Überwindung des Skandals der reinen Vernunft: Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit - trotz Kant 9783495997352, 3495479562, 9783495479568


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Prolegomena
Kapitel 1: Aporien, Antinomien und logische Paradoxien als Grundprobleme der Philosophie
1.1 Was sind Aporien?
1.1.1 Analyse des Wesens der Aporien
1.1.2 Kritische Überlegungen zu verschiedenen Konzeptionen und Lösungsversuchen der Aporien
1.2 Antinomien
1.2.1 Was ist eine Antinomie?
1.2.2 Fünf verschiedene Antworten von Philosophen auf Antinomien
1.3 Logische Paradoxien
1.3.1 Was ist eine logische Paradoxie?
1.3.2 Zur Lösung logischer Paradoxien
1.4 Abschließende Bemerkungen zum grundlegenden Charakter des Aporien-, Antinomien- und Paradoxienproblems
Kapitel 2: Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Antinomien als »Probierstein« für das System der Transzendentalphilosophie: die der dritten Antinomie zugrundeliegenden Einsichten und Verwechslungen
2.1 Die grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems für Kant und seine Lösbarkeit durch den transzendentalen Idealismus als einziger Beweis der kopernikanischen Wende
2.2 Darstellung der Kantischen Einleitung in das Antinomienproblem
2.3 Darstellung und Kritik der Kantischen Entwicklung und Lösung der dritten Antinomie, Freiheit und Kausalität betreffend
2.3.1 Die inhaltlichen und logischen Hauptschritte in Kants Argumentation
2.3.2 Verwechslung verschiedener Gegebenheiten und Thesen als Ursache der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und Kausalität
2.3.2.1 Kausalität als solche im Sinne der Wirkursächlichkeit (causa efficiens)
2.3.2.2 Die »Kausalität nach Gesetzen der Natur« ist von Wirkursächlichkeit als solcher scharf zu unterscheiden
2.3.2.3 Das Kausalitätsprinzip und seine Verschiedenheit vom Prinzip des zureichenden Grundes
2.3.2.4 Das von Kant behauptete angebliche Kausalgesetz
2.4 Bestehen andere, objektive Antinomien im Verhältnis zwischen Freiheit und Kausalität?
2.5 Zur Überwindung einer behaupteten Antinomie und zur Begründung des widerspruchsfreien Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität
2.5.1 Freiheit als Urtyp der Wirkursächlichkeit innerhalb der Ordnung der Ursachen
2.5.2 (Göttliche und menschliche) Freiheit als letzte intelligible Quelle aller Naturkausalität
2.5.3 Gesetz und Ursächlichkeit nach Naturgesetzen ist nicht nur kein Widerspruch, sondern ein notwendiges Korrelat zur Freiheit und Verantwortlichkeit der Person
2.5.4 Zwei echte Aporien und scheinbare Antinomien von Freiheit und Kausalität
2.5.5 Descartes' Nachweis des Charakters der scheinbaren Antinomie des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität (Allmacht) als Aporie und nicht als Antinomie, als widerspruchsfreies Zusammenhestehen letztlich evidenter endlicher (menschlicher) Freiheit und kausaler Abhängigkeit vom absoluten Sein
2.5.6 Die Selbstbestimmung des Subjekts in Freiheit als ein letzter Endpunkt in der Kausalität und die in bestimmtem Sinn bestehende Unmöglichkeit einer weiteren Rückführung des Inhalts freier Akte auf eine Ursache außerhalb des Subjekts selbst
2.5.7 Kausale Abhängigkeit freier Akte von determinierenden Ursachen außerhalb des freien Subjekts (causae fatales) in der Natur oder in einer freie Akte und Subjekte restlos determinierenden Erstursache (zeitlos-ewigen Ursache) würde Freiheit aufheben, Abhängigkeit von einer freilassenden, ja freimachenden göttlichen causa non fatalis keineswegs
2.5.8 Eine spekulative »Lösung« der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und kausaler Abhängigkeit von Allmacht: Allmacht als alleiniger intelligibler Grund von endlicher Freiheit, nicht als ihr Gegensatz - Zu Soeren Kierkegaards genialem spekulativen Lösungsversuch des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht
2.6 Antinomienprobleme um Freiheit und Kausalität und ihre Lösungen: Jenseits von Kant!
Kapitel 3: Kurzer Ausblick auf die Kantische Fassung und die mögliche philosophische Auflösung der drei übrigen Antinomien
Kapitel 4: Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«. Kurze Darstellung und Kritik
4.1 Kritik der Kantischen »Lösung« und der in dieser versteckten vier ganz verschiedenen »Lösungen« der »mathematischen Antinomien«
4.2 Kritik der Kantischen Lösung der »dynamischen Antinomien «
4.3 Einige Bemerkungen zu Hegels Kritik der Kantischen Antinomik
4.4 Abschließende Bemerkungen über den bloßen Schein der Kantischen Antinomien
Bibliographie
Personenregister
Sachregister
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Überwindung des Skandals der reinen Vernunft: Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit - trotz Kant
 9783495997352, 3495479562, 9783495479568

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Josef Seifert

Überwindung des Skandals der reinen Vernunft Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit – trotz Kant

ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997352

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ALBER PHILOSOPHIE

https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Zu diesem Buch: In Kants Philosophie spielen die Antinomien als an­ geblich unvermeidbare Widersprüche, denen die Vernunft beim Nach­ denken über Raum und Zeit, Materie, Freiheit und Kausalität, Zufällig­ keit und Notwendigkeit verfällt, die Rolle des zentralen Arguments für die Abkehr Kants vom Realismus und damit für den Beginn des neu­ zeitlichen Subjektivismus. Im vorliegenden Buch unterscheidet der Au­ tor Aporien, philosophisch aufwei'sbare »Geheimnisse«, von Antinomien (angeblich strengen Beweisen zweier widersprüchlicher Thesen aus natürlichen Gegebenheiten wie Freiheit und Raum) und logischen Pa­ radoxien (Widersprüchen, die sich aus in sich absurden Annahmen er­ geben). Sodann wird der scheinbare »Skandal der reinen Vernunft«, die sich in unvermeidliche Widersprüche verwickle, besser anvisiert und durch den Nachweis aufgehoben, daß alle vier von Kant behaupteten Antinomien, die eine Widersprüchlichkeit der realistischen Philosophie beweisen sollen, durch eine phänomenologische Untersuchung der Sa­ chen selbst und die Aufdeckungvon Äquivokationen und anderen Feh­ lern der Kantischen Vernunftkritik als nicht wirklich bestehend erwie­ sen werden können. Daher ist der »Skandal« der Vernunft, insbesondere der behauptete Widerspruch zwischen Freiheit und Kausalität, auf dem Boden des philosophischen Realismus zu überwinden. About this book: The author deals with the big challenge Kant put to any realist philosophy: that the reflection on freedom, causah'ty, matter, time, space and necessi'ty inescapably will lead reason to internal contradictions (antinomies) which can only be resolved by means of a subjectivistic philosophy that denies knowledge of things in themselves. This thesis is erroneous, and a realist philosophy which stays clear of a number of equivocations, confusions, false assumptions and other faults that afflict Kant’s presentation and solution of the antinomies, is able to overcome the »scandal of reason«, as Kant calls the problem of antinomies. Thus the book defends a realist philosophy that is »post­ modern« in a new sense of this term that takes Kant’s problems seriously but moves beyond Kant and beyond the vast streams of modern and contemporary skeptical and relativistic philosophies. Prof. Dr. Josef Seifert, geb. 1945, war Professor in den USA und ist seit 1986 Rektor der Internationalen Akademie für Philosophie (1AP) im Fürstentum Liechtenstein. Forschungsschwerpunkte und Veröffentli­ chungen zur Epistemologie, Metaphysik und Philosophischen Anthro­ pologie.

https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Josef Seifert Überwindung des Skandals der reinen Vernunft

https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Alber-Re/he Philosophie

https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Josef Seifert

Überwindung des Skandals der reinen Vernunft Die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit - trotz Kant

Verlag Karl Alber Freiburg/München

https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seifert, Josef: Überwindung des Skandals der reinen Vernunft: die Widerspruchsfreiheit der Wirklichkeit - trotz Kant / Josef Seifert. Freiburg (Breisgau); München : Alber, 2001 (Alber-Reihe Philosophie) ISBN 3-495-47956-2 Texterfassung in der Verantwortung des Autors Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier (säurefrei) Printed on acid-free paper Alle Rechte Vorbehalten - Printed in Germany © Verlag Karl Alber GmbH Freiburg/München 2001 Einbandgestaltung: Eberle & Kaiser, Freiburg Einband gesetzt in der Rotis SemiSerif von Otl Aicher Satzherstellung: SatzWeise, Föhren Inhalt gesetzt in der Aldus und Gill Sans Druck und Bindung: Difo-Druck, Bamberg 2001 ISBN 3-495-47956-2

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Meinem Vater, dem noch bis ins hohe Alter ein klarer Geist und große Weisheit geschenkt sind und dem ich unendlich viel verdanke, zum 91. Geburtstag herzlichst gewidmet

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Inhalt

Prolegomena...............................................................................

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Kapitel 1: Aporien, Antinomien und logische Paradoxien als Grund­ probleme der Philosophie .....................................................

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1.1 Was sind Aporien?............................................................ 1.1.1 Analyse des Wesens der Aporien ................................... 1.1.2 Kritische Überlegungen zu verschiedenen Konzeptionen und Lösungsversuchen der Aporien...............................

37 37 44

1.2 Antinomien ..................................................................... 1.2.1 Was ist eine Antinomie?.................................................. 1.2.2 Fünf verschiedene Antworten von Philosophen auf An­ tinomien ...........................................................................

50 48

1.3 Logische Paradoxien......................................................... 1.3.1 Was ist eine logische Paradoxie?...................................... 1.3.2 Zur Lösung logischer Paradoxien ...................................

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1.4

55

Abschließende Bemerkungen zum grundlegenden Cha­ rakter des Aporien-, Antinomien- und Paradoxienpro­ blems ..................................................................................

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Kapitel 2: Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Anti­ nomien als »Probierstein« für das System der Transzen­ dentalphilosophie: die der dritten Antinomie zugrundelie­ genden Einsichten und Verwechslungen...............................

73

2.1

Die grundlegende Bedeutung desAntinomienproblems für Kant und seine Lösbarkeit durch den transzendenta­ len Idealismus als einziger Beweis der kopernikanischen Wende ...............................................................................

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Inhaltsverzeichnis

2.2

Darstellung der Kantischen Einleitung in das Antino­ mienproblem .....................................................................

Darstellung und Kritik der Kantischen Entwicklung und Lösung der dritten Antinomie, Freiheit und Kausalität betreffend ........................................................................ 2.3.1 Die inhaltlichen und logischen Hauptschritte in Kants Argumentation.................................................................. 2.3.2 Verwechslung verschiedener Gegebenheiten und Thesen als Ursache der scheinbaren Antinomie zwischen Frei­ heit und Kausalität ............................................................ 2.3.2.1 Kausalität als solche im Sinne der Wirkursäch­ lichkeit (causa efficiens)...................................... 2.3.2.2 Die »Kausalität nach Gesetzen der Natur« ist von Wirkursächlichkeit als solcher scharf zu un­ terscheiden ........................................................ 2.3.2.3 Das Kausalitätsprinzip und seine Verschieden­ heit vom Prinzip des zureichenden Grundes . . 2.3.2.4 Das von Kant behauptete angebliche Kausal­ gesetz ..................................................................

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2.3

2.4 2.5

2.5.1 2.5.2 2.5.3

2.5.4

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Bestehen andere, objektive Antinomien im Verhältnis zwischen Freiheit und Kausalität?................................... Zur Überwindung einer behaupteten Antinomie und zur Begründung des widerspruchsfreien Verhältnisses zwi­ schen Freiheit und Kausalität ......................................... Freiheit als Urtyp der Wirkursächlichkeit innerhalb der Ordnung der Ursachen..................................................... (Göttliche und menschliche) Freiheit als letzte intelligible Quelle aller Naturkausalität...................................... Gesetz und Ursächlichkeit nach Naturgesetzen ist nicht nur kein Widerspruch, sondern ein notwendiges Korre­ lat zur Freiheit und Verantwortlichkeit der Person . . . Zwei echte Aporien und scheinbare Antinomien von Freiheit und Kausalität .....................................................

