung nennt, notwendig auch ein wenigstens vorläufiges Verständnis des Schematismus gehört, wird es hilfreich sein, sich zunächst zu vergegenwärtigen, welchen Argumentationsstand die Kritik der reinen Vernunft zu Beginn des Schematismuskapitels bereits erreicht und welche Argumentationsschritte sie noch zu leisten hat.

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Die Aufgabe, die Kant sich in der Kritik stellt, lässt sich bekanntlich in der Frage ausdrücken, wie synthetische Urteile a priori möglich sind (vgl. B 19). Kants Antwort auf diese Frage ist mit einem Wort seine Zweistämmelehre, nach der Anschauungen und Begriffe die beiden apriorischen Elemente aller Erkenntnis sind, durch deren Verbindung Erkenntnis überhaupt erst möglich wird (vgl. A 50-52 / B 74-76). Diese Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis gelten insbesondere für die synthetischen Urteile a priori. Die argumentative Last für das sinnliche Element, die Anschauung, trägt in der Kritik die Transzendentale Ästhetik. In ihr beansprucht Kant zu zeigen, „daß es zwei reine Formen sinnlicher Anschauung als Principien der Erkenntniß a priori gebe, nämlich Raum und Zeit“ (A 22 / B 36). In der Analytik der Begriffe vollzieht Kant den hierzu analogen Argumentationsschritt auf Seiten des Verstandes. Am Ende dieses Abschnitts schreibt Kant rückblickend über die Transzendentale Deduktion der Verstandesbegriffe: „Sie ist die Darstellung der reinen Verstandesbegriffe […] als Principien der Möglichkeit der Erfahrung“ (B 168 f.). Was also bis zum Ende der Analytik der Begriffe erreicht sein sollte, ist die Darstellung von Elementen der menschlichen Erkenntnis – Raum und Zeit auf Seiten der Sinnlichkeit sowie der Kategorien auf Seiten des Verstandes – und, da Kant diese Elemente als Prinzipien ausweist, der Nachweis, dass es sich dabei um notwendige Bedingungen der Erkenntnis handelt. Was bis hierher noch nicht seinen Ort gefunden hat, ist eine Erläuterung der Zweistämmelehre hinsichtlich des oben bereits erwähnten Umstands, dass Erkenntnis nur dadurch zustande kommen kann, dass sich ihre Elemente miteinander vereinen. Dazu, wie man sich diese Vereinigung vorzustellen hat, macht Kant in der Einleitung zur Transzendentalen Logik einige Andeutungen (A 51 / B 75 ): Unsre Natur bringt es so mit sich, daß die A n s c h a u u n g niemals anders als s i n n l i c h sein kann, d. i. nur die Art enthält, wie wir von Gegenständen afficirt werden. Dagegen ist das Vermögen, den Gegenstand sinnlicher Anschauung zu d e n k e n , der V e r s t a n d . Keine dieser Eigenschaften ist der andern vorzuziehen. Ohne Sinnlichkeit würde uns kein Gegenstand gegeben und ohne Verstand keiner gedacht werden. Gedanken ohne Inhalt sind leer, Anschauungen ohne Begriffe sind blind. Daher ist es eben so nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen), als seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen).

Der Passus, auf den es hier ankommt, ist der letzte Satz dieses Zitats. Die notwendige Verbindung der beiden Erkenntniselemente ist hier in zweierlei Hinsicht beschrieben, nämlich einmal von der Seite des Begriffs, einmal von der Seite der Anschauung. In Bezug auf die Perspektive von Seiten der Anschauung ist es demnach nötig, „seine Anschauungen […] unter Begriffe zu bringen“. Die dieser Ausdrucksweise zugrundeliegende Vor-

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stellung ist offenbar die einer handwerklichen Erzeugung. Mit der Anschauung ist ein noch unbearbeitetes Material, ein „Stoff“ gegeben, den es unter Verwendung der zur Verfügung stehenden Werkzeuge zu bearbeiten gilt. Die Rolle der zur Verfügung stehenden Werkzeuge spielen im vorliegenden Zusammenhang die Begriffe. Sie sind auf den gegebenen Stoff anzuwenden; der Stoff, die Anschauung, ist „unter Begriffe zu bringen“.1 Allein aus dem Verständnis dieser sprachlich im Hintergrund liegenden Vorstellung heraus wird deutlich, dass Kant sich der am Ende der Begriffsanalytik noch ausstehenden Aufgabe einer Erläuterung der Möglichkeit der Verbindung von Anschauung und Begriff zuwendet, wenn er im zweiten Absatz des Schematismuskapitels dessen Thema in die Frage fasst: Wie ist nun die S u b s u m t i o n der [sinnlichen Anschauungen] unter die [reinen Verstandesbegriffe], mithin die A n w e n d u n g der Kategorie auf Erscheinungen möglich […]? (A 137 / B 176)

Das Schematismuskapitel setzt sich damit zum Ziel, zu erklären, wie die Anwendung einer bestimmten Klasse von Begriffen, nämlich der Kategorien oder reinen Verstandesbegriffe, auf Erscheinungen, mithin auf Anschauungen möglich ist.2 Damit bezieht sich Kant auf das implizit bereits in der Einleitung zur Transzendentalen Logik enthaltene Problem seiner Zweistämmelehre, nämlich die Möglichkeit einer Verbindung dieser beiden heterogenen Elemente der Erkenntnis. Noch ein weiterer Grund lässt sich dafür angeben, dass man die zuletzt zitierte Passage vom Beginn des Schematismuskapitels als Antwort auf das in der Zweistämmelehre enthaltene Problem einer Verbindung der Erkenntniselemente lesen sollte. Beide Textstellen (Schematismuskapitel und Einleitung in die Transzendentale Logik) zeigen nämlich dasselbe Verständnis von der Anwendung der Begriffe auf Erscheinungen. Diese Anwendung besteht darin, die „Anschauungen […] unter Begriffe zu bringen“ (A 51 / B 75), d. h., sie unter Begriffe zu subsumieren (s. o. die _____________ 1 In der Einleitung zur Kritik redet Kant z. B. davon, dass der Verstand „den rohen Stoff sinnlicher Empfindungen bearbeitet“ (A 1; vgl. ebenfalls B 1) oder in § 21 auch ausdrücklich davon, dass er „den Stoff zum Erkenntniß, die Anschauung, […] verbindet und ordnet“ (B 145). 2 Auch Curtius kommt in seiner Rekonstruktion von Kants Argumentationsganges zu dem Ergebnis, dass das Thema des Schematismus die Möglichkeit der Anwendung der Kategorien auf Anschauungen ist (vgl. Curtius 1914, insbes. S. 340342). – Denjenigen, der vielleicht an der oben durch das Wörtchen „mithin“ vollzogenen Gleichsetzung von Erscheinung und Anschauung Anstoß nimmt, möchte ich an dieser Stelle auf den § 2 von Gerold Prauss’ Erscheinung bei Kant verweisen. Prauss erläutert dort, in welchem Sinne man Erscheinung und Anschauung gleichsetzen kann (vgl. bes. S. 29-31).

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Erläuterung von A 137 / B 176).3 In diesem Sinne bestimmt die Stelle aus dem Schematismuskapitel näher, was es heißen soll, „seine Anschauungen […] unter Begriffe zu bringen“. Damit ist gemeint, eine Anschauung unter einen Begriff zu subsumieren.4 Speziell für die Kategorien schreibt Kant auch in A 139 / B 178: Daher wird eine Anwendung der Kategorie auf Erscheinungen möglich sein vermittelst der transscendentalen Zeitbestimmung, welche als das Schema der Verstandesbegriffe die S u b s u m t i o n der letzteren unter die erste vermittelt.

Das Schema der Verstandesbegriffe vermittelt gemäß dieser Passage also die Subsumtion der Erscheinungen unter die Kategorien und erweist sich in diesem Sinne als eine Bedingung der Möglichkeit der Anwendung der reinen Verstandesbegriffe auf Erscheinungen. Die Lücke zwischen den beiden Elementen der Erkenntnis soll nach Kant also dadurch geschlossen werden, dass man Anschauungen unter Begriffe subsumiert. Die Verbindung von Anschauung und Begriff kommt zustande durch Subsumtion der Anschauung unter den Begriff. Zu erklären, wie diese Subsumtion möglich ist, nämlich vermittels des Schemas, ist die Aufgabe des Schematismuskapitels.5 In kompakter Form drückt Kant diesen Zusammenhang auch noch einmal in dem folgenden Zitat (A 247 / B 304) aus: Nun gehört zum Gebrauche eines Begriffs noch eine Function der Urtheilskraft, worauf ein Gegenstand unter ihm subsumirt wird, mithin die wenigstens formale Bedingung, unter der etwas in der Anschauung gegeben werden kann. Fehlt diese Bedingung der Urtheilskraft (Schema), so fällt alle Subsumtion weg; denn es wird nichts gegeben, was unter den Begriff subsumirt werden könne.

Der soweit erlangte Überblick über die Funktion des Schematismuskapitels innerhalb der Kritik der reinen Vernunft erlaubt es nun, sich ein klareres Bild davon zu verschaffen, welchen Nutzen eine Erläuterung des Schematismus für das Verständnis dessen erwarten lässt, was Kant die Axiome der Anschauung nennt. Als Grundsätze des reinen Verstandes sind die Axiome der Anschauung nämlich Sätze, die nur unter gewissen Bedingungen zustande kommen können (vgl. A 136 / B 175). Diese Bedingungen, _____________ 3 Kant verwendet den Ausdruck „subsumieren unter …“ synonym mit dem Ausdruck „bringen unter …“. Das geht insbesondere aus zahlreichen Stellen hervor, in denen Kant davon spricht, etwas „unter eine Regel“ zu bringen oder zu subsumieren. Vgl. z. B. A 133 f. / B 171 f., A 179 / B 221, in einem Zusammenhang in A 306-307 / B 363-364. 4 Dass es notwendig ist, eine gegebene Anschauung unter einen Begriff zu subsumieren, betont Kant auch in den Prolegomena: „Die gegebene Anschauung muß unter einem Begriff subsumirt werden“ (AA IV 300). 5 Siehe auch Chipman 1972, S. 41: „The Schematism is thus intended to answer one of the questions left unanswered by the Analytic of Concepts; namely, how is the subsumption of appearances under pure concepts possible?”

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Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes

die Schemata, sollen erklären, wie „etwas in der Anschauung gegeben“ und so unter einen Begriff subsumiert werden kann (A 247 / B 304), d. h. im Falle der Grundsätze des reinen Verstandes, wie Erscheinungen unter Kategorien subsumiert werden können (vgl. erneut A 136 / B 175 sowie A 139 / B 178). Demgemäß lässt sich von einer Erläuterung des Schematismus der Axiome der Anschauung Aufschluss darüber erwarten, unter welchen Bedingungen sich die den Axiomen der Anschauung zugeordneten Kategorien auf Erscheinungen anwenden lassen. Unter Berücksichtigung der engen Verzahnung von Kategorie und Schema wird die folgende Untersuchung daher erstens zeigen, an welche sinnlichen Bedingungen als ihr Schema (vgl. A 136 / B 175) die Axiome der Anschauung gebunden sind, und zweitens, unter welche Kategorien sie die Erscheinungen mithilfe dieser Schemata subsumieren.6 Dieser Darstellung des Zusammenhangs der Axiome der Anschauung mit den ihnen zugehörigen Schemata und Kategorien werde ich mich allerdings nicht unmittelbar zuwenden. Vielmehr werde ich zunächst erörtern, weshalb eine Verbindung von Anschauung und Begriff, die der Schematismus zur Aufgabe hat, überhaupt notwendig ist (Kapitel 1.1). Bei der Erörterung dieser Frage werde ich mich in einem Exkurs eingehender mit Kants Begriff der Erscheinung sowie mit dem Problem der Objektivität beschäftigen. An diesen Teil werde ich einen weiteren Abschnitt anschließen, der erklärt, inwiefern in der Darstellung eines Gegenstandes in der Anschauung jederzeit schon Schematisierungen gemäß den Kategorien der Quantität involviert sind. Bei diesen Erklärungen wird insbesondere deutlich werden, inwieweit Anschauungen durch die Subsumtion unter Begriffe überhaupt erst verständlich werden (Kapitel 1.2). Erst in Kapitel 2 werde ich dann den Schematismus der Kategorien im speziellen Kontext der Axiome der Anschauung betrachten.

_____________ 6 Dieser Punkt ist nicht ganz unerheblich, da er ein Stück weit die Verwirrung auflösen kann, die Kant durch den bereits häufig bemerkten Umstand gestiftet hat, dass er den Quantitäts- und Qualitätskategorien ausdrücklich jeweils nur ein einziges Schema zuzuordnen scheint (vgl. z. B. Smith: Commentary, S. 341; Paton: Kant’s Metaphysic, Bd. II, S. 63-64; Allison, Idealism, S. 218).

Phänomen und Apparens

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1.1. Phänomen und Apparens Der zurückliegende Abschnitt hat u. a. herausgestellt, dass im Rahmen der kantischen Zweistämmelehre der Schematismus als das Bindeglied angesehen werden muss, wodurch Kant die Möglichkeit einer Verbindung der beiden Elemente der Erkenntnis, d. h. die Möglichkeit einer Verbindung von Anschauung und Begriff erklärt. Ich hatte mich im Zusammenhang dieser Erörterungen auf nur eine von zwei möglichen Perspektiven der Verbindung dieser Elemente konzentriert, nämlich auf diejenige aus Sicht der Anschauung, wonach es gemäß A 51 / B 75 nötig ist, „seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)“ (s. o., S. 15). Diese Perspektive werde ich hier insofern weiterverfolgen, als ich genauer erörtern möchte, warum bzw. inwiefern ein solches Vorgehen nötig ist. Die auf diese Weise erlangte Einsicht in die Notwendigkeit einer Verbindung von Anschauung und Begriff bedeutet zugleich ein vertieftes Verständnis des Schematismus, durch den diese Verbindung zustande gebracht wird, und infolgedessen auch ein vertieftes Verständnis der Axiome der Anschauung, zu deren Bedingungen der Schematismus gehört (s. o., S. 13). Die Notwendigkeit, seine Anschauungen unter Begriffe zu bringen, ergibt sich kurz gesprochen aus einem gewissen Mangel der Anschauung, aufgrund dessen sie für sich genommen zu einer vollständigen Erkenntnis nicht zureicht. Eine genauere Beschreibung dieses Mangels und seiner Beseitigung durch die Verbindung von Anschauung und Begriff führt auf die Erörterung des kantischen Begriffs der Erscheinung. Auf diese Verknüpfung stößt man z. B., wenn man Kants folgende Beschreibung der wechselseitigen Abhängigkeit von Anschauung und Begriff aus § 14 der Kritik näher betrachtet: Es sind aber zwei Bedingungen, unter denen allein die Erkenntniß eines Gegenstandes möglich ist, erstlich A n s c h a u u n g , dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung, gegeben wird; zweitens B e g r i f f , dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht. (A 92 f. / B 125)

Es wird hilfreich sein, dieses Zitat zunächst mit der bereits zitierten Parallelstelle der Einleitung in die Transzendentale Logik abzugleichen und so die verschiedenen Beschreibungen des Verhältnisses von Anschauung und Begriff zueinander in Beziehung zu bringen. Heißt es in der Einleitung, es sei „nothwendig, seine Begriffe sinnlich zu machen (d. i. ihnen den Gegenstand in der Anschauung beizufügen)“ (A 51 / B 75), so heißt es in § 14 diesbezüglich, durch die Anschauung werde der Gegenstand, „aber nur als Erscheinung, gegeben“. Der verbindende Terminus dieser beiden Beschreibungen ist offenkundig das Wort „Gegenstand“. Die zuerst von Kant genannte Bedingung der Möglichkeit von Erkennt-

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nis, die Anschauung, durch die ein Gegenstand gegeben wird, entspricht dementsprechend – sofern die vorgenommene Parallelführung berechtigt ist – der Notwendigkeit, einem Begriff den Gegenstand in der Anschauung beizufügen und ihn dadurch „sinnlich zu machen“. Umgekehrt lässt sich § 14 auf diesem Wege entnehmen, dass der Gegenstand, der gemäß der Einleitung in die Transzendentale Logik einem Begriff beigefügt werden muss, Gegenstand nur in einem ganz bestimmten Sinne ist, nämlich „nur als Erscheinung“. Außerdem wird man sich aufgrund dieser Parallele etwas besser vorstellen können, was es heißen soll, „seine Anschauungen sich verständlich zu machen (d. i. sie unter Begriffe zu bringen)“, wie es in der Einleitung zur Transzendentalen Logik heißt (A 51 / B 75). Wenn nämlich gemäß § 14 durch den Begriff „ein Gegenstand gedacht wird“, der einer Anschauung entspricht (A 92 f. / B 125), so wird man annehmen dürfen, dass diese Anschauung diese Entsprechung mit einem Gegenstand nicht schon von sich aus mitbringt, sondern erst in der Verbindung mit dem Begriff erhält.7 Verständlich macht man sich eine Anschauung durch Subsumtion unter einen Begriff dementsprechend insofern, als man sich dadurch einen Gegenstand denkt, der dieser Anschauung entspricht. In der zuletzt gegebenen Beschreibung ist auch schon der Mangel der Anschauung angesprochen, von welchem im zweiten Absatz dieses Abschnitts die Rede war. Was der Anschauung als solcher mangelt, ist die Beziehung auf einen Gegenstand, wie Kant im Abschnitt über die Phaenomena und Noumena auch selbst deutlich macht: […] durch bloße Anschauung wird gar nichts gedacht, und daß diese Affection der Sinnlichkeit in mir ist, macht gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Object aus. Lasse ich aber hingegen alle Anschauung weg, so bleibt doch noch die Form des Denkens, d. i. die Art, dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen. (A 253 f. / B 309)

Auch diese Passage bietet eine alternative Formulierung für einen bereits angesprochenen Sachverhalt. Während Kant sich in § 14 so ausdrückt, dass durch den Begriff ein Gegenstand gedacht wird, der einer Anschauung entspricht (vgl. A 92 f. / B 125), sagt er an der soeben zitierten Stelle, die Form des Denkens, mithin die Form des (sic!) „Erkenntniß durch Begriffe“ (A 69 / B 94), bestehe darin, „dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand zu bestimmen“. Da das Vorliegen einer Anschauung für sich genommen also keine Beziehung auf einen Gegenstand ausmacht, entsteht die Notwendigkeit, ‚ihrem Mannigfaltigen’ „einen Gegenstand zu bestimmen“, indem man einen Gegenstand denkt, der ihr entspricht. _____________ 7 So auch Prauss in Erscheinung, am deutlichsten auf Seite 43.

Phänomen und Apparens

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Wenn aber die Anschauung als solche gemäß Kants ausdrücklicher Behauptung „gar keine Beziehung auf irgend ein Object“ hat, so ist erklärungsbedürftig, inwiefern „dadurch [ein Gegenstand] […] gegeben“ (A 92 f. / B 125) bzw. einem Begriff „ein Gegenstand in der Anschauung“ beigefügt werden soll (vgl. A 51 / B 75). Zur Lösung dieser Schwierigkeit sollte man die bereits oben vermerkte Einschränkung beachten, dass die Anschauung den Gegenstand „nur als Erscheinung“ gibt (A 92 f. / B 75). Béatrice Longuenesse macht bei ihrer Kommentierung dieser Stelle darauf aufmerksam, dass Kant das Wort „Gegenstand“ hier auf zweierlei Art gebraucht, wenn er darauf hinweist, dass die Erkenntnis eines Gegenstandes nur unter zwei Bedingungen möglich sei, nämlich „erstlich Anschauung, dadurch derselbe, aber nur als Erscheinung, gegeben wird; zweitens Begriff, dadurch ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht“ (ebd.). Genauer enthalte dieses Zitat eine Unterscheidung, von der Kant bereits in der Dissertation Gebrauch machte. Dem Gegenstand, sofern er durch die Anschauung, „aber nur als Erscheinung“, gegeben sei, entspreche der lateinische Terminus „apparentia“, dem Gegenstand, sofern er als ein dieser Anschauung entsprechender gedacht wird, der Ausdruck „phaenomenon“.8 Mit dieser Rückführung auf die Termini „apparentia“ und „phaenomenon“ erweist sich die in obigem Zitat enthaltene Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „Gegenstand“ als identisch mit einer in der Literatur schon mehrfach diskutierten Zweideutigkeit eines anderen Begriffs, des Begriffs der Erscheinung. Bereits Vaihinger stellt zwei Bedeutungen des Begriffs der Erscheinung nebeneinander.9 Er unterscheidet zwischen der Erscheinung als „begrifflich noch unbestimmte[r] Anschauung“ auf der einen und der „kategorial bestimmte[n] Anschauung“ auf der anderen Seite.10 Diese Unterscheidung gründet sich vor allem auf zwei Stellen der Kritik der reinen Vernunft, nämlich zum einen auf eine Passage aus dem § 1, zum anderen auf einen Passus aus dem Abschnitt über die Phänomena und Noumena. Die erste Stelle definiert die Erscheinung ausdrücklich als „de[n] unbestimmte[n] Gegenstand einer empirischen Anschauung“ (A 20 / B 34), die zweite lautet: „Erscheinungen, so fern sie als Gegenstände nach der Einheit der Kategorien gedacht werden, heißen Phaenomena“ (A 248 f.). Den Bezug zu den lateinischen Ausdrücken der Dissertation legt das letzte Zitat schon allein aufgrund seines Wortlauts nahe, da in ihm ja be_____________ 8 Vgl. Longuenesse, Capacity, S. 24 f. 9 Er bezieht sich in diesem Zusammenhang allerdings auch auf Arnoldt, der schon vor ihm auf diesen Unterschied hingewiesen hat. Vgl. Vaihinger, Commentar, Bd. II, S. 30 – 35, bes. S. 31. 10 Ebd., S. 32.

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reits der Terminus „phaenomena“ ausdrücklich enthalten ist. Den Zusammenhang der genannten Zweideutigkeit des Begriffs der Erscheinung mit beiden lateinischen Ausdrücken erläutert dagegen in einiger Ausführlichkeit Gerold Prauss in seinem Buch Erscheinung bei Kant. Darin ordnet er den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung dem lateinischen Begriff der „apparentia“, den nach der Einheit der Kategorien gedachten Gegenstand dem Ausdruck „phaenomenon“ zu.11 Um die Verwirrung, die durch die Doppeldeutigkeit des Ausdrucks „Erscheinung“ leicht entstehen kann, zu vermeiden, will Prauss diesen Ausdruck in seinem Buch lediglich als Bezeichnung für den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung, also für die Erscheinung im Sinne der apparentia verstanden wissen, während er dem durch die Kategorie bestimmten Gegenstand die Bezeichnung „Phänomen“ vorbehält. So begrüßenswert eine terminologische Festlegung für den kantischen Begriff der Erscheinung auch ist, birgt die von Prauss vorgeschlagene Terminologie doch den Nachteil, dass sie einen von Kant verwendeten und in seinem Gebrauch mehrdeutigen Ausdruck willkürlich auf nur eine seiner Bedeutungen einschränkt, statt einen neuen Terminus einzuführen, der gar nicht erst in der Gefahr steht, mit der kantischen Terminologie verwechselt zu werden. Dieser Vorschlag von Prauss ist überdies besonders verwunderlich, da Prauss selbst darauf verweist, dass Kant in seiner Preisschrift für die Teilbedeutung des Ausdrucks „Erscheinung“ im Sinne der apparentia einen eigenen Ausdruck einführt, die „Apparenz“:12 Ferner ist noch anzumerken, daß Erscheinung, im transscendentalen Sinn genommen, da man von Dingen sagt, sie sind Erscheinungen (Phaenomena), ein Begriff von ganz anderer Bedeutung ist, als wenn ich sage, dieses Ding erscheint mir so oder so, welches die physische Erscheinung anzeigen soll, und Apparenz, oder Schein, genannt werden kann.13

Bei diesem Zitat ist jedoch zu beachten, dass Kant streng genommen nicht den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung als Apparenz bezeichnet. Vielmehr setzt er die Apparenz der Erscheinung, sofern damit Gegenstände oder „Dinge“, wie Kant sagt, gemeint sind, entgegen. Die Apparenz bezeichnet nach dem hier vorgetragenen Sprachgebrauch Kants die Art und Weise, wie sich ein Gegenstand einem Be_____________ 11 Vgl. Prauss, Erscheinung, S. 19. – Schon Vaihinger führt diesen Unterschied ebenfalls, wenngleich weniger ausführlich, auf die Dissertation zurück. Vgl. Vaihinger, Commentar, Bd. II, S. 32. 12 Vgl. Prauss, Erscheinung, S. 18 ff. 13 Kant, Preisschrift, AA XX 269. Vgl. auch Träume, AA II 339 f., 340 f., 362-365; KdU, § 51, AA V 322; Op. post, AA XXII 343; außerdem in den Reflexionen 4347 (AA XVII 514 f.), 4999, 5247, 5429 (AA XVIII).

Phänomen und Apparens

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trachter darstellt, und nicht diesen Gegenstand selbst.14 Es ist an dieser Stelle von Erscheinung im Sinne eines Vorgangs die Rede und das könnte vielleicht besser als das „Erscheinen“ eines Gegenstandes wiedergegeben werden. Aus diesem Grunde ist der Ausdruck „Apparenz“ nicht besonders gut gewählt, sofern er den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung bezeichnen soll, der ja – als Gegenbegriff zum durch die Kategorie bestimmten Gegenstand, dem Phänomen – nicht das Erscheinen eines Gegenstandes bedeutet, sondern vielmehr dasjenige, was erscheint, mithin den Gegenstand oder das Erscheinende selbst im Sinne eines unbestimmten Gegenstandes einer empirischen Anschauung. Man kann diese Bedeutung terminologisch treffend festhalten, indem man den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung, sowohl in Anlehnung an als auch in Abgrenzung von Kants Begriff der Apparenz, das „Apparens“ nennt. Ich werde daher im Folgenden die Erscheinung im Sinne des durch die Kategorie bestimmten Gegenstandes mit Prauss als Phänomen, von seiner Terminologie abweichend die Erscheinung als unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung aber als Apparens bezeichnen. ***** Exkurs: Das Problem der Objektivität Für den vorliegenden Zusammenhang ist noch eine weitere Interpretation Praussens von Belang, gemäß welcher er Apparenz und Phänomen auch als subjektiven und objektiven Gegenstand unterscheidet.15 Dabei beruft er sich u. a. auf eine Passage, die auch für die vorliegende Frage, inwiefern die Anschauung einen Gegenstand geben kann, von Bedeutung ist: Nun kann man zwar alles und sogar jede Vorstellung, so fern man sich ihrer bewußt ist, Object nennen; allein was dieses Wort bei Erscheinungen zu bedeuten habe, nicht in so fern sie (als Vorstellungen) Objecte sind, sondern nur ein Object bezeichnen, ist von tieferer Untersuchung. (A 189 f. / B 234 f.)

Kant betrachtet die Erscheinungen hier in zweierlei Hinsicht. Zum einen können Erscheinungen „als Vorstellungen“ Objekte sein, zum anderen _____________ 14 Vgl. auch KdU, § 51: „die Gestalt aber […] wird entweder in ihrer körperlichen Ausdehnung (wie der Gegenstand selbst existirt) oder nach der Art, wie diese sich im Auge malt (nach ihrer Apparenz in einer Fläche), gegeben“ (AA V 322). 15 Vgl. Prauss, Erscheinung, S. 16 f. Man beachte, dass Prauss an dieser Stelle lediglich von der „empirischen Erscheinung“ und dem „empirischen Ding an sich“ redet, die er jedoch auf Seite 19 mit der Apparenz, respektive dem Phänomen identifiziert. – Da hier von Gegenständen die Rede sein soll, erhellt aus dem im letzten Absatz Gesagten, dass man den subjektiven Gegenstand besser als Apparens denn als Apparenz bezeichnet. Prauss berücksichtigt diesen Unterschied nicht.

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können sie aber auch „nur ein Object bezeichnen“. Was es heißen soll, dass Erscheinungen „als Vorstellungen“ Objekte sind, wird deutlich, wenn man eine Passage aus A 108 hinzuzieht: „Alle Vorstellungen haben als Vorstellungen ihren Gegenstand und können selbst wiederum Gegenstände anderer Vorstellungen sein“. In dieser Passage ist das Wort „Gegenstand“ schlicht im Sinne eines Inhalts gebraucht, in demselben Sinne, wie man z. B. auch sagt, dass man ein bestimmtes Thema zum Gegenstand der Diskussion macht. Kant scheint mit dieser Wendung ausdrükken zu wollen, dass Vorstellungen einen gewissen Inhalt haben – nämlich dasjenige, was sie vorstellen –, dass sie selbst aber auch ebenso zum Inhalt einer anderen Vorstellung dienen können. „[S]o fern man sich ihrer bewußt ist“ (A 189 f. / B 234 f.), ist eine Erscheinung Objekt demnach zunächst einmal insofern, als sie Vorstellungsinhalt einer anderen Vorstellung ist. In einer an Brentano anknüpfenden, heute gebräuchlichen Terminologie würde man die Erscheinung in diesem Sinne somit wahrscheinlich als „intentionalen“ Gegenstand bezeichnen.16 Dass eine Erscheinung Gegenstand im Sinne eines solchen intentionalen Gegenstandes sein kann, scheint für Kant – zumindest an der hier in Rede stehenden Stelle – keine besondere Schwierigkeit darzustellen. Von Interesse ist für ihn offenbar vielmehr, was das Wort „Objekt“ bedeuten soll, nicht insofern Erscheinungen „(als Vorstellungen) Objecte sind“, sondern bloß insofern, als sie „nur ein Object bezeichnen“ (A 189 f. / B 234 f.). Dieser Fragestellung lässt sich zunächst entnehmen, dass sich mithilfe von Erscheinungen Objekte „bezeichnen“ lassen. Fraglich ist, weshalb Kant diese Eigenschaft der Erscheinungen mit einem „nur“ einschränkt. Da der Gegensatz dieser in Frage stehenden Bedeutung von „Objekt“, den Kant in dieser Äußerung durch das „sondern“ zum Ausdruck bringt, darin besteht, dass Erscheinungen „(als Vorstellungen) Objecte sind“ – und d. h. nach den soeben angestellten Erläuterungen: intentionale Gegenstände –, könnte man vermuten, dass Erscheinungen, „insofern […] sie nur ein Object bezeichnen“, gerade keine intentionalen Gegenstände sind. Das „nur“ wäre dann dahingehend als Einschränkung zu verstehen, dass Kant dadurch seiner zuvor vermerkten Behauptung Rechnung trägt, der gemäß man „jede Vorstellung, so fern man sich ihrer bewusst ist, Object nennen“ kann (ebd.). Denn auch Erscheinungen könnte man grundsätzlich in diesem Sinne Objekte nennen, sofern man sie nämlich als Gegenstände anderer Vorstellungen betrachtet. Betrachtet man die Erscheinungen aber „insofern […] sie ein Objekt nur bezeichnen“, würde man sie dieser Lesart zufolge gerade nicht als Gegenstände anderer Vor_____________ 16 Vgl. Brentano, Psychologie, Bd. I, Buch 2, Kap. I, § 5.; S. 124 ff.

