Kants Kritik der reinen Freiheit: Eine Erörterung der »Metaphysik der Sitten« [1 ed.] 9783428519729, 9783428119721

Eine 'Metaphysik der Sitten' scheint zunächst innerhalb einer Kritik der Vernunft nur schwer ihren Ort zu find

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Kants Kritik der reinen Freiheit: Eine Erörterung der »Metaphysik der Sitten« [1 ed.]
 9783428519729, 9783428119721

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Philosophische Schriften Band 65

Kants Kritik der reinen Freiheit Eine Eröterung der ,Metaphysik der Sitten‘ Von Georg Römpp

Duncker & Humblot · Berlin

GEORG RÖMPP

Kants Kritik der reinen Freiheit

Philosophische Schriften Band 65

Kants Kritik der reinen Freiheit Eine Erörterung der »Metaphysik der Sitten'

Von Georg Römpp

Duncker & Humblot • Berlin

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2006 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-11972-X Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Es hat den Interpreten stets Schwierigkeiten bereitet, den gedanklichen Ort des Unternehmens einer ,Metaphysik der Sitten4 im Denkzusammenhang einer kritischen Umgrenzung der Leistungsfähigkeit reiner Vernunft zu bestimmen. Dies ist um so weniger erstaunlich, als schon der Status einer »Metaphysik der Sitten' im Rahmen einer Ethik, die nur Vernunft in Gestalt des Universalisierungsprinzips in Anspruch nehmen will, ein nicht befriedigend gelöstes Problem darstellt. Aber diese Ethik wird in einem Werk ausgearbeitet, das die Grundlegung zu einer Metaphysik der Sitten zu geben beansprucht, und die Umgrenzung der Vernunft dieser Ethik wird in einer Kritik durchgeführt, die die Vernunft in der Dimension der Freiheit untersucht, deren positiver Begriff bestimmt wird im Ausgang von ihrem negativen Begriff, wie er sich aus der Untersuchung der Vernunft in der Dimension der Notwendigkeit ergeben hat. Daraus legt sich zumindest die Vermutung nahe, die »Metaphysik der Sitten4 müsse aus einem systematischen Zusammenhang mit der Ethik der kategorisch-imperativischen Demonstration von Freiheit und über diese Ethik aus einem systematischen Zusammenhang mit dem Projekt einer Kritik der reinen Vernunft verstanden werden können. Diese Vermutung wird durch Kants Verweise auf eine juridische Verfassung der theoretischen Vernunft unterstützt, und es gibt guten Grund zu der Annahme, Kant verwende juridische Begriffe nicht nur metaphorisch, sondern mit der Intention einer Reflexion auf das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft. Mit dieser Reflexion stellt sich der systematische Zusammenhang der »Metaphysik der Sitten4 - zunächst mit Bezug auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre mit dem Projekt einer kritischen Umgrenzung der reinen Vernunft jedoch anders gerichtet dar, als zunächst zu vermuten war. Die »Metaphysik der Sitten4 scheint ihren gedanklichen Ort nicht - oder zumindest nicht nur - als Entwicklung oder notwendige Folge der Vernunftkritik zu finden, sondern als eine Reflexion auf diese Kritik, mit der Kant Strukturbedingungen des kritischen Projektes erhellen will. Nun entwickelt Kant in der »Metaphysik der Sitten4 nicht nur Metaphysische Anfangsgründe der Rechts-, sondern auch der Tugendlehre. Aber auch mit Bezug auf die letztere verweist er auf einen systematischen Zusammenhang mit der Bestimmung der Leistungsfähigkeit reiner Vernunft, und dieser Verweis ordnet die Tugendlehre in die juridische Reflexion auf die Vernunftkritik ein. Die Einsetzung der Vernunft als Gerichtsinstanz und die Grundregeln von deren Entscheidungen sollen demnach geleitet sein durch die Bestimmung des Menschen und seinen Endzweck, an dem er ein notwendiges Interesse nimmt. Von Zwecken und Interessen muß aber in der Dimension der Ethik, die in der »Grundlegung zur Metaphysik der

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Vorwort

Sitten' und in der »Kritik der praktischen Vernunft* begründet wird, abstrahiert werden. In der »Metaphysik der Sitten4 dagegen wird eine ethische Dimension eröffnet, in der gerade Zwecke und Interessen konstitutive Bedeutsamkeit gewinnen. Der systematische Zusammenhang der »Metaphysik der Sitten4 - nun mit Bezug auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre - mit dem Projekt einer kritischen Umgrenzung der reinen Vernunft stellt sich demzufolge wiederum anders gerichtet dar, als zunächst zu vermuten war. Auch mit Blick auf die Tugendlehre scheint die »Metaphysik der Sitten4 ihren gedanklichen Ort nicht - oder zumindest nicht nur - als Entwicklung oder notwendige Folge der Vernunftkritik zu finden, sondern als eine Reflexion auf die Strukturbedingungen des kritischen Projekts. In seiner juridischen Reflexion auf die Vernunftkritik versucht Kant demnach, die Einsetzung der Vernunft als Gerichtsinstanz durch den notwendig interessierenden Endzweck und die Bestimmung des Menschen zu verstehen. Diese Einsetzung leitet die Entscheidungen der Kritik und führt die durch die Kritik hindurchgegangene Vernunft in einen ,status civilis 4 , in dem über die in Verbindung mit dem Status der Vernünftigkeit erhobenen Erkenntnisansprüche so entschieden werden kann, daß die Vernunft in Übereinstimmung mit sich selbst bleibt. In ein Verhältnis der Übereinstimmung mit sich selbst kann die Vernunft aber nur gelangen, wenn sie sich zuvor von sich unterschieden hat. Es legt sich deshalb die Vermutung nahe, die Einsetzung der Vernunft als Gerichtsinstanz müsse ebenso als Grundlage einer Unterscheidung der Vernunft von sich angesehen werden können, die sie zur Selbstkritik und zum Übergang in den status civilis befähigt, und die nur als Selbstunterscheidung stattfinden kann. Wenn die Einsetzung der Vernunft als Gerichts- und Kritikinstanz nun vom Endzweck und der Bestimmung des Menschen geleitet sein soll, so legt sich weiter die Vermutung nahe, auch die Selbstunterscheidung der Vernunft, die ihre Selbstkritik ermöglicht, müsse ihren Ursprung in der praktischen Philosophie der Dimension der ,Metaphysik der Sitten4 finden und hänge damit von Gedanken ab, die eine Dimension der Moralität verständlich machen, in der in Recht und Tugend Freiheit nicht allein in Gesinnungen, sondern auch in Handlungen und Unterlassungen demonstriert werden kann. Eine solche Selbstunterscheidung der Vernunft gelingt nur dann, wenn die Vernunft sich auf diese Weise einen Gedanken integrieren kann, mit dem sie sich unabhängig von sich selbst macht. Soll dieser Gedanke aber selbst vernünftig begründet sein, so reproduziert sich das Problem offensichtlich: die Vernunft integriert sich zwar eine Unabhängigkeit von sich, durch die sie sich aufgrund der Indisponibilität ihrer Selbstunterscheidung (selbst-)kritikfähig macht, aber diese Unabhängigkeit von sich bleibt ihr selbst disponibel, so daß nur eine disponible Indisponibilität erreicht ist. Dafür findet Kant zwei Lösungen. Zum einen soll in der »Metaphysik der Sitten4 die Vernünftigkeit der Aufnahme des Nicht-Vernünftigen in die Ethik der Vernunft erwiesen werden. Zum anderen wird der Anspruch einer Aufklärung über die Selbstunterscheidung der Vernunft so formuliert, daß nicht erklärt werden muß, wie und warum diese Differenz zustandekommt, sondern nur, in wel-

Vorwort

eher Konstellation oder Struktur sie bestehen kann - es wird also nicht die Differenz als solche zu verstehen gesucht, sondern nur ihre innere Form. Der gedankliche Ort der moralischen Dimension der »Metaphysik der Sitten4, in der es um die Demonstration der Freiheit durch Handlungen und Unterlassungen geht, im Denkzusammenhang einer kritischen Umgrenzung der Leistungsfähigkeit reiner Vernunft kann demnach bestimmt werden durch die Interpretation der zentralen Gedankengänge von Rechts- und Tugendlehre als Strukturen der inneren Form einer Selbstunterscheidung der Vernunft von sich, durch die sie das kritische Selbstverhältnis ihrer Grenzbestimmung in der gedanklichen Entwicklung einer »Kritik der reinen Vernunft 4 einnehmen kann. Diese Interpretation ist das Programm der folgenden Erörterung der ,Metaphysik der Sitten4 als Kants Ausarbeitung einer Kritik der reinen Freiheit. Bonn, im Sommer 2005

Georg Römpp

Inhaltsverzeichnis

A. Einleitung

13

I. Die Vernunft als Kritik und die »Metaphysik der Sitten4

13

II. Das Paradox der Selbstkritik und die Vernunft als Gericht

24

Exkurs: Positionen einer juridischen Interpretation der theoretischen Philosophie

B. Die Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit I. Die reine Freiheit als individuelle Eleutheronomie II. Das Factum der Vernunft und die Tat der Person

31

47 47 59

III. Die reine Freiheit und der Gegenstand der Kantischen Philosophie des Rechts ..

71

IV. Rechts- und Tugendlehre als Kritik der reinen Freiheit

77

Exkurs: Über das Metaphysische in der »Metaphysik der Sitten'

C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch I. Die Verbindlichkeit einer freien Handlung II. Die Person und ihre Tat

84

93 93 100

III. Tatfreiheit und Maximenfreiheit

106

IV. Der moralische Begriff des Rechts

109

V. Der rechtliche Mensch und sein vernünftiger Selbstzweck VI. Das Subjekt und sein Mein und Dein

117 121

10

Inhaltsverzeichnis

D. Rechtsverhältnis und Rechtsgeltung I. Die Person und ihr rechtlich Eigenes II. Die Konstitution des Rechts in der Selbstdifferenzierung des Subjekts

126 126 132

III. Die »private' Konstitution des Rechtsverhältnisses und die ,provisio' auf den bürgerlichen Zustand 135 IV. Das Prinzip des Richters und der Beginn des Rechtsverhältnisses V. Der Staat und die Demonstration der Freiheit im Rechtsverhältnis

141 147

VI. Wider den Kontraktualismus: der Rechtszustand als Konstitutionsbedingung von Personalität 156

E. Die Freiheit im äußeren Selbstverhältnis I. Recht und Tugend und die Notwendigkeit einer freien Handlung II. »Fortitudo moralis' und Pflichtzwecke III. Tugendpflichten und die Selbsterzeugung der Freiheit in der Welt

165 165 171 175

IV. Der Ursprung der Tugendpflichten in der Basisargumentation der Kantischen Ethik 181 V. Die Tugend und die autopoietische Konstitution des Menschen als Subjekt

F. Freiheit und Selbstverpflichtung

188

193

I. Die Antinomie der Pflichten gegen sich selbst und die Autonomie des Selbstverhältnisses 193 II. Die Pflichten gegen sich selbst und die Selbstauffassung als animalisches und moralisches Wesen 198 III. Selbstverpflichtung und Freiheit in der Animalität: das Problem des Suizids

203

IV. Selbstverpflichtung und Freiheit in der Moralität: das Problem der Lüge

208

V. Der innere Richter und der Beginn des Selbstverhältnisses VI. Das Prinzip der Verpflichtetheit und die Pflichten gegen Andere

217 222

Inhaltsverzeichnis G. Die Kritik der reinen Freiheit als Denken der Differenz des Bewußtseins I. Die kritizistische Aufgabe und der Gedanke der Differenz II. Die Situierung des Denkens der Differenz

11 229 229 236

III. Die Differenz als Differenzierung des Bewußtseins

244

IV. Das »Ich denke' und das ,Meine'

252

V. Die Possessivität »meiner' Vorstellungen H. Rückblick: Der Status einer Kritik der reinen Freiheit I. Die Architektonik des juridischen Modells der Vernunftkritik

258 269 269

II. Die Konstitution des »mein' und die Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts 273 III. »Meine Vorstellungen' im apperzeptiven Selbstverhältnis und die Konstitution von Subjektivität aus Freiheit 282 IV. Die Kritik der reinen Vernunft aus der Perspektive der Kritik der reinen Freiheit

290

Zusammenfassung

302

Literaturverzeichnis

305

Sachwortverzeichnis

316

A. Einleitung I. Die Vernunft als Kritik und die ,Metaphysik der Sitten' „Man kann die Kritik der reinen Vernunft als den wahren Gerichtshof für alle Streitigkeiten derselben ansehen; denn sie ist in die letzteren, als welche auf Objecte unmittelbar gehen, nicht mit verwickelt, sondern ist dazu gesetzt, die Rechtsame der Vernunft überhaupt nach den Grundsätzen ihrer ersten Institution zu bestimmen und zu beurtheilen. Ohne dieselbe ist die Vernunft gleichsam im Stande der Natur und kann ihre Behauptungen und Ansprüche nicht anders geltend machen oder sichern, als durch Krieg. Die Kritik dagegen, welche alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt, deren Ansehen keiner bezweifeln kann, verschafft uns die Ruhe eines gesetzlichen Zustandes, in welchem wir unsere Streitigkeit nicht anders führen sollen, als durch Proceß." (B 779)1

Mit dieser Aufgabenbestimmung des kritischen Unternehmens in der ,Methodenlehre' als dem zweiten Hauptteil der ,Kritik der reinen Vernunft', in dem im Unterschied zur ,Elementarlehre' nicht vom Inhalt, sondern von der Methode der Erkenntnis gehandelt werden soll, bezeichnet Kant als eine Ebene der juridischen Statusbestimmung der Kritik der reinen Vernunft die Friedensstiftung durch gerichtliche Verhandlung. Die Kritik ist auf dieser Ebene der Übergang vom status naturalis zum status civilis, also von der Durchsetzung von Ansprüchen durch Krieg zum gesetzlichen Zustand, in dem die »Sentenz' die Streitigkeiten zur ,Ruhe' bringt. Der Grund für diese Fähigkeit der Vernunft in ihrem gesetzlichen Status, in dem sie als Gerichtshof fungiert und Sentenzen fällt, soll zunächst darin liegen» daß sie gerade und nur in dieser Funktion „die Quelle der Streitigkeiten selbst trifft" (B 780). Dies läßt sich unmittelbar aus der Aufgabenstellung einer Kritik der reinen Vernunft verstehen: wenn die Leistungsfähigkeit und die Grenzen der Vernunft bestimmt sind, so ist bekannt, was sie ist, und es kann in jedem einzelnen Fall entschieden werden, ob es sich bei einer Behauptung bzw. einem Anspruch um eine Realisierung reiner Vernunft handelt oder nicht. Aber die „Ruhe eines gesetzlichen Zustandes", zu dem die kritisierte und so in ihren Grenzen bestimmte Vernunft führen soll, beruht nach Kants Worten auch darauf, daß diese Kritik „alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Ein1

Kants Werke werden nach der Akademieausgabe zitiert (= AA); die Kritik der reinen Vernunft jedoch nach den Originalausgaben (B bzw. A); Abkürzungen: G = Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (= AA Bd. IV), KpV = Kritik der praktischen Vernunft (= AA Bd. V), MdS = Metaphysik der Sitten (= AA Bd. VI). Seitenzahlen ohne weitere Kennzeichnung beziehen sich stets auf die Metaphysik der Sitten.

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A. Einleitung

Setzung hernimmt" (B 779) - also aus den Grundregeln ihrer Einsetzung als Gerichtshof und damit als Kritikinstanz, anders gesagt: die Regeln, durch die die Vernunft von der »forschenden 4 zur »prüfenden 4 (B 772) und damit zur „höheren und richterlichen Vernunft 44 (B 767) wird, sollen ihr gleichzeitig die Fähigkeit verleihen, jenen gesetzlichen Zustand zu erzeugen, in dem die Streitfragen der Vernunft nicht durch Krieg, sondern durch ,Prozeß4 entschieden werden. Wenn der status civilis der Vernunft darauf zurückgeht, daß die Vernunftkritik ihre Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer Einsetzung als Kritikinstanz hernimmt, so muß die Vernunft den ,Krieg 4 deshalb durch den »Prozeß4 ersetzen können, weil ihre Einsetzung als Kritikinstanz eo ipso solchen Regeln folgt, die die Tätigkeit und den Erfolg dieser Kritik in Richtung status civilis präjudizieren. Die Behauptung lautet demnach, durch ihre bloße Einsetzung als Kritikinstanz seien die Entscheidungsregeln der sich kritisierenden Vernunft so bestimmt, daß die nach diesen Regeln erzeugten Entscheidungen einen status civilis der Vernunft konstituieren, in dem der ,Krieg 4 durch juridische Prozesse nach dem Muster des Gerichtsverfahrens ersetzt ist. Die Einsetzung als Kritikinstanz generiert also Regeln, die zu solchen Entscheidungen führen, durch die die Vernunft in ihrer Funktion als Gerichtshof den Übergang vom status naturalis zum status civilis der Vernunft konstituiert. Kant verbindet in der,Methodenlehre 4 die Legitimation der Entscheidungskompetenz der Vernunft als Gerichtshof aus den ,Grundregeln ihrer Einsetzung4 als eine solche Instanz schließlich mit der Unterscheidung zwischen dem »Schulbegriff 4 und dem ,Weltbegriff 4 der Philosophie - eine Unterscheidung, die ohne den inneren Zusammenhang dieser beiden Begriffe nicht bestünde. Als Schulbegriff ist die Philosophie der Begriff „von einem System der Erkenntnis, die nur als Wissenschaft gesucht wird, ohne etwas mehr als die systematische Einheit dieses Wissens, mithin die logische Vollkommenheit der Erkenntnis zum Zwecke zu haben.44 (B 866) Nach ihrem Weltbegriff dagegen bezieht sich Philosophie auf das, „was jedermann nothwendig interessirt" (B 867, Anm.), und sie ist „die Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft 44 (B 867). Jener Schulbegriff ist nun zwar der Begriff einer Philosophie, die nur ,gesucht4 wird und nirgends anzutreffen ist, aber er ist auch der Begriff des »Urbildes4 in der »»Beurtheilung aller Versuche zu philosophiren" (B 866). Es ist der Begriff der systematischen Philosophie, und systematische Einheit ist das Kriterium, das „gemeine Erkenntnis44 allererst zur „Wissenschaft 44 macht, in der unsere Erkenntnis unter der „Regierung der Vernunft 44 steht, die über die „Idee44 als „Vernunftbegriff von der Form eines Ganzen44 verfügt, „so fern durch denselben der Umfang des Mannigfaltigen sowohl, als die Stelle der Theile untereinander a priori bestimmt wird. 44 (B 860) Ein Schulbegriff muß die Philosophie nach ihrer höchsten Bestimmung bleiben, weil sie als „System aller philosophischen Erkenntnis44 doch nur „eine bloße Idee von einer möglichen Wissenschaft 44 darstellt. Nichtsdestoweniger würde der „Lehrer im Ideal44, der die philosophische Erkenntnis nach ihrem Systembegriff mit ihrem vernünftigen Zweckbegriff vereint, allein »Philosoph4 heißen können.

I. Die Vernunft als Kritik und die »Metaphysik der Sitten4

15

Der Weltbegriff der Philosophie rechtfertigt sich nun aus einer doppelten Beziehung zu diesem Urbild. Zum einen wird die Idee einer Gesetzgebung durch den „Lehrer im Ideal" „allenthalben in jeder Menschenvernunft" angetroffen (B 867), und deshalb kann es genügen, die Philosophie nach ihrem Weltbegriff - also als Wissenschaft von der Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft - heranzuziehen, um wenigstens ihre Architektonik als „systematische Einheit aus dem Standpunkte der Zwecke" zu bestimmen (B 868). Zum anderen aber hat dieser Weltbegriff der Benennung der Philosophie „jederzeit zum Grunde gelegen" (B 866), so daß aus ihm auch der Schulbegriff der Philosophie als systematischer Erkenntnis zu verstehen sein muß. Der Schulbegriff ist also ein Urbild, das in jeder Menschenvernunft angetroffen wird, eine Idee, der sie sich zu nähern sucht, aber dieser Begriff ist doch auch in sich an den Weltbegriff verwiesen, der ihm immer schon zum Grunde gelegen hat. Deshalb ist der Übergang vom Schulbegriff zum Weltbegriff gleichzeitig die Demission der „Regierung der Vernunft" (B 860), unter der alle Erkenntnisse philosophischen Status durch ihre systematische Einheit nach einer Idee gewinnen würden, zugunsten einer »konstitutionellen1 Vernunft, mit der durch den Philosophen als „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft" (B 867) der status naturalis verlassen und der status civilis der Vernunft erreicht wird, in dem Streitfragen nicht durch »Krieg4, sondern nach dem Modell des Gerichtsverfahrens entschieden werden. Das Verhältnis des Schulbegriffs zum Weltbegriff der Philosophie ist also durch den Übergang von einer exekutivischen bzw. gouvernementalen zu einer legislatorischen bzw. judikativischen Vernunftkonzeption gekennzeichnet, wobei Gesetzgebung und Rechtsprechung durch die Notwendigkeit der Setzung verbindlicher Regeln zur gerichtsförmigen Entscheidungsfindung zu einer inneren Einheit zusammengefaßt werden können. Wenn die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft auf dem Spiele stehen, muß die Vernunft demnach als ,Regierung4 abdanken und sich auf die Generierung von Gesetzesnormen für Gerichtsverfahren mit bindender Wirkung zur Streitentscheidung beschränken. Gerade um der wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft willen darf die Vernunft nur den Status einer Garantieinstanz für den status civilis in Vernunftangelegenheiten annehmen. Auf dieser Freiheit der prüfenden Vernunft beruht die Existenz der Vernunft (B 766). Aus diesem Verhältnis bestimmt Kant nun den juridischen Begriff des Philosophen nach dem Weltbegriff als „Gesetzgeber der menschlichen Vernunft 44 (B 867). Als gesetzgebend tritt die Vernunft also auf, wenn und insofern es in der Philosophie um die »»Beziehung aller Erkenntnis auf die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft 44 (B 867) geht und damit um das, was jedermann notwendig interessiert. Wenn wir dies mit jenem »gesetzlichen Zustand4 der Vernunft verbinden, der aus der Kritik der Vernunft deshalb entsteht, weil sie ihre Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung als kritische Instanz „hernimmt 44 (B 779), so ergibt sich, daß die Vernunft nach einem juridischen Modell aufgefaßt wird, wenn sie in der Differenz zum Idealbegriff der Philosophie als System und

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A. Einleitung

Einheit unter einer Idee zur „Menschenvernunft" (B 867) im Weltbegriff der Philosophie depotenziert wurde, und daß jene Grundregeln ihrer Einsetzung als Kritikinstanz, aus denen sich die Fähigkeit der Vernunft zur Gründung eines status civilis in Vernunftsachen ableitet, gerade solche Regeln sein müssen, die eine Beziehung aller Erkenntnis auf das, was jedermann notwendig interessiert, konstituieren. Die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft müssen demnach in einer engen Beziehung zu jenen Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz stehen, aus denen die Kritik alle die Entscheidungen hernimmt (B 779), durch die sie den status naturalis des Vernunftkrieges in den status civilis gerichtsförmiger Verfahren transformiert. Wenn nun diese wesentlichen Zwecke den gouvernementalen Schulbegriff einer systematischen Philosophie unter dem ,szientifischen Vernunftbegriff' (B 860) in den Weltbegriff einer gesetzgebenden und darum selbstkritischen Philosophie überführen, und jene Grundregeln, aus denen die kritische Vernunft ihre Entscheidungen hernimmt, gerade die Regeln ihrer Einsetzung als einer kritischen Instanz darstellen, so legt sich die Identifizierung dieser Grundregeln ihrer Einsetzung mit jenen wesentlichen Zwecken der menschlichen Vernunft nahe. Dieser Zusammenhang muß sich letztlich daraus legitimieren, daß gerade diese Zwecke die leitenden Regeln sowohl der Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz als auch ihrer Entscheidungen in der Gesetzgebung zum status civilis der Vernunft abgeben können. Als die wesentlichen Zwecke der menschlichen Vernunft, in deren Verfolgung der Philosoph vom ,Vernunftkünstler 4 zum »Vernunftgesetzgeber 4 wird und sein Geschäft unter dem Weltbegriff statt unter dem Schulbegriff betreibt, nennt Kant „die ganze Bestimmung des Menschen44 einschließlich der Zwecke, die als Mittel notwendig zu diesem Endzweck gehören (B 868). Die Philosophie, in der es um die Bestimmung des Menschen geht, ist die Moralphilosophie. Wegen dieser Aufgabe wird der Moralphilosophie der Vorzug „vor aller anderen Vernunftbewerbung44 zugeschrieben (B 868). Kant geht an dieser Stelle nicht näher auf die ausgezeichnete Stellung der Moralphilosophie für die Depotenzierung der systematischen und szientifischen Philosophie des Schulbegriffs zu der auf die wesentlichen Zwecke menschlicher Vernunft bezogenen Philosophie des Weltbegriffs und für die darin implizierte Ermächtigung der Philosophie zur kritischen Vernunftgesetzgebung ein. Aber der Hinweis auf die „Selbstbeherrschung durch Vernunft 44, deren äußerer Schein sogar per analogiam den Titel »Philosoph4 evoziere, reicht vor dem Hintergrund der Grundlinien der Kantischen Moralphilosophie doch aus, um zu erkennen, was Kant bei der Herausstellung dieses Zusammenhangs im Sinn haben mußte. Das Moralprinzip des kategorischen Imperativs, der sich für den sinnlichen Menschen als Pflicht und damit als Gebot zur vernünftigen Herrschaft über die innere Natur darstellt, kann für ein Verständnis dieses Zusammenhangs allerdings nicht ausreichen, weil es in der Bestimmung der Vernunft als Kritikinstanz um Zwecke geht - um das, was jedermann notwendig interessiert, weil darin nicht we-

I. Die Vernunft als Kritik und die »Metaphysik der Sitten4

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niger als die ganze Bestimmung des Menschen auf dem Spiele steht. In der Begründung des Moralprinzips mußte von Zwecken und Interessen ausdrücklich abgesehen werden, um nur die Vernunft in Gestalt der Gesetzesförmigkeit von Maximen heranzuziehen und auf alle nicht apriorisch ausweisbaren Elemente verzichten zu können. Wenn Kant nun die Moral als Philosophie über die ganze Bestimmung des Menschen, die ihn als Endzweck notwendig interessiert, für die Erhellung der Einsetzung der Vernunft als Kritik - bzw. für die Regeln dieser Einsetzung, aus denen sie ihre Entscheidungen hernimmt - heranziehen will, so kann das Moralprinzip der »Grundlegung4 und der,Kritik der praktischen Vernunft 4 also nicht ausreichen, um dieser Aufgabenstellung zu entsprechen. Die Zwecke und die Bestimmung des Menschen gewinnen aber in der Ausarbeitung der Kantischen Moralphilosophie eine zentrale Bedeutung, für die jene »Grundlegung4 das Fundament legen sollte: in der,Metaphysik der Sitten4, und hier insbesondere in der,Tugendlehre 4. Daraus läßt sich die Vermutung ableiten, gerade und nur in der Dimension der Moral, von der die ,Metaphysik der Sitten4 handelt, könnten jene Regeln der Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz untersucht und begründet werden, die zugleich die Entscheidungen dieser Instanz präjudizieren und die von Kant in der ,Methodenlehre4 der transzendentalen Kritik vom Endzweck und der Bestimmung des Menschen abhängig gemacht werden. Nun geht es in der »Metaphysik der Sitten4 nicht um die im Inneren des moralischen Bewußtseins bleibende Bestimmung moralkonformer Maximen per Universalisierungsprüfung, von deren Eingang in die Motivationsstruktur des Handelnden nicht einmal dieser selbst Gewißheit erlangen kann. Das Gemeinsame der Lehren von Recht und Tugend ist die »Äußerlichkeit4 der darin als direkt oder indirekt moralisch ausgezeichneten Dimension - es geht um die Moralität von Handlungen und Unterlassungen statt von Gesinnungen. Dem Recht kommt moralische Dignität zu, weil es eine ethisch begründbare Forderung ist, mit anderen Menschen in einen rechtlichen Zustand einzutreten, so daß auch positiv-rechtliche Normen einen ethischen Gehalt aufweisen, auch wenn ihre Befolgung durch staatliche Sanktionsdrohungen und nicht durch moralische Gesinnung motiviert wird. Die Tugenden werden als Pflichten bezeichnet, obwohl sie durch Zwecksetzungen bestimmt sind und die Innerlichkeit des reinen Wollens überschreiten. Der gute Wille muß sich also in Taten oder Unterlassungen zeigen, die sich zum einen auf die Freiheit und die Personalität anderer Menschen und zum anderen auf das moralische Subjekt selbst als Person in ihrer Moralität und Animalität beziehen. Wenn die Vernunft durch den Weltbegriff der Philosophie aus der Dimension der Moral als Kritik eingesetzt wird, so liegt es nahe, diese Moral nicht in der Güte eines reinen Willens zu suchen, sondern in dem Willen, wie er sich in der Welt manifestiert, in der er zwar nicht als reiner, aber doch als Wille und damit mit prinzipiell moralischer Bestimmung auftreten können muß. Sollen sich die entscheidungsleitenden Regeln der Einsetzung der Vernunft als kritischer Instanz also mit dem Übergang vom Schulbegriff zum Weltbegriff der Philosophie ergeben, in 2 Römpp

18

A. Einleitung

dem sie sich mit dem Endzweck und der ganzen Bestimmung des Menschen beschäftigt, die jedermann notwendig interessiert, so legt sich eine Orientierung an der Moralphilosophie der »Metaphysik der Sitten4 nahe, weil die Moralität hier nicht auf die Bedingungen der reinen Güte eines Willens eingeschränkt auftritt, sondern sich als Wirklichkeit in der Welt manifestiert. Auf den Willen aber bleibt die Moralität auch in ihrem weltlichen Auftreten bezogen, indem dessen Reinheit auch unter den Bedingungen seiner Darstellbarkeit in der Welt nicht dementiert werden darf, wenn von der möglichen Gesetzesförmigkeit seiner Maximen sein moralischer Status abhängt. Kant hat das auf diesem Zusammenhang beruhende Moralprinzip nie widerrufen. Demnach können die entscheidungsleitenden Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als kritischer Instanz nur aus den Strukturbedingungen eines Willens verstanden werden, der sich zwar in der Welt durch Handlungen demonstriert, dabei jedoch seine Reinheit nicht verliert, der er seine moralische Qualität verdankt. Wenn so die kritische Funktion der Vernunft von einer Moralität abhängig ist, die den Endzweck und die Bestimmung des Menschen als Determinanten des Moralischen integrieren kann, ohne dabei das in der »Grundlegung4 und der ,Kritik der praktischen Vernunft 4 entwikkelte Moralprinzip zurückzunehmen, so wird die Vernunft als Kritik damit von der äußerlichen Wirklichkeit einer Moralität abhängig gemacht, in deren Grundlegung gerade der Ausschluß aller Bestimmungsgründe jenseits eines gesetzesförmigen Willens konstitutiv gehört. Offenbar beansprucht Kant, die entscheidungsleitenden Grundregeln der Einsetzung einer kritischen Vernunft gerade aus den Gründen und gedanklichen Motiven verständlich machen zu können, die von der Innerlichkeit der reinen Gesetzesförmigkeit der Willensbestimmung zu einer an notwendigen Zwecken und an der Bestimmung des Menschen orientierten Handlungswirklichkeit des Moralischen in der Welt der Erscheinungen führen. Nun wollte Kant aus dem reinen Willen dessen moralische Dignität im kategorischen Imperativ analytisch ableiten können, wenn die Freiheit des Willens vorausgesetzt wird. Bekanntlich gelingt dies nur durch den wechselseitigen Voraussetzungszusammenhang von Freiheit und Moralität, so daß die Freiheit ihren positiven Begriff nur durch ihre Demonstration in der gesetzesförmigen und damit reinen Bestimmung des Willens ohne empirische Determinanten gewinnt. Dieser Zusammenhang kann auch in der ,Metaphysik der Sitten4 nicht zurückgenommen werden, wenn sie der Dimension des Moralischen angehören soll, die sich in Kants Denken nur auf dieser Grundlage eröffnet. Anders als die nur durch Maximenprüfung nach dem Kriterium der Universalisierbarkeit demonstrierte Freiheit der ,Grundlegung4 muß sich die Freiheit der »Metaphysik der Sitten4 jedoch in der Welt darstellen lassen und folglich so verfaßt sein, daß sie auch als äußere Freiheit doch im genuinen Sinn Freiheit heißen kann, also auch in ihrer äußeren Wirklichkeit den Bezug auf die reine Willensbestimmung nicht verliert. Demnach müssen die entscheidungsleitenden Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als kritischer Instanz aus den Strukturbedingungen der Demonstration einer Freiheit verstanden werden können, die sich in der Welt durch Handlungen darstellen läßt, ohne dabei

I. Die Vernunft als Kritik und die »Metaphysik der Sitten4

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den wechselseitigen Bedingungszusammenhang mit der Moralität zu dementieren, dem sie im Kantischen Gedankenzusammenhang ihren positiven Begriff verdankt. Die ,Methodenlehre4 der »Kritik der reinen Vernunft 4 bezieht sich nun ausdrücklich auf diese Freiheit, um die ,Architektonik 4 des Zusammenhangs der Vernunftkritik zu beschreiben. Von der Existenz der Vernunft wird gesagt, sie beruhe auf der Freiheit der Kritik, womit die Vernunft als eine solche ausgezeichnet wird, „die kein dictatorisches Ansehen hat, sondern deren Ausspruch jederzeit nichts als die Einstimmung freier Bürger ist44 (B 766). Daß die Existenz der Vernunft von der freien Zustimmungsfähigkeit freier Bürger abhängig gemacht wird, ist im Denkzusammenhang der ,Kritik der reinen Vernunft 4 zunächst kaum zu erwarten, fügt sich aber doch gut in die Erläuterung der Kritik als ,Gerichtshof 4 ein, der den Zustand des »Krieges4 in den »gesetzlichen Zustand4 der Vernunft transformiert, in dem die »Streitigkeiten4 der reinen Vernunft durch das juridische Verfahren des »Prozesses4 entschieden werden. Dieser »gesetzliche Zustand4 heißt in der Rechtslehre der »bürgerliche Zustand4 und bezeichnet das staatlich gesicherte Verhältnis sich wechselseitig in ihrer Freiheit anerkennender Bürger. Wenn nun die Existenz der Vernunft selbst von der Wirklichkeit des bürgerlichen Zustands abhängig gemacht wird, so ist die Einsetzung der Vernunft als Kritik nicht nur die Grundlage für die „Ruhe eines gesetzlichen Zustands44 (B 779), sondern der Status der Freiheit aller Bürger ist auch die Bedingung für die Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz. Indem diese Einsetzung mit der Transformation der Philosophie von ihrem an der systematischen Vernunft orientierten Schulbegriff in den auf die kritische Vernunft ausgerichteten Weltbegriff verbunden ist, so überträgt sich dieser Zusammenhang auf das Verhältnis zwischen dem Weltbegriff der Philosophie und dem Zustand der Freiheit zustimmungsfähiger Bürger, auf der auch die Existenz der Vernunft als Kritikinstanz beruht. Demnach muß der Teil der Moralphilosophie, der der Moralität den Endzweck und die Bestimmung des Menschen integriert, ebenso die Freiheit des Menschen im bürgerlichen Zustand explizieren können, von der gesagt wurde, auf ihr beruhe die Existenz der Vernunft als Kritikinstanz. Wenn von der kritischen Vernunft also gesagt wird, sie anerkenne keinen anderen Richter „als selbst wiederum die allgemeine Menschenvernunft, worin ein jeder seine Stimme hat44 (B 780), so ist der bloß negative Begriff der Freiheit der »Kritik der reinen Vernunft 4 ebenso verlassen wie der Begriff einer nur durch Maximenmoralität demonstrierbaren positiven Freiheit aus der »Grundlegung4 und der »Kritik der praktischen Vernunft 4. Indem die Existenz der kritischen Vernunft von der Zustimmungsfähigkeit freier Bürger abhängig gemacht wird, erfordert ein solcher Begriff der Vernunft den Gedanken einer Freiheit» die die Zustimmungsfähigkeit von Bürgern charakterisieren kann - also nicht von reinen Vernunftwesen, die sich ihrer Übereinstimmung in der einen Vernunft a priori gewiß sein können, sondern von empirisch bedingten vernünftigen Wesen, die ihre Zustimmung zum Ausdruck bringen müssen, damit sie mit anderen zwar auch vernünftigen, aber ebenso empirischen Wesen zu einer ,Einstimmung4 gelangen. Die Freiheit, von der die Existenz der kritischen Vernunft abhängt, muß also eine Freiheit ausdrucksfähiger 2*

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A. Einleitung

und sowohl vernünftiger als auch empirischer Wesen sein, die sich in ihrer nur moralisch demonstrierbaren Freiheit doch in der Welt der Erscheinungen darstellen können. Kant hat sein Theorem eines wechselseitigen Bedingungsverhältnisses von Moralität und Freiheit nie revidiert. Die für die Existenz einer kritischen Vernunft fundamentale Freiheit der Zustimmungsfähigkeit sich mitteilender und dadurch mit anderen zur ,Einstimmung4 kommender Bürger muß demnach als eine zwar nicht in der Form einer Maximenmoralität, aber doch in der Form einer Handlungsmoralität demonstrierbare Freiheit gedacht werden können. Wenn der zentrale Gedankengang der Kantischen Moralphilosophie nicht dementiert werden soll, so muß aus ihm verständlich werden können, wie eine am Universalisierungsprinzip orientierte Maximenmoralität so in der Welt empirisch vermittelter Beziehungen zwischen moralischen Subjekten auftreten kann, daß auch in der äußeren Wirklichkeit von Handlungen jenes Prinzip der Maximenmoralität bewahrt bleibt, das allein sie als den Ort der Demonstration von Freiheit auszeichnen kann. Wenn Kant in der ,Metaphysik der Sitten4 der Übergang von der Maximen- zur Handlungsmoralität gelingen soll, und zwar so, daß in der letzteren die erstere bewahrt bleibt, und wenn gerade Recht und Tugend als die Phänomene angesehen werden, in denen ein solcher Übergang stattfinden kann, so müssen Rechts- und Tugendlehre jene äußerliche Freiheit explizieren können, die in der Welt zustimmungsfähiger Bürger bestehen und damit die Existenz der kritischen Vernunft garantieren kann. Es scheint, als wären gerade Recht und Tugend die Elemente der Kantischen praktischen Philosophie, in denen jene Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als kritischer Instanz ihr Fundament haben, aus welchen die Vernunft auch die Regeln für die Entscheidungen in ihrer gesetzgebenden und richtenden Funktion hernimmt. Die Frage, warum und wie Recht und Tugend den in der »Grundlegung4 entwickelten Begriff der Moralität durch den Gedanken eines Zweckes und einer Bestimmung des Menschen in der Welt realisieren können, beträfe demnach nicht nur ein supplementäres Stück der praktischen Philosophie, mit dem Kant aus strukturellen Gründen seines Moralprinzips besondere Schwierigkeiten haben muß. Insofern Recht und Tugend mit Zwecken und mit der Bestimmung des Menschen zu tun haben, gehören sie in die Explikation jener Grundregeln der Einsetzung und der Entscheidungen einer kritischen Vernunft, die das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft leiten. Wenn also verdeutlicht werden kann, wie sich in diesen Phänomenen das Moralprinzip mit seinem wechselseitigen Bedingungszusammenhang von Moralität und Freiheit in der äußeren Wirklichkeit einer Handlungsmoralität darstellen kann, so müssen sich daraus auch die Strukturbedingungen eines kritischen Selbstverhältnisses der Vernunft und damit die Bedingungen seiner philosophischen Realisierung in der »Kritik der reinen Vernunft 4 aufklären lassen. Was in die entscheidungsleitenden Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als Kritik gehört und was dementsprechend in dem Teil der Moralphilosophie entwikkelt werden muß, in dem die Zwecke und die Bestimmung des Menschen der Moralität ihre äußere Wirklichkeit in der Welt integrieren, läßt sich nach seiner all-

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gemeinen Form nun bereits angeben. Wenn die Vernunft als kritische Instanz eingesetzt wird, so kann es im Kantischen Denkzusammenhang nur um ihre Selbstkritik gehen, in der sie ihre Reichweite und ihre Grenzen bestimmt (B 791). Also nimmt die Vernunft durch ihre Einsetzung als Kritikinstanz ein Verhältnis zu sich selbst auf, in dem sie sich in eine urteilende Instanz bzw. Tätigkeit und einen beurteilten »Gegenstand4 unterscheidet. Diese Selbstunterscheidung wird fixiert durch die »Gesetzgebung4, zu der die Kritik schließlich führen soll. Diese Gesetzgebung muß folglich selbst die Struktur des kritischen Selbstverhältnisses enthalten. Eine solche Gesetzgebung für die Vernunft durch die Vernunft kann nur dann eine sinnvolle Konzeption darstellen, wenn es gelingt, die Selbstunterscheidung der Vernunft so zu denken und zu begründen, daß die dem Privatsprachenproblem analoge Situation einer durch den Gesetzesunterworfenen stets revidierbaren Gesetzlichkeit nicht auftritt, die den Begriff der Gesetzgebung und damit denjenigen einer Grenzziehung der reinen Vernunft und folglich den Begriff einer Kritik der reinen Vernunft selbst dementieren würde. Es muß also die Konstellation einer Selbstunterscheidung der Vernunft in der Bewegung ihrer Selbstprüfung und Selbstbegrenzung gefunden werden, in der die Vernunft sich so weit von sich unabhängig macht, daß sie als kritisierende nicht mehr der permanenten Revidierbarkeit durch sich selbst als kritisierte unterworfen bleibt. In dem Teil der Moralphilosophie, in dem die Moralität durch die Integration des Gedankens von einem Endzweck und einer Bestimmung des Menschen - also dessen, was jedermann notwendig interessiert - aus der Innerlichkeit der gesetzesförmigen Maximenbestimmung in die Äußerlichkeit der Handlungsmoralität in der Welt transformiert wird, muß sich demnach die Struktur einer solchen Selbstunterscheidung auffinden lassen. Die Phänomene Recht und Tugend müssen sich also in der »Metaphysik der Sitten4 so darstellen, daß aus den sie konstituierenden Strukturen die sich kritisch von sich unterscheidende Vernunft so in ihrer Unabhängigkeit von sich deutlich wird, daß in dieser Selbstunterscheidung die entscheidungsleitenden Grundregeln der Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz sich so ausbilden können, daß die Vernunft ihre kritische Selbstbegrenzung in einer Gesetzgebung festschreiben kann. Diesen »Fluchtpunkt4 der »Metaphysik der Sitten4 als dem Teil der Moralphilosophie, in dem durch jene Transformation die Fundamente für die Selbstunterscheidung der Vernunft gelegt werden, mit der sie ein kritisches Verhältnis zu sich selbst aufnehmen kann, erläutert Kant in der »Methodenlehre4 durch einen Hinweis auf das Verfahren, mit dem in der,Kritik der reinen Vernunft 4 die,Sphäre4 der Vernunft bestimmt und begrenzt wird. Wir können den Umfang und die Grenzen unserer Vernunft nur bestimmen, indem wir den »Ursprung4 und die »Echtheit4 der erfahrungsantizipierenden Verstandesgrundsätze einsehen, da wir dann und nur dann über synthetische Erkenntnis a priori verfügen, die die ,Sphäre4 der reinen Vernunfterkenntnis vollständig ausfüllt. Diese »Sphäre4 wird in der »Kritik der reinen Vernunft 4 als koextensiv mit dem »Feld der Erfahrung 4 nachgewiesen, weil die „transzendentale Erkenntnis aus lauter Begriffen 44 nur „ein Ding überhaupt betrifft 44, und dies aus-

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schließlich unter der Perspektive der Frage, „unter welchen Bedingungen dessen Wahrnehmung zur möglichen Erfahrung gehören könne." (B 747) Weil der Begriff des »Dinges überhaupt4 deshalb der einzige Begriff ist, der a priori einen empirischen Gehalt der Erscheinungen vorstellt, so kann die vernunftbegrenzende synthetische Erkenntnis a priori nur „die bloße Regel der Synthesis desjenigen, was die Wahrnehmung a posteriori geben mag44, betreffen (B 748). Die Vernunft zeigt sich demnach als ein „System der Nachforschung nach Grundsätzen der Einheit, zu welcher Erfahrung allein den Stoff hergeben kann.44 (B 766) Die »Sphäre4 der Vernunft kann deshalb bestimmt werden, wenn ihr Radius bekannt ist, der sich wiederum aus der Krümmung des Bogens auf ihrer Oberfläche errechnen läßt, den Kant in diesem Bild mit der Natur synthetischer Sätze a priori gleichsetzt (B 790). Daraus läßt sich entnehmen, daß das Zentrum der Selbstbegrenzung der Vernunft durch die Vernunft, von dem die näheren Bestimmungen einer Gesetzgebung der Vernunft ausgehen, dort zu finden sein muß, wo die Regel der Synthesis zu einem Ding überhaupt ursprünglich begründet wird. Vor der Analytik der Grundsätze und ihr systematisch vorausliegend ist dies die Transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe mit ihrem Prinzip der synthetischen Einheit der Apperzeption als dem »höchsten Punkt4, „an dem man allen Verstandesgebrauch, selbst die ganze Logik und nach ihr die Transzendental-Philosophie heften muß44 (B 133 Anm.), und der damit das Prinzip der Transzendentalität als Statusbezeichnung synthetischer Sätze, die auf Dinge überhaupt gehen, deren Anschauung sich a priori nicht geben läßt (B 748), ursprünglich begründet. Die Synthesis zum Ding überhaupt, aus deren Regeln sich die ganze »Sphäre4 der Vernunft bestimmen läßt, hat ihren Ursprung demnach in jener Synthesis, die Kant die ursprünglich-synthetische Einheit der Apperzeption und die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins4 nennt, die transzendental heißt, „um die Möglichkeit der Erkenntnis a priori aus ihr zu bezeichnen.44 (B 132) Die Selbstdifferenzierung und Selbstbegrenzung der Vernunft, in dem sie ein kritisches Verhältnis zu sich aufnimmt, muß demnach als Differenzierung in ein Selbstverhältnis in der Transzendentalen Deduktion ursprünglich begründet werden. Sie muß damit auch an jenen ,höchsten Punkt4 der Transzendentalphilosophie »geheftet4 werden können, zu dem Kant die synthetische Einheit der Apperzeption bzw. die transzendentale Einheit des Selbstbewußtseins erklärt. Daraus ergibt sich, daß auch die Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz, die „alle Entscheidungen aus den Grundregeln ihrer eigenen Einsetzung hernimmt 44 (B 779), über die mit dieser Einsetzung verbundene Selbstdifferenzierung und über die darin angelegte Selbstbestimmung und Selbstbegrenzung der Vernunft von jenem ,höchsten Punkt4 der Transzendentalphilosöphie gehalten wird. Wenn wir von hier aus wieder zu Kants Verweis auf die Moralphilosophie zurückkehren, die die Vernunft zur kritischen Gesetzgeberin bestimmt, indem sie die Philosophie nach dem Schulbegriff in die Philosophie nach dem Weltbegriff transformiert und indem in ihr der Endzweck und die Bestimmung des Menschen die Vernunft vom System zur Kritik depotenziert, so zeigt sich hinsichtlich der Einset-

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zung der Vernunft als Kritikinstanz und der darin angelegten Selbstdifferenzierung der Vernunft in ein kritisches Selbstverhältnis ein gedanklicher Zusammenhang zwischen der Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe und jener Dimension der Moralphilosophie, in der das Moralprinzip durch die Integration des Begriffs eines Endzwecks bzw. der Bestimmung des Menschen Bedeutung für die Handlungsmoralität in der Welt gewinnt. Diese Dimension wird in Kants praktischer Philosophie durch die Phänomene Recht und Tugend strukturiert. Literarisch legt sich damit ein Zusammenhang zwischen der,Metaphysik der Sitten4 und der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 4 der »Kritik der reinen Vernunft 4 nahe, der bis auf den ursprünglichen Ansatz des Unternehmens einer Selbstkritik der Vernunft zurückführt. Die Einsetzung der kritischen Vernunft ist durch den Endzweck und die Bestimmung des Menschen geleitet und damit von der durch die Phänomene Recht und Tugend strukturierten Dimension der »Äußerlichkeit4 der Moralität abhängig. Die kritische Grenzbestimmung der Vernunft ergibt sich durch die »Errechnung4 ihrer »Sphäre4 aus der Natur synthetischer Urteile a priori (vgl. B 790)» deren »Ursprung und Echtheit4 in der Transzendentalen Deduktion über die Synthesis des Dinges überhaupt an die Synthesis der Einheit der Apperzeption bzw. des Selbstbewußtseins »geheftet4 wird. Damit deutet sich schon die Richtung an, aus der jener Zusammenhang zu verstehen sein muß. Nach Kants Ausführungen in der ,Methodenlehre4 der »Kritik der reinen Vernunft 4 sollen die Entscheidungen der ihre Grenzen bestimmenden Vernunft von der durch Recht und Tugend konstituierten Dimension der Moralität geleitet werden. Wenn diese Entscheidungen als Gesetzgebung der Vernunft in der Synthesis des Dinges überhaupt auf die Synthesis der Einheit der Apperzeption bzw. des Selbstbewußtseins zurückführen, so muß jene ,Leitung4 durch die Moralität des Endzwecks und der Bestimmung des Menschen auch auf die ursprüngliche Apperzeption als Selbstbewußtsein durchgreifen, in der die Synthesis fundiert ist, aus der sich die vernunftbegrenzende Synthesis des Dinges überhaupt verstehen läßt. Demnach wäre es gerade die Moralphilosophie der »Metaphysik der Sitten4, von der das Prinzip der »Transzendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe 4 so geleitet sein muß, daß in der letzteren die Synthesis der Apperzeption bzw. des Selbstbewußtseins über die Synthesis des Dinges überhaupt die Selbstbegrenzung und -bestimmung der Vernunft begründen kann, die die Vernunft erst als Gesetzgeberin und Gerichtsinstanz einsetzt. Anders könnte nicht sinnvoll behauptet werden, die Vernunft nehme nicht nur die Grundregeln ihrer Einsetzung als Kritikinstanz aus der den Endzweck und die Bestimmung des Menschen behandelnden Moralphilosophie, sondern beziehe aus eben diesen Grundregeln auch ihre Entscheidungen, also die in der Gesetzgebung der Vernunft bestimmten ,Rechtsnormen4, die Streitfragen in Vernunftsachen durch das juridische Verfahren des »Prozesses4 anstatt durch »Krieg4 zu regeln erlauben.