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Inhaltsverzeichnis

2.5.5 Descartes' Nachweis des Charakters der scheinbaren An­ tinomie des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausa­ lität (Allmacht) als Aporie und nicht als Antinomie, als widerspruchsfreies Zusammenhestehen letztlich eviden­ ter endlicher (menschlicher) Freiheit und kausaler Ab­ hängigkeit vom absoluten Sein ...................................... 2.5.6 Die Selbstbestimmung des Subjekts in Freiheit als ein letzter Endpunkt in der Kausalität und die in bestimm­ tem Sinn bestehende Unmöglichkeit einer weiteren Rückführung des Inhalts freier Akte auf eine Ursache außerhalb des Subjekts selbst ......................................... 2.5.7 Kausale Abhängigkeit freier Akte von determinierenden Ursachen außerhalb des freien Subjekts (causae fatales) in der Natur oder in einer freie Akte und Subjekte restlos determinierenden Erstursache (zeitlos-ewigen Ursache) würde Freiheit aufheben, Abhängigkeit von einer frei­ lassenden, ja freimachenden göttlichen causa non fatalis keineswegs ........................................................................ 2.5.8 Eine spekulative »Lösung« der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und kausaler Abhängigkeit von All­ macht: Allmacht als alleiniger intelligibler Grund von endlicher Freiheit, nicht als ihr Gegensatz - Zu Soeren Kierkegaards genialem spekulativen Lösungsversuch des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und gött­ licher Allmacht .................................................................. 2.6

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135

Antinomienprobleme um Freiheit und Kausalität und ihre Lösungen: Jenseits von Kant!..................................

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Kapitel 3: Kurzer Ausblick auf die Kantische Fassung und die mög­ liche philosophische Auflösung der drei übrigen Anti­ nomien ........................................................................................

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 4: Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antino­ mie der reinen Vernunft«. Kurze Darstellung und Kritik 4.1

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Kritik der Kantischen »Lösung« und der in dieser ver­ steckten vier ganz verschiedenen »Lösungen« der »ma­ thematischen Antinomien« ............................................

157

Kritik der Kantischen Lösung der »dynamischen Antino­ mien« ..............................................................................

169

Einige Bemerkungen zu Hegels Kritik der Kantischen Antinomik........................................................................

173

Abschließende Bemerkungen über den bloßen Schein der Kantischen Antinomien ............................................

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Bibliographie*...........................................................................

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Sachregister..............................................................................

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4.2 4.3 4.4

Personenregister

* Für nähere Angaben zu allen in den Fußnoten zitierten Werken ist die Bibliographie zu konsultieren.

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Widerspruchsfreiheit des Seins und Denkens oder Widersprüchlich­ keit beider als »Skandal der Vernunft«? Diese Frage umreißt die Grundprohleme, um die es in diesem Buch geht und die eine viel größere Rolle in der Philosophie und ihrer Geschichte spielen als gemeinhin angenommen wird. Es geht hier um Grundfragen der On­ tologie und zugleich der Mathematik und Logik, und damit aller Wissenschaft. Denn wenn im menschlichen Denken oder gar im ge­ dachten Sein selher unauflöshare und unvermeidhare Widersprüche auftreten können, ist es mit aller Logik und Wissenschaft dahin oder muß die Wirklichkeit selhst als widerspruchsvoll hegriffen werden, was das Sein selbst letztlich absurd und widersprüchlich machen würde. Die auf vielen Gebieten auftretenden Unbegreiflichkeiten und Aporien, vor allem aber die scheinbar unvermeidlichen Wider­ sprüche in Form von Antinomien und Paradoxien scheinen daher die Fundamente aller Rationalität zu erschüttern, mit Wirkungen bis tief in die Politik, ja in die Theologie hinein.1 In Kants Kritik der reinen Vernunft spielt das Antinomienpro­ blem eine viel zu wenig beachtete, jedoch entscheidende Rolle, schreibt doch Kant: Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antinomie der r(einen) V(ernunft) diese war es, welche mich aus dem dogmatischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb,1

1 Vgl. etwa Pablo Lopez Alvarez, »Dialectica y razön finita: (Sobre la recepciön de Kant en el pensamiento del joven Lukacs)«. Der Autor untersucht die Auswirkungen der Kantschen Antinomien auf die Dialektik und den epistemologischen Irrationalismus und politischen Konservatismus in Lukacs' früher Philosophie. Vgl. auch Matthew Lamb, »The Notion of the Transcultural in Bernard Lonergan's Theology«. Dort wird die Rolle des Antinomienproblems und ihrer durch Lonergan versuchten »transkultu­ rellen Lösung« für die Theologie untersucht.

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um das Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst zu heben.2

Auch Hegel bestätigt die zentrale Bedeutung der Antinomik in Kants Kritik der reinen Vernunft und bekräftigt zugleich deren grundlegen­ de Rolle für den Zusammenbruch der vorhergehenden realistischen klassischen Philosophie und für den Beginn der »neueren Philoso­ phie«:3 Diese Kantischen Antinomien bleiben immer ein wichtiger Theil der kriti­ schen Philosophie; sie sind es vornehmlich, die den Sturz der vorhergehenden Metaphysik bewirkten, und als ein Hauptübergang in die neuere Philosophie angesehen werden können, indem sie insbesondere die Überzeugung von der Nichtigkeit der Kategorien der Endlichkeit ... herbeiführen halfen ... allein die tiefere Einsicht in die antinomische oder wahrhafter in die dialektische Natur der Vernunft zeigt überhaupt jeden Begriff als Einheit entgegen­ gesetzter Momente auf, denen man also die Form antinomischer Behaup­ tungen geben könnte .. .4

Und dieses Grundproblem, das insbesondere die Kantsche Antinomik in der Kritik der reinen Vernunft aufwirft, auf die wir uns hier im Sinne des Titels des Buches beschränken,5 hat seine Auswirkungen 2 Immanuel Kant, Brief an Garve vom 21.9.1798, Xll 257/8. Diese These Kants über sein eigenes Werk scheint mir durchaus plausibel zu sein, auch wenn das erste Auftau­ chen des Antinomienproblems sich bis in die vorkritische Periode der Kantschen Phi­ losophie zurückverfolgen läßt. Die Rolle der Antinomien in der vorkritischen Philoso­ phie Kants schmälert nicht die grundlegende Rolle, welche die Antinomien für Kants Weg fort vom Realismus gespielt haben. Vgl. Mark Glouberman, »Rewriting Kant's Antinomies: A Meta-lnterpretative Discussion«. Auch wenn Glouberman überzeugend die vorkritischen Wurzeln des Antinomiegedankens bei Kant nachweist, hat er damit nicht gezeigt, wie er glaubt, daß die Bedeutung des Antinomienproblems für die Genesis der kritischen subjektivistischen Philosophie Kants weit geringer sei als Kant selbst und viele seiner lnterpreten behaupten. 3 Zu einer modernen Verteidigung der Hegelschen Darstellung und Kritik der Kantschen Antinomie der reinen Vernunft, besonders hinsichtlich der inhaltlichen Voraus­ setzungen der Kantschen Auffassung der formalen Logik, vgl. Sally Sedgwick, »Hegel on Kant's Antinomies and Distinction Between General and Transcendental Logic«. Zur Meinung, Kant habe, wenn auch nicht metaphysisch, so doch epistemologisch gesehen, den Realismus mit seiner Darstellung der Antinomien widerlegt, vgl. Henry E. Allison, »Kant's Refutation of Realism«. Zum Verhältnis der Kantschen und Hegelschen Fas­ sung des Antinomienproblems, insbesondere hinsichtlich der Kantschen Geschichtsphi­ losophie, vgl. auch Yirmiyahu Yovel, Kant and the Philosophy of History, und ders., »Kant and the History of Philosophy«. 4 G. W. F. Hegel, Wissenschaft der Logik, l. B., ll. Abschn., Anm. 2 (lll, 216-217). 5 Man müßte freilich in einer ausführlicheren Arbeit auch die übrigen Antinomien in

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bis zu Dilthey,6 Wittgenstein und Derrida,7 ja bis zum sogenannten postmodernen Denken.8 Das vorliegende Buch versucht in erster Li­ nie, das Problem von Antinomien, Aporien und logischen Paradoxien als ein Grundproblem der Philosophie überhaupt darzutun und eine Antwort auf das scheinbare Skandalon innerer Widersprüchlichkeit der Vernunft zu finden, das durch Antinomien aufgeworfen wird. Es werden verschiedene Arten von Phänomenen analysiert, die gewöhnlich unter dem Titel »Antinomien« zusammengefaßt und häufig mit einander verwechselt werden. Dabei gehen wir von einer Darstellung und Kritik der Kantschen Antinomien aus und werden den Versuch unternehmen zu zeigen, daß die von Kant behaupteten Antinomien nur scheinbar Antinomien, d. h. daß sie nicht echte un­ auflösbare und unvermeidbare Widersprüche jeder realistisch den­ kenden Philosophie sind, wie Kant meint, und daß deshalb dieser »einzige Probierstein« (Test) der kritischen Philosophie keinesfalls ein echter Beweis von deren Gültigkeit ist.9 Vielmehr handelt es sich der dritten Kritik und in anderen Schriften Kants genau untersuchen, z.B. die Antino­ mie, die Kant in der Kritik der Urteilskraft zwischen Mechanismus und Teleologie be­ hauptet und die manche Autoren für bedeutsamer halten als diejenigen in der Kritik der reinen Vernunft. Vgl. etwa Veronique Zanetti, »Nomologie et anomie: lecture de deux antinomies«. 6 Zu interessanten Analogien zwischen Kants Antinomien und ähnlichen Wider­ sprüchen der »Weltanschauungslehre« Diltheys vgl. Thomas J. Young, »The Hermeneutical Significance of Dilthey's Theory of World-Views«. 7 Vgl. dazu etwa Graham Priest, Beyond the Limits of Thought. Der Autor untersucht das Antinomienproblem bei Kant und Hegel und diskutiert seine Auswirkungen auf irrationalistische Elemente und die Ideen über die Grenzen der Vernunft bei Wittgen­ stein und Derrida. 8 Vgl. dazu etwa J. Hoogland, »Die uitdrukkingskracht van de transcendentale denkkritiek« (Deutsche Übersetzung). Der Autor argumentiert mit Recht, daß Antinomien eine bedeutsame Rolle in postmoderner Philosophie spielen. Er weist darauf hin, daß der holländische Reformphilosoph Herman Dooyeweerd (1894-1977), der einen grundsätz­ lichen Fideismus und theoretisch-philosophischen Skeptizismus lehrte, in seiner »tran­ szendentalen Kritik der theoretischen Vernunft« originelle Ideen über den Ursprung der Antinomien vertreten hat, nämlich daß in ihnen die Autonomie der theoretischen Ver­ nunft dogmatisiert werde. So müsse er in enger Verbindung zum Antinomienproblem in der Gegenwartsphilosophie gesehen werden und stelle eine Verbindung zum Post­ modernismus her. Auf den näheren Inhalt und eine kritische Diskussion dieser These und die Frage, ob sie sich etwa in der Rhode Island Schule Dooyeweerds (Young und andere) verifizieren lasse, sei hier nicht eingegangen. 9 Zu einer historischen Darstellung des Antinomienproblems beim »vorkritischen« und »kritischen« Kant und bei Leibniz im Verhältnis zu Kants transzendentalem Idealismus und insbesondere seiner Unterscheidung zwischen »Ding an sich« und »Erscheinung« vgl. Walter Patt, Transzendentaler Idealismus.