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stellungen, mithin als intentionale Gegenstände auffassen. Eine solche Auslegung ergibt auch inhaltlich einen guten Sinn, da die Erscheinungen, sofern sie ein Objekt nur bezeichnen, – mithin als bloße Zeichen – ja nicht selbst als Gegenstände einer bestimmten Vorstellung betrachtet werden, sondern lediglich als ein Mittel, wodurch man sich das durch sie Bezeichnete zum Gegenstand macht. In diesem Verhältnis wäre entsprechend dieses Bezeichnete als der intentionale Gegenstand zu sehen, nicht aber die Erscheinungen, die ja bloß das Bezeichnende sind. Worin besteht nun aber die Schwierigkeit zu bestimmen, was das Wort „Object“ „bei Erscheinungen zu bedeuten habe, […] so fern sie […] ein Object nur bezeichnen“ (ebd.)? Da man nach Kant (an dieser Stelle) recht unproblematisch „alles […] Object nennen“ kann (ebd.), sofern man darunter nichts weiter als den intentionalen Gegenstand einer Vorstellung versteht, ist anzunehmen, dass auch das Objekt, sofern es durch die Erscheinung bezeichnet wird, als bloß intentionaler Gegenstand keine besonderen Schwierigkeiten bereitet. Die Schwierigkeit mit dieser Art von Gegenstand müsste demnach in anderer Weise bestehen. Als Beschreibung dieser besonderen Schwierigkeit kann man eine Passage aus dem Abschnitt über die Analogien verstehen. Dort schreibt Kant: Wir haben Vorstellungen in uns, deren wir uns auch bewusst werden können. Dieses Bewusstsein aber mag so weit erstreckt und so genau oder pünktlich sein, als man wolle, so bleiben es doch nur immer Vorstellungen, d. i. innre Bestimmungen unseres Gemüths in diesem oder jenem Zeitverhältnisse. Wie kommen wir nun dazu, dass wir diesen Vorstellungen ein Object setzen, oder über ihre subjective Realität als Modificationen ihnen noch, ich weiß nicht, was für eine objective beilegen? (A 242 / B 197)

Dieses Zitat beginnt mit einer Variante des auch in A 189 f. / B 234 f. sowie in A 108 geäußerten Gedankens, dass man sich Vorstellungen bewusst machen und sie damit zum intentionalen Gegenstand anderer Vorstellungen machen kann. Der zweite Satz hält daraufhin fest, dass Vorstellungen dadurch, dass sie zum intentionalen Gegenstand anderer Vorstellungen gemacht werden, nicht aufhören, Vorstellungen zu sein. Als solche sind sie nichts als „Modificationen“17 oder „innere Bestimmungen unseres Gemüths“ und haben daher lediglich „subjective Realität“. Das Problem, das Kant sodann in der dieses Zitat abschließenden Frage formuliert, scheint darin zu bestehen, dass wir wenigstens einigen dieser Vorstellungen „ein Object setzen“ und ihnen dadurch eine besondere, „objective“ Realität beilegen, die sich von ihrer bloß subjektiven Realität in einer an dieser Stelle noch nicht näher bestimmten Weise („ich weiß nicht, was für eine“) unterscheidet. Was uns dazu berechtigt („Wie kommen wir nun _____________ 17 Vgl. A 97 sowie A 98 f.

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Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes

dazu“), bestimmten Vorstellungen diese objektive Realität zuzuschreiben, ist hier Kants Frage. Um den Unterschied zwischen subjektiver und objektiver Realität deutlicher zu fassen, ist es hilfreich, sich etwas mehr Klarheit darüber zu verschaffen, was Kant unter dem versteht, was er „innere Bestimmungen unseres Gemüths“ nennt. Dazu erfährt man in § 2 der Kritik: Der innere Sinn, vermittelst dessen das Gemüth sich selbst oder seinen inneren Zustand anschauet, giebt zwar keine Anschauung von der Seele selbst als einem Object; allein es ist doch eine bestimmte Form, unter der die Anschauung ihres inneren Zustandes allein möglich ist, so dass alles, was zu den inneren Bestimmungen gehört, in Verhältnissen der Zeit vorgestellt wird. (A 23 f. / B 34)

Kants Absicht ist an dieser Stelle zu Beginn der Transzendentalen Ästhetik vornehmlich, dem inneren Sinn die Form der Zeit zuzuordnen und dadurch den Begriff der Zeit in die Diskussion einzuführen, dessen Analyse – neben der des Begriffs vom Raum – dieser Abschnitt hauptsächlich gewidmet ist. Für den vorliegenden Zusammenhang ist diese Passage aber interessant, weil sie die inneren Bestimmungen als den Gegenstand des inneren Sinnes vorstellt. Dass es sich dabei um die in Rede stehenden inneren Bestimmungen des Gemüts handelt, lässt sich daraus ersehen, dass sie für Kant offensichtlich mit dem inneren Zustand der Seele zusammenfallen, wobei er das Wort „Seele“ wiederum als gleichbedeutend mit „Gemüt“ verwendet. Die zuerst genannte Gleichsetzung erkennt man daran, dass Kant in der zweiten Hälfte des Zitats dasjenige, was unter einer bestimmten Form, nämlich der der Zeit, vorgestellt wird, einmal als den inneren Zustand der Seele, das andere Mal als dasjenige bezeichnet, „was zu den inneren Bestimmungen gehört“. Dass hingegen „Seele“ und „Gemüt“ als gleichbedeutend gelten müssen, ergibt sich daraus, dass beide Ausdrücke dasjenige bezeichnen, was vermittels des inneren Sinnes „seinen inneren Zustand anschauet“. Gegenstand des inneren Sinnes sind die inneren Bestimmungen des Gemüts daher insofern, als durch ihn das Gemüt sich eine Vorstellung von seinem inneren Zustand, d. h. von seinen inneren Bestimmungen macht. Da nun der innere Sinn zur Sinnlichkeit gehört, welche Kant als die Fähigkeit (Rezeptivität) bezeichnet, „Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen“ (A 19 / B 33), lässt sich die Frage stellen, ob sich im Falle des inneren Sinnes nicht genauer angeben lässt, wodurch er affiziert wird. Die Antwort auf diese Frage findet sich im § 24 der zweiten Auflage der Kritik, wo Kant schreibt, dass wir die Bestimmungen des inneren Sinnes gerade auf dieselbe Art als Erscheinungen in der Zeit ordnen müssen, wie wir die der äußeren Sinne im Raume ordnen; mithin, wenn wir von den letzteren einräumen, dass wir dadurch Objecte nur so

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fern erkennen, als wir äußerlich afficirt werden, wir auch vom inneren Sinne zugestehen müssen, dass wir dadurch uns selbst nur so anschauen, wie wir innerlich v o n u n s s e l b s t afficirt werden […]. (B 156)

Diese Passage gibt einen wichtigen Hinweis darauf, wie man Kants Redeweise von inneren und äußeren Bestimmungen eigentlich genau verstehen muss. Die Ausdrücke von „innen“ und „außen“ lassen sich leicht in einem räumlichen Sinne missverstehen, so wie man z. B. von einer einen Kreis schneidenden Sekante sagen kann, dass einige ihrer Teile außerhalb dieses Kreises liegen und einige innerhalb. Man kann aber ausschließen, dass Kant diese beiden Begriffe im vorliegenden Zusammenhang in diesem Sinne versteht. Denn verstünde er diese Begriffe in dem beschriebenen Sinne, so wäre dasjenige, was Kant den „inneren Zustand“ nennt, zwar etwas innerhalb einer gewissen räumlichen Umgrenzung; es wäre aber nichtsdestoweniger etwas Räumliches, d. h. ein Außer- und Nebeneinander (vgl. A 23 / B 38). Dagegen spezifiziert Kant in § 6 diesen Gegenstand des inneren Sinnes als „das Verhältnis der Vorstellungen in unserm innern Zustande“ (A 33 / B 49 f.), mithin, da Vorstellungen als solche wohl kaum als etwas Räumliches gelten dürfen, als etwas NichtRäumliches. Dies wird noch etwas deutlicher durch Kants weitere Ausführung: Und eben weil diese innre Anschauung keine Gestalt giebt, suchen wir auch diesen Mangel durch Analogien zu ersetzen und stellen die Zeitfolge durch eine ins Unendliche fortgehende Linie vor, in welcher das Mannigfaltige eine Reihe ausmacht, die nur von einer Dimension ist, und schließen aus den Eigenschaften dieser Linie auf alle Eigenschaften der Zeit außer dem einigen, daß die Theile der erstern zugleich, die der letztern aber jederzeit nach einander sind. (A 33 / B 50)

Die Teile desjenigen also, was innerlich angeschaut wird, mithin das Verhältnis der Vorstellungen in unserm innern Zustande, sind nicht nebeneinander oder räumlich, sondern lediglich zeitlich, nämlich nacheinander geordnet. Die Trennung eines äußeren von einem inneren Sinn beruht also nicht auf einem räumlichen Verständnis dieser Attribute. Wie aber sind diese Begriffe dann zu verstehen? Hier lässt sich nun auf den bereits vermerkten Hinweis zurückkommen, wonach die oben zitierte Passage aus dem § 24 eine Antwort auf diese Frage geben kann. Dort wird nämlich der Unterschied zwischen äußerem und innerem Sinn so beschrieben, dass „wir äußerlich“ oder „innerlich […] afficirt werden“ (B 156; meine Hervorhebung), wobei Kant, durch graphische Hervorhebung betont, erläutert, dass wir innerlich „durch uns selbst“ affiziert werden. Insbesondere Kants Betonung legt die Vermutung nahe, dass wir äußerlich durch etwas Anderes affiziert werden, durch etwas, was nicht wir selbst sind oder was sich

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von uns unterscheidet.18 Dieser Gebrauch entspricht recht genau der Beschreibung der Reflexionsbegriffe des Inneren und Äußeren in A 265 / B 321. Dort schreibt Kant: „An einem Gegenstande des reinen Verstandes ist nur dasjenige innerlich, welches gar keine Beziehung (dem Dasein nach) auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat.“19 Bezüglich Kants Redeweise von „inneren Bestimmungen des Gemüts“ erweist es sich in mehrfacher Hinsicht als plausibel, das Attribut „innerlich“ im Sinne der soeben genannten Reflexionsbestimmung zu verstehen. Zum einen hatte ich zuletzt darauf hingewiesen, dass im vorliegenden Zusammenhang dieses Wort nicht in einem räumlichen Sinne zu verstehen ist. Dazu passt, dass Kants soeben zitierte Erklärung des Inneren sich auf einen „Gegenstand[ ] des reinen Verstandes“ bezieht und er unmittelbar im Anschluss diese Erklärung von der Darlegung der inneren Bestimmungen abgrenzt, sofern sie „einer substantia phaenomenon im Raume“ (ebd.) zukommen. Demgemäß ist das in der zitierten Passage erklärte Innere ebenfalls nicht räumlich zu verstehen. Aber auch die Annahme, die sich auf Kants Hervorhebung des Ausdrucks „von uns selbst“ stützte, wonach die inneren Bestimmungen des Subjekts auf eine Selbstaffektion zurückzuführen sind, der gegenüber sich die äußerliche Affektion auf etwas von diesem Subjekt Verschiedenes gründet, findet ihre Entsprechung in der vorgestellten Erklärung des Reflexionsbegriffs des Inneren. Denn dort wird gerade dasjenige als innerlich bezeichnet, „was gar keine Beziehung […] auf irgend etwas von ihm Verschiedenes hat“ (ebd.). Man darf aus dieser Formulierung wohl den Umkehrschluss ziehen, dass dasjenige, was durchaus eine Beziehung auf etwas von ihm Verschiedenes hat, entsprechend „äußerlich“ genannt werden darf. Schließlich passt auch die besondere Art der Beziehung dieses Äußeren, wie sie aus der Erklärung des Reflexionsbegriffs des Inneren ableitbar ist und deren Beschreibung ich im letzten Zitat ausgeklammert hatte, gut ins Bild. Wenn sich etwas Inneres „dem Dasein nach“ nicht auf etwas von ihm Verschiedenes bezieht, so wird man annehmen dürfen, dass sich umgekehrt etwas Äußeres eben gerade „dem Dasein nach“ auf etwas von ihm Verschiedenes bezieht. Diese Annahme lässt sich trefflich mit Kants Auffassung der Sinnlichkeit verbinden, wie sie z. B. im § 1 der Kritik zum Ausdruck kommt: _____________ 18 Ähnlich Longuenesse, Capacity, S. 239: „Something corresponds outside me (i.e., distinct from myself and my representations) to what appears to me as a body in the form of space.“ 19 Die Unterscheidung innerer und äußerer Bestimmungen findet sich in ähnlicher Weise auch bei Baumgarten, Metaphysica, § 37, AA XVII 35.

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Die Fähigkeit (Receptivität), Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen afficirt werden, zu bekommen, heißt Sinnlichkeit. (A 19 / B 33)

Diesem Zitat gemäß bekommen wir Vorstellungen durch die Art, wie wir von Gegenständen affiziert werden, was man wohl so verstehen darf, dass die entsprechenden Vorstellungen durch diese Affektion überhaupt erst erzeugt werden, mithin zu demjenigen, was das Subjekt affiziert, „ihrem Dasein nach“ in Beziehung stehen. Wird das Subjekt demnach von etwas von ihm selbst Verschiedenem affiziert, so steht die durch diese Affektion bewirkte Vorstellung auch „dem Dasein nach“ mit etwas vom Vorstellungssubjekt Verschiedenem in Beziehung und ist mithin eine dem Subjekt äußerliche Vorstellung. Ist sie umgekehrt ein Resultat der Selbstaffektion, hat sie „gar keine Beziehung (dem Dasein nach)“ auf etwas vom Subjekt Verschiedenes und ist insofern eine innere Bestimmung des Subjekts.20 Diese Auffassung der inneren Bestimmungen des Gemüts gemäß den Reflexionsbegriffen des Inneren und Äußeren macht schließlich auch die Vollständigkeit von Kants Einteilung der Sinnlichkeit in einen inneren und einen äußeren Sinn einsichtig. Denn gemäß der vorgetragenen Interpretation leitet sich diese Benennung von der Art ab, wie das Erkenntnissubjekt affiziert werden kann, nämlich entweder innerlich, durch sich selbst, oder äußerlich, d. h. durch etwas von ihm selbst Verschiedenes. Es ist klar, dass es sich hierbei, sofern denn überhaupt eine Affektion vorliegt, um eine vollständige Einteilung handelt, denn was nicht identisch ist, ist verschieden, und was nicht verschieden ist, identisch – tertium non datur. Man kann diese Disjunktion durchaus zutreffend auch mit den Ausdrük-

_____________ 20 Es ist an dieser Stelle darauf zu achten, dass die Reflexionsbegriffe des Inneren und Äußeren hier relativ gebraucht werden, und zwar in Bezug auf das Subjekt. Man könnte diese Begriffe freilich auch auf die Vorstellung als solche anwenden, was aber zur Folge hätte, dass diese, sowohl im Falle der Selbstaffektion des Subjekts als auch im Falle der Fremdaffektion, ihrem Dasein nach auf etwas von ihr selbst Verschiedenes, nämlich entweder auf das Subjekt oder auf etwas vom Subjekt Verschiedenes, bezogen wird. Ihre Bestimmung wäre mithin in beiden Fällen „äußerlich“ zu nennen. Innerlich wäre diese Bestimmung in dieser Anwendung der Begriffe nur dann, wenn sich die Vorstellung selbst affizierte. Dass der Begriff des Inneren aber, sofern er wie in A 242 / B 197 auf Bestimmungen angewandt wird, der oben vorgetragenen Interpretation entsprechend in Relation zum Vorstellungssubjekt, also als etwas dem Subjekt Innerliches zu betrachten ist, ergibt sich daraus, dass Kant die inneren Bestimmungen nicht als Bestimmungen ihrer selbst, sondern als „innre Bestimmungen des Gemüths“ (A 242 / B 197), mithin als Bestimmungen des Subjekts betrachtet.

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ken der Selbstaffektion auf der einen und der Fremdaffektion auf der anderen Seite beschreiben.21 Auf den zurückliegenden Seiten ist somit deutlich geworden, dass Vorstellungen, die nichts als „innere Bestimmungen unseres Gemüths“ sind (A 242 / B 197), insofern bloß „subjektive Realität“ haben, als es sich dabei um Vorstellungen handelt, die als solche lediglich auf die Selbstaffektion des Subjekts zurückzuführen sind. Mit diesem Ergebnis lässt sich nun auch die gewünschte Klärung des Unterschieds zwischen subjektiver und objektiver Realität (vgl. S. 26) herbeiführen. Das Problem, welches Kant an der auf Seite 25 zitierten Stelle aus dem Abschnitt über die Analogien ausspricht, lässt sich demnach wie folgt formulieren: Dass wir uns einer Vorstellung bewusst werden können, bedeutet nichts anderes als einen Akt der Selbstaffektion des Subjekts. Mit diesem Akt können wir zwar beliebige Vorstellungen zum intentionalen Gegenstand anderer Vorstellungen machen; wir verbleiben mit diesem Akt aber immer im Bereich derjenigen Vorstellungen, die durch Selbstaffektion zustande kommen. Diese Vorstellungen haben insofern lediglich subjektive Realität, als sie bloß auf die Selbstaffektion des Subjekts zurückzuführen sind. Nach Kants Ansicht legen wir aber wenigstens einigen dieser Vorstellungen „über ihre subjective Realität“ hinaus auch noch eine gewisse objektive Realität bei (A 242 / B 197). Diese objektive Realität lässt sich nach den gegebenen Erläuterungen nun so verstehen, dass gewisse Vorstellungen nicht nur als bloße „Modifikationen des Gemüts“, d. h. als _____________ 21 Dass auf diese Weise die Vollständigkeit der Einteilung in einen inneren und einen äußeren Sinn begreiflich wird, ist ein gutes Argument dafür, dass sich diese Bezeichnung von der grundsätzlichen Einteilung in eine innere und äußere Bestimmbarkeit der Sinnlichkeit ableitet, nicht etwa umgekehrt. Der innere Sinn trägt seinen Namen, weil er innerlich, d. h. durch das Subjekt selbst bestimmt wird, der äußere, weil er äußerlich, d. h. von etwas Anderem als dem Subjekt bestimmt wird. Man könnte grundsätzlich auch umgekehrt meinen, die inneren Bestimmungen trügen diesen Namen, weil sie Vorstellungen des inneren, die äußeren, weil sie Vorstellungen des äußeren Sinnes sind. Dann entbehrte aber die Einteilung in einen inneren und einen äußeren Sinn einer plausiblen Begründung und wäre insofern willkürlich. Denn dafür, dass diese Einteilung nicht räumlich aufgefasst werden darf, ist bereits oben (Seite 27) argumentiert worden. – Mit dieser begrifflichen Bestimmung dürfte übrigens auch G.E. Moores Schwierigkeit Abhilfe geschaffen werden können, der sich in Bezug auf A 373 beklagt, den „transzendentalen“ Sinn, in welchem man von äußeren Gegenständen sprechen kann, von Kant nicht erschöpfend erklärt zu bekommen (vgl. Moore, Proof, S. 138 f.). „Äußerlich“ im transzendentalen Sinne ist ein Gegenstand, wenn er als ein vom Subjekt verschiedener Grund der Vorstellung gedacht wird, was für Gegenstände, die lediglich „empirisch äußerlich“ zu nennen sind, als solche nicht zutrifft, da es sich bei ihnen lediglich um Vorstellungen des Subjekts handelt.

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durch das Subjekt selbst bewirkt vorgestellt werden, sondern darüber hinaus auch noch als auf der Wirkung von etwas beruhend, das von diesem Subjekt verschieden ist.22 Was uns dazu berechtigt, ein solches von uns selbst verschiedenes Etwas anzunehmen, welches das Subjekt affiziert und dadurch gewisse Vorstellungen bewirkt, ist das Problem, das Kant mit der Frage aufwirft, wie wir dazu kommen, „dass wir diesen Vorstellungen ein Object setzen, oder über ihre subjective Realität als Modificationen ihnen noch, ich weiß nicht, was für eine objective beilegen“ (A 242 / B 197). Das Objekt, das wir „diesen Vorstellungen […] setzen“, bedeutet demgemäß also etwas ganz anderes als das Objekt einer Vorstellung in der schlichten Bedeutung eines intentionalen Gegenstandes. Während man mit dem intentionalen Gegenstand als solchem jederzeit im Bereich des Subjektiven verbleibt, ist das Objekt, das wir einer Vorstellung insofern setzen, als wir es als einen vom Subjekt verschiedenen Grund dieser Vorstellung23 denken, etwas, dem in Kants Augen „objektive Realität“ zukommt. Man kann also in Anlehnung an Prauss durchaus zwischen einem subjektiven und einem objektiven Gegenstand unterscheiden, wenn man unter einem subjektiven Gegenstand nichts weiter als einen intentionalen Gegenstand versteht, unter einem objektiven hingegen etwas, was ein vom Subjekt verschiedener Grund der Vorstellung ist.24 *****

_____________ 22 Sofern Vorstellungen in diesem Sinne auf der Wirkung von Objekten beruhen, kann man diese Objekte mit einer Redeweise aus Kants Nachlass auch als einen „Grund der Vorstellung“ auffassen. Vgl. AA XX 367: „Es ist aus der innern Warnehmung schlechterdings nicht moglich zu beweisen daß der Grund der Vorstellung nicht in mir war […].“ Auch an dieser Stelle ist die Wendung „nicht in mir“ im Sinne einer Reflexionsbestimmung aufzufassen, so dass der hier in Rede stehende Grund der Vorstellung als etwas vom Subjekt Verschiedenes gedacht wird. 23 Zur Formel eines vom Subjekt verschiedenen Grundes der Vorstellung vgl. die vorausgegangene Fußnote 22. 24 Prauss dürfte der Interpretation des subjektiven als eines bloß intentionalen Gegenstandes vermutlich zustimmen, möglicherweise aber der Auffassung vom objektiven Gegenstand als eines vom Subjekt verschiedenen Grundes der Vorstellung widersprechen. Zwar sieht er den objektiven Gegenstand als etwas vom Subjekt Unabhängiges an, beschreibt ihn aber auch als etwas Intersubjektives. Inwieweit diese Auslegung mit der hier vorgetragenen kompatibel ist, lasse ich unentschieden. Vgl. Prauss, Erscheinung, S. 16 f. sowie meine Anmerkung in Fußnote 15 dieses Kapitels.

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Mit dieser Unterscheidung zwischen subjektivem und objektivem Gegenstand ergibt sich nun auch ein Verständnis des Begriffs des Apparens, das erklären kann, inwiefern durch die Anschauung ein Gegenstand „gegeben“ (A 92 f. / B 125) bzw. einem Begriff „ein Gegenstand in der Anschauung beigefügt“ (A 51 / B 75) werden kann, obwohl doch gemäß A 253 f. / B 309 das Vorliegen der Anschauung allein „gar keine Beziehung […] auf irgendein Object“ ausmacht (vgl. S. 21). Denn unter Zuhilfenahme der erarbeiteten Unterscheidung kann man das Objekt, worauf durch die Anschauung allein „gar keine Beziehung“ besteht, als einen vom Vorstellungssubjekt verschiedenen Grund der Vorstellung verstehen, den Gegenstand aber, der durch die Anschauung gegeben wird, als das Apparens im Sinne eines bloß intentionalen Gegenstandes. Die Anschauung als solche hätte demgemäß dann zwar eine Beziehung auf einen subjektiven, nicht aber auf einen objektiven Gegenstand.25 Diese Interpretation ist nun nicht nur konsistent, sondern darüber hinaus auch durchaus plausibel. Zunächst einmal sieht nämlich nachweislich auch Kant selbst das Apparens als eine „bloß subjektive Vorstellung“ an. Das ergibt sich aus der Zusammenstellung von bestimmten Passagen des § 1 und bestimmten Äußerungen, die sich im Beweis des Prinzips der Antizipationen finden. Denn im § 1 unterscheidet Kant, nachdem er die Erscheinung als den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung definiert, Form und Materie an ihr (A 20 / B 34), mithin unterscheidet er Form und Materie des Apparens (vgl. oben, S. 23). Es ist aber klar, dass die Form der Erscheinung, da sie „insgesammt im Gemüthe a priori bereit liegen“ muss (A 20 / B 34), lediglich zu den subjektiven Bedingungen der Erkenntnis gehört und als solche keine unmittelbare Beziehung auf einen vom Subjekt verschiedenen Grund der Vorstellung haben kann. Von seiner Form lässt sich der Gegenstandsbezug des Apparens also nicht erwarten. Dagegen nennt Kant die Materie der Erscheinung dasjenige in ihr, „was der Empfindung correspondirt“, wobei die Empfindung ebenda definiert wird als „[d]ie Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden“. Wenn aber die Empfindung die Wirkung eines Gegenstandes ist, so kann dieser Gegenstand umgekehrt wohl trefflich als der Grund dieser Vorstellung angesehen werden. Damit wäre dann die Empfindung als die Materie des Apparens dasjenige, dem man eine Beziehung auf den Gegenstand im Sinne einer objektiven Relation grundsätzlich zusprechen könnte. Wie aber kann Kant dann behaupten, dass der Umstand, „daß diese Affection der Sinnlichkeit [d.i. die Anschauung, O.S.] in mir ist, […] gar keine Be_____________ 25 Welcher Art diese Beziehung ist, dazu vgl. die folgende Fußnote 26.

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ziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Object aus[macht]“ (A 253 f. / B 309)? Die Antwort darauf findet sich wie bereits angedeutet im Beweis des Prinzips der Antizipationen. Denn dort verweist Kant erneut darauf, dass die Erscheinungen neben dem formalen Bestandteil, der Anschauung, „noch die Materien zu irgend einem Objecte überhaupt“ enthalten, welche er sogleich erläutert als „das Reale der Empfindung als bloß subjective Vorstellung, von der man sich nur bewußt werden kann, daß das Subject afficirt sei, und die man auf ein Object überhaupt bezieht“ (B 207 f.). Die Materie der Erscheinung hat als das Reale der Empfindung demnach zwar in dem Sinne eine Beziehung auf ein Objekt, als sie als Wirkung dieses Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit begriffen werden muss; gleichwohl ist mit ihr noch gar kein Bewusstsein von dieser Beziehung auf ein Objekt gegeben. Von der Materie der Erscheinung als solcher kann „man sich nur bewusst werden […], dass das Subject afficirt sei“, nicht aber, was diese Affektion bewirkt. Die dieser Materie der Erscheinung korrespondierende Empfindung (sensatio) ist insofern eine „bloß subjective Vorstellung“, „die sich lediglich auf das Subject als die Modification seines Zustandes bezieht“ (A 320 / B 376). Die Beziehung zwischen Objekt und bloßer Empfindung ist demnach gewissermaßen nur einseitig. Sie besteht zunächst nur vom Objekt als Grund der Empfindung auf diese als seine Wirkung. Umgekehrt ist von Seiten der Empfindung für sich betrachtet noch gar keine Beziehung auf das Objekt auszumachen, da sie lediglich ein Bewusstsein vom Zustand des Subjekts ist, nämlich das Bewusstsein, affiziert worden zu sein. Die Beziehung dieser für sich bloß subjektiven Vorstellung auf ein Objekt kommt erst dadurch zustande, dass man sie „auf ein Object überhaupt bezieht“ (B 207 f.). Diese Formulierung lässt sich unschwer mit den zu Beginn dieses Abschnitts angeführten Wendungen (vgl. S. 20) in Bezug setzen, wonach man „dem Mannigfaltigen einer möglichen Anschauung einen Gegenstand […] bestimmen“ (A 69 / B 94) müsse, bzw., dass durch den Begriff „ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht“. Diese Parallelführung bestätigt sich auch noch einmal im Rückgang auf die Passage, von welcher das Problem, wie die Anschauung einen Gegenstand geben könne, überhaupt ausging. Denn in A 253 f. / B 309 hatte Kant nicht nur darauf hingewiesen, dass der Umstand, dass mit der Empfindung eine „Affection der Sinnlichkeit in mir ist, […] gar keine Beziehung von dergleichen Vorstellung auf irgend ein Object aus[macht]“, sondern auch darauf, dass „durch bloße Anschauung […] gar nichts gedacht“ wird (ebd.). Nach den Erläuterungen des gegenwärtigen Abschnitts dürfte nun klar sein, dass diese beiden Hinweise in einem Begründungs-

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verhältnis zueinander stehen. Weil durch bloße Anschauung gar nichts gedacht wird, nämlich insbesondere kein Gegenstand, der dieser Anschauung entspricht, hat diese Affektion der Sinnlichkeit für sich genommen gar keine Beziehung auf irgendein Objekt. Diese kommt erst dadurch zustande, dass man den Gegenstand, der dieser Anschauung entspricht, denkt. Darüber hinaus liefert die hier vorgestellte Interpretation auch ein klares Verständnis davon, inwiefern der Gegenstand einer empirischen Anschauung als bloßes Apparens ein unbestimmter Gegenstand ist. Gegenstand oder Materie dieser Anschauung im Sinne eines bloßen Vorstellungsinhalts oder intentionalen Gegenstandes ist für Kant „das, was der Empfindung correspondirt“ (A 20 / B 34), wofür er noch im § 1 Beispiele gibt wie „Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw.“ (A 20 f. / B 35). Die Form oder die Art und Weise, wie dasjenige, „was der Empfindung correspondirt“ vorgestellt wird, ist die Anschauung; d. h., die Materie oder der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung wird angeschaut.26 Unbestimmt ist dieser Gegenstand aber, weil ihm als bloß intentionalem Gegenstand nur subjektive Realität zukommt. Das heißt, er wird nicht als eine Vorstellung begriffen, die sich als Wirkung auf einen vom Subjekt verschiedenen Grund bezieht, sondern als eine bloße Affektion des Subjekts. Es ist unbestimmt, wodurch diese Affektion zustande kommt. Diese Bestimmung kommt erst dadurch zustande, dass man die Materie der Erscheinung, d. h. den durch Empfindung gegebenen intentionalen Gegenstand der Anschauung „auf ein Object überhaupt bezieht“ (B 207 f.). Die verschiedenen „Realitäten“ der Empfindung, wie die genannten Beispiele der Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw., sind das Mannigfaltige der Anschauung, dem das Denken „einen Gegenstand zu bestimmen“ sucht (A 253 f. / B 309), indem „ein Gegenstand gedacht wird, der dieser Anschauung entspricht“ (A 92 f. / B 125). Diejenige Vorstellung also, der wir „ein Object setzen“ (A 242 / B 197) und die dadurch bestimmt wird, ist der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung, mithin die Erscheinung als Apparens. Diese Lesart findet sich offenbar auch bereits in der Literatur, wie man besonders deutlich an Norman Kemp Smiths Übersetzung von A 248 f. nebst Erläuterung sehen kann: Appearance (Erscheinung) is here defined as the undetermined object of an intuition. By undetermined object is meant, as we have seen, the object in so far as it

_____________ 26 Damit ist dann auch klar, welche Beziehung die Anschauung auf den subjektiven oder intentionalen Gegenstand hat (vgl. vorige Fußnote 25); sie ist seine Form.