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IL Das Paradox der Selbstkritik und die Vernunft als Gericht Wenn Kant die Vernunft als einen »Gerichtshof 4 auffassen will, so nimmt er damit zunächst mehr in Anspruch, als nach dem Status seines Unternehmens einer Grenzbestimmung der Vernunft und ihrer Leistungsfähigkeit vorausgesetzt werden darf. Eine Kritik der reinen Vernunft muß als Selbstuntersuchung der Vernunft vor sich gehen und kann deshalb nicht von einem Wissen ausgehen, was die Vernunft ist und was sie leisten kann. Wenn die Bestimmung und Begrenzung der Vernunft das Ergebnis ihrer Kritik ist, so kann sie nicht ,un-kritisch 4 als bekanntes und ausgewiesenes Vermögen mit der Fähigkeit zu gültigen Urteilen herangezogen werden, um eine ,quaestio iuris 4 abschließend entscheiden zu können. Daraus ergibt sich zunächst, daß jener Gerichtshof nicht von vornherein eine Instanz mit letztgültiger Einsicht in das Reich der Wahrheit darstellen kann. Als Gerichtshof muß die Vernunft entscheiden, ob ein Sachverhalt als tatsächliches Geschehen in der Welt eine Rechtsfolge aufgrund gegebener Rechtsnormen nach sich zieht. Wenn eine solche Entscheidung die ,Befugnis 4 zum apriorischen Gebrauch reiner Begriffe erteilt, so ist damit ein subjektives Recht entstanden, eine individuelle Befugnis, die von der Rechtsordnung als dem objektiven Recht einem Rechtssubjekt verliehen wurde; man könnte auch sagen: einem Rechtssubjekt wurde ein rechtlicher Herrschaftsbereich gegenüber anderen Rechtssubjekten oder Rechtsobjekten durch die Rechtsordnung angewiesen. Das Verhalten innerhalb dieses Herrschaftsbereichs ist »rechtmäßig4, indem und solange es mit der Rechtsordnung übereinstimmt. Wenn die Vernunft in der Untersuchung ihrer Leistungsfähigkeit und damit in der Bestimmung dessen, was sie ist, als Gerichtshof aufgefaßt wird, so geschieht ihre Bestimmung demnach innerhalb einer Ordnung, in der ihr die Befugnis zu einem solchen Gebrauch durch eine unabhängige Instanz erteilt wird. Da die Vernunft sich aber nur selbst bestimmen kann, so muß es sich um eine vernunft-interne Ordnung handeln, die an keiner Stelle die Dimension der Vernunft verläßt. Die Selbstbestimmung der Vernunft zur Gerichtsinstanz geschieht also in einem auf bestimmte Weise strukturierten Selbstverhältnis der Vernunft. Eine solche Strukturierung ist schon deshalb erforderlich, weil in der Selbstbestimmung der Vernunft durch Vernunft auf beiden Seiten nur von Vernunft die Rede sein kann. Mit dieser Identität der Vernunft würde die bestimmende jedoch mit der bestimmten Vernunft zusammenfallen und eine »Kritik 4 zur Angabe ihrer Leistungsfähigkeit und Reichweite wäre ausgeschlossen. Eine auf ihr Tun reflektierende Vernunftkritik muß deshalb eine Differenz in die Vernunft einführen, die weder den Begriff der einen Vernunft dementiert noch das Funktionieren der Vernunft als ihre eigene Kritik ausschließt. Wenn der Begriff der Vernunft nur durch Vernunft angegeben werden kann und die Grenzziehung der Leistungsfähigkeit reiner Vernunft in einer »Kritik 4 in der Form einer Bestimmung der Vernunft durch sich selbst geschehen muß, so befindet sich ein solches Unternehmen nach seiner gedanklichen Struktur prinzipiell in der

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Das Paradox der Selbstkritik und die Vernunft als Gericht

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gleichen Lage wie der Versuch, ein reines Selbstbewußtsein so zu explizieren, daß dabei nicht auf empirische Bestimmungen Bezug genommen werden muß. Es handelt sich um die grundsätzliche Schwierigkeit, den Begriff eines Selbstverhältnisses durch einen Gedanken zum Ausdruck zu bringen, der keine gedanklichen Bestände in Anspruch nehmen darf, die unabhängig von diesem Selbstverhältnis und damit ohne dessen Struktur zu implizieren gedacht werden können. Wenn die Vernunft sich begrenzt, so konstituiert sie damit eine Selbstdifferenzierung, die sie nicht voraussetzen kann, ohne die sie sich jedoch nicht selbst bestimmen kann. Da sie in dieser Differenz aber mit sich identisch bleiben muß, entsteht ihr notwendig die Schwierigkeit, für diese Differenz ausschließlich selbst aufkommen zu müssen, wenn sie darin ihr kritisches Selbstverhältnis finden soll. Es kann nicht verwundern, daß Kant die ,Selbsterkenntnis' das beschwerlichste aller Geschäfte der Vernunft nennt (A XI). Die Schwierigkeit besteht also grundsätzlich darin, in ihrem kritischen Selbstverhältnis die bestimmende von der bestimmten Vernunft zu unterscheiden, wenn von einer kritischen Selbstbestimmung doch nur unter der Bedingung die Rede sein kann, daß die bestimmende sich zu der bestimmten Vernunft so verhält, daß sie darin sich selbst als bestimmende erkennt, und die bestimmte so in einem Verhältnis zur bestimmenden steht, daß sie in ihr sich selbst als bestimmte wiederfindet. Eine Selbstkritik der Vernunft könnte also dann nicht stattfinden, wenn sich vor und unabhängig von diesem Vorgang eine bestimmende und eine bestimmte Vernunft unterscheiden ließen - es würde sich nicht um eine kritisierende und eine kritisierte Vernunft handeln, wäre sie als kritisierte und in ihren Grenzen bestimmte nicht ebenso die kritisierende und die Grenzbestimmung vornehmende und wäre sie als kritisierende und grenzbestimmende nicht gleichzeitig die kritisierte und damit in ihren Grenzen bestimmte Vernunft. Die ihre Grenzen kritisch bestimmende Vernunft muß also selbst schon jene Bestimmtheit aufweisen, die sie der kritisierten Vernunft erst durch den Prozeß der Prüfung zuschreiben kann. Wenn eine solche Bestimmtheit aber nicht vorausgesetzt werden kann, so muß sie in eben dem Prozeß der Prüfung entwickelt werden, in dem auch die kritische Grenzbestimmung der Vernunft stattfindet. Als Ergebnis des Unternehmens einer Kritik der reinen Vernunft muß sich also nicht nur eine in den Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit gesicherte Vernunft darstellen, sondern es muß sich rekursiv auch die die Kritik durchführende Vernunft als ebenso bestimmt wie die nun kritisch bestimmte Vernunft zeigen. Daraus ergibt sich, daß die Vernunft sich im Durchgang durch die Kritik in einem Status zeigen muß, worin sie als kritisch bestimmte mit sich als bestimmender identisch ist und sich darin als die eine Vernunft erweist, in dem sie aber als kritisch bestimmte auch in einem Verhältnis der Differenz zu sich selbst steht und sich in eine bestimmte und eine bestimmende unterscheidet. Das Gelingen einer solchen Kritik hängt demnach auch davon ab, daß die Vernunft so in ihren Grenzen bestimmt wird, daß eben diese Bestimmtheit selbst für ihre eigene Bestimmung aufkommen kann. Das Gelingen erfordert deshalb den Nachweis, daß dem ganzen

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Verhältnis von bestimmender und bestimmter Vernunft eine Differenz integriert ist, aus der verständlich werden kann, daß die eine Vernunft, die ebenso bestimmt wie bestimmend ist, doch zu einem kritischen Selbstverhältnis gelangen kann, in dem sie sich in eine Kritikinstanz und in eine in ihrer Leistungsfähigkeit bezüglich reiner Erkenntnisse kritisch bestimmte Vernunft differenziert. Die kritisch ausgewiesene Bestimmtheit der Leistungsfähigkeit der Vernunft muß es folglich durch ihren eigenen Status erlauben, sowohl die Stelle der bestimmten als auch die der bestimmenden Vernunft einzunehmen, weil sie nur durch jene interne Differenz zwischen bestimmender und bestimmter Vernunft sich als Vernunft ausweisen kann, so daß ihr durch eine solche Transformation kein Gehalt zukommen kann, der über die Struktur der bloßen Differenz hinausgehen würde. Der Sinn von Kants juridischer Reflexion auf das Unternehmen der theoretischen Philosophie wird verständlich aus der Problematik, wie die Vernunft ein kritisches Selbstverhältnis einnehmen kann, ohne vernunftexterne empirische Determinanten für die damit konstituierte Differenz heranziehen zu müssen, also aus der Problematik, ob und wie eine ,Kritik der reinen Vernunft* im Sinne des genitivus subiectivus und des genitivus obiectivus möglich ist. Wenn die Differenz zwischen den beiden Seiten dieses Selbstverhältnisses nicht durch externe Determinanten angegeben werden kann, so kann die Selbstkritik nur dann als Selbstverhältnis gedacht werden, wenn die kritisierende und bestimmende Vernunft schon die kritisierte und bestimmte ist. Es muß also gelingen, die kritisierende Vernunft als bereits kritisch bestimmte Vernunft zu denken, ohne vernunftexterne Determinanten für diese Bestimmung und Differenzierung heranzuziehen, und ohne das Selbstverhältnis einer Selbstkritik der Vernunft zu dementieren. Diese Bestimmung der Vernunft zur Kritik läßt sich nach Kants Ausführungen in der,Methodenlehre 4 aus der,Bestimmung des Menschen4 verstehen, d. h. aus dem »Endzweck4 und dem, was jeden »notwendig interessiert 4. Von ,Zweck4 und »Bestimmung4 des Menschen ist aber erst in der Dimension der Ethik die Rede, die in der ,Metaphysik der Sitten4 unter den Titeln Recht und Tugend zum Thema wird. Demnach kann nur die ,Einsetzung4 der Vernunft als Kritikinstanz durch die Bestimmung des Menschen in seinem Endzweck und in dem, was ihn notwendig interessiert, der Vernunft jene Bestimmtheit verleihen, die sie auch als bestimmende zu einer bestimmten macht, so daß die Einheit des Selbstverhältnisses hergestellt ist, das die Vernunft mit sich aufnimmt, sobald sie in das Unternehmen einer ihre Grenzen bestimmenden Selbstkritik eintritt. Durch diese Bestimmtheit wird die Vernunft mit einer internen Differenz gedacht, die das Unternehmen ihrer Selbstprüfung ermöglicht. Die moralphilosophische Dimension von Recht und Tugend muß aufgrund dieser Struktur der fundamentalen Problemlage einer Kritik der reinen Vernunft und nach Kants Ausführungen über die Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz durch die Bestimmung, den Endzweck und das notwendige Interesse des Menschen in der Lage sein, die Vernunft so weit zu bestimmen, daß sie als Kritikinstanz in ein Selbstverhältnis mit integrierter Differenz zu sich selbst eintritt. Die praktische Vernunft der moralphilosophischen Dimension der ,Metaphy-

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sik der Sitten' repräsentiert demnach die Vernunft in dem Status, in dem sie sich so bestimmt, daß sie als theoretische Vernunft das Selbstverhältnis einer Kritikinstanz zu sich aufnehmen kann. Nun ist bereits die Unterscheidung in theoretische und praktische Vernunft eine Selbstunterscheidung der Vernunft. Folglich muß sich auch darin ein Selbstverhältnis der Vernunft darstellen, in dem auf beiden Seiten die gleiche Vernunft zu finden sein muß, so daß die in eine theoretische und eine praktische unterschiedene Vernunft sowohl identisch mit als auch unterschieden von der eben diese Unterscheidung vornehmenden Vernunft zu denken ist. Demnach muß die unterscheidende Vernunft selbst schon als strukturiert durch die Theorie-Praxis-Differenzierung gedacht werden, aufgrund welcher Struktur sie sich in der Unterscheidung in theoretische und praktische Vernunft in einem Selbstverhältnis finden kann, das es erlaubt, diese Unterscheidung vernünftig zu nennen. Die Unterscheidung in theoretische und praktische Vernunft muß also immer schon der Vernunft als solcher zugehören, die in ihrer Selbstunterscheidung diese Struktur nur offenbar macht, indem sie ihren Selbstbezug durch eben diese Strukturierung bestimmt. Indem die Vernunft aber nur in ihrer Selbstunterscheidung als solche begriffen werden kann, ist dies gleichbedeutend mit dem Gedanken, daß jene Unterscheidung erst in der Selbstdifferenzierung der Vernunft geschieht, in der sie sich durch eben diese Unterscheidung eine Bestimmung gibt, durch die der Begriff der Vernunft erst explikabel und damit sinnvoll verwendbar wird. Die Unterscheidung in theoretische und praktische Vernunft als Selbstunterscheidung der Vernunft erweist sich demnach als notwendig zugehörig zu der einen Vernunft, weil die eine Vernunft nur in ihrer Selbstentzweiung überhaupt die Explikabilität erreicht, die sie zu einem verständlichen Gedanken macht. Der gleiche Zusammenhang gilt für die Differenzierung der praktischen Vernunft in die Dimension der reinen Willensbestimmung und in die Dimension der äußeren Darstellung der moralischen Freiheit in Recht und Moral. Wie die Differenzierung in theoretische und praktische Vernunft der Vernunft eine explizierbare Bestimmtheit verschafft, indem sie die Vernunft in ein Selbstverhältnis bringt, in dem diese Differenzierung auf beiden Seiten integriert sein muß, so muß die Selbstunterscheidung der praktischen Vernunft in die Moralität der reinen Willensbestimmung und die Moralität der Äußerlichkeit in Recht und Tugend der praktischen Vernunft ein Selbstverhältnis integrieren, in dem diese Unterscheidung auf beiden Seiten stattfindet, so daß die praktische Vernunft auf diese Weise eine Bestimmtheit erhält, die sie mittels einer internen Differenzierung explizierbar macht. Wenn die Dimension der äußeren Darstellung moralischer Freiheit ebenfalls als rein vernünftige Bestimmung betrachtet werden kann, so reproduziert sich die Selbstdifferenzierung der Vernunft hier noch einmal. Die äußerliche Darstellung moralischer Freiheit verhält sich als Vernunftbestimmung zu sich selbst, indem sie sich in Recht und Tugend unterscheidet, welche Unterscheidung aber nur dann als ein Selbstverhältnis praktischer Vernunft in ihrer äußerlichen Darstellbarkeit gelten kann, wenn die Differenzierung in Recht und Tugend auf beiden Seiten dieses

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Selbstverhältnisses stattfindet - auf Seiten der differenzierenden und auf Seiten der so differenzierten praktischen Vernunft in der Dimension ihrer äußerlichen Darstellbarkeit. Es ergibt sich ein Verständnis der Einteilung in Recht und Tugend als Strukturierung der Differenz, in der die Dimension der äußeren Darstellbarkeit der Moralität die ihr entsprechende Explikabilität in einer Bestimmtheit gewinnt, die als Selbstverhältnis der bestimmenden und der bestimmten Seite zugehört. Wenn die Vernunft sich nur selbst bestimmen kann, soll sie nicht in dieser Bestimmung als Vernunft dementiert werden, so ergibt sich demnach unter der Perspektive des von Kant herausgestellten Zusammenhangs zwischen der Bestimmung der Vernunft zur Selbstkritik und der Bestimmung des Menschen in der moralphilosophischen Dimension von Recht und Tugend ein durchgehender Zusammenhang der Selbstunterscheidungen der Vernunft von der Selbstdifferenzierung der reinen in die theoretische und praktische Vernunft über die Selbstdifferenzierung der praktischen Vernunft in die Dimensionen der reinen Willensbestimmung und der äußerlichen Demonstration der moralischen Freiheit bis zur Selbstdifferenzierung der moralischen Dimension der äußerlichen Freiheitsdemonstration in Recht und Tugend. Dieser Zusammenhang besteht nicht nur in bezug auf die Selbstunterscheidung der Vernunft, sondern ebenso unter dem Aspekt der darin implizierten Selbststrukturierung. Indem die Vernunft ihre Unterscheidung von sich und durch sich nur in der Differenz eines Selbstverhältnisses vornehmen kann, wird die Selbststrukturierung auf jeder Stufe rekursiv - sie strukturiert die Vernunft nur, indem die strukturierende Vernunft sich darin ebenso selbst strukturiert. In dem durchgehenden Zusammenhang von der Selbstunterscheidung der Vernunft bis zur Differenzierung in Recht und Tugend, wie sie die »Metaphysik der Sitten4 vornimmt, strukturiert sich das Selbstverhältnis der Vernunft nicht nur durch die Differenzierung der praktischen Vernunft in die Moralität der reinen Willensbestimmung und die Moralität einer äußerlich demonstrierbaren Freiheit, sondern weiter durch die Differenzierung der moralischen Dimension einer äußerlich demonstrierbaren Freiheit in die moralischen Dimensionen von Recht und Tugend. Daraus ergibt sich, daß auch Recht und Tugend konstitutiv in das Selbstverhältnis der Vernunft gehören, in dem sie durch die Strukturierung ihrer Selbstunterscheidung eine interne Differenz in sich aufnimmt, durch die sie sich eine Bestimmtheit gibt und sich so zu einem explikablen und damit sinnvollen Gedanken macht. Damit kommt den Metaphysischen Anfangsgründen von Recht und Tugend, wie sie in der ,Metaphysik der Sitten4 entwickelt werden, eine konstitutive Bedeutung für den Gedanken der Vernunft überhaupt zu, insofern dieser Gedanke nur Sinn gewinnt, wenn er aufgrund einer Strukturierung explikabel wird, die er sich nur im Selbstverhältnis einer Selbstunterscheidung geben kann, welche die Differenzierung der moralischen Dimension der äußerlichen Demonstration der Freiheit in Recht und Tugend einschließt. Recht und Tugend werden damit in den Status konstitutiver Elemente der Selbststrukturierung der Vernunft in einen explikablen und deshalb sinnvollen Gedanken erhoben. Diese Strukturierung der Vernunft in ihrer Selbstunterscheidung stellt demnach den gedanklichen Kontext und

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die systematische Problemkonstellation dar, aus denen sich der »Ort4 von Recht und Tugend und damit des Unternehmens einer,Metaphysik der Sitten' bestimmt. Dieser ,Ort' ließ sich durch Kants Inanspruchnahme des Juridischen für eine Reflexion auf das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft bereits etwas näher bestimmen. Aus den Überlegungen zur grundsätzlichen Problematik einer Selbstunterscheidung der Vernunft ergibt sich nun deutlicher der systematische Zusammenhang dieser Ortsbestimmung. Die Strukturierung, die eine Differenz in die Identität der reinen Vernunft einführt, geschieht nach den Ausführungen der ,Methodenlehre' durch die Vernunft im Status eines »Gerichtshofs', der seine Legitimation innerhalb einer Ordnung erhält. Diese Ordnung, die die Vernunft zur Kritikinstanz und damit zum »Gerichtshof' macht, geht auf die Bestimmung des Menschen in seinem Endzweck und in dem, was ihn notwendig interessiert, zurück. Also muß die Differenz, die in der Strukturierung der Vernunft durch die ihren Status als Gerichtsinstanz bestimmende Ordnung entsteht, sich letztlich auf diese »Bestimmung' zurückführen lassen. Die Differenz geht zurück auf die »Bestimmung' des Menschen, und daß sie gerade juridisch strukturiert ist, muß sich ebenso aus der,Bestimmung' des Menschen, aus seinem Endzweck und aus dem, was ihn notwendig interessiert, ergeben. Wenn die Bestimmung des Menschen als sein Endzweck, der ihn notwendig interessiert, in der moralphilosophischen Dimension der »Metaphysik der Sitten' untersucht wird, so muß jene Differenz auf Auszeichnungen der Phänomene Recht und Tugend zurückgehen, und die juridische Strukturierung der Differenz muß sichdaraus begründen, daß diese Differenz gerade in der Dimension der Moralität von Recht und Tugend entsteht. Die Metaphysischen Anfangsgründe von Recht und Tugend müssen demnach Gründe enthalten, die interne Differenz der Vernunft, durch die sie zur Kritik ihrer selbst befähigt wird, in der Struktur eines juridischen Verfahrens zu denken, und es muß sich zeigen lassen, daß eine solche Strukturierung der Differenz sich aus der äußerlichen Dimension der Moral ergeben muß, wie sie sich in Recht und Tugend manifestiert, und daß sich diese Strukturierung der Differenz gerade deshalb aus der Moralität von Recht und Tugend ergibt, weil eben darin und nur darin die Bestimmung des Menschen als sein Endzweck, der ihn notwendig interessiert, zur Explikation kommt. Auf diese Bestimmung lassen sich nach den Ausführungen der ,Methodenlehre' die Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz und die Grundregeln ihrer Entscheidungen zurückführen. Demnach muß die Dimension der Moralphilosophie, in der es um die Bestimmung des Menschen geht, diese Bestimmung so explizieren können, daß in ihr die Selbstdifferenzierung der Vernunft in ein Selbstverhältnis erscheint, und mit Hilfe der äußerlich demonstrierbaren Moralität von Recht und Tugend muß jene Bestimmung so expliziert werden, daß aus ihr die Selbsteinsetzung der Vernunft als Kritikinstanz mit juridischem Status verständlich wird, so daß sich auch die Grundregeln der Entscheidungen dieser Instanz aus ihrer Einsetzung durch jene Bestimmung ableiten lassen. Der für die Ortsbestimmung einer »Metaphysik der

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Sitten4 entscheidende Zusammenhang ist also, daß die Strukturierung, die dem kritischen Selbstverhältnis der Vernunft eine explikable Differenz integriert und so eine Selbstkritik der reinen Vernunft möglich macht, als Selbsteinsetzung der Vernunft in den Status einer juridischen Instanz gedacht werden muß, und daß eine solche Einsetzung nur aus einer Dimension der praktischen Vernunft herstammen kann, in der die Bestimmung des Menschen, sein Endzweck und was ihn notwendig interessiert zur Verhandlung kommen. Das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft erfordert demnach den Gedanken eines Selbstverhältnisses der reinen Vernunft, den Kant nur mit Hilfe des Gedankens einer Einsetzung der Vernunft als juridische Kritikinstanz in der Dimension der praktischen Vernunft denken kann, in der die Bestimmung des Menschen durch die Moralität von Recht und Tugend so angegeben wird, daß sich daraus jener Begriff der Vernunft als juridische Kritikinstanz ergibt, aus dem die Differenz eines Selbstverhältnisses der Vernunft verständlich wird, die eine Kritik der reinen Vernunft möglich macht. Mit Hilfe der juridischen Reflexion muß also die interne Differenz der Vernunft verständlich werden können, in der sie zu einem Selbstverhältnis wird, in dem die Vernunft sich selbst kritisieren kann. Es muß sich also um eine Differenz handeln, bei der auf beiden Seiten die Vernunft als bestimmende und bestimmte, als kritisierende und kritisierte steht. Der juridischen Reflexion liegt also der Gedanke zugrunde, die Vernunft könne deshalb gerade als juridische Kritikinstanz in einer solchen Differenz zu sich selbst stehen, weil sie von der Bestimmung des Menschen, seinem Endzweck und was ihn notwendig interessiert in diesen Status eingesetzt wurde. Wenn die interne Differenz der Vernunft, die eine Kritik der reinen Vernunft ermöglicht, aus der Strukturierung dieser Differenz nach dem juridischen Modell verständlich wird, und dieses Modell auf eine Einsetzung der Vernunft als juridische Kritikinstanz durch die Bestimmung des Menschen rekurriert, so müssen für die Aufklärung jener Differenz die Gedankengänge herangezogen werden, die die Bestimmung des Menschen gerade so explizieren, daß daraus verständlich werden kann, wie und warum diese Bestimmung zu einer Einsetzung der Vernunft als Kritikinstanz führen muß, so daß gerade aufgrund ihrer Einsetzung durch eben diese Bestimmung die juridische Kritikinstanz eine solche Differenz innerhalb der Identität der Vernunft konstituiert, daß die Vernunft zu einer Selbstkritik in Gestalt der ,Kritik der reinen Vernunft 4 befähigt wird. Die juridische Reflexion impliziert damit einen gedanklichen Zusammenhang, der von der Strukturierung der internen Differenz der Vernunft über die Bestimmung des Menschen bis zu den Strukturen derjenigen Dimension der praktischen Philosophie reicht, die sich von der Grundlegungsdimension der Moralphilosophie durch den Status einer in der äußeren Wirklichkeit moralisch demonstrierbaren Freiheit unterscheidet. Bereits in den Kantischen Explikationen einer Moralität äußerlicher Handlungen und Unterlassungen muß also das Verständnis jener internen Differenz der Vernunft angelegt sein, die das Unternehmen einer Kritik der reinen Vernunft sinnvoll macht. Kants Explikationen einer Moralität von Recht und Tugend müssen folglich den Ansatz

Exkurs: Positionen einer juridischen Interpretation der theoretischen Philosophie

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für ein Verständnis der i n der Vernunft implizierten Differenz enthalten, das diese Differenz so denkbar macht, daß in ihr eine Kritik der Vernunft durch sich selbst möglich wird.

Exkurs: Positionen einer juridischen Interpretation der theoretischen Philosophie Daß auch die theoretische Vernunft juridisch verfaßt sei oder zumindest genuin juridische Verfahren benutze, wird durch Kants Terminologie an vielen Stellen nahegelegt. 2 Daraus muß noch nicht folgen, daß Kant über die juristische Metaphorik des Prüfens und Rechtfertigens von Geltungsansprüchen hinaus tatsächlich eine Bezugnahme auf rechtsphilosophisch begründete Gedankengänge i n der theoretischen Philosophie i m Sinn gehabt haben muß. Eine juridische Interpretation des Kantischen Argumentationsverfahrens muß jedoch zumindest einen der folgenden Zusammenhänge ausweisen können: die Vernunft muß in ihrer Selbstuntersuchung in einem juridischen Sinn als Rechtsinstanz fungieren, 3 die Methode dieser Untersuchung muß der Struktur eines Gerichtsverfahrens entsprechen, oder die »Befugnis 4 zum objektiven Gebrauch apriorischer Begriffe muß den Status eines Rechtsanspruchs annehmen. 4 Eine historisch-systematische Interpretation der theoretischen Philosophie als geleitet von rechtsphilosophischen Gedanken, deren Voraussetzung sie zu schaffen habe, muß dagegen nicht selbst einen juridischen Status begründen. 5 2 Eine Zusammenstellung der einschlägigen Textstellen findet sich bereits bei H. Vaihingen Commentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Stuttgart 1881, S. 107-116; vgl. zum Problem des metaphorischen Charakters dieser Stellen E. W. Stoddard, Reason on Trial. Legal Metaphors in the Critique of Pure Reason, in: Philosophy and Literature 12/1988, S. 245-260. 3 Bereits B. Bauch wies darauf hin, daß gerade die »Rechtsfrage' die theoretische Vernunftkritik als ,Grundlegung' charakterisiere und ihre methodische Struktur bestimme, so daß für das Verständnis dieser Kritik die Unterscheidung zwischen quaestio iuris und quaestio facti von ausschlaggebender Bedeutung sei (Das Rechtsproblem in der Kantischen Philosophie, in: Zeitschrift für Rechtsphilosophie 3/1921, S. 1-26, S. 2 f)- Seine Ausführungen handeln dann jedoch ausschließlich von der Geltungsidee des Rechts, ohne deren Zusammenhang mit der theoretischen Philosophie noch einmal zu erwähnen. 4 Der bildliche Gebrauch von Begriffen der Rechtssprache, der bei Kant schon sehr früh zu belegen ist, genügt für eine juridische Interpretation offenbar nicht. Vgl. Chr. Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/Main 1971, S. 42 f. 5 Vgl. dazu die Andeutungen von H. Oberer, wonach das kritische System der Philosophie vielleicht letztlich speziell im Hinblick auf die Rechtslehre entwickelt worden sei; historisch sieht Oberer Hinweise darauf, daß die Ausarbeitung des Rechtsprinzips den Anstoß für den kritischen Neuansatz der praktischen Philosophie bildete „und ein Motiv für die kritische Neubegründung der Philosophie überhaupt und im ganzen darstellte." Demnach erzwang der Rechtsgedanke eine neue theoretische Philosophie; insbesondere über die in der Antinomienlehre verhandelte Freiheitsproblematik, die nachweislich aus der rechtsphilosophischen Arbeit Kants aufgestiegen sei, woraus Oberer schließt, „daß die im weiteren Sinne »kritische4

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F. Kaulbach beansprucht den Nachweis erbringen zu können, „daß die von Kant praktizierte Vernunft wie auch sein Begriff von Vernunft in theoretischer und praktischer Gestalt von Grund aus einen Charakter tragen, der durch juridische Kategorien zu beschreiben ist", so daß der juridische Charakter „als allgemeine, notwendige und ursprüngliche Eigentümlichkeit der Vernunft" angesehen werden muß.6 Der Kantischen Verwendung juridischer Denk- und Sprechfiguren soll danach nicht nur metaphorische Bedeutung zukommen, sondern darin sollen sich gerade die Figuren gedanklichen Handelns darstellen, die dem transzendentalphilosophischen Ansatz von seinem Ursprung her eigentümlich sind. Kaulbach verweist in diesem Zusammenhang zwar auch darauf, daß das Subjekt den Gegenständen möglicher Erfahrung »verfassungsmäßig fundierte Gesetze4 vorschreibt und die Vernunft eine »Prüfung 4 von Aussagen in einem »öffentlichen Verfahren 4 vornimmt, aber die Bedeutung des Juridischen für die theoretische Philosophie soll sich doch nicht in solchen Analogien und metaphorischen Wendungen erschöpfen. Beansprucht wird vielmehr, „eine gemeinsame und identische Wurzel von Erkenntnisvernunft und Rechtsvernunft überzeugend sichtbar zu machen44, so daß „ein und dieselbe »Handlung4 der Vernunft» welche das theoretische Subjekt als Gesetzgeber allgemeiner Gesetze der Natur legitimiert, auch die rechtliche Konstellation zwischen Rechtssubjekt (Person) bzw. der Gesamtheit der Rechtssubjekte und der im Handeln brauchbaren, verfügbaren ,Sache4 begründet. Die Bedingung der Möglichkeit von Naturerkenntnis wird sich auf diese Weise zugleich als Bedingung der transzendentalen Konstellation zwischen Rechtspersonen und den juridischen Sachen erweisen.44 (S. 113) Gezeigt werden soll also nicht eine Identität von theoretischer Vernunft und Rechtsvernunft, sondern eine gemeinsame Wurzel beider hinsichtlich ihrer transzendentalphilosophischen Fundierung. Die Grundlage für einen solchen Zusammenhang wird zunächst über die transzendental-juridische Konstellation zwischen der freien Rechtsperson und der Sache überhaupt gesucht, also über das »GrundVerhältnis 4, in dem sich „das Subjekt zur Sache und zu den andern Personen jeweils in ein bestimmtes Verhältnis der Freiheit setzt.44 (S. 118, Anm. 7) Die transzendental-juridische Konstellation bedeutet also im Verhältnis zu den Sachen eine ,freie 4 Verfügungsmöglichkeit über sie, die mit der Deklaration als »mein4 in einem »Ich will 4 beginnt, also in einer juridischen Willenserklärung, die gegenüber anderen Personen abgegeben wird, „um deren Anerkennung jeweils meines Willens zu bewirken. 44 (S. 121) In diesem transzendentalen Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung des ,Ich will 4 repräsentiert sich aber zugleich die »allgemeine Rechts Vernunft 4 in Gestalt des »allgemeinen Willens4. Die Rechtsvernunft zeigt ihre Wurzel demnach in der Konstituierung der »freien Person-stellung4 der Sache gegenüber, so daß das Recht tranPhase der Kantischen Philosophie in einer ihrer wesentlichen Rücksichten schon mit den frühen, rein rationalen Rechtsgedanken ab 1764 einsetzt." (Zur Frühgeschichte der Kantischen Rechtslehre, in: Kant-Studien 64/1973, S. 88-102; S. 99, S. 101 f). 6 F. Kaulbach, Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Würzburg 1982, S. 111.

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szendental »verwurzelt 4 ist „im Prinzip des juridischen Grundverhältnisses zwischen den Personen" (S. 122). Die Gemeinsamkeit mit der theoretischen Vernunft soll nun darin gefunden werden können, daß Kant auch dem transzendentalen Subjekt die Rolle überträgt, „eine Stellung der Freiheit gegenüber den Objekten einzunehmen", in welcher die Objekte im Status von Erscheinungen erkennbar werden, indem sie als „Produkte einer transzendentalen Aufbauarbeit von Seiten des Subjekts gedeutet werden können" (S. 126). Die transzendental-juridische Konstellation soll in den Erkenntnisbezug dadurch eingehen, daß die gegenständlichen Charaktere des Erkenntnisgegenstandes in Freiheit entworfen werden: „Das in die theoretische Vernunft eingehende transzendentaljuridische Grundverhältnis erweist meine Stellung als die der Freiheit gegenüber der Gegenständlichkeit der Gegenstände. Erkennbarkeit ist eine Art von theoretischer Verfügbarkeit über die Gegenstände." (S. 127) In der Tat beansprucht Kaulbach, damit den ,höchsten Standpunkt4 der Transzendentalphilosophie erreicht zu haben, „in welchem das Grundverhältnis zwischen dem freien Subjekt und den Sachen sichtbar zu machen ist, so wie es im Modell der transzendentaljuridischen Konstellation vor Augen steht.44 (S. 128) Für diesen Zusammenhang wird dann offenbar das Verhältnis zwischen dem theoretischen ,Ich denke4 und dem ethischen bzw. juridischen ,Ich will 4 zum experimentum crucis. Kaulbach weist jedoch nur darauf hin, daß ein »Entsprechungsverhältnis4 zwischen dem praktischen ,Ich will' und dem ,Ich denke4 der theoretischen Philosophie bestehe, indem letzteres sich einen Gegenstand gegenüber stellt, „dessen gegenständlichen Charakter es nach allgemeinen von ihm entworfenen Gesetzen vorschreibt bzw. dessen »Gegenständlichkeit4 es den Kategorien gemäß konstituiert. 44 Das ,Ich denke4 setzt sich also zur Sache „in ein transzendentales Verhältnis, damit die Ausübung der Erkenntnishandlungen an ihr möglich wird. 44 (S. 127) Entgegen dem zunächst erhobenen Anspruch, eine juridische Struktur der theoretischen Vernunft jenseits der Begrifflichkeit einer Gesetzgebungsleistung einleuchtend zu machen, sind wir also doch wieder auf die Analogie der Gesetzgebung zurückgeworfen, in der dem transzendentalen ebenso wie dem juridischen Subjekt die Rolle zukommt, eine Stellung der Freiheit gegenüber den Objekten einzunehmen. Kaulbach faßt seine Position so zusammen: „So, wie sich das Rechtssubjekt die Rolle dessen anweist, der die Sachen zu Mitteln für seine Zwekke gebraucht, so übernimmt das theoretische Subjekt die Rolle des Gesetzgebers und des Herrn der theoretisch verfügbaren Sachen. Dadurch kommt in den Erkenntnisbezug zwischen Subjekt und Objekt ein transzendentaljuridischer Einschlag. Das Subjekt verschafft sich insofern ein Recht auf den zu erkennenden Gegenstand, als es a priori dafür sorgt, daß dieser nur als Produkt der formenden Arbeit infrage kommt, die es auf ihn in transzendentalen Konstitutionsakten verwandt hat.44 (S. 128) Kaulbach hat diese Gesetzgebungsanalogie sodann in den Zusammenhang seiner Philosophie des Perspektivismus gestellt. Philosophische Vernunft muß sich 3 Römpp

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A. Einleitung

demzufolge zugleich als Gesetzgeberin erweisen, damit ein „gerechtes richterliches Urteil über Recht und Unrecht der Perspektiven" gefallt werden kann; und sie muß als Prinzip dieser Gesetzgebung annehmen, „daß jede Weltperspektive, .. relativ auf den Erkenntnis- und Handlungswillen des Subjekts Geltung zu beanspruchen ein Recht hat." Wahrheit kommt einer Perspektive zu, sofern sie einem solchen Willen die ihm angemessene Welt verschafft, ihr Geltungsanspruch verliert jedoch sein Recht jenseits dieses Bezugs, und eben „diesem Grundgesetz entsprechend entscheidet Richterin Vernunft über Recht und Unrecht des Wahrheitsanspruchs von Weltperspektiven." 7 Von einem perspektivischen Charakter der philosophischen Vernunft darf demnach nur im Rahmen einer Auffassung von Vernunft gesprochen werden, zu der auch der Zug des Juridischen gehört. Die Rechtsverfassung der philosophischen Vernunft wird notwendig, um den Krieg der verschiedenen Weltperspektiven und ihrer Wahrheitsansprüche zu vermeiden - da die Vernunft so angelegt ist, daß jede ihrer Weltperspektiven absolute Wahrheit beansprucht, kann der Friede im Reiche der Vernunft nur auf eine Weise wiederhergestellt werden: „Vernunft muß sich prinzipiell als Bereich juridischen Denkens und Handelns erweisen" (S. 33). Die „Gründung einer allgemeinen Rechtsverfassung des Denkens" soll auch die Philosophie aus ihrem »Naturzustand* in den bürgerlichen Rechtszustand verwandeln, in dem Kaulbach die „Verwissenschaftlichung" mit der „ Z i v i l i s i e r u n g " des philosophischen Denkens vereinigt sieht.8 Dieser Zusammenhang besteht zunächst über die Analogie zwischen dem »vorsorglichen Staatsmann4, der das Wohl des Staates durch rechtlich geregelte, methodische und über Generationen hinweg geplante Arbeit mehrt, und einer »Denkart4 der Wissenschaft, in der sie eine »Einhelligkeit 4 erreicht, die auf einer gemeinsam anerkannten und befolgten Methode beruht und „auf einer Gesetzgebung, auf Grund deren im ,Staate4 der Wissenschaft zwischen legitimen und illegitimen Aussagen unterschieden und der Streit von Wissenschaftlern durch einen gerechten Richterspruch entschieden wird. 44 (S. 20) Die Gesetzgebung der Vernunftkritik soll die Philosophie also in die Lage versetzen, am Fortschritt der Wissenschaft teilnehmen zu können. Die Integration von Kaulbachs Perspektivismus verleiht diesem Rechtszustand der Philosophie allerdings einen speziellen Status. Die Selbstgesetzgebung des Denkens soll den »richtigen4 und methodisch gesicherten Gebrauch der Perspektiven garantieren, und diese Auffassung läßt zunächst den Schluß zu, daß Kaulbach hier seine eigene philosophische Konzeption vollenden will, wenn er schreibt, während die miteinander streitenden Weltpositionen der Philosophie „vom Richter als in einer einseitigen Interessenperspektive befangen erklärt werden, begreift dieser den eigenen Stand seines Urteilens und Entscheidens als einen überlegenen, über die Enge der Parteienhorizonte gelegenen point de vue, der die Streitsituatio7

F. Kaulbach, Perspektivismus und Rechtsprinzip in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 10/1985 (2), S. 21-35, S. 26. 8 F. Kaulbach, Philosophie als Wissenschaft, Hildesheim 1981, S. 14.