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bei diesen Antinomien um bloße logische Paradoxien, die ihre Wur­ zel in echten und tiefen Problemen einerseits (den Aporien) und an­ dererseits in Doppeldeutigkeiten und in Fehldeutungen fundamen­ taler Prinzipien sowie in den daraus resultierenden Äquivokationen haben. Diese Antinomien sollen im folgenden untersucht und auf der philosophischen Grundlage des phänomenologischen Realismus auf­ gelöst werden.10 11 Somit soll der von Kant so bezeichnete »Skandal der reinen Vernunft« überwunden und gezeigt werden, daß die These der Transzendentalphilosophie, die kopernikanische Wende zur Subjek­ tivität alles Apriori sei der einzige Weg, diesen Skandal zu überwin­ den, keineswegs zutrifft.11 Im Gegenteil, gerade die Kantsche Lösung der Antinomien ist von weiteren Problemen und Widersprüchlich­ keiten belastet, wie ebenfalls im vorliegenden Buch nachgewiesen werden soll. Unsere Ausführungen gelten also den Kantischen Antinomien, die eine Grundstellung innerhalb der Gesamtphilosophie Kants inne­ haben. An ihrem konkreten Beispiel wird versucht, die Nichtexistenz echter Antinomien überhaupt zu beweisen. Zum übergeordneten Zweck der Grundlegung einer realisti­ schen Philosophie und ihrer Verteidigung gegen Einwände wurde eine Analyse der Kantschen Antinomien gewählt, weil diese in einem philosophiegeschichtlich extrem bedeutenden Augenblick auftauch­ ten und weil sie eine wichtige historische Rolle für das Entstehen einer umfassenden Krise des Evidenzbegriffs sowie der Beweise der Widerspruchsfreiheit von Systemen spielten. Antinomien und logische Paradoxien haben innerhalb der Logik 10 Auch andere Autoren versuchen, eine realistische Auflösung des Antinomienpro­ blems zu geben. In einer an Nicolai Hartmann aufbauenden Philosophie versucht Hans P. Neisser, einen »transzendentalen Realismus« gegen die Kantschen Antinomien zu verteidigen. Zu meiner Kritik am Hartmannschen Versuch der Begründung eines Realismus, der ohne einen grundsätzlichen Bruch mit Kants Voraussetzungen eine par­ tielle Überschneidung subjektiver und objektiver Kategorien annimmt, vgl. Josef Sei­ fert, Erkenntnis objektiver Wahrheit. Die Transzendenz des Menschen in der Erkennt­ nis, I. Teil, Kap. 1-3; II. Teil, Kap. 1-2. Vgl. Hans P. Neisser, »Are Space and Time Real?«. 11 Zur Rolle des Antinomienproblems für die Entstehung der Transzendentalphilo­ sophie vgl. auch Moltke Gram, The Transcendental Turn: The Foundations of Kant's Idealism. Zur Kritik Schroeders am eigenen früheren Kantianismus, der mit dem Anti­ nomienproblem eng verbunden war, vgl. M. R. Wielema, »J. F. L. Schroeder - Aanhanger en Tegenstander van Kant«. Schroeder (1744-1845), in manchem Thomas Reid und Charles Sanders Peirce vergleichbar, entwickelte eine Theorie der natürlichen Welt als Zeichen einer transzendenten Realität.

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und Philosophie eine ähnliche Faszinationskraft wie Rätsel oder Schachprohleme,12 und zahlreiche Philosophen versuchten, sie zu lösen. Letzten Endes geht es heim Antinomienprohlem jedoch nicht hloß um eine Art faszinierendes philosophisches Rätsel und um das Spiel des Findens seiner Lösung, ja nicht einmal nur um ein Grundprohlem im Rahmen der im 20. Jahrhundert entstandenen Krise der Logik und Mathematik und der philosophischen Betrachtung dieser rigorosen Wissenschaften.13 Vielmehr geht es heim Antinomienprohlem um ein Grundanlie­ gen der Philosophie und der Vernünftigkeit der Wirklichkeit und der Erkenntnis überhaupt. Denn wenn die Grundlagen und Grundprohleme der Logik und Mathematik, aher auch und erst recht der phi­ losophischen Anthropologie, Naturphilosophie und Metaphysik, des Leih-Seele Prohlems, der Materie, der Kausalität und Freiheit usf. zu unvermeidharen Widersprüchen führen, so sind die Fundamente der Erkenntnis und vielleicht sogar die Widerspruchsfreiheit des Seins selhst in Frage gestellt. Also geht es heim Antinomienprohlem auch um die Grundlagen der Metaphysik und der Erkenntnistheorie. Denn so wie das Sein in seiner Intelligihilität und Wirklichkeit hezweifelt werden muß, wenn sich in seinen anscheinend evidentesten Strukturen Widersprüche finden, so steht es auch mit menschlicher Erkenntnis ühel, wenn sie uns in unvermeidliche Widersprüche führt. Also ist das Bemühen um ohjektive Wahrheitserkenntnis und Metaphysik untrennhar von dem Bemühen, das Prohlem zu lösen, das Kant als »Scandal des scheinharen Widerspruchs der Vernunft mit ihr selhst« hezeichnete. Besonders eingehend wird die dritte Kantische Antinomie des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität analysiert werden. Das Grundanliegen des Buches ist jedoch keineswegs eine histo­ rische Analyse, sondern eine systematische Erforschung der Wirk12 Vgl. dazu Josef Seifert, Schachphilosophie. 13 Von den reinen Mathematikern wurde das Antinomienprohlem viel weniger quälend erleht als von den Logikern, wofür F. Kaufmann charakteristisch ist. Vgl. die sehr knap­ pe Behandlung der Antinomien in Felix Kaufmann, Das Unendliche in der Mathematik und seine Ausschaltung. Eine Untersuchung über die Grundlagen der Mathematik, Kap. 6. Vgl. auch die neue italienische Ausgahe dieses Werkes: F. Kaufmann, L'lnfinito in Matematica, S. 267-275. Dieser Autor meint, die Antinomien leicht durch Eliminie­ rung des Unendlichen und dadurch lösen zu können, daß er die den Antinomien zu­ grundeliegenden Annahmen, sofern sie aktuelle Unendlichkeit einschließen, für sinnlos erklärt.

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lichkeit. Dabei spielt Kant die Rolle eines Vertreters des Gegenpols meiner eigenen systematischen Ergebnisse. Als Quellen der Inspira­ tion dienten mir neben Aristoteles in erster Linie Bernard Bolzano, Edmund Husserl, Alexander Pfänder, Alexius Meinong und vor al­ lem Adolf Reinach. Adolf Reinach war einer der bedeutendsten Köpfe der phänome­ nologischen Bewegung, wie besonders eindringlich das Studium der von Karl Schuhmann und Barry Smith besorgten und eingeleiteten Ausgabe seiner Sämtlichen Werke, aber auch Werke der Sekundär­ literatur zeigen.14 Schon zu Beginn meiner philosophischen Studien begeisterte mich Reinachs mutige Lösung des Problems der Objekti­ vität mathematischer Gesetze und beeindruckte mich nachhaltig sei­ ne Lösung jener philosophischen Probleme der Mathematik und Phy­ sik, deren Beantwortung für die Auflösung der Zenonischen und Kantischen Antinomien unerläßlich ist.15 Ich meine mit jenen ge­ wichtigen philosophischen Problemen der Mathematik, deren Lösung für die Erfüllung unserer Aufgabe der Bewältigung des Antinomien­ problems und des durch sie verursachten Grundlagenproblems un­ erläßlich sein wird16, z. B. die Frage, ob die Leugnung des ebenso elementaren wie evidenten Parallelen-Postulats der euklidischen Geometrie in den nicht-euklidischen Geometrien und seine Ersetzung durch anti-evidente Postulate nicht nur mathematisch gerechtfertigt, sondern philosophisch »gleichberechtigt« sei. Und waren es nicht ge­ rade die Antinomien und Paradoxien, durch die die Ergebnisse der modernen Physik, welche die Evidenz als Kriterium der Erkenntnis weitgehend verlassen hatten, bestätigt wurden und die der Objektivi­ tät der Erkenntnis überhaupt - und vor allem der unmittelbar eviden­ ten Erkenntnis - einen weiteren vernichtenden Schlag versetzten? Hier bloß von »Unanschaulichkeit« zu sprechen, machte auf mich den Eindruck des Euphemismus. Nicht »unanschauliche« Ge­ genstände, sondern ein Konflikt mit allem Evidenten steht auf dem 14 Vgl. Adolf Reinach, Sämtliche Werke. Auf die Werke der Sekundärliteratur werden wir in gegebenem Zusammenhang hinweisen. 15 Vgl. Adolf Reinach, »Über Phänomenologie«. 16 Mit diesen Worten beziehe ich mich auf eine spätere Arbeit über logische Paradoxien. Zu den Hintergründen der Tatsache und den Gründen dafür, daß, wie erwähnt, das Problem der Antinomien und logischen Paradoxien von den Mathematikern viel weni­ ger ernst genommen wurde als von den Logikern, vgl. Liliana Albertazzi, »LTnfinito per ecceterazione«, S. 7-63. Vgl. auch das interessante Werk F. Kaufmanns, das der intuitionistischen Philosophie der Mathematik zuzurechnen ist.

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Spiel, wenn man solche Ansetzungen zuläßt wie die, es könne zu einer Geraden und einem Punkt auf einer Ebene keine Parallele geben. Um Antinomien wie die Kantischen, die Zeit, Bewegung, Raum,17 Unendlichkeit usf. betreffen, aufzulösen, ist eine Philoso­ phie des Raumes, der Zeit, Zahlen, Bewegung und anderer verwand­ ter Gegebenheiten entscheidend. Gerade die Möglichkeit objektiver und gar philosophischer Erkenntnis dieser Gegebenheiten ist jedoch angesichts der modernen Entwicklung in Mathematik und Physik und vor allem angesichts der Relativitätstheorie Einsteins sowie der Antinomien und logischen Paradoxien - schwer zu verteidigen.18 Und dennoch hielt ich eine solche objektive philosophische Erkennt­ nis von Zeit, Raum und Bewegung für möglich und für grundlegend für die menschliche Erkenntnis überhaupt. Ich hatte schon in meiner Gymnasialzeit vergeblich nach Auto­ ren gesucht, die diese Probleme philosophisch aufzuklären imstande gewesen wären und die die Existenz echter mathematischer Eviden­ zen, ohne welche eine Kritik der Zenonischen, aber auch der Kantschen Lösungsversuche der Antinomien, ja auch das Fundament aller Philosophie überhaupt, nämlich philosophische Einsichten, kaum aufrechtzuerhalten sind, gegen ihre Auflösungsversuche in der ge­ genwärtigen Mathematik verteidigt und zugleich den unbestreit­ baren Errungenschaften der modernen Mathematik und Physik Rechnung getragen hätten. Das Problem der Einführung solcher Absurditäten wie nicht-eu­ klidischer Postulate in die Mathematik schien nun Adolf Reinach mit bestechender Klarheit zu lösen, indem er die Evidenz absoluter und notwendiger arithmetischer und geometrischer Wahrheiten rechtfer­ tigt, zugleich aber gute Gründe dafür anführt, warum Mathematiker solche Evidenzen als für die Entwicklung ihrer Systeme nicht not­ wendig erachten und ihnen widersprechende Konstruktionen ent­ werfen können, deren Wahrheitswert null, aber deren praktischer Wert unbestreitbar ist und von ihrer Falschheit unberührt bleibt.19 Das Bestehen nicht-evidenter, ja anti-evidenter und (wenn sie als absolute Aussagen genommen werden) falscher Annahmen in der 17 Auf die besondere Rolle, die Kants Raumvorstellungen für die Kantsche Behandlung des Antinomienproblems spielen, weist Karl Ameriks in seinem Aufsatz hin: »Kantian Idealism Today«. Vgl. ders., »Hegel's Critique of Kant's Theoretical Philosophy«. 18 Vgl. auch Peter Mittelstaedt, Ingeborg Strohmeyer, »Die kosmologischen Antino­ mien in der Kritik der reinen Vernunft und die moderne physikalische Kosmologie«. 19 Vgl. dazu J. Seifert, »Adolf Reinach, Sämtliche Werke«, bes. S. 408f.