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consists of the given sense contents. When these contents are interpreted through the categories they become phenomena. “Appearances so far as they are thought as objects according to the unity of the categories are called phenomena.“27

Nicht nur Smiths Übersetzung durch das englische „appearance“ macht deutlich, dass es sich bei der Erscheinung, sofern sie der Bestimmung durch die Kategorie zugrunde liegt, um die Erscheinung als Apparens handelt, sondern auch seine beigefügte Erklärung, indem sie ausdrücklich darauf hinweist, dass mit der Erscheinung „hier“ der unbestimmte Gegenstand einer (empirischen) Anschauung gemeint ist. Damit ergibt sich dann aber auch ein deutlicheres Verständnis der Erscheinung im Sinne des Phaenomenon. Denn wenn ein Phänomen nichts anderes ist als ein durch die Kategorie bestimmtes Apparens, d. h. die Vorstellung einer Vorstellung28, so ist klar, dass man auch durch die Bestimmung der Erscheinung (im Sinne des Apparens) den Boden der Vorstellungen nicht verlässt, sondern dass auch das Phänomen jederzeit nur eine Vorstellung, niemals aber ein vom Subjekt der Vorstellung verschiedener Grund der Vorstellung sein kann.29 Man darf sich also auch in A 248 f. nicht durch den Ausdruck „Gegenstände“ (bei Smith „objects“) täuschen lassen. Auch das Phänomen ist nicht ein Objekt im Sinne eines vom Subjekt verschiedenen Grundes der Vorstellung, sondern nur eine Vorstellung. Allerdings ist es im Gegensatz zum Apparens durchaus eine objektive Vorstellung, d. h. eine Vorstellung von einem vom Vorstellungssubjekt verschiedenen Gegenstand. Phänomena sind im Gegensatz zum Apparens Erscheinungen, „nicht in so fern sie (als Vorstellungen) Objecte sind, sondern nur ein Object bezeichnen“ (A 189 f. / B 234 f.). Das Apparens bedeutet, wie oben dargestellt, lediglich ein Bewusstsein vom Zustand des Subjekts, nämlich seines Affiziertseins, wobei unbestimmt bleibt, wodurch diese Affektion zustande kam. Das Phänomen ist demgegenüber eine Vorstellung dieser Affektion als einer Vorstellung, die auf die Wirkung eines äußeren, mithin vom Vorstellungssubjekt verschiedenen Gegenstandes zurückzuführen ist. Das Phä_____________ 27 Smith, Commentary, S. 83. Ähnlich Allison, Idealism, S. 57 f.: „In short, a phenomenon is a conceptually determined appearance”. 28 Vgl. Kants Bestimmung des Urteils in A 68 / B 93: „Das Urtheil ist also die mittelbare Erkenntniß eines Gegenstandes, mithin die Vorstellung einer Vorstellung desselben.“ 29 Diese Interpretation fügt sich somit gut in Kants Lehre von der transzendentalen Idealität der Erscheinungen, der gemäß „alle diese Erscheinungen, mithin alle Gegenstände, womit wir uns beschäftigen können, insgesammt in mir, d. i. Bestimmungen meines identischen Selbst sind“ (A 129).

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Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes

nomen ist somit eine Vorstellung, durch die das Apparens als ein Zeichen eines solchen äußeren Gegenstandes verstanden wird. In diesem Sinne lässt sich also von den Erscheinungen, verstanden als Phänomena, sagen, dass sie mittels eines Apparens „ein Object bezeichnen“. Dieses mithilfe des Apparens bezeichnete Objekt ist zugleich der intentionale Gegenstand der Erscheinung als Phänomen, wie sich A 109 entnehmen lässt: Nun sind aber diese Erscheinungen nicht Dinge an sich selbst, sondern selbst nur Vorstellungen, die wiederum ihren Gegenstand haben, der also von uns nicht mehr angeschaut werden kann und daher der nichtempirische, d. i. transscendentale, Gegenstand =X genannt werden mag.

In diesem Zitat wird noch einmal deutlich, dass die Erscheinungen selbst nur Vorstellungen sind, die sich allerdings auf einen äußeren Gegenstand beziehen. Durch dieses Beziehen auf einen transzendentalen Gegenstand, als dessen Zeichen die Erscheinung verstanden wird, lässt sich dem Apparens „ein Object setzen“ (A 242 / B 197) und so lässt es sich von einer bloß subjektiven in eine objektive Vorstellung transformieren, d. h. als eine von einem äußeren Objekt bewirkte Vorstellung bestimmen. Das Phänomen ist somit der (durch die Kategorie) bestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung, nämlich der durch Empfindung empfangene, anschauliche Vorstellungsgegenstand, der als einem äußeren Gegenstand korrespondierend vorgestellt wird.30 Was uns dazu berechtigt, eine solche Korrespondenz anzunehmen, ist nun nicht nur Kants Frage in A 242 / B 197, sondern darüber hinaus auch das Thema des Schematismuskapitels, in welchem Kant die Bedingungen erörtert, unter welchen Kategorien auf Erscheinungen angewandt werden dürfen (vgl. den einleitenden Teil von Kapitel 1) und so die Transformation subjektiver Vorstellungen in objektive erlauben. Die zurückliegenden Erörterungen dienten dem Zweck, genauer herauszustellen, welches Problem der Schematismus in seiner Aufgabe der Verbindung von Anschauung und Begriff eigentlich konkret zu lösen hat. Dieses Problem wurde von Seiten der Anschauung so beschrieben, dass es ihr als solcher am für eine vollständige Erkenntnis nötigen Gegenstandsbezug mangelt, den sie erst durch die Verbindung mit einem Begriff erhält. Somit ist das durch den Schematismus zu lösende Problem ein wesentlicher Bestandteil des Problems der Objektivität, d. h., der _____________ 30 In dieser Beziehung des Apparens auf ein Objekt wird nicht nur das Apparens, sondern auch das Objekt bestimmt. Denn nicht nur wird das Apparens als ein Zeichen eines äußeren Gegenstandes begriffen, sondern auch dieser äußere Gegenstand als einer, „der dieser Anschauung entspricht“ (A 92 f. / B 125). Auf diese Zweideutigkeit des Begriffs der Bestimmung weist auch Prauss hin (vgl. Erscheinung, S. 45 f.).

Der Schematismus der Größe

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Schematismus gibt eine partielle Antwort auf die Frage, was das Vorstellungssubjekt zu der Annahme berechtigt, dass sich einige seiner Vorstellungen auf etwas beziehen, das von ihm selbst verschieden ist. Der Beitrag, den Anschauung und Begriff in diesem Erkenntnisprozess leisten, besteht auf Seiten der Sinnlichkeit als dem rezeptiven Vermögen darin, Wirkungen eines äußeren Gegenstandes zu empfangen, die Kant Empfindungen nennt und deren sich das Erkenntnissubjekt als Modifikationen seines inneren Zustands bewusst werden kann. Der Verstand hat demgegenüber die Aufgabe, diese Empfindungen „auf ein Object überhaupt“ zu beziehen (B 207 f.) und so die Empfindungen, denen für sich genommen bloß subjektive Realität zukommt, als Vorstellungen von einem äußeren Gegenstand zu begreifen. Die Anschauung gibt dem Verstand insofern einen Gegenstand als bloße „Materie der Erscheinung“, dem als solchem noch keinerlei Bewusstsein seines Ursprungs eignet. Sie gibt lediglich den „unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung“, den man terminologisch als das Apparens begreifen kann (s.o., S. 23). Erst indem der Verstand diesen Gegenstand mithilfe der Kategorie auf ein Objekt bezieht, bestimmt er ihn und transformiert so die Erscheinung vom bloßen Apparens zum Phänomen, also von einer bloß subjektiven Vorstellung zu einer objektiven. Zu dieser Transformation ist das Erkenntnissubjekt aber nicht unter allen Umständen berechtigt, sondern nur sofern gewisse „sinnliche Bedingungen“ erfüllt sind (vgl. A 136 / B 175), welche Kant als Schemata bezeichnet (s. o., S. 17 f.). Der Schematismus gehört somit wesentlich zur Antwort auf Kants Frage, was uns dazu berechtigt, dass wir gewissen Vorstellungen „ein Object setzen, oder über ihre subjective Realität als Modificationen ihnen noch, ich weiß nicht, was für eine objective beilegen“ (A 242 / B 197). Im folgenden Abschnitt werde ich diese Rolle des Schematismus in Bezug auf die Kategorien der Größe näher erläutern. Zu diesem Zweck eignet sich die Kommentierung einer Behauptung Kants, die in der Literatur mehrfach Anlass zum Widerspruch gegeben hat. Die Erklärung und Verteidigung dieser kantischen Behauptung wird zugleich verständlich machen, inwiefern eine Vermittlung der Anschauung mit den Kategorien der Größe durch den Schematismus möglich und für die Erkenntnis von Gegenständen notwendig ist.

1.2. Der Schematismus der Größe Eine extensive Größe nenne ich diejenige, in welcher die Vorstellung der Theile die Vorstellung des Ganzen möglich macht (und also nothwendig vor dieser vorhergeht). Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in

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Axiome der Anschauung und Schematismus des reinen Verstandes

Gedanken zu ziehen, d. i. von einem Punkte alle Theile nach und nach zu erzeugen und dadurch allererst diese Anschauung zu verzeichnen. (A 162 f. / B 203)

Man kann den in diesem Zitat ausgedrückten Gedanken Kants für eine merkwürdige These halten. Scheint sie doch der alltäglichen Erfahrung zu widersprechen, nach der es vielleicht etwas abwegig erscheint, dass man sich eine Linie nicht vorstellen könne, „ohne sie in Gedanken zu ziehen“. Entsprechend ist Kant auch in der einschlägigen Literatur kritisiert worden, an prominentester Stelle vielleicht in Norman Kemp Smiths Kommentar zur Kritik der reinen Vernunft: This definition of extensive magnitude involves an assumption […] which he nowhere attempts to establish by argument; namely, that it is impossible to apprehend a manifold save in succession. This assumption is, of course, entirely false (at least as applied to our empirical consciousness), as has since been amply demonstrated by experimental investigation.31

Es ist leicht zu zeigen, dass diese Kritik Smiths – zumindest in ihrem Wortlaut – ihren Gegenstand, nämlich die von ihr angegriffene kantische Definition der extensiven Größe, verfehlt.32 Denn die angeblich in dieser Definition enthaltene Annahme, ein Mannigfaltiges könne nicht anders denn sukzessive apprehendiert werden, lässt sich Kant in dieser Allgemeinheit sicherlich nicht rechtmäßigerweise zuschreiben. Kant selbst betont nämlich ausdrücklich, dass das Anschauen der Erscheinungen „als Aggregate“ – welches in der Tat eine sukzessive Synthesis voraussetzt – nicht die einzige Art ist, sich Größen vorzustellen, sondern vielmehr nur diejenigen Größen betrifft, „die von uns e x t e n s i v als solche vorgestellt und apprehendirt werden“ (A 163 / B 204). Den hier einschlägigen Gegenbegriff zum Begriff des Aggregats kann man in einem Zusatz der zweiten Auflage finden, in welchem Kant die verschiedenen Arten einer Verbindung (conjunctio) klassifiziert. Dort _____________ 31 Smith, Commentary, S. 348. Leider gibt Smith die Quelle seiner empirischen Erkenntnisse nicht preis. Möglicherweise findet sich in G.F. Stouts Manual of Psychology, das mir in der von Smith zitierten 3. Auflage allerdings nicht zur Verfügung steht, Aufschluss in dieser Frage (zumindest beruft sich Smith in einem anderen Zusammenhang (S. 366) auf dieses Buch). In jedem Falle verstehe ich Smith so, dass er sich an dieser Stelle auf Argumente der Wahrnehmungs- bzw. der empirischen Psychologie stützen will. So versteht ihn offensichtlich auch Paul Guyer, Claims, S. 195 f. Auf diesen Punkt komme ich am Ende des vorliegenden Kapitels noch einmal zurück. 32 Kant selbst redet an der von Smith kommentierten Stelle in A 162 / B 203 nicht von einer Definition. Der Sache nach gibt Kant hier aber durchaus eine Erklärung dessen, was er unter dem Begriff der extensiven Größe versteht, so dass man diese Passage wohl auch im Sinne Kants zumindest als eine „philosophische Definition“ bezeichnen kann (vgl. A 730 / B 758).

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stellt Kant der Verbindung durch Aggregation die Verbindung durch Koalition entgegen, wobei er erstere der Synthesis extensiver, letztere der Erzeugung intensiver Größen zuordnet (vgl. B 201). Wenn Kant also in A 163 / B 204 darauf hinweist, dass nicht jede Art von Größen, sondern nur die extensiven als Aggregate – und somit sukzessive – apprehendiert werden, so spielt er damit auf ihre Unterscheidbarkeit von den intensiven Größen an. Die Synthesis der intensiven Größe geschieht nach Kant aber gerade nicht sukzessive, sondern augenblicklich33, da es sich dabei um eine Größe handelt, „die nur als Einheit apprehendirt wird, und in welcher die Vielheit nur durch Annäherung zur Negation =0 vorgestellt werden kann“ (A 168 / B 210). Dass also, wie Smith behauptet, Kant die These vertreten würde, ein Mannigfaltiges könne nicht anders als durch sukzessive Synthesis apprehendiert werden, darf mit Verweis auf Kants Bemerkungen zur intensiven Größe getrost zurückgewiesen werden. Zwar behauptet Kant mit seinem Prinzip der Axiome der Anschauung, dass alle Erscheinungen extensive Größen seien und als solche nicht anders als durch sukzessive Synthesis apprehendiert werden können; aber weder dieser Satz noch die Definition der extensiven Größe gründen sich auf die Annahme, ein Mannigfaltiges könne nicht anders als durch sukzessive Synthesis apprehendiert werden. Überhaupt liegt der Grund dafür, dass Kant, wie Smith bemängelt, diese Annahme nirgendwo beweist, schlicht darin, dass er diese Annahme überhaupt nicht vertritt.34 Nun könnte man annehmen, dass Smith sich zu seinem Einwand genötigt sah aufgrund der oben erwähnten alltäglichen Erfahrung, wonach Kants Annahme, es sei nicht möglich, sich eine Linie vorzustellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, intuitiv nicht ohne weiteres völlig nachvollziehbar ist. So schreibt auch noch in jüngster Zeit Koriako (2001), diese Behauptung Kants sei „alles andere als einleuchtend; ich jedenfalls kann das geforderte Linienziehen introspektiv nicht nachvollziehen“ (S. 297). Dieser Einwand Koriakos, den man der Einfachheit halber als pars pro toto für die erwähnte Position der alltäglichen Erfahrung nehmen kann, ist offensichtlich nur negativ formuliert. Positiv formuliert verstehe ich diesen Einwand so, dass zumindest Koriako sich eine Linie vorstellen kann, _____________ 33 Vgl. insbesondere A 167 ff. / B 209 ff. 34 Smith vermeint diese Annahme an verschiedenen Stellen der Kritik ausfindig machen zu können (vgl. die Fußnote 1 auf S. 348 seines Kommentars), führt aber letztlich nur eine einzige Stelle als ausdrücklichen Beleg an (S. 358). Auch in dieser Passage aber, auf die Smith sich beruft, behauptet Kant lediglich, dass „[u]nsere A p p re he ns io n des Mannigfaltigen der Erscheinung […] jederzeit successiv“ sei (A 189 / B 234), was keineswegs ausschließt, dass es auch noch eine nicht-sukzessive Form der Apprehension gibt.

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ohne sie in Gedanken zu ziehen, indem er sich die ganze Linie augenblicklich, d. h. in einem einzigen, nichtsukzessiven Akt, vor das geistige Auge stellt. Diesen Einwand würden möglicherweise nicht Wenige mit Koriako teilen, weshalb ich ihn auch zunächst als einen Einwand der alltäglichen Erfahrung eingeführt hatte. Nun lassen sich Argumente, die sich auf Introspektion berufen, naturgemäß nicht widerlegen, da die Introspektion schlechterdings eine dem jeweiligen Betrachter exklusive Perspektive ist. Sofern man also diesen Einwand der Introspektion ernst nimmt, lässt sich ihm nur begegnen, indem man Kants Annahme so interpretiert, dass sie dem introspektiven Einwand gar nicht widerspricht. Eine zunächst aussichtsreich erscheinende Interpretation dieser Art ließe sich z. B. dadurch geben, dass man Kants Behauptung so versteht, dass er gar nicht von Linien im Sinne von Liniensegmenten (d. h. Strekken) redet, sondern nur von Linien ohne Begrenzung. Der von Kant gewählte Ausdruck der „Linie“ wäre nach diesem Verständnis sogar durchaus gut gewählt, und auch das Problem der Introspektion ließe sich auf diese Weise lösen. Denn dass eine Linie ohne Begrenzung nicht anders als sukzessive vorgestellt werden kann, dürfte schon um einiges einleuchtender sein. Jedoch kann diese Interpretation nicht mehr als ein Beispiel sein für die Art, wie man dem introspektiven Einwand begegnen kann. Denn als tatsächliche Lösung des aufgeworfenen Problems kommt diese Lesart nicht in Frage, weil Kant an der in Rede stehenden Stelle ausdrücklich sagt: „Ich kann mir keine Linie, so klein sie auch sei, vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen“ (A 162 f. / B 203, meine Hervorhebung). Kant scheint also durchaus der Meinung zu sein, dass nicht nur unendliche Linien, sondern auch bloße Liniensegmente nicht anders als sukzessive apprehendiert werden können. Wie aber lässt sich Kants These dann verstehen, ohne sie dem introspektiven Einwand zum Opfer zu bringen? Setzt man voraus, dass bezüglich des Gegenstandes Einstimmung zwischen Kant und Koriako besteht, indem sich beide auf Linien jeder Art, mithin auch auf bloße Liniensegmente beziehen, lässt sich unter Umständen noch ein Unterschied in der Art finden, wie sich beide auf diesen Gegenstand beziehen. Wie gesagt ist Koriakos Zugang die Introspektion. Es ließe sich annehmen, dass Kant vom bloßen Standpunkt der Introspektion Koriako durchaus zugeben würde, dass sich bestimmte Liniensegmente auch nichtsukzessiv vorstellen lassen, in einer anderen Perspektive hingegen nicht. Die Frage wäre dann allerdings, was für eine Perspektive diese zuletzt genannte sein soll. Ohne diese Perspektive hier sogleich zu benennen, lässt sich immerhin eine Textstelle anführen, die die Annahme einer solchen Doppelper-

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spektive nahe legt. So unterscheidet Kant in der Kritik der Urteilskraft hinsichtlich der Gegenstände der Natur zwischen logischer und ästhetischer Größenschätzung (vgl. § 26, AA V 251 ff.). In der logischen Größenschätzung wird eine bestimmte anschauliche Einheit als Maß aufgefasst und unter Verwendung von Zahlbegriffen dazu gebraucht, die Größe einer Anschauung zu bestimmen. Die ästhetische Größenschätzung dient dagegen der Bestimmung der als Grundmaß für diese logische Größenschätzung benötigten anschaulichen Einheit, indem „man sie in einer Anschauung unmittelbar“ (AA V 251) erfasst oder, wie Kant auch sagt, „nach dem Augenmaße“ (ebd.). In Bezug auf diese ästhetische Größenschätzung unterscheidet Kant Größen, „die man in einem Blick fassen kann, z. B. einen Fuß oder Ruthe“, von solchen, bei denen das nicht möglich ist, wie z. B. „eine deutsche Meile, oder gar einen Erddurchmesser“ (AA V 254). Dass man eine bestimmte anschauliche Größe „in einem Blick“ auffassen kann, ließe sich gut als eine angemessene Beschreibung der nichtsukzessiven Auffassung z. B. einer Linie verstehen, wie sie Koriakos Introspektion zugrunde liegt. Diese Interpretation gewinnt vielleicht sogar noch ein wenig an Plausibilität, wenn man die Wendung „in einem Blick“ als gleichbedeutend mit „in einem Augenblick“ versteht, da der Augenblick in A 169 / B 211 in Analogie zum Punkt im Raum als bloße Grenze verstanden wird.35 Als ein solcher ausdehnungsloser „Zeitpunkt“ (vgl. A 412 / B 439) bietet der Augenblick gar keine Zeit für eine Sukzession, so dass eine „in einem Blick“ erfasste Größe sich in der Introspektion als nichtsukzessiv erzeugt darstellen müsste. Mit dieser Passage der Kritik der Urteilskraft (AA V 254) ließe sich somit dafür argumentieren, dass Kant von der Warte der Introspektion aus die nichtsukzessive Erfassung von Größen, mithin auch die nichtsukzessive Erfassung bestimmter Linien (zu denen man Kants Beispiele des Fußes oder der Ruthe wohl rechnen darf) nicht nur für möglich hält, sondern sogar selbst behauptet. In dieser Hinsicht befände sich Kant also gar nicht im Widerspruch mit dem Einwand der Introspektion, wie ihn Koriako – hier im Namen der alltäglichen Erfahrung – gegen Kant erhebt. Allerdings wird man sich nun umso mehr um die Erarbeitung der zweiten, nichtintrospektiven Perspektive bemühen müssen, wenn man nicht in Kauf nehmen will, dass Kant sich nicht nur in gewisser Hinsicht mit Koriako, sondern – schlimmer noch – nun auch mit sich selbst im Widerspruch befindet.36 Es gilt also, eine Perspektive zu suchen, in welcher im Gegen_____________ 35 Vgl. ebenfalls A 208 / B 253, sowie Makkreel, Imagination, S. 74. 36 Es ist vorab schon einmal wichtig festzustellen, dass die bloße Formulierung, „Ich kann mir keine Linie […] vorstellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen“ (A

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satz zur Introspektion die Apprehension einer Linie nur sukzessiv vonstatten gehen kann. Um sich dieser Perspektive zu nähern, ist es hilfreich, sich zunächst dem Begriff des Aggregats zuzuwenden, denn – wie bereits oben (S. 38) bemerkt – ist es das Anschauen der Erscheinungen „als Aggregate“, was eine sukzessive Synthesis voraussetzt (A 163 / B 204). Als einen ersten Schritt in diese Richtung bietet es sich an, zunächst einmal Kants Verwendungsweise des Begriffs von einem Aggregat genauer zu betrachten. Es ist bereits oben (S. 38) darauf hingewiesen worden, dass extensive Größen Aggregate sind im Gegensatz zu intensiven Größen, die demgegenüber als Koalitionen bezeichnet werden. Allerdings verwendet Kant den Begriff des Aggregats bisweilen auch so, dass er dem Begriff der extensiven Größe gerade entgegengesetzt zu sein scheint. Diese scheinbare Entgegensetzung findet sich an einer Stelle, an welcher Kant eine Eigenschaft sowohl extensiver als auch intensiver Größen, nämlich ihre Kontinuität erläutert. Es ist wichtig zu sehen, dass die Erzeugung durch sukzessive Synthesis nicht das einzige Merkmal einer extensiven Größe ist, sondern lediglich dasjenige, wodurch sie sich von der intensiven Größe unterscheidet. Extensiven wie intensiven Größen ist dagegen gemeinsam, dass sie kontinuierliche Größen sind: Alle Erscheinungen überhaupt sind demnach continuirliche Größen sowohl ihrer Anschauung nach als extensive, oder der bloßen Wahrnehmung (Empfindung und mithin Realität) nach als intensive Größen. (A 170 / B 212)

Sofern Kant nun extensive Größen als kontinuierliche Größen betrachtet, scheint er sie demjenigen, was er ein Aggregat nennt, gerade entgegenzusetzen: Wenn die Synthesis des Mannigfaltigen der Erscheinung unterbrochen ist, so ist dieses ein Aggregat von vielen Erscheinungen (und nicht eigentlich Erscheinung als ein Quantum), welches nicht durch die bloße Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen Art, sondern durch Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis erzeugt wird. Wenn ich 13 Thaler ein Geldquantum nenne, so benenne ich es so fern richtig, als ich darunter den Gehalt von einer Mark fein Silber verstehe, welche aber allerdings eine continuirliche Größe ist, in welcher kein Theil der kleinste ist, sondern jeder Theil ein Geldstück ausmachen könnte, welches immer Materie zu noch kleineren enthielte. Wenn ich aber unter jener Benennung 13 runde Thaler verstehe, als so viel Münzen (ihr Silbergehalt mag sein, welcher er wolle), so benenne ich es unschicklich durch ein Quantum von

_____________ 162 f. / B 203) nicht zwingend als Appell an die Intuition des Lesers gelesen werden muss (und daher aufgrund der skizzierten Schwierigkeiten auch nicht so gelesen werden sollte). In einer Parallelstelle in B 137 f. deutet Kant an, dass es ihm nicht um ein beliebiges Vorstellen der Linie, sondern um ein Erkennen geht, das sicherlich über einen bloß subjektiven, introspektiven Anspruch hinausgeht. Als was diese Linie erkannt werden soll, werde ich bei der Wiederaufnahme dieses Themas auf Seite 61 erläutern.

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Thalern, sondern muß es ein Aggregat, d. i. eine Zahl Geldstücke, nennen. Da nun bei aller Zahl doch Einheit zum Grunde liegen muß, so ist die Erscheinung als Einheit ein Quantum und als ein solches jederzeit ein Continuum.37

Im zweiten Satz dieses Zitats verknüpft Kant den Begriff einer kontinuierlichen Größe mit dem Begriff eines Quantum, im besonderen Falle des von Kant gewählten Beispiels mit dem Begriff eines Geldquantum. Als kontinuierliche Größe ist die extensive Größe dementsprechend aufzufassen als ein Quantum. Im ersten Satz dieses Zitats grenzt Kant nun aber dasjenige, was er „ein Aggregat von vielen Erscheinungen“ nennt, von der Erscheinung als einem Quantum ab. Dasjenige, was ein Aggregat von vielen Erscheinungen sei, sei gerade nicht Erscheinung als ein Quantum. Sofern demnach – wie soeben erläutert – die Erscheinung als extensive, mithin kontinuierliche Größe ein Quantum ist, ist sie, so könnte man meinen, kein Aggregat. Das stünde dann aber im Widerspruch zur Definition der extensiven Größe, bei deren Erläuterung Kant ausdrücklich sagt, dass Erscheinungen als extensive Größen jederzeit „schon als Aggregate (Menge vorhergegebener Theile) angeschaut“ werden (A 163 / B 204). Der soeben konstruierte Widerspruch ist freilich nur ein scheinbarer. Die Erscheinung als Quantum ist als extensive Größe durchaus ein Aggregat, also eine Menge vorhergegebener Teile, nur ist sie eben kein Aggregat von vielen Erscheinungen, d. h., die vorhergegebenen Teile der Erscheinung als Quantum sind nicht selbst wiederum Erscheinungen. Diese Lösung ist möglicherweise zunächst verwirrend. Denn dass die Teile der Erscheinung selbst keine Erscheinungen sind, soll natürlich nicht bedeuten, die Erscheinung als Quantum sei aus Dingen an sich zusammengesetzt. Wie aber hat man es sich dann vorzustellen, dass die Erschei_____________ 37 A 170 / B 212. Man könnte sogleich gegen diese Passage einwenden wollen, dass sie zur Erläuterung dessen, was Kant unter einer extensiven Größe versteht, gar nichts beitragen kann, da das in ihr vorgestellte Beispiel des Gehalts von dreizehn Talern ein Beispiel für eine intensive Größe sei, wie man leicht daran sehen könne, dass Kant als ein Beispiel für intensive Größen ausdrücklich das Moment der Schwere nennt (vgl. A 169 f. / B 210), unter welches man den Silbergehalt einer Münze doch subsumieren müsse, da man diesen ja durch Wiegen misst. Es sei aber daran erinnert, dass Kant mit dem Beispiel der Taler lediglich auf die Eigenschaft der Kontinuität der Größen abhebt, welche intensive und extensive Größen gemeinsam haben. Entsprechend lässt sich in Kants Reflexionen zur Metaphysik auch eine Stelle finden, wo Kant die Kontinuität der Größen am Beispiel einer extensiven Größe erläutert. Es sei nämlich ein Behälter mit Früchten nicht als ein Fruchtquantum anzusehen, es sei denn, man abstrahiere von den Zwischenräumen zwischen den Früchten und betrachte diese stattdessen als eine (zusammenhängende) den Raum erfüllende Materie. „Dolium pomis plenum non est quantum pomorum, nisi abstraham ab intervallis et materiam [vt] pomorum, qvasi impleret spatium, mihi fingerem.” (Refl. 6338a, AA XVIII 664; ebenfalls Opus postumum, AA XXI 460).

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nung als Quantum zusammengesetzt ist aus Teilen, die selbst nicht Erscheinungen sind? Zunächst ist es hilfreich festzustellen, dass die von Kant in Klammern gesetzte Erklärung, nach der ein Aggregat eine Menge vorhergegebener Teile ist, nicht nur in dem speziellen Fall der extensiven Größen gilt, sondern als allgemeingültige Erklärung dessen gelten darf, was Kant unter einem Aggregat versteht. So beschreibt er in seiner Anthropologie in pragmatischer Hinsicht das Aggregat ebenfalls ausdrücklich als eine bestimmte Art von Menge (vgl. AA VII 328) und setzt es in seiner Physischen Geographie folgendermaßen vom System ab: „im System ist das G a n z e eher als die Theile, im Aggregat hingegen sind die T h e i l e eher da“ (AA IX 158). Beide Stellen bieten keinerlei Anlass, ihre jeweiligen Erklärungen des Aggregats als eingeschränkt auf irgendeine besondere Anwendung zu deuten, mithin auch nicht als eingeschränkt auf den Bereich der extensiven Größe. Kants in Klammern gesetzte Erläuterung des Aggregats in der Kritik kann also gut als eine allgemeingültige Erklärung dieses Begriffs gelesen werden, welche die beiden angeführten Erklärungen aus der Anthropologie und der Geographie miteinander vereint. Mithilfe der Passage aus der Geographie kann man sich außerdem erklären, inwiefern die Teile des Aggregats „vorhergegebene“ Teile sind, nämlich insofern, als sie vor dem Ganzen gegeben sind, im Gegensatz zum System, in welchem das Ganze eher ist als die Teile. Da nun demnach die Erscheinung als Quantum und das Aggregat vieler Erscheinungen gleichermaßen eine Menge vorhergegebener Teile sind, stellt sich die Frage, wie sich beide voneinander unterscheiden. Es liegt nahe anzunehmen, dass dieser Unterschied in der besonderen Beschaffenheit der jeweiligen Teile zu finden ist, und wie schon gesagt lässt sich diesbezüglich immerhin sagen, dass die Teile des Aggregats vieler Erscheinungen Erscheinungen sind, die Teile der Erscheinung als Quantum hingegen nicht. Es ist natürlich abwegig anzunehmen – wie ebenfalls schon oben festgestellt wurde –, dass die Teile der Erscheinung als Quantum deshalb nun etwa Dinge an sich wären. Wie aber lassen sich die Teile der Erscheinung als Quantum dann verstehen? Zur Beantwortung dieser Frage empfiehlt es sich, zunächst auf eine weitere Bedeutung des Wortes „Gegenstand“ oder „Objekt“ einzugehen, von der Kant zusätzlich zu den beiden im Abschnitt 1.1 genannten Bedeutungen ebenfalls Gebrauch macht. ***** Exkurs: Das Apparens als bestimmter Raum Als ein bestimmter Gegenstand war in Kapitel 1.1 das Phänomen gegenüber dem Apparens insofern ausgezeichnet worden, als der Verstand sich darin den durch die Anschauung gegebenen Vorstellungsinhalt als einem

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äußeren Objekt korrespondierend vorstellt (vgl. v.a. S. 32 ff.). Dieser Vorstellungsgegenstand wird dadurch also in dem Sinne zu einer objektiven Vorstellung oder einer Erkenntnis eines Objekts, als er durch den Akt des Verstandes seinen Gegenstandsbezug erhält. Das Apparens war demgegenüber gerade insofern für unbestimmt erklärt worden, als ihm dieser Gegenstandsbezug mangelt. Als Gegenstand war es in Kapitel 1.1 lediglich im Sinne eines subjektiven Gegenstandes verstanden worden, genauer, in der ganz allgemeinen Bedeutung eines intentionalen Gegenstandes. Demgegenüber lässt sich dem folgenden Zitat nun noch eine weitere Bedeutung des Wortes „Objekt“ entnehmen: Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Object (ein bestimmter Raum) erkannt wird. Die synthetische Einheit des Bewußtseins ist also eine objective Bedingung aller Erkenntniß, nicht deren ich bloß selbst bedarf, um ein Object zu erkennen, sondern unter der jede Anschauung stehen muß, um für mich Object zu werden, weil auf andere Art und ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde. (B 137 f.)