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nen vom Standpunkt des Gesetzes aus zu erkennen und gerecht zu entscheiden vermag." (S. 23) In bezug auf die Transzendentale Dialektik spezifiziert Kaulbach den überlegenen Standpunkt des Richters durch dessen Fähigkeit, die gedanklichen Zwänge, unter denen die streitenden Positionen in ihrer Befangenheit im Denken stehen, zu erkennen, weil er über einen am Gesetz orientierten überlegenen Urteilsmaßstab verfügt (S. 181 f.). Die kritische Gesetzgebung' (Nomothetik) des philosophischen Erkennens umfaßt demnach in erster Linie die Methode des gerechten Gebrauchs der Perspektiven, die in einer dialogisch-dialektischen Bewegung ein gerechtes Entscheiden im Streit von Weltperspektiven ermöglichen soll. Durch diese Entscheidung soll jeder Perspektive ,Recht' geschehen, indem erkannt wird, daß der einseitige Anspruch einer Perspektive zu einem ungerechten Zustand führt, der nur in einer »erweiterten' Denkart aufgehoben werden kann. Diese Aufgabe soll in einer »transzendentalen Topik' durchgeführt werden, in der es darum geht, „die gebrauchten Begriffe und Wörter relativ auf die Perspektive zu deuten, zu der sie gehören." (S. 187) Etwa ist das Problem der rationalen Kosmologie, daß sie die Perspektiven und ihre Sprachen unkritisch vermischt. Die richtende Vernunft besteht dann in der Aufforderung an die »Parteien', sich an die Gesetzgebung des gerechten Gebrauchs der Perspektiven und ihrer Sprache zu halten und die Perspektiven des Bedingten und des Unbedingten und ihrer Sprachen nicht unkritisch zu vermengen. Die »Gerechtigkeit' besteht also gerade in der Anerkennung der relativen Rechte einer jeden Perspektive; die Zurückweisung der illegitimen Ansprüche schließt die Zuerkennung eines eingeschränkten Rechtes unter der Bedingung eines »gerechten' Gebrauchs der Perspektiven ein, wodurch der Widerstreit der Positionen verschwindet und jede zu ihrem Recht kommt. Das Problem, das den juridischen Gebrauch der Vernunft notwendig macht, geht also darauf zurück, „daß sich die Parteien über ihren eigenen Perspektivengebrauch nicht im klaren sind; es fehlt ihnen an der Methode der bewußten und motivierten Wahl des Standpunktes und der ihm entsprechenden Perspektive." (S. 200) Genau diesen Mangel gleicht die juridische Aufgabe der Vernunft in ihrer »transzendentalen Topik' aus. Jene Methode ist gerade charakteristisch für die kopernikanische Freiheit des gerechten Perspektivengebrauchs, in der die Vernunft als Richterin „den Maßstäben des Verstandes und seiner Perspektive der Erscheinungen ebenso gerecht zu werden [hat] wie denen der Vernunft und der ihr angemessenen Perspektive des An-sich-selbst-Seins." (S. 186) Mit dieser Methode des gerechten Perspektivengebrauchs kommt auch die Philosophie zu der ihr gemäßen Aufgabe: „Dadurch, daß sich die philosophische Vernunft Wahlfreiheit und motivierte Verfügungsmöglichkeit über die Perspektiven verschafft hat, hat sie zugleich auch Einheit mit sich selbst herzustellen vermocht." (S. 197 f.) Aufgabe der Philosophie als Richterin ist es also, von zwei Perspektiven und ihren Sprachen Gebrauch zu machen und jeder ihr Recht zu lassen. Sie muß deshalb sowohl die Sprache des Verstandes wie auch der Vernunft sprechen können und die in beiden Sprachen maßgebenden Begriffe richtig deuten können. In seiner Methode der »transzendentalen Topik' gewinnt das transzendentalphilosophische Denken damit 3*

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einen ,topisch-rhetorischen' Zug, indem es die Anleitung für die Führung eines dialogischen Denkprozesses gibt. Der juridische Charakter der Vernunft erbringt demnach die Grundlage für die Kommunikation philosophischer Standpunkte, weil mit ihm eine Methode des kritischen und gerechten Gebrauchs von Weltperspektiven zu Bewußtsein kommt: „durch die allgemeine Selbstgesetzgebung der philosophischen Vernunft und die an das Gesetz gebundene Praxis der Rechtsprechung wird ein gemeinsames Denkverhalten normiert, auf Grund dessen Kommunikation und Überzeugen im Bereiche der Philosophie möglich ist." (S. 235) Indem die dialogische Vernunft sich als juridische Vernunft und den Dialog als Rechtsprozeß interpretiert, erkennt sie, daß sie darin als richterliches Bewußtsein einen Weg zur gerechten Entscheidungsfindung zu gehen hat, auf dem dieses Bewußtsein „zu dem Stande des Glaubens an die Rechtmäßigkeit der Entscheidung gelangt." (S. 251) Das am Vorbild juridischer Vernunft orientierte philosophische Denken und Argumentieren soll damit einen hohen Anspruch erfüllen können: „Philosophie verwaltet in der Gestalt juridischer Vernunft die Sache der Menschheit; denn sie versucht, in einer Selbstgesetzgebung und Rechtsprechungspraxis die Vielheit der philosophischen Positionen und Weltperspektiven in den Zusammenhang der Gedankenarbeit an der Erfüllung des allen Menschen gemeinsamen Bedürfnisses nach Weltorientierung und Sinngebung einzuholen." (S. 236) Eine Kritik der reinen Vernunft hat damit die Aufgabe, die Vernunft so zu denken, daß Perspektivismus und Rechtsprinzip vereinbar werden. Der juridische Charakter der Vernunft wird also in zweifacher Weise bedeutsam: „einerseits übernimmt philosophische Vernunft die Rolle des Richters, der Ansprüche der Wissenschaften prüft und rechtfertigt; andererseits begegnet diese Vernunft im Zuge ihrer Rechtfertigungsaufgabe wiederum einem juridischen Grundcharakter des theoretischen Verstandes: sofern dieser als Gesetzgeber auftritt, der den Sachen, mit denen er es in der Wissenschaft zu tun hat, die Verfassung der Gegenständlichkeit vorschreibt." 9 Das Juridische der theoretischen Vernunft reduziert sich also wiederum auf die Aufgaben des Prüfens und Rechtfertigens von Ansprüchen der Vernunft. 10 Die überlegene Einsicht der juridischen Vernunft besteht dennoch nicht in einem besseren Wissen über die Angemessenheit der Perspektiven und ihrer Ansprüche, sondern in einem Verständnis ihrer Perspektivität aufgrund einer Differenzierung ihrer Sprachen und ihrer gedanklichen Grundlagen. Den Perspektiven soll ihr Recht gegeben werden, indem ihre beschränkte Geltung bestimmt und legitimiert 9

F. Kaulbach, Perspektivismus und Rechtsprinzip in Kants Kritik der reinen Vernunft, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 10/1985 (2), S. 21-35, S. 29 f. 10 Hier könnte ein »intellectual virtue approach4, der intellektuelle Tugenden als die primäre normative Komponente eines gerechtfertigten Wissens untersucht, sicher bessere Resultate erbringen als die Übertragung juridischer Begriffe auf die Begründungstätigkeit theoretischer Philosophie und theoretischer Wissenschaften überhaupt. Vgl. dazu L. T. Zagzebski, Virtues of the Mind. An Inquiry into the Nature of Virtue and the Ethical Foundations of Knowledge, Cambridge 1996.

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wird. Daß die Vernunft damit nicht nur eine dialogische bzw. moderierende Funktion übernimmt, sondern eine richterliche, dies schreibt ihr eine Entscheidungsleistung zu, die ihr das Bewußtsein der Rechtmäßigkeit ihrer Einsicht in die Perspektivität verschafft. Juridisch ist die Vernunftkritik dieser Auffassung zufolge also, weil sie über die Perspektivität von Perspektiven richtet und diese damit als solche bestimmt. Sie muß Entscheidungen treffen, weil sie in ihrem Tun gegen das Selbstverständnis der Perspektiven verstößt, die sich nicht als solche, sondern als Wahrheiten darstellen wollen. Die juridische Entscheidung besteht demnach in der Zurückweisung des eigenen Anspruchs der Perspektiven und in der Zuweisung eines neuen Status, der ihrem Selbstverständnis widerspricht, in dem sie gerade nicht als Perspektiven auftreten. Kaulbachs Interpretation eines juridischen Vernunftbegriffs in der Kantischen Philosophie entspricht mit der Zuschreibung einer Entscheidungsleistung an die richtende Vernunft zum einen relativ gut der damit behaupteten Analogie zu der Tätigkeit eines Gerichtshofs. Zum »Prozeß4 kommt es, weil die streitenden Parteien an dem Bewußtsein festhalten wollen, recht zu haben, und im juridischen status civilis dennoch nicht von der zum Prinzip des Rechts gehörenden alleinigen Berechtigung des Gesetzgebers und der Gerichtsinstanz auf Festsetzung dessen, was Recht ist, absehen können. Insofern befinden sie sich in einem Zustand der Verabsolutierung ihrer Perspektiven, den sie durch das Gerichtsverfahren aufzugeben bereit sind bzw. wenigstens hinsichtlich seiner Konsequenzen aufzugeben gezwungen werden. Ihre Perspektive wird in der Tat durch die Rechtsprechung eingeschränkt, auch wenn sie weiter in dem Bewußtsein bleiben können, doch »eigentlich 4 recht gehabt zu haben. Zum anderen aber läßt sich die Behauptung eines juridischen Charakters der kritischen Vernunft nur schlecht mit deren gerade von Kaulbach herausgestellten dialogisch-dialektischem und topisch-rhetorischem Status vereinbaren. Die kritische Aufgabe - zumindest der Kritik in der Transzendentalen Dialektik - soll ja in der Aufklärung der Perspektiven über ihren perspektivischen Status bestehen, über den besser Bescheid zu wissen gerade die Auszeichnung der Vernunft darstellt, die sie zum Richteramt befähigt. Insofern kommt ihr aber eher die Tätigkeit einer Maieutik als die eines Gerichtshofs zu. Kaulbach versucht diese Konsequenz abzuwenden, indem er der richtenden Vernunft darüber hinaus die Fähigkeit zuspricht, zu einem Bewußtsein des Glaubens an die Rechtmäßigkeit ihrer Entscheidungen zu gelangen. Dann wird die Vernunft aber entweder über die Fähigkeit verfügen müssen, über die Perspektivität von Geltungsansprüchen auf der Grundlage eines besser begründeten Wissens entscheiden zu können, so daß die Einsicht der Perspektiven selbst in ihre nur relative Gültigkeit den Status eines argumentum ad hominem unterhalb der eigentlichen Begründungsebene annimmt, oder die kritische Vernunft muß mit dem Glauben an ihre bessere Einsichtsfähigkeit die Perspektivität auf höherer Ebene reproduzieren und damit eine Struktur der Selbsttäuschung aufweisen, die ihr das Bewußtsein ermöglicht, ihre Einsicht in die nur relative Gültigkeit der in ein »Gerichtsverfahren 4 eintretenden Perspek-

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tiven sei selbst von der Begrenztheit einer spezifischen Sprach- und Bedeutungswelt ausgenommen. Kants Auskunft, die Vernunft werde zur Kritikinstanz, indem die »Bestimmung4 des Menschen in seinem Endzweck und dem, was ihn notwendig interessiert, sie als »Gerichtshof 4 über sich selbst einsetzt, kann auch durch Kaulbachs Interpretation des juridischen Status der Vernunft in ihrem kritischen Geschäft nicht eingeholt werden. Dies geht nicht nur darauf zurück, daß Kaulbach den von Kant angeführten Grund für den juridischen Status der Vernunft nicht beachtet. Es wird zuvor schon nicht genügend deutlich, warum eine Vernunft mit den ihr von Kaulbach zugeschriebenen Aufgaben und Fähigkeiten denn juridisch 4 heißen muß und worin ihre Tätigkeit mit der Rechtsetzung und Rechtsprechung kongruiert. Der Status einer Beurteilungsinstanz von Geltungsansprüchen auf der Grundlage einer Reflexionsfähigkeit höherer Ordnung im Verhältnis zu den perspektivisch gebundenen Ansprüchen auf Erkenntnis erfordert ja noch nicht die nähere Bestimmung dieses Status als juridisch. Darüber hinaus nimmt auch Kaulbach keinen Bezug auf Kants eigene Ausarbeitung einer Rechtsphilosophie und die darin gegebene Statusbestimmung des Rechts. Wenn Kant jedoch die Vernunft in ihrer selbstkritischen Aufgabe selbst als »Gerichtshof 4 bezeichnet und überdies sein ganzes Unternehmen an genügend Stellen mit juridischen Begriffen zum Ausdruck bringt» so könnte es naheliegen, Kants eigene Bestimmung des Juridischen zur Aufklärung über den juridischen Status einer Kritik der reinen Vernunft heranzuziehen. Den Anspruch, die Kantische Transzendentalphilosophie als rechtsphilosophischen Entwurf durch den Nachweis begriffen zu haben, Kant habe mit ihr den Versuch unternommen, die Vernunft als Rechtsinstanz für das menschliche Leben einzusetzen, erhebt - explizit an F. Kaulbach anschließend - D. R. Doublet. 11 Ihm zufolge enthält nicht nur die Fragestellung der Kantischen Philosophie einen rechtsphilosophischen Charakter, sondern auch die Prinzipien, die das epistemische Wissen der Transzendentalphilosophie tragen sollen, seien als Rechtsprinzipien zu verstehen, und die ,quaestio iuris 4 der Transzendentalen Deduktion lasse sich in eine ihr entsprechende einheitliche Systemkonzeption einordnen. Doublet ist zunächst wohl zuzustimmen, daß Kants Transzendentalphilosophie als konzeptionelle Einheit vom Reflexionsprozeß der Vernunft hervorgebracht ist (S. 22), dessen Ziel in einer ,Selbsterklärung der Vernunft 4 in einer ,Selbstdisziplinierung4 liegt, für die sie ihren Reflexionsstandpunkt aus Freiheit einnehmen muß (S. 145). Die Einsetzung der Vernunft als Rechtsinstanz soll in diesem Reflexionsprozeß im Durchgang durch vier ,Reflexionsstandorte 4 geschehen, als die Doublet die kopernikanische Wende, den Verstand, die Urteilskraft und die Vernunft identifiziert (S. 22), bis jener Reflexionsprozeß schließlich seinen Endzweck in der Glückseligkeit4 findet (S. 59), mit der ein einheitlicher Entwurf des Menschen gefunden ist (S. 67). Auf diesem Weg unternimmt die Vernunft ein »Experiment4 mit sich selbst (S. 24), um schließlich ihr ,Richteramt4 einnehmen zu können. h D. R. Doublet, Die Vernunft als Rechtsinstanz, Oslo/Paderborn 1989.

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Dieses Experiment entspricht der Leistung der Transzendentalphilosophie, die damit der Vernunft als Rechtsinstanz ihren Platz anweist (S. 41), wodurch die Vernunft selbst als »Supervisor4 des Verstandes fungieren kann. Das ,Recht4 der Vernunft zeigt sich dieser Auffassung zufolge als »oberstes Erkenntnisprinzip 4 und als »Grundmuster aller Philosophie überhaupt4 (S. 58). Daß die Vernunft sich als Rechtsinstanz einsetzt, soll also allein „aus dem freien Experimentieren der Vernunft mit sich selber möglich sein44 (S. 151), in dem sie sich als Gesetzgeber und Richter zeigt (S. 184). Bezüglich der Transzendentalen Deduktion kommt Doublet zu der Auffassung, die Bestimmung des Deduktionsbegriffes zeigt die „naturrechtliche Sichtweise der Idee des Rationalen im Menschen4412 und die quaestio iuris sei „das Bindeglied des Verstandes zur überzeitlichen Sphäre des Rechts, zu der er mit Hilfe einer juristischen Deduktion gelangen kann.44 (S. 65) Die Transzendentale Deduktion soll demnach auf einer ,naturgesetzlichen Basis4 beruhen, weil die Vernunft dem Verstand darin Rechtskenntnis innerhalb seines eigenen Erkenntnisbereichs verleiht (S. 144). 13 Erst in der Transzendentalen Dialektik dagegen liege der Schwerpunkt auf der Selbstkonstituierung der Vernunft (S. 158), dort ist die Vernunft als »Vermögen der Prinzipien 4 eine Rechtsinstanz, die »Rechtsprinzipien4 angibt, während der Verstand auf »Rechtsregeln4 oder,Gesetze4 eingeschränkt ist (S. 160). Doublet sieht völlig richtig, daß die Vernunft damit Richterin in eigener Sache nur für jene Bereiche ist, die sie selber durch ihren Reflexionsprozeß erst ermöglicht hat: „Der Selbstbezug der Vernunft, der hier zum Ausdruck kommt, verweist eigentlich eher auf eine Einheit der Vernunft, die mit der systematischen Einheit dieser Bereiche zusammenfällt. 44 (S. 195)

12 Vgl. dazu auch die Auffassung von D. Markis, demzufolge wir Kant eine »rechtsphilosophische' Umschreibung der Differenzierung dreier Ebenen von Metakriterien verdanken: Gewohnheitsrecht für den Logos des Common Sense, positives Recht für den Logos der wissenschaftlichen Ratio, und schließlich Naturrecht für den ahistorischen Logos der reinen Vernunft. Daß die transzendentale Deduktion ein ,Naturrecht' verkündet, „das eine Reihe von Konventionen ohne konventionellen Akt erklärt", wird von Markis nebenbei versichert, bleibt aber ohne nähere Erläuterung oder Begründung. (Protophilosophie. Zur Rekonstruktion der philosophischen Sprache, Frankfurt/Main 1980, S. 129, S. 110). 13 Interessant ist dabei der Hinweis auf das Verhältnis zwischen status naturalis und status civilis. Doublet beschreibt die Aufgabe der Vernunft als Kritik so: das rechtsphilosophisch geprägte Verständnis von Vernunft zeige sich durch die »Besitzverteidigung4 einer Vernunft, die nicht dogmatisch verfaßt ist, und die ihren »Besitz' deshalb nicht beweisen, sondern nur verteidigen kann, und diese Verteidigung der Vernunft lasse sich mit der Verteidigung eines Grundbesitzes vergleichen, dessen Besitzer noch nicht durch einen funktionsfähigen Rechtsstaat geschützt ist. Die Vernunft konstituiert demnach ihren eigenen Übergang vom status naturalis in den status civilis: „Erst mit Hilfe der als Rechtsinstanz fungierenden Vernunft läßt sich die Rechtmäßigkeit eines solchen Besitzes, wenn auch nicht beweisen, so doch zumindest festlegen. Stellt die Vernunft einen Grundbesitz in diesem Sinne dar, so ist dieser nur dann zu legitimieren, wenn sie selber als Rechtsinstanz auftritt." (S. 152) Das Projekt einer Einsetzung der Vernunft als Rechtsinstanz ist demnach letztlich „im bürgerlichen Gemeinwesen begründet" (S. 165).

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Doublet beschreibt das Ungenügen seiner Konzeption selbst sehr gut, wenn er darauf hinweist, daß die rechtsphilosophische Grundlage der Kantischen Transzendentalphilosophie dadurch zum Ausdruck komme, daß Kant in seinen theoretischen Werken rechtsphilosophische Begriffe verwendet, denen er selbst den Status der »Metapher4 zuschreibt (S. 161), obwohl diese Grundlage doch nicht dahingehend verstanden werden dürfe, „daß der Transzendentalphilosophie Kants eine rechtsphilosophische Konzeption zugrundeliegt. 4414 Nichtsdestoweniger lautet die zentrale Behauptung doch, die Transzendentalphilosophie Kants betrachte „die Fragen der Erkenntnistheorie und der Ethik aus rechtsphilosophischer Perspektive.44 (S. 218, Anm. 604) Ohne Rekurs auf eine rechtsphilosophische Konzeption kann aber gerade nicht deutlich werden, daß die Vernunft ausgerechnet »Rechtsmittel4 einzusetzen habe, um ihren Reflexionsprozeß durchzuführen und sich darin als ,Rechtsinstanz4 einzusetzen, und was das genuin Juridische solcher Rechtsmittel und einer solchen Rechtsinstanz sein könne. Schließlich gilt durchaus: „Es ist ein Erfordernis des rechtsphilosophischen Modells, daß Begriffe wie Rechtsinstanz, Gerichtshof und Richter konstitutionell begründet werden müssen.44 (S. 183) Doublet ist allerdings zuzustimmen, wenn er die transzendentale Freiheit als Bedingung dafür ansieht, daß die Vernunft ihre Stellung als Rechtsinstanz einnehmen kann (S. 196). Der juridische Status der Vernunftkritik läßt sich dann allerdings nur über die juridischen Bedingungen dieser Freiheit aufklären, und dies eben kann nicht ohne eine rechtsphilosophische Konzeption unternommen werden, die bei Kant selber gefunden werden muß, und ohne die eine rechtsphilosophische »Perspektive4 nicht begründet eingenommen werden kann. F. Stentzler geht bei seiner Interpretation von dem rechtlichen und politischen Begriff einer »Verfassung 4 der Vernunft aus, in der allein schon das juridische Instrumentarium 4 des Denkens auf das gesellschaftlich Bedeutsame von Kants theoretischer Philosophie verweise. 15 Die Vernunftkritik hat nach dieser Auffassung die Aufgabe, der neuen bürgerlichen Gesellschaftsverfassung zuvor die »richtige4 Erkenntnisverfassung zugrundezulegen. Den Anspruch, „den genuinen Rechtsanspruch der Philosophie, den unauflöslichen Zusammenhang also von Vernunftkonstruktion und Rechtskonstruktion44 (S. 9) - das „konstitutiv Juridische44 - kenntlich zu machen, vermag jedoch auch Stentzler nicht einzulösen. Daß der Erkenntnisprozeß formell ein Rechtsprozeß um den Wahrheitsanspruch sei, wird zunächst an der juridischen Begrifflichkeit und Metaphorik von Kants 14 Vgl. ähnlich die vagen Andeutungen von J. E. Dotti über einen begrifflichen Parallelismus zwischen der Thematik der ,Kritik der reinen Vernunft' und der Entfaltung der rechtsphilosophischen Thematik in der »Metaphysik der Sitten' - ein Parallelismus, der sich darauf beschränkt, daß der Hauptgrundsatz des Rechts eine transzendentale Eigenschaft besitzt, indem er dem positiven Recht ein »reines' Element hinzufüge, was ausreiche, um eine Entsprechung zur Transzendentalität der intellektuellen reinen Grundsätze herzustellen (Quid iuris und quid facti, in: G. Funke (Hrsg.), Akten des 5. Internationalen Kant-Kongresses, Bd. 1,1, Bonn 1981, S. 12-21). 15 F. Stentzler, Die Verfassung der Vernunft, Berlin 1984.

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vorkritischen Frühschriften nachzuweisen gesucht.16 Die »Kritik der reinen Vernunft' wird als »Verfahren der Selbsterkenntnis' verstanden, als ein »Prozeß nach Gesetzen', in dem die ,GattungsVernunft' „die unnachgiebige Prüfung und die strenge richterliche Kontrolle des Gesetzgebers auf seine verfassungsmäßigen Rechte hin" durchführt - die Vernunftkritik unterwirft „die gesetzgebende Instanz einer Verfassungskontrolle". (S. 88 f) Die apriorische Gesetzgebung für die Natur wird mit dem selben unwiderstehlichen Zwang ausgestattet gesehen, der den Gesetzen der äußeren Gesetzgebung in der Rechtslehre zukommt, und von diesem Zusammenhang führt der Gedanke weiter zu einer Identifizierung der ersteren Gesetzgebung mit der zweiteren nach dem Status einer »äußeren' Gesetzgebung (S. 97). Stentzler scheint ein Bedingungsverhältnis zwischen der apriorisch-konstitutiven Gesetzgebung für die Objektivität der Erfahrungswelt und der bürgerlichen Vereinigung als einem a priori gesetzlich verordneten Zusammenhang annehmen zu wollen (S. 99 f.); es bleibt jedoch unklar, ob dieser Gedanke über den Status einer bloßen Strukturanalogie hinaus begründet werden soll. Darüber hinaus identifiziert Stentzler ein juridisches Moment in dem Bemühen, die Welt durch die Gesetzgebung der Vernunft zu einer beherrschbaren zu machen, indem wir ihr erkennend eine gültige Verfassung geben und die raumzeitlich entworfene Welt unserer »Okkupation' unterwerfen: „Raum und Zeit sind herrschaftsförmig organisiert und werden nun sehr diesseitig politisch-juridisch bedeutsam." Die theoretische Autonomie wird aufgefaßt als „die territoriale Souveränität eines kolonialen Verfassungsgebers und derart erfahrungsmächtigen Subjekts". (S. 110) 17 Das Juridische wird also offenbar schon darin gesehen, daß wir die Welt dem zentralen Gedanken Kants zufolge nun aus eigener Autonomie nach eigenen Gesetzen organisieren (S. 126), in deren Kodex Forderungen eingetragen sind, „die Anweisung geben auf die Möglichkeit einer künftig zu errichtenden Gesellschaft", deren Verfassung die alte vor-bürgerliche Ordnung ersetzen soll (S. 128) - die Verfassung der Natur erteilt Anweisung auf unsere gesellschaftliche Verfassung. Die Kategorien sollen in der Tat eine Verbindlichkeit in sich tragen, die einer künftigen gesellschaftlichen Verfassung exemplarisch zur Anweisung dienen könne (S. 132). Dementsprechend wird die quaestio iuris der Transzendentalen Deduktion interpretiert. Das Ich der transzendentalen Apperzeption erscheint als »stolzer und aufrechter Souverän', der eine Kontrolle ausübt unter der Norm unabdingbarer Gesetze (S. 141 f.); als solcher ist es ein »Rechtsgrund', aus dem die einzelnen Akte der Synthesis abzuleiten sind (S. 150). Die Kategorien besitzen den gleichen Status 16

Zu Kants Vertrautheit mit dem preußischen Zivil- und Zivilprozeßrecht vgl. die Ausführungen zu Refl. 3357 bei H. Kiefner, Ius praetensum. Preußisches Zivil- und Zivilprozeßrecht, richterliche Methode und Naturrecht im Spiegel einer Reflexion Kants zur Logik, in: F. Kaulbach/W. Krawietz (Hrsg.), Recht und Gesellschaft. FS für Helmut Schelsky, Berlin 1978, S. 287-318. 17 Eine Neuauflage einer solchen Interpretation der theoretischen Philosophie Kants findet sich bei J. Conrad, Freiheit und Naturbeherrschung. Zur Problematik der Ethik Kants, Würzburg 1992.

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wie Rechtskonstruktionen, indem sie Sicherheit vor wechselnden Interessen auf empirischer Ebene gewähren (S. 149). Hier wird das Bedingungsverhältnis nun umgekehrt. Nicht die gesetzlich verfaßte Natur wird als Grundlage für die Gesetzlichkeit des bürgerlichen Zustandes angesehen, sondern die „Verarbeitung des rohen Naturzustands zu eigenen Zwecken und Herrschaft" (d. h. die Synthesis des Mannigfaltigen) soll geschehen „durch das unwiderstehlich Nötigende einer bürgerlichen Verfassung des Rechts" (S. 152). In einer erneuten Umkehrung wird jedoch dann der bürgerliche Zustand des Rechts als Folge einer Verfassung der Vernunft aufgefaßt, deren Entwurf die Vernunft erst „auf dem sicheren Fundament erfolgreicher Naturbeherrschung" durch die Gesetzgebung der Kategorien zustande bringt (S. 190). Die das Recht »verwaltende4 bürgerliche Gesellschaft wird schließlich als Vollendung jener Herrschaftsordnung betrachtet, die nach Stentzler den Kern der juridischen Vernunft darstellt: „Sie wird der Herrschaft des Menschen über die Natur nun die Herrschaft des Rechtes über die Menschennatur hinzufügen: die Autonomie erst wahrhaft einsetzen, indem sie ihre Gesetzesmacht nun ganz und gar wendet gegen das Heteronome im Menschen selbst." (S. 201) Daß das »Instrumentarium' des Kantischen Denkens genuin juridisch 4 sei, reduziert sich bei Stentzler auf die Gesetzesförmigkeit der Verfassung der Natur wie der Gesellschaft, wie sie durch menschliche Vernunft hergestellt wird. 18 Das Juridische4 erschöpft sich in der verfassungsmäßigen Herrschaft, die durch die Vernunft als Kritik einerseits über die ,chaotische4 Natur und anderseits über die im Naturzustand entsprechende Gesellschaft der Menschen ausgeübt wird. Juridisch 4 ist die Vernunft also, weil sie bzw. der durch sie beaufsichtigte Verstand Gesetze gibt, die eine Strukturanalogie in der Verfassung von Natur und Gesellschaft konstituieren. Die Ausarbeitung der Kantischen Rechtsphilosophie wird für die juridische Interpretation der theoretischen Philosophie also nicht herangezogen, was den Begriff des Juridischen 4 zu einem Stellvertreter für »gesetzliche Herrschaft 4 macht. Auch das darin noch zu findende juridische Moment wird jedoch dementiert, indem ,unsere4 Herrschaft durch Gesetze ausgeübt werden soll, die ,wir 4 geben, so daß Herrschaftsausübung und Gesetzgebung in eins fallen, womit der Begriff einer konstitutionellen Herrschaft als Herrschaft unter Gesetzen zurückgenommen ist. Darüber hinaus wird die Auffassung des Kantischen Denkens als einer ,Herrschaftsphilosophie 4 durch die vollständige Ausblendung des Begründungsgangs der Transzendentalen Deduktion erreicht. Von Herrschaft kann ja sinnvoll nur ge18

Auf den irreführenden Charakter der von Kant nicht abgewehrten Analogien zwischen ethischen und naturwissenschaftlichen, insbesondere physikalischen Gesetzen wies bereits K. Lisser hin, der darüber hinaus anmerkt, daß Kants beständige Analogieversuche zwischen juristischen und naturwissenschaftlichen Gesetzen die Notwendigkeit einer transzendentalen Deduktion der apriorischen Anfangsgründe der Rechtswissenschaft zur Folge gehabt hätten (Der Begriff des Rechts bei Kant, Kant-Studien Ergänzungshefte 58, Berlin 1922, S. 23 bzw. S. 6).

Exkurs: Positionen einer juridischen Interpretation der theoretischen Philosophie

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sprochen werden, wenn der Akteur A einem Bereich B Gesetze vorschreibt, von denen A selbst unabhängig ist. Das Ich der transzendentalen Apperzeption - von Stentzler als »Souverän* apostrophiert - wird in der Begleitbarkeit aller seiner Vorstellungen durch das ,Ich denke4 aber eben durch jene Gesetze konstituiert, die die Gesetze der Erfahrbarkeit der Objektivität sind, durch die es sich von dieser unterscheidet, in welcher Unterscheidung ihm seine Identität wird. Von »Herrschaft 4 kann im Zusammenhang der Transzendentalen Deduktion - und damit der theoretischen Philosophie Kants überhaupt - also nicht sinnvoll die Rede sein, da deren Beweisangebot gerade darin liegt, die Strukturgesetzlichkeiten der Gegenstände der Erfahrung als identisch mit den Möglichkeitsbedingungen der Erfahrung und des Erfahrenden zu erweisen, soweit der letztere nur im Hinblick auf seine Bezogenheit auf das ,Ding überhaupt4 als ,x4 - also das Objekt bloß als solches und ohne jede weitere Bestimmung - betrachtet wird. Nach R. Bubner hat Kant sich bewußt mit dem ,quasi-juristischen4 Modell einer Deduktion - und dieses Modell korrespondiert der Leitmetapher des Gerichtshofs 4 der Kritik - vom überlieferten Ideal stringenten Beweisens verabschiedet. 19 Das Verfahren der Deduktion erscheint hier als Akzentverschiebung vom Demonstrieren bzw. Beweisen zum Argumentieren, und nur durch den damit durchgeführten Verzicht auf die Identifikation von Philosophie mit Wissenschaft habe Kant eine Möglichkeit gesehen, „im Zeitalter eines von philosophischer Bevormundung freigesetzten, autonom gewordenen Wissenschaftsbegriffs die genuine Reflexion der Philosophie in ein geklärtes Verhältnis zur Wissenschaft zu setzen.44 (S. 330) Gerade der juristische Zusammenhang der Deduktion gemäß der Frage ,quid juris 4 ändert grundlegend das Begründungsverfahren, das Kant in der Absetzung von der Schulphilosophie einsetzte, nachdem ihm die Möglichkeit zwingender Beweise in der Transzendentalphilosophie abhanden gekommen war. 20 Im Unterschied zu einer Demonstration geht es in einer Deduktion als einem Rechtsverfahren nicht um den Zustimmungszwang für jeden Vernünftigen, sondern um den Nachweis einer Legitimation, und legitime Rechte kann man bestreiten, ohne deshalb als unvernünftig zu gelten: „Man zeigt höchstens, daß man kein Rechtsbewußtsein besitzt44. Worauf Kant sich beruft, ist also nicht die eine und allgemeine Vernunft, sondern die „einsichtige Anerkennung, ohne die kein Recht Geltung besäße.44 (S. 307) Was die Deduktion nachweisen will, ist die Berechti19

R. Bubner, Selbstbezüglichkeit als Struktur transzendentaler Argumente, in: W. Kuhlmann/D. Böhler (Hrsg.), Kommunikation und Reflexion, Frankfurt/Main 1982, S. 304332. 20 E. W. Stoddard weist darauf hin, daß Kant nicht explizit unterscheidet, ob er,legal proofs' oder »scientific proofs' meint, wenn er die Gesetze der apriorischen Grundlage der Natur zu beweisen unternimmt, und schließt daraus, Kant habe „one foot in each of two ideological camps", deren erstes „the ideology of scientific objectivity" darstellt und deren zweites „arises mainly through the metaphorical concern with legitimation and limitation of reason's rights." (Reason on Trial: Legal Metaphors in the Critique of Pure Reason, in: Philosophy and Literature 12/1988, S. 245-260, S. 250 f).

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A. Einleitung

gung, einen bestimmten Begriff in einem bestimmten Zusammenhang zu gebrauchen. Die »einsichtige Anerkennung', auf die sich die Berechtigung der Deduktion stützt, identifiziert Bubner nun mit einem Legitimationsnachweis durch ,Appell' an das Selbstverständnis eines jeden Subjekts. Jene Anerkennung verlangt deshalb nicht mehr als die Selbstanerkennung des Subjekts in seiner Einheit des Selbstbewußtseins, dessen Struktur es anerkennen muß, wenn es sich selbst überhaupt verstehen will. Sofern es also »einsichtig' ist, also sich selbst versteht, muß es den Objektivitätsanspruch der Erkenntnis in der Differenz zur Erfahrung als Erscheinung für ein Subjekt anerkennen. Die Deduktion verlangt damit nichts anderes als die Anerkennung der unableitbaren Leistung ursprünglicher Synthesis, also der Einheit des Selbstbewußtseins unter dem Namen der transzendentalen Apperzeption. Diese Einheit aber findet jedes Subjekt in sich vor. Das Selbstbewußtsein gewinnt damit eine Sonderstellung als ,Rechtsgrund', an den jederzeit appelliert werden kann, „weil kein Subjekt, das sich als Subjekt versteht, davon absehen kann." (S. 310) Das Beweisverfahren der Deduktion besitzt demnach den Status eines »Plädoyers', „das an die Anerkennung eines Rechtstitels gemahnt» der im Selbstbewußtsein eines jeden Subjekts abrufbar ist." (S. 322) Dieser »Rechtstitel' nimmt nichts anderes in Anspruch als die im Selbstbewußtsein als solchem gegebene Möglichkeit, die wechselnden Bewußtseinsgehalte als die eigenen zu identifizieren. Die Instanz der Anerkennung ist damit kein Prinzip, „das jenseits der tätigen Verknüpfung der Vielfalt von Vorstellungen zur Einheit des Selbstbewußtseins sozusagen an und für sich vorhanden und einer höchsten Vernunfteinsicht zugänglich wäre." (S. 323) Der,Rechtsgrund' der Beantwortung der quaestio iuris ist die transzendentale Apperzeption selbst, die einen Grund für die objektive Geltung der kategorial strukturierten Welterfahrung darstellt, den niemand im vollen Bewußtsein seiner selbst leugnen kann. Die »einsichtige Anerkennung', die das juristische Verfahren der Deduktion im Unterschied zu einer Demonstration fordert, muß aufgrund ihres ,Rechtsgrundes' also von jedem geleistet werden, der überhaupt ein Bewußtsein von sich als Subjekt beansprucht. Die Leugnung dieses Grundes wäre nicht unvernünftig, und niemand könnte zur Zustimmung gezwungen werden: „Die Deduktion zieht ihre Kraft vielmehr aus dem drohenden Verlust der Konsistenz des Selbstverständnisses, so daß jeder, der sich selber richtig versteht, die Zustimmung nicht versagen kann." (S. 308) Bubners Explikation des Kantischen Argumentationsverfahrens in der Transzendentalen Deduktion ist sicherlich weitgehend zuzustimmen. Offene Fragen bleiben jedoch auch hier hinsichtlich der Verwendung der juridischen Terminologie. Ein Plädoyer, das für den Adressaten nicht abweisbar ist, es sei denn um den Preis seiner Leugnung als Subjekt und d. h. als Adressat dieses Plädoyers, kann nur schwerlich den Begriff des Plädoyers in einem juridischen Sinn erfüllen. Gewiß ist ein Plädoyer nicht zwingend im Sinne eines Absprechens von Vernünftigkeit im Falle der Abweisung, aber es ist auch nicht zwingend im Sinne der Selbstverleug-

Exkurs: Positionen einer juridischen Interpretation der theoretischen Philosophie

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nung als Subjekt und Selbstbewußtsein im gleichen Falle. Ein Plädoyer versucht in einem bestimmten Argumentationszusammenhang gute Gründe für eine Behauptung geltend zu machen, und es wird diese Gründe in erster Linie innerhalb der juristischen Vernunft formulieren, wenn es sich - wie im deutschen Gerichtsverfahren - an Juristen wendet, und es wird diese Gründe in erster Linie für den common sense einleuchtend machen, wenn es sich - wie im amerikanischen Recht an eine Laienjury wendet.21 Wenn das Plädoyer aber kontextabhängig ist und sich nicht an das Subjekt qua Subjekt wendet, so ist auch nicht einsichtig, daß es einen »Rechtsgrund4 vorträgt, der dem Subjekt qua Subjekt zur Anerkennung als »Rechtstiter vorgelegt wird und es zur Anerkennung zwingt, will es nicht Gefahr laufen, sich als Subjekt selbst nicht mehr verstehen zu können. Ebenso verliert der Ausdruck ,Nachweis einer Legitimation4 für das Argumentationsangebot der Deduktion seinen juridischen Sinn, wenn nicht der spezifische Rechtsstatus dieser Legitimation deutlich gemacht werden kann. Trotz der überzeugenden Rekonstruktion des Kantischen Grundgedankens bleibt Bubner doch den Nachweis schuldig, daß die Deduktion tatsächlich am juristischen Verfahren abgelesen ist und eine im rechtsphilosophischen Sinne so zu bezeichnende ,Rechtsgeltung4 für ihre Behauptungen entwickeln würde. Daß das Gerichtshof-Modell die ,Tiefenschicht 4 des Denkmechanismus der kritischen Philosophie darstellt, ist auch die Behauptung von F. Ishikawa. 22 Das Spezifikum der skeptischen Methode Kants soll gerade die Definition dieser Methode durch die Begriffe der Gesetzgebung und der Rechtsprechung sein; das gerichtliche Verfahren wird deshalb als die ausgearbeitete Gestalt der skeptischen Methode aufgefaßt (S. 9 f.). Ishikawa kann hier in bezug auf die Antinomienlehre darauf hinweisen, daß die entgegengesetzten Sätze die alternativenlose Grundlage einer gerichtlichen Beweisführung bilden, in der beiden entgegengesetzten Sätzen in gleicher Weise Rechnung getragen werden muß und beide gleichermaßen in Zwei21

In diesem Zusammenhang macht J. Waide auf einen interessanten Aspekt aufmerksam. Seiner Interpretation zufolge dominiert die »legal metaphor* die Kantische Moralphilosophie insgesamt, weil sie annimmt, „that there is some principle by which we should judge actions right or wrong, good or bad" - m.a.W: weil sie als Prinzipienethik auftritt: ,»An illegal act is one which violates a statute. One determines whether a given act is illegal by considering whether the act may accurately be described as falling in the class of acts specified in the statute. Similarly, a morally impermissible act is one which violates a moral principle." Eine solche Auffassung setzt offenbar das juridische Modell in der Form von Gesetzesrecht voraus. Eine juridische Interpretation der Moralphilosophie nach dem Modell des angelsächsischen Common Law dagegen würde die Kantische Ethik sehr nahe an eine Tugendethik heranführen, denn für das Common Law gilt: „One learns to make legal judgments by reviewing the decisions of the courts under the supervision of a master in legal judgment" - und „these judgments are grounded in the practices of a community" und deshalb „fully in accord with a virtue model." (Virtues and Principles, in: Philosophy and Phenomenological Research 48/1988, S. 455-472, S. 463, S. 461, S. 465). 22

F. Ishikawa, Kants Denken von einem Dritten. Das Gerichtshof-Modell und das unendliche Urteil in der Antinomienlehre, Frankfurt/Main 1990.

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A. Einleitung

fei zu ziehen sind. Der Verfasser vermutet, daß dieses Verfahren aus der dialektischen Vernunft auch auf die transzendentale Deduktion der Kategorien übertragen worden sei. 23 Im Gegensatz zur gängigen Übernahme des Begriffes eines Gerichtshofs der reinen Vernunft wird hier die Frage nach der »Denklogik4 gestellt, in der die gerichtlich-skeptische Methode gründet. Der Standort einer höheren und richterlichen Vernunft soll nun von dem unendlichen Urteil vermittelt werden - während jede der entgegengesetzten Thesen aufgrund ihrer »Zweiwertigkeit4 positiv über sich und negativ über die andere entscheidet, kann das unendliche Urteil über die Zweiwertigkeit hinaus einen dritten Wert ermöglichen, der den richterlichen Standort angibt. Der Schluß lautet dementsprechend, es sei das unendliche Urteil, das die Tiefenschicht des ganzen Prozesses der Vernunftkritik beherrscht, und überall, wo in der Vernunftkritik das unendliche Urteil im Spiel ist, ist die gerichtliche Methode stillschweigend am Werk, weil mit diesem Urteil ein dritter Standort über zwei vorliegende entgegengesetzte Sätze hinaus einnehmbar wird (S. 82 f.). Ishikawas weitere Ausführungen verlieren weitgehend den Bezug zu Kants juridischer Reflexion auf die Vernunftkritik und können deshalb hier vernachlässigt werden.

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Er könnte sich dabei auf Kants Brief an Christian Garve vom 21. September 1798 stützen, in dem die Antinomie der reinen Vernunft als der ,Punct' bezeichnet wird, „von dem ich ausgegangen bin" - „diese war es welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Wiederspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben." (AA XII, S. 255).