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Mathematik, Seite an Seite mit evidenten mathematischen Wahr­ heiten, gilt nicht nur für bestimmte Entwicklungen innerhalb der modernen, nicht-euklidischen Geometrien und ähnlicher moderner mathematischer Theorien, sondern ebenso für althergebrachte ma­ thematische Doktrinen wie jene negativer Zahlen, die wir alle in der Schule lernten, denen zufolge etwa gilt: -2 x -2 = + 4, Gesetze, die keineswegs evident sind, sondern bestimmten schwer verständlichen mathematischen Konvenienzen entspringen.20 Daß Reinachs Philosophie der Mathematik auch für das Pro­ blem der Antinomien, auch der Kantschen, bedeutende Konsequen­ zen hat, liegt auf der Hand. Die Tatsache, daß Reinach in späteren Werken auch die Zenonischen Antinomien durch ähnliche Überle­ gungen über das Wesen der Bewegung und der Zeit löste wie er sie hinsichtlich nicht-euklidischer Geometrien entwickelt hatte, und so­ mit selber seine Beiträge zu einer Philosophie der Mathematik in den Dienst der Auflösung von Antinomien stellte, wurde mir erst nach einem genauen Studium der Reinachschen Philosophie der Bewe­ gung deutlich bewußt.21 So fand ich in Reinach einen Denker, der genau jene Klärungen durchführte, die zur Bewältigung des Antino­ mienproblems unerläßlich sind. Da mich jedoch nicht alle Aspekte der Reinachschen Lösung der Antinomien sowie der diesen zugrundeliegenden Probleme der Phi­ losophie der Mathematik und Physik befriedigten, vor allem nicht die von Reinach m. E. allzu leicht zugestandene Berechtigung der von vorgegebenen Evidenzen abweichenden Theorien,22 und da er ferner, nicht zuletzt wegen seines vorzeitigen Todes, nur eine sehr knappe und sowohl systematisch wie auch historisch begrenzte Be­ handlung dieses Problems vorlegte, konnten mir seine Studien zum Antinomienproblem und dem damit zusammenhängenden Problem einer realistischen Philosophie der Mathematik nur als meisterhaft entwickelter Beginn weiterer erforderlicher systematischer Arbeiten gelten. Einen ersten Schritt in die Richtung einer Ausführung des Reinachschen Programms einer Philosophie der Wissenschaft, und zwar einer realistisch-phänomenologischen Natur- und Wissen20 Reinach, »Über Phänomenologie«. 21 Vgl. Reinach, »Über das Wesen der Bewegung«. 22 Ähnlich wie er eine derartige Abweichung auch in seiner brillanten Lehre vom Apriori im Bürgerlichen Recht hinsichtlich des Verhältnisse zwischen apriorischem und positivem Recht vertritt. Vgl. dazu meine Kritik in J. Seifert, »Is Reinach's aprio­ rische Rechtslehrec more Important for Positive Law than Reinach Himself Thinks?«.

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Schaftsphilosophie mit Bezug auf die Antinomienprohlematik, zu unternehmen ist ein Ziel der vorliegenden Arheit. Dahei sollte es als eine Lücke erkannt werden, die dieses Buch zu schließen helfen möchte, daß es in der zeitgenössischen Philosophie zum Antinomienprohlem - nehen historischen Kommentaren - nach Bolzanos, Bergsons, Russells, Meinongs, Freges, Tarskis, Reinachs und anderen systematischen Arheiten aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts systematische Arheiten zum Antinomienprohlem fast ausschließlich aus der analytischen philosophischen Tradition giht, in denen mathematische oder symholisch-logische Methoden im Vordergrund stehen und die grundlegenden rein philosophischen Fragen weitgehend ausgeklammert hleihen, oder historische Arhei­ ten, inshesondere üher Zenon, Kant, Hegel und die Behandlung des Antinomienprohlems in der »klassischen Periode« der analytischen Philosophie. Der Autor der vorliegenden Arheit hingegen wird sich ausschließlich mit den spezifisch philosophischen Aspekten des Prohlems heschäftigen und weder glauhen, diese mit logischen Rechen­ leistungen hewältigen zu können, noch den Anspruch erhehen, die spezifisch mathematischen und symholisch-logischen Prohleme der Kantschen Antinomien lösen zu sollen, was er gerne seinen Fachkol­ legen in anderen Disziplinen üherlassen wird und außerdem hin­ sichtlich jener Teile dieses Prohlems, in denen er Kompetenz hesitzt, einem ausführlicheren weiteren Werk zum Antinomienprohlem, das auf das Prohlem logischer Paradoxien eingehen soll, vorhehält.23 Es liegen jedoch die eigentlich philosophischen Prohleme, die in den Antinomien, ehenso wie in ihrer Auflösung, stecken, auf einer ganz anderen Ehene als auf jener der Mathematik und symholischen Logik als solcher und setzen üherdies zum Zweck einer grundsätz­ lichen Lösung der Kantschen Antinomien eine eingehende Kenntnis und Arheit auf dem Gehiet symholischer Logik nicht voraus - eine These, die sich noch wird hewähren müssen. 23 Diese Erwägungen hauen auf grundsätzlicheren erkenntnistheoretischen und metho­ dologischen Untersuchungen auf, die hier nicht wiederholt werden können. Vgl. dazu Adolf Reinach, »Üher Phänomenologie«; Dietrich von Hildehrand, Was ist Philoso­ phie?; Fritz Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; Josef Seifert, Erkenntnis ob­ jektiver Wahrheit; ders., Leib und Seele. Ein Beitrag zur philosophischen Anthropolo­ gie, S. 3ff.; ders., Back to Things in Themselves. A Phenomenological Foundation for Classical Realism; ders., »Essence and Existence. A New Foundation of Classical Metaphysics on the Basis of >Phenomenological Realismc, and a Critical Investigation of >Existentialist Thomismc«; ders., Sein und Wesen.

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Zwar gehören z. B. zum Wesen der Bewegung und der von Kant als »mathematische« hezeichneten Antinomien eine Reihe physika­ lischer und mathematischer Gesetze, deren Aufklärung den Wissen­ schaften der Mathematik und Physik Vorbehalten bleiben muß. Das hindert jedoch nicht, daß die Wesensgesetze des Raums, der Teilbar­ keit der Strecken oder der in ihr sich ausbreitenden Materie, oder jene der Struktur der Zeitlichkeit und Räumlichkeit, die erst eine wirkliche Auflösung der beiden »mathematischen« Kantschen Aporien gestatten, zumindest was deren grundsätzliche Natur betrifft, philosophischen Methoden zugänglich sind, deren Objekt, nämlich die uns gegebenen Wesensnotwendigkeiten der Bewegung, jeder­ mann vertraut ist, der Bewegung kennt oder auch nur sie sich vorzu­ stellen vermag. Die wissenschaftliche Erforschung der notwendigen Gesetze der Bewegung fällt zwar - auf Grund von deren zahlreichen, für die Philosophie mit ihren aufs Grundsätzliche gehenden Inter­ essen irrelevanten, wenngleich oft faszinierenden Einzelheiten, wie etwa die Physik und einige Gebiete der Mathematik sie untersuchen - nicht ausschließlich in den Aufgabenbereich der Philosophie, son­ dern zum Teil in das Aufgabengebiet der Mathematik und Physik. Diese Wissenschaften erforschen ja gleichfalls viele apriorische Ge­ setze bzw. Wesensnotwendigkeiten sowie mathematische und physi­ kalische Prinzipien als deren Korrelate und bringen dieselben auf Formeln, wenn sie dabei auch gewöhnlich ihren Charakter der objek­ tiven Wesensnotwendigkeit nicht beachten und auch nicht theo­ retisch zu verstehen brauchen. Das Problem der grundlegenden Wesensgesetze und die Er­ kenntnis jener Zusammenhänge und Gegebenheiten wie verschiede­ ner Arten von Unendlichkeit, sowie die Fragen, ob zeitlich sukzessi­ ves Sein wesenhaft begrenzt sein muß oder aktuell unendlich sein kann, was die verschiedenen Bedeutungen von »Anfang« sind, was der Inhalt des Kausalgesetzes im Verhältnis zu jenem des zureichen­ den Grundes ist, ob Freiheit im Gegensatz zum Kausalprinzip steht, und viele andere, können nur mit philosophischen Erkenntnissen gelöst werden, die nicht auf die Ergebnisse mathematischer und phy­ sikalischer Forschungen aufbauen, auch wenn es viele interessante »gemeinsame Probleme« der Wissenschaften der Philosophie, Ma­ thematik und Physik gibt.24 24 Ganz Ähnliches gilt für die medizinische Ethik und die Philosophie der Medizin ebenso wie für die philosophische Leib-Seele-Problematik in ihrem Verhältnis zur em­

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Es wird dem Zweck dieser Prolegomena dienen, an eine Grund­ erkenntnis des Platonischen Sokrates in der Apologie zu erinnern und dieselbe auf unsere Situation anzuwenden. Der Mathematiker und Physiker, sei er auch noch so genial, wie Einstein oder Heisen­ berg, hat in diesen philosophischen Fragen auch nicht den kleinsten erkenntnismäßigen Vorsprung vor dem reinen Philosophen. Ja er braucht von den philosophischen Problemen seiner Wissenschaft und ihrer Objekte so gut wie nichts zu verstehen und kann in phi­ losophischer Hinsicht - und sogar in den philosophischen Deutungen seiner eigenen vielleicht bahnbrechenden Ergebnisse - nichts als psychologistische, reduktionistische oder andere Verwirrungen stiften.25 Mit anderen Worten, genauso wie der Philosoph anerkennen muß, daß er viele Probleme der Zahlen- und Raumtheorie oder Un­ endlichkeitsrechnung nicht mit philosophischen Methoden zu lösen vermag und daß überdies die Lösung vieler Aspekte dieser mathema­ tischen Probleme nicht voraussetzt, daß der Mathematiker die ein­ pirischen Erforschung des menschlichen Gehirns. Vgl. auch Josef Seifert, »Philosophie als strenge Wissenschaft. Zur Grundlegung einer realistischen phänomenologischen Methode in kritischem Dialog mit Edmund Husserls Ideen über die Philosophie als strenge Wissenschaft«. 25 Es wird hier nicht behauptet, daß diese Möglichkeit bei Einstein und Heisenberg verwirklicht ist, wenn auch m.E. deren eigene philosophische Deutungen der Relativi­ tätstheorie und Unschärferelation - trotz vieler ausgezeichneter philosophischer Beiträ­ ge - eine große Zahl philosophischer Verwirrungen und Unklarheiten sowie falscher philosophischer Thesen enthalten. In ähnlicher Weise sind die Probleme, was Mengen oder Zahlen sowie deren Un­ endlichkeit sind, wie sich Mengen zu einander und zu sich selbst verhalten, ob sie sich selbst enthalten können undwas dies bedeutet, undviele andere Fragen rein philosophi­ sche Probleme. Deren philosophische Lösung setzt auch keineswegs die Ergebnisse der Mathematik voraus, sondern kann im Gegenteil viel zur Bewältigung spezifisch mathe­ matischer und physikalischer Aufgaben beitragen und zur Vermeidung gerade jener widersinnigen Annahmen führen, in denen die mathematisch-logischen Paradoxien der Mengenlehre und ähnlicher Paradoxien gründen. Ähnliches gilt für die Beziehung zwischen den Sprachwissenschaften und der philosophischen Erforschung des Wesens der Begriffe und jener Annahmen über dieselben, die zu Begriffs-Antinomien führen. Gerade so verhält es sich auch prinzipiell mit der Erforschung des Wesens anderer Ge­ gebenheiten sowie vieler auf diese bezogener Quellen der Paradoxien, z. B. mit der phi­ losophischen und naturwissenschaftlich-mathematischen Erforschung der Farben und Töne sowie jener Paradoxien, die deren unendliche Abschattungen betreffen, auf die Zenon hinweist, oder der Zahlen überhaupt sowie der Kardinalzahlen in ihrem Verhält­ nis zu Ordinalzahlen und deren Unendlichkeit und Relation zu Mengen, alles Probleme, in denen die von Cantor und anderen entdeckten Paradoxien wurzeln und zu deren rein philosophischer Lösung z. B. Reinach Wichtiges geleistet hat. Vgl. Adolf Reinach, »Über Phänomenologie«.