In diesem Zitat ist zunächst einmal darauf zu achten, dass Kant den Ausdruck „Objekt“ durch das Beispiel der Linie erläutert, mithin unter „Objekt“ hier offenbar einen rein mathematischen Gegenstand versteht. Von diesen mathematischen Gegenständen gilt nun aber keineswegs notwendigerweise, dass ihnen ein vom Subjekt verschiedener Grund der Vorstellung korrespondiert38, weshalb man die Vorstellung eines solchen mathematischen Gegenstandes für sich genommen in dieser Hinsicht wohl als unbestimmt betrachten muss. In dieser Hinsicht unterscheidet sich ein mathematischer Gegenstand demnach in derselben Weise vom Phänomen wie das Apparens. Beide sind im Gegensatz zum Phänomen hinsichtlich ihres Gegenstandsbezuges unbestimmt. An dieser Stelle rückt nun darüber hinaus in den Blick, dass Kant in oben stehendem Zitat den Begriff eines Objekts einerseits mit dem Beispiel eines mathematischen Gegenstandes erläutert, andererseits diesem Begriff noch eine in Klammern gestellte Erläuterung beifügt, der gemäß ein solches Objekt für ihn offenbar „ein bestimmter Raum“ ist. Freilich ist _____________ 38 In diesem Sinne lese ich auch Kants Äußerung in § 22: „Sinnliche Anschauung ist entweder reine Anschauung (Raum und Zeit) oder empirische Anschauung desjenigen, was im Raum und der Zeit unmittelbar als wirklich, durch Empfindung, vorgestellt wird. Durch Bestimmung der ersteren können wir Erkenntnisse a priori von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach als Erscheinungen; ob es Dinge geben könne, die in dieser Form angeschaut werden müssen, bleibt doch dabei noch unausgemacht.“ (B 147 f.)

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der mathematische Gegenstand trotz seiner oben herausgestellten Ähnlichkeit mit dem Apparens nicht mit diesem gleichzusetzen. Denn das Apparens wurde ja oben als der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung aufgefasst, wohingegen ein mathematischer Gegenstand als solcher von Kant zweifellos als ein reiner Gegenstand vorgestellt wird.39 Dennoch kann die genannte Passage den Verdacht aufkommen lassen, dass sich mathematischer Gegenstand und Apparens nicht nur in ihrer Unbestimmtheit hinsichtlich eines vom Subjekt verschiedenen Gegenstandes gleichen, sondern womöglich auch hinsichtlich der besonderen Art der Bestimmtheit, die Kant in B 137 f. dem mathematischen Gegenstand zuspricht, nämlich, ein bestimmter Raum zu sein. Dieser Verdacht erhärtet sich, wenn man die folgende Passage aus dem Abschnitt über die Phänomena und Noumena hinzuzieht: Daher erfordert man auch, einen abgesonderten Begriff s i n n l i c h z u m a c h e n , d. i. das ihm correspondirende Object in der Anschauung darzulegen, weil ohne dieses der Begriff (wie man sagt) ohne S i n n , d. i. ohne Bedeutung, bleiben würde. Die Mathematik erfüllt diese Forderung durch die Construction der Gestalt, welche eine den Sinnen gegenwärtige (obzwar a priori zu Stande gebrachte) Erscheinung ist. (A 241 / B 299)

Es ist leicht zu erraten, dass das einem Begriff korrespondierende Objekt, von welchem an dieser Stelle die Rede ist, dasselbe ist wie das, wofür Kant in B 137 f. das Beispiel der Linie gibt und von dem er sagt, dass es als ein bestimmter Raum erkannt werde. Denn dass man einen Begriff mit dem ihm korrespondierenden Objekt in der Anschauung verbindet, dürfte gemäß Kants Zweistämmelehre durchaus als das Erkennen dieses Objekts gewertet werden. Dazu passt zweifelsohne, dass die Mathematik diese Aufgabe laut A 241 / B 299 durch die „Construction der Gestalt“ löst. Denn die Gestalt kann sehr gut als „ein bestimmter Raum“ verstanden werden, als welchen Kant das Objekt in B 137 f. erläutert. Und auch die Linie, welche Kant dort als Beispiel eines solchen Objekts anführt, kann sicherlich ohne Schwierigkeiten eine Gestalt genannt werden. Von besonderem Interesse für die Frage nach der Verwandtschaft zwischen mathematischem Gegenstand und Apparens ist aber der Umstand, dass Kant die Gestalt in der oben zitierten Passage als „eine den Sinnen gegenwärtige (obzwar a priori zu Stande gebrachte) Erscheinung“ bezeichnet. In welchem Sinne kann aber ein a priori zustande gebrachtes Objekt eine Erscheinung genannt werden, da die Erscheinung doch klarerweise eine empirische Vorstellung ist? In einer bereits oben in Fußno_____________ 39 Vgl. z. B. A 239 f. / B 299, wo Kant darauf hinweist, dass in der Mathematik „alle diese Grundsätze und die Vorstellung des Gegenstandes, womit sich jene Wissenschaft beschäftigt, völlig a priori im Gemüth erzeugt werden“.

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te 38 dieses Kapitels zitierten Passage des § 22 erklärt Kant diesbezüglich, dass „wir Erkenntnisse a priori von Gegenständen (in der Mathematik) bekommen, aber nur ihrer Form nach als Erscheinungen“ (B 147 f.). Der Begriff der Form verweist deutlich zurück auf den § 1 in der Transzendentalen Ästhetik. Denn dort unterscheidet Kant, nachdem er die Erscheinung als den unbestimmten Gegenstand einer empirischen Anschauung, mithin als Apparens erklärt hat, Form und Materie an ihr. Und während er, wie bereits oben erwähnt (S. 34), für die Materie Beispiele gibt wie „Undurchdringlichkeit, Härte, Farbe usw.“ (A 20 f. / B 35), erläutert er ebenda „die reine Form sinnlicher Anschauungen“ (vgl. A 20 f. / B 34 f.) als Ausdehnung und Gestalt. Mathematische Gegenstände wie z. B. Linien oder ganz allgemein gewisse Gestalten sind demnach Erscheinungen lediglich der Form nach. Sie gehören zu demjenigen an der Erscheinung, was „auch ohne einen wirklichen Gegenstand der Sinne oder Empfindung, als eine bloße Form der Sinnlichkeit im Gemüthe stattfindet“ (A 20 f. / B 35). Da so etwas wie die Gestalt aber unzertrennlich mit der Erscheinung verbunden ist, nämlich als ihre Form, so muss auch die Erscheinung, das Apparens, in derselben Weise bestimmt sein, wie es dergleichen mathematische Objekte gemäß B 137 f. sind, d. h. als ein bestimmter Raum.40 Es ist also die in Kapitel 1.1 gegebene Bestimmung des Apparens an dieser Stelle zu ergänzen. Zwar ist das Apparens nach wie vor insofern als eine subjektive Vorstellung aufzufassen, als dadurch noch keine Beziehung auf einen vom Subjekt unterschiedenen Grund dieser Vorstellung gedacht wird. In eben dieser Hinsicht muss das Apparens vom Phänomen unterschieden und entsprechend als unbestimmt gedacht werden. Dennoch ist dieser unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung nicht unbestimmt in jeder Hinsicht. Vielmehr muss er als „ein bestimmter _____________ 40 Michael Wolff hat gegen meine Interpretation des Apparens als bestimmten Raum eingewandt, dass auch nichträumliche Erscheinungen, wie z. B. Tonempfindungen Kandidaten für die Erscheinung im Sinne des Apparens seien. Die von mir vorgeschlagene Bestimmung des Apparens wäre demnach zu eng. Sie erklärt sich freilich aus dem Umstand, dass in der auf Seite 45 zitierten Passage, aus deren Analyse meine These hervorging, auch Kant lediglich von einem bestimmten Raum als Objekt der Erkenntnis redet. Natürlich schließt diese Passage keineswegs die Möglichkeit von Erkenntnisobjekten in dem von Wolff vorgeschlagenen Sinne aus. Die Möglichkeit scheint mir sogar einigermaßen wahrscheinlich. Ich würde daher, um Fälle der angesprochenen Art ebenfalls einzuschließen, eine Bestimmung des Apparens zulassen, nach der nicht nur bestimmte Räume, sondern auch bestimmte Zeiten darunter zu fassen wären. Aus Gründen der Einfachheit und da mir keine Einlassungen Kants zu diesem Punkt hinsichtlich der Zeit bekannt sind, werde ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit allerdings in der Regel weiterhin vom Apparens lediglich als bestimmtem Raum sprechen.

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Raum“ gedacht werden und in diesem Sinne als ein Objekt (vgl. B 137 f.). Es ergibt sich somit neben der Intentionalität der Erscheinung als einer Vorstellung noch eine weitere Bedeutung, der gemäß das Apparens durchaus objektiv genannt werden kann, nämlich im Sinne eines räumlichen Gegenstandes. Diese Ergänzung ist in ihrer Tragweite nicht zu unterschätzen. Denn in der bloßen Bedeutung von Intentionalität ist auch die Empfindung (sensatio) eine objektive Vorstellung. In der Stufenleiter der Vorstellungen begreift Kant die Empfindung aber ganz explizit als eine bloß subjektive Vorstellung, im Gegensatz zur Anschauung (intuitus), die er ebenda den objektiven Vorstellungen zuordnet (vgl. A 320 / B 376 f.). Der Vorstellungsgegenstand der Anschauung, das Apparens, muss sich demnach vom Vorstellungsgegenstand der Empfindung, der nichts als eine Modifikation des Zustands des Subjekts ist (vgl. ebd.), unterscheiden, damit die Anschauung der Empfindung gegenüber in einem stärkeren als dem bloß intentionalen Sinn als eine „objective Perception“ (ebd.) gelten kann. Diese Objektivität kommt ihr nun zwar auch nicht in dem vollkommenen Sinne zu, dass durch sie allein ein Gegenstand als einem äußeren Gegenstand korrespondierend gedacht würde – in diesem Sinne ist vielmehr allein das Phänomen als objektiv zu betrachten (vgl. Kapitel 1.1); gleichwohl lässt sich nun aber die Anschauung, da sie sich nicht auf einen bloßen Zustand des Subjekts, sondern auf einen räumlichen Gegenstand richtet, begründeterweise objektiv nennen und so von der bloß subjektiven Empfindung unterscheiden – ganz im Sinne der von Kant errichteten Stufenleiter. Das Apparens als der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung unterscheidet sich aber vom bloßen Zustand des Subjekts (als dem Gegenstand der Empfindung) nicht nur dadurch, dass es in dem beschriebenen Sinne ein Objekt oder Gegenstand genannt werden kann. Vielmehr liegt mit dem Apparens eine von zwei Hauptbedeutungen des Begriffs der Erscheinung vor. Dasjenige, was der Empfindung korrespondiert, nennt Kant hingegen bloß die Materie der Erscheinung. Der Gegenstand der Empfindung für sich genommen ist mithin nicht selbst schon Erscheinung, sondern nur ein Aspekt an ihr. Es muss noch ein weiterer Aspekt hinzukommen, wenn von einer Erscheinung die Rede sein soll, und dieser Aspekt ist ihre Form, mithin das, was Kant durch die Begriffe der Ausdehnung und Gestalt erläutert und was man den oben stehenden Erläuterungen folgend als einen bestimmten Raum begreifen kann. *****

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Mit diesem Ergebnis lässt sich nun eine plausible Antwort auf die oben auf Seite 43 f. gestellte Frage geben, wie sich die Teile der Erscheinung als Quantum verstehen lassen, die ja im Gegensatz zu den Teilen des Aggregats von Erscheinungen nicht selbst Erscheinungen sein dürfen. Die Teile der Erscheinung als Einheit sind selbst keine Erscheinungen im Sinne des Apparens, sondern lediglich dessen Materie, der für sich genommen noch die Bestimmung durch die Form, mithin die Zusammenfassung zu einem bestimmten Raum fehlt, um selbst Erscheinung genannt werden zu können. Die Teile eines Aggregats von Erscheinungen sind demgegenüber selbst schon Erscheinungen in genau diesem Sinne der Erscheinung als eines bestimmten Raumes. Jeder Teil eines solchen Aggregats von Erscheinungen ist mithin selbst schon eine Erscheinung im Sinne des Apparens. Diese Interpretation bestätigt sich sehr schön an den von Kant eingebrachten Beispielen der Münzen und Früchte. Die Beispiele der Menge von Münzen (vgl. A 170 / B 212) bzw. Früchten (vgl. Fußnote 37 dieses Kapitels) für ein Aggregat von vielen Erscheinungen deuten an, dass es sich bei diesen Teilen um einzelne, voneinander getrennte und in diesem Sinne um bestimmte Gegenstände handelt, eben die einzelnen Früchte oder Münzen, die jeweils einen bestimmten, d. h. eindeutig beschriebenen Raum einnehmen. Jede Frucht und jede Münze ist daher eine eigenständige Erscheinung im Sinne des Apparens. Dagegen sind die Teile der Erscheinung als Quantum, deren Menge z. B. eine Mark Feinsilber oder eine bestimmte Fruchtmasse ausmachen, zwar beliebig voneinander trennbar, nicht aber schon für sich genommen als ein bestimmter Raum vorgestellt. Sie sind gerade in dem Sinne keine bestimmten Räume, als ihnen keine Gestalt zukommt, keine Grenze, an der sie selbst ein klares Ende ihrer Ausdehnung finden würden. Die Teile eines Quantum erscheinen vielmehr als durchgängig miteinander zusammenhängend, finden die Grenze ihrer Ausdehnung nur gemeinschaftlich in der sie alle umgrenzenden Gestalt und machen entsprechend nicht jeder für sich, sondern nur alle zusammen einen bestimmten Raum, mithin eine „Erscheinung als Einheit“ aus. Nur eine bestimmte Münze bzw. Frucht macht eine Erscheinung aus, nicht aber willkürlich heraustrennbare Teile der für sich genommen nicht weiter differenzierten Materie, aus der sie bestehen. Nachdem nun geklärt ist, inwiefern nicht nur das Aggregat von Erscheinungen, sondern auch die Erscheinung als Einheit als ein Aggregat, mithin als eine Menge von (wenn auch für sich genommen unbestimmten) Teilen aufzufassen ist, führt eine genauere Analyse dieser verschiedenen Arten der Aggregation zu einem deutlicheren Verständnis des Begriffs der extensiven Größe. In B 137 f. hatte Kant darauf hingewiesen, dass man,

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um „irgend etwas im Raume zu erkennen, […] eine bestimmte Verbindung des Mannigfaltigen synthetisch zustande bringen“ muss und dass „ohne diese Synthesis das Mannigfaltige sich nicht in einem Bewußtsein vereinigen würde“. Entsprechend unterscheidet sich auch die Synthesis des Aggregats von Erscheinungen von der Synthesis der Erscheinung als Einheit, wie Kant in A 170 / B 212 ausführt. Demnach ist die Erzeugung eines Aggregats vieler Erscheinungen eine „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“, denn mit der Erzeugung jeder einzelnen Erscheinung – einer jeden Münze oder einer jeden Frucht – ist jeweils eine bestimmte Synthesis vollendet, auf welche solange eine Synthesis derselben Art folgt – nämlich die erneute Erzeugung einer Erscheinung derselben Art, also einer weiteren Münze oder einer weiteren Frucht –, bis die vollständige Größe des Aggregats, also z. B. die gegebene Menge an Münzen bzw. Früchten, erreicht ist. Demgegenüber bilden die Teile einer Erscheinung als Quantum einen kontinuierlichen Zusammenhang, weil ihre Erzeugung einer einzigen und ununterbrochenen Synthesis entspringt. Auf diese Weise wird „eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande“ gebracht (B 137 f.) und das so verbundene Aggregat des Mannigfaltigen als ein Gegenstand der Anschauung bestimmt. Diese Art der Synthesis im Unterschied zur Synthesis eines Aggregats von Erscheinungen kann man vielleicht besser als an den relativ komplexen Erscheinungen einer Mark Feinsilber oder einer gewissen Fruchtmasse an dem Beispiel veranschaulichen, mit welchem Kant selbst die Definition der extensiven Größe erläutert, mithin an dem bereits eingangs vorgestellten Beispiel einer Linie.41 Würden nämlich die Teile der Linie nach dem Muster eines Aggregats von Erscheinungen erzeugt, d. h. durch „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212), so ließe sich dadurch eine Linie als zusammenhängende Erscheinung gar nicht denken. Die einzelnen Teile ließen sich nicht zu einer „Erscheinung als Einheit“ (A 171 / B 212) vereinigen, sondern bildeten eben nur einen Komplex vieler einzelner Erscheinungen, nicht eine einzelne Linie, sondern ein Aggregat vieler Linien. Um die Einheit der Erscheinung zu gewährleisten, wird ein Bewusstsein von der Einheit der Handlung erfordert, durch welche die gedachte Erscheinung erzeugt wird. Die Erzeugung einer Linie geschieht durch Fortsetzung ein und derselben „productiven Synthesis einer gewissen Art“ und nicht „durch Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212). Das Bewusstsein der Ein_____________ 41 Auch in der zuletzt herangezogenen Passage B 138 erläutert Kant das Zustandebringen einer bestimmten Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen durch das Beispiel des Ziehens einer Linie.

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heit der Handlung in der Erzeugung einer Linie, d. h. das Bewusstsein davon, dass die Fortsetzung der produktiven Synthesis in der Erzeugung der Linie eine einzige Handlung ist, ist zugleich das Bewusstsein von der Einheit der Linie selbst, mithin ihrer Erscheinung als Einheit (vgl. B 137 f.). Wenngleich die so erzeugte Linie eine Erscheinung als Einheit ist, ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass auch diese Einheit ein Mannigfaltiges, mithin Teile enthält. Im Gegensatz zur Einheit dieser Erscheinung als ganzer, die einen bestimmten Gegenstand (eine Linie, eine Münze, eine Frucht usw.) darstellt, sind diese Teile aber nicht bestimmt. Denn hierdurch zeichnet sich vielmehr das Aggregat von Erscheinungen aus, in welchem ja – wie schon gesagt – die durch wiederholte Synthesis erzeugten Teile jeder für sich einen bestimmten Gegenstand ausmachen und entsprechend in ihrer Summe einen Haufen Münzen oder eine Menge Früchte bilden. Dass die Teile der Erscheinung als Einheit, d. h. der Erscheinung als Quantum, nicht als bestimmt anzusehen sind, äußert sich darin, dass in ihr „kein Teil der kleinste ist“ (A 170 / B 212), mithin in ihrer Kontinuität (vgl. A 169 / B 211). Die Wahl der Einheit, wonach man die Größe des Quantum bemisst, ist beliebig. In einer Mark Feinsilber könnte „jeder Theil ein Geldstück ausmachen“ (A 170 / B 212), ebenso wie jede beliebige Fruchtportion das Maß für ein bestimmtes Fruchtquantum abgeben könnte. Dagegen besteht ein Aggregat von vielen Erscheinungen aus Einheiten, die sich nicht weiter in Einheiten derselben Art zerlegen lassen und in diesem Sinne durchaus kleinste Teile sind. In einem Aggregat von Früchten ist die kleinste Einheit die einzelne Frucht und in einem Aggregat von Münzen die einzelne Münze. Die bestimmten Gegenstände des Aggregats sind die jeweils kleinsten Teile. Demgegenüber bestehen die einzelnen Münzen, welche die Menge von dreizehn Talern bilden, nicht aus einer Menge anderer Münzen, sondern aus einer zusammenhängenden, in der Regel metallischen Materie; ebenso bestehen die einzelnen Früchte, wie z. B. Äpfel, deren Menge in einer Obstschüssel enthalten ist, nicht wiederum selbst aus einer Menge anderer Äpfel, sondern – abgesehen von Gehäuse und Schale – aus einer gewissen, in sich nicht weiter gegliederten Menge Fruchtfleisch. Dass sich dementsprechend in der Erscheinung als Einheit keine kleinsten Teile bestimmen lassen, hat seinen Grund darin, dass das diese Teile enthaltende Quantum in einer einzigen kontinuierlichen Synthesis erzeugt ist. Denn ein gegebenes Mannigfaltiges wird durch die Vollendung der Synthesis einer gewissen Art als eine zusammengehörige Einheit, mithin als ein bestimmter Gegenstand bestimmt. Durch die Vollendung der Synthesis eines Quantum wird aber lediglich das Quantum als Ganzes als

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eine zusammengehörige Einheit, mithin als ein bestimmter Gegenstand bestimmt. Entsprechend sind die Teile in der Erzeugung eines Quantum nicht selbst schon als Einheiten bestimmt, da die Synthesis in der Verbindung des Mannigfaltigen bei keinem dieser Teile, sondern erst bei der Vollendung der Summe dieser Teile halt macht. Da aber aufgrund dieser kontinuierlichen Synthesis keines der Teile als Einheit bestimmt ist, kann man die Einheit, nach der man die Größe des Ganzen, also der Erscheinung als Einheit, bemisst, beliebig wählen. Aufgrund dieser kontinuierlichen Synthesis ist eine Mark Feinsilber eine Erscheinung als Einheit, „in welcher kein Theil der kleinste ist, sondern jeder Theil ein Geldstück ausmachen könnte, welches immer Materie zu noch kleineren enthielte“ (A 170 / B 212). Es erweist sich damit die Kontinuität einer extensiven Größe als das Merkmal der Einheit, und d. h. der Bestimmtheit, eines Gegenstandes. Anders gesagt: von einem bestimmten Gegenstand der äußeren Anschauung redet Kant nur dann, wenn ein gegebenes Mannigfaltiges als eine zusammenhängende, d. h. kontinuierliche Einheit erkannt wird. Dieses Merkmal erscheint so sachgemäß, dass es auch gut einer aufmerksamen Beobachtung der alltäglichen Erfahrung entnommen sein könnte und nicht einer abstrakten transzendentalen Überlegung, wie Kant sie anstellt. Auch nach gängigem Alltagsverständnis wird man die Kontinuität eines Gegenstands als Kriterium dafür heranziehen, dass es sich bei dem in Rede stehenden Gegenstand eben um einen Gegenstand handelt. Dort, wo in gar keiner Weise ein kontinuierlicher Zusammenhang gegeben ist, wird man wohl kaum von einem Gegenstand sprechen, sondern von mehreren. Dass man z. B. selbst einen so vergleichsweise disparaten Gegenstand wie ein Mobile als einen Gegenstand bezeichnet, dürfte seinen Grund zuletzt darin haben, dass es wenigstens in einem Punkt einen kontinuierlichen Zusammenhang aller Einzelteile gibt. Wäre dieser Punkt nicht gegeben, spräche man wahrscheinlich eher von zwei oder mehr Mobiles als von einem. Es dürfte Kant damit gelungen sein, eine wahrhaft allgemeine Eigenschaft aller Gegenstände der äußeren Erfahrung ausgemacht zu haben. Welche Form oder Gestalt auch immer ein Gegenstand der äußeren Erfahrung haben mag, man wird ihn doch nur deshalb als einen bestimmten Gegenstand begreifen, weil man ihn als eine zusammenhängende Einheit versteht. Es ist bereits herausgestellt worden, dass die Erscheinung als Phänomen laut Kant ein Gegenstand ist, sofern er „nach der Einheit der Kategorien gedacht“ wird (A 248 f.). Es dürfte nach den zurückliegenden Erörterungen nicht überraschen, dass diejenige Kategorie, nach deren Einheit ein solcher Gegenstand unumgänglich gedacht werden muss, die Kategorie der Einheit ist. Um überhaupt von einem Gegenstand der An-

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schauung sprechen zu können, muss das durch Empfindung gegebene und als solches unverbundene Mannigfaltige zu einer Einheit, nämlich zu einem bestimmten Raum, zusammengefasst werden. Das an sich zerstreute und einzelne Mannigfaltige der Empfindung (vgl. A 120) muss unter den Begriff der Einheit gebracht werden, um eine Einheit der Anschauung und dadurch einen Anschauungsgegenstand zustande zu bringen.42 Die von Kant beschriebene „Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen Art“ (A 170 / B 212) ist dabei „die reine Synthesis [dieses Mannigfaltigen; O. S.] gemäß einer Regel der Einheit nach Begriffen überhaupt, die die Kategorie ausdrückt“ (A 142 / B 181), mithin das „Schema eines reinen Verstandesbegriffs“ (ebd.), und zwar das Schema der Kategorie der Einheit. Ein an sich unverbundenes Mannigfaltiges der Anschauung lässt sich unter die Kategorie der Einheit genau dann bringen, wenn es sich mittels einer kontinuierlichen Synthesis zu einer Einheit der Anschauung, d. h. zu einem bestimmten Raum zusammenfügen lässt. Dass diese regelmäßige Art der Synthesis auch die für ein transzendentales Schema erforderliche Allgemeinheit hat, lässt sich leicht nachvollziehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Anweisung, in der Anschauung eine kontinuierliche Verbindung des Mannigfaltigen zustande zu bringen, für sich genommen noch vollkommen offen lässt, wie diese Verbindung zustande gebracht werden soll, und sich folglich gar nicht ohne weiteres in die Tat umsetzen lässt. Zu diesem Zweck bedarf es vielmehr noch eines bestimmten Begriffs, der eine Regel gibt, das Mannigfaltige der Anschauung zur Einheit einer gewissen Gestalt oder Form zu vereinigen. Der Begriff der Linie z. B. gibt nicht nur die Anweisung, dass das Mannigfaltige der Anschauung verbunden werden soll, und setzt in diesem Sinne die Kategorie der Einheit voraus, sondern er erklärt darüber hinaus auch, dass das Mannigfaltige so verbunden werden soll, dass eine breitenlose Länge entsteht. Die hier gegebene Erklärung des Schemas der Kategorie der Einheit führt insofern schön vor Augen, inwieweit für sich genommen „das Schema eines reinen Verstandesbegriffs etwas [ist], was in gar kein Bild gebracht werden kann“ (A 142 / B 181). Der eingeschlagenen Interpretationslinie folgend drängt sich nun freilich der Gedanke auf, auch die andere von Kant beschriebene Art der Synthesis, nämlich die „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212), als ein Schema einer bestimmten Kategorie aufzufassen. Zunächst kommen für diese übrig gebliebene Synthesis zwei Kategorien in Frage, nämlich die übrigen Quantitätskategorien, Vielheit und _____________ 42 In diesem Sinne betont Kant, dass erst durch die Einheit der Anschauung, „welche jederzeit eine Synthesis des mannigfaltigen zu einer Anschauung Gegebenen in sich schließt“, „ein Gegenstand gegeben wird“ (B 144).

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Allheit. Zwei weitere Textstellen können an diesem Punkt weiterhelfen. Zum einen schreibt Kant im Abschnitt über die Antinomien: So bald aber etwas als quantum discretum angenommen wird, so ist die Menge der Einheiten darin bestimmt, daher auch jederzeit einer Zahl gleich. (A 527 / B 555)

Zudem schreibt er im § 11 der Kritik, es sei der Begriff einer Zahl (die zur Kategorie der Allheit gehört) nicht immer möglich, wo die Begriffe der Menge und der Einheit sind (z. B. in der Vorstellung des Unendlichen) (B 111).

Aus der Verbindung dieser beiden Textstellen wird man schließen können, dass eine Menge von Einheiten genau dann unter den Begriff der Allheit gehört, wenn die Menge der Einheiten bestimmt, d. h. einer Zahl gleich ist. An dem in § 11 angeführten Gegenbeispiel zur durch die Kategorie der Allheit bestimmten Menge, „der Vorstellung des Unendlichen“, kann man nun verstehen, inwiefern nach Kant „die A l l h e i t (Totalität) nichts anders“ sei „als die Vielheit, als Einheit betrachtet“ (B 111). Ebenso nämlich, wie es in der Erzeugung der Erscheinung als Einheit nötig ist, der fortgesetzten kontinuierlichen Synthesis ein Ende zu setzen und dadurch das soweit synthetisierte Mannigfaltige als eine zusammengehörige Einheit zu bestimmen, ist es zur Bestimmung einer Menge von Erscheinungen als Allheit nötig, eine bestimmte Reihe immer wieder aufhörender Synthesen als vollendet, mithin eine bestimmte Menge von Erscheinungen als eine zusammengehörige Einheit aufzufassen. In diesem Sinne ist dann die Menge der Einheiten bestimmt, d. h., es ist bestimmt, wie viele Einheiten zusammen die nun als vollständig bestimmte Menge bilden, so dass die Menge der Einheiten „jederzeit einer Zahl gleich“ ist (A 527 / B 555). In der Vorstellung des Unendlichen dagegen muss die Menge der Einheiten unendlich sein, d. h. „größer […] als alle Zahl“ (A 432 / B 460), so dass die Menge der Einheiten unbestimmt ist in dem Sinne, dass sich zwar die Einheiten der Menge zählen lassen, diese Zählung aber niemals vollendet werden kann.43 Entsprechend ist der „wahre (transscendentale) _____________ 43 Man könnte sich demgegenüber die Unbestimmtheit der Menge auch so vorstellen, dass sich die in dieser Menge enthaltenen Einheiten nicht eindeutig bestimmen lassen, wie dieses etwa bei der Erscheinung als Einheit der Fall ist. Dass dieser Fall hier nicht gemeint ist, erklärt sich aus dem folgenden Zitat im Haupttext. – Die vorgestellte Ordnung der Synthesisleistungen gemäß den Kategorien der Quantität zeigt ein besonderes Abhängigkeitsverhältnis der Quantitätskategorien in ihrer Anwendung auf die Anschauung. So setzt eine Synthetisierung gemäß der Kategorie der Vielheit offensichtlich eine Anwendung der Kategorie der Einheit voraus und ist selbst wiederum Voraussetzung für eine Anwendung der Kategorie der Allheit. Man kann in diesem Sinne von einer graduellen Bestimmung der Erscheinung sprechen. Je höher die Kategorie, desto aspektreicher ist die Erscheinung bestimmt, da die jeweils höhere Kategorie bereits eine Bestimmung

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Begriff der Unendlichkeit […]: daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann“ (ebd.). In diesem Sinne bedeutet daher die von Kant beschriebene „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212) das Schema der Vielheit, wiewohl hierbei noch unbestimmt bleibt, ob diese Vielheit von Erscheinungen zuletzt auch als Allheit aufzufassen ist. Denn die Erzeugung einer anschaulichen Allheit erfordert noch „einen besonderen Actus des Verstandes, der nicht mit dem einerlei ist, der beim ersten und zweiten ausgeübt wird“ (B 111). Der Actus, „der beim ersten und zweiten ausgeübt wird“, lässt sich im vorliegenden Zusammenhang unschwer beziehen auf die Synthesis der Erscheinung als Einheit auf der einen und die Synthesis einer bloßen Vielheit auf der anderen Seite. In diesem Zusammenhang wird diese Nichtidentität ersichtlich. Denn zwar hat der Actus in der Erzeugung einer bestimmten Menge mit der Synthesis in der Erzeugung einer Erscheinung als Einheit gemeinsam, dass er eine bestimmte Synthesis für vollständig erklärt; allerdings besteht diese Synthesis nicht in der Fortsetzung einer einzigen kontinuierlichen Synthesis, sondern in einer bestimmten Menge von Wiederholungen einer immer aufhörenden Synthesis. Diese Wiederholungen einer bestimmten immer aufhörenden Synthesis hat die Erzeugung einer anschaulichen Allheit zwar wiederum gemein mit der Erzeugung einer bloßen Vielheit. Von dieser unterscheidet sie sich aber wiederum dadurch, dass sie die Menge dieser Wiederholungen bestimmt, indem sie die Reihe der immer aufhörenden Synthesen an einer bestimmten Stelle für vollständig erklärt. Auf diese Weise wird aus der bloßen Menge von Erscheinungen eine bestimmte Menge, oder, wie Kant im Abschnitt über die Antinomien sagt, ein „quantum discretum“ (A 527 / B 555). Die Erzeugung des quantum discretum, d. h. die vollendete Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis, ist somit das Schema der Allheit. Nun sind die drei hier gegebenen Beschreibungen der Quantitätsschemata (die Fortsetzung der productiven Synthesis als Schema der Einheit, die Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis als das Schema der Vielheit und die vollendete Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis als Schema der Allheit) aufgrund der Länge ihres Ausdrucks nur sehr umständlich zu gebrauchen, so dass es wünschenswert erscheint, sich lediglich mit je einem einzigen Terminus auf diese Schemata beziehen zu _____________ nach der niedrigeren voraussetzt. Überträgt man diese Redeweise auf alle Kategorien, würde nach dem Grad der Bestimmung die Kategorie der Einheit die niedrigste, die Kategorie der Notwendigkeit die höchste sein. Dass diese Zunahme des Bestimmungsgrades allerdings für alle Kategorienklassen und auch in ihrem Verhältnis untereinander gilt, wäre zunächst noch zu zeigen.