B. Die ,Metaphysik der Sitten4 als Kritik der reinen Freiheit I. Die reine Freiheit als individuelle Eleutheronomie Das fundamentale Theorem der Kantischen praktischen Philosophie läßt sich in dem Satz resümieren, daß alle Freiheit gesetzlich ist. Dieser Zusammenhang wird über die Explikation der Grundlagen der Moralphilosophie in dem, was allein ,gut' heißen kann, erreicht. Wenn nur ein reiner Wille „ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden" (G 393), so kommt ihm seine Güte dann zu, wenn er sich ohne externe Determinanten bestimmen kann. Andernfalls stünde er in Gefahr, in der Abhängigkeit von materiellen Faktoren durch deren mögliche üble Folgen seine eigene Güte einzubüßen. Wenn er nun eine Bestimmtheit benötigt, um überhaupt als Wille gelten zu können, so kommt dafür nur die reine Form der Gesetzlichkeit in Frage. Deshalb ist in der Reinheit des Willens, die sich in der Kategorizität des praktischen Imperativs ausdrückt, bereits das Gebot des moralischen Gesetzes impliziert: „Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte" (G 420). Die Maxime moralischer Handlungen, die nur durch die Determinante eines reinen Willens geformt werden kann, muß folglich dem Kriterium genügen, daß „du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde" (G 421).1 Die argumentative Basis des kategorischen Imperativs ist demnach zunächst eine rein analytische Explikation des Begriffes eines reinen Willens, und die so formulierte Moralität kann sich nur deshalb als sittliches Grundgesetz auszeichnen, weil der reine Wille allein sich im vollen und eigentlichen Sinne als gut auffassen läßt.2 Wenn dies plausibel zu verdeutlichen ist, so kann der Begründungsgang der Moralphilosophie als Explikation des guten Willens vor sich gehen und die Ethik entwickelt werden als Erklärung dessen, was es heißt, guten Willens zu sein. In der Tat scheint der Wille unter allen möglichen Kandidaten für die Auszeichung ,gut' auf besondere Weise geeignet zu sein. Die »Eigenschaften des Temperaments', die ,Talente des Geistes' und andere Gaben können auch dann, wenn sie ihren Begriff 1

Die Maxime aber ist eine Willensentscheidung und drückt eine Gesinnung aus, weshalb Kants Ethik Maximen untersucht und nicht Handlungen; vgl. dazu M. Albrecht, Kants Maximenethik und ihre Begründung, in: Kant-Studien 85/1994, S. 129-146, S. 144 ff. 2 Die Vorgeschichte der Begriffe Spontaneität und Willkür zum einen in der deutschen Philosophie des 18. Jahrhunderts und zum anderen in der Entwicklung der Kantischen Philosophie bis 1781 ist dargestellt bei K. Kawamura, Spontaneität und Willkür. Der Freiheitsbegriff in Kants Antinomienlehre und seine historischen Wurzeln, Stuttgart 1996, S. 35-114.

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B. Die »Metaphysik der Sitten* als Kritik der reinen Freiheit

ganz erfüllen und in diesem Sinne gut heißen können, in Anbetracht ihrer möglichen Folgen ihre Güte verlieren und in einem moralischen Sinne ,böse4 werden. Einzig der Wille als „Aufbietung aller Mittel, soweit sie in unserer Gewalt sind" (G 394), bietet für eine solche Ambivalenz keinen Ansatzpunkt. Wenn der Wille ganz Wille ist und seinen Begriff so erfüllt, daß er in diesem Sinne »gut4 heißen kann, so können alle aus ihm resultierenden Veränderungen in der Welt daran nichts ändern, weil sie ihm definitionsgemäß nicht zugerechnet werden können. Wenn es nun gelingt, die Bedingungen eines reinen Willens zu explizieren, so sind damit ebenso die Bedingungen des Guten und folglich die Grundlagen der Moralität entwickelt. Solche Bedingungen sind bereits durch die Struktur des guten Willens definiert. Ein Wille, der gut ist, weil er seinen Begriff im vollen und eigentlichen Sinne erfüllt, kann nicht durch eine äußere Determination bestimmt werden, die ihn stets in Gefahr brächte, seine eigene Güte durch deren mögliche Bösartigkeit zu verlieren. 3 Wenn jedoch im moralphilosophischen Zusammenhang von einem Willen die Rede sein soll, so muß er eine Bestimmtheit enthalten, die geeignet ist, ihn als einen wahrheitsfähigen Gegenstand zu charakterisieren. Wir können zur Erläuterung die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 4 heranziehen: Gesetze heißen dort die „Principien der Nothwendigkeit dessen» was zum Dasein eines Dinges gehört 44;4 der Begriff des Gesetzes ist deshalb auch dann unverzichtbar, wenn philosophisch von einem Willen gesprochen werden soll. Damit haben sich zwei Determinanten für die Bestimmung eines reinen Willens ergeben: sie wird gesetzesförmig sein müssen und darf keinerlei äußere Bestimmungsgründe zulassen. Da die Gesetzlichkeit eines reinen Willens folglich weder auf äußeren noch auf inneren Objekten des Begehrens beruhen kann, deshalb muß sie ohne materielle Bestimmung auskommen. Der Schluß lautet deshalb: die Bestimmung eines reinen Willens darf nur auf der Form seiner Determination beruhen. Da in philosophischem Sinne von einem Willen nur aufgrund seiner Gesetzlichkeit die Rede sein kann, so muß sich demnach ein Wille, der seinen Begriff ganz erfüllt, nur durch die Form des Gesetzes, d. h. durch die reine Gesetzmäßigkeit als solche, bestimmen lassen.5 Diese Unabhängigkeit und Unbedingtheit des reinen Willens drückt sich in der Kategorizität seines Gesetzes aus, durch die es sich von allen hypothetischen Re3 Die Frage, ob eine moralische Handlung auch noch durch andere Faktoren, etwa aus Neigung, motiviert sein darf, stellt sich im Kantischen Denkzusammenhang insofern nicht, als hier nur die Güte von Maximen moralisch relevant ist. Vgl. dazu die Debatte zwischen Herman, Henson und Sorell (R. Henson, What Kant might have said: Moral Worth and the Overdetermination of Dutiful Action, in: The Philosophical Review 88/1979, S. 39-54; B. Herman, On the Value of Acting from the Motive of Duty, in: The Philosophical Review 90/1981, S. 359-382; T. Sorell, Kant's Good Will and our Good Nature, in: Kant-Studien 78/1987, S. 87-101). 4 A A I V , S. 469. 5 Vgl. dazu M. Riedel, Kritik der moralisch urteilenden Vernunft. Kants vorkritische Ethik und die Idee einer »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten', in: ders., Urteilskraft und Vernunft. Kants ursprüngliche Fragestellung, Frankfurt/Main 1989, S. 61 -97.

I. Die reine Freiheit als individuelle Eleutheronomie

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geln unterscheidet.6 Mit dem kategorischen Charakter ist nun bereits die allgemeine Formel eines solchen Gesetzes gegeben: „Denke ich mir aber einen kategorischen Imperativ, so weiß ich sofort, was er enthalte" (G 420). Wenn die Bestimmtheit eines reinen Willens nur die Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt ausdrükken kann, so heißt ,rein wollen4 nichts anderes, als das Begehrungsvermögen nur durch solche Maximen bestimmen zu lassen, „durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde[n]" (G 421). Nun stellt diese Regel eine Handlungsanweisung dar, die zwar voraussetzt, daß ein solches Gesetz des reinen Willens besteht, ohne daß damit jedoch alle faktischen Manifestationen des Willens notwendig diesem Gesetz gemäß verlaufen müßten.7 Wegen dieser Differenz zwischen dem reinen und dem empirischen Willen formuliert Kant das nunmehr erreichte Ergebnis als Imperativ, der angibt, was geschehen soll und nicht, was tatsächlich der Fall ist. Der Begriff des Sollens bezeichnet deshalb im argumentativen Zusammenhang der Kantischen Moralphilosophie die Differenz zwischen dem reinen und dem menschlichen, d. h. auch sinnlich affizierten Willen. Demnach stellt der kategorische Imperativ eine Handlungsanweisung für den menschlichen Willen dar, die ihm sagt, wie er seine Maximen zu gestalten habe, um den Begriff eines reinen Willens voll und ganz zu erfüllen. Das moralische Sollen repräsentiert folglich ein Wollen, „das unter der Bedingung für jedes vernünftige Wesen gilt, wenn die Vernunft bei ihm ohne Hindernisse praktisch wäre" (G 449). Wir können an die jetzt in Kürze entwickelte allgemeine Formel des kategorischen Imperativs unmittelbar eine jener Umformulierungen anschließen, mit deren Hilfe Kant in der ,Grundlegung4 seine Moralphilosophie erläutert. 8 Wenn ein Zweck das ausdrückt, was dem Willen zum objektiven Grund seiner Selbstbestimmung dient (G 427), so ergibt sich aus der Bedingungsstruktur eines reinen Willens, daß der Zweck in diesem Falle weder in externen noch in internen Bestimmtheiten zu finden sein kann. Materielle Zwecke könnten nur zu hypothetischen Bestimmungen dienen, nicht aber die Kategorizität der Gesetzlichkeit eines reinen Willens erfüllen. Ein reiner Wille muß deshalb auf einem Zweck beruhen, der die reine Form bezeichnet, in der jener Wille sich selbst bestimmt. Damit ist eine Bedingung des praktischen Gesetzes entwickelt, die zu einer neuen Formulierung des kategorischen Imperativs führt. Nur wenn es etwas gibt, „dessen Dasein an sich 6 Vgl. H. Wagner, Kants Konzept von hypothetischen Imperativen, in: Kant-Studien 85/1994, S. 78-84; sowie G. Nakhnikian, Kant's Theory of Hypothetical Imperatives, in: Kant-Studien 83/1992, S. 21-49. 7 Zum Problem der Anwendbarkeit des kategorischen Imperativs zur inhaltlichen Pflichtbestimmung vgl. J. Ebbinghaus, Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten, in: ders., Gesammelte Aufsätze, Vorträge und Reden, Darmstadt 1968, S. 140-160; dazu P. Baumanns, Kants kategorischer Imperativ und das Problem der inhaltlichen Pflichtbestimmung, in: Überlieferung und Aufgabe. Festschrift für E. Heintel zum 70. Geburtstag, Zweiter Teilband, Wien 1982, S. 165 -179. 8 Für einen Überblick über die Diskussion der Frage nach der Anzahl der Formulierungen des Kategorischen Imperativs und ihrer Beziehungen vgl. Ph. Stratton-Lake, Formulating Categorical Imperatives, in: Kant-Studien 83/1993, S. 317-340.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

selbst einen absoluten Werth hat, was als Zweck an sich selbst ein Grund bestimmter Gesetze sein könnte, so würde in ihm und nur in ihm allein der Grund eines möglichen kategorischen Imperativs, d. i. praktischen Gesetzes, liegen" (G 428). Diese Forderung erfüllt nur die ,Person4, denn „der Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst" (G 428).9 Folglich kann das Gesetz des reinen Willens auch durch die Selbstzweckhaftigkeit des vernünftigen Wesens formuliert werden und lautet in imperativischer Form für den menschlichen, bedingten Willen: „Handle so, daß du die Menschheit sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern jederzeit zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchst" (G 429). Mit diesen Ausarbeitungen der Bedingungen eines Willens, der seinen Begriff ganz erfüllt und deshalb gut heißen kann, nähern wir uns der Frage nach dem Übergang zu einer Metaphysik der Sitten. Der Übergang von der »populären sittlichen Weltweisheit4 - d. h. von der Explikation der Pflicht als des auf menschliche Bedingungen eingeschränkten reinen Willens - zu einer Metaphysik der Sitten zeigt sich zunächst als erforderlich durch einen Mangel in der Begründung des sittlichen Gesetzes, der im Versuch seiner Behebung die fundamentale Struktur von Kants moralischer Argumentation demonstriert. Die Notwendigkeit eines solchen Fortgangs ergibt sich aus der Frage, ob das praktische Gesetz, das als Explikation eines guten Willens entwickelt wurde, tatsächlich ein notwendiges Gesetz für alle vernünftigen Wesen ist. 1 0 Wenn dies der Fall ist, „so muß es (völlig a priori) schon 9 Vgl. näher W. P. Mendon9a, Die Person als Zweck an sich selbst, in: Kant-Studien 84/1993, S. 167 -184; zum Horizont des Problems der Aufriß von L. Honnefelder, Der Streit um die Person in der Ethik, in: Philosophisches Jahrbuch 100/1993, S. 246-265. M. E. werden die Gedanken der Allgemeinverbindlichkeit moralischer Maximen und der Person keineswegs als „zwei grundlegende, nicht aufeinander reduzierbare Aspekte von Moralität" im Sinne eines Dualismus von Form und Inhalt eingeführt; eine solche Auffassung wurde von A. Haardt aufgrund des Mißverständnisses entwickelt, der kategorische Imperativ werde in der »Grundlegung' primär aufgrund der Formel vom Menschen als Zweck an sich selbst als Autonomieprinzip formuliert. Dafür finden sich im Text jedoch keine Anhaltspunkte. (Die Stellung des Personalitätsprinzips in der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' und in der »Kritik der praktischen Vernunft', in: Kant-Studien 73/1982, S. 157-168, S. 164 f). 10 Kant will das praktische Gesetz also keineswegs als ein „Faktum der Vernunft" stehenlassen, auch wenn man es nicht aus „vorhergehenden Datis der Vernunft, z. B. dem Bewußtsein der Freiheit (denn dieses ist uns nicht vorher gegeben) herausvernünfteln kann" (KpV 31). Diesem Topos der Interpretation wurde nach L. W. Becks Aufsatz von 1960, in dem diese Auffassung damit begründet wird, daß Kants Lehre nicht intuitionistisch sein könne, von vielen Autoren gefolgt; es sollte jedoch beachtet werden, daß Beck nur am Inhalt dieses »Faktums' interessiert war, nicht aber an den Gründen, die Kant zur Verwendung dieses Begriffs führten; vgl. L. W. Beck, Das Faktum der Vernunft. Zur Rechtfertigungsproblematik in der Ethik, in: Kant-Studien 52/1960/61, S. 271-282; L. W. Beck, A Commentary on Kant's Critique of Practical Reason, Chicago 1966, S. 167; H. E. Allison, Kant's Theory of Freedom, New York 1990, S. 230 ff.; K. Konhardt, Die Einheit der Vernunft. Zum Verhältnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Immanuel Kants, Diss. München 1977, S. 219; K. Ameriks, Kant's Deduction of Freedom and Morality, in: Journal of the History of Philosophy 19/1981, S. 53-79. Beck interpretierte den Ausdruck »Faktum der Vernunft' nur als genitivus obiectivus und vernachlässigte die Möglichkeit einer Auffassung

I. Die reine Freiheit als individuelle Eleutheronomie

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mit dem Begriffe des Willens eines vernünftigen Wesens überhaupt verbunden sein" (G 426). Eine solche Verbindung zu entdecken, fallt nun in das Ressort einer Metaphysik der Sitten und läßt sich nicht durch die Analyse des guten Willens allein bewältigen: daß das bisher ausgearbeitete Prinzip der Autonomie „das alleinige Princip der Moral sei, läßt sich durch bloße Zergliederung der Begriffe der Sittlichkeit gar wohl darthun", daß aber der Wille jedes vernünftigen Wesens an den praktischen Imperativ gebunden sei, dies kann auf analytischem Wege nicht bewiesen werden, „weil es ein synthetischer Satz ist" (G 440). 11 Damit scheint jedoch die gesamte Argumentationslinie der ,Grundlegung' bis zur Entwicklung des praktischen Imperativs dementiert zu werden. 12 Dessen Begründung vertraute darauf, daß ein reiner Wille, der das Sittengesetz in der Form eines kategorischen Imperativs als seine Bedingung fordert, mit dem Willen eines vernünftigen Wesens identisch ist. Kant hat diese Schwierigkeit erst in der Kritik der praktischen Vernunft beseitigt. Das praktische Gesetz wird nun auch in seiner Begründungsform als ein synthetischer Satz a priori bezeichnet, der aber „analytisch sein würde, wenn man die Freiheit des Willens voraussetzte" (KpV 31). Wir können jenen Übergang zu einer synthetisch argumentierenden Metaphysik der Sitten demnach zunächst als den Versuch auffassen, mit den ethischen Begründungszusammenhängen ohne Legitimation für die Voraussetzung der Freiheit umgehen zu können und das praktische Gesetz damit auf dem Niveau synthetischer praktischer Sätze a priori zu diskutieren (vgl. G 426). Die Aufgabe einer solchen Metaphysik bestimmt sich des weiteren aus dem Fortgang zu einer Kritik der reinen praktischen Vernunft. 13 Die synthetische Ausais genitivus subiectivus; einer solchen Auffassung kommt die Übersetzung von »Faktum4 durch ,Tat' bedeutend näher; vgl. dazu K.-H. Ilting, Der naturalistische Fehlschluß bei Kant, in: M. Riedel (Hrsg.), Rehabilitierung der praktischen Philosophie, Bd. I, Freiburg 1972, S. 113-130. Vgl. dazu auch M. Riedel, der die Rede von einem ,Faktum4 der Vernunft an allen entsprechenden Stellen in Kants Werken im Sinne einer »Analogie4 auffaßt (M. Riedel, Imputation der Handlung und Applikation des Sittengesetzes. Über den Zusammenhang von Hermeneutik und praktischer Urteilskraft in Kants Lehre vom ,Faktum der Vernunft 4, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14/1989 (1), S. 27-50). 11 Zum Zusammenhang der »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten4 vgl. die Beiträge in O. Höffe (Hrsg.), Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Ein kooperativer Kommentar, Frankfurt /Main 1993; sowie J. Freudiger, Kants Begründung der praktischen Philosophie. Systematische Stellung, Methode und Argumentationsstruktur der 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten,, (Berner Reihe philosophischer Studien, 14)» Bern u. a. 1993; und F. Kaulbach, Immanuel Kants 'Grundlegung zur Metaphysik der Sitten». Interpretation und Kommentar, Darmstadt 1988. 12 Die wichtigsten Probleme der versuchten Deduktion eines Sittengesetzes werden aufgelistet bei A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Bern/Stuttgart 1989, S. 171 -174. !3 Damit soll nicht die Auffassung vertreten werden, Kant habe in der »Grundlegung' einen anderen Begründungsansatz verfolgt als in der »Kritik der praktischen Vernunft', eine Auffassung, die durch die Rede von einer »Deduktion' in der »Grundlegung' nahegelegt werden könnte, welche in der ,Kritik' doch gerade explizit ausgeschlossen wird (vgl. G 454 mit

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

arbeitung der Moralphilosophie kann zwar mit Hilfe einer Metaphysik der Sitten gelingen, deren Grenzen sind jedoch durch ihre Inkompetenz bezüglich einer weitergehenden Begründungsleistung definiert: „Wie ein solcher synthetischer praktischer Satz a priori möglich und warum er nothwendig sei, ist eine Aufgabe, deren Auflösung nicht mehr binnen den Grenzen der Metaphysik der Sitten liegt" (G 444). Eine synthetische Begründung der Moralität ist innerhalb einer solchen Metaphysik möglich, für die Legitimation ihres Vorgehens ist sie jedoch auf eine Kritik der reinen praktischen Vernunft angewiesen, die Status und Leistungsfähigkeit eines synthetischen Gebrauchs dieses Vermögens zu bestimmen hat. Daraus ergibt sich eine erste Antwort auf die Frage nach dem Status der Kantischen Rechts- und Tugendlehre. Nach dem in der,Grundlegung 4 eingeführten Begriff einer Metaphysik der Sitten zeigt sie sich als eine synthetische Philosophie, die unter Voraussetzung der Freiheit analytisch sein würde. 14 Eine Aufklärung über Freiheit und damit über die Legitimation ihrer Leistung kann sie jedoch nur unter Zuhilfenahme einer Kritik der praktischen Vernunft enthalten, die den »positiven4 Begriff der Freiheit behandelt, der das »Dritte, jener Synthesis »schafft 4, bzw. auf es »verweist4, in dem der reine Wille mit dem moralischen Gesetz verbunden ist (G 447). Die Rechts- und Tugendphilosophie wird folglich zum Nachweis ihrer Geltung den Begriff der Freiheit in Anspruch nehmen müssen, ohne ihn selbst begründen und erforschen zu können. Positiv gewendet bedeutet dies, daß auch die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre den Grund ihrer Gültigkeit nur in der Voraussetzung der Freiheit finden können. Wenn die philosophische Rechts- und Tugendlehre nur auf dem Begriff der Freiheit beruht, so muß ihre Bedeutung innerhalb der Kantischen praktischen Philosophie von dem Status der Freiheit abhängen, deren Begriff sich nun als Geltungsgrundlage sowohl der Moral- wie auch der Rechts- und Tugendphilosophie gezeigt hat. Wir werden deshalb die Untersuchung der Moralphilosophie weiterführen müssen, bis deutlich wird, wie die Freiheit der Ausarbeitung des sittlichen Gesetzes die Grundlage verschafft, auf der es analytisch aus dem reinen Willen - und d. h. aus dem, was allein gut im eigentlichen Sinne heißen kann - abgeleitet werden kann. Wenn es gelingt, darin einen Nachweis der Freiheit zu finden, so könnte KpV 47). Vgl. dazu M. H. McCarthy, Kant's Rejection of the Argument of Groundwork III, in: Kant-Studien 73/1982, S. 169-190, sowie im Anschluß daran J. Freudinger, Kants Begründung der praktischen Philosophie, Bern / Stuttgart 1993, S. 39 ff. 14

Gegen diesen Zusammenhang wurde von H. J. Paton und H. E. Allison mit der Gleichsetzung von Naturgesetzlichkeit und Freiheitsgesetzlichkeit argumentiert. Mir scheint der Zusammenhang von Freiheit und Gesetzlichkeit jedoch nur verständlich aus dem Fluchtpunkt der Kantischen praktischen Philosophie im Denken der Differenz, vgl. die folgenden Ausführungen. Die Bedeutung des Konzepts des ,eigentlichen Selbsts' in der Dimension der Intelligibilität wird von Paton und Allison außer Acht gelassen. Vgl. H. J. Paton, The Categorical Imperative. A Study in Kant's Moral Philosophy, Philadelphia 1948, S. 211 ff; H. E. Allison, Kant's Theory of Freedom, Cambridge 1990, sowie ders., Morality and Freedom. Kant's Reciprocity Thesis, in: Philosophical Review 95/1986, S. 393-425.

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die Rechts- und Tugendlehre die moralische Argumentation als legitime Grundlage ihrer eigenen Explikationen benutzen. Kant formuliert den moralischen Beweis der Freiheit zunächst so: „Ein jedes Wesen, das nicht anders als unter der Idee der Freiheit handeln kann, ist eben darum in praktischer Rücksicht wirklich frei" (G 448). Wenn die Freiheit nur als Bedingung der Möglichkeit freier Handlungen nachgewiesen wird, dann ist der bekannte Zirkel in der Kantischen Argumentation in der Tat nicht zu umgehen. An die Stelle der gesuchten Deduktion des moralischen Prinzips aus der Freiheit tritt auf diese Weise etwas „ganz Widersinnisches", nämlich, „daß es umgekehrt selbst zum Princip der Deduction eines unerforschlichen Vermögens dient", nämlich der Freiheit, von der das moralische Gesetz „nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen" (KpV 47). Der Ersatz für die offenbar auf direktem Wege nicht mögliche Deduktion des moralischen Imperativs besteht also in einer Deduktion der Freiheit, die allein in der Lage ist, das Sittengesetz zu begründen (vgl. G 447). Weil dieses Argument auf der Vorausgesetztheit der Freiheit für die Gültigkeit des sittlichen Imperativs beruht, deshalb scheint es keinerlei Beweiskraft zu besitzen, sofern es nicht gelingt, der Moralität eine autonome, von der Freiheit unabhängige Legitimation zu verschaffen. Kant leugnet diesen Zirkel durchaus nicht: 15 „Wir nehmen uns in der Ordnung der wirkenden Ursachen als frei an, um uns in der Ordnung der Zwecke unter sittlichen Gesetzen zu denken, und wir denken uns nachher als diesen Gesetzen unterworfen, weil wir uns die Freiheit des Willens beigelegt haben" (G 450). Damit ist aber bereits angedeutet, wie Kant mit diesem Zirkel umzugehen gedenkt und welcher Begründungsstatus sich daraus für die Moralphilosophie und für die Freiheit ergibt. Mit dem Begriff der Freiheit wird nun die aus der Kritik der reinen Vernunft bekannte Unterscheidung von Ding an sich und Erscheinung in die praktische Philosophie eingeführt. Nur mit Hilfe dieser Begriffe konnte es gelingen, die Antinomie der Freiheit aufzulösen, die sich in der Dialektik der reinen Vernunft ergab: einerseits fordert die Gesetzlichkeit von Natur überhaupt, „daß ohne hinreichend a priori bestimmte Ursache nichts geschehe" (B 474), so daß ein Anfang gedacht werden muß, in dem die Vollständigkeit der Bedingungen der Erscheinungsreihen erreicht wird; andererseits würde ein solcher Anfang ein Vermögen erfordern, „eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen" (B 477), das den Begriff von Natur als einem „Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander n o t wendig bestimmender Erscheinungen" (B 479) aufheben würde. Die Lösung dieses Problems war jene Unterscheidung von Intelligibilität in der „Handlung als eines Dinges an sich selbst" und Sensibilität in den Wirkungen „als einer Erscheinung in der Sinneswelt" (B 566). Die Freiheit konnte auf diese Weise jedoch nur als eine R. Brandt weist darauf hin, daß Kant dem Zirkel durchaus eine „gewisse systematische Dignität" verliehen habe (Der Zirkel im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: H. Oberer/G. Seel (Hrsg.), Kant. Analysen - Probleme - Kritik, Würzburg 1988, S. 169-191, S. 182).

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»transzendentale Idee4 legitimiert werden, die auf keinen Gegenstand sinnvoll angewandt werden kann. Wenn der Freiheitsbegriff in der praktischen Philosophie als Voraussetzung des sittlichen Imperativs seine Rechtfertigung findet, so gilt das gleiche nun für die Intelligibilität. Wir könnten folglich den Nachweis der Freiheit auch darin sehen, daß sie uns über die Moralität einen Zugang zu unserer intelligibelen Existenz ermöglicht, die dadurch von der bloßen Idee in den Status eines sinnvollen Begriffes übergeht. 16 Wir versetzen uns durch das Bewußtsein unserer Freiheit, zu dem uns die Moralität berechtigt, „als Glieder in die Verstandeswelt" (G 453) als einer „ganz anderen Ordnung der Dinge" (G 454) und betrachten uns nun von zwei Standpunkten' aus: als intelligible und sensible Wesen (vgl. G 458). 17 In diesen Zusammenhang würde sich auch Kants Auszeichnung des intelligibelen Lebens als „das eigentliche Selbst" (G 457) einfügen, aufgrund dessen unser „pathologisch bestimmbares Selbst" nicht unser ganzes Selbst ausmacht (KpV 74). Wir können in diese Verhältnisse von Freiheit, Intelligibilität und übersinnlichem Selbst hier nicht tiefer vordringen; es wird jedoch deutlich, daß auch mit Hilfe dieser Begriffe dem grundlegenden Dilemma der Kantischen praktischen Philosophie nicht abzuhelfen ist. 18 Im Grunde wird der Zirkel dadurch nur erweitert; lag die Begründung der Moralität zunächst in der Ermöglichung von Freiheit, die sich selbst nur als Voraussetzung der Moralität legitimiert, so nimmt dieser Zirkel nun die Begriffe Intelligibilität und eigentliches Selbst auf, die wir an der Stelle der Freiheit einsetzen können. Damit hat sich endgültig gezeigt, daß dieser zirkuläre Zusammenhang das positive Begründungsangebot der Kantischen praktischen Philosophie darstellt. 19 In ei16 O. Höffe weist darauf hin, daß nur der Aufweis der transzendentalen Freiheit als Bedingung der Möglichkeit des Sittengesetzes und damit der reinen praktischen Vernunft transzendentalen Charakter in einem zur »Kritik der reinen Vernunft 4 analogen Sinn besitzt (Transzendentale oder vernunftkritische Ethik (Kant)?, in: Dialéctica 35 /1981, S. 195-221, S. 210). 17 Es ist für die folgenden Interpretationen von Bedeutung, daß es sich um zwei aus Gründen der Aufklärung über die Verständlichkeit der Welt einzunehmende Standpunkte handelt, nicht aber um ontologisch zu unterscheidende Welten; vgl. dazu H. E. Allison, Kant's Theory of Freedom, Cambridge 1990, Kap. 1.2. 18 Allerdings ist damit der Kantische Gedankengang nicht abgetan; es wird zu verfolgen sein, wie Kant mit diesem Dilemma umgeht und wie er es für eine Theorie der Subjektivität als Selbstbewußtsein fruchtbar macht. Diese Entwicklung wird jedoch von vornherein verstellt, wenn die Unterscheidung zwischen Phaenomenalem und Intelligiblem als »ontologisch zu interpretierende Annahme4 auf der Grundlage einer »metaphysischen4 Lehre, daß der Mensch Bürger »zweier distinkter Welten ist, die es wirklich gibt 4 , aufgefaßt wird, wie dies etwa bei A. Gunkel geschieht (Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Bern/Stuttgart 1989, S. 20, S. 162, S. 164). Vgl. zum Zirkularitätsproblem jetzt D. Schönecker, Die ,Art von Zirkel 4 im dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22/1997 (2), S. 189-202; sowie ders., Zur Analytizität der Grundlegung, in: Kant-Studien 87/1996, S. 348-354. ^ Bekanntlich spricht Kant allerdings auch von „Wechselbegriffen 44 (G 450). M. E. erbringt die sog. Reziprozitäts-These jedoch keinen besseren Aufschluß für den grundlegenden

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nem solchen wechselseitigen Voraussetzungsverhältnis sah Kant in der Tat „die oberste Grenze aller moralischen Nachforschung" (G 462): „so begreifen wir zwar nicht die praktische unbedingte N o t w e n d i g k e i t des moralischen Imperativs, wir begreifen aber doch seine Unbegreiflichkeit, welches alles ist, was billigermaßen von einer Philosophie, die bis zur Grenze der menschlichen Vernunft i n Principien strebt, gefordert werden kann" (G 463). W i r könnten das positive Ergebnis deshalb so formulieren: moralisch verbindlich sein heißt, ein Selbstverständnis von sich als einem freien und intelligibelen Wesen besitzen; umgekehrt kann ein solches Wissen nur durch das Bewußtsein der Moralität gerechtfertigt werden. 2 0 Nun bezeichnet Kant in der,Kritik der praktischen Vernunft' die objektive Realität des praktischen Gesetzes als ein i n seiner Gegebenheit apodiktisch gewisses Vernunft/atem. 2 1 Ein Faktum der Vernunft heißt „das Bewußtsein dieses Grundgesetzes", und dieses Bewußtsein ist das einzige Faktum der reinen Vernunft, „die sich dadurch als ursprünglich gesetzgebend ( . . . ) ankündigt." ( K p V 31; vgl. 47, 91) Die objektive Realität eines reinen Willens bzw. einer reinen praktischen Vernunft ist „ i m moralischen Gesetze a priori gleichsam durch ein Factum gegeben; denn so kann man eine Willensbestimmung nennen, die unvermeidlich ist" ( K p V 55). Die »Deduktion 4 nimmt deshalb die folgende Form an: „Diese Analytik thut dar, daß reine Vernunft praktisch sein, d. i. für sich, unabhängig von allem EmpiriZusammenhang der Kantischen Moralphilosophie, die gerade durch den Verzicht auf weitergehende Deduktionen ihren Fluchtpunkt im Selbstbewußtseinsmodell erhält und in der Erweiterung' des Zirkels zur Erhellung dieses Gedankens beiträgt. Möglicherweise ist die beste Formulierung deshalb: „Freiheit und unbedingtes praktisches Gesetz weisen also wechselsweise auf einander zurück." (KpV 29) Es sind zwei Gedanken, die nicht unabhängig von einander gedacht werden können, aber nur im Zusammenhang ihrer Differenz jenen Gedanken ermöglichen. Vgl. zur Reziprozitäts-These M. H. McCarthy, The Objection of Circularity in Groundwork III, in: Kant-Studien 76/1985, S. 28-42; sowie H. E. Allison, Morality and Freedom. Kant's Reciprocity Thesis, in: The Philosophical Review 95/1986, S. 393-425. 20 Vgl. dazu auch W. Marx* Versuch, moralische Normen als Bedingung der Konstitution von persönlicher Kontinuität und von realisierbarer Freiheit aufzuweisen; sie geben die Möglichkeit, „daß der Handelnde selbst in die Position gerückt wird, welche die Beurteilung der Handlungen als aus ihm kommend möglich macht" (W. Marx, Transzendentale Fundamente der Moral in der Person, in: Perspektiven der Philosophie 5 /1979, S. 243 - 272, hier S. 256). 21 D. Henrich sieht in dieser Theorie von der »unverständlichen' Faktizität das späte Ergebnis von Kants Einsicht in die Ergebnislosigkeit seiner Versuche einer Deduktion des Sittengesetzes und wertet dies als Beweis für Kants Verständnis des eigentümlichen Charakters der sittlichen Einsicht, indem die dafür konstitutiven Elemente von Anspruch und Zustimmung in der Identität des Faktums der Vernunft mit dem Anspruch des Guten und im notwendigen Zusammenhang des Faktums mit der Achtung fürs Gesetz bewahrt und expliziert werden (Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: D. Henrich u. a. (Hrsg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1960, S. 77-115). M. E. stellt die Lehre von einem »Faktum' der Vernunft den Versuch dar, den in der »Grundlegung' eingeführten wechselseitigen Verweisungszusammenhang von moralischem Gesetz und Freiheit - als ratio cognoscendi bzw. essendi - verständlich zu machen, ohne ihn als Struktur der reinen praktischen Vernunft zu dementieren. Er resultiert insofern aus der Einsicht in die besonderen Schwierigkeiten, einen solchen Zusammenhang zu explizieren.

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sehen, den Willen bestimmen könne - und dieses zwar durch ein Factum, worin sich reine Vernunft bei uns in der That praktisch beweiset, nämlich die Autonomie in dem Grundsatze der Sittlichkeit, wodurch sie den Willen zur That bestimmt." (KpV 42) Dieses Faktum ist zwar „aus allen Datis der Sinnenwelt und dem ganzen Umfange unseres theoretischen Vernunftgebrauchs" unerklärlich, aber es ist aus einer bestimmten Leistungsfähigkeit zu erkennen: indem es „auf eine reine Verstandeswelt Anzeige giebt, ja diese sogar positiv bestimmt und uns etwas von ihr, nämlich ein Gesetz, erkennen läßt." (KpV 43) Dieses moralische Gesetz ist „das Grundgesetz einer übersinnlichen Natur und einer reinen Verstandeswelt" (KpV 43). Das Faktum der Vernunft ist nun das Prinzip der Deduktion des unerforschlichen und durch Erfahrung unbeweisbaren Vermögens der Freiheit, „von der das moralische Gesetz, welches selbst keiner rechtfertigenden Gründe bedarf, nicht blos die Möglichkeit, sondern die Wirklichkeit an Wesen beweiset, die dies Gesetz als für sie verbindend erkennen." (KpV 47) Die Lehre vom Faktum der Vernunft formuliert letztlich eine Bedingung der Realität reiner praktischer Vernunft in einem praktischen Gesetz - also dafür, daß die Vernunft überhaupt fiir uns praktisch werden kann. Ihre Realität muß sie sich als Vernunft selbst geben, und die Lehre vom Faktum der Vernunft ist ein Versuch, eben dies einleuchtend zu denken. Damit könnte sich aber auch eine Möglichkeit andeuten, das Problem einer zweifachen Begründung des Moralprinzips in der »Grundlegung4 und der ,Kritik der praktischen Vernunft 4 aufzulösen, zumindest aber abzuschwächen. Das Problem wird häufig als Entgegensetzung zwischen dem Versuch einer Deduktion des moralischen Gesetzes aus der notwendig vorauszusetzenden Idee der Freiheit und dem expliziten Verzicht auf eine Deduktion im Rekurs auf das ,Faktum der Vernunft 4 aufgefaßt. 22 Nun erscheint es zunächst schon etwas verkürzt, wenn die Begründung des moralischen Gesetzes in der ,Grundlegung4 nur in einer,Deduktion 4 aus der Freiheit gesehen wird. Das moralische Gesetz wird entwickelt aus der Bestimmtheit eines Willens, der ,gut4 heißen kann, wenn er ohne alle materiale und heteronome Determinanten doch eine Bestimmung finden kann, die deshalb rein formal bleiben muß. Kant hat dieser Bedingungskonstellation mit einer Bestimmung aus der bloßen Form der Gesetzlichkeit Rechnung zu tragen versucht und daraus das Universalisierungsprinzip und damit den kategorischen Imperativ entwickelt. Wenn Freiheit voraus22 So vor allem D. Henrich, Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom Faktum der Vernunft, in: D. Henrich u. a. (Hrsg.), Die Gegenwart der Griechen im neueren Denken, Festschrift für H.-G. Gadamer zum 60. Geburtstag, Tübingen 1960, S. 77- 115. Dagegen erscheint die Lehre vom Faktum für Bittner als eine unannehmbare Lösung ad hoc - als Sicherung eines unentbehrlich scheinenden Satzes mit Hilfe einer Lehre, die nur zu diesem Zweck eingeführt wird. Obwohl diese Kritik m. E. nicht zutrifft, ist Bittners Forderung doch berechtigt: „Die Bestimmung dessen, wie recht zu handeln ist, kann nicht etwas sein, dessen Anspruch uns bloß unumgänglich entgegentritt. Das Vernünftige kann nicht von der Art sein, daß es sich uns aufdringt. Wir müssen es als unser eigen begreifen, uns in ihm wiedererkennen können." (Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg/München 1983, S. 141, Zitat S. 142).

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gesetzt werden kann, so kann diese Entwicklung »analytisch4 heißen, nämlich durch die Vervollständigung jener Bedingungskonstellation eines guten Willens oder einfach: des Guten - durch die notwendige Voraussetzung der Freiheit, unter der allein der Wille in einem moralischen Sinn ,gut' genannt werden kann, weshalb die Freiheit als ratio essendi des Sittengesetzes bezeichnet werden muß. 23 In einem engeren Sinn kann die Entwicklung des Sittengesetzes dann ,analytisch* heißen, wenn es allein aus der Voraussetzung der Freiheit zu gewinnen ist - dann aber muß die rein formal-gesetzliche Bestimmung des Willens zuvor als erster Entwicklungsschritt aus der Freiheit folgen, da ohne diese Bedingung der Güte eines Willens kein Weg zum kategorischen Imperativ führt. Wenn Kant nun das moralische Gesetz als ratio cognoscendi der Freiheit bezeichnet, so ist damit zwar ein wechselseitiger Voraussetzungszusammenhang von Freiheit und moralischem Gesetz angezeigt, es wird aber keine Deduzierbarkeit des Gesetzes aus der Freiheit behauptet.24 Insofern besteht auch kein Widerspruch zu der Behauptung in der,Kritik der praktischen Vernunft*, eine solche Deduktion sei auf dem Gebiet der praktischen Philosophie nicht möglich, weshalb an ihre Stelle das ,Faktum4 der Vernunft zu treten habe. Daß Freiheit und moralisches Gesetz bzw. praktische Vernunft bei Kant als nahezu austauschbare Begriffe erscheinen, ist dann nicht erstaunlich, wenn aufgrund der nur im moralischen Gesetz denkbaren Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts die Freiheit nur durch das Gesetz demonstrierbar gedacht wird. Genau in dieser Demonstration aber gibt sich die Vernunft ihre praktische Realität, die Kant in der ,Kritik der praktischen Vernunft' als ein Faktum bezeichnet. Wir könnten in Kants Lehre vom ,Factum der Vernunft 4 deshalb zunächst den Ausdruck dafür sehen, daß die praktische Vernunft sich im Kantischen Denkzusammenhang nur im moralischen Gesetz realisiert, nämlich als Autonomie, „wodurch sie den Willen zur That bestimmt".

23 Die in der Vorrede der »Grundlegung' vorgenommene Unterscheidung zwischen einer ,analytischen' und einer »synthetischen' Methode wird von D. Schönecker nicht auf den Gang der »Grundlegung', sondern auf die ganze Metaphysik der Sitten bezogen, deren erster Teil die »Grundlegung' darstellt, die deshalb als ganzes .analytisch' vorgeht; m. E. eine plausible Interpretation (Zur Analytizität der Grundlegung, in: Kant-Studien 87/1996, S. 348-354). 24 Daß es sich bei diesem Zusammenhang nicht um einen circulos in probando, sondern um eine petitio principii als ,Erbittung eines Prinzips' handelt, ist die Interpretationsthese von D. Schönecker, der vor allem darauf aufmerksam macht, Kants Argument laute nicht, wir seien frei, weil wir dem moralischen Gesetz unterworfen sind, sondern wir denken uns als frei, um uns unter dem moralischen Gesetz denken zu können - die Idee der Freiheit wird also um des Sittengesetzes willen angenommen (Die ,Art von Zirkel' in dritten Abschnitt von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 22/1997 (2), S. 189-202, S. 192 ff.). Diese Interpretation erfordert allerdings eine eigenständige Begründung des moralischen Gesetzes, für die Kant m. E. mit dem Gedanken, der von der Güte des Willens über den Begriff des gesetzesförmig bestimmten Willens zu der Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts durch die mit der Universalisierungsprüfung eröffnete Dimension der Intelligibilität führt, einen strukturell komplizierten, aber nichtsdestoweniger sinnvollen Ansatz bietet.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

Für die Erörterung der »Metaphysik der Sitten4 ist nun von besonderer Bedeutung, daß das ,Factum4 auch selbst als ,Tat4 aufgefaßt werden kann. 25 Daraus ergibt sich die Vermutung, Kants Lehre vom »Factum4 der Vernunft lasse sich durch eine Erörterung des für die Rechtslehre fundamentalen Begriffes der »Tat4 näher bestimmen. Auf dieser Grundlage ergeben sich zwei eng zusammenhängende Interpretationsmöglichkeiten, die geeignet sein könnten, der Lehre vom Factum der Vernunft den Anschein eines dogmatischen Anspruchs zu nehmen. Zunächst ist das moralische Gesetz damit als ein gedanklicher Zusammenhang ausgezeichnet, der von der Vernunft selbst hervorgebracht und »gemacht4 ist. Dies trägt einfach der Tatsache Rechnung, daß das moralische Gesetz aufgrund seiner konstitutiven Bedeutung für das moralische Selbst und seine vernünftige Willensbestimmung in der kategorisch-imperativischen Maximenbestimmung, in der allein sich der Wille in seiner »Güte4 zeigen kann, nicht als ein Produkt »menschlichen4 Wollens und Produzierens verstanden werden kann - dies um so mehr» als Kant den Begriff des menschlichen und unvollkommenen Willens gerade von dem Begriff eines reinen und moralischen Willens her bestimmt. Es ist also keineswegs nötig, die Vernunft hier als einen geheimnisvollen Akteur zu hypostasieren, der dem Menschen ein Gesetz entgegenhält, das ohne Legitimation und Rückfragerecht anzuerkennen ist; 2 6 eine solche Auffassung wäre schon damit nicht vereinbar, daß Kant beansprucht, die Praktizität der Vernunft durch die Autonomie in der Willensbestimmung beweisen zu können als ein Factum, „ worin sich reine Vernunft... praktisch beweiset44 (KpV 42). Wenn das »Faktum4 des moralischen Gesetzes die Selbstdifferenzierung des moralischen Subjektes konstituiert, indem dieses Subjekt sich durch die rein formale Willensgesetzlichkeit in die Dimension der Allgemeinheit versetzt, in der sein eigener zugleich der Wille in seiner Allgemeinheit ist, so nimmt es erst damit eine Position der Freiheit ein, in der es dem moralischen Gesetz Einfluß auf seine Handlungsorientierungen gewähren oder verwehren kann. Insofern formuliert Kants Lehre vom Faktum der Vernunft nur den Gedanken, daß der Widerstand gegen die Vernunft genötigt ist, sich auf die Ebene der Vernunft zu begeben und ihren Anspruch so zu bestätigen. ,Factum4 ist das moralische Gesetz also, weil es insofern unhintergehbar ist, als es - den Kantischen Denkzusammenhang vorausgesetzt - die Freiheit des Widerspruchs durch die Gesetzlichkeit der Freiheit und die damit eröffnete Dimension der Allgemeinheit selbst konstituiert. Eine ähnliche Interpretationsmöglichkeit auf der Grundlage der weitgehenden Bedeutungsidentität von »Factum4 und »Tat4 wird bereits am Anfang der »Kritik der praktischen Vernunft 4 nahegelegt. Hier wird von der reinen praktischen Vernunft 25 So etwa in Refl. 6784» AA XIX» S. 159; hier gerade in Zusammenhang mit der »imputatio facti' in Baumgartens Initia philosophiae practicae; zur Bedeutung des Wortes Factum vgl. die Ausführungen von M. Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart / Weimar 1992, S. 177 ff. 26

Vgl. etwa G. Böhme/H. Böhme, Das Andere der Vernunft, Frankfurt/Main 1981, S. 345 ff; sowie G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt/Main 1983, S. 67 ff.