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schlägigen philosophischen Probleme gelöst oder auch nur gestellt hat, sollte der Mathematiker oder Physiker anerkennen, daß es viele philosophische Probleme des Raumes, der Zeit, der Kausalität und der Freiheit gibt, die ausschließlich philosophischer Methode zu­ gänglich sind. Und er wird sich überdies eingestehen müssen, daß er, in erheb­ lichem Unterschied zum Philosophen hinsichtlich dessen rein physi­ kalisch-mathematischen Voraussetzungen, immer wieder - vor al­ lem, wenn es zum Problem der Antinomien und Paradoxien, aber auch der Relativität der Zeit oder der Unbestimmtheit mikro-physi­ kalischer Vorgänge u. a. kommt - rein philosophische Voraussetzun­ gen über Probleme macht, die er mit seinen Methoden überhaupt nicht lösen, deren falsche Lösung hingegen den Inhalt seiner Ergeb­ nisse negativ beeinflussen kann. Es ist also viel wichtiger für den Physiker, Mathematiker oder symbolischen Logiker, philosophische Probleme zu stellen und zu lösen als es umgekehrt für den Philoso­ phen zweifellos wünschenswert ist, auch mit der mathematischen und physikalischen Seite von Materie, Zahlen, Bewegung, Zeit, Mengen usf. vertraut zu sein, wenn er über diese Gegebenheiten philosophiert. Auf Grund derartiger Erwägungen erschienen mir ausgedehnte mathematische Kenntnisse, deren Nichtbesitz ich nach dem Vorbild Sokrates' bekenne und deren Erwerb die Verschiebung von mir für wichtiger erachteter rein philosophischer Arbeiten bedeutet hätte, nicht unerläßlich für die Erfüllung der Aufgabe einer rein philoso­ phisch-apriorischen Analyse und Auflösung der Kantschen Antino­ mien zu sein. Hatte nicht Reinach viele dieser Aufgaben mit rein philosophischen Methoden ungleich glänzender erfüllt als eine große Zahl logischer Mathematiker, in deren Werken man nur wenig Nützliches zur Lösung der uns gestellten Aufgabe findet? Ein Verzicht auf die Anwendung detaillierter mathematischer und symbolisch-formalisierter logischer Methoden findet noch in einem anderen und äußerst wichtigen Umstand seine Rechtferti­ gung. Da es keine einheitliche Philosophie der mathematischen und logischen Gesetze, ja nicht einmal eine einheitliche mathematische oder logische Theorie gibt, sondern verschiedene, nicht mit einander in Einklang zu bringende »Logiken« und logische Systeme, wäre vor­ erst eine völlig neue philosophische Grundlegung der wahren sym­ bolischen formalen Logik und ihrer Gesetze - im Gegensatz zu logi­ schen Konstrukten - nötig, um die erwähnten Ziele zu verwirklichen. 22

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Denn so sehr die Mathematik und Computerwissenschaft auf Erfolg gehen und von der Wahrheit des zugrundeliegenden logischen oder mathematischen Systems weitgehend ahsehen können,26 so wenig kann die Philosophie dies zur Bewältigung ihrer Aufgahen tun. Es müßte folglich zuerst auf das genaueste zwischen echten logischen und mathematischen Erkenntnissen und hloßen mathematischen und logischen Fiktionen unterschieden werden, um die symholische Logik und Mathematik zur Auflösung von Antinomien voll einset­ zen zu können. Eine solche Neuhegründung einer philosophischen Logik und mathematischen Erkenntnis überschreitet jedoch den Rah­ men der vorliegenden Themenstellung. Die klassische Logik von Aristoteles bis Alexander Pfänder be­ schäftigte sich mit den logischen Gebilden und deren evidenten Ge­ setzen, wie auch dem Widerspruchsgesetz, das durch Antinomien in Frage gestellt scheint, während es sich hei der »modernen formalen Logik« eher um eine nicht-philosophische hzw. um eine Logik han­ delt, die eine eigentlich philosophische Aufklärung und Evidentmachung der in ihr hehaupteten Gesetze formaler Logik unterläßt und statt dessen in einer symbolischen Zeichensprache operiert hei weit­ gehender Nichtbeachtung der Frage, oh ihre Axiome, symholisch festgelegten Formeln u. dgl. den wirklichen logischen Sachverhalten entsprechen oder nicht.27 Eine solche Logik mag also von einander differierende und den Axiomen anderer Systeme widersprechende logische Systeme entwerfen und sucht nicht nach den ewigen und wahren logischen Gesetzen, die allein für das Antinomienprohlem und seine Auflösung in Frage kommen. Daher hleiht eine solche Lo­ gik diverser Systeme, deren Fundamente nicht zu philosophischer prise de conscience gelangen, indifferent gegenüber der grundlegen­ den Frage, worin das Wesen logischer Gehilde und Gesetze hesteht und inwieweit mathematische oder logische Gesetze über deren nöti­ ge Anwendbarkeit hinaus eine Entsprechung zu objektiven logischen Gesetzen besitzen, deren Feststellung die Hauptaufgabe einer phi­ losophischen Logik sein sollte, wie Husserl mit exemplarischer Klar­

26 Damit soll selbstredend nicht behauptet werden, daß die Ergebnisse rein philosophi­ scher Erforschung objektiver Sachverhalte, z.B. aus dem Bereich der naiven Physik oder Logik, nicht auch die Computerwissenschaften positiv beeinflussen können. 27 Das gilt nicht, oder höchstens teilweise, von Frege, dem früheren Russell, Scholz und anderen modernen Logikern.

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heit gezeigt hat.28 Eine solche un-philosophische Logik ist für die Lösung unserer Probleme wertlos und trüge selbst dann, wenn sie durchgehend in objektiven logischen Gesetzen ihre Fundierung be­ säße, diese und viele außerlogische29 Gesetze aber nicht als zeitlos gültige und objektive Gesetze untersuchte, zur Lösung unserer Fra­ gen nur wenig bei. Noch ein weiteres Mißverständnis gilt es von vornherein zu be­ seitigen. Wenn im folgenden von Widersinnigkeiten in den Kantischen Erörterungen der Antinomien die Rede sein wird, so werden damit weder die gigantische Denkleistung noch die bewundernswer­ ten einzelnen philosophischen Leistungen Kants in Frage gestellt. Allerdings bleiben meine Einwände gegen schwerwiegende philoso­ phische Irrtümer und Fehlinterpretationen der Dinge durch Kant von einer solchen Bewunderung unberührt und sollte man nicht seine unbestrittenen Leistungen als Freibrief für philosophische Irrtümer oder Widersinnigkeiten betrachten, wie wir sie aufzuklären bestrebt sind. Ich betrachte die folgende Widerlegung des »einzigen Probier­ steins« der von mir für die Philosophiegeschichte verhängnisvoll er­ achteten kopernikanischen Wende Kants als eine wichtige Fortset­ zung meiner früheren Beiträge zur Kant-Kritik und als einen wichtigen Teil meines Versuchs, auf den Gebieten der Erkenntnis­ theorie, philosophischen Anthropologie, Ethik und Metaphysik, bis hin zu einer philosophischen Gotteslehre, den radikalen Immanen­ tismus zu überwinden, der mit Kants Philosophie und Leugnung der Erkennbarkeit der »Dinge an sich« in die Philosophie eintrat und die gewaltige »sechste Krise« mit herbeiführte, die heute dringend eine Antwort erfordert.30 Kant bleibt für die ganze nachfolgende Philoso­ 28 Vgl. Edmund Husserl, Logische Untersuchungen, Bd. I: Prolegomena zu einer reinen Logik, bes. Kap. 5-10. 29 Unter »außerlogisch« verstehe ich selbstredend hier nicht unlogische Annahmen oder den Gesetzen der Logik nicht gehorchende Sachverhalte und Wesen, sondern nur solche, die nicht innerhalb, sondern außerhalb des eng abgegrenzten Gegenstandsgebie­ tes der Logik (die Bedeutungen, Bedeutungseinheiten, Schlußformen und deren Gültig­ keit und die ganze Sphäre objektiver Gedanken ihrer formalen Struktur nach erforscht) liegen: etwa Raum, Bewegung, Zeit, Freiheit usf. 30 Auf dem Gebiet der Erkenntnistheorie, wo ich Kants Einfluß auch auf den späten Husserl und die Hauptteile der Phänomenologie als gewaltig ansehe und zu überwinden suchte, vgl. insbesondere meine früheren Arbeiten: Erkenntnis objektiver Wahrheit und Back to Things in Themselves. Auf dem Gebiet der Ontologie und philosophischen Got­ teslehre vgl. meine Essere e persona. Verso una fondazione fenomenologica di una me-

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phie schicksalhaft. Wie nun Platons »zweite Ausfahrt« in der Aus­ einandersetzung mit der griechischen Skepsis der Sophisten und Mi­ sologen und dem Materialismus der Naturphilosophen ein unent­ behrlicher Schritt zur Überwindung der ersten großen Krise in der Geschichte abendländischer Philosophie war, so wird auch heute in der Auseinandersetzung mit den Vätern der gewaltigen Krise der zeitgenössischen Philosophie eine neue und schon, wie Balduin Schwarz hervorhob, eine »siebte Ausfahrt« verlangt,31 zu der das vor­ liegende Buch einen bescheidenen Beitrag leisten möchte. Doch nun zur Prüfung des Wesens der Antinomien und Aporien und der Für und Wider der Behauptungen antinomischer und aporetischer Wi­ dersprüche durch Kant.

tafisica classica a personalistica (4. Teil), Sein und Wesen, Gott als Gottesbeweis. Eine phänomenologische Neubegründung des ontologischen Arguments. Auf dem Gebiet der philosophischen Anthropologie und Attacke auf die Begriffe der Seele und der Per­ son in ihrem ontologischen Fundament vgl. meine Bücher Leib und Seele, Essere e per­ sona (zweiter und dritter Teil) und Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige phi­ losophische Diskussion. Eine kritisch-systematische Analyse. Auf dem Gebiet der Ethik vgl. meine Würdigung und Kritik Kants in Josef Seifert, Was ist und was motiviert eine sittliche Handlung?. 31 Zum Begriff der »siebten Ausfahrt« vgl. Balduin Schwarz, Wahrheit, Irrtum und Verirrungen. Die sechs großen Krisen und sieben Ausfahrten der abendländischen Phi­ losophie.

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Kapitel 1

Aporien, Antinomien und logische Paradoxien als Grundprobleme der Philosophie

Wir haben bereits gesehen, daß alle Rationalität des Seins und Den­ kens sowie die Fundierung aller Wissenschaft, Logik und Philosophie Widerspruchsfreiheit des Seins und des Denkens bzw. der Gedanken fordern. Ich habe auch erwähnt, daß das Problem der Aporien, ins­ besondere aber jenes der Antinomien und logischen Paradoxien, das Vertrauen auf die Widerspruchsfreiheit des Seins und des Denkens sowie die Fundamente sogar der strengsten Wissenschaften, der Ma­ thematik und Logik, erschüttert haben. Das Antinomienproblem wurde spätestens vom Parmenides-Schüler Zenon entdeckt. Die berühmten Zenonischen Antinomien haben mit dem Wandel, mit der Bewegung, mit dem Kontinuum sowie mit dem Problem der Be­ ziehung zwischen Einheit und Vielheit zu tun. Da ist von einem sich bewegenden Körper die Rede, der niemals von einem Punkte A zu einem Punkte B, von einer Lage in eine andere gelangen kann, weil er, um den dazwischen liegenden Raum zu durchqueren, zuerst die Hälfte, davor die Hälfte der Hälfte usf. bis ins Unendliche durchmes­ sen müßte. Da wird uns der schnellste Läufer Achilles vor Augen gestellt, der den langsamsten Läufer, die Schildkröte, niemals ein­ holen kann, weil jedesmal, wenn er deren Ausgangspunkt erreicht hat, die Schildkröte schon einen kleinen Vorsprung hat und weil es dabei um eine unendliche Reihe solcher Vorsprünge geht, die niemals in endlicher Zeit durchmessen werden können. Und der fliegende Pfeil soll sein Ziel nie erreichen können, weil er ja immer in einem bestimmten Raumteil sein muß. Wenn er aber immer »ist«, ruht er immer; um sich zu bewegen, bewegt er sich also nicht und Bewegung widerspricht sich selbst. Auf diese und viele andere Weisen, von denen einige auch jedes beliebige Kontinuum, wie die unendlichen Übergänge von Geräuschund Lärmstufen oder Farbabschattungen zum Gegenstand haben, während andere eine erste Theorie der Relativität der Zeit entwerfen, versucht Zenon, innere Widersprüche im Wesen von Vielheit und Bewegung darzutun. 26