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können. Genau solche Begriffe finden sich nun in einem Brief von Kant an Johann Schultz vom 17. Februar 1784: Mit einem Worte: ich finde daß eben so, wie der Schlussatz in einem Syllogism, ausser den Handlungen des Verstandes und der Urtheilskraft in den Vordersätzen, noch e i n e b e s o n d e r e u n d d e r V e r n u n f t s p e c i f i s c h z u g [ e ] e i g n e t e H a n d l u n g im Schlussatze anzeigt, […] also auch die dritte Categorie ein besonderer, zum Theil ursprünglicher Begrif, sey z. B. die Begriffe quantum, compositum, totum gehören unter die Categorien der Einheit, Vielheit, Allheit; allein ein quantum als compositum gedacht würde doch noch nicht den Begrif der totalitaet geben, ausser so fern der Begrif des quanti durch die composition als bestimmbar gedacht wird, welches nicht bey allen quantis z. B. dem Unendlichen Raume angeht.44

Die Begriffe, welche Kant hier der Reihe nach den Kategorien der Quantität zuordnet, quantum, compositum und totum, lassen sich ausgezeichnet auf die oben beschriebenen Schemata beziehen. An dieser These mag zunächst verwirren, dass schon Kants ausdrückliche Bezeichnung dieser Begriffe als Begriffe diese nicht ohne weiteres als Bezeichnungen für Schemata erscheinen lässt, sofern man letztere bloß als „Regeln“ oder „Verfahren“ und eben nicht ohne weiteres als Begriffe auffasst.45 Man muss aber beachten, dass Kant das Schema andernorts auch ausdrücklich als einen Begriff, nämlich als den „sinnliche[n] Begriff eines Gegenstandes, in Übereinstimmung mit der Kategorie“ bezeichnet (A 146 / B 186). Kants explizite Bezeichnung der Ausdrücke „quantum“, „compositum“ und „totum“ als Begriffe bedeutet für die behauptete Identifizierung somit keineswegs ein Hindernis, sondern vielmehr eine Bestätigung, insbesondere wenn man hinzunimmt, dass Kant diese Begriffe offensichtlich als unmittelbar auf die Anschauung bezogene, mithin als sinnliche Begriffe versteht, wie Kants Anführung des unendlichen Raums als Beispiel für ein quantum deutlich macht.46 Ein weiterer Beleg für die Rechtmäßigkeit der behaupteten Identifizierung der in der vorliegenden Arbeit herausgearbeiteten Schemata mit den von Kant in seinem Brief an Schultz angeführten Begriffen lässt sich darüber hinaus in der offenkundigen Identität ihrer argumentativen Funktion finden. Denn dass der Kategorie der Allheit eine über die bloße Verbindung der Kategorie der Einheit und der Vielheit hinausgehende Bedeutung zukommt, lässt sich ebenso – siehe Kants Brief an Schultz – unter Rekurs auf die Begriffe des quantum, compositum und totum zeigen, wie _____________ 44 AA X 367. 45 Diese Auffassung ließe sich z. B. auf A 140 / B 180 f. und A 141 / B 180 stützen. 46 Vgl. auch A 169 / B 211: „Raum und Zeit sind quanta continua […].“ – Inwiefern diese sinnlichen Begriffe „unter die Categorien“ gehören, dazu vgl. Kapitel 2.2 der vorliegenden Arbeit.

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durch die Erläuterung der in der vorliegenden Arbeit als Quantitätsschemata herausgestellten Arten der Synthesis.47 Schließlich lässt sich auch durch Kants Wortgebrauch in der Beschreibung dieser verschiedenen, in der vorliegenden Arbeit als Quantitätsschemata herausgearbeiteten Synthesen die Behauptung untermauern, dass die von Kant in seinem Brief an Schultz angeführten Begriffe nichts anderes als Bezeichnungen für diese Schemata sind. Zunächst ist diesbezüglich an Kants Ausführungen zum Unterschied der Erscheinung als Quantum und dem Aggregat von Erscheinungen zu erinnern, die er mit den Beispielen von 13 Talern im Sinne einer Mark Feinsilber einerseits und der entsprechenden Menge einzelner Münzen andererseits illustriert.48 Erstere werde durch die „productive Synthesis einer gewissen Art“, mithin mithilfe des Schemas der Einheit, letzteres durch „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“, mithin durch das Schema der Vielheit erzeugt. Es ist an dieser Stelle nun von besonderem Interesse, dass Kant in Bezug auf die dreizehn Taler in Form ebenso vieler Münzen, mithin in Bezug auf das Aggregat von Erscheinungen bemerkt, man benenne „es unschicklich durch ein Quantum von Thalern, sondern muß es ein Aggregat, d. i. eine Zahl Geldstücke nennen“ (ebd.). Diese Äußerung ist in zweierlei Hinsicht interessant. Zum einen wird durch Kants Verwendung des Begriffs der Zahl deutlich, dass Kant das Aggregat der Erscheinung im vorliegenden Fall nicht als eine bloße, d. h. unbestimmte Vielheit, sondern als eine bestimmte Vielheit von Erscheinungen, mithin als Allheit auffasst.49 Zum anderen ist für die vorliegende Frage aber vor allem der Hinweis wichtig, dass man eine solche anschauliche Allheit „unschicklich durch ein Quantum“ benenne.50 Denn dadurch wird deutlich, dass Kant den unqualifizierten Ausdruck „Quantum“ streng genommen lediglich der mithilfe der Kategorie der Einheit erzeugten Anschauung, dem Quantum continuum vorbehält, wie sich im sogleich folgenden Satz noch einmal bestätigt, demgemäß „die Erscheinung als Einheit ein Quantum und als ein solches jederzeit ein Continuum“ ist (ebd.).51 Wenn Kant also in sei_____________ 47 Siehe S. 55 der vorliegenden Arbeit. 48 Vgl. A 170 / B 212 sowie S. 42 ff. dieser Arbeit. 49 Über die Zuordnung der Kategorie der Allheit zum Begriff der Zahl vgl. B 111 sowie S. 54 ff. der vorliegenden Arbeit. 50 Einen Hinweis auf den Grund dieser Behauptung kann man vielleicht der Reflexion 5582 entnehmen: „Es giebt kein qvantum discretum, sondern qvantitatem discretam. Zahl.“ (AA XVIII 239) 51 Den Gegensatz zum quantum continuum bildet für Kant das quantum discretum, welches er mittels des Begriffs der Zahl der Kategorie der Allheit zuordnet. Vgl. Metaphysik Pölitz: „Jedes Quantum ist entweder continuum, oder discretum. Ein Quantum, durch dessen Größe die Menge der Theile indeterminirt ist, heißt: con-

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nem Brief an Schultz den der Kategorie der Einheit zugeordneten Begriff ohne weitere Qualifizierung ein quantum nennt, so hat er dabei offenkundig das quantum continuum vor Augen, welches durch „bloße Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen Art“ (ebd.), mithin durch das in der vorliegenden Arbeit als Schema der Kategorie der Einheit ausgemachte Verfahren erzeugt wird. Damit ist dann aber die Brücke zwischen den in der vorliegenden Arbeit herausgestellten Quantitätsschemata und den von Kant in seinem Brief an Schultz genannten Begriffen geschlagen. Denn zum einen ist die Identität der Ordnung der in der vorliegenden Arbeit als Quantitätsschemata herausgestellten Synthesen einerseits und den von Kant aufgezählten Begriffen eines quantum, compositum und totum andererseits mit dem jeweiligen Bezug dieser beiden Vorstellungsreihen auf die Kategorien gegeben. Zum anderen ist aber auch das Verhältnis zwischen diesen beiden Vorstellungsreihen hinreichend geklärt, nämlich in Bezug auf das Schema der Einheit und den Begriff eines quantum, und zwar so, dass dieser die Bezeichnung von jenem ist. Da aber die einzelnen Glieder beider Vorstellungsreihen einerseits in ihrer Position innerhalb der Reihe bestimmt und andererseits untereinander gleichartig sind, lässt sich das Verhältnis des ersten Reihenpaares per Analogie auf die beiden übrigen übertragen. Demnach lässt sich das Schema der Einheit auch kurz als „Quantum“, das Schema der Vielheit kurz als „Kompositum“ und das Schema der Allheit kurz als „Totum“ bezeichnen. Nachdem nun die Verknüpfung der Quantitätskategorien mit den ihnen korrespondierenden Schemata einsichtig gemacht wurde, lässt sich noch eine Bemerkung zur Unterscheidung des Phaenomenon vom Apparens anschließen. Die klassische Entgegensetzung von Phänomen und Apparens, der gemäß das Phänomen als der durch die Kategorie bestimmte (vgl. A 249 sowie oben, Seite 35), das Apparens hingegen als der unbestimmte Gegenstand einer empirischen Anschauung aufgefasst wird, verleitet womöglich zu dem Schluss, das Apparens sei unbestimmt gerade in dem Sinne, dass es nicht durch Kategorien bestimmt sei. Demgegenüber macht die vorgetragene Untersuchung deutlich, dass Erscheinungen, sofern sie einen bestimmten Raum (oder eine bestimmte Zeit) bzw. eine bestimmte oder unbestimmte Menge bestimmter Räume (oder Zeiten) _____________ tinuum; es besteht aus so vielen Theilen, als ich ihm geben will; es besteht aber nicht aus einzelnen Theilen. Jedes Quantum hingegen, durch dessen Größe ich die Menge seiner Theile vorstellen will, ist discretum. […] Durch die Zahl stellen wir uns jedes quantum als discretum vor. Wenn ich mir einen Begriff vom quanto discreto mache: so denke ich mir eine Zahl.“ (AA XXVII 561) Vgl. ebenfalls A 527 / B 555.

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bilden, mithilfe der Quantitätskategorien und der ihnen korrespondierenden Schemata bestimmt werden. Ob diesen Räumen auch tatsächlich ein vom Vorstellungssubjekt verschiedener, äußerer Gegenstand korrespondiert, ist dadurch allerdings nicht gesagt. In genau diesem Sinne war aber oben die Unbestimmtheit der Erscheinung im Sinne des Apparens erklärt worden (vgl. v.a. S. 34). Erscheinungen, sofern sie mithilfe der Quantitätskategorien als bestimmte Räume in der Anschauung bestimmt werden, sind daher lediglich als Erscheinungen im Sinne des Apparens aufzufassen. Das heißt dann aber, dass der Unterschied zwischen Phänomen und Apparens nicht so gefasst werden darf, dass das Apparens im Gegensatz zum Phänomen nicht durch Kategorien bestimmt sei, denn, wie gezeigt, ist das Apparens sehr wohl wenigstens durch die Kategorien der Quantität bestimmt.52 Die Unbestimmtheit des Apparens hinsichtlich seines Gegen_____________ 52 Man könnte gegen diese Interpretation einwenden, es ließe sich als Gegenmodell ebenfalls denken, dass die Quantitätskategorien nicht die bloße Materie der Erscheinung (Empfindung) zum Apparens, sondern das Apparens zum Phänomen bestimmen. Das Apparens ließe sich dann gewissermaßen weiterhin ganz „traditionell“ als unbestimmter Gegenstand insofern auffassen, als es nicht durch Kategorien bestimmt sei und – im Gegensatz zu der hier vertretenen Lesart – auf diese Weise dem Phänomen weiterhin diametral gegenüber stünde, von welchem man sprechen müsste, sobald man die Erscheinung als durch irgendeine kategoriale Synthesisleistung bestimmt denkt. Gegen dieses Gegenmodell spricht aber der Umstand, dass gemäß den hier angestellten Überlegungen das Apparens als ein bestimmter Raum (bzw. als eine bestimmte Zeit) zu denken ist und dass diese Bestimmung eine Anwendung zumindest der Kategorie der Einheit impliziert. Diese Lesart empfiehlt sich zum einen, weil sie eine Erklärung dafür liefert, inwiefern gemäß Kants Stufenleiter die Empfindung als bloße Materie der Erscheinung eine bloß subjektive, die Erscheinung (Apparens) im Sinne einer aus Form und Materie gebildeten Anschauung hingegen eine objektive Vorstellung ist (s.o., S. 48): Die Empfindung ist eine subjektive Vorstellung des bloßen Affiziertseins des Subjekts, die Anschauung stellt dagegen ein Objekt, nämlich einen bestimmten Raum (vgl. B 137 f.) bzw. eine bestimmte Zeit vor. Zum anderen stimmt diese Lesart mit Kants Erklärung der Form der Anschauung als „Ausdehnung und Gestalt“ (vgl. A 20 f. / B 34 f.) zusammen (s.o., S. 47). Für diese beiden Aspekte bietet das vorgeschlagene Gegenmodell m. E. keine Erklärung. Zwar bietet die hier vorgeschlagene Lesart insofern Anlass zur Irritation, als sie der Sache nach letztlich das Apparens zumindest in einem bestimmten Sinne mit der Anschauung gleichsetzt und somit der Anschauung eine Synthesis des Verstandes, nämlich zumindest die gemäß der Kategorie der Einheit zuschreibt, aber auch in diesem Punkt kann man sich auf den kantischen Text berufen, nämlich auf die bekannte Fußnote zum § 26 der Kritik, in welcher Kant dem Raum und der Zeit als formalen Anschauungen eine Einheit zuschreibt, die „eine Synthesis, die nicht den Sinnen angehört, durch welche aber alle Begriffe von Raum und Zeit zuerst möglich werden, voraussetzt. Denn da durch sie (indem der Verstand die Sinnlichkeit bestimmt) der Raum oder die Zeit als Anschauungen zuerst gegeben

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standsbezugs schließt freilich einen Zusammenhang mit einer fehlenden Bestimmung durch andere Kategorien als denjenigen der Größe keineswegs aus. Dieser Zusammenhang muss aber in der vorliegenden Arbeit, in der es lediglich um die Axiome der Anschauung und insofern ausschließlich um die Kategorien der Größe geht, nicht weiter erörtert werden. Für den vorliegenden Zusammenhang genügt die Einsicht, dass die Quantitätskategorien die Erscheinung als einen Gegenstand der Anschauung bestimmen, d. h. als eine Erscheinung im Sinne des Apparens, der als solcher ein Bezug auf einen äußeren Gegenstand nicht ohne weiteres zukommt.53 Nach der zurückliegenden Erörterung des Schematismus der Quantitätskategorien kann nun auch eine Antwort auf die Ausgangsfrage des vorliegenden Textabschnitts gegeben werden, inwiefern man sich eine Linie nicht anders vorstellen könne, als sie „in Gedanken zu ziehen“ (A 162 f. / B 203). In einer ersten Diskussion dieses Problems (s. o., S. 40 ff.) wurde bereits für eine Lösungsstrategie argumentiert, der gemäß man diese Behauptung Kants nicht als aus Introspektion gewonnen betrachten darf, sondern als auf einer anderen Perspektive beruhend begreifen muss. Diese alternative Perspektive lässt sich nun, nach der zurückliegenden Diskussion des Schematismus der Größenkategorien, klarer ins Auge fassen. Man darf nämlich nicht vergessen, dass Kant an der genannten Stelle das Beispiel der Linie zur Erläuterung dessen heranzieht, was er unter einer extensiven Größe versteht. Der Begriff der Größe bringt es aber mit sich, dass man das in ihm Begriffene als eine Vielheit auffasst: Den Begriff der Größe überhaupt kann niemand erklären, als etwa so: daß sie die Bestimmung eines Dinges sei, dadurch, wie vielmal Eines in ihm gesetzt ist, gedacht werden kann. (A 242 / B 300)

Auch Koriako würde vermutlich nicht bestreiten, dass die Linie, die er sich in der Introspektion augenblicklich und nichtsukzessive vorzustellen _____________ werden, so gehört die Einheit dieser Anschauung a priori zum Raume und der Zeit und nicht zum Begriffe des Verstandes“ (B 160 f.). Ich danke Michael Wolff für den Einwand, der diese hoffentlich klärende Fußnote veranlasst hat. 53 Es dürfte eine nahe liegende Hypothese sein, dass sich die Erscheinungen mithilfe der dynamischen Kategorien als Phänomene bestimmen lassen, da diese gemäß Kants Äußerungen „auf die Existenz dieser Gegenstände (entweder in Bezug auf einander oder in Bezug auf den Verstand) gerichtet sind“ (B 110). Aus den oben genannten Gründen lasse ich diese Hypothese an dieser Stelle aber ungeprüft. Vgl. allerdings Prauss, Erscheinung, S. 308, der die Kategorien der Relation als maßgeblich für den objektiven Charakter der Erscheinungen erklärt. Seiner dort ebenfalls vertretenen Meinung, durch die mathematischen Kategorien komme es „noch überhaupt nicht zu so etwas wie Gegenstandsbewusstsein“, muss vor dem Hintergrund des oben Gesagten freilich widersprochen werden.

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im Stande ist, wenigstens insofern ein Mannigfaltiges oder eine Vielheit enthält, als sie jederzeit teilbar ist, so klein sie auch sei. Diese Vielheit kann aber nach Kant in einer bloß augenblicklichen Vorstellung nicht als eine solche enthalten sein: „denn a l s i n e i n e m A u g e n b l i c k e n t h a l t e n kann jede Vorstellung niemals etwas anderes als absolute Einheit sein“ (A 99).54 Um sich also einen Gegenstand als eine Größe vorzustellen bzw. ihn als eine Größe zu erkennen (vgl. B 137 f.), d. h. als die Einheit einer Vielheit, bedarf es daher einer nichtaugenblicklichen, mithin sukzessiven Vorstellung, weil sich sonst nicht das Bewusstsein einer Vielheit einstellen würde. Entsprechend schreibt Kant in wünschenswerter Deutlichkeit: Jede Anschauung enthält ein Mannigfaltiges in sich, welches doch nicht als ein solches [d. h. als eine Vielheit; O.S.] vorgestellt werden würde, wenn das Gemüth nicht die Zeit in der Folge [d. h. Sukzession; O.S.] der Eindrücke auf einander unterschiede […].55

Man könnte an dieser Stelle vielleicht das Enthaltensein einer Vielheit in der Vorstellung einer Linie durchaus zugeben und dennoch bezweifeln wollen, dass das Bewusstsein dieser Vielheit vor der Vorstellung des Ganzen vorhergehen und sukzessive vonstatten gehen müsse (vgl. A 62 f. / B 203). Warum sollte nicht die ganze Linie augenblicklich aufgefasst und die in ihr enthaltene Vielheit erst nachträglich, wie oben angedeutet, durch fortschreitende Teilung der Linie bewusst gemacht werden können? Diesem Einwand ist entgegenzuhalten, dass es Kant nicht um ein besonderes empirisches Bewusstsein davon geht, dass in einer Linie eine Vielheit enthalten ist, und entsprechend auch nicht um das Zustandekommen eines solchen empirischen Bewusstseins, wie es z. B. durch Introspektion gegeben sein mag. Dieses empirische Bewusstsein der in einer _____________ 54 Man könnt meinen, dass die augenblicklich vorgestellte Linie gerade ein Gegenbeispiel gegen diese These Kants sei, da die vorgestellte Linie doch wie gerade zugestanden Teile habe (sogar unendlich viele) und diese Vorstellung in diesem Sinne darum eben gerade keine absolute Einheit sei. Dieser Einwand übersieht aber den entscheidenden Punkt, dass in diesem Falle die Linie gerade nicht als Teile enthaltend vorgestellt wird, sondern, wie Kant sagt, als absolute Einheit. Um sich die Linie dagegen als Teile enthaltend vorzustellen, bedarf es einer Sukzession von Vorstellungen, nämlich der Vorstellung des einen und des anderen Teils, sowie der (vielleicht begleitenden) Vorstellung, dass beide zusammengehören. Diesen Gedanken scheint auch schon Aristoteles in De anima, Γ 6, 430b 6-15 zum Ausdruck zu bringen, wenn er darauf verweist, dass man die Zeit teilen muss, um sich zwei Hälften einer in Wirklichkeit ungeteilten Linie vorzustellen. 55 A 99. Dass hier nur von einer Sukzession der Eindrücke, mithin von einer empirischen Synthesis die Rede ist, während es sich bei der Linie als solcher um einen apriorischen Gegenstand handelt, ist eine Schwierigkeit, die sich leicht beheben lässt, da Kant im sogleich folgenden Absatz auch die Notwendigkeit einer entsprechenden „reine[n] Synthesis der Apprehension“ behauptet (A 99 f.).

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Linie enthaltenen Vielheit kann vielmehr durchaus in der beschriebenen Art und Weise zustande kommen; dagegen hätte Kant vermutlich gar nichts einzuwenden.56 Die Prozedur der Teilung der Linie, wodurch sich das empirische Bewusstsein der in dieser Linie enthaltenen Vielheit gegebenenfalls erzeugen lässt, bedarf aber zu ihrer Möglichkeit einer wesentlichen Voraussetzung, nämlich der, dass der gegebene Gegenstand, die Linie, auch wirklich teilbar ist. Man darf nicht vergessen, dass die Kritik der reinen Vernunft nicht nur einen epistemischen, sondern ebenso wohl einen ontologischen Anspruch hat. Es geht nicht zuletzt darum, formale und insofern allgemeine Bedingungen auszumachen, denen die Gegenstände unserer Sinne notwendigerweise gemäß sein müssen (vgl. A90 / B 123). Der Nachweis dieser notwendigen Bedingungen erklärt die objektive Gültigkeit bestimmter allgemeiner Aussagen über gewisse Eigenschaften dieser Gegenstände, wie z. B., dass alle Körper teilbar sind.57 Kants Problem ist nicht, wie ein empirisches Bewusstsein der in einer Linie enthaltenen Vielheit zustande kommt, sondern wie man erklären kann, dass Gegenstände der Sinne, wie z. B. die gedachte Linie, notwendigerweise teilbar sind, d. h. offenbar unabhängig von dem empirischen Bewusstsein ihrer Teile eine Verbindung von Teilen enthalten. Diese Verbindung können die Teile nach Kants Meinung nun offenbar nicht von sich aus mitbringen, wie er z. B. durch die Bemerkung zu erkennen gibt, daß wir uns nichts als im Object verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben, und unter allen Vorstellungen die V e r b i n d u n g die einzige ist, die nicht durch Objecte gegeben, sondern nur vom Subjecte selbst verrichtet werden kann, weil sie ein Actus seiner Selbstthätigkeit ist. (B 130)

_____________ 56 Nähere Ausführungen zu Kants diesbezüglicher Meinung finden sich unten, auf Seite 64 der vorliegenden Arbeit. 57 Kant selbst verwendet diesen Satz gelegentlich als Beispiel, so in A 68 / B 93 (man beachte die entsprechende Anmerkung in Kants Handexemplar) und B 128. Zwar betrachtet Kant diesen Satz als einen analytischen Satz (vgl. Über die Deutlichkeit der Grundsätze, AA II 294 f., sowie Über eine Entdeckung, AA, VIII 229); insbesondere in Über eine Entdeckung erklärt sich für Kant diese Analytizität aber ausdrücklich aus dem einem Körper wesentlich anhängenden Prädikat der Ausdehnung. Dass dieses Prädikat dem Begriff des Körpers auch objektiv notwendigerweise anhängt, dürfte seinerseits nicht wiederum bloß auf dem Satze des Widerspruchs beruhen, sondern vielmehr auf dem Prinzip der Axiome der Anschauung, dass alle Erscheinungen extensive Größen sind (vgl. A 162 / B 202), mithin auf einem synthetischen Urteil a priori (vgl. A 136 / B 175). In diesem Sinne ist daher die objektive Gültigkeit auch eines analytischen Satzes wie „Alle Körper sind teilbar“ erklärungsbedürftig. – Vgl. auch Wolff, Abhandlung, S. 55, der darauf hinweist, dass es auch falsche analytische Urteile geben kann.

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Durch das Objekt kann gemäß der Affektionslehre Kants nichts gegeben werden als Empfindung; sie definiert er als „[d]ie Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden“ (A 19 f. / B 34). Die Empfindung war aber oben (vgl. S. 48) als eine bloße Bestimmung des Zustands des Subjekts unterschieden worden vom Objekt im Sinne des Apparens, wobei letzterem bereits eine Zusammenfassung des Mannigfaltigen der Empfindung in eine bestimmte räumliche Gestalt zukommt. Diese Zusammenfassung ist oben auf die sukzessive Synthesis als das Schema der Kategorie der Einheit zurückgeführt worden und wird hier, in B 130, von Kant als ein „Actus [der] Selbstthätigkeit“ des Subjekts bezeichnet. Ganz analog schreibt Kant auch in der A-Auflage: Weil aber jede Erscheinung ein Mannigfaltiges enthält, mithin verschiedene Wahrnehmungen im Gemüthe an sich zerstreuet und einzeln angetroffen werden, so ist eine Verbindung derselben nöthig, welche sie in dem Sinne selbst nicht haben können. (A 120)

Der Grund für die Unmöglichkeit, sich eine Linie vorzustellen, ohne sie in Gedanken zu ziehen, liegt also nicht in den Bedingungen des empirischen Bewusstseins einer solchen Linie. Entsprechend ist diese Behauptung Kants auch nicht als ein Appell an die Introspektion des Lesers zu verstehen oder gar als ein Argument für die sukzessive Synthesis der Apprehension. Diese Behauptung Kants dient der sukzessiven Synthesis der Apprehension lediglich als Illustration und trägt keinerlei argumentatives Gewicht. Die Gründe für die Notwendigkeit der sukzessiven Synthesis liegen vielmehr in Kants Unterscheidung zwischen einem rezeptiven und einem spontanen Vermögen menschlicher Erkenntnis, Sinnlichkeit und Verstand, wobei er die Möglichkeit einer Verbindung auf Seiten des spontanen Vermögens verortet (s. o.) und die Verbindung entsprechend als dynamisch, nämlich als eine „Verstandeshandlung“ versteht (B 129 f.). Zwischen der Verbindung, wie sie im Objekt vorliegt, und der Verbindung, wie sie durch den Verstand vollzogen wird, muss aber eine Korrespondenz bestehen, weil die Art der Verbindung des Mannigfaltigen im Objekt durch die Art der Synthesis des Verstandes überhaupt erst zustande kommt. Hierin liegt der von Kant intendierte Grund, weshalb man sich eine Linie nicht anders vorstellen kann, als sie in Gedanken zu ziehen. Um aber irgend etwas im Raume zu erkennen, z. B. eine Linie, muß ich sie ziehen und also eine bestimmte Verbindung des gegebenen Mannigfaltigen synthetisch zu Stande bringen, so daß die Einheit dieser Handlung zugleich die Einheit des Bewußtseins (im Begriffe einer Linie) ist, und dadurch allererst ein Object (ein bestimmter Raum) erkannt wird. (B 137 f.)

Wir können uns den Umstand, dass Gegenstände des äußeren Sinnes von uns als Aggregate vorgestellt werden – wie vermutlich auch Koriako

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zugeben wird –, nach Kant nicht anders erklären als durch eine korrespondierende Struktur der Handlung ihrer Erzeugung in der Anschauung. Wir stellen uns demnach Gegenstände der Sinne deshalb als Aggregate, d. h. als aus ihren Teilen zusammengesetzte Objekte vor, weil auch in der Handlung ihrer Erzeugung die Erzeugung der Teile der Erzeugung des Ganzen vorangeht. Die sukzessive Synthesis in der Erzeugung der Erscheinungen erklärt so die allgemeine Eigenschaft der Körper, zusammengesetzt und entsprechend auch teilbar zu sein.58 Es ist oben (Seite 53) die sukzessive Synthesis als das transzendentale Schema der Kategorie der Einheit herausgestellt worden. Da das Beispiel der Linie der Erläuterung dieser transzendentalen Synthesis dient, lässt sich nun auch die gesuchte nichtintrospektive Perspektive, in welcher dieses Beispiel zu lesen ist, näher bezeichnen, nämlich als eine transzendentale Perspektive. Aus den zurückliegenden Absätzen lässt sich darüber hinaus auch entnehmen, dass der Introspektion, als einem bloß empirischen Bewusstsein, die transzendentale Synthesis jederzeit vorausgeht, da die Möglichkeit des introspektiven Bewusstsein der in einer Linie enthaltenen Vielheit diese Vielheit als objektiv in der Linie enthalten voraussetzt, wozu gemäß den gegebenen Erläuterungen die transzendentale Synthesis erforderlich ist. Es lässt sich daher vom Standpunkt der Introspektion die transzendentale Perspektive Kants gar nicht sinnvoll kritisieren, da dieser Standpunkt selbst nur unter Voraussetzung dieser Perspektive möglich ist.59 Es besteht aber darüber hinaus gerade aufgrund der Möglichkeit, die Aufgabe, sich eine Linie vorzustellen, von verschiedenen Blickwinkeln aus zu betrachten, überhaupt kein zwingender Widerspruch zwischen den Perspektiven. Dass in transzendentaler Hinsicht die Vorstellung einer Linie nicht anders als sukzessive vonstatten gehen kann, ist vielmehr, wie bereits oben (Seite 61) angedeutet, durchaus vereinbar mit einer introspektiven Perspektive, der gemäß man sich eine Linie auch nichtsukzessive, oder augenblicklich, vorstellen kann. Denn Kant betont ausdrücklich, dass die Verbindung, „wir mögen uns ihrer bewußt werden oder nicht“ (B 129 f.), nicht zwangsläufig auch als eine „Verstandeshandlung“ (ebd.; meine

_____________ 58 Vgl. erneut Über die Deutlichkeit der Grundsätze, AA II 294 f.: „[D]er Körper ist zusammengesetzt, was aber zusammengesetzt ist, ist theilbar, folglich ist ein Körper theilbar“. 59 Dasselbe gilt für den auf die Wahrnehmungspsychologie gestützten Einwand Smiths (vgl. Fußnote 31 dieses Kapitels). Auch die Wahrnehmungspsychologie setzt als empirische Wissenschaft die transzendentale Perspektive voraus und kann daher ebenfalls nicht als eine berufene Prüferin dieser Perspektive gelten.