IL Das Factum der Vernunft und die Tat der Person

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gesagt, „wenn sie als reine Vernunft wirklich praktisch ist, so beweiset sie ihre und ihrer Begriffe Realität durch die That, und alles Vernünfteln wider die Möglichkeit, es zu sein, ist vergeblich" (KpV 3). Eine „That (factum)" aber heißt in der ,Metaphysik der Sitten* eine Handlung, die in moralischer Bedeutung zugerechnet werden kann, wodurch jemand als ihr ,Urheber* angesehen wird, der deshalb als ,Person* zu bezeichnen ist (227 i.V.m. 223). Aus diesem Zusammenhang könnte entnommen werden, daß die praktische Vernunft das moralische Gesetz als »Factum* beweist, indem es in aller ,That* als der zurechenbaren freien Handlung vorausgesetzt ist - also dann in der Struktur einer Handlung impliziert ist, wenn diese einer Person als ihrem Urheber zugerechnet wird. Das moralische Gesetz ist dann ein »Factum der Vernunft*, weil sich die Vernunft in jeder ,That* als freiheitsdemonstrierende Moralität darstellt. Die Vernunft begeht selbst keine Tat, aber sie ist in jeder Tat in Gestalt des moralischen Gesetzes präsent, das insofern als »Factum* bzw. ,That* der Vernunft bezeichnet werden kann.

II. Das Factum der Vernunft und die Tat der Person Damit führt die Lehre vom ,Factum der Vernunft* jedoch auf geradem Wege zu dem Problem, wie unmoralische Handlungen als Ergebnis von Freiheit und damit in den Verantwortlichkeitsbereich eines Akteurs gehörend verstanden werden können. 27 Dies wiederum ist ebenso das Problem, ob und wie eine Handlung im moralindifferenten Sinn auf der Grundlage der Kantischen praktischen Philosophie überhaupt gedacht werden kann. Offensichtlich ist diese Problematik insbesondere für die Rechtsphilosophie relevant, wenn es denn in ihr um die Zurechenbarkeit einer in Handlungen demonstrierten Freiheit an Personen geht, die darin als verantwortlich angesehen werden. Würde Kant mit seiner Lehre vom ,Factum* der Vernunft in der Tat den in der »Grundlegung* entwickelten wechselseitigen Voraussetzungszusammenhang von Freiheit und moralischem Gesetz in der Form der ratio essendi und der ratio cognoscendi dementieren, so könnte die Zurechnung im Recht nicht mehr dann Freiheit unterstellen, wenn sie eine - direkt oder indirekt moralisch differente Handlung in ein Zurechnungsverhältnis zu einem Akteur setzt, der damit als Person aufgefaßt wird - die Zurechnung könnte ihm nur noch das Vernehmen und Akzeptieren des an ihn ergangenen Anspruchs der Vernunft unterstellen. Wenn das Recht auf der Möglichkeit von Urteilen beruht, in denen jemand als Urheber einer Handlung für sie verantwortlich gemacht wird, so muß im Recht eine „Zurechnung (imputatio) in moralischer Bedeutung** vorgenommen werden können, und zwar in der Spezialform einer ,rechtskräftigen* Zurechnung (imputa27 Zur Exposition dieser Problematik vgl. N. Fischer, Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der Praktischen Philosophie Kants, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42/1988, S. 18-44.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

tio iudiciara), die sich von der nur »beurteilenden4 Spezialform (imputatio diiudicatoria) nur dadurch unterscheidet, daß das Urteil hier „die rechtlichen Folgen aus dieser That bei sich führt" (227). Als »Richter4 bzw. »Gerichtshof 4 wird die Person bezeichnet, die diese Befugnis der rechtskräftigen Zurechnung besitzt. Wenn eine Tat eine solche Handlung heißen soll, für die in einem Urteil der Zurechnung jemand als Urheber verantwortlich gemacht wird, so impliziert folglich auch die rechtskräftig zurechenbare Handlung den Gedanken einer Zurechnung in moralischer Bedeutung. Dies stimmt damit überein, daß Kant die Tat als eine Handlung bezeichnet, „sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht44 (223), die im Kantischen Denkzusammenhang nur als eine aus dem Prinzip der praktischen Vernunft abzuleitende moralische Verbindlichkeit aufgefaßt werden kann. Wenn schließlich die Person als dasjenige Subjekt bezeichnet wird, „dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind44 (223), so ist auch der Gedanke der Person von dem Gedanken einer Zurechnung in moralischer Bedeutung abhängig. Dies wiederum stimmt damit überein, daß Kant die Person im nächsten Satz unter den Titel moralische Persönlichkeit4 stellt und sie als „die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen44 bezeichnet. Nun betrifft eine rechtskräftige Zurechnung im Unterschied zu einer nur beurteilenden in aller Regel verwerfliche oder doch schadenstiftende, nicht aber verdienstvolle und nutzenbringende Handlungen. Dies gilt im Strafrecht ebenso wie im Zivilrecht - zu einer Streitsache wird die Erfüllung eines Vertrages nicht dann, wenn einer der Vertragspartner dem anderen mehr Nutzen verschafft hat, als es seine vertragliche Pflicht war, wohl aber dann, wenn er dem anderen einen Schaden zugefügt hat, indem er die von ihm zugesicherte und deshalb zu erwartende Leistung nicht vertragsgemäß erbracht hat. Und auch wenn berücksichtigt wird, daß die rechtlichen Verbindlichkeiten nur durch Handlungen erfüllt werden, die den positiven Gesetzen entsprechen, ohne daß die Motivation dabei eine Rolle spielt, und wenn darüber hinaus berücksichtigt wird, daß die Befolgung dieser positiven Gesetze auch dann Pflicht ist, wenn sie nicht vernunftrechtlich oder durch die freie Zustimmung der Staatsbürger legitimiert sind, so stellt die zurechenbare Rechtsverletzung im Denkzusammenhang der Kantischen Rechtsphilosophie doch insofern einen verwerflichen und schadenstiftenden Akt dar, als sie die Aufrechterhaltung des Rechtszustandes bzw. des status civilis bedroht, in den zu treten und in ihm zu bleiben eine moralische Pflicht ist. Folglich impliziert eine rechtskräftige Zurechnung grundsätzlich immer die Zurechnung einer unmoralischen Handlung, die eine zumindest,indirekt-ethische 4 Pflicht verletzt. Damit stellt sich auch mit der »rechtskräftigen 4 Zurechnung als Spezialform der »Zurechnung in moralischer Bedeutung4 das Problem» wie unmoralische Handlungen zugerechnet werden können - ein Problem» mit dem Kant nach Meinung mancher Interpreten gerade aufgrund des zentralen Gedankengangs seiner Moralphilosophie nur schwer umgehen kann. Es kann jedoch bezweifelt werden, daß sich dieses Problem schon innerhalb der Moralphilosophie stellen muß. Eine Zurechnung von Handlungen muß in einer Maximenethik solange nicht vorgenommen

IL Das Factum der Vernunft und die Tat der Person

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werden, als für die Beurteilung der Moralität nur der Wille als „Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind", ausschlaggebend ist - gut ist der gute Wille nicht durch das, „was er bewirkt oder ausrichtet" (G 394). Wenn Kant aufgrund seines zentralen Gedankens aber nicht von einer moralischen oder unmoralischen Handlung sprechen kann, sondern nur von einer moralischen oder unmoralischen Maxime, so stellt sich auch nicht die Frage nach der Zurechenbarkeit von moralischen oder unmoralischen Handlungen. Eine Zurechnung der maximengeleiteten Willensbestimmungen dagegen kann und braucht innerhalb der moralphilosophischen Dimension nicht vorgenommen zu werden, da sie nicht über das Selbstverhältnis des moralischen Subjekts hinaus in eine Äußerlichkeit tritt, in der die Frage nach der Zurechnung erst gestellt werden kann. Wenn die Frage nach der Zurechnung in moralischer Bedeutung aber erst dann gestellt werden kann und muß, wenn die Moralität nicht nur eine Eigenschaft von Maximen ist, sondern auch Handlungen über ihr Vorkommen als bloßes Ereignis in der phänomenalen Welt hinaus so in eine Beziehung zu Akteuren gesetzt werden, daß diese darin zu Personen werden, obwohl doch sogar der Handelnde selbst nie mit letzter Gewißheit sicher sein kann, daß seine Handlung auf einem guten Willen beruht, 28 so setzt dies den Gedanken einer Beziehung zwischen Handlung und Akteur voraus, in der diese mit dem letzteren so in Verbindung gebracht werden kann, daß sie als Realisierung seiner Freiheit erscheint, die uns nur über das moralische Gesetz als ihrer ratio cognoscendi bekannt sein kann. Daraus ergibt sich zunächst, daß die Zuschreibung ein Akt ist, in dem Handlungen als moralisch different angesehen werden, obwohl die Kantisch gedachte Moralität aufgrund ihrer Maximenorientierung gerade keine moralische Beurteilung von Handlungen erlaubt. Kant trägt diesem besonderen Status einer Zurechnung zunächst dadurch Rechnung, daß er einen solchen Akt als ein ,Ansehen als4 bzw. »Betrachten als4 charakterisiert: die Zurechnung ist ein Urteil, wodurch jemand als Urheber (causa libera) einer Handlung angesehen wird (227), und die Handlung heißt Tat, sofern das Subjekt nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird (223). Eine Zurechnung von Handlungen kann im Zusammenhang der Kantischen praktischen Philosophie deshalb nicht in der Herstellung einer Relation zwischen einem Ereignis in der Welt und einem unabhängig von der Zurechnung als gegeben zu betrachtenden Akteur bestehen. Eine solche Relation ist nur möglich, wenn sie zusammen mit ihren Relata im Akt der Zurechnung konstituiert wird - also im »Ansehen* eines Akteurs als causa libera und im »Betrachten* seiner nach der Freiheit seiner Willkür. Wenn die Person nun als ein Subjekt definiert wird, dessen Handlungen zugerechnet werden können, so kann unter diesem Titel das zusam28 „Die eigentliche Moralität der Handlungen (Verdienst und Schuld) bleibt uns daher, selbst die unseres eigenen Verhaltens, gänzlich verborgen. Unsere Zurechnungen können nur auf den empirischen Charakter bezogen werden. Wie viel aber davon reine Wirkung der Freiheit, wie viel der bloßen Natur und dem unverschuldeten Fehler des Temperaments, oder dessen glücklicher Beschaffenheit (merito fortunae) zuzuschreiben sei, kann niemand ergründen, und daher auch nicht nach völliger Gerechtigkeit richten." (B 579 Anm.).

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

mengefaßt werden, was jenes »Betrachten4 bzw. »Ansehen als4 in Bezug auf den Akteur konstituieren muß, damit der Akt der Zurechnung mit den zentralen Gedanken der Kantischen Moralphilosophie kompatibel wird. Die Konsequenzen dieser Entwicklung des Gedankens der Zurechnung zeigen sich dann in ihrem ganzen Ausmaß, wenn hinzugenommen wird, daß Kant die Persönlichkeit der Person also das, was die Person zu einer solchen macht - mit der Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen identifiziert. Was in dem der Zurechnung von Handlungen zugrundeliegenden Akt eines »Betrachter 4 bzw.,Ansehens als4 konstituiert wird, ist also nichts anderes als das moralische Subjekt, das in der kategorisch-imperativischen Mox/menbestimmung seine Freiheit demonstriert, die sich ihm deshalb zunächst nur als Willensfreiheit und nicht als Handlungsfreiheit darstellen kann. Gegenüber dem in der ,Grundlegung4 und der »Kritik der praktischen Vernunft 4 explizierten Selbstkonstitutionsgeschehen des moralischen Subjekts besteht nun jedoch ein entscheidender Unterschied: das moralische Subjekt wird nicht für sich selbst, sondern für die Rechtsgemeinschaft der sich wechselseitig als verantwortliche Täter betrachtenden Bürger des - wenigstens im Status der »provisio4 antizipierten - status civilis konstituiert. Mit dem Gedanken der Zurechnung schließt die praktische Philosophie demnach ein Verhältnis moralischer Intersubjektivität direkt an die zentralen Gedankengänge der Moralphilosophie über den wechselseitigen Zusammenhang von moralischem Gesetz und Freiheitsdemonstration an. Wenn jedoch allein das moralische Gesetz uns die ratio cognoscendi der Wirklichkeit von Freiheit gibt (KpV 5 Anm.» 47), so wird es offenbar zum Problem, wie unmoralische Handlungen zugerechnet werden können, insofern eine Handlung (a) nicht unmoralisch sein kann und (b) überhaupt nicht Handlung zu nennen ist, wenn sie nicht aus Freiheit geschieht, m.a.W.: ein nicht mit dem moralischen Gesetz übereinstimmendes Verhalten wäre keine Handlung, folglich nicht zuschreibbar und nicht unmoralisch 29 Daraus ließe sich jedoch auch schließen, es könne keine moralischen Handlungen geben, wenn sie nicht mehr von unmoralischen zu unterscheiden sind. Da das Prinzip der Rechtslehre aber die Konstitution der Zurechenbarkeit von Handlungen und damit der Zuschreibbarkeit von Freiheit an Personen als Täter enthält, würde die Unlösbarkeit dieses Problems offenbar zur Folge haben, daß der Nachweis eines unmoralischen Gehalts jedes Verhalten als Produkt der Unfreiheit aus der Dimension des Rechts ausschließen müßte. Darüber hinaus 29 Daß Kant diese Auffassung zumindest erwogen hat, läßt sich einer Anmerkung zur »Religionsschrift' entnehmen: „Eine moralisch-gleichgültige Handlung (...) würde eine bloß aus Naturgesetzen erfolgende Handlung sein» die als aufs sittliche Gesetz, als Gesetz der Freiheit, in gar keiner Beziehung steht" - sie wäre kein ,Factum', und man darf hier wohl übersetzen: keine Tat als eine Handlung unter Gesetzen der Verbindlichkeit (AA VI, S. 23 Anm.). Für Kants These, daß es keine vollständig moralneutrale Handlungstheorie geben kann, plädieren K. Konhardt, Faktum der Vernunft? Zu Kants Frage nach dem »eigentlichen Selbst' des Menschen, in: G. Prauss (Hrsg.), Handlungstheorie und Transzendentalphilosophie, Frankfurt/ Main 1986, S. 160-184; sowie M. Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, S. 169 ff.

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Das Factum der Vernunft und die Tat der Person

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scheint es bereits dem Begriff der Moralität zu widersprechen, wenn Handlungen bzw. die Annahme von Maximen - dann als unfrei erklärt werden müssen, wenn sie als unmoralisch zu qualifizieren sind. Es würde sich um eine Moralität handeln, die ausschließlich moralkonforme Handlungen bzw. Maximen zuläßt und damit jene Differenz zwischen Moralischem und Unmoralischem aus ihrer Struktur ausschließt, die wir doch gerade als Konstituens der Dimension der Moralität ansehen müssen.30 Die Lösung jenes Problems muß es also verständlich machen, wie wir Handlungen als frei ansehen können, obwohl sich die Freiheit nur als Grund des moralischen Gesetzes zeigt, und sie muß verdeutlichen, wie solche Handlungen in der Möglichkeit stehen, moralisch oder unmoralisch sein zu können. Kant war sich dieses Problems wohl bewußt, wenn er in der »Religionsschrift 4 schreibt: der subjektive Grund des Gebrauchs der Freiheit unter objektiven moralischen Gesetzen, der Maximen in die Alternative versetzt, moralisch oder unmoralisch sein zu können, müsse selbst ein „Actus der Freiheit sein (denn sonst könnte der Gebrauch oder Mißbrauch der Willkür des Menschen in Ansehung des sittlichen Gesetzes ihm nicht zugerechnet werden und das Gute oder Böse in ihm nicht moralisch heißen)." (AA VI, S. 21) Dieses Problem wird besonders deutlich, wenn der ,gute Wille 4 als Inbegriff des Guten ausgezeichnet wird, indem die Selbstbestimmungsfähigkeit in der Form der Bestimmung durch reine Gesetzesförmigkeit als Grund seines Gehalts an praktischer Vernunft entwickelt wird. 31 Wenn nur die Moralität des kategorisch-imperativisch selbstbestimmten guten Willens die Freiheit demonstrieren kann, so scheint der ,böse Wille 4 mangels Freiheit moralisch indifferent bleiben zu müssen und nicht zugerechnet werden zu können - wenn er denn über30

So etwa G. Prauss, Kants Problem der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft, in: Kant-Studien 72/1981, S. 286-303, S. 290 ff; dessen Kritik lautet, die Vernunft sei nach Kant nie für sich selber praktisch, sondern nur dadurch, daß sie sich ein Moralgesetz auferlegt. M. E. wäre es angemessener, Kants Position so wiederzugeben: die Vernunft ist praktisch, indem sie sich per Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts im Verfahren der Verallgemeinerung in ein Verhältnis zu sich selbst setzt - das Moralgesetz konstituiert nach Kant also gerade jenes ,für sich', das die interne Differenz einer für sich selber praktischen Vernunft ermöglicht. 31 Der Einwand von R. Bittner lautet hier, gerade das Prinzip der Autonomie müsse die Geltung moralischer Gebote ausschließen, weil sie so nur für den Geltung besitzen, der sie sich selbst gibt und deshalb auch nach ihnen handeln will, nicht aber lassen sie sich gegen Unwillige geltend machen (Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg/München 1983, S. 166 ff). Bittner sieht hier sehr genau den genuin der Kantischen Moralphilosophie zugehörigen Status und wendet ihn kritisch gegen sie - unter der Prämisse, es handele sich um eine Lehre, die Normen als generelle Regeln anzugeben intendiere, mit denen wir wissen können, was wir tun und lassen sollen. Der Einwand gilt jedoch dann nicht, wenn wir Kants Moralphilosophie als eine Lehre auffassen, die die Struktur der Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts expliziert, durch die es sich die Dimension der Allgemeinheit und der Freiheit eröffnet. In der Tat liefert uns Kant keine Regeln, die den Normadressaten binden und ihn in die Pflicht nehmen - sie gibt uns eine Theorie über die Selbstkonstitution seiner Freiheit mit dem Status der Verpflichtetheit und der implizierten Möglichkeit, rational begründet Normen zu akzeptieren oder zu verwerfen.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

haupt als Wille bezeichnet werden kann, was nach der ,Grundlegung' zweifelhaft sein muß, wenn denn „ein freier Wille und ein Wille unter sittlichen Gesetzen einerlei" sind (G 447). In der ,Kritik der reinen Vernunft' hatte Kant darauf hingewiesen, die transzendentale Idee der Freiheit mache nicht den ganzen Inhalt des »psychologischen' Begriffs dieses Namens aus, „sondern nur den der absoluten Spontaneität der Handlung als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben" (B 476). Dies trägt zunächst der Bedingung Rechnung, daß sowohl Handeln als auch moralisch verwerfliches Handeln nicht auf einen empirisch bedingten und durch Naturkausalität bestimmten Willen zurückgeführt werden kann; die Begriffe des Guten und des Bösen setzen eine „Kausalität der reinen Vernunft" voraus (A 114). Entsprechend betont Kant in der Religionsschrift, der Grund des Bösen könne nicht in der Sinnlichkeit und den natürlichen Neigungen gesehen werden (AA VI, S. 34); das moralisch Böse „muß aus der Freiheit entspringen" (S. 31). Unabhängig von jener Voraussetzung kann der Grund des Bösen aber nicht in der Vernunft selbst angenommen werden - eine „gleichsam boshafte Vernunft" würde sich als praktische Vernunft dementieren, indem sie die Verallgemeinerungsprüfung zur Auswahl gerade solcher Maximen einsetzen müßte, die sich in dieser Prüfung als nicht zu denken (oder zumindest nicht zu wollen) erwiesen haben.32 Daß das moralische Gesetz Grund der Zurechenbarkeit ist, war Kants Auffassung jedoch auch in der Religionsschrift: das moralische Gesetz ist „das einzige, was uns der Unabhängigkeit unsrer Willkür von der Bestimmung durch alle andern Triebfedern (unsrer Freiheit) und hiemit zugleich der Zurechnungsfähigkeit aller Handlungen bewußt macht." (AA VI, S. 26 Anm.) Nun befiehlt das moralische Gesetz in der Tat zunächst, auf eine bestimmte Weise zu handeln, und nach Kants Gedankengang scheint nur in diesem Handeln die Freiheit zu liegen, nicht aber in einem Handeln überhaupt. In der »Metaphysik der Sitten' heißt es entsprechend, „daß die Freiheit nimmermehr darin gesetzt werden kann, daß das vernünftige Subjekt auch eine wider seine (gesetzgebende) Vernunft streitende Wahl treffen kann" (226), und: „Die Freiheit in Beziehung auf die innere Gesetzgebung der Vernunft ist eigentlich allein ein Vermögen; die Möglichkeit von dieser abzuweichen ein Unvermögen." (227) Kant versucht an dieser Stelle allerdings nur den Gedanken abzuwehren, die Freiheit des Menschen „als intelligiblen Wesens" könne durch die Erfahrung definiert werden, und als Sinnenwesen zeige der Mensch ein Vermögen, sich für oder gegen das Gesetz zu entscheiden (226). Wir kennen die Freiheit nur als „negative Eigenschaft in uns, nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genöthigt zu werden." (226) Auf dieser gedanklichen Grundlage scheint die Lösung für das Problem der Zurechenbarkeit unmoralischer Handlungen und damit für das Problem des Handelns überhaupt nun nicht über die in der,Metaphysik der Sitten' vorgenommene Unter32

Kant spricht hier von einem »teuflischen Wesen4 und weist zugleich darauf hin, daß ein solcher Gedanke auf den Menschen nicht anwendbar ist (Religionsschrift» AA VI, S. 35).

II. Das Factum der Vernunft und die Tat der Person

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Scheidung zwischen der allein frei zu nennenden Willkür und dem Willen, der weder frei noch unfrei genannt werden könnte, erreichbar zu sein. 33 Die »Freiheit der Willkür 4 nämlich soll ebenso nicht durch die libertas indifferentiae - „das Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln" - definiert werden können (226). 34 Dies wird dann verständlich, wenn berücksichtigt wird, daß der Begriff der freien Willkür gerade nicht empirisch ist. Deshalb muß der Widerstreit der menschlichen Willkür gegen das Gesetz „aus dem Begriffe des Bösen, sofern es nach Gesetzen der Freiheit (der Verbindlichkeit und Zurechnungsfreiheit) möglich ist, a priori erkannt werden." (Religionsschrift, AA VI, S. 35) Die Lösung des Problems der Möglichkeit unmoralischer Handlungen und von Handlungen generell ist also nur über den Gedanken der intelligiblen Welt zu erreichen. 35 Die Zugehörigkeit zu phänomenaler und noumenaler Welt ist das Ergebnis des Einnehmens zweier Standpunkte, die notwendig sind, um jene Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts zu explizieren, in der es sich in die Dimension der Allgemeinheit stellt und sich damit von sich selbst trennt - von sich als einem Wesen in der Dimension der Sinnlichkeit und Naturkausalität, welche Dimension allerdings erst durch die vollzogene Differenzierung als eine solche erkannt wird. Sich als sinnlich gebunden zu erkennen, setzt also gerade die Transzendierung dieser Gebundenheit durch die Einnahme des Standpunktes einer intelligiblen Welt der durch das moralische Gesetz demonstrierbaren Freiheit voraus. Die moralisch erkannte Freiheit erlaubt erst ein Selbstverständnis als ein der Naturkausalität unterworfenes und sinnliches Wesen, dem dann die Fähigkeit zugeschrieben werden kann, in der Wirklichkeit als der Vereinigung beider Standpunkte eine Ordnung zwischen den Triebfedern aus dem Gesetz und aus dem 33 L. W. Becks Unterscheidung zwischen Autonomie als Freiheit des Willens und Spontaneität als Freiheit der Willkür scheint mir deshalb der Sachlage nicht gerecht zu werden (Kants »Kritik der praktischen Vernunft', München 1974, S. 169 ff.); vgl. dazu H. Hudson, Wille, Willkür, and the Imputability of Immoral Actions, in: Kant-Studien 82/1991, S. 179-196. 34

G. Prauss sieht darin den Versuch, die in der,Religionsschrift' eingenommene Position einer »gelockerten' Bindung des Willens als der praktischen Vernunft an das Moralgesetz vollständig zu widerrufen (Kants Problem der Einheit theoretischer und praktischer Vernunft, in: Kant-Studien 72/1981, S. 286-303, S. 293 f.). Kant hatte jedoch auch in der ,Religionsschrift' an der grundlegenden Position aus der »Grundlegung' und der,Kritik der praktischen Vernunft' festgehalten: „Sich als ein frei handelndes Wesen und doch von dem einem solchen angemessenen Gesetze (dem moralischen) entbunden denken, wäre so viel, als eine ohne alle Gesetze wirkende Ursache denken ( . . . ) : welches sich widerspricht." (AA VI, S. 35). 35

Daß ein Vermögen, von der Gesetzgebung der Vernunft abzuweichen, um der Zurechnung willen im Sinne der Postulatenlehre der,Kritik der praktischen Vernunft' postuliert werden müsse, erscheint dann als ein überflüssiger Aufwand; m. E. kann auch nicht ausgewiesen werden, daß sich das Postulat der Freiheitsidee, „das an der einschlägigen Stelle der »Kritik der praktischen Vernunft' kommentarlos unerwähnt geblieben war, der Sache nach auf die Freiheit eines Vermögens mit der Möglichkeit der gesetzwidrigen Willensbestimmung" richten soll (so N. Fischer, Der formale Grund der bösen Tat. Das Problem der moralischen Zurechnung in der Praktischen Philosophie Kants, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42/1988, S. 18-44, S. 38). 5 Römpp

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

»Sinnenantrieb4 herzustellen, in der eine der beiden zur Bedingung der anderen gemacht wird. 3 6 Diese Differenz zwischen intelligibler und phänomenaler Welt wird vorausgesetzt, wenn Kant die Möglichkeit einer unmoralischen Handlung so erklärt: „Folglich ist der Mensch (auch der Beste) nur dadurch böse, daß er die sittliche Ordnung der Triebfedern in der Aufnehmung derselben in seine Maximen umkehrt 44, indem er „die Triebfeder der Selbstliebe und ihre Neigungen zur Bedingung der Befolgung des moralischen Gesetzes macht44 - was insofern eine „Verkehrtheit44 darstellt» „da das letztere vielmehr als die oberste Bedingung der Befriedigung der ersteren in die allgemeine Maxime der Willkür als alleinige Triebfeder aufgenommen werden sollte.44 (Religionsschrift, AA VI, S. 36) Die »Verkehrtheit4 kann deshalb auch als eine »Selbsttäuschung4 aufgefaßt werden (vgl. S. 38), indem der Mensch sich nicht bewußt ist, daß die Möglichkeit, in der Unterordnung des moralischen Gesetzes unter die Neigungen unmoralisch handeln zu können, von der Selbstauffassung als sinnliches Wesen abhängig ist, die nur retrospektiv aus der Perspektive der intelligiblen Welt und des Menschen als Noumenon gewonnen werden kann. Darin allein liegt jedoch noch keine Möglichkeit, eine Handlung als unmoralisch bezeichnen zu können, es sei denn um den Preis der Akzeptanz eines Moralprinzips höherer Stufe, das fordert, die Möglichkeitsbedingung für die Selbstauffassung als Sinnenwesen in der durch das moralische Gesetz demonstrierten Freiheit der Intelligibilität sich zur moralisch geforderten Pflicht zu nehmen. Eine solche Unterstellung ist jedoch dann nicht nötig, wenn wir Kants Moralphilosophie nicht als ein Verfahren auffassen, mit dessen Hilfe wir Normen entwickeln können, die uns sagen, was wir tun und lassen sollen, sondern als eine Theorie der Selbstkonstitution des moralischen Subjekts in seiner Selbstdifferenzierung durch die Aufnahme der Perspektive der Allgemeinheit in sein Selbstverständnis, das erst aus dieser Dimension das Wissen von sich als einem sinnlich bedingten und noumenal freien Wesen gewinnt. Dann nämlich kann die Leistung der Herstellung einer Ordnung zwischen der Perspektive der Intelligibilität und der Perspektive der Phänomenalität die Möglichkeit der Akzeptanz von Normen verständlich machen, ohne daß die Freiheit nur durch die Wahl solcher Maximen demonstrierbar wäre, die dem moralischen Gesetz entsprechen und alle anderen Maximen folglich aufgrund des Fehlens von Freiheit weder als unmoralisch noch überhaupt als handlungsrelevant bezeichnet werden könnten. 37 36

Daß ein mehrstufiger Freiheitsbegriff die Voraussetzung für das Verständnis der Lehre vom Bösen in der Religionsschrift darstellt, wird von K. Konhardt näher ausgeführt (Die Unbegreiflichkeit der Freiheit. Überlegungen zu Kants Lehre vom Bösen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42/1988, S. 397-416). 37 H. E. Allison zufolge beansprucht Kant mit der Unterscheidung zwischen empirischem und intelligiblem Charakter „to provide a transcendental framework for a unified theory of rational agency, one that includes but is not limited to moral agency." (Kant's Theory of Freedom, Cambridge 1990, S. 29). Sowohl moralische als auch pragmatische (Klugheits-)Impera-

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Die Entscheidung gegen die über die kategorisch-imperativische Maximenprüfung als moralisch qualifizierte Willensbestimmung ist demnach nur möglich, wenn mit dem Bewußtsein der Möglichkeit einer solchen Willensbestimmung eine Dimension der Intelligibilität konstituiert wird, von der her i n der Differenz die Lebenswelt des Menschen als sinnlich bestimmt und von Naturgesetzen regiert gedacht werden kann. 3 8 Der ,gute W i l l e ' der intelligiblen Welt macht durch Abhebung die phänomenale Welt als eine solche erkennbar, der auch das moralische Subjekt anzugehören sich bewußt ist. In diesem Bewußtsein aber hat es seine Differenz zu ihr gewonnen und kann sich gerade deshalb die Unterordnung des moralischen Gesetzes unter die Antriebe der Neigungen vornehmen - worin Kant den Ursprung des Bösen sieht. Solange es dagegen nicht in dem durch das moralische Gesetz vermittelten Bewußtsein der Freiheit lebt, befindet es sich i n ungeschiedener Identität mit seiner sinnlichen Existenz, die gerade deshalb noch nicht die ,seine 4 ist. Die ,seine4 wird diese Existenz erst in der Differenz, die das Bewußtsein des moralischen Gesetzes und der Freiheit als seiner ratio essendi konstituiert. Und erst wenn sie so die ,seine4 geworden ist, kann es sich für sie entscheiden und die Antriebe aus ihr dem moralischen Gesetz überordnen und somit durch unmoralische Maximen bzw. Handlungen ,böse4 werden. 3 9 tive indizieren danach eine Kausalität der Vernunft (S. 35). Auf der Grundlage eines ,Sollens4 zu handeln soll eine Spontaneität enthalten, die Kant zu seiner Konzeption des intelligiblen Charakters geführt habe. Allison vernachlässigt hier mit beträchtlichen Folgen die Unterscheidung zwischen dem genuin moralischen Sollen und dem »Sollen4, mit dem wir bisweilen Imperative der Klugheit in Wenn-dann-Zusammenhängen zum Ausdruck bringen. Die darin liegende Aktivität des Handelnden ist in Kants Verständnis keineswegs intelligibel, sondern benutzt die naturgesetzlich-kausalen Zusammenhänge der Erscheinungswelt zur Verwirklichung von Interessen. Allisons „Incorporation Thesis" ist kaum bestreitbar, insofern sie nur zum Ausdruck bringt, daß die Willkürfreiheit nur dann durch eine Triebfeder zu einer Handlung bestimmt werden kann, wenn der Handelnde sie seiner Maxime ,inkorporiert 4 hat, was eine Stellungnahme in der Form von ,1 take' bzw. ,1 take as' impliziert, die aufgrund ihres rein begrifflichen Status nicht erfahren werden kann. Dies schließt jedoch nicht ein, daß der Handelnde darin schon seine vernünftige Freiheit einsetzt, die ihn unter dem Aspekt der Intelligibilität aufzufassen nahelegt. Allison beschreibt also nur den Status von Maximen, nicht eine Auszeichnung des Intelligiblen, wenn er darauf hinweist, „it must be possible for the ,1 take' to accompany all my inclinations if they are to be ,mine' qua rational agent, that is, if they are to provide motives or reasons for acting." (S. 40) Die transzendentale Idee der Freiheit wird auf der Grundlage der »Incorporation Thesis' als regulative Funktion aufgefaßt: „What it regulates is our conception of ourselves as rational agents. It does so by providing the conceptual basis for a model of deliberative rationality." (S. 45) Die Kausalität der Vernunft bezieht sich dann nur auf „actions performed in virtue of the fact that a rational agent takes them as in some sense reasonable." (S. 49) Allison übersieht mit fatalen Folgen die Abhängigkeit eines solchen Handlungsbegriffes von der Zurechnung moralisch fundierter Freiheit und Entscheidungsfähigkeit und er unterstellt Kant den Begriff einer hypothetischen Vernunft, wenn er schließt, „that rational agents cannot reject the universalizability test without, at the same time, denying their rationality." (S. 205). 38

Kant bezeichnet den »Hang zum Bösen' in der,Religionsschrift' auch selbst als Tat, und zwar gerade als „intelligibele That", und dies erläutert die Ausführung, es sei „nichts sittlich-(d. i. zurechnungsfähig-)böse, als was unsere eigene That ist." (AA VI, S. 31) Das peccatum originarium ist also selbst eine intelligible Tat. 5*

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

Mit dieser Konstellation kann Kant die Überordnung der sinnlichen Antriebe über diejenigen des moralischen Gesetzes als Grund unmoralischer Handlungen auffassen, ohne daß in diesen Handlungen die Demonstration der Freiheit zurückgenommen wäre, die Handlungen doch erst als in ihrem unmoralischen Charakter zurechenbar auszeichnen kann. Auch eine solche Handlung bzw. Maxime zeigt die Freiheit an, indem sie die auf der Grundlage des moralischen Gesetzes vollzogene Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts in ein sinnlich bestimmtes und ein der intelligiblen Welt angehöriges Wesen demonstriert, aufgrund derer der moralische Akteur erst jene Differenz zu den sinnlichen Antrieben gewinnt, die sie zu den »seinen4 macht, so daß er sie den Antrieben aus dem moralischen Gesetz überordnen kann. Aufgrund dieser moralisch gegründeten Selbstdifferenzierung sind die sinnlichen Antriebe kein factum brutum mehr, sondern Bestandteil eines sich moralisch verstehenden Bewußtseins, dessen Moralität und die darin implizierte Fähigkeit zur Demonstration von Freiheit erhalten bleibt, wenn es sich auf der Grundlage dieser Freiheit gegenüber seiner Phänomenalität für eine Überordnung von Antrieben aus dieser Dimension entscheidet. Daraus ergibt sich aber eine wichtige Folgerung für jene Zurechnung, durch die eine Handlung als Tat und der Akteur als Person angesehen wird, also für jenen Akt, der als solcher nur ,in moralischer Bedeutung4 stattfinden kann und in der Spezialform der »rechtskräftigen 4 Zurechnung ein konstitutives Element der Rechtsphilosophie im Denkzusammenhang der Kantischen praktischen Philosophie darstellt. Wenn eine Handlung »in moralischer Bedeutung4 zugerechnet wird, so kann sich dies ja nicht auf moralische Handlungen beschränken und unmoralische ausschließen, weil in ihnen nicht Freiheit demonstriert wird und sie deshalb dem Verantwortungsbereich des Akteurs nicht unterstehen. Dieses Problem wird nur dann vermieden, wenn die Zurechnung so gedacht wird, daß darin der Akteur als Glied einer intelligiblen Welt »betrachtet4 wird» in die er sich nur durch seine Fähigkeit zu kategorisch-imperativischer Maximenprüfung hat versetzen können» und zusätzlich berücksichtigt wird, daß er eben deshalb eine Selbstauffassung als sinnliches und natürlichen Antrieben unterworfenes Wesen gewonnen hat, das ihn in die Lage versetzt, eine Unterordnung der Motivation aus dem moralischen Gesetz unter jene Antriebe vorzunehmen. Kant formuliert selbst eine wichtige Folge aus seiner Lehre von der unmoralischen Handlung bezüglich des Problems der Zurechnung. Das Böse der menschlichen Natur nämlich „verstimmt 44 die „moralische Urtheilskraft in Ansehung dessen, wofür man einen Menschen halten solle,44 und es macht „die Zurechnung innerlich und äußerlich ganz ungewiß44 (Religionsschrift, AA VI, S. 38). Dies entspricht offensichtlich sehr gut den Ausdrücken, mit denen Kant den Begriff der Zurechnung in der »Metaphysik der Sitten4 einführt als ein »Ansehen4 als Urheber 39 Die Autonomie eröffnet also erst die Möglichkeit, moralisch zu handeln: „Wer diese Möglichkeit hat, ist in seinen Entscheidungen frei, denn er kann zu seinen subjektiv bedingten Weiten, die er vorfindet, Stellung nehmen." (M. Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, S. 247).

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und »Betrachten4 des Subjekts nach der Freiheit seiner Willkür. Es könnte scheinen, Kants Lehre von der unmoralischen Handlung stehe seiner Konzeption von Zurechnung - und speziell der »rechtskräftigen 4 - nicht nur entgegen, sondern korre 1 spondiere ihr sogar. Die Legitimation der Zurechnung auch einer unmoralischen bzw. - über die Pflicht zum Rechtszustand - nur indirekt-moralisch differenten Handlung ergibt sich gerade aus der Einbeziehung von Neigungen aus der Natur des Menschen in die Verantwortlichkeit für seine Maximen bzw. Handlungen, indem diese durch die Eröffnung der Dimension der Intelligibilität in der kategorisch-imperativischen Moralität selbst einen Status erhalten, in dem sie in die Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts eingelassen sind und damit als die ,seinen4 aufgefaßt werden können, zu denen das Subjekt sich verhalten kann, weil es nicht mit ihnen identisch ist. Damit eröffnet sich die Möglichkeit, auch dann zuzurechnen, wenn die Bestimmung einer rechtlich relevanten Handlung durch Neigungen unterstellt werden muß. Die Zurechnung muß sich also nicht auf direkt moralisch zu charakterisierende Handlungen beschränken, in denen das Subjekt seine Freiheit demonstriert, die allein deren Zurechenbarkeit erlaubt, sondern kann sich auch auf sinnlich determinierte Handlungen erstrecken, solange unterstellt werden kann, der Akteur sei zur moralischen - kategorisch-imperativischen - Maximenprüfung fähig und könne sich darin so von sich als Sinnenwesen distanzieren, daß er als Glied einer intelligiblen Welt aufgefaßt werden kann, von der aus seine sinnlichen Neigungen die ,seinen4 werden, zu denen er ein Verhältnis aufgenommen hat, in dem er über ihre Über- oder Unterordnung gegenüber den Forderungen des moralischen Gesetzes entscheiden kann, so daß er auch dann als frei und zurechenbar,angesehen4 werden kann, wenn seine Handlung unmittelbar als unmoralisch zu qualifizieren ist und somit seine Freiheit nicht demonstriert. 40 Indem die Neigungen als die ,seinen4 angesehen werden, zu denen er sich in ein Verhältnis setzen kann, wird er eo ipso so angesehen, daß er die Freiheit schon durch seine Moralität demonstriert hat und sich darin zu einem Glied der intelligiblen Welt gemacht hat. Als solches aber ist er der Zurechnung fähig und kann Taten begehen, für die er als Person verantwortlich gemacht werden kann. Aus der Perspektive des Tatbegriffes der Rechtslehre stellt sich das ominöse ,Factum4 der Vernunft damit als die Selbstverwirklichung der Vernunft dar, in der sie für sich selbst praktisch wird, indem sie durch die Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts in ein zwei Dimensionen angehöriges Wesen eine Konstellation erzeugt, in der die phänomenale Dimension so auf die intelligible Dimension hingeordnet erscheint, daß die Einflüsse der Neigungen auf die Entscheidungen 40 K. Konhardt weist darauf hin, daß der ,Hang zum Moralisch-Bösen' als ein Faktum angesehen werden kann, das dem »Factum' der Vernunft vergleichbar ist, obwohl es diesen gegenüber »asymmetrisch' gelagert ist, „weil die Abweichung von der »Ordnung der Triebfedern' (deren Umkehrung) ja nur möglich ist unter der Vorgabe der Ordnung dieser Triebfedern." (Die Unbegreiflichkeit der Freiheit. Überlegungen zu Kants Lehre vom Bösen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 42/1988, S. 397-416, S. 405 f).

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

der Akteure es gestatten, von unmoralischen Handlungen zu sprechen, obwohl die Freiheit, die allein die Rede von Handlungen sinnvoll macht, nur durch das moralische Gesetz demonstrierbar ist. Indem das Subjekt sich durch das Bewußtsein seiner moralischen Verpflichtetheit in die Dimension der Intelligibilität stellt, transformiert es die phänomenale Welt der Neigungen i n die ,seine 4 , zu der es sich in einer Differenz stehend weiß, die i h m die Entscheidung über Über- oder Unterordnung der Neigungen i m Verhältnis zum Bewußtsein der Pflicht ermöglicht. Durch dieses ,Factum' der Vernunft wird die Handlung als ,Tat 4 einer Person zurechenbar, ohne daß die einzelne Handlung durch ihren moralischen Status deren Freiheit demonstrieren muß - die Freiheit wird demonstriert durch den Status der Intelligibilität, der i m »Ansehen4 eines Akteurs als Urheber i m Sinne der causa libera und i m »Betrachten 4 des Subjekts nach der Freiheit seiner Willkür zugeschrieben w i r d . 4 1 Für die Rechtslehre ergibt sich daraus, daß sie nur dann ihren Zusammenhang mit den gedanklichen Grundlinien der Kantischen praktischen Philosophie wahren wird können, wenn sie den Gedanken der Zurechnung von In-

41 Ein genetischer und systematischer Zusammenhang der Lehre vom Faktum der Vernunft mit der Applikation des Gesetzes in der imputatio facti wird von M. Riedel herausgestellt, demzufolge eine strukturelle Entsprechung zwischen der Zurechenbarkeit der Handlung im Rechtsprozeß und der Formulierung des Sittengesetzes in der Analytik der praktischen Vernunft es Kant erleichtert habe, das Deduktionsproblem des Grundgesetzes der Sittlichkeit mit der Lehre vom Faktum der Vernunft aufzulösen (Imputation der Handlung und Applikation des Sittengesetzes, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 14/1989 (1), S. 27-50, S. 32, S. 37). Riedel geht davon aus, daß der methodische Sinn der Kantischen Rede von einem Faktum der Vernunft in dem Vergleich mit der Institution des Rechtsprozesses liegt, weshalb dieser Vergleich seine Hauptpunkte den Verfahrensweisen der richterlichen Urteilspraxis entnimmt. Die Imputation der Handlung erscheint hier in Gestalt einer in der Gesetzesapplikation implizierten faktischen Imputation durch Urteilskraft, die Riedel auch als »praktisch' bezeichnet und von der - von mir ins Zentrum gerückten - juridischen und moralischen Zurechnung unterscheidet (S. 35). Die faktische Imputation spezifiziert das Faktum durch reflektierende Urteilskraft zum Faktum eines Gesetzes. Strukturell entsprechend verläuft der Vergleich zwischen subjektiv gültiger Maxime und objektiv gültigem Gesetz in der Bestimmung des Grundsatzes der praktischen Vernunft über die Anwendung der Maxime auf den Fall in der durch Urteilskraft vorzunehmenden Untersuchung, ob die Maxime sich zur allgemeinen Gesetzgebung qualifiziere. Diese »Spezifikation des Faktums' verschafft der theoretisch nur negativ bestimmten transzendentalen Freiheit »Realität'. Diese Zurechnung verläuft also über den Fall der Maxime und deren formale Qualifikation zum Gesetz. Das »Faktum' ist deshalb zu verstehen als „eines der reinen praktischen Vernunft, das in casu auf Maximen Anwendung findet, die daraufhin beurteilt werden, ob sie zur allgemeinen Gesetzgebung tauglich sind." (S. 39) Riedel kommt deshalb zu einer Interpretation, die im Ergebnis dem in den vorangegangenen Erörterungen entwickelten Verständnis nahe kommt, obwohl sie von der faktischen Imputation durch Urteilskraft ihren Ausgang nimmt: das Faktum der Vernunft sei keineswegs das Gesetz selbst in seiner Prinzipienfunktion, sondern „das Wissen von ihm, das sich aus keinem vorhergehenden Datum oder Begriff (etwa der Freiheit) herausvernünfteln läßt, weil es jeder nur für sich zu haben vermag." (S. 39) Das Bewußtsein der Freiheit entfaltet sich demnach durch den Übergang von den Grundsätzen der empirisch unbedingten Kausalität des sittlich reinen Willens zu unseren Begriffen, die im wesentlichen die Grundbegriffe der Lehre von der Zurechenbarkeit (Imputabilität) der Handlung darstellen (S. 41).