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

Fast sämtliche Zenonischen Antinomien beruhen auf den selt­ samen Eigenschaften des Unendlichen und des unendlich Teilbaren, wie sie allen Kontinua, insbesondere jenen von Raum und Zeit, sowie den in diesen Kontinua ablaufenden Prozessen zukommen. Betrach­ ten wir diese Probleme etwas genauer. Zenon wirft in faszinierender Weise das Problem auf, ob nicht im Innersten des unendlich teilbaren Raumes, der unendlich teil­ baren Zeit und der allgemein angenommenen raumzeitlichen Seien­ den und Prozesse unauflösbare Widersprüche liegen. Wie kann es z. B. sein, so dürfen wir die erwähnten anschaulichen Beispiele Zenons interpretieren, daß ein Körper einen gegebenen Raum durch­ mißt, da er doch zuerst die Hälfte der Bewegungsstrecke, davor deren Hälfte usf., also unendlich viele Teilstrecken durchmessen haben muß? Wie kann das schnellste laufende Wesen (Achilles) den lang­ samsten Läufer (Schildkröte) jemals einholen, wenn der letztere einen Vorsprung hat? Muß es nicht auch hier so sein, daß der lang­ samste Läufer, jedesmal wenn sein jeweiliger Ausgangspunkt vom schnelleren erreicht ist, schon einen gewissen Vorsprung hat, so daß der schnellere Läufer unendlich viele dieser kleinen und kleineren Vorsprünge einholen, das heißt also wieder unendlich viele (Teil-) Strecken durchlaufen muß? Wie können jedoch unendlich viele Teile des Raumes in endlicher Zeit durchmessen werden, wie dies von jeder räumlichen Bewegung vorausgesetzt wird? Ist nicht jeder Teil eines unendlich teilbaren Kontinuums unendlich groß, weil er seiner­ seits wieder unendlich viele Teilgrößen enthält? Wenn deshalb evi­ dentermaßen ein unendlich großer Raum in keiner endlichen Zeiteinheit bei vorausgesetzter endlicher Geschwindigkeit (und »un­ endliche Geschwindigkeit« ist wohl ein in sich widersprüchlicher Be­ griff) - durchschritten werden kann, wie soll ein ähnliches Durch­ schreiten beim unendlich teilbaren Raum möglich sein? Auch der Antinomie vom »fliegenden Pfeil« liegt wohl letztlich dieselbe Schwierigkeit zugrunde, auch wenn sie sich unter einem neuen Aspekt darstellt. Hier beruht die Antinomie (bzw. die schein­ bare Antinomie) auf dem Problem der Unendlichkeit der Punkte und Lagen im Raum und der Augenblicke in der Zeit einerseits, und im Wesen der Bewegung andererseits. Wie ist es möglich zu leugnen, fragt Zenon, daß jeder sich bewegende Körper (der fliegende Pfeil) in jedem Augenblick seiner Bewegung an einem bestimmten Ort ist? Wenn er aber in jedem Moment an einem bestimmten Ort ist, ruht er auch in jedem Augenblick an einem Ort; er bewegt sich also nicht. ^ 27

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

So scheint gerade die Voraussetzung der Bewegung, nämlich das in jedem Augenblick an einem bestimmten Ort Sein, Bewegung selbst aufzuheben, bzw. unmöglich zu machen. Auf der implizierten Grundlage der absoluten Gültigkeit des Widerspruchsprinzips, dem gemäß kein Seiendes A zugleich eine Ei­ genschaft b haben und dieselbe Eigenschaft im gleichen Sinne nicht haben kann, verwirft Zenon daher die Wirklichkeit des Raumes, der Vielheit und damit der Kontinua, der Bewegung etc., weil deren An­ nahme notwendig zu Widersprüchen (Antinomien) führe. Auf diese erstaunlich originelle Weise versucht Zenon, die Gegner seines Mei­ sters Parmenides mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Während diese nämlich Parmenides' These, es gäbe nur das reine, unveränder­ liche Sein und nicht Wechsel und Vielheit, als absurd verwarfen, ver­ sucht Zenon zu zeigen, daß gerade die Annahme der Wirklichkeit und Tatsächlichkeit von Bewegung zu unauflösbaren Widersprüchen führe, die eben die Unhaltbarkeit der diese Widersprüche erzeugen­ den Annahme (von Bewegung, unendlicher Teilbarkeit usf.) be­ weise.1 Auch Platon stellt nicht nur das Antinomienproblem, wie es die Eleaten sahen, dar; er wirft auch selber das Antinomienproblem in den verschiedensten Kontexten auf. So spricht er in seinem Dialog Theaitetos (154 c f.) von einer scheinbaren Antinomie, die nahelege, daß zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte zugleich existieren: Ein einfaches Beispiel wird dir den Sinn meiner Worte völlig klar machen. Wenn du sechs Würfel12 mit vieren vergleichst, so sagen wir, es seien mehr als vier und zwar anderthalbmal so viel, wenn aber mit zwölf, es seien weni­ ger und zwar halb so viel .. ,3

Aus solchen und ähnlichen Überlegungen sieht Platon scheinbare Widersprüche hervorgehen, da dasselbe Ding zugleich groß und klein, klein und nicht klein sei. Platon verbindet auch das Thema des Staunens als Anfang aller Philosophie ausdrücklich mit dem An­ tinomienproblem.4 Ich sehe hier von den besonderen Problemen einer historischen Deutung dieser Platonstelle im Lichte seiner Ide­

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Diese Interpretation wird in Platons Parmenides, 127 a—128 e, dargelegt. Schleiermacher (hrsg. v. W. F Otto, et al., 81967) übersetzt mit »Bohnen«. Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. IV, S. 49 ff. Theaitetos, 155 d.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

en- und Prinzipienlehre ah5 und konzentriere mich auf eine rein phi­ losophische Betrachtung derselben. Sosehr man nicht zu Unrecht hervorhehen mag, daß im zitierten Passus in Platons Dialog einfach »Größe« und »Quantität« als eine innere und eindeutige Bestimmt­ heit mit einer Reihe von je nach Termini wechselnden Relationen der Form »größer als« verwechselt werde und daraus die scheinbare An­ tinomie erfolge,6 die übrigens Platon selbst in ähnlichem Sinne auflöst, so liegt doch wohl Platons Antinomiendiskussion ein tieferes Problem zugrunde. Gibt es ein absolutes oder nur ein relatives Maß der Größe? Und wenn Größe relational ist, folgt dann daraus, daß dasselbe Ding (auch im selben und zwar im einzigen und eben relati­ ven Sinn) zugleich groß und nicht groß, klein und nicht klein sein kann? Diese von Platon dargestellte scheinbare Antinomie, die er dann durch seine Theorie der Teilhabe desselben Dinges an verschie­ denen und teilweise entgegengesetzten Ideen zu lösen versucht, würde nicht aus der Unendlichkeit und unendlichen Teilbarkeit, son­ dern aus der Natur der Relation und vielleicht auch aus dem Problem der gleichzeitigen Teilhabe an entgegengesetzten Prädikaten erwach­ sen. Allerdings läßt sich dieser scheinbare Widerspruch leicht auflö­ sen. Denn nur eine unklare Vorstellung von Relation und das Über­ sehen der Tatsache, daß dasselbe in jeweils anderer Hinsicht groß und zugleich nicht groß sein kann, nicht aber in derselben, führt zum Anschein einer solchen Widersprüchlichkeit. Aristoteles hat in seiner Metaphysik und in seiner in der Physik dargelegten Naturphi­ losophie solche scheinbaren Widersprüche und Antinomien behan­ delt und wichtige Beiträge zu ihrer Auflösung geleistet. Der Platonische Theaitetos ist besonders insofern von Relevanz für die heutige Diskussion, als Platon dort den Charakter des Anti­ nomienproblems als ein Grundproblem der Philosophie erfaßt, das mit dem Staunen als Anfang der Philosophie und mit dem Sokratischen Wissen um das eigene Nichtwissen aufs engste verknüpft ist.7 5 Zum historisch gelesenen philosophischen Gesamtkontext dieser Stelle in Platons Ideenlehre und Prinzipienlehre vgl. Giovanni Reale, Verso una nuova interpretazione di Platone, bes. Kap. 12 ff., S. 335 ff. Inzwischen ist das Buch auf Deutsch erschienen: Giovanni Reale, Zu einer neuen Interpretation Platons. Eine Auslegung der Metaphysik der großen Dialoge im Lichte der »ungeschriebenen Lehren««. 6 Vgl. dazu F. M. Cornford, Plato's Theory of Knowledge, S. 51 ff. Cornford meint, daß Platon im Phaidon schon Größe für eine innere Bestimmung und nicht für eine Relation gehalten habe. 7 Platon, Theaitetos, 155 a-e.

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Denn wenn schon ganz allgemein gilt, daß die Philosophie mit dem Staunen anfängt, d. h. damit, die Dinge nicht für selbstverständlich hinzunehmen, nicht zwischen den Dingen zu leben, sondern Abstand zu gewinnen und aus dem Hantieren mit Gegenständen aufzu­ tauchen, um sich zu fragen: »Was ist das eigentlich, Sein, Werden, Erkennen etc.?«, so gilt dies erst recht vom Philosophieren angesichts der sogenannten Antinomien und anscheinenden Widersprüche in den uns vertrauten Dingen. Ja in der Tat, wie sollten wir nicht in besonderer Weise dort staunen, wo wir, um mit Theaitetos zu reden, »schwindlig werden« angesichts von Zusammenhängen, die deshalb unsere Kraft des Ver­ stehens übersteigen, weil sie Paradoxe, ja Widersprüche zu enthalten scheinen? In Platons Parmenides finden sich zumindest sechs weitere Aporien bzw. Antinomienprobleme,8 vor allem das Problem einer später in Aristoteles' Metaphysik auftauchenden - Antinomie »vom dritten Menschen« und andere scheinbare Antinomien, die im Pro­ blem der Teilhabe und des Seins wurzeln und vielfach die Frage nach einem unendlichen Regreß betreffen.9 Wie unterscheidet sich Platons Antwort auf dieses Problem von jener Zenons? Zenon verwirft einerseits die ursprüngliche Gegeben­ heit von Bewegung, andererseits scheint er eine völlige rationale Auflösbarkeit aller durch die Natur der Bewegung aufgegebenen Rätsel zu erwarten. Bei Platon finden wir hingegen einerseits ein staunendes Haltmachen vor vielen Unbegreiflichkeiten des Seins, auf die wir gerade im Rahmen des Antinomienproblems oft stoßen werden, andererseits einen intensiven Versuch, allen rational auf­ zuhellenden Zusammenhängen nachzuspüren. Platon verwirft je­ doch nicht - wie Parmenides und Zenon - die solchen scheinbaren Widersprüchen zugrundeliegenden Phänomene, etwa die Bewegung, die Teilhabe oder die Zahl. In beiden Hinsichten werde ich dem Platonischen Beispiel zu folgen trachten. Ich werde weder in einem radikalen Rationalismus von der Voraussetzung ausgehen, als seien alle Probleme, auf die uns die Frage nach Aporien und Antinomien führen wird, vollständig von unserem Verstand aufzulösen, noch in einen Irrationalismus verfal­ len, der die Mühe sorgfältiger und präziser Unterscheidungen, wie sie viele Antinomien völlig auflösen können, vermeidet. Diese kurze 8 Vgl. Reale, Platone, S. 343ff. 9 Vgl. Platon, Parmenides, 127 a-128 e; Aristoteles, Metaphysik, A, 9.