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Hervorhebung) zu Bewusstsein, und das heißt offensichtlich, zu empirischem Bewusstsein kommen muss. Es sei nämlich der Begriff dieses e i n e Bewusstsein […], was das Mannigfaltige, nach und nach Angeschaute und dann auch Reproducirte in eine Vorstellung vereinigt. Dieses Bewußtsein kann oft nur schwach sein, so daß wir es nur in der Wirkung, nicht aber in dem Actus selbst, d. i. unmittelbar, mit der Erzeugung der Vorstellung verknüpfen: aber unerachtet dieser Unterschiede muß doch immer ein Bewußtsein angetroffen werden, wenn ihm gleich die hervorstechende Klarheit mangelt, und ohne dasselbe sind Begriffe und mit ihnen Erkenntniß von Gegenständen ganz unmöglich. (A 103 f.)

Das Beispiel der Introspektion, der gemäß man sich eine Linie auch augenblicklich vorzustellen im Stande sieht, kann vorzüglich der Erläuterung dieser Passage dienen. Denn dem Begriff der Linie, der sich per Introspektion auf seinen Gegenstand in einer scheinbar augenblicklichen Apprehension bezieht, fehlt, wie oben (Seite 61 f.) herausgestellt, ein klares Bewusstsein von der Vielheit der diese Linie konstituierenden Teile. Dieses Bewusstsein muss vielmehr erst durch eine gesonderte Operation, nämlich die Teilung der Linie, hergestellt werden. Die Möglichkeit der diese Vielheit zu Bewusstsein bringenden Analysis ist aber in einer vorausgehenden Synthesis gegründet, da „wir uns nichts als im Object verbunden vorstellen können, ohne es vorher selbst verbunden zu haben“ (B 130). Dass in der Introspektion die Sukzession in der Erzeugung einer Linie keineswegs bewusst werden muss, wird sogar noch etwas deutlicher in einer Passage der Kritik der Urteilskraft, der gemäß es gewissermaßen sogar in der Natur der Sache liegt, dass sich bestimmte Anschauungen ohne den Eindruck einer vorhergehenden Sukzession darstellen. Messung eines Raums (als Auffassung) ist zugleich Beschreibung desselben, mithin objective Bewegung in der Einbildung und ein Progressus; die Zusammenfassung der Vielheit in die Einheit, nicht des Gedankens, sondern der Anschauung, mithin des Successiv-Aufgefaßten in einen Augenblick, ist dagegen ein Regressus, der die Zeitbedingung im Progressus der Einbildungskraft wieder aufhebt und das Zugleichsein anschaulich macht. (AA V 258 f.)

Die dem räumlich Vorgestellten traditionellerweise zugeschriebene Eigenschaft des Zugleichseins wird in dieser Passage gerade dadurch erklärt, dass der Progressus in der sukzessiven Apprehension des Mannigfaltigen der Anschauung aufgehoben und somit das Sukzessiv-Aufgefasste in einen einzigen Augenblick zusammengefasst wird. Gemäß dieser Darstellung ist also zwar die Auffassung einer Linie als ganzer in einem einzigen Augenblick durchaus möglich, ihr geht aber ein komplexer Apprehensions- und Regressionsprozess voraus, der nicht unbedingt bewusst werden muss. Interessanterweise bringt gerade das Bewusstwerden der dem Bewusstsein eigentlich verborgenen Sukzession in der ästhetischen Größen-

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schätzung den besonderen „Widerstreit“ von Einbildungskraft und Vernunft (AA V 258) hervor, der für das Gefühl des Erhabenen charakteristisch ist: Die Bestrebung also, ein Maß für Größen in eine einzelne Anschauung aufzunehmen, welches aufzufassen merkliche Zeit erfordert, ist eine Vorstellungsart, welche, subjectiv betrachtet, zweckwidrig, objectiv aber zur Größenschätzung erforderlich, mithin zweckmäßig ist […]. (AA V 259; meine Hervorhebung)

Erst die Anomalie der ästhetischen Schätzung solcher Größen, die das Fassungsvermögen der Einbildungskraft übersteigen, vermag es, die Sukzessivität der transzendentalen Synthesis der Apprehension ins empirische Bewusstsein zu heben. In der alltäglichen Erfahrung, und entsprechend in den gewöhnlichen Fällen der Introspektion, kommt diese Sukzession nach Kants offensichtlicher Meinung jedoch nicht zu Bewusstsein, und so erklärt sich der Widerspruch, den man aus der Perspektive der Introspektion geneigt ist gegen Kants Behauptung von der sukzessiven Erzeugung einer Linie zu erheben: Der Einwand aus der Perspektive der Introspektion beruht auf einem komplexen Progressions- und Regressionsmechanismus der Einbildungskraft, welcher das Bewusstsein der Sukzessivität in der Erzeugung einer Linie aufhebt. Er widerspricht somit der kantischen Behauptung nur oberflächlich. In seinen Grundlagen setzt er sie vielmehr voraus. Die zurückliegenden Untersuchungen haben gezeigt, dass man Kants Behauptung, man könne sich eine Linie nicht anders vorstellen, als sie in Gedanken zu ziehen, sinnvollerweise möglichst so versteht, dass sie besagt, man könne sich eine Linie nicht als extensive Größe, d. h. als einen aus Teilen bestehenden Gegenstand vorstellen, ohne dass die ursprüngliche Erzeugung der diese Linie konstituierenden Vielheit sukzessive vonstatten geht. In dieser Lesart ist Kants Behauptung durchaus mit dem naheliegenden Einwand der Alltagserfahrung vereinbar, nach der Kants These – verstanden als ein psychologisches Faktum – zweifelhaft ist. Was Kant beschreibt, ist keineswegs ein empirischer Wahrnehmungsprozess, der in das Gebiet der empirischen Psychologie fiele. Insofern lässt sich seine Behauptung sinnvollerweise weder mit Ergebnissen der empirischen Wahrnehmungspsychologie konfrontieren – wie es Kemp Smith an der eingangs zitierten Textstelle versucht – noch auch mit dem hier stellvertretend für die Intuition der Alltagserfahrung genommenen introspektiven Einwand Koriakos. Kants Ansatz ist vielmehr transzendentalphilosophischer Natur.60 Er versucht a priori zu zeigen, welche Eigenschaften Gegen_____________ 60 Vgl. Kants in den Prolegomena unmittelbar an die Tafel der Grundsätze (dort „Reine physiologische Tafel“ genannt) anschließende Bemerkung: „Um alles Bisherige in einen Begriff zusammenzufassen, ist zuvörderst nöthig, die Leser zu erin-

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stände notwendigerweise haben müssen, wenn sie Gegenstände einer uns möglichen Erfahrung sein sollen. Die Behauptung, welche Kants Linienbeispiel letztlich illustrieren soll, ist die, dass nur das als ein solcher Gegenstand gelten kann, was durch die Fortsetzung der Synthesis einer gewissen Art als eine kontinuierliche Einheit der Anschauung erzeugt wird. Möglicherweise ist auch diese Behauptung Kants diskussionswürdig. Auf das Argument der Alltagserfahrung, dass man sich sehr wohl eine Linie vorstellen könne, ohne sie in Gedanken zu ziehen, wird man bei dieser Diskussion allerdings getrost verzichten können. Denn auch Kant verfügt offensichtlich über soviel Alltagserfahrung, dass er uns dieses Argument in der Kritik der Urteilskraft schenkt.

_____________ nern, daß hier nicht von dem Entstehen der Erfahrung die Rede sei, sondern von dem, was in ihr liegt. Das erstere gehört zur empirischen Psychologie und würde selbst auch da ohne das zweite, welches zur Kritik der Erkenntniß und besonders des Verstandes gehört, niemals gehörig entwickelt werden können.“ (AA IV 304) – Gegen die Auffassung der von Kant thematisierten Verstandeshandlungen als psychologischer Akte „in einem pejorativen Sinne“ wendet sich auch Allison, Idealism, S. 147. Gegen ein introspektives Verständnis der kantischen Verstandeshandlungen vgl. ebenfalls Longuenesse, Capacity, S. 6.

2. Grundsätze des reinen Verstandes und Subsumtion Als wichtiges Ergebnis der bisherigen Ausführungen des ersten Kapitels ist festzuhalten, welche Quantitätskategorien sich welchen spezifischen Schemata zuordnen lassen. Demnach ergibt sich die folgende Aufstellung: Das Schema der Kategorie der Einheit ist die „Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen Art“ (A 170 / B 212) bzw. das Quantum (continuum). (Vgl. S. 53 und 58) Das Schema der Kategorie der Vielheit ist die „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212) bzw. das Kompositum. (Vgl. S. 55 und 58) Das Schema der Kategorie der Allheit ist die vollendete „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212) bzw. das Totum. (Vgl. S. 55 und 58) Mit dieser Aufstellung sind einige wesentliche Elemente der Axiome der Anschauung aufgezeigt. Denn als Grundsätze des reinen Verstandes gilt auch für sie, dass sie synthetische Grundsätze sind, „welche aus reinen Verstandesbegriffen unter diesen Bedingungen [d. h. den korrespondierenden Schemata] a priori herfließen“ (A 136 / B 175).1 Mit der Aufstellung dieser Elemente sind aber leider noch nicht zugleich auch die Grundsätze selbst gefunden, die diese Elemente beinhalten. Denn was genau soll es heißen, dass die Axiome der Anschauung aus den Quantitätskategorien unter den diesen korrespondierenden Schemata a priori „herfließen“? Um sich die Axiome der Anschauung als Sätze zu erschließen, muss zunächst noch die Form herausgearbeitet werden, der gemäß ihre Elemente miteinander verknüpft werden sollen. Diese Form ist bereits in Kapitel 1 (S. 17 f.) etwas näher bestimmt worden, und zwar dadurch, dass im Falle der Grundsätze des reinen Verstandes mithilfe der Schemata erklärt werden soll, wie sich Erscheinungen unter Kategorien subsumieren lassen. Was mit dieser etwas vagen Bestimmung genau gemeint ist, lässt sich nun ausdrücklich sagen: Die Grundsätze des reinen Verstandes subsumieren Erscheinungen unter Kategorien, wie sich an einer Passage der Prolegomena belegen lässt. Demnach sind „die Grundsätze a priori der Möglichkeit aller Erfahrung […] nichts _____________ 1 Vgl. S. 13.

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anders als Sätze, welche alle Wahrnehmung (gemäß gewissen allgemeinen Bedingungen der Anschauung) unter jene reine Verstandesbegriffe subsumiren“ (AA IV 302). Eine gewisse Schwierigkeit, diese Passage als Beleg für die Behauptung zu verstehen, dass die Grundsätze des reinen Verstandes Erscheinungen unter Verstandesbegriffe subsumieren, besteht offensichtlich darin, dass gemäß diesem Zitat die Grundsätze ausdrücklich nicht Erscheinungen, sondern Wahrnehmungen unter Verstandesbegriffe subsumieren. Jedoch beachte man, dass nach Kant die Erscheinung, „wenn sie mit Bewußtsein verbunden ist, Wahrnehmung heißt“ (A 120), mithin die Wahrnehmung für ihn nichts anderes als eine mit Bewusstsein verbundene Erscheinung ist. Von daher lässt sich die in Rede stehende Behauptung mithilfe des in Frage stehenden Zitats sogar nicht nur belegen, sondern auch noch dahingehend präzisieren, dass die Grundsätze des reinen Verstandes Erscheinungen, sofern sie mit Bewusstsein verbunden sind, unter die Kategorien subsumieren.

2.1. Der Begriff der Subsumtion Wie genau aber hat man sich nun die in den Grundsätzen stattfindende Subsumtion der Erscheinungen unter Kategorien vorzustellen? In seinem Aufsatz zum Schematismuskapitel wirft Ernst Robert Curtius Kant vor, er mache im Zusammenhang mit dem Schematismus stillschweigend von zwei verschiedenen Subsumtionsbegriffen Gebrauch.2 Dieser Vorwurf kann gut als Ausgangspunkt zu einer Untersuchung dienen, welche die Besonderheit des kantischen Subsumtionsbegriffs herausstellen soll. Curtius unterscheidet die zwei von ihm ausgemachten Subsumtionsbegriffe folgendermaßen: Die Verschiedenheit der beiden Subsumtionsbegriffe bedarf keines Beweises. Dieser bezog sich auf die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff, jener bezieht sich auf die Unterordnung eines Falles unter eine Regel.3

Den ersten Subsumtionsbegriff ordnet er der Urteils-, den zweiten der Schlusslehre der traditionellen Logik zu (vgl. ebd.). Die Einteilung der traditionellen Logik in eine Begriffs-, eine Urteils- und eine Schlusslehre verdankt sich der Einteilung des Denkens in drei entsprechende Verstan_____________ 2 Vgl. Curtius 1914, S. 344-350, insbesondere S. 348: „Stillschweigend und unbemerkt hat Kant einen anderen Subsumtionsbegriff eingeschmuggelt“, sowie S. 350: „Das Wort Subsumtion hat im Schematismuskapitel zwei verschiedene Bedeutungen, worüber Kant den Leser im Unklaren lässt.“ 3 Curtius 1914, S. 349.

Der Begriff der Subsumtion

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deshandlungen unter dem Namen der tres operationes mentis, nämlich im Einzelnen die simplex terminorum adprehensio, das judicium und die ratiocinatio.4 Insbesondere der Logik von Reimarus lässt sich entnehmen, dass der Zusammenhang dieser Operationen als aufeinander aufbauend oder einander voraussetzend gedacht werden muss: Alle Handlung des menschlichen Verstandes, oder alles Denken, bestehet 1) in Begriffen, oder Vorstellungen der Dinge, mit einem Bewußtsein; 2) in Urtheilen, oder einer Einsicht in das Verhältniß zweyer Begriffe; 3) in Schlüssen, oder einer Einsicht in den Zusammenhang zweyer Urtheile mit einem dritten.5

Während Reimarus einen Begriff als die bewusste Vorstellung eines Dinges versteht, gilt ihm das Urteil offenkundig als eine Verknüpfung von Begriffen, der Schluss wiederum als eine bestimmte Verknüpfung von Urteilen.6 Indem Curtius die Subsumtion in der einen Bedeutung der Urteilslehre, in der anderen der Schlusslehre zuordnet, stellt er die erste in den Zusammenhang von Begriffen in einem Urteil, die zweite in den Zusammenhang verschiedener Urteile in einem Schluss. In Bezug auf die erste Bedeutung, die Curtius dem Begriff der Subsumtion zuweist, zeigt sich somit schnell, dass sie sich keineswegs nahtlos in die beschriebene traditionelle Auffassung der Urteilslehre einfügen lässt. Denn dieser gemäß handelt es sich im Urteil um die Verknüpfung zweier Begriffe und nicht, wie Curtius behauptet, um die Verknüpfung eines Gegenstandes mit einem Begriff. Von dieser Verknüpfung redet Curtius freilich aufgrund von Kants Bemerkung zu Beginn des Schematismuskapitels: „In allen Subsumtionen eines Gegenstandes unter einen Begriff muß die Vorstellung des ersteren mit der letztern gleichartig sein“ (A 137/ B 176). Offenkundig geht es Kant hier demnach durchaus um die Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff; dass er sich mit die_____________ 4 Diese Begriffe entstammen der Logik von Johann Peter Reusch, zitiert nach Brandt, Urteilstafel, S. 53 f., der an dieser Stelle mit vielen Beispielen die Lehre von den drei Verstandeshandlungen als eine allgemein vertretene Auffassung der Logiken des 17. und 18. Jahrhunderts ausweist. 5 Reimarus, Vernunftlehre, S. 54. Dass Kant mit diesen Erklärungen nicht durchweg einverstanden war, lässt sich leicht seiner Bemerkung zu Beginn des § 19 der KrV entnehmen: „Ich habe mich niemals durch die Erklärung, welche die Logiker von einem Urtheile überhaupt geben, befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen.“ (B 140) Aufgrund der Ähnlichkeit der Formulierung liegt die Vermutung nahe, dass Kant bei dieser Bemerkung v.a. Reimarus vor Augen hatte. 6 Daher betont auch Reimarus unmittelbar im Anschluss: „Unter diesen Handlungen sind folglich die Begriffe der Grund aller übrigen; und daher kommt auf ihre Richtigkeit und Vollkommenheit das meiste an, wenn man hernach von den Dingen wahr urtheilen und schliessen will.“ (Reimarus, Vernunftlehre, S. 54)

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Grundsätze des reinen Verstandes und Subsumtion

ser Auffassung in die Linie der traditionellen Urteilslehre stellt, darf jedoch bezweifelt werden. Überhaupt stützt sich Curtius bei seiner Behauptung, „In der traditionellen Logik tritt der Begriff der Subsumtion in der Lehre vom Urteil auf“ (Curtius 1914, S. 345), auf Ausführungen Erdmanns, die diese These von Curtius allerdings keineswegs stützen. Auch die von ihm selbst angeführte Logik Wolffs handelt den Begriff der Subsumtion keineswegs in der Urteils-, sondern in der Schlusslehre ab.7 In welchem Gebiet der traditionellen Logik Kants Subsumtionsbegriff nun seinen Ursprung findet, ist allerdings für die Argumentation von Curtius nicht wirklich entscheidend. Sein Vorwurf gegenüber Kant geht ja lediglich dahin, dass er unter der Hand mit zwei Bedeutungen dieses Begriffs operiere. Dass Kant aber, wie Curtius (1914) auf Seite 349 behauptet, „die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff“ als eine Subsumtion versteht, wird man angesichts des oben zitierten Anfangs des Schematismuskapitels durchaus gelten lassen. Es fragt sich daher in exegetischer Hinsicht vielmehr, inwiefern man Kant die von Curtius herausgestellte zweite Bedeutung des Subsumtionsbegriffs zuschreiben darf und wie sie sich gegebenenfalls zu der ersten verhält. Curtius grenzt den Subsumtionsbegriff in dieser zweiten Bedeutung von dem der ersten dadurch ab, dass er sagt, er beziehe sich „auf die Unterordnung eines Falles unter eine Regel“ anstatt „auf die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff“.8 Ich verstehe diese Äußerung von Curtius so, dass die Subsumtion in dieser zweiten Bedeutung die Unterordnung eines Falles unter eine Regel sei. Sie unterscheide sich von der anderen Art der Subsumtion durch die Art dessen, was bzw. dem etwas untergeordnet wird. Während auf der einen Seite ein Gegenstand einem Begriff untergeordnet wird, wird auf der anderen ein Fall einer Regel untergeordnet. Unter dieser Regel versteht Curtius vermutlich den Obersatz eines Syllogismus. Jedenfalls führt er in diesem Zusammenhang eine Textpassage aus § 58 der Logik und eine weitere aus A 330 / B 386 an, in denen Kant den Obersatz eines Syllogismus als eine allgemeine Regel bezeichnet.9 Demnach wäre also die Subsumtion im zweiten Sinne die Unterordnung eines Falls unter den (allgemeinen) Obersatz eines Syllogismus. Diese Unterordnung findet nun laut Curtius im Untersatz statt, denn dieser heiße „nach Wolfisch-Kantischer [sic!] Terminologie […] ‚Subsumtion’“.10 _____________ 7 Vgl. Wolff, Philosophia rationalis, § 362. Curtius (1914) zitiert diesen Paragraphen, der wie gesagt zu Wolffs Schlusslehre gehört, auf Seite 349. 8 Curtius 1914, S. 349. 9 Curtius 1914, S. 348 f. 10 Curtius 1914, S. 350.

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Auch in dieser Zuordnung kann sich Curtius auf die von ihm zitierten Stellen der Logik und der Kritik berufen. Der Untersatz eines Syllogismus ordnet also demnach seinem Obersatz einen Fall unter, und diese Unterordnung heißt „Subsumtion“. Allein, was heißt hier „Fall“, oder anders gesagt, was genau wird hier eigentlich untergeordnet? Ein naheliegender Kandidat für diese Subsumtion im Sinne eines „subsumptum“ ist zunächst der Untersatz selbst.11 Das ergibt sich aus der von Curtius selbst vorgenommenen Zuordnung der in Rede stehenden Art der Subsumtion zur Schlusslehre der traditionellen Logik. Denn in der traditionellen Logik gilt der Schluss als eine Einsicht in den Zusammenhang von Urteilen (vgl. z. B. die oben zitierte Auffassung von Reimarus) und dieser Zusammenhang ließe sich unter dem Namen der Subsumtion gut als die Unterordnung des den Untersatz vorstellenden Urteils unter das den Obersatz vorstellende Urteil denken.12 Der Untersatz wäre in dieser Lesart dann das gesuchte „subsumptum“. Mit Kants Beschreibungen der Subsumtion lässt sich diese Lesart allerdings nicht ohne weiteres zur Deckung bringen. Zwar sagt Kant in einer von Curtius zitierten Passage der Logik: „Der Vernunftschluß prämittirt eine allgemeine Regel und eine Subsumtion unter die Bedingung _____________ 11 Ich unterstelle an dieser Stelle, dass Fremdwörter auf „-tion“ im Deutschen nicht zwangsläufig die aktive Bedeutung ihres lateinischen Ursprungs bewahren, sondern neben dieser aktiven Bedeutung auch passiv konnotiert sein können. So kann beispielsweise das Wort „Komposition“ sowohl das Zusammensetzen von etwas bedeuten als auch das durch diese Zusammensetzung Erzeugte, wie z. B. ein bestimmtes Musikstück. Curtius scheint den Untersatz als eine Subsumtion in diesem zweiten Sinne eines subsumptum aufzufassen, wie die obigen Ausführungen näher erläutern. 12 Da der von Reimarus bezeichnete, in einem Schluss sich findende Zusammenhang allerdings zwischen zwei Urteilen mit einem dritten besteht, darf die Subsumtion freilich lediglich als ein Teil dieses Zusammenhangs verstanden werden. – Die oben dargelegte Auffassung von Subsumtion scheint übrigens auch Christian Wolff gemäß der von Curtius zitierten Stelle zu vertreten: „Propositio minor sub maiore dicitur subsumi, si haec primo ponitur loco.“ (Wolff, Philosophia rationalis, § 362; Curtius (1914) zitiert diese Passage auf S. 349) Interessant und eine weitere Bestätigung für die Lesart, dass Wolff die Subsumtion als ein Urteilsverhältnis auffasst, ist der Umstand, dass Wolff auch dem umgekehrten Urteilsverhältnis einen Namen gibt – die Adsumtion: „Adsumi propositio maior dicitur, si minor primo loco ponitur.“ (A.a.O., § 363) Dass Wolff diese Bestimmungen der Urteilsverhältnisse unter Rückgriff auf den Terminus der propositio durchführt, gibt zu erkennen, dass er dieses Verhältnis als eines zwischen Urteilsausdrücken versteht. Zum Unterschied des Urteils als einer Verstandeshandlung und seinem sprachlichen Ausdruck, der propositio, und dem diesbezüglichen Gegensatz zwischen Wolff und Kant vgl. Longuenesse, Capacity, S. 100; sowie Wolff, Urteilstafel, S. 23 f.

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Grundsätze des reinen Verstandes und Subsumtion

derselben“ (§ 57, AA IX 120), und setzt damit die Subsumtion an die Stelle des Untersatzes, so dass man diesen in gewissem Sinne die Subsumtion nennen kann. Die andere von Curtius zitierte Passage aber, nämlich A 330 / B 386, macht dagegen deutlich, dass der Untersatz eines Syllogismus nicht die Subsumtion in dem gesuchten Sinne eines „subsumptum“, sondern in ihrer „aktiven“ Bedeutung einer „subsumptio“ ist: Die Subsumtion der Bedingung eines andern möglichen Urtheils unter die Bedingung der Regel ist der Untersatz (Minor).

Zwar zeichnet auch diese Passage den Untersatz als Subsumtion aus. Jedoch ist das „subsumptum“ keineswegs dieser Untersatz selbst, sondern vielmehr die „Bedingung eines andern möglichen Urtheils“. Da der Untersatz diese Bedingung subsumiert, ist er eine Subsumtion in dem aktiven Sinne einer „subsumptio“. Auf der Suche nach dem „subsumptum“ dieser Subsumtion muss man sich daher ein klareres Bild von der „Bedingung“ verschaffen, von welcher Kant hier redet. Dazu ist zunächst zu bemerken, dass in obigem Zitat zweimal von einer Bedingung die Rede ist. Nicht nur wird eine Bedingung subsumiert, sondern es wird außerdem auch unter eine Bedingung subsumiert, nämlich unter „die Bedingung der Regel“. Mit dem Wort „Regel“ bezieht sich Kant auf den Obersatz des die in Rede stehende Subsumtion enthaltenden Syllogismus, wie seine unmittelbar zuvor gegebenen Äußerungen erkennen lassen: Vernunft, als Vermögen einer gewissen logischen Form der Erkenntniß betrachtet, ist das Vermögen zu schließen, d. i. mittelbar (durch die Subsumtion der Bedingung eines möglichen Urtheils unter die Bedingung eines gegebenen) zu urtheilen. Das gegebene Urtheil ist die allgemeine Regel (Obersatz, Major). (A 330 / B 386)

Offensichtlich ist gemäß dieser Passage die Redeweise, der gemäß ein Urteil unter ein anderes subsumiert wird, nur als eine abgeleitete und nicht in jeder Hinsicht treffende Formulierung zu verstehen. Nicht nur ist der unmittelbare Gegenstand der Subsumtion nicht das den Untersatz bildende Urteil, sondern lediglich dessen „Bedingung“; auch dasjenige, worunter subsumiert wird, ist keineswegs das Urteil selbst, welches den Obersatz eines Syllogismus bildet. Subsumiert wird vielmehr ebenfalls lediglich unter die Bedingung dieses Urteils.13 Wie ist nun Kants Redeweise von einer Bedingung des Urteils genau zu verstehen? Zunächst liegt die Vermutung nahe, Kant rede hier von _____________ 13 Auch die von Curtius zitierte Passage der Logik lässt dieses genauere Verständnis der Subsumtion erkennen: „Der Vernunftschluß prämittirt eine allgemeine Regel und eine Subsumtion unter die Bedingung derselben.“ (§ 57, AA IX 120) Vgl. auch A 304 / B 361 sowie die Reflexionen 3195, XVI 707 und 3196, XVI 707.

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hypothetischen Sätzen, in welchen mit dem Antezedens ja explizit eine Bedingung zum Ausdruck gebracht wird. Diese Vermutung wird aber dem Umstand nicht gerecht, dass Kant an den einschlägigen Passagen keineswegs lediglich von hypothetischen Syllogismen, sondern von Vernunftschlüssen überhaupt redet. Nun könnte man zwar auch in einem disjunktiven Obersatz eines entsprechenden Syllogismus eine explizite Bedingung finden, nämlich eines der Urteile, welche die Glieder der Einteilung ausmachen; in Bezug auf den Obersatz eines kategorischen Syllogismus ist ein Kandidat für eine solche ausdrücklich gemachte Bedingung allerdings nicht auszumachen – ebensowenig in Bezug auf den Untersatz eines Syllogismus, der ja in allen drei Schlussarten ebenfalls ein kategorischer Satz ist. Aufklärung in der Frage nach der Bedeutung der Bedingung eines Urteils findet man am deutlichsten in Kants Logik bei seiner „Einteilung der Vernunftschlüsse (der Relation nach)“: Alle Regeln (Urtheile) enthalten objective Einheit des Bewußtseins des Mannigfaltigen der Erkenntniß, mithin eine Bedingung, unter der ein Erkenntniß mit dem andern zu einem Bewußtsein gehört. Nun lassen sich aber nur drei Bedingungen dieser Einheit denken, nämlich: als Subject der Inhärenz der Merkmale, oder als Grund der Dependenz eines Erkenntnisses zum andern, oder endlich als Verbindung der Theile in einem Ganzen (logische Eintheilung). Folglich kann es auch nur eben so viele Arten von allgemeinen Regeln (propositiones majores) geben, durch welche die Consequenz eines Urtheils aus dem andern vermittelt wird. Und hierauf gründet sich die Eintheilung aller Vernunftschlüsse in k a t e g o r i s c h e , h y p o t h e t i s c h e und d i s j u n c t i v e .14

Gemäß dieser Textstelle enthalten augenscheinlich nicht nur hypothetische und disjunktive, sondern auch kategorische Urteile eine Bedingung. Als die Bedingung des kategorischen Urteils gilt Kant dabei offenkundig _____________ 14 Logik, § 60, AA IX 121 f. Ich habe wegen ihrer größeren Klarheit diese Passage in den Haupttext gestellt. Vgl. aber auch die Parallelstelle in KrV A 304 / B 361, welche die Authentizität der Logikstelle belegt: „Das Verhältniß also, welches der Obersatz als die Regel zwischen einer Erkenntniß und ihrer Bedingung vorstellt, macht die verschiedenen Arten der Vernunftschlüsse aus. Sie sind also gerade dreifach, so wie alle Urtheile überhaupt, so fern sie sich in der Art unterscheiden, wie sie das Verhältniß des Erkenntnisses im Verstande ausdrücken, nämlich: kategorische oder hypothetische oder disjunctive Vernunftschlüsse.“ – Das Verhältnis zwischen Bedingung und „Assertion“ einer Regel nennt Kant in § 58 der Logik auch den „Exponenten“, offenkundig um einen Terminus zur Verfügung zu haben, der alle drei Bedingungsverhältnisse umfasst (AA IX 120 f.; vgl. Reflex. 3202, AA XVI 710). Eine hilfreiche Diskussion dieser Urteilsrelationen unter Berücksichtigung der Termini „Bedingung“ und „Exponent“ sowie einer historischen Verortung findet sich bei Longuenesse, Capacity, S. 93-106.