III. Die reine Freiheit und der Gegenstand der Kantischen Philosophie des Rechts

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telligibilität für die Rechtsgemeinschaft sich in der wechselseitigen Auffassung als verantwortliche Täter anerkennender Bürger bewahren kann.

I I I . Die reine Freiheit und der Gegenstand der Kantischen Philosophie des Rechts Daß das Recht bereits als solches Garant der Freiheit ist und die Existenz rechtlicher Regelungen ohne Ansehung ihrer näheren Bestimmung in der Lage ist, Freiheit unter Menschen zu schaffen oder zu mehren, ist eine zentrale Behauptung der Kantischen Rechtsphilosophie. Gerade diese zentrale Behauptung aber muß auf größte Bedenken stoßen, wenn an all die Verbrechen erinnert wird, die im Namen des Rechts begangen worden sind. Realistischer erscheint es, die Stelle, an der Recht Freiheit kreiert, nicht mit der bloßen Existenz von Recht anzugeben, sondern in den Determinanten, die jeweils gesatztes Recht bestimmen. Deshalb scheint das Verhältnis von Recht und Freiheit grundsätzlich anders gedacht werden zu müssen, als dies Kants Absicht war. Wenn Kant das Recht als den Inbegriff der Bedingungen bezeichnet, „unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann" (230), so scheint dem auf unmittelbar einleuchtende Weise entgegengesetzt werden zu können, das Recht vereinige nicht die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen, sondern es bringe die Freiheiten in eine Hierarchie, durch die entschieden wird, wessen und welche Freiheit sich im Konfliktfall durchsetzen darf. 42 Eine solche Hierarchisierung von Freiheiten allein kann aber nicht die Freiheit vermehren. Sie ist vielmehr völlig indifferent gegenüber dem Quantum Freiheit, das in einer Vergesellschaftung herrscht. Die Hierarchisierung ist stets beides: Ermöglichung der Durchsetzung von Plänen von Subjekten und Dementieren der Pläne anderer Subjekte. Der Nettoeffekt für die Verwirklichung von Freiheit ist durch diese gegensätzlichen Wirkungen des Rechts nicht von vornherein anzugeben. Das Recht ist als solches sowohl mit einer Zunahme von Freiheit als auch mit einer Abnahme von Freiheit vereinbar. Soll das Recht also Freiheit schaffen, so kann dies nur durch eine zusätzliche Determinante erreicht werden, die auf die Hierarchisierungsregeln einwirken muß. Das Recht wird dann einen Nettozuwachs an Freiheit erbringen, wenn die Hierarchisierungsregeln so ausgestaltet werden können, daß das Freiheitsquantum d. h. die summierten Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder - da42 Man könnte aus Refl. 6738 entnehmen, daß Kant dies wohl bewußt war, wenn mit „Ein Recht" ein solcher Anspruch bezeichnet wird, der durch die positiven Gesetze bestimmt ist: „Recht überhaupt ist eine handlung, so fern man in Ansehung derselben frey ist. Ein Recht aber ist die Freyheit, wodurch die freyheit anderer eingeschränkt wird: jus quaesitum. A natura sind alle frey, und nur die Handlungen sind recht, die keines Freyheit einschränken." (AA XIX, S. 145).

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

durch größer ist, als es im »Naturzustand4 ohne rechtliche Regelung wäre. Das Recht wird jedoch zu einem Nettoverlust an Freiheit führen, wenn die Hierarchisierungsregeln die summierten Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder geringer werden lassen, als es ohne rechtliche Regelungen der Fall wäre. Aus der Perspektive der Rechtsphilosophie als der Philosophie eines besonderen Gegenstandsbereichs besteht die zentrale Problematik von Recht und Freiheit demnach in der Frage, wie die Hierarchisierung von Freiheiten durch rechtliche Regelungen so ausgestaltet werden kann, daß die summierten Handlungsmöglichkeiten der Gesellschaftsmitglieder maximiert werden. Unter der Perspektive einer solchen Rechtsphilosophie könnte das Recht demnach zwar als notwendige Bedingung der Freiheit einer vergesellschafteten Menschheit vorgestellt werden, nicht aber als hinreichende Bedingung. Damit das Recht tatsächlich Freiheit sichert, muß also ein spezielles Maximierungsproblem gelöst werden: die Summe der Freiheiten muß durch Hierarchisierungsregeln maximiert werden. Die Lösung dieser Maximierungsaufgabe könnte bei Annahme geeigneter und durch ihre vernünftige Ausweisbarkeit allgemein zustimmungsfähiger Prämissen gelingen.43 Die gewichtigsten Probleme dürfte dabei der Versuch einer Quantifizierung von Freiheit bereiten, die es erst ermöglicht, die durch Hierarchisierung erzielte Zunahme und Abnahme von Freiheit bei differenten Rechtssubjekten zu summieren. Nur wenn eine solche Summation möglich ist, kann das Maximierungsproblem gelöst werden. Damit muß die individuelle Bewertung von Handlungsmöglichkeiten unter dem Gesichtspunkt der Verwirklichung von Freiheit so ,öffentlich 4 gemacht werden können, daß die individuell bewerteten Handlungsmöglichkeiten interindividuell vergleichbar werden. Erst dann kann die Summation versucht werden, die Bedingung der Maximierung ist. Aufgrund dieser Probleme scheint die in der politischen Wirklichkeit durchgeführte Bestimmung des Rechts durch Macht und Moral eine einfachere Lösung darzustellen, um jene Regeln, die rechtlich Freiheiten hierarchisieren, akzeptabel und plausibel zu bestimmen. Eine machtvermittelte Bestimmung des Rechts löst das Maximierungsproblem durch Segmentierung: das Quantum an Freiheit wird für eine spezielle Klasse von Rechtssubjekten maximiert, die im Grenzfall sogar nicht mehr als ein einziges Individuum enthalten muß, während die Freiheit aller anderen Rechtssubjekte nicht in die Maximierungsrechnung eingeht. Eine moralische Bestimmung hingegen kann - aber muß nicht - die Maximierung der Freiheit zum Ziel haben. Die Maximierung von Freiheit durch Rechtssetzung ist auf diese Weise nur dann gesichert, wenn die zur Hierarchisierung von Freiheiten verwendeten moralischen Determinanten aus sich heraus die Maximierung von Freiheit in der vergesellschafteten Menschheit garantieren und so an die Stelle quantifizierbarer Maximierungsregeln treten können. Die Anforderungen an eine solche Moral sind damit offensichtlich paradox: einerseits muß sie die Freiheit des einzelRawls' »Theorie der Gerechtigkeit' könnte als ein Unternehmen mit dieser Abzweckung verstanden werden.

III. Die reine Freiheit und der Gegenstand der Kantischen Philosophie des Rechts

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nen bestimmen und d. h. einschränken, andererseits muß sie durch eine Hierarchisierung von potentiell konfligierenden Freiheiten die Freiheit aller entschränken. Sie muß die Vereinigung einer Einschränkung der Freiheit auf individueller Ebene mit einer Einschränkung und Entschränkung von Freiheit auf interpersonaler Ebene ermöglichen. Als individuelle Eleutheronomie kann die Kantische Moralphilosophie offensichtlich nur eine Teillösung für das zweite Problem anbieten, nämlich unter Ausblendung der rechtsphilosophisch unverzichtbaren interpersonalen Ebene. Die Genesis von Freiheit durch ihre gesetzesförmige Beschränkung geschieht nur auf individueller Ebene: die Freiheit beweist sich in der kategorisch-imperativischen Moralität, deren Grundgedanken zufolge die Person desto freier ist, je mehr sie ihre Willkür durch das moralische Gesetz selbst beschränkt. Die moralische Idee einer,Freiheitsgesetzgebung 4 scheint demnach keine ausreichende Basis bereitstellen zu können, um auch auf interpersonaler Ebene zu einer Vereinigung der Beschränkung von Freiheit durch Hierarchisierung von Freiheiten und der Entschränkung von Freiheit durch Maximierung der Summe der Freiheiten durch eben diese Hierarchisierung zu gelangen. Nun verlangt der vernünftige Begriff des Rechts Kant zufolge, die Rechtsadressaten „keiner Absicht zu unterwerfen, die nicht nach einem Gesetze, welches aus dem Willen des leidenden Subjects selbst entspringen könnte, möglich ist" (KpV 87). 44 Demnach können wir die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen nur dann durch das Recht vereinen, wenn das Recht dem einen und dem anderen genau das antut, was die Freiheit des einen und die Freiheit des anderen fordern. Die Hierarchisierung von Freiheiten, die das Recht leistet, kann über die bloße Hierarchisierung hinaus also nur eine Vereinigung von Freiheiten leisten, wenn das Hierarchisierungsprinzip in der Lage ist, solche Bestimmungen zu generieren, die sowohl mit der Freiheit des einen als auch mit der Freiheit des anderen in Übereinstimmung stehen. Die Freiheit des einen und des anderen bleibt jedoch nur dann gewahrt, wenn ihnen durch die Hierarchisierung genau das angetan wird, was ihrem Wollen entspricht - auch wenn dieses Wollen nicht dem explizit geäußerten Wünschen entspricht. Demzufolge muß die Beschränkung der Freiheit des einen durch die Hierarchisierung und den damit gegebenen Vorrang der Freiheit des anderen durch den Willen des einen gerechtfertigt werden können. Auf der Grundlage der Kantischen Moralphilosophie genügt es nun, wenn die Beschränkung dem freien Willen des einen entspricht, denn mit seinem Willen - den er nur durch moralische Selbstbestimmung demonstrieren kann - hat er eo ipso seine Freiheit gezeigt. Wenn sie dem Willen entspricht, so entspricht sie auch seiner Freiheit. Das gleiche gilt auch umgekehrt. Wenn die Beschränkung der Freiheit des einen entspricht, so entspricht sie auch seinem Willen. 44

Vgl. dazu Reflexion 6954: „Es kann niemand den andern obligiren, als durch eine n o t wendige einstimmung des Willens anderer mit dem seinen nach allgemeinen Regeln der Freiheit. Also kan er niemals den andern obligiren, als vermittelst desselben eignen Willen" (AA Bd. 19).

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

Das Problem der Maximierung des Quantums der Freiheit unter den Menschen stellt sich für Kant demnach als Problem der rechtlichen Formulierung der moralischen Freiheit der Menschen dar. 45 Gerechtfertigt kann im Rahmen dieser Rechtsphilosophie nur ein Recht sein, das ausschließlich auf moralischen Maximen beruht, durch die der eine seine äußere Freiheit beschränkt, weil genau dies seiner Moralität und damit der Dokumentierung seiner individuellen und moralischen Freiheit entspricht. Seinem philosophischen Begriff entspricht das Recht also nur dann, wenn mit ihm die Freiheit des einen so beschränkt wird, daß er genau mit dieser Beschränkung seine moralische Maximenbestimmung zeigen kann und damit seine Freiheit beweist. Nun definiert Kant das Recht als den „Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann." (230) In Kants moralischem Rechtsbegriff ist der Ausdruck ,nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit 4 also im Sinne eines Attributs zu »Willkür des einen4 und zu »Willkür des anderen4 zu lesen (230). Was vereinigt werden soll, ist die Willkür des einen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit, d. h. nach der moralischen Willensbestimmung, mit der Willkür des anderen nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit, d. h. nach der moralischen Willensbestimmung. Rechtliche Beschränkungen der Freiheit sind also gerechtfertigt, wenn sie dem einzelnen erlauben, sich als moralisches Wesen - und d. h. in seiner Freiheit - zu zeigen. Das aber heißt, seine Maximen hinsichtlich ihrer Verallgemeinerbarkeit zu prüfen, d. h. aufgrund ihrer Vernünftigkeit. Also ist die Beschränkung der Freiheit in der Hierarchisierung von Freiheiten durch Recht nur dann gerechtfertigt, wenn der einzelne eben mit und in dieser Beschränkung seine Vernunft zeigen kann. Die Rechtssätze, die Freiheiten in eine Hierarchie bringen, müssen also so bestimmt sein, daß sie bei ihrer Durchsetzung eo ipso und mit dem Akt der Beschränkung der Freiheit des einen dessen Moralität, Freiheit und Vernunft »aktualisieren4. Sie müssen Gelegenheiten sein, in denen der einzelne - obwohl er diese Regeln subjektiv durchaus als Einschränkungen seiner Freiheit erleben kann - durch vernunftgegründete und verallgemeinerungsfähige Moralität seine Freiheit demonstrieren kann. Diese innere Moralität des Rechts als Vereinigung der Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen findet sich bei Kant zunächst in zwei Elementen seiner Rechtsphilosophie. Zum ersten wird die Person als rechtsfähiges Subjekt ausgezeichnet. Nur die Person kann zur Rechenschaft gezogen werden, da nur sie frei handeln - und d. h. wollen - kann. Damit kann sie eine Tat begehen und nicht nur eine kausale Veränderung in der Außenwelt hervorrufen. Die Person aber ist das 45 Bereits Mitte der 60er Jahre rechnet Kant die Rechtsphilosophie nicht der pragmatischen praktischen Philosophie zu. Das Recht gehört als »natürliches4 dem Bereich des Moralischen als praktischer Philosophie der Verbindlichkeit an, während das positive Recht Gegenstand der »historischen' Wissenschaften sei, die von der Philosophie zu unterscheiden sind. Vgl. dazu Chr. Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/ Main 1971, S. 74 ff.

III. Die reine Freiheit und der Gegenstand der Kantischen Philosophie des Rechts

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wollende Subjekt und konstituiert sich durch moralische Maximenprüfung, also durch die Verallgemeinerungsfähigkeit der Vernünftigkeit. Zum zweiten wird es als eine moralische Pflicht bezeichnet, ein rechtlicher Mensch zu sein. Dies umschließt auch die Pflicht, durch Rechtssätze zu einer Aktualisierung der moralischen und die Freiheit demonstrierenden Leistung zu gelangen. Für die Lösung des Problems der Rechtfertigung einer Beschränkung des Freiheit des einen zugunsten der Freiheit des anderen scheint Kant uns also zunächst eine sehr konventionell anmutende Lösung anzubieten: wir dürfen durch rechtliche Regelungen einander nur das antun, was der jeweils andere selbst wollen kann. In der Kantischen Grundlegung dieser Lösung in der Ethik und d. h. in der Freiheitslehre als Eleutheronomie liegt jedoch eine Originalität, die Kants Rechtsmetaphysik so grundsätzlich von verwandten Unternehmungen unterscheidet, daß sie überhaupt nur unter Beachtung ihres genuinen Status als »Rechtsphilosophie4 bezeichnet werden kann. Der Kantische Satz vom Recht, das die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen vereinigt, erschließt sich nur aus der Verbindung von Moralund Rechtsphilosophie. Wenn wir die Freiheit des einen beschränken und dies nur aufgrund seines ,wahren4 Wollens tun dürfen, d. h. aufgrund eines Wollens, das seinen Begriff ganz erfüllt, so tun wir es in Einklang mit seiner Freiheit, die sich nur in seinem Wollen manifestiert. Dieses freie und nur so seinen Begriff erfüllende Wollen aber zeigt sich in der vernünftigen, d. h. verallgemeinerungsfähigen Maximenbestimmung. Damit kehrt der Grundgedanke der Kantischen Ethik in dem wieder, was wir nur mit Vorsicht als Kants »Rechtsphilosophie4 bezeichnen sollten. Der Satz vom Recht, das die Freiheit des einen mit der Freiheit des anderen vereinigen können soll, bezieht sich demnach keinesfalls auf die äußere Freiheit im Sinne von Handlungsfreiheit - dafür kann Kant aufgrund seines ausschließlich ethisch gegründeten Freiheitsbegriffs überhaupt keinen Begriff entwickeln. 46 Der Satz vom Recht muß sich diesem Begriff von Freiheit zufolge offenbar auf die Vereinbarkeit von inneren Freiheiten beziehen. Dieses Problem der rechtlichen Wirklichkeit von Freiheit muß im Rahmen einer Konzeption notwendig entstehen, der zufolge sich die Freiheit nur in vernünftigen und d. h. verallgemeinerungsfähigen Handlungsmaximen zeigen kann. Wir können Kants Rechtsphilosophie also 46 Die Auffassung, die Formulierung ,nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit 4 in Kants Rechtsprinzip beziehe sich ausschließlich auf positive Gesetze, die die Freiheit im äußeren Tun und Lassen garantieren, wurde vor allem von J. Ebbinghaus vertreten, der folgerichtig auch die vollständige Unabhängigkeit der Kantischen Rechtsphilosophie von den in der Kritik der theoretischen und der praktischen Vernunft entwickelten Gedanken behaupten mußte. Vgl. J. Ebbinghaus, Gesammelte Schriften, Bd. I, Sittlichkeit und Recht, Bonn 1986; sowie ders., Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus, in: G. Prauss (Hrsg.), Kant. Zur Deutung seiner Theorie von Erkennen und Handeln, Köln 1973, S. 322-336. Grundsätzlich vertritt G. Geismann die gleiche Position, wenn er darauf hinweist, daß für die Rechtslehre die Begriffe der Willensfreiheit und der transzendentalen Freiheit nicht herangezogen werden dürfen; vgl. G. Geismann, Ethik und Herrschaftsordnung, Tübingen 1974, S. 56 ff. Zur Kritik dieser Positionen vgl. W. Kersting, Wohlgeordnete Freiheit. Immanuel Kants Rechts- und Staatsphilosophie, Frankfurt/Main 1993, S. 136 ff.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

zunächst als den Versuch auffassen, die Tragik aufzulösen, die aus der Spannung zwischen ethischer (noumenaler) Freiheit und (phaenomenaler) Freiheit in der Welt entsteht. Es ist der Versuch, mit Folgeproblemen umzugehen, die aus der Konzeption einer Ethik als Freiheit entstehen, wenn diese Freiheit in der Wirklichkeit der Welt bestehen soll. Die leitende innere Problematik der Kantischen ,Rechtsphilosophie' resultiert also aus einem Begriff der Freiheit, der sie nur als Ethik, d. h. als vernünftige, verallgemeinerungsfähige Maximenbestimmung kennt. 47 Die »Rechtslehre4 in Kants Metaphysik der Sitten nimmt deshalb auch keine im engeren Sinn »rechtsphilosophische4 Position ein, wenn damit die Frage nach der für die Maximierung des Quantums an Freiheit richtigen Bestimmung der rechtlichen Regelungen bezeichnet wird. 48 Sie ist auch nicht in dem Sinne philosophisch, als sie an einer Stelle der Dichotomie positiver versus normativer Rechtstheorie verortet werden könnte. Ob die rechtlichen Regelungen durch Macht oder durch Moral bestimmt werden, ist für den Status der Kantischen Rechtslehre nicht bedeutsam. Das Quantum an Freiheit kann das Recht im Rahmen der Kantischen Konzeption nur vermehren, indem es die Möglichkeiten des Individuums beeinflußt, seine Freiheit durch kategorisch-imperativische Maximenprüfung zu demonstrieren. Sonst müßten Kant zwei Begriffe von Freiheit unterstellt werden: Freiheit durch moralische Gesetzlichkeit und Freiheit als Wahl zwischen Handlungsmöglichkeiten in der phaenomenalen Welt. Wenn diese begriffliche Dualität nicht unterstellt werden kann, so kann der Zusammenhang von Freiheit durch Recht in der 47 Wir könnten auch sagen: die Problematik resultiert aus dem Status der Kantischen Ethik als einer »Maximenethik4, mit welchem Ausdruck O. Höffe darauf verweist, daß Bezeichnungen wie ,formale Ethik 4 ,,Pflichtethik 4 oder ,deontische Ethik 4 Kants Unternehmen nur unzureichend charakterisieren (O. Höffe, Kants kategorischer Imperativ als Kriterium des Sittlichen, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 31/1977, S. 354-384; vgl. auch ders., Immanuel Kant, München 1992, S. 187 ff). Schon in der Maximenbildung liegt also eine Selbstunterscheidung des Menschen von der Natur in sich und außer sich; vgl. Reflexion 1513: „Maximen kommen nicht aus der Natur; sie müssen durchgedacht seyn.44 (AA XV, S. 840) In der Anthropologie wird der Entschluß zu Maximen - ohne Prüfung ihrer moralischen Begründbarkeit - als „eine Art der Wiedergeburt 44 bezeichnet (Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, AA VII, S. 119-333, S. 294). Erst in der Sittlichkeit aber gibt der Mensch die Disponibilität über die Maximen preis und konstituiert eben damit seine Freiheit. 48 Damit soll keineswegs ausgeschlossen werden, daß Kantische Gedankengänge in dieser Richtung ausgewertet werden können. In der folgenden Untersuchung wird von dieser Möglichkeit jedoch abgesehen zugunsten einer Konzentration auf die Zusammenhänge der Ausführungen in der »Metaphysik der Sitten4 mit den zentralen Gedankengängen der Kantischen Philosophie. Für eine positive Ausweitung vgl. insbes. O. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/Main 1990. Höffe zufolge lassen sich Menschenrechte - als »Rechte4 des Menschen, bloß weil er Mensch ist - nicht legitimieren, ohne als »Kontrapunkt4 zum sozial wissenschaftlichen Rechtsdiskurs »kategorische Rechtsprinzipien4 zuzugestehen (12), die die Aufgabe auf den Begriff bringen, auch gegen Widerstände eine legitime Vielfalt zu ermöglichen - also Rahmenbedingungen der Pluralisierung zu garantieren, deren elementarste nicht noch einmal der Pluralisierung freigegeben werden können. Der kategorische Imperativ als Rechtsgrundsatz eigne sich dafür gerade wegen des implizierten Rigorismus und Formalismus.

IV. Rechts- und Tugendlehre als Kritik der reinen Freiheit

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Kantischen Rechtslehre nur verstanden werden als Ermöglichung der moralischen Freiheit. Frei aber wird das Subjekt durch seine moralische Entscheidung, nicht durch eine Veränderung in der Welt als Folge dieser Entscheidung. Wenn das Recht jedoch gerade die äußeren Verhältnisse von Menschen regelt, so scheint es die moralisch gegründete Freiheit weder befördern noch beeinträchtigen zu können. Diese Schwierigkeit wird die »Metaphysik der Sitten4 beheben müssen, wenn darin tatsächlich das Recht zu einem genuin philosophischen Thema werden soll.

IV. Rechts- und Tugendlehre als Kritik der reinen Freiheit In ihren metaphysischen Anfangsgründen haben Rechts- und Tugendlehre jeweils ihr eigenes Prinzip. 49 Wenn sie jedoch unter dem gemeinsamen Obertitel einer ,Metaphysik der Sitten4 abgehandelt werden, so werden diese Prinzipien einen inneren Zusammenhang aufweisen müssen, der sich aus dem Gedanken näher bestimmt, den der Begriff einer Metaphysik der Sitten zum Ausdruck bringt. Daß es im Kantischen Denkzusammenhang eine Metaphysik der Sitten geben muß, ist ja zunächst genauso merkwürdig wie die Vorstellung, es könne überhaupt so etwas wie eine Metaphysik der Sitten geben.50 Das Prinzip metaphysischer Anfangsgründe der Rechtslehre ist die Suche nach einer Möglichkeit, die es erlaubt, die Freiheit des einen, wie sie in der Moralphilosophie als allein in der Maximenprüfung nach einem allgemeinen Gesetz demonstrierbar erklärt worden war, mit der ebenso nur nach einem allgemeinen Gesetz demonstrierbaren Freiheit des anderen zu »vereinigen4. »Vereinigung4 von Freiheit des einen und Freiheit des anderen kann nur heißen, daß beide Freiheiten darin erhalten bleiben müssen. Zu vereinigen aber sind sie nur, wenn es sich um Freiheiten im gleichen Status handelt; die Handlungsfreiheit des einen könnte mit der Maximenfreiheit des anderen nicht vereinigt werden, und sie müßte es auch nicht, weil 49

Daß Kant die beiden Teile getrennt publiziert hat (Januar bzw. August 1797), kann die explizit beanspruchte innere Einheit des Gedankens selbstverständlich nicht in Frage stellen. Eine in diesem Zusammenhang nicht uninteressante Randnote zur Rezeptionsgeschichte stellt die von einem schottischen Schüler (John Richardson) von L. H. Jakob und J. S. Beck bereits 1799 vorgelegte englische Übersetzung des Gesamtwerks dar. Die Rezeption im angelsächsischen Sprachraum mag dann jedoch durch die Tatsache erschwert worden sein, daß Richardsons Werk rasch in Vergessenheit geriet und später die beiden Teile des Werks nur noch getrennt in englischer Sprache publiziert wurden. Erst 1992 (sie !) erschien eine englische Fassung des Gesamtwerks (The Metaphysics of Morals, translated by Mary Gregor, Cambridge University Press, New York 1992, Neuausgabe New York 1996). 50 Es wird im folgenden deutlich werden, daß sich die »Metaphysik der Sitten' zur »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten' bzw. zur »Kritik der praktischen Vernunft' keineswegs verhält wie die »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft' zur »Kritik der reinen Vernunft', also im Sinne einer »Anwendung' von obersten Prinzipien und Grundsätzen. Schon die Titel deuten auf ein ganz anderes Verhältnis: die »Grundlegung' ist eben nur die Grundlegung, die nicht für sich stehen kann, sondern in sich bereits auf das verweist, dessen Grund sie zu legen hat und in dem sie sich verwirklicht: also in der Metaphysik der Sitten .

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

sie nicht kollidieren könnten und in diesem Sinne a priori vereinbar wären. Nun kann Kant jedoch keinen Begriff von Handlungsfreiheit in der Erscheinungswelt formulieren, er mußte ihn in der »Kritik der reinen Vernunft 4 sogar ausdrücklich ausschließen und die Möglichkeit der Freiheit in ein Reich des Intelligiblen jenseits des durch Verstand Erkennbaren verweisen, von dem wir nur durch die moralische Willensbestimmung wissen können. Also muß das Recht, wie es in einer »Metaphysik der Sitten4 zum Thema werden kann, eine Möglichkeit eröffnen, die in der Maximenprüfung nach einem allgemeinen Gesetz demonstrierte Freiheit des einen mit der ebenso demonstrierten Freiheit des anderen zu vereinigen. 51 Es wird sich zeigen, daß dies gelingen kann aufgrund des Rechtsverhältnisse als solche kennzeichnenden Prinzips der Zurechnungsfähigkeit, das Handelnde als verantwortliche Täter auffaßt, in welcher Auffassung ihnen eo ipso Freiheit zugeschrieben wird. 52 In dieser Zuschreibung kann von der - in der Kantischen Philosophie nicht denkbaren - Handlungsfreiheit in der Erscheinungswelt abgesehen werden; zugeschrieben werden muß als Grund der Verantwortlichkeit jedoch die in der Maximenbestimmung nach einem allgemeinen Gesetz demonstrierbare ethische Freiheit. Damit wird aber auch deutlich, daß und warum die Rechtslehre Teil einer Metaphysik werden kann und muß. Darin unterscheidet sich die Kantische Rechtsphilosophie von den meisten Unternehmungen, die diesen Titel für sich in Anspruch nehmen. Als Meta-Physik kann Kant sein Vorhaben bezeichnen, weil sein Thema nicht das Räsonnieren über das Recht ist, wie es für in der Erscheinungswelt handelnde Subjekte generiert und/oder gestaltet werden soll, sondern wie es die Leistung vollbringen kann, in der die Freiheit des einen, wie sie in der Maximenbestimmung nach einem allgemeinen Gesetz demonstriert werden kann, mit der auf gleiche Weise demonstrierten Freiheit des anderen zu vereinigen ist. Damit

Bereits 1926 hatte W. Haensel darauf hingewiesen, daß in der Definition des Rechts mit dem »allgemeinen Gesetz der Freiheit 4 nur die transzendentale Freiheit in der Autonomie als ratio essendi des moralischen Gesetzes gemeint sein könne. Haensel kam dann jedoch zu der Auffassung» die transzendentale Freiheit stehe als moralischer Grund »hinter4 dem Recht, das die Aufgabe habe, die Erscheinung der transzendentalen Freiheit zu schützen und vor Behinderungen durch andere zu bewahren. Eine solche Interpretation des Rechts als Schutz der ethischen Freiheit der Autonomie vor äußeren Angriffen widerspricht offensichtlich der Kantischen Konzeption einer Maximenethik, in der die ethische Freiheit sich nur durch Prüfung auf Universalisierbarkeit demonstrieren kann. Haensel setzte damit schon den Gedanken einer Freiheit im äußeren Gebrauch voraus, der doch erst in der »Metaphysik der Sitten4 entwikkelt wird; das Recht »schützt4 nicht die ethische Freiheit, sondern macht sie durch wechselseitige Zuschreibung für andere ,wirklich 4 . (W. Haensel, Kants Lehre vom Widerstandsrecht, Berlin 1926, S. 8 ff, S. 43 ff; eine ganz ähnliche Auffassung findet sich bei G. Dulckeit, Naturrecht und positives Recht bei Kant, Leipzig 1932, S. 13 ff). 52 Insofern untersucht die Rechtsphilosophie jenes Problem weiter, das Kant in der »Dritten Antinomie4 der »Kritik der reinen Vernunft 4 die „Imputabilität der Handlung44 nannte (B 476), also die Möglichkeit, Handlungen als intentionale empirische Ereignisse einem freien Wesen so zuschreiben zu können, daß Kausalität mit Spontaneität vereinigt gedacht werden kann.

IV. Rechts- und Tugendlehre als Kritik der reinen Freiheit

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aber können die Rechtssubjekte in dieser Philosophie nicht als der Erscheinung angehörige Beispiele des homo phaenomenon vorkommen, sondern nur als noumenale Wesen in einer durch moralische Verbindlichkeit eröffneten intelligiblen Dimension - also unter dem Gesichtspunkt |i£ia xd cfwaixd. 53 Das Recht wird also bei Kant Gegenstand einer Metaphysik der Sitten, weil ihm nur dieses Phänomen geeignet erscheint, um die Freiheit nicht nur als innerlich in der Maximenprüfung für sich demonstrabel zu denken, wobei bezüglich der resultierenden Handlung nicht einmal der Handelnde selbst sicher sein kann, daß er darin seine Freiheit demonstriert, weil weder er noch der äußere Beobachter die Gewißheit hat, daß das Motiv der Handlung tatsächlich auf die freiheitsdemonstrierende Allgemeinheitsprüfung der Maxime zurückführt. In der Zuschreibung von Freiheit über die Zuschreibung von Verantwortlichkeit im Recht, in welcher Handlungen zu Taten und Akteure zu Personen werden, kann die Freiheit dagegen für andere ,da' sein und damit Wirklichkeit über die Innerlichkeit des Subjekts hinaus gewinnen.54 Aus dieser Skizze des im folgenden darzustellenden Gedankengangs wird zunächst nur die Behauptung deutlich, es ließen sich aus der Kantischen Konzeption gute Gründe entnehmen, um eine Rechtsphilosophie als Metaphysik durchzuführen. Damit ist aber noch nicht geklärt, warum eine solche Metaphysik gerade als Teil einer Metaphysik der Sitten ausgeführt werden muß, und es ist noch nicht einzusehen, warum eine Rechtslehre als Metaphysik sich ausgerechnet zusammen mit einer Tugendlehre zu einer Metaphysik der Sitten zusammenfügen soll. Es dürfte der Beantwortung der ersten Frage förderlich sein, zunächst vorläufig anzugeben, warum und unter welchem Begriff eine Tugendlehre bzw. deren metaphysische Anfangsgründe in einer Metaphysik der Sitten behandelt werden. Das Prinzip metaphysischer Anfangsgründe der Tugendlehre ist die Suche nach einer Möglichkeit, sich Zwecke zu denken, die zugleich Pflicht sind. Damit gleicht die Ausgangslage der Tugendlehre aber in Beziehung auf die Moralphilosophie 53 „Was ist Metaphysik? Philosophie des Übersinnlichen d. i. desjenigen was in keiner Erfahrung gegeben werden kan. Dahin gehört auch das Recht." (Vorarbeiten Kants zum »Gemeinspruch', AA XXIII, S. 134) Zum »metaphysischen* Charakter des Rechts vgl. O. Höffe, Kategorische Rechtsprinzipien. Ein Kontrapunkt der Moderne, Frankfurt/Main 1990, S. 96 ff. 54 Über diese Konzeption moralisch gegründeter rechtlicher Freiheit könnte sich ein Weg ergeben, mit Kant die Verbindlichkeit moralischer Normen auf der Grundlage von »Interessen* zu denken, wenn Interessen nicht verstanden werden als Bedürfnisorientierung, sondern als eine Orientierung, die Selbstachtung und Anerkennung durch andere gewährleistet (wie H. Hoppe dies als Kritik an Kants »Fiktion4 von Freiheit und Autonomie fordert, vgl. H. Hoppe, Normenbegründung ohne naturalistischen Fehlschluß?, in: Zur Rekonstruktion der praktischen Philosophie. Gedenkschrift für Karl-Heinz Iking, hrsg. v. K.-O. Apel, Stuttgart 1990, S. 226-245). Die Antwort auf die Frage nach der Interessenabhängigkeit in der Begründung von Moral und Recht ist bei Kant grundsätzlich von dem verwendeten Begriff von »Interesse' abhängig. In dieser Arbeit wird die Auffassung vertreten, daß Kants Ethik sich gerade in der Metaphysik der Sitten insofern mit Interessen verbunden zeigt, als die Wirklichkeit der Freiheit erst die freie Verfolgung von Interessen ermöglicht.

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strukturell derjenigen der Rechtslehre. Wie in der Rechtslehre die in der moralischen Handlungsbestimmung in der Innerlichkeit des Subjekts gebliebene Freiheitsdemonstration über die Zuschreibung von Verantwortlichkeit und damit Freiheit an den so zur Person werdenden Akteur für andere und damit »wirklich 4 wird, so wird auch in der Tugendlehre offenbar ein Weg über die reine Innerlichkeit der Moralität und damit der Freiheit hinaus gesucht, wenn denn Zwecke angegeben werden sollen, die zugleich Pflichten sind. Im Rahmen der Moralphilosophie können Zwecke als Bestimmungen von Pflichten ja nur »erläuternd4 angeführt werden; was Pflicht ist, kann sich letztlich nur aus der tatsächlich vorgenommenen Prüfung von Maximen auf Verallgemeinerungsfähigkeit ergeben - und selbst dann ist nicht sicher, ob die entsprechende Handlung ,aus Pflicht 4 geschehen ist oder vielleicht nur »pflichtgemäß 4 war. Wenn nun die »eigene Vollkommenheit4 und die ,fremde Glückseligkeit4 als Zwecke bezeichnet werden, die zugleich Pflichten sind, so wird dem moralischen Subjekt dadurch offensichtlich in bezug auf diese beiden Fälle die alleinige Kompetenz zur Bestimmung der verallgemeinerungsfähigen Maximen abgesprochen, in denen es seine Freiheit demonstrieren kann. Zunächst könnte es scheinen, als ob in der Tugendlehre Zwecke als Pflichten bezeichnet werden, weil die ihnen entgegengesetzten Maximen nicht verallgemeinerbar und damit verwerflich wären, wodurch im Umkehrschluß die affirmativen Maximen als geboten angesehen werden müßten. Damit würde sich die Tugendlehre in der »Metaphysik der Sitten4 reduzieren auf die Vorführung von Anwendungen des Prinzips der kategorisch-imperativischen Maximenprüfung. Dagegen spricht jedoch vor allem die Rede von Zwecken, die in ihrem Pflichtcharakter die Dimension der Tugendlehre bestimmen. Diese Zwecke müssen als Pflichten dennoch Gesetze für die Maximen der Handlungen darstellen. Damit scheint ein Verständnis aber zunächst unmöglich, soll nicht die Argumentationsgrundlage der Kantischen Ethik verlassen werden. Deren Prinzip war es ja gerade, die ethische Dimension zu eröffnen durch den Ausschluß aller materialen Willensbestimmungen und die Zulassung der reinen Form der Gesetzlichkeit - also der Allgemeinheit - als einziger Determinante eines ,gut4 und damit ,frei 4 zu nennenden Willens. Mit Zwecken als Maximen werden aber nun materiale Bestimmungen eines Willens eingeführt, die ihn nichtsdestoweniger so bestimmen, daß seine entsprechenden Maximen ethischen Verpflichtungscharakter besitzen. Wenn bestimmte Zwecke als Pflichten bezeichnet werden können, so müssen sie offenbar zumindest zwei Bedingungen erfüllen. Zum einen müssen sie dem Verallgemeinerungsprinzip der reinen Gesetzesförmigkeit von Maximen insofern äquivalent sein, als sie ebenso wie dieses einen Willen als ,gut4 auszeichnen können müssen, welche Fähigkeit in der »Grundlegung4 einem Willen dadurch zugeschrieben wurde, daß er sich ausschließlich selbst bestimmen konnte, was dort nur als eine Bestimmung aufgrund reiner Gesetzesförmigkeit gedacht werden konnte. Es ist bereits offensichtlich, daß das Problem dieser Bedingung in der Äquivalenz einer materialen Bestimmung mit der reinen Form der Gesetzlichkeit in der Willensbestimmung liegt. Zum zweiten aber müssen diese Zwecke sich gegenüber dem

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Prinzip der Gesetzesförmigkeit doch auch auf eine bestimmte Weise auszeichnen, indem sie solche Pflichten bestimmen, die als Tugenden in die »Metaphysischen Anfangsgründe 4 einer Tugendlehre passen, die wiederum zusammen mit der oben vorgreifend in ihrer Aufgabe angegebenen Rechtslehre sich zum Ganzen einer Metaphysik der Sitten fügen kann. Diese Schwierigkeit ist offenbar nur dann aufzulösen, wenn die Zwecke, die zugleich Pflichten sein sollen (eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit), insofern dem Prinzip reiner Gesetzlichkeit von Maximen entsprechen, als durch das ihnen gemäße Handeln der Wille nicht Gefahr läuft, aufgrund nicht-intendierter Nebenfolgen nicht mehr als ,gut' bezeichnet werden zu können. Diese Anforderung ist zunächst erfüllt, wenn nur die Art der Bestimmung des Willens - bzw. seiner Maximen - als ethisch relevant angesehen wird, nicht aber die Handlungsfolgen in der Erscheinungswelt. Jene beiden Pflichtzwecke müssen also eine Art der Willensbestimmung darstellen, in der der Wille ,rein 4 bestimmt wird, also ohne empirische Determinanten aus der Erscheinungswelt. Dem scheint zunächst die Selbstvervollkommnung ebenso zu widersprechen wie die fremde Glückseligkeit. Mit der Basisargumentation der Kantischen Moralphilosophie können beide Pflichtzwecke jedoch nur dann vereinbar sein, wenn sie ausschließlich als Willensbestimmungen eines aufgrund seiner Moralität freien und der Sphäre der Intelligibilität angehörigen homo noumenon gedacht werden. Nichtsdestoweniger müssen beide Pflichtzwecke geeignet sein, die nur moralisch demonstrierbare Freiheit in der »Wirklichkeit 4 und für andere darstellen zu können. Im Falle der Pflicht, den Zweck der Selbstvervollkommnung zu verfolgen, läßt sich dieser Zusammenhang noch relativ einfach aufweisen. Das Kriterium, an dem eine solche Vervollkommnung gemessen werden kann, ist ja nicht ein bestimmt anzugebender Zustand der Erscheinungswelt. Selbstvervollkommnung heißt vielmehr generell, in der Erscheinungswelt zu demonstrieren, in der Bestimmung des Willens nicht von der eigenen Zugehörigkeit zur Welt der Erscheinungen abhängig zu sein. Dies zeigt sich am deutlichsten in dem Tugendgebot, das geradezu als Paradigma für Kants Lehre von den Pflichtzwecken angesehen werden kann, nämlich in der Pflicht zur Selbsterhaltung, also im Verbot des Suizids. Das Selbst, das sich vervollkommnen soll, tut dies gerade nicht, indem es sich einer Bestimmtheit in der Erscheinungswelt angleicht, sondern indem es sich von jeder Bestimmtheit frei und unabhängig erweist - wie z. B. von der Bestimmtheit, unter der es sein Dasein als homo phaenomenon angesichts der ihm unverfügbaren Bedingungen der Erscheinungswelt nicht mehr fortzusetzen wünscht. Anders als in der abstrakten kategorisch-imperativischen Prüfung von Maximen auf Gesetzesförmigkeit, wo sich die Moralität aufgrund der unerforschlichen Motivstruktur nicht zeigen muß, geschieht die Demonstration der Unabhängigkeit von den Bestimmtheiten der Erscheinungswelt gemäß den Pflichtzwecken jedoch durch ein Verhalten zur Erscheinungswelt und gibt dem moralischen Subjekt deshalb die Möglichkeit, seine Freiheit als Unabhängigkeit von der Erscheinungswelt in der Erscheinungswelt zu demonstrieren. Der Pflichtzweck der Selbstvervollkommnung als Selbstdiffe6 Römpp

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B. Die Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

renzierung von allen Bestimmtheiten der Erscheinungswelt stellt die Freiheit in der Vermittlung durch die Erscheinungswelt nun zunächst für das moralische Subjekt selbst dar. Auf der Grundlage dieses Interpretaments fügt sich jedoch auch der zweite Pflichtzweck in die gedanklichen Zusammenhänge der Kantischen Moralphilosophie ein. Sich die fremde Glückseligkeit als Pflicht zum Zweck zu machen, soll expressis verbis gerade nicht heißen, für das Glück der anderen unter einer vorgegebenen Bestimmtheit ihres Wohlergehens zu sorgen. Zum einen wäre darin gerade kein Verhältnis zu anderen eingenommen, indem ihr Glück den Zusammenhang der eigenen Bestimmtheiten des Wohltäters an keiner Stelle unterbrechen würde. Zum anderen setzt die Verwendung des Begriffs des Glücks in der Kantischen Philosophie grundsätzlich voraus, daß das Subjekt sich in der kategorischimperativischen Demonstration seiner Freiheit von der sein Wohlergehen affizierenden Erscheinungswelt unterschieden hat, damit es dann jenes Verhältnis zu ihr einnehmen kann, in dem es sie insgesamt unter der Perspektive seines Glückes auffassen kann. 55 Wenn die fremde Glückseligkeit also einen Zweck darstellt, den zu haben Pflicht ist, so wird damit eine Bestimmung des Willens als moralisch ausgezeichnet, in der das wollende Subjekt auf seine eigene Bestimmungsfähigkeit verzichtet und die Selbstbestimmung des anderen - und damit eben den anderen selbst - als Determinante seines Willens zuläßt. Darin geschieht wohl eine »Selbstbestimmung4, aber im Sinne einer freien Bestimmung des eigenen Willens durch den freien also moralischen - Willen des anderen. Wenn darin aber eben die fremde Glückseligkeit zum Pflichtzweck wird, und nicht die Erfüllung der einzelnen Neigungen und Vorlieben des anderen, so setzt sich das »tugendhafte4 Subjekt damit eo ipso in ein Verhältnis zu einem der Demonstration seiner Freiheit in der kategorisch-imperativischen Maximenprüfung fähigen Subjekt, das sich eben darin so von der Erscheinungswelt unterschieden hat, daß es sie unter der Perspektive des Glücks auf sich beziehen kann. Demnach geschieht in der Orientierung am Pflichtzweck der fremden Glückseligkeit offensichtlich strukturell das gleiche wie in der Anerkennung des zur kategorisch-imperativischen Demonstration seiner Freiheit fähigen Rechtssubjekts als Person und Täter in der Zuschreibung von Verantwortlichkeit und Freiheit. Die Gemeinsamkeit des Rechtsverhältnisses mit den beiden Pflichtzwecken der Tugendlehre besteht also in der darin implizierten Darstellung von Freiheit in der Erscheinungswelt, ohne daß damit ein Begriff von Handlungsfreiheit als Freiheit in der Welt der Erscheinungen eingeführt werden müßte, der den Kantischen Denkzusammenhang notwendig sprengen würde. Demnach ist die argumentative Abzweckung und Leistung der Tugendlehre in der ,Metaphysik der Sitten4 grundsätzlich von gleicher Struktur wie diejenige der Rechtsphilosophie als dem ersten 55

Vgl. dazu ausführlicher G. Römpp, Kants Ethik als Philosophie des Glücks, in: Akten des 7. Internationalen Kant-Kongresses, hrsg. von G. Funke, Bonn 1991, S. 563-572.