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Einleitung erlaubt es uns nicht, auf die vielfältigen weiteren Entwick­ lungen der Problematik der Antinomien in der Antike gebührend einzugehen.10 Auch das Mittelalter kennt mathematische, logische und andere Probleme von Antinomien und scheinbaren Widersprüchen, die zu einem guten Teil mit den Platonischen und Zenonischen Fragen eng Zusammenhängen, vor allem mit den Problemen der Unendlichkeit und der Masse (Materie). In einer besonderen, auch der Antike be­ kannten Form erscheint das Antinomienproblem nun wieder in der Gestalt jener Antinomien, die später als »logische Paradoxien« ge­ kennzeichnet werden sollen, d. h. in Gestalt von Thesen, aus denen notwendig Widersprüche folgen, wie die Antinomie des Lügners oder die widersprüchliche Konsequenz jeder Leugnung der Wahrheit. Auch dieses besondere Problem logischer Antinomien taucht in der mittelalterlichen Philosophie auf, die oft Lösungen dieser Antino­ mien in der notwendigen Falschheit und Widersprüchlichkeit der zu­ grundeliegenden Annahmen sucht, wie etwa Bonaventuras Widerle­ gung der skeptischen Wahrheitsleugnung zeigt: Auf das, was man gegen die Beweisführung Augustins einwendet, daß näm­ lich kein Urteil (contradictoria) sein eigenes kontradiktorisches Urteil (contradictoriam) impliziere, ist zu erwidern: dies ist wahr, insofern zwei Urteile kontradiktorisch sind; jedoch ist zu verstehen, daß eine bejahende Aussage (propositio) eine zweifache Behauptung enthält: eine, kraft deren sie ein Prä­ dikat von einem Subjekt aussagt; eine zweite, kraft deren sie behauptet, sie selbst sei wahr. In der ersten Behauptung unterscheidet sie sich von der nega­ tiven Aussage, die ein Prädikat von einem Subjekt abtrennt; in der zweiten Behauptung kommt aber die negative Aussage mit der affirmativen überein, weil sowohl die verneinende als auch die bejahende Aussage den Anspruch erhebt, selbst wahr zu sein. Auf der ersten Behauptungsebene sind die Aus­ sagen kontradiktorisch, nicht auf der zweiten (als solcher). Wenn man des­ halb sagt: es gibt keine Wahrheit, so impliziert diese These, insofern sie das Prädikat vom Subjekt negiert, nicht ihr eigenes Gegenteil, nämlich: es gibt eine Wahrheit. Indem sie aber für sich selbst beansprucht, wahr zu sein, im­ pliziert sie, daß es Wahrheit gibt; dies ist nicht verwunderlich; denn wie jedes Böse das Gute voraussetzt, so jedes Falsche die Wahrheit. Und deshalb schließt dieses Falsche, daß es keine Wahrheit gibt - da es wegen der Abtren­ nung des Prädikats vom Subjekt alles Wahre leugnet, und wegen der Behaup­ tung, mit der es behauptet, selber wahr zu sein, wieder setzt, daß es eine 10 Vgl. dazu z.B. Olof Gigon, Studien zur antiken Philosophie, S. 100, 320, 339, 343, 344, 350, 396, 365, 420-421.

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Wahrheit gibt - beide Teile des kontradiktorischen Widerspruchs ein; daher kann der recht verstehende Intellekt auch aus jenem Falschen beide Teile des Widerspruchs und damit schließen, daß die These wesenhaft falsch und nicht einmal verstehbar ist. Und das will Augustinus sagen.11

Wie wir sehen, wird hier der antinomische Widerspruch, der aus einer Annahme folgt, als Beweis für die notwendige Falschheit der zugrundeliegenden Annahme gewertet. Darauf werden wir unter dem Titel der »logischen Antinomien« bzw. »logischen Paradoxien« zurückkommen. In der Neueren Philosophie taucht das Antinomienproblem nicht mehr im Dienst der Parmenideischen Seinsphilosophie und auch weder im Kontext der Platonischen Teilhabephilosophie noch vornehmlich in jenem der Widerlegung der Skepsis bzw. der Wahr­ heitsleugnung11 12 oder anderer notwendig falscher Thesen, sondern an ganz anderer Stelle auf. Wie wir sehen werden, ist das Antinomien­ problem für Kant von zentraler und vielleicht zu wenig erkannter Bedeutung. Kant schließt dabei einerseits, wie Bonaventura, auf die notwendige Widersprüchlichkeit der einer Antinomie zugrunde­ liegenden Annahme (so bei den »mathematischen« Antinomien, die in einer raum-zeitlichen Struktur der Welt als solcher und in der unendlichen Teilbarkeit materieller Substanzen gründen, die er für widersprüchliche Fiktionen hält).13 Andererseits aber schließt Kant bei den »dynamischen Antinomien«14 auf die Existenz von zwei Wel­ ten, wobei jede der widersprechenden Aussagen wahr wäre, sich aber jeweils auf eine andere Wirklichkeitsschicht bezöge: die eine Seite der Antinomie bezöge sich auf das Ding an sich, die andere auf die Erscheinung. Auf wieder völlig verschiedene Weise und im Rahmen anderer Voraussetzungen und Folgerungen erscheint das Antino­ mienproblem in der Philosophie Hegels und im Marxismus. Hier werden Antinomien und Widersprüche nicht mehr als Zeichen für 11 Bonaventura, De Mysterio Trinitatis V, 48, 5. Vgl. dazu auch J. Seifert, »Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwendigen Sein der Wahrheit.« 12 Unter »Skepsis« versteht man noch ganz Verschiedenes: hier meinen wir weder den eingeschränkten noch den radikalen Zweifel an der Existenz oder der Erkennbarkeit der Wahrheit, sondern die These der Leugnung von Wahrheit. Diese These verdient eigent­ lich nicht den Titel »Skepsis«, sondern sollte eher als »dogmatische Wahrheitsleug­ nung« bezeichnet werden. Trotzdem erscheint sie historisch im Rahmen der Skepsis­ Diskussion. 13 Vgl. auch C. D. Broad, »Kant's Mathematical Antinomies«. 14 I. Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 558 ff.

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die Unwirklichkeit dessen angesehen, worin sie gründen; vielmehr werden sie als Ausdruck des in sich widersprüchlichen oder »dialek­ tischen« Charakters des Seins oder Denkens aufgefaßt.15 Eine weitere Verschärfung hat das Antinomienprohlem in der Gegenwart dadurch erfahren, daß es sich in den scheinhar sichersten Wissenschaften in Form einer »Grundlagenkrise« hemerkhar mach­ te, nämlich in Logik und Mathematik. Dort, in den allem Anschein nach strengsten und durchaus konsistent-rationalen Wissenschaften, hatte Kant das Antinomienprohlem noch ausgeschlossen,16 auch wenn seine Behandlung des Antinomienprohlems in engem Zusam­ menhang mit einer Philosophie der Wissenschaft steht.17 Wir hrauchen jedoch nur an die logischen und mathematischen Paradoxien zu 15 Zu einer modernen Verteidigung der Idee »widersprüchlicher Wahrheiten« im Zu­ sammenhang der Hegelschen Deutung des Antinomienprohlems vgl. S. Petrov, »Hegel's Thesis of Contradictory Truths«. Vgl. auch Allen W Wood, »Kant's Dialectic«, eine Diskussion von Jonathan Bennett's Buch, Kant's Dialectic; sowie Allegra De Laurentiis, »>And Yet It Movesc Hegel on Zeno's Arrow«. Die Zusammenfassung des Artikels in The Philosophers Index 1998 (1940-1997) drückt den wesentlichen Punkt der Hegel­ schen Interpretation der Antinomien klar aus: Hegel's »solution« to Zeno's paradox ofthe Arrow runs counter all the »Solutions« attempted since, and including, Aristotle. Instead of rejecting motion for the sake of logic, attacking premises of the argument as unsound, or redefining space and time as nonatomistic, Hegel shows that the argument hinges upon a hidden premise: »phenomena which can only be expressed in contradictory propositions do not exist«. Hegel rejects this premise and shows that Zeno's conclusion does not follow from his own premises. Auch Pena argumentiert von einer parakonsistenten unendlichwertigen Logik aus, daß es »widersprüchliche Wahrheiten« gehen müsse: Lorenzo Pena, »Partial Truth, Fringes, and Motion: Three Applications of a Contradictorial Logic«. Szekely weist nach, wie die »Widerspruchsontologie« (contradiction-ontology) des Dialektischen Materialismus die Zenonischen Antinomien nutzt, um diese Begrenzung des Widerspruchsprinzips zu rechtfertigen. Laszlo Szekely, »Motion and the Dialectical View of the World: On Two Soviet Interpretations of Zeno's Paradoxes«. 16 Vgl. Kant, KrV, B 453. Kant hat ja, wie wir sehen werden, die Antinomien auf vier kosmologische heschränkt, von denen nur die ersten heiden (durch das in ihnen enthal­ tene Unendlichkeitsprohlem) einen von Kant allerdings nicht hergestellten Bezug zum Antinomienprohlem in der Mathematik hahen. Während hereits Cantor gewisse mathe­ matische Prohleme sah, die die Antinomienfrage herühren, diese Frage jedoch nicht für sehr hedeutungsvoll hielt, war es erstmals ein Brief Russells an Frege, der den letzteren tiefhestürzte und zur Meinung führte, das Antinomienprohlem verursache eine Grund­ lagenkrise der Mathematik. Vgl. dazu F. von Kutschera, Die Antinomien der Logik, S. 13. 17 Zur Relevanz der Kantschen Antinomienprohleme für die Philosophie der Wissen­ schaften vgl. Peter Krausser, »On the Antinomies and the Appendix to the Dialectic in Kant's Critique and Philosophy of Science«.

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denken, z.B. an die der Mengenlehre, denen insbesondere der von Whitehead und in den Principia Mathematica vorgeschlagene Lö­ sungsversuch der Typentheorie gilt, um zu sehen, daß Stegmüllers Behauptung einer in den Antinomien gründenden Grundlagenkrise der Mathematik und Logik nicht übertrieben ist, eine Feststellung über den Zustand der Logik, die an die bekannte Bemerkung Poincares erinnert, daß die Logik nicht mehr steril sei, sondern Wider­ sprüche zeuge.18 Vergegenwärtigt man sich die reichhaltige Literatur zu diesem Gegenstand, die vor allem von Gödels berühmtem Theo­ rem, demnach kein System einer gewissen logischen Stärke und Komplexität im Licht seiner eigenen Prinzipien auf Widerspruchs­ freiheit hin geprüft werden kann, und von den mit der Dualität von Sprache und Metasprache verbundenen vielfältigen Problemen han­ delt, so erhellt die eminente Bedeutung des Antinomienproblems für die Wissenschaften der Logik und Mathematik. Die Frage nun, ob die elementarsten Gegebenheiten, wie die des Raumes, der Zeit und der Bewegung, und die fundamentalen Defini­ tionen, Prinzipien und systematischen Anwendungen der strengsten Wissenschaften, wie die der Logik und Mathematik, bei näherem Nachdenken tatsächlich zu unausweichlichen Antinomien führen, ist gewiß ein Grundproblem der Philosophie: denn wenn es Antino­ mien gibt, und vor allem, wenn sie in den elementarsten Grundlagen und Prinzipien der Erfahrung und der apriorischen Wissenschaften vorkommen, scheinen die Voraussetzungen allen Sinnes und aller Wahrheit erschüttert. Diese Konsequenzen lassen sich besser einsehen, wenn das We­ sen einer Antinomie kurz geklärt wird. Wir sprechen von einer An­ tinomie im Falle einer besonderen Art von Widerspruch, nämlich dann, wenn zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte mit unbestreitbarer Evidenz eingesehen, bzw. wenn zwei kontradik­ torisch entgegengesetzte Urteile mit gleicher Folgerichtigkeit aus evidenten Prämissen oder zumindest aus zwingenden Annahmen be­ wiesen werden können. Nehmen wir an, es gäbe tatsächlich Antinomien, und zwar sol­ che, die nicht auf willkürlichen Theorien und Annahmen, sondern auf evidenten Fakten oder wenigstens auf plausiblen Vorstellungen beruhen, so ergibt sich ein ungeheures Problem, ja ein Skandal für die Vernunft. Denn zunächst werden wir kaum umhin können, Ari­ 18 Wolfgang Stegmüller, Metaphysik, Skepsis, Wissenschaft, S. 5.