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das Subjekt dieses Urteils.15 Auch dass unter der Bedingung des hypothetischen Urteils das Antezedens zu verstehen ist, spricht Kant mit der Wendung vom „Grund der Dependenz“ noch beinahe ausdrücklich an.16 Die Beschreibung der Bedingung des disjunktiven Urteils ist dagegen als „Verbindung der Theile in einem Ganzen“ nicht ganz so leicht zu entschlüsseln. Der Grund für diese nicht so leicht zu verstehende Wendung dürfte darin liegen, dass sich im disjunktiven Urteil keiner der Teilsätze in dem Sinne vor den anderen als Bedingung auszeichnen lässt wie das Antezedens gegenüber dem Konsequens als Grund vor der Folge im hypothetischen Urteil. Vielmehr schränken sich die Teilsätze des disjunktiven Urteils wechselseitig ein, so dass, „wenn ein Glied der Eintheilung gesetzt wird, alle übrige ausgeschlossen werden, und so umgekehrt“ (B 112). Die Bedingungen im disjunktiven Urteil sind demnach „wechselseitig“ seine disjunkten Teilsätze. Soweit sind die Bedingungen identifiziert, unter welche gemäß A 330 / B 386 subsumiert wird. Während in kategorischen Syllogismen unter den Subjektbegriff des Obersatzes subsumiert wird, subsumiert der Untersatz eines hypothetischen oder disjunktiven Syllogismus unter einen der Teilsätze des jeweiligen Obersatzes. Was aber hat man sich nun genau unter einer solchen Subsumtion vorzustellen? Was ist das Spezifische an diesem besonderen Akt der Urteilskraft?17 Den entscheidenden Hinweis auf eine Antwort zu dieser Frage kann man Kants Anmerkung zu den Modalitätskategorien in § 9 der Kritik entnehmen: Die Modalität der Urtheile ist eine ganz besondere Function derselben, die das Unterscheidende an sich hat, daß sie nichts zum Inhalte des Urtheils beiträgt […], sondern nur den Werth der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht. P r o b l e m a t i s c h e Urtheile sind solche, wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß m ö g l i c h (beliebig) annimmt; a s s e r t o r i s c h e , da es als w i r k l i c h (wahr) betrachtet wird; a p o d i k t i s c h e , in denen man es als n o t h w e n d i g ansieht.* […] Der problematische Satz ist also derjenige, der nur logische Möglichkeit (die nicht objectiv ist) ausdrückt, d. i. eine freie Wahl einen solchen Satz gelten zu lassen, eine bloß willkürliche Aufnehmung desselben in

_____________ 15 Ich lese die Aufzählung hinter dem Doppelpunkt so, dass sie folgendermaßen auf den dem Doppelpunkt vorausgehenden Teil zu beziehen ist: Die Bedingung der Einheit des Bewusstseins lässt sich erstens denken als das Subjekt der Inhärenz der Merkmale, zweitens als Grund usw. 16 Zum Zusammenhang von Grund und Antezedens vgl. Logik, §§ 25 und 26, AA IX, 105 f. Man beachte, dass im modus tollendo tollens auch das Konsequens in einem gewissen Sinne als Bedingung fungieren kann, nämlich gerade dadurch, dass es nicht gegeben ist. 17 Vgl. A 132 / B 171: „Urtheilskraft [ist] das Vermögen unter Regeln zu s u b s u m i re n[…].“

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den Verstand. Der assertorische sagt von logischer Wirklichkeit oder Wahrheit, wie etwa in einem hypothetischen Vernunftschluß das Antecedens im Obersatze problematisch, im Untersatze assertorisch vorkommt, und zeigt an, daß der Satz mit dem Verstande nach dessen Gesetzen schon verbunden sei. * Gleich als wenn das Denken im ersten Fall eine Function des V e r s t a n d e s , im zweiten der U r t h e i l s k r a f t , im dritten der V e r n u n f t wäre. Eine Bemerkung, die erst in der Folge ihre Aufklärung erwartet. (A 74 ff. / B 99 ff.)

Die Verbindung dieser Passage mit der im gegenwärtigen Zusammenhang in Rede stehenden Frage nach dem Wesen der Subsumtion findet sich im letzten Satz des zitierten Haupttextes, in welchem Kant am Beispiel eines hypothetischen Syllogismus den Unterschied des problematischen und assertorischen Urteils erläutert. Denn an diesem Beispiel zeigt sich, was es zumindest im Falle eines hypothetischen Syllogismus bedeutet, unter die Bedingung der Regel des Obersatzes zu subsumieren. Während nämlich im Obersatz das Antezedens nur problematisch vorkommt, behauptet der Untersatz ebendieses Urteil assertorisch. Aber auch der erste Satz des eben zitierten Ausschnitts enthält eine wichtige Information. Denn dass die Modalität der Urteile in Kants Augen „nur den Werth der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt angeht“, verrät, dass er hinsichtlich der Verschiedenheit der Urteilsmodalitäten vorrangig an kategorische Urteile denkt, da ja nichtkategorische Urteile als solche gar keine Kopula enthalten, sondern lediglich Verknüpfungen von zwei oder mehr Urteilen miteinander sind (vgl. A 73 f. / B 98 f.). Diese Lesart bestätigt sich weiterhin durch Kants Bemerkung im selben Kontext, problematische Urteile seien solche, „wo man das Bejahen oder Verneinen als bloß möglich (beliebig) annimmt; assertorische, da es als wirklich (wahr) betrachtet wird“ (A 74 f. / B 100; Sperrung aufgehoben). Auch die Unterscheidung von Bejahen und Verneinen findet sich lediglich in kategorischen, nicht aber in hypothetischen oder disjunktiven Urteilen als solchen. Entsprechend wird man den paradigmatischen Fall der Subsumtion in einem hypothetischen Syllogismus auch so beschreiben können: Während das im Obersatz als Antezedens enthaltene kategorische Urteil lediglich behauptet, einem Gegenstand komme ein bestimmtes Prädikat möglicherweise zu (bzw. nicht zu), behauptet der Untersatz, dass dies nicht nur möglicherweise, sondern tatsächlich der Fall ist, und bringt insofern „die Erkenntniß“ zum Ausdruck, „daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde“, d. i. „die Subsumtion“.18 _____________ 18 Logik, § 58, AA IX 120 f.: „Die Erkenntniß, daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde, ist die Subsumtion.“ Vgl. Reflex. 3202, AA XVI 710. – Die oben gegebene Erklärung ist lediglich als Beschreibung eines paradigmatischen Falles aufzufassen, da sie sich erstens nur auf kategorische Urteile als Teilsätze des hypotheti-

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Es ist an dieser Stelle von Bedeutung, die Erkenntnis, „daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde“ von ihrem bloßen Ausdruck in einem Satz zu unterscheiden. Die Erkenntnis, dass die Bedingung irgendwo stattfinde, erfordert einen Abgleich zwischen einem begrifflich formulierten Urteil und einer anschaulich gegebenen Realität, denn nur daraus, dass sich die beiden Erkenntnisvermögen vereinigen, „kann Erkenntniß entspringen“ (A 51 f. / B 75 f.). In diesem Sinne ist die Urteilskraft zu verstehen als das Vermögen, „unter Regeln zu s u b s u m i r e n , d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (A 132 / B 172). Von dieser Subsumtion im Sinne einer Erkenntnis ist die Subsumtion im Sinne des bloßen Ausdrucks dieser Erkenntnis zu unterscheiden. Sofern die Assertion die Wirklichkeit des in ihr ausgedrückten Sachverhalts behauptet, ist sie mit dem Anspruch auf Erkenntnis dieses Sachverhalts verknüpft. Behauptet die Assertion diesen Sachverhalt als einen besonderen Fall einer Regel, macht sie demnach Anspruch auf die Erkenntnis, dass ein der Regel entsprechender Fall gegeben ist. Sie setzt in diesem Sinne die Subsumtion im Sinne der Erkenntnis voraus.19 Wenn Kant in § 21 der Prolegomena (AA IV 302) behauptet, dass die Verstandesgrundsätze Erscheinungen unter Kategorien subsumieren, so kann dies nur in dem zweiten, abgeleiteten Sinne gemeint sein, da es sich bei den Grundsätzen ja ausdrücklich um Sätze handelt.20 Nun wird man in Bezug auf hypothetische und disjunktive Syllogismen das soweit erarbeitete Verständnis der Subsumtion als einer im Untersatz stattfindenden Assertion eines im Obersatz bloß problematisch gedachten Urteils als eine hinreichende Aufhellung dieses Begriffs gelten lassen, bei kategorischen Syllogismen stößt man mit diesem Verständnis aber auf die Schwierigkeit, dass die Bedingung des Obersatzes, unter welche subsumiert werden soll, gar kein Urteil, sondern ein Begriff, nämlich der Subjektbegriff des Urteils ist. Es ist jedoch keineswegs ohne weiteres klar, wie sich die Modalitätskategorien auf einen Begriff als solchen überhaupt anwenden lassen sollen, da sie ja lediglich „den Werth der Copula in Beziehung auf das Denken überhaupt“ bestimmen (A 74 / B 99 f.) und _____________ schen Urteils bezieht und zweitens, sofern sie das Antezedens als Bedingung auffasst, nur für den modus ponendo ponens formuliert ist. Die Übertragung auf die hier als nichtparadigmatisch aufgefassten Fälle des modus tollendo tollens sowie die Verknüpfung nichtkategorischer Urteile überlasse ich dem Leser. 19 Vgl. auch Kants Zuordnung der Urteilskraft zum assertorischen Urteil in seiner Fußnote zu der oben, S. 77, zitierten Passage aus § 9. 20 Diese abgeleitete Redeweise ist zunächst verwirrend, dürfte aber in demselben Sinne legitim sein, wie ein mathematischer Satz, der eine Subtraktion zum Ausdruck bringt, auch selbst eine Subtraktion genannt werden kann. – Ich danke Rüdiger Bittner dafür, dass er mich in diesem Punkt zu mehr Klarheit gedrängt hat.

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folglich auf Urteile und nicht auf Begriffe zu beziehen sind. Die Frage, wie man sich die Subsumtion unter die Bedingung des Obersatzes eigentlich vorzustellen hat, bleibt hinsichtlich kategorischer Syllogismen also vorerst bestehen. Die Beantwortung dieser Frage lässt sich in Analogie zu der beschriebenen Subsumtion in nichtkategorischen Syllogismen geben, wenn man Kants Verständnis von Begriffen „als Prädicate möglicher Urtheile“ (A 69 / B 94) berücksichtigt. Dieses Verständnis erläutert Kant in Bezug auf den Beispielsatz „Alle Körper sind teilbar“ folgendermaßen21: So bedeutet der Begriff des Körpers etwas, z. B. Metall, was durch jenen Begriff [scil. des Teilbaren] erkannt werden kann. Er ist also nur dadurch Begriff, daß unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind, vermittelst deren er sich auf Gegenstände beziehen kann. Er ist also das Prädicat zu einem möglichen Urtheile, z. B. ein jedes Metall ist ein Körper. (A 69 / B 94)

Dieser Passage lässt sich entnehmen, dass Kant den Subjektbegriff eines gegebenen Urteils (im vorliegenden Fall den Begriff des Körpers in dem Urteil „Alle Körper sind teilbar“) als das Prädikat eines möglichen anderen Urteils versteht (im vorliegenden Falle des Urteils „Ein jedes Metall ist ein Körper“). Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die Subsumtion in einem kategorischen Syllogismus als die Assertion einer im Obersatz bloß problematisch gedachten Bedingung verstehen. Denn der Subjektbegriff eines Urteils ist „nur dadurch Begriff, daß unter ihm andere Vorstellungen enthalten sind“ (ebd.). Auf diese Vorstellungen bezieht er sich als „das Prädicat zu einem möglichen Urtheile“ (ebd.), dessen Subjektbegriff eine dieser unter ihm enthaltenen Vorstellungen ist. In dem Subjektbegriff des Obersatzes ist implizit also jederzeit schon eine Menge von möglichen Urteilen gedacht, welche u. a. ein in einem bestimmten Untersatz gegebenes Urteil einschließt. Während aber dieses Urteil durch den Subjektbegriff der im Obersatz gegebenen Regel als ein bloß mögliches Urteil vorgestellt wird, behauptet der Untersatz dasselbe assertorisch. Entsprechend beschreibt Kant die Subsumtion: Eine Regel ist eine Assertion unter einer allgemeinen Bedingung. […] Die Erkenntniß, daß die Bedingung (irgendwo) stattfinde, ist die S u b s u m t i o n . (Logik, § 58, AA IX 120 f.; vgl. Reflex. 3202, AA XVI 710)

Man beachte zunächst, dass der erste Satz eine Art Definition dessen ist, was Kant unter einer Regel versteht. Demnach ist ein Urteil, das den Obersatz eines Schlusses bildet, eine Regel gerade insofern, als es eine Assertion unter einer allgemeinen Bedingung ist. Eine Regel ist demnach _____________ 21 Ich folge hier der Interpretation von Michael Wolff, der in seiner Kommentierung der oben folgenden Textpassage ausdrücklich auf die Wichtigkeit dieses Bezuges hinweist. Vgl. Wolff, Urteilstafel, S. 96 f.

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nicht geradezu eine Assertion oder Behauptung, sondern nur unter der Voraussetzung, dass eine gewisse Bedingung erfüllt ist. Für den kategorischen Syllogismus hatte Kant ausdrücklich den Subjektterminus des Obersatzes als diese Bedingung bestimmt (s. o., S. 76). Indem nun der Untersatz in Form seines Subjektbegriffs eine weitere Bedingung angibt, unter welcher die Bedingung des Obersatzes, welche nun dem Untersatz zum Prädikat dient, als gegeben gelten darf, gibt er der Erkenntnis Ausdruck, „daß die Bedingung [scil. des Obersatzes] (irgendwo) stattfinde“ (Logik, § 58, AA IX 120 f.; vgl. Reflex. 3202, AA XVI 710), nämlich unter der durch den Subjektbegriff des Untersatzes gegebenen Bedingung. Er behauptet damit einen bis dato als bloß möglich gedachten Fall als einen tatsächlich gegebenen oder, in anderen Worten, er subsumiert ihn unter die allgemeine Regel des Obersatzes. Mit dem soweit erarbeiteten Verständnis lässt sich nun für kategorische sowohl als nichtkategorische Schlüsse festhalten, dass die Subsumtion die Erkenntnis bedeutet, dass ein bestimmter Fall einer im Obersatz eines Syllogismus gedachten Regel vorliegt. Diese Erkenntnis ist die Subsumtion als ein „besonderer Akt der Urteilskraft“.22 Ihr korrespondiert die Subsumtion als Ausdruck dieses Aktes in Form eines assertorischen Urteils. Innerhalb eines Vernunftschlusses ist dieses Urteil die Minor des Syllogismus.23 Ebenfalls lässt sich nun die weiter oben formulierte Frage beantworten, was es denn eigentlich heißt, dass der Untersatz eines Syllogismus dem Obersatz „einen Fall“ unterordnet (vgl. S. 73). Es bedeutet, dass der Untersatz ein Urteil, welches im Obersatz explizit oder implizit als ein bloß mögliches Urteil vorgestellt wird, als ein wirkliches Urteil be_____________ 22 Vgl. die oben gestellte Frage auf Seite 76. Wie dieser Akt sich genau vollzieht, ist wahrscheinlich nicht leicht zu bestimmen, da es sich dabei der Sache nach um den Schematismus handeln dürfte, den Kant als „eine verborgene Kunst in den Tiefen der menschlichen Seele“ bezeichnet, „deren wahre Handgriffe wir der Natur schwerlich jemals abrathen und sie unverdeckt vor Augen legen werden“ (A 141 / B 180 f.). Zum Zusammenhang der Urteilskraft mit dem Schematismus unter besonderer Berücksichtigung der Subsumtion vgl. A 247 / B 304: „Nun gehört zum Gebrauche eines Begriffs noch eine Function der Urtheilskraft, worauf ein Gegenstand unter ihm subsumirt wird, mithin die wenigstens formale Bedingung, unter der etwas in der Anschauung gegeben werden kann. Fehlt diese Bedingung der Urtheilskraft (Schema), so fällt alle Subsumtion weg; denn es wird nichts gegeben, was unter den Begriff subsumirt werden könne.“ 23 Man beachte, dass diese Assertion auch durchaus verneinend ausfallen kann, wie z. B. beim modus tollendo tollens oder dem modus tollendo ponens. Hierin dürfte der Grund liegen, dass Kant die Urteilskraft als das Vermögen bezeichnet, „unter Regeln zu subsumiren, d. i. zu unterscheiden, ob etwas unter einer gegebenen Regel (casus datae legis) stehe, oder nicht“ (A 132 / B 172; Sperrung aufgehoben, meine Hervorhebung).

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hauptet. Der Untersatz behauptet, dass etwas, was im Obersatz lediglich als möglich angenommen wird, tatsächlich der Fall ist.24 Nachdem nun die Subsumtion sowohl für kategorische als auch für nichtkategorische Syllogismen als die im Untersatz stattfindende Assertion eines im Obersatz lediglich als möglich gedachten Urteils bestimmt wurde, empfiehlt sich ein kurzer Rückblick auf den von Curtius erhobenen Vorwurf, dass Kant von zwei verschiedenen Subsumtionsbegriffen Gebrauch mache. Nach dem einen Wortgebrauch, so Curtius, bedeute die Subsumtion die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff, nach dem anderen die Unterordnung eines Falles unter eine Regel. Diesen angeblichen zweiten Wortgebrauch ordnet Curtius der Schlusslehre zu.25 In den zurückliegenden Untersuchungen ließ sich für alle drei Schlussarten genauer klären, wie man sich diese Unterordnung eigentlich vorzustellen hat. Vor dem Hintergrund der Bemerkungen von Curtius ist dabei nun interessant, dass es sich bei der „Subsumtion unter eine Regel“ um eine verkürzte Redeweise handelt, da genau genommen nicht unmittelbar unter die Regel, sondern unter die Bedingung der Regel subsumiert wird. Diese Bedingung der Regel ist in nichtkategorischen Urteilen ein Urteil, in kategorischen Urteilen dagegen ein Begriff. Man wird daher die Subsumtion in einem kategorischen Syllogismus nicht nur als die Unterordnung eines Falles unter eine Regel, sondern mit mindestens gleicher Berechtigung auch als die Unterordnung eines Falles unter einen Begriff beschreiben dürfen. Damit ist nun interessanterweise der Unterschied, den Curtius in Kants angeblich verschiedenen Verwendungsweisen des Begriffs der Subsumtion zu finden glaubt, bereits zur Hälfte aufgehoben.26 Da die Subsumtion im kategorischen Syllogismus zeigt, dass die Unterordnung unter eine Regel durchaus auch als die Unterordnung unter einen Begriff zu verstehen ist, stellt sich die Frage, ob nicht auch die Unterordnung eines Gegenstandes unter einen Begriff als eine entsprechende Unterordnung eines Falles verstanden werden kann und daher die von Curtius behauptete Opposition zweier Bedeutungen des kantischen Subsumtionsbegriffs in sich zusammenfällt. _____________ 24 Man beachte die in der vorigen Fußnote zitierte juridische Wendung des casus datae legis, von welcher Kant offenkundig die deutschen Redeweisen entlehnt, wenn er von einem „subsumirten Falle“ spricht (Sperrung aufgehoben), oder davon, dass „in einem vorkommenden Falle die Bedingung der Regel statt[findet]“ (A 330 / B 386 f.). 25 Vgl. Curtius 1914, S. 349, sowie oben S. 70. 26 Vgl. auch Paton, Kant’s Metaphysics, Bd. II, S. 24, Fußnote 5.

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Das assertorische Urteil, welches die Subsumtion eines Falles zum Ausdruck bringt, betrachtet Kant, wie oben herausgestellt, als ein Urteil, in dem „das Bejahen oder Verneinen […] als w i r k l i c h (wahr) betrachtet wird“ (A 74 f. / B 100). Zunächst lässt sich klarer einsehen, was es heißt, einen Fall zu subsumieren, wenn man sich auf Kants Bemerkung konzentriert, dass in der Assertion das Bejahen oder Verneinen „wahr“ sei. Denn Wahrheit versteht er als „die Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande“ (vgl. A 58 / B 82). Das assertorische Urteil behauptet daher, tatsächlich mit seinem Gegenstand übereinzustimmen. Gerade hierin unterscheidet es sich vom problematischen Urteil, welches diese Übereinstimmung lediglich als möglich hinstellt. Während das problematische (kategorische) Urteil lediglich behauptet, dass es einen Gegenstand geben kann, dem ein bestimmtes Prädikat zukommt, behauptet das assertorische, dass es diesen Gegenstand tatsächlich gibt. In diesem Sinne ist entsprechend auch das „wirklich“ zu lesen, mit welchem Kant die Bejahung bzw. Verneinung des kategorischassertorischen Urteils beschreibt. Es beansprucht in diesem Sinne, ein empirisches Urteil zu sein, das auf Empfindung beruht, „die die wirkliche Gegenwart des Gegenstandes voraussetzt“.27 Indem der Untersatz eines kategorischen Syllogismus ein im Obersatz bloß als möglich vorgestelltes Urteil als ein wirkliches Urteil deklariert, behauptet er, dass ein Gegenstand existiert, welchem die durch das Prädikat ausgedrückte Eigenschaft zukommt. Dass die Assertion eines kategorischen Urteils einen Fall angibt, der unter der Regel des Obersatzes steht, bedeutet insofern nichts anderes, als dass durch dieses Urteil ein Gegenstand als gegeben vorgestellt wird, welcher der Bedingung des Obersatzes entspricht, oder dass, in Kants Worten, „in einem vorkommenden Falle die Bedingung der Regel statt[findet]“ (A 330 / B 387). Auf diesem Wege lässt sich Kants Redeweise von der Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff ein guter Sinn abgewinnen. Das in einem kategorischen Syllogismus als Untersatz vorkommende assertorische Urteil geht über die bloße Unterordnung (Subordination) eines Begriffs unter den im Obersatz gegebenen Subjektbegriff gerade insofern hinaus, als es diesen Begriff ausdrücklich als einen nicht-leeren Begriff versteht, d. h. als einen Begriff, zu welchem ein Gegenstand tatsächlich _____________ 27 A 50 / B 74. Vgl. auch A 19 f. / B 34: „Die Wirkung eines Gegenstandes auf die Vorstellungsfähigkeit, sofern wir von demselben afficirt werden, ist E m p fi nd u n g. Diejenige Anschauung, welche sich auf den Gegenstand durch Empfindung bezieht, heißt e m pi ris c h .“ – Daher drücken für Kant auch die Sätze der Mathematik unabhängig von Empfindung eine bloße Möglichkeit aus und erhalten ihre objektive Gültigkeit lediglich durch den beständig möglichen Bezug auf empirische Gegenstände (vgl. A 240 / B 298 f.).

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gegeben ist. Der assertorische Charakter eines solchen Satzes besteht darin, einen unter dem Subjektbegriff des Obersatzes enthaltenen Gegenstand als empirisch gegeben vorzustellen. Die Subsumtion eines Falles unter eine Regel in einem kategorischen Syllogismus bedeutet daher die Subsumtion eines Gegenstandes unter einen Begriff, nämlich unter den Subjektbegriff des Obersatzes. Damit erweist sich die von Curtius ausgemachte Mehrdeutigkeit des kantischen Subsumtionsbegriffs als eine nur scheinbare. Zwar gibt es gemäß den verschiedenen Schlussarten unterschiedliche Erscheinungsformen der Subsumtion, sofern nämlich die Obersätze dieser Schlussarten die Bedingung, unter welche subsumiert wird, mal explizit (im hypothetischen und disjunktiven), mal lediglich implizit (im kategorischen) vorstellen. In allen Fällen bedeutet aber die Subsumtion die Assertion eines im Obersatz eines Schlusses lediglich problematisch gedachten Urteils. Die Subsumtion behauptet, dass der Subjektbegriff dieses Urteils nicht leer ist, sondern dass es vielmehr einen bestimmten Gegenstand gibt, der unter den Subjektbegriff dieses problematischen Urteils fällt.

2.2. Die Subsumtion unter Kategorien Nach den zurückliegenden Erörterungen zum Begriff der Subsumtion im Allgemeinen gilt es, sich nun eingehender der oben im Anschluss an Kants Prolegomena (AA IV 302) herausgestellten These zu widmen, dass die Grundsätze des reinen Verstandes Erscheinungen unter Kategorien subsumieren (vgl. S. 70). Wie hat man sich diese Subsumtion genau vorzustellen? Welche Besonderheiten sind bei der Subsumtion von Erscheinungen unter Kategorien zu beachten? Zunächst wird es hilfreich sein, dasjenige, was von der Subsumtion im Allgemeinen gilt, auf die Subsumtion der Erscheinungen unter Kategorien zu übertragen. Dazu gehört zunächst, dass eine Subsumtion in jedem Falle durch einen kategorischen Satz ausgedrückt wird. Denn unabhängig davon, ob es sich um einen kategorischen, hypothetischen oder disjunktiven Vernunftschluß handelt, der Untersatz eines jeden Syllogismus, der ja die Subsumtion ausdrückt, ist jederzeit ein kategorischer Satz. Man kann also davon ausgehen, dass auch die Subsumtion der Erscheinungen unter Kategorien in einem kategorischen Urteil zum Ausdruck kommt. Die Erläuterung des kategorischen Vernunftschlusses macht darüber hinaus deutlich, dass in einem eine Subsumtion ausdrückenden Urteil der Begriff, unter welchen subsumiert wird, die Prädikatstelle, dasjenige, was subsumiert wird, dagegen die Subjektstelle des Urteils einnimmt. Entsprechend darf man erwarten, dass sich die Subsumtion der Erscheinungen

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unter Kategorien in kategorischen Sätzen ausdrückt, in welchen die Erscheinung an der Subjekt- und die Kategorie an der Prädikatstelle zu finden ist. Auf der Suche nach den Sätzen, welche die Erscheinungen unter Kategorien subsumieren, scheint demnach nur noch die Quantität dieser Sätze zu bestimmen zu sein. Die Frage nach der Quantität lässt sich zunächst leicht beantworten, wenn man sich in Erinnerung ruft, dass die in Rede stehende Passage der Prolegomena die Grundsätze des reinen Verstandes ja als Sätze bestimmte, „welche alle Wahrnehmung (gemäß gewissen allgemeinen Bedingungen der Anschauung) unter jene reine Verstandesbegriffe subsumiren“ (AA IV 302). Dass Kant hier von aller Wahrnehmung redet (d. h. von aller Erscheinung, sofern sie mit Bewußtsein verbunden ist, vgl. oben, S. 70), legt die Annahme nahe, die Grundsätze seien universale Sätze.28 Da es sich bei den Grundsätzen des reinen Verstandes um Grundsätze a priori handeln soll, ist dieses Ergebnis freilich nicht sonderlich überraschend, denn Allgemeinheit und Notwendigkeit bezeichnet Kant als „sichere Kennzeichen einer Erkenntniß a priori“ (B 4). Soweit scheinen also die Grundsätze des reinen Verstandes sowohl formal als auch material hinreichend beschrieben. Gemäß den zurückliegenden Erörterungen ließen sich kategorische Allsätze erwarten, die Erscheinungen unter Kategorien subsumieren. Eine Schwierigkeit ergibt sich allerdings, wenn man die so sich ergebenden Sätze nebeneinanderstellt. So müssten dieser Überlegung folgend die drei Axiome der Anschauung lauten: Jede Erscheinung ist eine Einheit. Jede Erscheinung ist eine Vielheit. Jede Erscheinung ist eine Allheit. Diese Aneinanderreihung muss sogleich den Verdacht erwecken, nicht konsistent zu sein. Dass alles zugleich sowohl eine Einheit als auch eine Vielheit ist, erscheint widersprüchlich. Wenigstens sollte man erwarten, dass Erscheinungen zwar vielleicht sowohl Einheiten als auch Vielheiten sind, aber dann in verschiedener Hinsicht, wie auch immer diese Hinsichten zu spezifizieren wären. Diese Spannung zeigt sich ebenfalls bei den Grundsätzen der Modalität, mithin den Postulaten in ihrer dem bisher Gesagten gemäß rekonstruierten Form, welche lautet: Jede Erscheinung ist möglich. _____________ 28 Vgl. ebenfalls § 23 der Prolegomena, wo Kant die Grundsätze des reinen Verstandes unter dem Namen der „Grundsätze möglicher Erfahrung“ auch als „allgemeine Gesetze der Natur“ bezeichnet und ebenda auch ausdrücklich betont, dass vermittelst dieser Grundsätze „alle Erscheinungen unter diese Begriffe [scil. die Kategorien] subsumirt werden“ (AA IV 306; meine Hervorh.).

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Jede Erscheinung ist wirklich. Jede Erscheinung ist notwendig. Der Verdacht, der sich gegenüber den Quantitätsgrundsätzen erhob, dass sie nicht alle in demselben Sinne zugleich wahr sein können, bestätigt sich hinsichtlich der Grundsätze der Modalität. Zwar ist sicherlich das, was notwendig ist, auch wirklich und dieses wiederum möglich. Aber ohne Zweifel würde man doch den Bereich des Möglichen für größer halten als den des Notwendigen, so dass man nur schwer glauben mag, dass alle Erscheinungen nicht nur möglich, sondern auch notwendig sind. Einen Schritt weiter kommt man, wenn man beachtet, dass Kants Formulierung der Postulate des empirischen Denkens von der oben rekonstruierten Form in gewisser Weise abweicht: 1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig. (A 218 / B 265 f.)

Zunächst ist es wichtig, die Übereinstimmung dieser Passage mit den soweit vorgetragenen Überlegungen zur Struktur der Grundsätze zu bemerken. Im Falle der Postulate des empirischen Denkens ist nämlich am deutlichsten nachzuvollziehen, dass es sich um kategorische Sätze handelt, deren Prädikatstelle von den entsprechenden Kategorien eingenommen wird, im vorliegenden Fall also jeweils von einer der drei Modalitätskategorien. Dagegen ist der jeweilige Subjektbegriff dieser kategorischen Sätze offensichtlich komplex, nämlich ein vollständiger Relativsatz. Komplizierter wird dieser Umstand noch dadurch, dass dieser Relativsatz gar kein Bezugswort hat und insofern völlig offen formuliert ist. Schließlich bleibt noch die Schwierigkeit festzuhalten, dass keiner der den Subjektbegriff bildenden Relativsätze den Begriff der Erscheinung enthält, wie man gemäß der hier eingeschlagenen Interpretationslinie erwarten sollte. Gerade die Zusammenstellung der beiden zuletzt genannten Schwierigkeiten legt aber auch eine Lösung nahe, die noch dazu auch die oben genannte Schwierigkeit der Unverträglichkeit der soweit rekonstruierten Grundsätze untereinander löst. Ergänzt man nämlich als Bezugswort der Postulate in ihrer kantischen Formulierung das Wort „Erscheinung“, so befreit man auf der einen Seite diese Formulierung von ihrer Unterbestimmtheit und versöhnt sie auf der anderen Seite mit der für die Grundsätze des reinen Verstandes allgemein geltenden Beschreibung der Prolegomena, der gemäß in ihnen Erscheinungen unter Kategorien subsumiert werden (vgl. AA IV 302). Diese Interpretation fügt sich auch hervorragend in Kants transzendentalen Idealismus, dem gemäß „die Kategorien

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keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge [haben], als nur so fern diese als Gegenstände möglicher Erfahrung angenommen werden“ (B 147 f.), d. h. als Erscheinungen. Entsprechend müßte man die Postulate des empirischen Denkens paraphrasieren: 1. Alle Erscheinungen, die mit den formalen Bedingungen der Erfahrung übereinkommen, sind möglich. 2. Alle Erscheinungen, die mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Empfindung) zusammenhängen, sind wirklich. 3. Alle Erscheinungen, deren Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, sind (existieren) notwendig. Die nunmehr vorgenommene Auflistung der Postulate lässt erkennen, wie sich durch den von Kant als Subjektbegriff gewählten Relativsatz die Kompatibilität der Postulate untereinander einstellt. Das jeweilige Prädikat dieser Sätze gilt nun nicht mehr, wie noch in dem oben stehenden ersten Rekonstruktionsversuch, für alle Erscheinungen, sondern nur für alle Erscheinungen, sofern sie gewisse Bedingungen erfüllen. Durch die Ergänzung dieser Bedingungen beziehen sich nun die Postulate nicht mehr alle in derselben Weise auf alle Erscheinungen, sondern nur noch jeweils auf bestimmte Klassen von Erscheinungen, von denen freilich Verschiedenes gelten kann, ohne dass dadurch ein Widerspruch generiert wird. Nichts anderes, als dass die Grundsätze des reinen Verstandes die Erscheinungen nicht schlechthin, sondern nur unter gewissen Bedingungen unter Kategorien bringen, behauptete schließlich auch die inzwischen schon oft angeführte Stelle der Prolegomena, der gemäß nämlich die Grundsätze des reinen Verstandes „alle Wahrnehmung (gemäß gewissen Bedingungen der Anschauung) unter jene reine Verstandesbegriffe subsumiren“.29 An den Postulaten des empirischen Denkens zeigt sich, wie Kant diese Bedingungen in die Formulierung der Grundsätze einbindet, nämlich als den Subjektbegriff einschränkende Bedingungen. Dass die Grundsätze des reinen Verstandes unter Berücksichtigung gewisser Bedingungen formuliert sind, führt zurück an den Ausgangspunkt des vorliegenden Kapitels. Denn dieses nahm seinen Anfang in der Zuordnung gewisser Arten der Synthesis zu den Kategorien der Quantität als deren transzendentale Schemata (s. o., S. 69). In diesem Zusammenhang wurden unter Rekurs auf A 136 / B 175 diese Schemata als die Be_____________ 29 AA IV 302. Vgl. ebenfalls die Stelle A 135 / B 176, der gemäß die Transzendentalphilosophie „die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen [scil. den Kategorien] gegeben werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen“ muss.