IV. Rechts- und Tugendlehre als Kritik der reinen Freiheit

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Teil des Werkes. Diese Entsprechung von Rechts- und Tugendlehre erscheint zunächst für den Pflichtzweck der fremden Glückseligkeit deutlicher, geht es doch darin ebenso wie im Rechtsverhältnis um ein Verhältnis zum anderen in seiner noumenalen Freiheit, wie er sie nur in der Moralität der kategorisch-imperativischen Maximenprüfung demonstrieren kann - dies aber so, daß sie zur »äußeren4 Freiheit wird, indem der eine sich für den anderen als frei darstellen kann. Diese Leistung aber vollbringt grundsätzlich ebenso der Pflichtzweck der eigenen Vervollkommnung, nur daß in diesem Teil der Tugendlehre nicht auf die gleiche Weise deutlich wird, daß es auch dabei um die Darstellung der nur durch Moralität demonstrierbaren Freiheit für andere geht. Aber auch dieser Pflichtzweck gibt die Struktur einer Leistung an, in der das moralische Subjekt durch sein Tun und Lassen in der Erscheinungswelt für andere demonstriert, daß es von eben dieser Erscheinungswelt gerade unabhängig ist und in dieser Unabhängigkeit als ein noumenales Wesen aufscheint, das sich darin in seiner nur durch Moralität demonstrierbaren Freiheit der kategorisch-imperativischen Maximenprüfung für andere darstellt. 56 Allerdings sollte die Darstellung ,für andere4 nicht mißverstanden werden als Darstellung für andere der Welt der Erscheinung angehörige - also phaenomenale - Wesen. In der Rechtsphilosophie und in der Tugendlehre geht es um die Darstellung von Freiheit, wie sie in der kategorisch-imperativischen Moralität demonstriert werden kann. Damit geht es um ein durch die Erscheinungswelt vermitteltes Verhältnis zwischen moralischen Subjekten, ein Verhältnis, das selbst nicht in der Erscheinungswelt stattfindet. Diese Darstellung von Freiheit ,über4 die phaenomenale Welt ,für 4 das sich darstellende moralische Subjekt selbst repräsentiert die ,Selbstverpflichtung 4 als fundamentale Gedankenstruktur der Kantischen Ethik in der sie ermöglichenden Unterscheidung der Welt in die Dimensionen des Phaenomenalen und des Noumenalen.57 56

Freiheit ist also nicht auf Innerlichkeit beschränkt, sondern drängt im Kantischen Denkzusammenhang aus sich selbst auf öffentliche und rechtliche Anerkennung; vgl. dazu H. Böckerstette, Aporien der Freiheit und ihre Auklärung durch Kant, Stuttgart 1982, bes. S. 351 ff. 57 In diesem Zusammenhang liegt die Antwort auf einen schwerwiegenden Vorwurf gegen Kants Ausführungen. Daß Kant in der ,Metaphysik der Sitten4 eine Synthese seiner problematischen Freiheitslehre versucht habe, insbesondere als Abkehr von der Freiheitskonzeption der Religionsschrift, ist die These von B. Ortwein (Kants problematische Freiheitslehre, Bonn 1983, bes. S. 156 ff). In dieser Synthese zeige die Kantische Konzeption jedoch erneut ihre ganze Problematik. Zentrale Aussage der »Metaphysik der Sitten4 sei, daß die freie Willkür nun nicht mehr als Wahlmöglichkeit zwischen Sittlichkeit und Sinnlichkeit gesehen werde» womit Freiheit und Imputabilität auf sittliche Taten eingeschränkt werden, so daß das Böse als moralwidriges Verhalten wieder zu einem - unlösbaren - Problem werde. Ortwein entwickelt daraus kritisch» daß Kant die personale Einheit von intelligibler und phänomenaler Willkür nicht mehr denken könne; die personale Identität werde dadurch aufgespalten und als denkbarer Begriff preisgegeben. M. E. unterbietet die Beschränkung auf die wenigen Äußerungen zum Begriff der Freiheit in der »Metaphysik der Sitten4 die Komplexität der Behandlung des Freiheitsproblems in diesem Werk beträchtlich. Gerade das Problem der Identität der Person und damit in Zusammenhang das Verhältnis von Phaenomenalem und Intelli6*

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B. Die Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

Wenn Kant das »Paradox4 der Selbstverpflichtung durch diese Unterscheidung aufzulösen unternimmt, so werden diese Dimensionen nicht als gegeben vorausgesetzt, sondern die Selbstverpflichtung ist nichts anderes als das Geschehen, in dem in der Konstitution von Moralität und damit von Freiheit und Verantwortlichkeit diese Dimensionen auseinandertreten, womit erst die Dimension geschaffen wird, in der Moralität als Selbstverpflichtung bestehen kann. 58 Deshalb ist die Unterscheidung und der Bezug von Phaenomenalem und Noumenalem ein Geschehen, das konstitutiv in die Moralität gehört. Dies gilt bereits für die ethische Basisargumentation. Hier manifestiert sich dieser Zusammenhang in der Bezeichnung des moralischen Gesetzes als »Imperativ4 und als »Pflicht 4, worin die Notwendigkeit einer »Überwindung4 des »Pathologischen4 zum Ausdruck kommt, weshalb das Phänomen der Moralität offensichtlich die Differenzierung zwischen Phaenomenalem und Noumenalem voraussetzt. Im Rechtsverhältnis und in den Tugendpflichten dagegen manifestiert sich dieser Zusammenhang nicht, sondern darin wird er in einer Selbstdifferenzierung geleistet. Das ethische Subjekt nimmt ,über4 sein Dasein in der phaenomenalen Welt eine Beziehung zu sich auf, in der es dieses Dasein in seinem Unabhängigwerden von ihm »mitnimmt4 in die noumenale Sphäre, womit es in seine Selbstdifferenzierung die Differenzierung von Phaenomenalem und Noumenalem aufnimmt.

Exkurs: Über das Metaphysische in der ,Metaphysik der Sitten6 Als einer der wenigen Autoren macht O. Höffe darauf aufmerksam, daß in der »Metaphysik der Sitten4 nicht eine Metaphysik gegeben wird, sondern »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre4 und »Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre4. Damit wird sowohl der Anspruch der Rechts- als auch der der Tugendphilosophie eingeschränkt. Demnach geht es dabei um den Begriff des Rechts, der - und dies gilt analog auch für den Begriff der Tugend - „ein reiner, jedoch auf die giblem wird darin auf einem Niveau behandelt, das die vorangegangenen Erörterungen der theoretischen und praktischen Philosophie ausführt und ergänzt. 58 Daß Kant das Prinzip der Autonomie mit dem Gebot des kategorischen Imperativs verwechselt habe, lautet der Vorwurf von R. Bittner - ersteres sei eine Bedingung gültiger moralischer Gesetze, letzteres selbst ein moralisches Gesetz; der Begriff der eigenen und allgemeinen Gesetzgebung stelle im Prinzip der Autonomie ein Kriterium für Gesetze für Handlungen dar, im Gebot des kategorischen Imperativs dagegen für Handlungen (Moralisches Gebot oder Autonomie, Freiburg/München 1983, S. 115 ff). Die Konstitution von Moralität in der Selbstverpflichtung des sich darin von sich unterscheidenden Subjekts kann jedoch nur deshalb gelingen, weil Kant sie auf den Begriff der Güte des Willens gründet, der sich in Maximen - und nicht in Handlungen - realisiert; indem die Moralität sich in der Maximenprüfung als gesetzesförmiger Wille konstituiert, vereinigt sie Autonomie und kategorische Maximenbestimmung, weshalb der Begriff der eigenen und allgemeinen Gesetzgebung sowohl den Begriff der Autonomie erfüllt als auch im kategorischen Imperativ als Struktur moralischer Maximen - freilich nicht von Handlungen - zum Ausdruck kommt.

Exkurs: Über das Metaphysische in der »Metaphysik der Sitten'

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Praxis (Anwendung in der Erfahrung vorkommende Fälle) gestellter Begriff ist" (205), womit sich Kants Unternehmen von einer »Metaphysik des Rechts' - analog: von einer »Metaphysik der Tugend4 - als einem »aus der Vernunft hervorgehenden System4 unterscheidet. Ein solches »metaphysisches System4 müßte „auch auf die empirische Mannigfaltigkeit jener Fälle Rücksicht nehmen44, obwohl die „Vollständigkeit der Eintheilung des Empirischen44 unmöglich ist (105). Höffe schließt daraus: „So weiß Kant, daß die Philosophie im Gegensatz zu einem überzogenen Rationalismus, der das gesamte positive Recht rein rational ableiten will, auf den kleinen, allerdings grundlegenden und entscheidenden Teil, den der Begriffs- und Prinzipienbestimmung, zu beschränken ist. 4 ' 59 Höffe weist deshalb darauf hin, daß die »Metaphysik der Sitten4 zwei in methodischer Hinsicht verschiedene Aussagen enthält: die eigentliche Rechtsphilosophie, die nur so weit reicht, wie das Recht zum a priori entworfenen System gehört, und darüber hinaus Ausführungen über die Rechte, so weit sie auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden. Der Rechtsbegriff selbst und seine Entwicklung gehört deshalb nicht in die metaphysischen Filiationen der »Metaphysik der Sitten4, sondern in ihr eigentliches Geschäft in der Beschränkung auf »metaphysische Anfangsgründe 4: „Indem Kant den Rechtsbegriff vom Begriff der Person als eines zurechnungsfähigen Subjekts und nicht vom Menschen her entwickelt, kommt er selbst bei den Anwendungsbedingungen des Rechts ohne Aussagen einer empirischen Anthropologie aus.44 Empirische Kenntnisse sind also erst für die Anwendung des Rechtsbegriffs auf in der Erfahrung vorkommende Fälle notwendig.60 Dagegen sieht F. Kaulbach in der Rechtsphilosophie das Programm einer »besonderen4 Metaphysik, für deren Ausführung in den rein apriorischen Ansatz Begriffe aufgenommen werden müssen, die einerseits aus der Erfahrung stammen, andererseits aber „für einen apriorischen Gedankengang besonders zugerichtet und passend gemacht wurden.44 Diese »besondere Metaphysik des Rechts4 »»nimmt sich vor, die empirischen Ansprüche des positiven Rechts mit den reinen Moralgrundsätzen der praktischen Vernunft zu einem Gesamtsystem zu vermitteln. 44 Folglich müssen »empirisch anthropologische Bestimmungen4 als erfahrungsentsprungene Begriffe „in den apriorischen, rechtsmetaphysischen Zusammenhang für die Herstellung eines praktischen Gesamtsystems eingearbeitet werden.44 Als Beispiele nennt Kaulbach die Begriffe der Leiblichkeit, der Gebundenheit an Raum-Zeitverhältnisse und des Bedürfnischarakters der menschlichen Existenz.61 Solche Begriffe werden in einem Verfahren der »Idealisierung4 bzw. »Transzendentalisierung4 auf apriorische Begriffe gebracht. 62 Diese Vermittlung zwischen Freiheit und Erschei59 O. Höffe» Kants Begründung des Rechtszwangs und der Kriminalgesetze, in: R. Brandt (Hrsg.), Rechtsphilosophie der Aufklärung, Berlin/New York 1982, S. 335-375, S. 339. 60 A. a. O., S. 346. 61

F. Kaulbach, Studien zur späten Rechtsphilosophie Kants und ihrer transzendentalen Methode, Würzburg 1982, S. 144 f. 62 A. a. O., S. 145; Kaulbach meint damit ein Verfahren, „bei dem der philosophisch Reflektierende vom Leben selbst Abstand nehmen muß, um die es rechtfertigenden und ermög-

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

nung bzw. allgemeiner Rechtsidee und konkreter menschlicher Naturbedingung wird von Kaulbach als Verbindung zweier »Weltperspektiven4 gedeutet: „derjenigen des Reichs rein vernünftiger Wesen und derjenigen der Welt von Wesen, die auch Erscheinungscharakter haben." 63 Aufgabe der »Metaphysik der Sitten4 ist demnach eine »Vermittlung4 zwischen reiner praktischer Vernunft und positivem Recht bzw., in Analogie dazu,,positiver Tugend4; vermittelt werden soll also die empirische Theorie des positiven Rechts mit der praktischen Vernunftwissenschaft, durch welche Vermittlung ein Begründungszusammenhang zwischen Ethik und Wissenschaft des Rechts hergestellt wird, der die reinen apriorischen Grundsätze als Basis für den sachlichen Charakter der empirischen Aussagen nachzuweisen in der Lage ist. Das apriorische Vernunftrecht soll dabei die ,Kluft 4 ausfüllen zwischen dem Moralprinzip und dem positiven Recht. In der ,transzendentalen Idealisierung 4 des Übergangs von der reinen praktischen Vernunft zum Begriff der Rechtswirklichkeit kommt es dieser Auffassung zufolge darauf an, „die reinen Moralprinzipien in die empirische Wirklichkeit der Rechtssituationen hineinzuarbeiten.44 Ein Beispiel dafür ist der vereinigte Wille aller, der als apriorischer Niederschlag „der empirischen Vereinigung aller wirklichen Rechtssubjekte, die in ein praktisches Verhältnis gegeneinander kommen können44, angesehen wird. 64 An anderer Stelle weist Kaulbach zwar darauf hin, daß in der »Metaphysik der Sitten4 eine Analogie mit den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft 4 gegeben ist, zieht aber keine weiteren Konsequenzen aus dieser Analogie. 65 Nun deuten die Titel »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre4, »Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre4 und »Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft 4 aber zunächst nicht auf eine Analogie, sondern scheinen einen systematischen Zusammenhang innerhalb der Aufgabenstellung der Kantischen Philosophie zu bezeichnen. Folglich müßte sich der systematische Status der Rechtslehre und der Tugendlehre auch von der Konzeption der »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 4 her erhellen lassen; und es müßte daraus deutlicher werden, wieweit die Rechtslehre und die Tugendlehre noch der praktischen kritischen Philosophie zugehören, und wo in diesen beiden Bereichen die Höhenden Grundhandlungen zu erkennen" (S. 18); die Aufgabe der Transzendentalphilosophie wird dabei darin gesehen, eine „transzendentalphilosophische Fundierung der moralisch rechtlichen Wirklichkeit" zu leisten, „durch welche die Ansprüche der in der wirklichen Praxis geleisteten Urteile und Entscheidungen auf allgemeines Anerkanntwerden und Legitimation geprüft und gerechtfertigt werden." (S. 17). 63 A. a. O.» S. 213. 64 A. a. O., S. 147. 65 A. a. O., S. 193. In der Literatur zu den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft* ließe sich die Parallele zu Kaulbachs Auffassung wohl bei L. Schäfer finden» demzufolge der metaphysische Gehalt dieses Werks darin besteht, daß Metaphysik sich als »bedingend* für die Empirie erweist, die durch empirisch vorfindliche Begriffe gegeben ist, so daß die Apriorizität eine der Konstruktion ist (Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966, bes. S. 30 ff.).

Exkurs: Über das Metaphysische in der »Metaphysik der Sitten'

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Grenze zu Ausführungen über besondere Erfahrungsfälle beginnt, die nicht mehr auf der Basis rein apriorischer Gedankengänge begründet werden können. Auf eine Asymmetrie zwischen der »Metaphysik der Sitten* und den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' weist jedoch K. Gloy hin. In der »Metaphysik der Sitten4 habe Kant für die praktische Philosophie bereits das geleistet, was er auf dem Gebiet der theoretischen Erkenntnis in den ,Anfangsgründen 4 nur ansatzweise gezeigt habe und erst im ,Opus postumum4 fortführen und zum Abschluß bringen wollte. Die »Metaphysik der Sitten4 enthält demnach nicht nur die systematische Exposition der reinen moralischen Prinzipien, sondern auch die Exposition ihrer Anwendung auf Erfahrung, und damit schon den »Überschritt 4 von der Metaphysik der Sitten zur empirischen Praxis nach Regeln; die »Anfangsgründe4 umfassen dagegen neben der Exposition des Systems der reinen Naturprinzipien nur »Beispiele4 einer regelgeleiteten Anwendung auf Erfahrungsfalle, also nur »einige Schritte4 des Übergangs zur Anwendung auf Erfahrung. 66 Das gibt für die Interpretation der »Metaphysik der Sitten4 jedoch die Berechtigung, zwischen jener Exposition der reinen moralischen Prinzipien und ihrer Anwendung auf Erfahrung zu unterscheiden, also im Grunde zu unterscheiden zwischen der genuinen Metaphysik der Sitten und der Exposition der regelgeleiteten empirisch-sittlichen Praxis. Wenn berücksichtigt wird, daß der genaue Titel des ,Opus postumum4 lauten sollte ,Übergang von den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft zur Physik4, und der korrespondierende Übergang in der praktischen Philosophie bereits in der ,Metaphysik der Sitten4 dargestellt wurde, so ergibt sich daraus die 66 K. Gloy, Die Kantische Theorie der Naturwissenschaft, Berlin/New York 1976, S. 1. Gloy sieht einen durchgängigen systematischen Zusammenhang zwischen der »Kritik der reinen Vernunft', den ,Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' und dem ,Opus postumum', in dem sich der Hauptstrang des Kantischen Metaphysiksystems verwirklicht, der die Grundlegung einer Naturwissenschaft a priori intendiert. Dagegen wurden die »Anfangsgründe' etwa von H. Hoppe in den Grundbestimmungen der Materie als empirisch und nicht dem Bereich der Metaphysik zugehörig interpretiert (Kants Theorie der Physik. Eine Untersuchung über das Opus postumum von Kant, Frankfurt/Main 1969); ähnlich wies P. Plaaß darauf hin, daß sich die reale Gültigkeit der Bewegung nach Kant nur empirisch nachweisen läßt (Kants Theorie der Naturwissenschaft, Göttingen 1965, S. 95 f). Th. S. Hoffmann erläutert dagegen, in den »Anfangsgründen' gehe es nur um die Prinzipien der Konstruktion der Begriffe, die zur Möglichkeit der Materie überhaupt gehören, also darum, den Materiebegriff am Leitfaden der Kategorientafel so vollständig zu zergliedern, „daß dabei die generellen Hinsichten einer möglichen mathematisch-naturwissenschaftlichen Konstruktion an ihm aufgeschlossen werden." (Der Begriff der Bewegung bei Kant, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 45/1991, S. 38-59, S. 47). Schließlich ist an ein bekanntes Paradigma der Interpretation der Kantischen Naturphilosophie zu erinnern, das von W. Bonsiepen so formuliert wird: die »Anfangsgründe' sind „eine Metaphysik der körperlichen Natur, die Voraussetzungen der mathematischen Physiker expliziert, die diese immer schon gemacht haben" - ihre Aufgabe ist es also, „die metaphysische Konstruktion zusammen mit den Prinzipien einer mathematischen Naturlehre abgesondert in einem System darzustellen." (Die Begründung einer Naturphilosophie bei Kant, Schelling, Fries und Hegel, Frankfurt/Main 1997, S. 76 f).

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B. Die »Metaphysik der Sitten' als Kritik der reinen Freiheit

Möglichkeit und das Problem, in der,Metaphysik der Sitten' zwischen den Gedanken zu unterscheiden, die den eigentlich so zu nennenden metaphysischen Anfangsgründen der Rechts- und der Tugendlehre zugehören, und solchen Gedanken, die bereits dem Gebiet Jenseits' jenes Übergangs zuzurechnen sind. Es ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dieses Gebiet genauer zu umschreiben. Die Konstruktion einer ,Rechts Wissenschaft4 und einer ,Tugendwissenschaft 4 in Entsprechung zur Physik kann dafür offensichtlich nicht gelingen. Einen Übergang von der ,Rechtslehre4 zur Wissenschaft vom positiven Recht kann Kant aufgrund seiner genuinen Konzeption des Rechts nicht vornehmen - das positive Recht gilt, weil es staatlich gesetzt ist, und seine Beschreibung und seine Anwendungslehre (Jurisprudenz) bedürfen keiner Fundierung durch metaphysische Anfangsgründe. Die Schwierigkeit für einen Übergang von der ,Tugendlehre' zu einer Wissenschaft von der Tugend stellt sich zwar anders, ist aber nicht geringer - ein System der für ein tugendhaftes Leben im einzelnen zu befolgenden Pflichten zu geben widerspräche nicht nur dem Moralprinzip des unter dem kategorischen Imperativ als allein gut zu bezeichnenden Willens, sondern auch dem Tugendprinzip der Pflichtzwekke, die das durch kategorisch-imperativische Willensbestimmung seine Freiheit demonstrierende moralische Subjekt sich nur selbst setzen kann, andernfalls es keine Zwecke wären. Daraus läßt sich eine gerade durch die interne Struktur der Kantischen praktischen Philosophie begründete Asymmetrie im systematischen Zusammenhang der verschiedenen gedanklichen Ebenen der Entwicklung zwischen den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre und der Tugendlehre einerseits und den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft andererseits entnehmen.67 Diese Asymmetrie zeigt sich bereits terminologisch in den Bezeichnungen Rechtslehre und Tugend lehre auf der einen Seite und Naturwissenschaft auf der anderen Seite. In der Vorrede zu den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft' bezeichnet Kant eine »Lehre' nur dann als Wissenschaft, wenn sie ein System sein kann, also „ein nach Principien geordnetes Ganze der Erkenntnis". 68 Die Naturlehre i.w.S. wird dann eingeteilt in eine »historische Naturlehre', die „systematisch geordnete Facta der Naturdinge enthält", eine »Naturgeschichte' als „einer systematischen Darstellung derselben in verschiedenen Zeiten und Örtern", und schließlich eine »Naturwissenschaft', die als »eigentliche' ihren Gegenstand „gänz67 R. Bubner weist darauf hin, daß die Aufgabe der »Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft 4 philosophisch ist, ohne transzendental im strikten Sinne zu sein. Die »Metaphysik4 ist auch nicht die traditionelle, die Kants transzendentale Kritik destruiert hatte, aber sie ist auch nicht die ,Doktrin 4, die Kant versprochen hatte auf dem durch die kritische Philosophie bereiteten Boden zu errichten. In den »Anfangsgründen 4 versucht Kant „to develop concepts with empirical content through reason alone44 - und es erscheint fraglich, ob der traditionelle Begriff einer »Metaphysik4 für diese nicht-empirische Grundlegung der empirischen Wissenschaften tatsächlich passend ist. (Transcendentalism and Protoscience, in: P. Bieri u. a. (Hrsg.), Transcendental Arguments and Science. Essays in Epistemology, Dordrecht 1979, S. 191-195, S. 195). 68 AAIV, S. 467-565, S. 467.

Exkurs: Über das Metaphysische in der »Metaphysik der Sitten'

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lieh nach Principien a priori" und ihn als »uneigentliche4 nach Erfahrungsgesetzen behandelt.69 Zu einer Wissenschaft kann es einen »Übergang4 von ihren metaphysischen Anfangsgründen geben, zu einer Lehre dagegen nicht. Insofern ist Höffe zuzustimmen, wenn er in der »Metaphysik der Sitten4 keinen Ansatz für »metaphysische Systeme4 sieht, sondern nur »Anfangsgründe 4 im Sinne einer Begriffs- und Prinzipienbestimmung. Eine »Lehre4 ist auf der Grundlage solcher Bestimmungen auch ohne einen »Übergang4 von den letzteren zur ersteren zu geben, eine ,Wissenschaft 4 dagegen würde einen solchen Übergang in der Form einer deduktiven Entwicklung erfordern - wie ihn Kant in der Tat im ,Opus postumum4 explizit unter dem Titel eines »Übergangs4 auszuführen unternommen hat. 70 Daß keine dem »Opus postumum4 vergleichbare Ausarbeitung der Moralphilosophie existiert, läßt sich also auf eine prinzipielle Asymmetrie zwischen theoretischer und praktischer Philosophie im Kantischen Denken zurückführen. Daraus wird jedoch auch der Status von Höffes sicherlich zutreffender Unterscheidung zwischen der eigentlichen und apriorischen Rechtsphilosophie (bzw. Tugendphilosophie) und den Ausführungen über die Rechte und Tugenden, soweit sie auf besondere Erfahrungsfälle bezogen werden, zu einer unaufgeklärten Frage, die den Status der ,Metaphysik der Sitten4 selbst nicht unberührt lassen kann. Wenn dieses Unternehmen ,Metaphysische Anfangsgründe 4 der Rechtslehre und der Tugendlehre enthält, so implizieren diese offensichtlich nicht in der gleichen Weise in sich die Anweisung für einen Übergang zur Anwendung auf Erfahrung - im Sinne einer Exposition von apriorischen Regeln einer solchen Anwendung wie dies im Falle der,Metaphysischen Anfangsgründe 4 der Naturwissenschaft der Fall ist, die aufgrund solcher Anweisungen in Richtung der Ausführungen des ,Opus postumum4 zu »überschreiten4 sind. Ist eine solche Anweisung jedoch nicht in den »Metaphysischen Anfangsgründen 4 der Rechtslehre und der Tugendlehre enthalten, so wird es zum Problem, wie sich in dem von Kant als »Metaphysik der Sitten4 - und nicht als »Metaphysische Anfangsgründe der Sittenlehre4 - bezeichneten Werk die Ebene der eigentlichen und apriorischen Rechts- bzw. Tugendphilosophie zur Ebene der auf Erfahrung bezogenen Ausführungen über Rechte und Tugenden verhält. Ohne eine solche »Anweisung4 können die im literarischen Bestand der »Metaphysik der Sitten4 zweifellos enthaltenen Ausführungen über auf Erfahrungsfalle bezogene Rechte und Tugenden nicht im Status von Entwicklungen der apriorischen Begriffs- und Prinzipienbestimmungen verstanden werden. Daraus läßt sich zunächst vermuten, daß auf dem Gebiet der praktischen Philosophie - anders als auf demjenigen der theoretischen Philosophie - die metaphysischen Anfangsgründe schon die Metaphysik selbst darstellen müssen, und zwar genau dann, wenn sie 69 A. a. O., S. 468. 70

Vgl. zu diesem Begriff die Erläuterung bei W. Ritzel, ,Verhältniß und Zusammenhang' von Naturphilosophie und Naturwissenschaft in Kants Spätwerk, in: Philosophia naturalis 18/1980-81, S. 286-300.

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B. Die Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

nur einen Zusammenhang von apriorischen Begriffs- und Prinzipienbestimmungen und darauf gründender - aber nicht von ihnen ableitbarer - Ausführungen über Rechte und Tugenden in der Dimension der Erfahrung enthalten. Diese Ausführungen können nicht in den Status eines Systems als eines nach Prinzipien geordneten Ganzen transformiert werden, sondern bleiben »geordnete Facta', die als zur Rechts- bzw. zur Tugendlehre gehörige jedoch nur durch die Begriffs- und Prinzipienbestimmungen der Ebene der »Metaphysischen Anfangsgründe' von Rechtsund Tugendlehre ausgezeichnet werden, indem sie darin aus ihrer bloßen Möglichkeit - d. h. a priori - in ihrer Zugehörigkeit zur praktischen Dimension erkannt werden. 71 Dies würde auch eine Erklärung dafür geben, daß Kant in der »Metaphysik der Sitten' zwar einerseits nur beansprucht, ,metaphysische Anfangsgründe' der Rechts- und Tugendlehre zu geben, andererseits aber das ganze Werk doch bereits im Stadium der Planung als »Metaphysik der Sitten' bezeichnet hat. Im Bereich der praktischen Philosophie kann es eine Metaphysik - auch und gerade im kritischen Sinne, also „aus dem Wesen des DenkungsVermögens selbst genommen" und nur die „reinen Handlungen des Denkens" enthaltend72 - nur in Form von »Metaphysischen Anfangsgründen' geben» die apriorische Begriffs- und Prinzipienbestimmungen vornehmen. 73 Ein »dogmatisches' oder »doktrinales' Geschäft mit der Ausarbeitung eines Systems des Rechts und der Tugend kann es nach der in den Grundlegungsschriften entwickelten Struktur der praktischen Philosophie und ihres Moralprinzips dagegen nicht geben.74 Darauf deutet im übrigen auch die Entwicklung der Grundlinien der praktischen Philosophie in einer »Grundlegung zur Meta71 Dies entspricht dem Begriff einer Tugendlehre, die Kant in der ,Kritik der reinen Vernunft 4 erwähnt, und die die notwendigen sittlichen Gesetze eines freien Willens „unter den Hindernissen der Gefühle, Neigungen und Leidenschaften, denen die Menschen mehr oder weniger unterworfen sind, erwägt, und welche niemals eine wahre und demonstrierte Wissenschaft abgeben kann, weil sie ... empirische und psychologische Prinzipien bedarf. 44 (B 79). 72 Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft, A A I V , S. 467-565, S. 472. 73 W. Wieland weist in diesem Zusammenhang darauf hin, daß Kant seiner Rechtsphilosophie schon deshalb nicht den Titel einer Metaphysik des Rechts geben konnte, weil die Mannigfaltigkeit der Einzelfälle von keinem System erreicht werde - es gibt kein Handeln im Allgemeinen. Hier ist vielmehr die Urteilskraft gefordert, wobei die bestimmende die reflektierende voraussetzen muß, um zu einem Einzelfall genau die Normen zu finden, die für seine Regulierung geeignet sind. (Kants Rechtsphilosophie der Urteilskraft, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 52/1998, S. 1-22, S. 4, S. 8). 74 Vgl. jedoch B 868 und den dort entwickelten Begriff einer Philosophie der Freiheit aus empirischen Prinzipien in genauer Entsprechung zu einer Philosophie der Natur aus empirischen Prinzipien. K. Gloy sieht die Möglichkeiten der Interpretation des Architektonik-Kapitels von 1781 bezüglich der Metaphysik der Natur in einer Spezifikations- und in einer Vollendungsthese gegeben, ohne daß der Text selbst Kriterien für eine Entscheidung zwischen diesen Alternativen bereitstellen würde. Diese Ambivalenz setze sich jedoch in der Vorrede zu den »Anfangsgründen 4 fort und werde auch in den Umformulierungen des ArchitektonikKapitels von 1787 nicht behoben. (Das Verhältnis der »Kritik der reinen Vernunft 4 zu den »Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft 4, demonstriert am Substanzsatz, in: Philosophia naturalis 21 /1984, S. 32-63, S. 35 ff).

Exkurs: Über das Metaphysische in der »Metaphysik der Sitten'

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physik der Sitten', der die »Kritik der praktischen Vernunft' erst nachfolgt, während die Grundlinien der theoretischen Philosophie ohne explizite Verweisung auf eine entsprechende Metaphysik in einer »Kritik der reinen Vernunft' ausgearbeitet werden, von der die ,Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik' nur die verständlichere Abbreviatur geben sollen. Insofern ist L. W. Beck in bezug auf die literarische Gestalt der,Metaphysik der Sitten' rechtzugeben, wenn er in diesem Werk eine Verwischung der scharfen Linie zwischen Kritik und System sieht und darauf verweist, daß die »Metaphysik der Sitten' in der Ausführung mehr einem System der praktischen Philosophie mit Einbeziehung empirischer Fakten entspreche als einer systematischen Entwicklung einer Ethik aus Prinzipien. Aber das sollte nicht den Blick darauf verstellen, daß die fundamentale argumentative Ebene der »Metaphysik der Sitten' konsequent das Projekt einer Ethik aus dem Faktum der reinen Vernunft weiterführt, das Beck nur als Konzeption in der ,Grundlegung' literarisch festgehalten sieht. 75 Darüber hinaus ist m. E. kaum nachvollziehbar, daß gerade die ,Kritik der praktischen Vernunft' der Sache nach die einzige »Metaphysik der Sitten' darstellen soll» die Kant geschrieben hat, weil nur sie ein System der Erkenntnis a priori aus reinen Begriffen ist - obwohl Beck darauf hinweist, daß eben die zweite Kritik nicht nur die von der besonderen Natur der menschlichen Vernunft unabhängige Ethik der »Grundlegung', sondern auch aus der Psychologie stammende Definitionen des Lebens, des Begehrungsvermögens und der Lust voraussetzt. Der Zusammenhang von Kritik und System wird durch Becks ,fünf Stufen der Reinheit in Kants System der praktischen Wissenschaften' in seiner Komplexität jedenfalls beträchtlich unterboten. Im Hinblick auf den für die Statusbestimmung der ,Metaphysik der Sitten' entscheidenden Zusammenhang von Metaphysik und Empirie gilt dies insbesondere für das Verhältnis von ,Grundlegung' und ,Kritik der praktischen Vernunft'. Beck zufolge ist erst mit der Voraussetzung jener aus der Psychologie stammenden Definitionen die Grundlage für die Begriffe des Imperativs, der Achtung und der Pflicht gegeben. Er muß folglich behaupten, daß die von der besonderen Natur der menschlichen Vernunft unabhängige und nur auf dem Faktum der reinen Vernunft beruhende Ethik der »Grundlegung' - Stufe 1 der Reinheit in Becks Skala - in einem Text dargestellt wird» der, da die Begriffe des Imperativs und der Pflicht enthaltend, ebenso schon der Stufe 2 angehört und die Voraussetzung empirischer Begriffe impliziert. Möglicherweise wird Kants praktische Philosophie jedoch besser verständlich, wenn auf eine solche Abstufung verzichtet wird und die Interpretation von einem internen Zusammenhang zwischen Moralprinzip und jener Empirie ausgeht, die dem reinen Willen das andere seiner selbst entgegenstellt und jenes Prinzip damit in einem Imperativ zu formulieren zwingt, der eine Pflicht und nicht eine Wirklichkeit zum Ausdruck bringt. Nur ein solcher Zusammenhang, der dem reinen Willen aus internen Gründen den Übergang in seine ,Realisierung' intens L. W. Beck, Kants ,Kritik der praktischen Vernunft', München 1974, S. 63.

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B. Die »Metaphysik der Sitten als Kritik der reinen Freiheit

griert, kann ohne argumentative Bruchstelle vom Moralprinzip aus zu dessen »Realisierung 4 in einer Metaphysik der Sitten führen. Prinzipiell sind »metaphysische Anfangsgründe 4 ja der systematische Ort einer Untersuchung der Übergangs- und Anwendungsprobleme zwischen reiner Vernunft und Empirie.

C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch I. Die Verbindlichkeit einer freien Handlung Die Frage, die die Kantische Ethik in ihrem ,kritischen Geschäft 4 in der ,Grundlegung zur Metaphysik zur Sitten4 und in der »Kritik der praktischen Vernunft 4 zu beantworten versucht, ist grundsätzlich, ob und inwieweit wir über die Fähigkeit verfügen, die Vernunft als inneren Bestimmungsgrund des Vermögens, durch Vorstellungen Ursache der Gegenstände dieser Vorstellungen zu werden, einsetzen zu können, also als inneren Bestimmungsgrund des Begehrungsvermögens, das dann - und nur dann - als ,Wille4 bezeichnet werden kann.1 Dieser durch sich selbst in Gestalt der reinen Gesetzesförmigkeit bestimmte Wille ist dann die praktische Vernunft selbst, die die Willkür eleutheronomisch bestimmt und ihr damit den Status der Freiheit verschafft. Die praktische Freiheit ist damit in der negativen Formulierung als Unabhängigkeit der praktischen Bestimmung von sinnlichen Antrieben zu verstehen, positiv formuliert ist sie jedoch identisch mit dem Vermögen der reinen Vernunft, für sich selbst praktisch zu sein (211-213). Demnach enthält der Wille in seiner Freiheit, die seinen Begriff erfüllt, aufgrund der Vernünftigkeit seiner Bestimmtheit Freiheit und Notwendigkeit. Nichtsdestoweniger stellt Kant einen freien Willen als imperativisch bestimmt vor. Damit wird im Grunde bereits in der Kritik des praktischen Gebrauchs der Vernunft die Situation einer Differenz in die Grundlagen der Moralphilosophie aufgenommen, einer Differenz, die unter dem Vorzeichen einer freien Willensbestimmung als Differenz zwischen reiner Vernunftbestimmtheit und Bestimmtheit des Willens unter ,sinnlichen4 Bedingungen charakterisiert wird. Mit dem Ausdruck des ,Imperativs4 versucht Kant also nicht nur der UnVollkommenheit des Menschen Rechnung zu tragen, der nicht ausschließlich durch Vernunft, sondern auch und vorwiegend durch sinnliche Antriebe motivierbar ist. Die Situation praktischer Vernunft unter menschlichen Bedingungen beschreibt vielmehr eine Differenz, in1 Als »kritisch4 kann Kants praktische Philosophie ausgezeichnet werden, insofern sie sich auf die Bedingungen der Möglichkeit des guten Wollens und Handelns bezieht, sofern sie in reiner Vernunft anzutreffen sind. Die Rechtslehre ist dann »kritisch4, wenn sie auf der Grundlage der kritischen Praxislehre aufbaut, die insofern kritisch ist, „als sie die Philosophie des positiven Freiheitsbegriffs und seiner Bezugsmöglichkeit auf eine Realexistenz von innerem und äußerem Willkürgebrauch ist." - „Kritische praktische Philosophie ist also diejenige, die begründet, wie es möglich ist, daß Sittlichkeit und Recht und Tugend ihren letzten Grund nicht in der Heteronomie und im Gefühl, sondern nur in der Autonomie rationaler Subjektivität haben können." (H. Oberer, Ist Kants Rechtslehre kritische Philosophie?, in: Kant-Studien 74/1983, S. 217-224).

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

nerhalb derer überhaupt erst von der Unvollkommenheit des Menschen angesichts der Vernunftforderung die Rede sein kann. Es ist genau die Differenz, in der jene Freiheit denkbar wird, deren Philosophie die Kantische Moralphilosophie darstellt. Im Denkzusammenhang der Kantischen Ethik kann die Freiheit nur in untrennbarer Einheit mit dieser Differenz gedacht werden; man könnte auch sagen: die Freiheit ist geradezu identisch mit der Konstitution einer solchen Differenz, in der das moralisch verpflichtete und damit freie Wesen sich von sich trennt und sich als vernünftiges und eigentliches4 Selbst von sich als kausal determiniertem und sinnlich motiviertem Selbst unterscheidet.2 Die Freiheit des Selbst und die Differenz des Selbst von sich sind durch diese Konstitution Wechselbegriffe, deren Unterscheidung einer eigenen Abstraktionsleistung bedarf. Aufgrund dieser Situation kann sich praktische Vernunft nur als »Imperativ4 darstellen. Damit besitzt aber auch das praktische Selbstverhältnis in seiner Tiefenstruktur einen Imperativischen 4 Charakter. Wir könnten auch sagen: das praktische Selbstverhältnis entspricht dem appellativen Charakter der praktischen Vernunft. Dieser appellative Charakter geht letztlich bis auf die argumentativen Anfänge der Kantischen Moralphilosophie im konsistenten Denken eines reinen Willens zurück. Auch der ,nicht-eigentliche4 und empirisch bedingte Wille kann ja nur als Wille verstanden werden, wenn auf den reinen Willen Bezug genommen wird. Indem der kategorische »Imperativ4 die Freiheit der praktischen Vernunft als Konstitution einer Differenz und damit als Zusammenfügung des Differierten beschreibt, gewinnt er den Status einer Verpflichtung, die eine sonst subjektiv-zufällige Handlung notwendig macht. Er stellt damit das praktische Subjekt als ein solches vor, das sich zur Übereinstimmung mit der kategorischen Regel nötigen muß. Diese Selbst-Nötigung kann die Kantische Moralphilosophie jedoch als das genaue Gegenteil von Zwang auffassen, da nur darin das Subjekt seine Freiheit in der Differenzierung von sich gewinnt. Aufgrund dieses Zusammenhangs stellt diese ,Nötigung4 gerade die Explikation jener Notwendigkeit dar, die dann gedacht werden muß, wenn die Vernunft selbst praktisch werden können soll. Notwendig ist die als Imperativ freie Handlung also deshalb, weil mit ihr beansprucht werden kann, ihr alleiniger Bestimmungsgrund sei die Vernunft selbst.3 2

In der Tat ist es Kant nicht gelungen, die Gültigkeit des Moralprinzips unabhängig von Aussagen über ein intelligibles Sein zu begründen (A. Gunkel, Spontaneität und moralische Autonomie. Kants Philosophie der Freiheit, Bern / Stuttgart 1989, S. 174). M. E. ist darin jedoch der Ansatz zu einer Theorie des Subjekts zu sehen, die letztlich auf die Erhellung der Selbstdifferenzierungsleistung des bewußten Selbstverhältnisses abzielt. 3 M. E. geht die Kritik, der kategorische Imperativ könne als Beurteilungsverfahren für Handlungsmaximen und Verhaltensnormen nicht leisten, was zu leisten er vorgebe, nämlich ihre moralische Beurteilung, deshalb etwas an dem spezifischen Status der Kantischen Moralphilosophie vorbei. R. Wimmer kommt zu diesem Ergebnis aufgrund der Auffassung, die vom kategorischen Imperativ geforderte Transsubjektivität sei erst dann realisiert, wenn der autonome Andere „sich selbst argumentierend dauerhaft zu Gehör bringen kann", weshalb der kategorische Imperativ eigentlich ein Argumentationsprinzip zu sein habe (Die Doppelfunktion des Kategorischen Imperativs in Kants Ethik, in: Kant-Studien 73/1982,

I. Die Verbindlichkeit einer freien Handlung

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Die Gesetze, die sich aus der Tauglichkeit einer Maxime zum allgemeinen Gesetz ableiten, werden nun „Gesetze der Freiheit" genannt und heißen zum Unterschied von Naturgesetzen moralisch. Nach einem anderen Unterscheidungsprinzip aber sind sie entweder juridisch oder ethisch (214). Juridisch sollen sie genannt werden, sofern sie nur auf bloße äußere Handlungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen und damit das Prinzip der Legalität repräsentieren; ethisch aber, sofern sie auch fordern, daß die Gesetze selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, womit sie dem Grundsatz der Moralität entsprechen. Also beziehen sich juridische Gesetze nur auf die Freiheit im äußeren Gehrauche; ethische Gesetze dagegen beziehen sich auf die Freiheit sowohl im äußeren als auch im inneren Gebrauche der Willkür. 4 Damit ist bereits die zentrale Frage für ein Verständnis des Kantischen Unternehmens einer »Metaphysik der Sitten4 aufgeworfen, die »Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre4 und »Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre4 ausarbeiten soll: wie und mit welcher philosophischen Bedeutung ist der Begriff des Rechts zu verstehen, wenn juridische und ethische Gesetze als »Gesetze der Freiheit4 bezeichnet werden, und wie und mit welcher philosophischen Bedeutung ist der Begriff der »Tugend4 zu verstehen, wenn ein Begriff von Freiheit in der theoretischen Philosophie bloß negativ und in der praktischen Philosophie positiv nur als demonstrierbar durch kategorisch-imperativische Maximenbestimmung entwikkelt wird? Juridische Gesetze können gemäß der argumentativen Entwicklung der Kantischen Ethik ebenso wie Tugendpflichten ja nur deshalb als »Gesetze der Freiheit4 bezeichnet werden, weil sie aus der vernünftigen Maximenprüfung hervorgehen; beide aber betreffen äußere Handlungen und nicht nur Maximen, und die Rechtspflichten fordern nicht einmal, daß die Gesetze selbst Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen. Damit steht ebenso ihre Vernünftigkeit wie ihre Notwendigkeit in der Frage. Juridische und Tugendpflichten als vernünftig und damit S. 291-320, S. 302; näher ausgeführt in ders., Universalisierung in der Ethik, Frankfurt/ Main 1980, S. 184 ff). Eine ,Transsubjektivität' stellt das Kantische Moralprinzip nur in Gestalt der Selbstdifferenzierung des moralischen Subjekts über seine Öffnung in die Dimension der Allgemeinheit her, darin ist zwar die Voraussetzung, nicht aber die Wirklichkeit eines intersubjektiv-argumentativen Bezuges impliziert. Dennoch scheint mir Wimmers Einwand plausibel, das rein logische Konsistenzkriterium erlaube nur ein ,vormoralisches' Urteil über eine Maxime, das auf pragmatische Widersprüche innerhalb universalisierter Zwecksetzungen aufmerksam mache, und sei zu schwach, um als Moralkriterium gelten zu können (a. a. O., S. 307 f) - dann nämlich, wenn die Notwendigkeit einer rationalen Ethik aus dem Erfordernis einer rationalen und verbindlichen Regelung von Interessenkonflikten aus dem Zusammenleben der Menschen abgeleitet wird; für eine so verstandene interpersonale Ethik bietet uns Kant in der Tat sehr wenig an (Universalisierung in der Ethik, S. 249). 4 In seiner Untersuchung zu den frühen Quellen der Kantischen Rechtsphilosophie legte sich Chr. Ritter die These nahe, daß Kant die entscheidenden Gedanken seiner späteren kritischen Ethik ursprünglich am Rechtsbegriff entwickelte. Gerade der »Formalismus' der Moralphilosophie sei aus dem Begriff des Rechts gewonnen worden, da in diesem Zusammenhang zuerst die Rede von den »allgemeinen Gesetzen der Willkür überhaupt' gebraucht werde. (Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt/Main 1971, S. 99-104).

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

als notwendig zu bezeichnen wird folglich nur gelingen, wenn sie beide so mit der vernünftigen Notwendigkeit der genuin ethischen Maximenbestimmung verbunden werden können, daß ihre eigene Vernunft und Notwendigkeit sich als Transformation derjenigen der kategorisch-imperativischen Ethik darstellt. Wenn die juridischen und die Tugendpflichten Gesetze der Freiheit und damit »moralisch4 sind, so entstammt ihr Verpflichtungscharakter der Autonomie des Selbstverhältnisses, wie es sich durch die bloße Form der Gesetzlichkeit bestimmt. Dieses Selbstverhältnis entsteht in der Konstitution einer Differenz, die sich zunächst im imperativischen Charakter der Kantischen Ethik zeigt, die das Differierte jener Differenz so verbindet, daß das Gefüge der Differenz Freiheit und praktisches Selbstverhältnis impliziert. Wenn nun juridische Gesetze Pflichten angeben, die nicht zugleich Bestimmungsgründe der Handlungen sein müssen, und wenn Tugendpflichten bestimmte äußere Handlungen als moralisch verbindlich auszeichnen, so muß ein Grundsatz angegeben werden können, demzufolge auch solchen Gesetzen zu folgen ist, und dieser Grundsatz kann nur aus der Bestimmtheit der Freiheit als dem zentralen Prinzip der Kantischen Ethik entnommen werden. Nur wenn ein solcher Zusammenhang hergestellt werden kann, können auch diese Gesetze der Freiheit »moralisch4 heißen. Für ein Verständnis und für eine Bestimmung des »Ortes4 der »Metaphysik der Sitten4 stellt sich also grundsätzlich die Frage, was denn Freiheit ,im äußeren Gebrauche4 im argumentativen Zusammenhang der Kantischen praktischen Philosophie überhaupt heißen könne. Nun beziehen sich die ethischen Gesetze auf Freiheit im inneren und im äußeren Gebrauche der Willkür. ,Bezug auf Freiheit 4 kann hier nur heißen: es handelt sich dabei um solche Formen, in denen allein Freiheit gedacht werden kann. Wenn nun juridischen und Tugendpflichten der gleiche Status zugeschrieben wird, so folgt daraus, daß die Freiheit, wie sie sich in der kategorischen Maximenbestimmung durch die Form der Gesetzlichkeit zeigt, auch so gedacht werden muß, daß sie im äußeren Gebrauche der Willkür erscheinen kann. Folglich muß sich auch das praktische Selbstverhältnis mit seiner Binnendifferenzierung durch den imperativischen Charakter seiner Verbindlichkeit, wie es sich in der autonomen Willensbestimmung zeigt, in der äußeren Wirkung des Begehrungsvermögens nach Begriffen darstellen können. Wenn sie aber Gesetze der Freiheit heißen sollen, so müssen auch solche Gesetze, die sich auf den äußeren Gebrauch der Willkür beziehen, im Denkzusammenhang der Kantischen Ethik sich doch durch ihren Zusammenhang mit den inneren Bestimmungsgründen der freien Willkür in einem freien Selbstverhältnis ausweisen können. Es muß also eine Konzeption gefunden werden, die die Demonstration der Freiheit im Selbstverhältnis des reinen Willens auf notwendige Weise zu einem Begriff von Freiheit entwickelt, der sie auch als Freiheit im äußeren Gebrauche zu verstehen notwendig macht. Darin muß das Definiens der Gesetze aus Freiheit, wonach sie innere Bestimmungsgründe der freien Willkür sein müssen, mit dem Gedanken vereinigt werden können, daß solche Gesetze nicht nur dann gelten,

I. Die Verbindlichkeit einer freien Handlung

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wenn sie innerlich Maximen bestimmen, sondern daß auch dann in ihnen die Freiheit zur Darstellung und das Selbstverhältnis des reinen Willens zur Erscheinung kommt, wenn nicht gefordert wird, daß sie innere Bestimmungsgründe des Willens sein müssen. Die zu findende Konzeption muß den Gedanken von der Autonomie des Willens durch rein innere Bestimmungsgründe also damit vereinigen können, daß die Autonomie und damit Eleutheronomie des Willens sich auch dann demonstrieren kann, wenn die Gesetze der Freiheit nicht unmittelbar äußere Handlungen motivieren. 5 Eine solche Konzeption von Freiheit stellt die grundlegende Voraussetzung für die Ausarbeitung einer Rechtsphilosophie und einer Lehre von Tugenden auf der Grundlage des Freiheitsbegriffs dar, der im Kantischen Denkzusammenhang zunächst nur als Demonstration der Freiheit in der Autonomie des Willens durch kategorisch-imperativische Maximenbestimmung formuliert werden konnte. Diese Konzeption muß auch mit einer fundamentalen Schwierigkeit umgehen können, die sich aus dem Zusammenhang des positiven Begriffs der Freiheit in der Ethik mit dem negativen Begriff der Freiheit in der theoretischen Philosophie ergibt. Eine Konzeption von Freiheit im äußeren Gebrauche der Willkür darf nicht in Widerspruch zu dem Gedanken geraten, demzufolge die »Natur4 eine Einheit aus Gesetzen darstellt, die keinen Raum für Freiheit lassen, weshalb Freiheit nicht in der Erscheinung, sondern nur in der intelligiblen Welt möglich ist. Die äußere Handlung kann demnach als frei nicht deshalb bezeichnet werden, weil sie Kausalsequenzen in der Welt der Erscheinungen initiieren kann. Folglich kann sie aber auch nicht als Wahlfreiheit zwischen Handlungsmöglichkeiten in der Welt der Erscheinungen aufgefaßt werden. Die Freiheit, von der im Recht die Rede ist, bezieht sich dem ersten Anschein nach aber gerade auf diese Freiheit, wenn denn das Recht Freiheiten hierarchisiert, indem es der einen Freiheit zur Durchsetzung in der Welt verhilft und damit gleichzeitig einer anderen Freiheit ihr Wirklichwerden in der Welt verwehrt. Die erste Auskunft, die Kant uns zur Auflösung dieser Schwierigkeiten anbietet, lautet: die Gesetze der Freiheit müssen immer innere Bestimmungsgründe der freien Willkür sein, „obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen." (214) Als »Gesetze der Freiheit 4 und damit als ,Sittengesetze4 werden ethische und juridische Gesetze bezeichnet (215). Wenn nun auch die juridischen Gesetze unter die »Lehren der Sittlichkeit4 fallen, so gebieten auch sie für jedermann, „blos weil und sofern er frei ist und praktische Vernunft hat.44 (216) Der oberste eingeteilte Begriff in der Einteilung Recht oder Unrecht ist somit ,der Akt der frei5 In Zusammenhang mit Kants Eigentumsbegründung entwickelt P. Baumann ein Argument, demzufolge ein generelles Eigentumsverbot zu einem »Widerspruch* bzw. einer »Spannung4 zwischen der Freiheit eines selbstgesetzgebenden Willens und der Handlungsfreiheit führen würde: „eine solche Regel basierte auf Freiheit (nämlich auf der Autonomie vernünftiger Personen, ihrer Fähigkeit zur Selbstgesetzgebung) und würde doch zugleich der Freiheit (nämlich der Handlungsfreiheit, ...) die Grundlage nehmen." (Zwei Seiten der Kantschen Begründung von Eigentum und Staat, in: Kant-Studien 85/1994, S. 147-159, S. 149).

7 Römpp

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

en Willkür überhaupt' (218 Anm.). Zwar wird eine Unterscheidung der Gesetzgebungen durch die Triebfedern vorgenommen: ethisch ist eine Gesetzgebung, die eine Handlung zur Pflicht und diese Pflicht zugleich zur Triebfeder macht, juridisch hingegen eine solche, die auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht selbst zuläßt. Entscheidend aber ist, daß beide eine Handlung zur Pflicht machen (219). Deshalb kann jenes »Absehen' von der Innerlichkeit des Bestimmungsgrundes der Pflicht nicht bedeuten, daß die Rechtslehre als Teil einer Metaphysik der Sitten einen »mechanischen' Rechtsbegriff verwenden könnte. Wenn eine solche Metaphysik ihren Anspruch einlösen w i l l , so wird sie auch in jenem »Absehen' auf den Grundlagen aufbauen müssen, die Kant in seiner Philosophie der Freiheit als einer Lehre vom Selbstverständnis in einem freien Willen gelegt hat. Ein solches »Absehen' vom Status der Gesetze der Freiheit als nur innerer Bestimmungsgründe der freien Willkür kann den ausgearbeiteten Begriff der Freiheit nicht dementieren, sondern nur explizieren. Es muß in der »Metaphysik der Sitten' als einer Kritik der reinen Freiheit also erwiesen werden, daß die Einschränkung, derzufolge die Gesetze der Freiheit als innere Bestimmungsgründe der freien Willkür »nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen', aufgrund der Demonstration der Freiheit durch reine Gesetzlichkeit der Willensbestimmung selbst gefordert ist daß das Absehen von der Innerlichkeit also gerade notwendig für die Demonstrierbarkeit von Freiheit ist. 6

6 Eine juridische Gesetzgebung der Vernunft ist nur möglich, wenn von dem Moment der vernünftigen Willensbestimmung abgesehen werden kann und dafür der Anlaß und eine Begründung plausibel gemacht werden. Diesen Anlaß identifiziert W. Kersting in dem für die Rechtslehre zentralen Problem des äußeren Zwangs, von dem der Weg zu den Bedingungen seiner moralischen Möglichkeit führt, indem die normativen Prinzipien der Moralphilosophie zur Lösung der Frage nach den sittlich zulässigen Bedingungen der Zwangsanwendung nutzbar gemacht werden. (Wohlgeordnete Freiheit, Frankfurt/Main 1993, S. 126 f) Begründet werden kann dies aber nur, wenn eine Zwangshandlung moralisch möglich ist, also indem sie als allgemeines Gesetz gewollt werden kann. Dies ist nur möglich, „wenn der Zwang zur Abwehr von Handlungen aufgeboten wird, die mit der gesetzlichen Freiheit unverträglich sind." Kersting schließt daraus: „Die Frage nach der moralischen Möglichkeit von Zwangshandlungen deckt demnach ein Korrespondenzverhältnis auf zwischen dem vernunftbegründeten Zwang und der Pflicht, den äußeren Freiheitsgebrauch an den Bedingungen der gesetzlichen Freiheit zu orientieren." (S. 128) Dann aber müßte die Freiheit, zu deren Realisierung gegen Hindernisse Zwang eingesetzt werden darf, gerade die nur kategorisch-imperativisch demonstrierbare Maximenfreiheit sein und nicht die äußerliche Freiheit, oder es muß eine Möglichkeit gefunden werden, die äußerliche Freiheit so zu denken, daß in ihr im Rechtsverhältnis die Realisierung der moralischen Freiheit erscheint. Kersting will aber an einem Begriff rein äußerlicher Freiheit als Grundlage des Kantischen Rechtsprinzips festhalten. Dann aber restituiert sich das Problem: wie kann eine Bedingung äußerlicher Freiheit aus dem praktischen Gesetz als Demonstration rein innerlicher Freiheit in der kategorisch-imperativischen Maximenbestimmung gerechtfertigt werden? Moralität ist - wie Kersting völlig zu Recht gegen die moralteleologische Rechtsauffassung einwendet - kein Handlungsprädikat, sondern ein Willensprädikat (S. 146). Die Konsequenz eines solchen Begriffes äußerlicher Freiheit ist m. E. aber dann die These einer Unabhängigkeit der Rechtslehre von der kritischen Moralphilosophie, welche These Kersting - wiederum völlig zu Recht - eingehend kritisiert und ablehnt (S. 136 ff).

I. Die Verbindlichkeit einer freien Handlung

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Die juridische Gesetzgebung nimmt ihre »Triebfeder 4 nun von den pathologischen Bestimmungsgründen der Willkür der Abneigungen und ist insofern nötigend (219). In diesem Sinne handelt sie von »äußeren Pflichten 4, weil deren Befolgung von äußeren Triebfedern motiviert wird. Mit Hilfe jenes ,Absehens4 von der Innerlichkeit muß dies damit verbunden werden können, daß die ethische Gesetzgebung nichtsdestoweniger auf alles, was Pflicht ist, geht, obwohl sie keine ,äußere4 Gesetzgebung sein kann - „ob sie zwar die Pflichten, die auf einer anderen, nämlich äußeren Gesetzgebung beruhen, als Pflichten in ihre Gesetzgebung zu Triebfedern aufnimmt. 44 (219) Die äußeren Pflichten sind also Verbindlichkeiten, aber zu äußeren Handlungen (220). Das fundamentale Problem einer Recht und Tugend in die Ethik integrierenden Metaphysik der Sitten nimmt also nun folgende Form an: alle Pflichten gehören, bloß darum, weil sie Pflichten sind, mit zur Ethik, aber ihre Gesetzgebung ist nicht allemal in der Ethik enthalten. Jenes »Absehen4 von der Innerlichkeit impliziert also eine Gesetzlichkeit der Freiheit, die nicht aus der Selbstbestimmung des reinen Willens in seiner Selbstdifferenzierung entstanden ist, die aber dennoch ihre freiheitsbegründende Bedeutung aus ihrem Bezug auf die kategorisch-imperativische Bestimmtheit des eleutheronomischen Willens bezieht. Die Vernünftigkeit und Notwendigkeit einer freien Handlung muß also auch für eine nicht durch ihren Verpflichtungscharakter selbst nötigende Handlungsbestimmung gedacht werden können, und dies so, daß die Gesetze der Freiheit auch darin immer innere Bestimmungsgründe der freien Willkür sein müssen, obgleich sie nicht immer in dieser Beziehung betrachtet werden dürfen (214). Rechtslehre und Tugendlehre unterscheiden sich nun zwar „durch die Verschiedenheit der Gesetzgebung, welche die eine oder andere Triebfeder mit dem Gesetze verbindet.44 (220) So haben die Tugendpflichten mit dem Recht nicht die Art der Verpflichtung gemein, aber es handelt sich in beiden Fällen um Verpflichtung, die nicht in der reinen Innerlichkeit der Gesetzlichkeit bleibt, sondern die Dimension des äußeren Gebrauchs der Willkür betrifft. Damit stellt sich für Recht und Tugend das Problem, wie die moralische und damit eleutheronomische Qualität äußerer Handlungen mit der Gesetzlichkeit der Freiheit im Selbstverhältnis eines reinen Willens vereinbar sein kann. Jenes Verhältnis des ,Absehens4 von der inneren Bestimmung der freien Willkür, das Recht und Tugend den Status genuin ethischer und doch äußerlicher Verpflichtung verschaffen soll, wird in diesem Zusammenhang nun auch so charakterisiert: „So giebt es also zwar viele direct-ethische Pflichten, aber die innere Gesetzgebung macht auch die übrigen alle und insgesamt zu indirect-ethischen." (221) Also kann grundsätzlich nur das Pflicht heißen, was sich aus der Ethik und damit aus der Freiheitsgesetzgebung und dem Selbstverhältnis eines reinen Willens begründet. Nur der in der Ethik ausgearbeitete positive Begriff der Freiheit fundiert praktische Gesetze, von denen Handlungen bestimmt werden, die moralisch notwendig sind und deshalb ,verbindlich 4 genannt werden, ob sie nun ,direkt 4 oder »indirekt4 - also durch »Absehen4 von der inneren Bestimmung - ethisch sind. 7*

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

Für die Rechts- und für die Tugendlehre gilt also, daß ihre Verbindlichkeit sich als Notwendigkeit einer freien Handlung unter dem kategorischen Imperativ der Vernunft darstellt. Also kann sich auch die Rechtsverbindlichkeit nur so begründen, obwohl hier die empirische Verbindlichkeit doch auch das Element der Sanktionsdrohungen enthält. Da die Rechtslehre zur Sittenlehre gehört und damit Verbindlichkeit im genuin ethischen Sinne vorschreibt, so handelt auch sie von der Gesetzlichkeit und damit Notwendigkeit einer freien Handlung. Wenn der Grund der Möglichkeit der kategorischen Imperative also nur darin liegt, „daß sie sich auf keine andere Bestimmung der Willkür als lediglich auf die Freiheit derselben beziehen", so muß sich die Verbindlichkeit des Rechts ebenso wie die der Tugendpflichten letztlich auf diese Bestimmung der Willkür durch Freiheit beziehen (222). Die Lehre der Sitten ist also grundsätzlich und für Rechtsphilosophie und Tugendlehre geltend eine Lehre, die im ethischen Sinne Verbindlichkeit vorschreibt und deshalb Imperative aufstellen kann, die eine Handlung notwendig machen. Nur daraus kann das juridische Gesetz in der philosophischen Begründung seine Notwendigkeit beziehen, also gerade nicht durch die Sanktionsdrohung, die empirisch die Verbindlichkeit des Rechts sichert. Nur wenn auch das juridische Gesetz eine Handlung im ethischen Sinne notwendig macht, kann das Recht überhaupt Teil einer Metaphysik der Sitten sein, und nur dann kann die ,Metaphysik des Rechts4 ein ,aus der Vernunft hervorgehendes System4 (205) genannt werden. Nur in diesem Sinne betrifft der philosophische Begriff des Rechts also seine Verbindlichkeit, deren Begriff Kant in der Ethik als Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft ausgearbeitet hatte. Es wird sich zeigen müssen, wie in der Verbindlichkeit im äußeren Gebrauche der Willkür jene Differenz bewahrt bleibt, die Kant in Einheit mit dem Begriff der Verbindlichkeit als Unterscheidung zwischen rein vernünftiger und externer Motivierbarkeit eingeführt hatte, und deren Differenziertes durch den imperativischen Status der ethischen Maximenbestimmung in der Ausarbeitung des Charakters von Verbindlichkeit wieder zu einer Einheit zusammengeführt wurde.

II. Die Person und ihre Tat Eine Tat ist „eine Handlung, sofern sie unter Gesetzen der Verbindlichkeit steht44, d. h.: „sofern das Subjekt in derselben nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird. 44 (223) Demnach kann die Philosophie des Rechts gerade den Begriff der Tat verwenden, um einen Zusammenhang zwischen einer durch Verbindlichkeit demonstrierten Handlungsfreiheit in der Erscheinungswelt und der Freiheit durch gesetzesförmige Maximenprüfung in einer übersinnlichen und intelligiblen Welt herstellen zu können.7 Ein solcher Zusammenhang wird nun mit Hilfe des Begriffs der ,Tat4 unter zwei Gesichtspunkten ausgearbeitet. 7 Vgl. dazu den Begriff der „anticipatio practica" in Refl. 1010 (AA XV, S. 451).

II. Die Person und ihre Tat

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Zum einen wird der Begriff der Tat für die Bestimmung dessen eingesetzt, was eine Person ausmacht.8 Wenn Verbindlichkeit generell die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft heißt, so kann auch von einer Tat im Recht nur dann gesprochen werden, wenn es um eine Handlung geht, die unter Gesetzen steht, die sie als notwendig vorschreiben, d. h. als freie Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft. Dies läßt sich zunächst dadurch plausibilisieren, daß auch im Recht von einem Täter nur dann die Rede sein kann, wenn er hinsichtlich seiner Tat nach der Freiheit seiner Willkür betrachtet wird - also nach der Willkür, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann (213). Daraus ergibt sich, daß auch das Recht nur für Wesen gelten kann, in denen sich die Freiheit darstellen kann und das Selbstverhältnis eines reinen Willens zur Erscheinung kommt. Wenn das Recht einen philosophischen Begriff finden soll, d. h. sofern es reflektiert und begründet werden können soll, so kann es demzufolge nach seinem philosophischen Begriff nur für vernünftige Wesen gelten. Wenn es in der Kantischen Rechtsphilosophie also um die Bedingungen für einen philosophischen Begriff des Rechts geht, so wird mit der Verbindlichkeit des Handelnden eo ipso auch die Frage nach einer Begründung dafür zum Thema, warum denn das Recht überhaupt zum philosophischen Thema werden muß. Der Ausgangspunkt für eine solche philosophische Bestimmung des Rechts ist nun mit dem Begriff der Tat bereits gegeben. Nur eine Tat kann zugerechnet werden, und die „Person ist dasjenige Subjekt, dessen Handlungen einer Zurechnung fähig sind." (223) Dieser Definition von Person als zurechnungsfähigem Subjekt folgt nun sofort die Bestimmung: „Die moralische Persönlichkeit ist die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen." Hier ist zu beachten, daß dieser Begriff von Persönlichkeit nun nicht dem der juridischen Persönlichkeit4 entgegengestellt wird. »Moralisch4 ist der Oppositionsbegriff zu »natürlich4; der Oppositionsbegriff zu »juridisch4 aber ist »ethisch4 (vgl. 214). Zunächst ergibt sich daraus: die »moralische Persönlichkeit4 ist generell die »zurechnungsfähige 4 Person, und diese Person ist zu einer Tat als einer Handlung unter Gesetzen der Verbindlichkeit fähig - also zu einem Eingreifen in das Geschehen der Erscheinungswelt, das gleichzeitig Bedeutung für die vernünftige und intelligible Welt der kategorisch-imperativischen Maximenbestimmung besitzt, in welcher das Subjekt sein freies und praktisches Selbstverhältnis findet. 9 8 Daß Kants Personbegriff deshalb ,substantialistisch4 - wenn auch in einem »kritisch relativierten' Sinn - sein soll, ist m. E. jedoch nicht mit Kants Gedanken vereinbar; so M. Willaschek, Praktische Vernunft. Handlungstheorie und Moralbegründung bei Kant, Stuttgart/Weimar 1992, S. 266 ff. 9 Erst auf dieser Ebene der Taten wird in der Kantischen Ethik die Rede von Zurechenbarkeit sinnvoll; auf der Ebene der die Freiheit rein innerlich demonstrierenden Moral kann eine Zurechnung schon deshalb nicht stattfinden, weil hier noch nicht das erforderliche intersubjektive Verhältnis denkbar ist, das erst im Rechtsverhältnis existiert. Deshalb scheint das sog. ,imputability problem' am Kantischen Denkzusammenhang vorbeizugehen. Der Einwand lautete hier, aufgrund der Identifikation des freien Willens mit einem Willen unter dem moralischen Gesetz bedeute Autonomie notwendig den Ausschluß eines Begriffes der Zurechen-

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

Zum zweiten wird aus der Charakterisierung der Tat und dem korrespondierenden Begriff der Person jedoch gefolgert, „daß eine Person keinen anderen Gesetzen als denen, die sie (entweder allein, oder wenigstens zugleich mit anderen) sich selbst gibt, unterworfen ist." (223) Als Person wird also das autonom wollende Wesen gedacht, in dem sich die Freiheit darstellt, und sie ist das Selbstverhältnis des reinen Willens. Gerade deshalb ist sie ethisch und juridisch nur solchen Gesetzen unterworfen, die sie sich selbst gibt. Das fundamentale Problem einer Philosophie des Rechts stellt sich demzufolge nun so dar, daß die Gesetze hier einerseits solche sein müssen, die sich die Person selbst gibt (und dies definiert in Kants Denkzusammenhang den Begriff des Rechts im Unterschied von Gewalt), aber andererseits doch auch solche, die sie sich zugleich mit anderen selbst gibt. Daraus entsteht für Kants Konzeption das Problem, im juridischen Bereich ein Selbstverhältnis begreifen zu müssen, in dem nicht nur ein ,Selbst4 in seinem reinen Willen sich mit sich zusammenschließt, sondern in dem es sich mit sich durch Willensbestimmungen zusammenschließt, die als Gesetze auftreten, die es sich in Gemeinschaft mit anderen gegeben hat. Dieses Selbstverhältnis der Person, die zu ,Taten4 fähig ist, muß nun eine neue Form der Darstellung der Freiheit sein. Es muß sich um eine solche Form handeln, in der die Freiheit sich durch Gesetze dokumentieren kann, die das Subjekt sich nicht durch die Bestimmung seines Willens durch die bloße Form von Bestimmung gegeben hat, sondern die es sich zugleich mit anderen gibt. Folglich muß die Freiheit eines vernünftigen Wesens unter moralischen Gesetzen in sich so strukturiert sein, daß sie die Freiheitsbestimmung impliziert, die sich durch juridische Gesetze ergibt. Für den philosophischen Begriff des Rechts ist also zunächst festzuhalten, daß ein begründbares Recht nur den Inbegriff der Gesetze darstellen kann, die eine zu Taten fähige Person sich zusammen mit anderen selbst gibt. 10 Nun heißt recht bzw. unrecht eine Handlung, die pflichtmäßig bzw. pflichtwidrig ist, gleichgültig von welcher Art die Pflicht ist (223). Dagegen wird gerecht genannt, was nach äußeren Gesetzen recht ist, und ungerecht, was nach äußeren Gesetzen unrecht ist (224). Für die Person muß es nun charakteristisch sein, daß diese Unterscheidungen dann für sie in eins fallen, wenn sie Taten begeht, mit denen sie ethisch verbindlich ist und dies in der Erscheinungswelt demonstrieren kann. Diese Unterscheidung dementiert dann nicht mehr die Auszeichnung von Pflicht und Verbindlichkeit als der Begriffe, die die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrücken. Diese Notwendigkeit muß sich mit der Person und barkeit unmoralischer oder moralisch neutraler Handlungen (vgl. G. Prauss, Kant über Freiheit als Autonomie, Frankfurt/Main 1983, S. 62 ff; R. J. Sullivan, Immanuel Kant's Moral Theory, Cambridge 1989, S. 279 ff). 10 Zu Kants Unterscheidung von »Mensch4 und »Person4 und dem Entwurf der letzteren als Rechtsbegriff vgl. auch R. Langthaler» Kants Ethik als »System der Zwecke4, Berlin/New York 1991, Kant-Studien Ergänzungshefte 125, S. 80 ff.

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Die Person und ihre Tat

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ihrer Tat nun in äußeren Gesetzen ausdrücken können, also solchen verbindenden Gesetzen, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, wenn denn überhaupt eine Philosophie des Rechts im Kantischen Denkzusammenhang möglich sein soll. Solche äußeren Gesetze können zum einen »natürliche4 Gesetze sein, zu denen die Verbindlichkeit a priori durch die Vernunft erkannt werden kann, zum anderen aber auch ,positive4 Gesetze, die ohne wirkliche äußere Gesetzgebung nicht verbinden (224). Daß die positiven Gesetze einer äußeren Gesetzgebung bedürfen, darf jedoch nicht mit dem Anspruch gleichgesetzt werden, daß sie schon und nur durch äußere Gesetzgebung in einem ethischen Sinne verbinden. Würde die Freiheit des einen mit der Freiheit eines jeden anderen schon durch die Positivität der Gesetze allein zusammen bestehen können, und würde dies den Begriff der Handlungsfreiheit der Person erfüllen, so wäre jene Vereinigung eo ipso die Maximierung des Quantums an Freiheit in der Welt. Nun bedeutet Recht aber in bezug auf Handlungsfreiheit eine Hierarchisierung von Freiheiten - also die Negation der einen Freiheit zugunsten der anderen bzw. der Freiheit des einen zugunsten derjenigen des anderen. Folglich kann es nach seinem positiven Begriff allein keine Realisierung von Freiheit darstellen. Schon deshalb kann die Freiheit im Kantischen Rechtsprinzip nicht einfach Handlungsfreiheit in der äußeren Welt meinen. Es muß sich vielmehr um eine Freiheit handeln, die auch durch Hierarchisierung nicht dementiert werden kann. Damit kann es nicht um eine quantifizierbare Freiheit gehen, die als Handlungsfreiheit in der äußeren Welt auftritt. 11 Nichtsdestoweniger ist ausschließlich positives Recht möglich: „Es kann also eine äußere Gesetzgebung gedacht werden, die lauter positive Gesetze enthielte; alsdann aber müßte doch ein natürliches Gesetz vorausgehen, welches die Autorität des Gesetzgebers (d. i. die Befugnis, durch seine bloße Willkür andere zu verbinden) begründet.44 (224) Hier ist jedoch wiederum die gedankliche Grundlage der Kantischen Rechtsphilosophie zu beachten. Der kategorische Imperativ sagt nur aus, was Verbindlichkeit ist, nämlich ein Vermögen unserer Vernunft, durch die bloße Idee der Qualifikation einer Maxime zur Allgemeinheit eines praktischen Gesetzes die Willkür zu bestimmen (225). Diese praktischen Gesetze tun die Freiheit als Eigenschaft der Willkür dar. Deshalb muß unterschieden werden zwischen Gesetzmäßigkeit (legalitas) als Übereinstimmung einer Handlung mit dem Pflichtgesetz und Sittlichkeit (moralitas) als Übereinstimmung der Maxime der Handlung mit dem Gesetz (225). Der kategorische Imperativ wird folglich als oberster Grundsatz der Sittenlehre - also von Rechts- und Tugendlehre - bezeichnet (226). Der darin bestimmte Wille geht nur aufs Gesetz; er kann also in bezug auf die Erscheinungswelt weder frei noch unfrei genannt werden, weil er nicht auf Hand11 In der Formulierung des Rechtsprinzips kann »Gesetz der Freiheit 4 im übrigen schon deshalb nicht die positive Gesetzgebung meinen» weil eine Besonderheit der Kantischen Rechtsphilosophie darin liegt, mit dem ,Privatrecht 4 einen Zustand zu bezeichnen, in dem »provisorisch4 rechtliche Akte Zustandekommen, ohne daß ein Zustand öffentlicher Gesetzgebung vorliegen würde.

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

lungen, sondern auf die Gesetzgebung für die Maxime der Handlungen geht, d. h. er ist schlechterdings notwendig. Frei kann also nur die Willkür genannt werden, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann (213). Die freie Willkür wird deshalb als übersinnliches Objekt' bezeichnet (226), das nicht als Vermögen der Wahl, für oder wider das Gesetz zu handeln, definiert werden kann. Erscheinungen können kein übersinnliches Objekt verständlich machen, und als Noumenon, also ihrer positiven Beschaffenheit nach, können wir die Freiheit theoretisch nicht darstellen. Wir kennen die Freiheit „(so wie sie uns durchs moralische Gesetz allererst kundbar wird)" nur als negative Eigenschaft in uns: „nämlich durch keine sinnliche Bestimmungsgründe zum Handeln genötigt zu werden". (226) Daß Freiheit nur gesetzlich kundbar wird, ist im Grunde eine Folge dieses Begriffs von Freiheit. Durch keine sinnlichen Gründe zum Handeln genötigt zu werden, aber doch eine Bestimmung von Handlungen formulieren zu müssen, dies macht die rein interne Bestimmung zur einzigen Alternative, und die rein interne Bestimmung macht die Form der Allgemeinheit notwendig. Dieses Argument gegen die Definition der Freiheit der Willkür über die Wahl, für oder gegen das Gesetz zu handeln, gilt im Kantischen Denkzusammenhang nun jedoch für alle Konzeptionen von Freiheit als Wahlfreiheit in der Welt der Erscheinungen, in der der Mensch als Sinnenwesen handelt. Demzufolge muß eine Konzeption von Freiheit in der Erscheinungswelt auf der Grundlage der Kantischen Philosophie der Freiheit nun eine Möglichkeit finden, wie in der Erscheinungswelt genau die Freiheit demonstrierbar wird, deren positiver Begriff allein durch die gesetzesförmige Maximenbestimmung zu bestimmen ist. Kant kann also ein ausschließlich positives Recht wohl als mit dem philosophischen Begriff des Rechts vereinbar bezeichnen; diese Vereinbarkeit besteht jedoch nicht durch die Positivität des Rechts, sondern durch jene ausgezeichnete Fähigkeit des Rechts, deren Erklärung Kant mit der Einführung der Begriffe ,Tat' und »Person4 auf eine Weise begonnen hat, die den argumentativen Zusammenhang mit der Begründung von Freiheit und Verbindlichkeit in der kategorisch-imperativischen Moralität aufrecht erhalten können muß. Der Grundgedanke dieser Erklärung ist mit der Zurechenbarkeit einer Handlung als ,Tat' schon gegeben, durch die der Handelnde als »moralische Persönlichkeit' konstituiert wird und durch die er äußeren Gesetzen unterworfen wird, die er sich selbst zugleich mit anderen gibt. »Zugleich' mit anderen kann vorläufig verstanden werden als »geltend für ihn und für alle anderen in einer Rechtsgemeinschaft'. Es ist an dieser Stelle ja nicht gefordert» diese Gesetze müsse er sich zusammen mit anderen geben; dies würde im übrigen die Bedeutung bloß positiver Gesetze für die Konstitution von »Taten' und »Personen' dementieren. Kants Erklärung der besonderen Fähigkeit des Rechts in seiner Vereinbarkeit mit der kategorisch-imperativischen Maximenfreiheit versucht also grundsätzlich, Freiheit als demonstrierbar in der Erscheinungswelt so zu konzeptualisieren, daß durch das Recht Handlungen in der Erscheinungswelt so aufgefaßt werden, daß sie in dieser Auffassung den

II. Die Person und ihre Tat

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Akteuren auf eine solche Weise zugeschrieben werden, daß diese darin als fähig zur gesetzesförmigen Maximenbestimmung und der ihr entsprechenden Freiheit aufgefaßt werden - also als frei im Sinne der Kantischen Eleutheronomie. 12 Demnach ist es diese Auffassung 4 von Handelnden als Personen 1, die den philosophischen Status des Rechts im Zusammenhang der Kantischen Philosophie insgesamt angeben muß. Daß ein praktisches Gesetz der Freiheit also stets ein Satz ist, der einen kategorischen Imperativ enthält, dies wird nicht dadurch dementiert, daß im Recht ein ,Gesetzgeber4 auftritt, ein Gebietender durch ein Gesetz, der Urheber der Verbindlichkeit ist, aber nicht immer Urheber des Gesetzes (227). Ist er Urheber der Verbindlichkeit und des Gesetzes, so handelt es sich um ein positives Gesetz. Nun ist ein moralisch-praktisches Gesetz stets ein solches, das sich nur durch die Opposition gegen Natürlichkeit' definiert und somit juridische und ethische Gesetze umfaßt. Deshalb enthält auch das juridische Gesetz »letztlich4 einen kategorischen Imperativ und bezieht nur daraus seine Verbindlichkeit. Insofern ist der Gesetzgeber nach dem philosophischen Begriff des Rechts nur deshalb Urheber der Verbindlichkeit, weil er durch ein,Gesetz4 gebietet, das als solches schon einen kategorischen Imperativ enthält, wenn auch nicht,direkt 4 . Jede andere Verbindlichkeit würde nach dem philosophischen Begriff des Rechts überhaupt nicht den Begriff der Verbindlichkeit erfüllen, sondern dem Bereich der Gewaltverhältnisse zuzurechnen sein. Dies schließt allerdings nicht aus, daß der philosophische Begriff von Recht mit der Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung positiver Gesetze vereinbar sein kann; die zugrunde liegende Verbindlichkeit jedoch muß insofern ein Gesetz der Freiheit enthalten, als sie auf kategorisch-imperativische Moralität zurückgeführt werden kann. Das positive Gesetz kann also nur deshalb einen Urheber seiner Verbindlichkeit haben, weil es ein praktisches Gesetz ist und als solches einen kategorischen Imperativ enthält, denn Verbindlichkeit ist ein Begriff, der die objektive praktische Notwendigkeit gewisser Handlungen ausdrückt, und diese Notwendigkeit kann nicht durch die bloße Setzung gegeben werden, sie ist vielmehr die Notwendigkeit einer freien Handlung unter einem kategorischen Imperativ der Vernunft (vgl. 222). Es ist auf dieser argumentativen Grundlage zu verstehen, wenn Kant die Rechtslehre bezeichnet als den „Inbegriff der Gesetze, für welche eine äußere Gesetzgebung möglich ist44, und sie die ,Lehre des positiven Rechts4 nennt, wenn eine solche Gesetzgebung wirklich ist (229). Unter dem Gesichtspunkt eines philosophischen Begriffs des Rechts ist die Rechtslehre Teil der Metaphysik der Sitten, in der im Zusammenhang mit der praktischen Philosophie entwickelt werden soll, wie ein solcher »Inbegriff 4 der Gesetze, für die eine äußere Gesetzgebung nach ih12 Auf dieser Grundlage stellt sich die Problematik des Zusammenhangs zwischen Identität der Person und moralischer bzw. rechtlicher Verantwortlichkeit bei Kant genau umgekehrt dar als in der modernen Diskussion um die Identität der Person, in der durchgängig nach den Anforderungen an einen Identitätsbegriff gefragt wird, der Zurechenbarkeit erlaubt. Vgl. dazu die Ausführungen von M. Herrmann, Identität und Moral. Zur Zuständigkeit von Personen für ihre Vergangenheit, Berlin 1995.

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C. Die Freiheit im äußeren Gebrauch

rem philosophischen Begriff möglich ist, aussieht. Der Rechtswissenschaft als der systematischen Kenntnis der »natürlichen Rechtslehre4 dagegen kommt es zu, zu aller positiven Gesetzgebung die unwandelbaren Prinzipien zu geben. Es ist für den Status und die Aufgabenbestimmung der Kantischen Philosophie des Rechts charakteristisch, daß diese Aufgabe nicht der Philosophie des Rechts zugeschrieben wird. Daraus ergibt sich auch die Bedeutung einer für die Kantische Rechtsphilosophie wichtigen begrifflichen Unterscheidung. Der Ausdruck ,was Rechtens ist4 bezieht sich auf das, was die Gesetze sagen; dagegen kann, ,was recht ist 4 , nur nach den Quellen in der bloßen Vernunft entschieden werden (229), und nur »grundsätzlich4 ist,recht 4 eine ,pflichtmäßige 4 Handlung, sie kann also auch dann vorliegen, wenn sie nur dem entspricht, ,was Rechtens ist4 (223).

I I I . Tatfreiheit und Maximenfreiheit Die Metaphysik der Sitten ist nach ihrer philosophischen Abzweckung und Systematik nur mit dem ,moralischen Begriff 4 des Rechts befaßt. Moralisch ist der Begriff des Rechts, insofern er sich auf eine eben diesem Begriff korrespondierende Verbindlichkeit bezieht (230). Dieser moralische Begriff des Rechts betrifft zum einen nur das äußere praktische Verhältnis einer Person gegen eine andere, sofern ihre Handlungen als Facta aufeinander Einfluß haben können. Die moralische Persönlichkeit wird konstituiert durch die Freiheit eines vernünftigen Wesens, die sie zu einem zurechnungsfähigen Subjekt macht, das eine Tat begehen kann (223); dazu gehört, daß wir darin das Subjekt nach der Freiheit seiner Willkür betrachten, und ,freie Willkür 4 ist die, die durch reine Vernunft bestimmt werden kann (213). 13 Zum anderen betrifft der moralische Begriff des Rechts nicht die Materie der Willkür (d. h. den Zweck bzw. die Absicht), sondern nur die Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, sofern sie bloß als frei betrachtet wird, und die Frage lautet in dieser Beziehung, ob dadurch die Handlung eines von beiden sich mit der Freiheit des andern nach einem allgemeinen Gesetze zusammen vereinigen lasse (230). Der moralische - d. h. der philosophische - Begriff des Rechts betrifft also die Form im Verhältnis der beiderseitigen Willkür, und zwar nur, insofern diese Willkür als frei betrachtet wird. Der moralische Begriff des Rechts muß sich demnach bloß aus der Freiheitseigenschaft der Willkür bestimmen lassen und betrifft die Willkür folglich nur in bezug auf diese Eigenschaft. Also bestimmt sich der moralische Begriff des Rechts nur aus der Eigenschaft der Willkür, durch reine Vernunft bestimmt werden zu können.14 13 F. Kaulbach sieht das Programm einer Metaphysik der Sitten gerade durch den Ausschluß aller nicht durch das »eigentliche Selbst* und seine Selbstgesetzgebung zur Geltung gebrachten Motivationen aus dem Bereich des reinen Handelns bestimmt (F. Kaulbach, Immanuel Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten', Darmstadt 1988, S. 11, vgl. 28). Als »eigentliches Selbst* wird damit der Gesetzgeber »in uns* bezeichnet (op. cit.» S. 32» 54, 83).

III. Tatfreiheit und Maximenfreiheit

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Der moralische - d. h. philosophische - Begriff des Rechts bestimmt sich also von vornherein aus der Freiheit und Vernunftzugänglichkeit solcher Willkür, durch die eine Person durch ihr äußeres praktisches Verhältnis zu einer anderen Person in ein Verhältnis zu einer anderen Willkür tritt, die ebenso nur durch ihre Freiheit und Vernunftzugänglichkeit ausgezeichnet ist. Der moralische Begriff des Rechts ergibt sich folglich aus dem gegenseitigen Einfluß der Handlungen von Personen (und zwar der äußeren, die als Facta aufeinander Einfluß nehmen können), insofern darin auf beiden Seiten freie und damit durch Vernunft bestimmbare Willkür beteiligt ist. Deshalb betrifft der moralische Begriff des Rechts die Vereinigung der Handlung des einen mit der Freiheit des anderen nach einem allgemeinen Gesetze. Das Gesetz ist aufzufassen als ein Satz, der einen kategorischen Imperativ enthält (227). Weil auf beiden Seiten nur die freie und damit durch Vernunft bestimmbare Willkür infrage kommt, um einen moralischen Begriff des Rechts formulieren zu können, deshalb muß jener gegenseitige Einfluß der Handlungen von Personen, der nur nach der Beteiligung von Willkür im Plural betrachtet wird, durch ein ,Gesetz der Freiheit 4 bestimmt werden, das einen kategorischen Imperativ enthält, aber dennoch ,allgemein' sein muß in dem Sinne, daß dadurch äußere Handlungen so vereinigt werden können, daß keiner der beiden beteiligten Personen die Möglichkeit genommen werden darf, ihre Handlungen in der äußeren Welt gemäß ihrer Selbstbestimmungsfähigkeit zu gestalten - d. h. durch ihre freie und durch Vernunft bestimmbare Willkür. Dieses ,allgemeine Gesetz der Freiheit 4 muß also Freiheit als Gewährleistung der Freiheit von Personen in der Form von Handlungsbestimmungen, die mit anderen Handlungsbestimmungen durch Freiheit zusammenstoßen könnten, genau so demonstrieren können, wie der kategorische Imperativ als ,Gesetz der Freiheit 4 Freiheit als Autonomie der Person durch reine Gesetzesförmigkeit von Maximen demonstriert. Auch die Freiheit im Status der äußeren Handlungsbestimmungen auf der Grundlage der Autonomie der Person (also solcher Handlungen, die Taten sind, weil sie der Person zugerechnet werden können) kann sich also nur durch Gesetzlichkeit demonstrieren. Zum Unterschied von der Demonstration der Freiheit der Person in der autonomen Maximenbestimmung muß dieses »Gesetz der Freiheit 4 aber,