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dingungen bestimmt, unter welchen die Grundsätze des reinen Verstandes „aus reinen Verstandesbegriffen […] a priori herfließen“. Auf die an diesem Ausgangspunkt der Untersuchung gestellte Frage nach der Beschaffenheit der Verknüpfung von Schemata und Kategorien, aus welcher die Grundsätze des reinen Verstandes schließlich „herfließen“, drängt sich angesichts der soeben erläuterten Struktur der Postulate des empirischen Denkens nun die Antwort auf, dass die transzendentalen Schemata in den Grundsätzen des reinen Verstandes gerade die in den Prolegomena genannten „gewissen Bedingungen der Anschauung“ (AA IV 302) sind, welche den Subjektbegriff der Grundsätze, die Erscheinung, jeweils soweit einschränken, dass ihre Subsumtion unter die jeweilige Kategorie der verschiedenen Grundsätze nicht zu den oben genannten Widersprüchen führt. Diese Hypothese, dass die transzendentalen Schemata der Kategorien diejenigen Bedingungen sind, durch welche der Subjektbegriff der Grundsätze des reinen Verstandes auf eine bestimmte Klasse von Erscheinungen eingeschränkt wird, werde ich in der Folge bestätigen anhand einer entsprechenden Analyse der anderen, neben den Postulaten ausdrücklich vorliegenden Grundsatzklasse, den Analogien der Erfahrung.30 Zu diesem Zweck seien diese drei Grundsätze hier einmal in einem Zusammenhang zitiert: „Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und das Wandelbare als dessen bloße Bestimmung, d. i. eine Art, wie der Gegenstand existirt.“ „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“

_____________ 30 Die sehr reichhaltige Literatur zu den Analogien der Erfahrung werde ich bei dieser Analyse weitgehend unberücksichtigt lassen, um den Hauptgedankengang nicht unnötig aufzublähen. Dieses Vorgehen halte ich für gerechtfertigt, da sich dem kantischen Text ohne größere Schwierigkeiten auch unmittelbar entnehmen lässt, dass die Analogien die transzendentalen Schemata der Relationskategorien als einschränkende Bedingungen des Subjektbegriffs in ihre Formulierung aufnehmen. Die These, dass die in den Postulaten gebrauchten einschränkenden Bedingungen ganz analog die Schemata der Modalität bedeuten, möchte ich ebenfalls vertreten, halte aber den entsprechenden Nachweis für etwas umständlicher als den für die Analogien, weshalb ich mich an dieser Stelle für deren Analyse entschieden habe. Die Diskussion der Analogien bietet darüber hinaus noch den Vorteil, die bereits an den Postulaten herausgearbeitete Struktur an einer weiteren Grundsatzklasse zu bestätigen. Für den hier angestrebten Zweck, ein Rekonstruktionsmodell für die Axiome der Anschauung zu erarbeiten, sollte auch ein klarer Nachweis an einer einzigen Grundsatzklasse genügen.

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„Alle Substanzen, so fern sie zugleich sind, stehen in durchgängiger Gemeinschaft (d. i. Wechselwirkung unter einander).“ 31

Zunächst einmal sind die aufgrund der bisherigen Erläuterungen zu erwartenden Merkmale eines Grundsatzes des reinen Verstandes in der vorliegenden Formulierung der drei Analogien nicht ohne weiteres zu sehen. Insbesondere die beiden Analogien der Kausalität und der Wechselwirkung scheinen diesen Anforderungen überhaupt nicht zu entsprechen, denn weder erscheinen sie als offenkundig kategorische Sätze noch scheint der Begriff der Erscheinung das Subjekt dieser Sätze zu bilden, da er gar nicht ausdrücklich in ihnen vorkommt. Auch ist, obwohl die Kategorien in diesen Grundsätzen zwar wenigstens zum Teil ausdrücklich vorkommen, ihre Rolle nicht ohne weiteres klar. Immerhin zeigt sich aber in der dritten Analogie eine ausdrückliche Einschränkung ihres Subjektbegriffs, wie man sie den zurückliegenden Erörterungen gemäß erwarten könnte. Ich beginne meine Erläuterungen daher mit dieser dritten Analogie der Erfahrung. Zunächst sollte man sehen, dass die nicht ausdrücklich kategorische Form dieser dritten Analogie lediglich ihren sprachlichen Ausdruck betrifft, die sich ohne Verlust in logischer Hinsicht in eine kopulative Struktur übertragen lässt, indem man die Kopula und ein passendes Prädikatsnomen ergänzt. Die Behauptung der dritten Analogie ist ihrer logischen Form nach keine (hypothetisch oder disjunktiv) bedingte, sondern eine unbedingte Aussage und lässt sich daher auch z. B. in der folgenden kategorischen Form wiedergeben: Alle Substanzen, so fern sie zugleich sind, sind Glieder einer durchgängig bestimmten Gemeinschaft. Dass die Substanzen „Glieder einer durchgängig bestimmten Gemeinschaft“ sind, bedeutet nichts anderes, als dass sie unter der Kategorie der Gemeinschaft stehen, sie also unter dieselbe subsumiert werden. Subsumiert werden sie aber nicht insgesamt oder schlechthin, sondern nur, sofern sie unter einer gewissen Bedingung stehen, nämlich sofern sie zugleich sind. Diejenigen Substanzen also, die zugleich sind, stehen unter der Kategorie der Gemeinschaft und damit in Wechselwirkung miteinander. Nun ist die hier formulierte Bedingung des Zugleichseins nichts anderes als das Schema der Kategorie der Gemeinschaft: _____________ 31 A 182, A 189 und A 211. Die Formulierung dieser Grundsätze in der zweiten Auflage ist nicht identisch mit den oben wiedergegebenen Passagen aus der ersten. Gemäß dem Prinzip der hermeneutischen Billigkeit sollte man aber zunächst unterstellen, dass alle Grundsätze in ihren unterschiedlichen Formulierungen nicht wesentlich Verschiedenes bedeuten, da Kant in der Vorrede zur zweiten Auflage ausdrücklich für sich in Anspruch nimmt, lediglich „Abänderungen der Darstellungsart“ vorgenommen zu haben (B XXXIX ff.).

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Das Schema der Gemeinschaft (Wechselwirkung) oder der wechselseitigen Causalität der Substanzen in Ansehung ihrer Accidenzen ist das Zugleichsein der Bestimmungen der Einen mit denen der Anderen nach einer allgemeinen Regel. (A 144 / B 183)

Es bestätigt sich somit an der dritten Analogie zum ersten Mal die oben aufgestellte These, dass die Grundsätze des reinen Verstandes die Subsumtion unter die Kategorien vollziehen, indem sie ihren Subjektbegriff mithilfe des korrespondierenden transzendentalen Schemas einschränken. Einzig die Frage, inwiefern es sich bei dem Subjektbegriff dieser dritten Analogie um den Begriff der Erscheinung handelt, bedarf noch der Aufklärung. Diese Aufklärung ergibt sich nun aus der genaueren Betrachtung der ersten Analogie der Erfahrung, in welcher ausdrücklich der Begriff der Erscheinung die gemäß der herausgearbeiteten Interpretationslinie zu erwartende Rolle des Subjektbegriffs übernimmt. Auch die erste Analogie bedarf allerdings der genaueren Analyse, um als ein kategorischer Satz erkannt werden zu können, bzw. als zwei kategorische Sätze. Denn zunächst ist zu bemerken, dass die erste Analogie zwei Behauptungen enthält die durch ein „und“ miteinander verbunden sind, nämlich: Alle Erscheinungen enthalten das Beharrliche (Substanz) als den Gegenstand selbst und alle Erscheinungen enthalten das Wandelbare als bloße Bestimmung des Gegenstandes d. i. eine Art, wie der Gegenstand existiert. In dem zweiten Satz dieser Paraphrase lässt sich sogleich der Ausdruck „bloße Bestimmung des Gegenstandes“ durch den ausdrücklich als Kategorie verstandenen Begriff des Akzidens ersetzen (vgl. die Kategorientafel in A 80 / B 106), wenn man bemerkt, dass Kant diesen Begriff an anderer Stelle genau durch die oben in Klammern stehende Erläuterung dieses Ausdrucks als einer Art, wie der Gegenstand existiert, erklärt: Die Bestimmungen einer Substanz, die nichts andres sind, als besondere Arten derselben zu existiren, heißen Accidenzen. (A 186 / B 230)

Diese Passage legt auch zugleich eine Interpretation für die Schwierigkeit nahe, wie der in obiger Paraphrase in Klammern gebrauchte Begriff der Substanz zu verstehen ist. Denn offensichtlich nimmt der Begriff der Substanz in der zuletzt zitierten Passage die Stelle ein, welche im zweiten Satz meiner Paraphrase der Ausdruck „Gegenstand“ einnimmt. Demnach müsste man auch im ersten Satz der Paraphrase das Wort „Gegenstand“ durch „Substanz“ ersetzen dürfen, wie denn auch eine alternative Formulierung der ersten Analogie ausdrücklich belegt: Also ist in allen Erscheinungen das Beharrliche der Gegenstand selbst, d. i. die Substanz (phaenomenon), alles aber, was wechselt oder wechseln kann, gehört nur

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zu der Art, wie diese Substanz oder Substanzen existiren, mithin zu ihren Bestimmungen. (A 183 f. / B 227)

Diese alternative Formulierung weist auch zugleich eine eindeutig kategorische Struktur ihres ersten Teilsatzes auf, so dass sich die erste Analogie in einer die erläuterten Ersetzungen berücksichtigenden Weise auch so paraphrasieren lässt: In allen Erscheinungen ist das Beharrliche Substanz und in allen Erscheinungen ist das Wandelbare Akzidens.32 Diese ausdrücklich kategorische Formulierung widerspricht den in der vorliegenden Arbeit herausgearbeiteten Merkmalen eines reinen Verstandesgrundsatzes noch insofern, als in ihr der Subjektbegriff nicht der Begriff der Erscheinung ist, sondern der des Beharrlichen. Offensichtlich ist Kant aber durchaus der Meinung, dass man unter gewissen Umständen die Erscheinung selbst als eine Substanz bezeichnen kann, wie der folgende Passus zeigt: Daher können wir einer Erscheinung nur darum den Namen Substanz geben, weil wir ihr Dasein zu aller Zeit voraussetzen, welches durch das Wort Beharrlichkeit nicht einmal wohl ausgedrückt wird, indem dieses mehr auf künftige Zeit geht. (A 185 / B 228 f.)

Erscheinungen sind nach Kants Meinung demnach Substanzen, sofern sie „zu aller Zeit“ dasind, d. h., beharrlich sind. Die zuletzt gegebene Paraphrase, in welcher die Erscheinungen nur in einer nicht ganz leicht zu verstehenden adverbialen Bestimmung vorkommen, lässt sich demnach etwas deutlicher auch so reformulieren: Alle Erscheinungen, sofern sie beharrlich sind, sind Substanzen und alle Erscheinungen, sofern sie wandelbar sind, sind Akzidentien. An diesem Punkt ist somit einzusehen, dass sich an der dritten Analogie auch noch das letzte zu erwartende Merkmal eines reinen Verstandesgrundsatzes aufzeigen lässt, da sich der Subjektausdruck dieses Satzes, die Substanz, nunmehr als der Begriff der Erscheinung zu erkennen gibt, nämlich als der Begriff der beharrlichen Erscheinung. Die dritte Analogie weist somit ganz und gar die erwartete Struktur eines reinen Verstandesgrundsatzes auf, da sie sich der Sache nach als ein kategorischer Satz rekonstruieren lässt, in welchem der Begriff der Erscheinung unter die Kategorie der Gemeinschaft subsumiert wird, indem er mithilfe des korrespondierenden transzendentalen Schemas auf einen bestimmten Teil _____________ 32 Die Umformulierung des zweiten Satzes dieser Paraphrase in die kategorische Form betrachte ich als gerechtfertigt, weil der ihm entsprechende Teilsatz der Formulierung der ersten Analogie in A 182 von derselben Form ist wie der erste Teilsatz und entsprechend die für diesen erlaubte Umformung auch für jenen erlaubt sein muss.

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seiner Sphäre eingeschränkt wird. Eine Besonderheit dieser dritten Analogie besteht dabei darin, dass in ihr nicht der in seinem ganzen Umfang genommene Begriff der Erscheinung durch das Schema eingeschränkt wird, sondern dass dieses einen bereits eingeschränkten Begriff der Erscheinung, nämlich den der Substanz oder beharrlichen Erscheinung, noch weiter einschränkt. Nachdem die völlige Zusammenstimmung der Form der dritten Analogie mit der zu erwartenden Struktur eines Grundsatzes des reinen Verstandes dargelegt ist, lässt sich nun auch die völlige Zusammenstimmung der ersten Analogie mit dieser Form aufzeigen. Dazu muss nur noch gezeigt werden, dass die in den beiden Teilsätzen der ersten Analogie als Einschränkung des Subjektbegriffs der Erscheinung gebrauchten Begriffe des Beharrlichen und des Wandelbaren nichts anderes sind als die transzendentalen Schemata der Verstandesbegriffe der Substanz und des Akzidens. Für die Kategorie der Substanz findet sich diesbezüglich eine Textstelle, die an Klarheit nichts zu wünschen übrig lässt, im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft: „Das Schema der Substanz ist die Beharrlichkeit des Realen in der Zeit […].“ (A 144 / B 183) Dass das Wandelbare entsprechend das Schema der Akzidenzien ist, sagt Kant zwar nicht ausdrücklich, jedoch lässt sich diese Zuordnung wohl berechtigterweise per Analogie schließen, sofern das Wandelbare dem Beharrlichen in derselben Weise entgegengesetzt ist wie das Akzidens der Substanz. Dazu passt auch Kants Beschreibung des Wandelbaren als aufhörende und anhebende Bestimmungen, man darf ergänzen: des Beharrlichen bzw. der Substanz.33 Auch die erste Analogie der Erfahrung entspricht daher der erwarteten Form eines reinen Verstandesgrundsatzes, da sie den Begriff der Erscheinung auf der einen Seite unter die Kategorie der Subsistenz (Substanz) subsumiert, indem sie ihn mithilfe des korrespondierenden Schemas, der Beharrlichkeit, einschränkt, und da sie ihn auf der anderen Seite unter die Kategorie der Inhärenz (Akzidens) subsumiert, indem sie ihn mithilfe des entsprechenden Schemas, nämlich der Wandelbarkeit, beschränkt. Schließlich ist noch zu prüfen, ob auch die verbleibende, zweite Analogie derjenigen Struktur eines Verstandesgrundsatzes entspricht, die gemäß den bisherigen Erörterungen zu erwarten wäre. Zur leichteren Bezugnahme zitiere ich sie noch einmal im Wortlaut der ersten Auflage: Alles, was g e s c h i e h t (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf e s n a c h e i n e r R e g e l f o l g t . (A 189)

_____________ 33 Vgl. A 187 / B 230 f.: „[N]ur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen Wechsel, da einige Bestimmungen aufhören, und andre anheben.“

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In diesem Wortlaut ist ausdrücklich weder von Erscheinungen die Rede noch von Kategorien. Dennoch lässt sich zeigen, dass auch diese zweite Analogie der zu erwartenden Form eines Verstandesgrundsatzes der Sache nach exakt entspricht. Ich beginne mit der Analyse des Subjektbegriffs. Die zurückliegenden Erörterungen haben u. a. eine gewisse Besonderheit der dritten Analogie zum Vorschein gebracht. Denn der Subjektbegriff, auf welchen sie das Schema der Gemeinschaft anwendet, ist nicht unmittelbar der Begriff der Erscheinung, sondern der Begriff der Erscheinung, sofern er durch den ersten Teilsatz der ersten Analogie bereits lediglich auf einen bestimmten Umfang eingeschränkt ist, nämlich auf den Begriff der beharrlichen Erscheinung oder der Substanz. Da die erste Analogie noch genau einen weiteren Teilsatz enthält, liegt die Überlegung nahe, dass sich die verbleibende, zweite Kategorie in ähnlicher Weise auf diesen zweiten Teilsatz bezieht wie die dritte auf den ersten. Sie müsste demnach das Schema der Kausalität nicht unmittelbar auf den Begriff der Erscheinung anwenden, sondern nur insoweit, als dieser bereits eingeschränkt ist auf den Begriff der wandelbaren Erscheinung oder des Akzidens. Und tatsächlich weist der Text der zweiten Analogie recht deutlich auf den Begriff des Wandelbaren hin, sofern man die folgende Bemerkung Kants beachtet: Veränderung ist eine Art zu existiren, welche auf eine andere Art zu existiren eben desselben Gegenstandes erfolgt. Daher ist alles, was sich verändert, b l e i b e n d , und nur sein Z u s t a n d w e c h s e l t . Da dieser Wechsel also nur die Bestimmungen trifft, die aufhören oder auch anheben können: so können wir in einem etwas paradox scheinenden Ausdruck sagen: nur das Beharrliche (die Substanz) wird verändert, das Wandelbare erleidet keine Veränderung, sondern einen W e c h s e l , da einige Bestimmungen aufhören, und andre anheben. (A 187 / B 230 f.)

Das Wandelbare wird hier im Gegensatz zum Beharrlichen beschrieben als dasjenige (nämlich die Bestimmungen der Substanz), was aufhört und anhebt. Mit diesem Anheben (zu sein) erläutert auch die zweite Analogie ihr grammatisches Subjekt „Alles, was geschieht“: „Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.“ (A 189; Sperrung aufgehoben) Somit erweist sich der eigentliche Subjektbegriff dieses Satzes als der Begriff der wandelbaren Erscheinung.34 Verhältnismäßig leicht lässt sich außerdem einsehen, dass die Formulierung dieser zweiten Analogie vom Schema der Kausalität Gebrauch _____________ 34 Diese Beziehung der zweiten auf die erste Analogie macht Kant auch zu Beginn seiner Erläuterungen der zweiten explizit: „Daß alle Erscheinungen der Zeitfolge insgesammt nur Veränderungen, d. i. ein successives Sein und Nichtsein der Bestimmungen der Substanz, seien, die da beharrt, […] hat der vorige Grundsatz dargethan.“ (B 232 f.)

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macht. Denn dieses beschreibt Kant im Schematismuskapitel folgendermaßen: Das Schema der Ursache und der Causalität eines Dinges überhaupt ist das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt. Es besteht also in der Succession des Mannigfaltigen, in so fern sie einer Regel unterworfen ist. (A 144 / B 183)

Man muss an dieser Stelle beachten, dass die Kategorie der Ursache und Wirkung eine Relationskategorie ist und daher ebenso wie die Kategorie von Substanz und Akzidens in zwei Relate zerfällt. An der soeben zitierten Stelle des Schematismuskapitels gibt Kant das Schema des ersten dieser beiden Relate an, nämlich das der Ursache. Diese Ursache bezeichnet Kant ausdrücklich als „das Reale, worauf, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes folgt“. Die zweite Analogie ist dagegen aus der Perspektive des anderen Relates, der Wirkung formuliert. Dasjenige, was „anhebt zu sein“, ist gemäß der zweiten Analogie nicht dasjenige, dem etwas folgt, sondern dasjenige, das selbst einem Vorausgesetzten nach einer Regel folgt. Insofern ist die zweite Analogie einseitig formuliert. Gleichwohl geht es Kant in der zweiten Analogie natürlich um eine vollständige Bestimmung des Kausalverhältnisses, wie man auch an ihrer Formulierung in der zweiten Auflage ablesen kann: „Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.“ (B 232; Sperrung aufgehoben) Da diese zweite Analogie ein „Grundsatz der Zeitfolge“ sein soll (ebd.), muss sie freilich hinreichende Kennzeichen für beide Relate dieser Zeitfolge angeben.35 Es geht durchweg um das Verhältnis der Ursache und der Wirkung, durch welches „[a]ller Wechsel (Succession) der Erscheinungen“ (B 233; Sperrung aufgehoben) bestimmt werden soll: Der Begriff aber, der eine Nothwendigkeit der synthetischen Einheit bei sich führt, […] ist hier der Begriff des V e r h ä l t n i s s e s d e r U r s a c h e u n d W i r k u n g , wovon die erstere die letztere in der Zeit als die Folge […] bestimmt. (B 234)

Kant hebt ausdrücklich nicht nur die Begriffe der Ursache und der Wirkung hervor, sondern auch den des Verhältnisses beider. Eine einseitige _____________ 35 Man beachte, dass Kant die zweite Analogie in der ersten Auflage noch als einen „Grundsatz der Erzeugung“ versteht (A 189), was seine Fokussierung auf die Wirkung in der entsprechenden Formulierung der Analogie vielleicht erklären könnte. Die Einseitigkeit dieser Formulierung könnte auch ein Grund für die Neuformulierung dieses Grundsatzes in der zweiten Auflage sein, wenngleich diese Einseitigkeit auch nicht überbetont werden sollte. Denn die Seite der Ursache klingt durchaus auch schon in der Formulierung der ersten Auflage an, sofern ja „etwas“ vorausgesetzt wird, worauf alles, was geschieht, nach einer Regel folgt (ebd.).

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Fokussierung auf nur eines der beiden Relate liegt also sicher nicht in seiner Absicht, so dass man sich berechtigt sehen darf, die Betonung des Aspekts der Wirkung in der Formulierung der zweiten Analogie in der AAuflage durch eine entsprechende zweite Formulierung zu ergänzen, welche auch explizit den Aspekt der Ursache zum Ausdruck bringt. Außerdem wird man sich in einer um Vollständigkeit bemühten Rekonstruktion der zweiten Analogie berechtigt sehen dürfen, die in der Formulierung der A-Auflage nicht enthaltenen Kategorien zu ergänzen. Denn während Kant die zweite Analogie in der ersten Auflage lediglich unter Rückgriff auf das Schema der Wirkung formuliert, ohne ausdrücklich von einer Kategorie Gebrauch zu machen, verwendet er in der zweiten Auflage ausschließlich die Kategorien der Ursache und der Wirkung, ohne ausdrücklich von ihren jeweiligen Schemata Gebrauch zu machen. Das oben stehende Zitat macht aber den notwendigen Bezug der Kategorie zu ihrem Schema deutlich. Die Wirkung ist gerade dasjenige, was der Ursache notwendigerweise in der Zeit folgt, die Ursache das, was notwendig in der Zeit vorangeht.36 In diesem Sinne lassen sich demnach die beiden Aspekte des Wechsels der Erscheinungen als durch die Kategorien der Ursache und der Wirkung bestimmt denken und, die beiden Formulierungen der A- und B-Auflage (A 189 und B 232) mit der Formulierung des Schemas der Ursache (A 144 / B 183) verbindend, in folgenden Sätzen ausdrücken: Jede wandelbare Erscheinung, sofern sie das Reale ist, welchem, wenn es nach Belieben gesetzt wird, jederzeit etwas anderes nach einer Regel folgt, ist eine Ursache und jede wandelbare Erscheinung, sofern sie das Reale ist, welches, wenn ein anderes nach Belieben gesetzt wird, diesem jederzeit nach einer Regel folgt, ist eine Wirkung. Diese Rekonstruktion der zweiten Analogie der Erfahrung weist die den vorliegenden Untersuchungen gemäß zu erwartende Struktur auf, wonach in einem kategorischen Satz der durch ein transzendentales Schema eingeschränkte Begriff der Erscheinung unter die entsprechende Kategorie subsumiert wird. Diese Struktur ergibt sich dabei nicht aus der Analyse einer einzigen, sondern nur aus dem Zusammenhang einer Reihe von Textstellen. Aufgrund seiner Komplexität ist es vielleicht hilfreich, diesen Zusammenhang noch einmal rückblickend zu erläutern. _____________ 36 Hier zeigt sich somit für beide Glieder des Kausalverhältnisses, inwiefern ihre Schemata „nichts als Zeitbestimmungen a priori nach Regeln“ sind (A 145 / B 184 f.; Sperrung aufgehoben). – Dass der Zusammenhang zwischen Kategorie und Schema durchaus begründungsbedürftig ist, bemerkt ganz richtig Allison, Idealism, S. 218, und versucht in Ermangelung einer entsprechenden Argumentation bei Kant, zumindest für den Zusammenhang der Relationskategorien mit ihren Schemata eine entsprechende Begründung zu rekonstruieren (ebd., S. 218 ff.).

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Zunächst ließ sich aufgrund einer längeren Analyse der in der zweiten Analogie in der Formulierung der A-Auflage gebrauchte Subjektbegriff, „Alles, was geschieht“, als der Begriff der wandelbaren Erscheinung identifizieren (vgl. S. 92). Sodann erwies sich der Begriff eines regelmäßig Folgenden als das Schema der Kategorie der Wirkung sowie der Begriff des Realen, worauf jederzeit etwas nach einer Regel folgt, als das Schema der Kategorie der Ursache (vgl. S. 93). Des weiteren ergibt sich aus der Bestimmung des in der Zeit Folgenden (mithin dem Schema der Kategorie der Dependenz) als Wirkung (vgl. B 234, s. S. 93), dass die Erscheinung, sofern sie unter dieses Schema subsumiert wird, zugleich unter die Kategorie der Wirkung subsumiert wird. Diese Subsumtion unter die Kategorie drückt sich auch, allerdings ohne die Vermittlung durch das Schema, in der Formulierung der zweiten Analogie der zweiten Auflage aus (B 232). Schließlich geht aus dieser Formulierung der zweiten Auflage auch hervor, dass die Analogie Regeln für beide Relate des Verhältnisses von Ursache und Wirkung angeben muss, weshalb die vornehmlich auf den Aspekt der Wirkung abstellende Formulierung der ersten Auflage um einen auf die Kategorie der Ursache zielenden Passus zu ergänzen ist (vgl. S. 94). Mit der Rekonstruktion der zweiten Analogie als kategorischen Satz, in welchem die durch das transzendentale Schema eingeschränkte Erscheinung unter die entsprechende Kategorie subsumiert wird, erweist sich somit auch die letzte Analogie als derjenigen Struktur entsprechend, welche in der vorliegenden Arbeit als kennzeichnend für die Grundsätze des reinen Verstandes herausgestellt wurde. Die Analogien der Erfahrung (sowie auch weitgehend die Postulate des empirischen Denkens) bestätigen die Erwartung, die sich aus der Analyse von Kants Kennzeichnung der Verstandesgrundsätze in den Prolegomena (vgl. AA IV 302) und der Analyse seines Subsumtionsbegriffs ergibt. Demnach sind die Grundsätze des reinen Verstandes kategorische Sätze, in welchen der Begriff der Erscheinung allgemein unter eine bestimmte Kategorie subsumiert wird, indem das korrespondierende Schema ihn auf einen Teil seiner Sphäre einschränkt. Gemäß dieser Struktur lassen sich nun die Axiome der Anschauung in ihrem Wortlaut rekonstruieren, da ja bereits im ersten Teil dieser Arbeit die transzendentalen Schemata der Kategorien der Größe herausgearbeitet wurden. Die Axiome der Anschauung müssen daher lauten: 1. Jede Erscheinung, deren Anschauung durch die „Fortsetzung der productiven Synthesis einer gewissen Art“ (A 170 / B 212) erzeugt wird, ist ein Quantum (continuum), d. h. eine Einheit. 2. Jede Erscheinung, deren Anschauung durch „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212) erzeugt wird, ist ein Kompositum, d. h. eine Vielheit.

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3. Jede Erscheinung, deren Anschauung durch die vollendete „Wiederholung einer immer aufhörenden Synthesis“ (A 170 / B 212) erzeugt wird, ist ein Totum, d. h. eine Allheit. An diesen Axiomen der Anschauung zeigt sich, ebenso wie an den Analogien der Erfahrung, inwiefern die Transzendentalphilosophie „außer der Regel […], die in dem reinen Begriffe des Verstandes gegeben wird, zugleich a priori den Fall anzeigen kann, worauf sie angewandt werden [soll]“.37 Denn in der Transzendentalphilosophie lässt sich nicht nur zeigen, dass es eine bestimmte Menge von reinen Verstandesbegriffen („Regeln“) gibt, wie die Metaphysische Deduktion der Kategorien darlegt, und dass diesen Begriffen nur insofern objektive Gültigkeit zukommt, als sie auf Erscheinungen angewandt werden, wie die Transzendentale Deduktion der Kategorien darlegt. Vielmehr kann die Transzendentalphilosophie in Form der transzendentalen Schemata auch „zugleich die Bedingungen, unter welchen Gegenstände in Übereinstimmung mit jenen Begriffen [scil. den Kategorien] gegeben werden können, in allgemeinen, aber hinreichenden Kennzeichen darlegen“ (A 135 f. / B 175) und somit in den Grundsätzen des reinen Verstandes „a priori den Fall anzeigen […], worauf sie [scil. die Kategorien] angewandt werden sollen“ (A 135 / B 174 f.). Das heißt, es lässt sich a priori anzeigen, welcher Art von Synthesis die Erscheinungen gemäß sein müssen, wenn sie unter eine bestimmte Kategorie subsumiert werden. An dieser Stelle liegt aber auch zugleich die Grenze der Transzendentalphilosophie. Sie kann a priori nur notwendige Arten der Synthesis der Erscheinung anzeigen. Die Erscheinung selbst, als empirische Vorstellung, kann a priori nicht gegeben werden. Die Grundsätze des reinen Verstandes geben daher zwar „den Begriff, der die Bedingung […] zu einer Regel überhaupt enthält, Erfahrung aber giebt den Fall, der unter der Regel steht“ (A 159 / B 198).

_____________ 37 A 135 / B 174 f. Im Originaltext findet sich der Plural „sollen“ statt „soll“. Ich folge hier einer Konjektur Görlands und Erdmanns (vgl. den kritischen Apparat der Meiner-Ausgabe der KrV, S. 238), da sich im Kontext kein Plural findet, auf den sich „sollen“ beziehen könnte, es sei denn, Kant bezieht das Pronomen „sie“ etwas ungewöhnlich zurück auf den Ausdruck „Regeln“, der in einer oben ausgesparten und den Ausdruck „Regel“ erläuternden Klammer vorkommt: „(oder vielmehr der allgemeinen Bedingung zu Regeln)“. So zumindest verstehen diese Stelle auch Guyer und Wood in ihrer Übersetzung (vgl. Critique, S. 269). In beiden Auslegungen ergibt sich allerdings der Sachverhalt, dass eine bzw. mehrere Regeln auf einen gewissen Fall angewandt werden können.

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