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stoteles recht zu gehen, wenn er im Buch Gamma der Metaphysik das Widerspruchsprinzip als das gewisseste und evidenteste Prinzip allen Seins formuliert und zur Einsicht hringt. Alles Sein, alles Er­ kennen, alles Urteilen scheint eindeutig zur Voraussetzung zu hahen, daß ein hestimmter Sachverhalt und sein genaues kontradiktorisches Gegenteil unmöglich koexistieren können. Dieses Prinzip ist üherall, in jedem theoretischen Urteil und in jeder praktischen Handlung vor­ ausgesetzt, wie Aristoteles glänzend nachweist und wie in jüngerer Zeit Edmund Husserl in den Logischen Untersuchungen im Rahmen seiner Diskussion der psychologistischen Fehldeutungen des Wider­ spruchsprinzips (im logischen Sinne) noch schärfer nachgewiesen hat. Viel wichtiger als die ständige Vorausgesetztheit des Wider­ spruchssatzes ist jedoch seine evidente Wahrheit.19 Ein tieferes Ein­ dringen in den Sinn und das Wesen des Seins führt uns zur klaren Einsicht, daß ein hestimmter Sachverhalt, z. B. die Tatsache meiner Existenz, ahsolut unmöglich gleichzeitig und im selhen Sinne hestehen und nicht hestehen kann. Auch die Tatsache, daß es wesens­ gesetzlich unmöglich ist, daß zwei einander kontradiktorisch ent­ gegengesetzte Urteile (Sätze) heide zusammen wahr sein können (das logische Widerspruchsprinzip), ist ehenso evident, wenn auch weniger unmittelhar gegehen als das ohen formulierte ontologische Widerspruchsprinzip, welches ja erst den logischen Satz vom Wider­ spruch hegründet. Somit erweist sich auch das Widerspruchsprinzip im logischen Sinn als eine evidente und üherall vorausgesetzte Wahr­ heit, wie z. B. Edmund Husserl und Alexander Pfänder neu erhellt hahen. Wenn auch Kant das Widerspruchsgesetz für einen analytischen Satz hielt, oder vielleicht gerade weil er es für einen nur seiner Analytizität wegen notwendig wahren Satz hielt, verwarf er den Satz 19 Was die Evidenz des Widerspruchsprinzips als eines ontologischen Prinzips hetrifft, das zugleich die Grundlage eines logischen ist, vgl. nehen dem klassischen Buch P von Aristoteles' Metaphysik auch A. Pfänder, Logik, und J. Seifert, Essere e persona, Kap. 5. Zur Begründung der ohjektiven Evidenz des logischen Widerspruchsprinzips, inshesondere gegen die psychologistischen Verfälschungen dieses Prinzips, hleihen die »Prolegomena« zu Husserls Logischen Untersuchungen grundlegend. Die vorliegende Arheit kann als Versuch hetrachtet werden, die in den zitierten Werken entwickelten Einsich­ ten in das ontologische und logische Widerspruchsprinzip als ohjektiv notwendiges We­ sensgesetz konkret auf die Prohleme der Antinomien und logischen Paradoxien anzu­ wenden.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

vom Widerspruch nicht, sondern nahm ihn vielmehr als eine selbst­ verständliche und keiner weiteren Diskussion bedürftige Grundlage an. Eine Philosophie aber, die die Wahrheit des Satzes vom Wider­ spruch für unbestreitbar hält, muß konsequenterweise jede dem Wi­ derspruchsgesetz zuwiderlaufende Annahme aus dem Bereich des wirklichen oder auch nur möglichen Seins und dem des richtigen Denkens verbannen. Dies bedeutet aber gerade, daß es Antinomien im vollen Sinne »nicht wirklich geben kann«, woran all jene Philoso­ phen zweifeln, die entweder die objektive Gültigkeit dieses Prinzips bezweifeln, wie die Skeptiker und die Relativisten und Subjektivisten aller Art, oder das Widerspruchsprinzip auf eine enge Verstandes­ ebene eingrenzen und im Sein selbst oder in der höheren Vernunft bestehen lassen, wie Hegel oder Marx und vielleicht auch Nikolaus von Cusa. Denken wir aber unvoreingenommen über dieses Prinzip nach, so erkennen wir: Keine Wirklichkeit, ja nicht einmal ein mögli­ ches Seiendes, das in die Wirklichkeit eingehen könnte, darf innere Widersprüche oder Antinomien einschließen. Daher kann auch keine echte, vor allem keine unbezweifelbar gewisse Erkenntnis, sei sie auf Grund unmittelbarer Evidenz oder auf Grund folgerichtiger Schlüsse gewonnen, Antinomien enthalten. Da es sie nicht wirklich gibt, können auch keine Antinomien als tatsächlich bestehend erkannt werden. Wie wir sehen werden, ist dies auch letzten Endes die Posi­ tion Kants, die für seine Lösungsversuche des Antinomienproblems vorausgesetzt ist. Doch läßt sich eine solche apriorische apodiktische These wirklich durch evidente Erkenntnis stützen? Sieht sie nicht dogmatisch an der Realität von Antinomien vorbei? Auch wenn wir in diesem einführenden Kapitel noch weit­ gehend von Kants Stellung zum Antinomienproblem absehen, so ist doch eines klar: für einen Philosophen, der die absolute Gültigkeit des Satzes vom Widerspruch im ontologischen sowie im logischen Sinne anerkennt, kann es kaum eine größere Herausforderung, und für alle Metaphysik, Philosophie und Wissenschaft kann es kaum eine radikalere Bedrohung geben, als wenn sich im Falle der Antino­ mien anscheinend oder tatsächlich aus evidenten Prinzipien und unwiderleglichen Gründen, auf Grund von folgerichtigen und ein­ wandfrei gültigen Schlußverfahren, einander kontradiktorisch ent­ gegengesetzte Sachverhalte ableiten lassen. Um Kant und um diese für alle Vernunft schicksalhafte Bedeu­ tung des Antinomienproblems besser verstehen zu können, gilt es zunächst, das Wesen von Antinomien weiter zu klären, indem diese 36

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Was sind Aporien?

klar von Aporien und »logischen Paradoxien« ahgegrenzt werden. Dahei können wir nicht auf der Darstellung einer bereits allgemein akzeptierten Terminologie aufbauen; vielmehr möchte ich in dieser Arbeit eine Terminologie einführen, die sich für die Klärung der Sa­ chen als dienlich erweisen wird und von der üblichen Terminologie, die Aporien, Antinomien und logische Paradoxien nicht klar oder überhaupt nicht unterscheidet, abweicht.20

1.1 Was sind Aporien? Veritatis ratio tam ampla atque profunda est ut ah hominibus comprehendi nequeat. Die Sinnfülle der Wahrheit ist so weit und tief, daß sie von Menschen nicht umfassend begriffen werden kann. Anselm von Canterbury

1.1.1 Analyse des Wesens der Aporien Aporien im strengen Sinn können durch folgende Merkmale charak­ terisiert werden. (Durch die folgende Charakterisierung deute ich auch schon die Lösung und jene Auffassung der Aporien an, die ich für die korrekte halte. Eine ausführlichere Diskussion, wie sie in die­ sem Rahmen nicht geboten werden soll, müßte auch auf viele andere Fassungen und Lösungsvorschläge des Aporienproblems kritisch ein­ gehen, die in der Geschichte der Philosophie entwickelt wurden.) 1.1.1.1 Eine Aporie im strengen Sinn setzt die - zumindest dem An­ schein nach - klare Erkenntnis zweier Wirklichkeiten oder zweier Merkmale eines Seienden voraus, z. B. der Freiheit des Menschen und seiner gleichzeitigen Kontingenz und Verursachtheit; oder der Geistigkeit des menschlichen Subjekts bzw. der menschlichen Seele und der Materialität des Körpers; oder der Existenz der Vielheit von zeitlichen Seienden und der eines einzigen, ewigen und notwendigen Absoluten.

20 Vgl. frühere Ausführungen dazu in Josef Seifert, »Das Antinomienproblem als ein Grundproblem aller Metaphysik: Kritik der Kritik der reinen Vernunft«; ders., Essere e persona, Kap. 13.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

1.1.1.2 Insofern diese beiden der Aporie zugrundeliegenden Gege­ benheiten wirklich mit Evidenz erkannt werden, wird auch die Tatsa­ che ihres Zusammenbestehenkönnens miterfaßt. In irgendeiner Weise müssen die beiden Wirklichkeiten koexistieren und Zusam­ menhängen, wenn sie tatsächlich als seiend oder bestehend erkannt werden.21 1.1.1.3 Von dieser Grundlage her offenbart sich nun der eigentliche Wesenskern der Aporie. Bei näherer philosophischer Reflexion über den Zusammenhang der beiden festgestellten Tatsachen oder Seien­ den erweist sich nämlich, daß das genaue »Wie« (im Gegensatz zum reinen »Daß«) der Verknüpfung der beiden Wirklichkeiten oder zweier Aspekte bzw. Eigenschaften einer Wirklichkeit undurchdring­ lich ist. Die Vernunft sieht sich vor eine Weglosigkeit bzw. Ausweg­ losigkeit gestellt (dies ist auch der Wortsinn des griechischen a-poria). Es sollte vielleicht hinzugefügt werden, daß die Aporie nicht durch einen bloßen Mangel an positivem Verstehen dieser Zusam­ menhänge zweier Gegebenheiten hervorgerufen wird; es liegt hier vielmehr eine Art des Nichtverstehenkönnens vor, das weitaus weiter reicht als ein bloßes Nichtwissen, welches auch angesichts zahlloser empirischer Zusammenhänge besteht. Ja noch mehr, bei einer echten Aporie geht es um eine scheinbare oder positiv gegebene »Unbegreif­ lichkeit«, die mit dem objektiven Anschein oder zumindest dem sub­ jektiven Gefühl verknüpft ist, daß die beiden erkannten oder sich, wenigstens bei erster Analyse, als seiend oder möglich ausweisenden Gegebenheiten eigentlich unmöglich vereinbar sind. Es geht also um einen »Schein der Unmöglichkeit« oder zumindest um einen ersten Eindruck, daß die beiden erkannten oder scheinbar erkannten Dinge einfach nicht zusammen bestehen können. Dieser Zug der Aporien macht es erst verständlich, warum z. B. ein Philosoph wie Parmenides nach sorgfältigem Nachdenken über die Frage, wie das reine, ewige Sein, das anfanglos bestehen muß, zur Fülle zeitlich wandelnder Din­ ge führen könne, dies als unmöglich verwirft und seine akosmistische These vertritt. Der philosophischen und terminologischen Klarheit halber muß hier festgestellt werden, daß der Terminus »Aporie« sowohl den sub­ jektiven Zustand der Ausweglosigkeit, den das Betrachten eines apo21 Vgl. dazu die unten im Text zitierte Stelle aus den Prinzipien der Philosophie, 41, von R. Descartes.

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Was sind Aporien?

retischen Zusammenhangs erzeugt, als auch dessen Objekt, den un­ durchdringlichen und scheinbar unmöglichen Zusammenhang, d. h. die auf der Objektseite liegende »Weglosigkeit« bezeichnen kann. Nur in diesem letzteren Sinn ist im folgenden der Terminus »Aporie« genommen, wenn nicht ausdrücklich auf den subjektiven Begriff Bezug genommen wird. Der subjektive Zustand der »Aporie« muß dabei noch näher be­ stimmt werden und unterscheidet sich von der bloßen Unfähigkeit und Ausweglosigkeit angesichts eines lösbaren chemischen, mathe­ matischen oder schachlichen Problems, das wir nur noch nicht gelöst haben. In diesem Fall mögen wir uns der Tatsache bewußt sein, daß wir die Lösung vorher wußten und nur vergessen haben, oder daß andere Menschen sie kennen. Eine solche momentane persönliche Unfähigkeit, ein Problem zu lösen, ist keine subjektive »Aporie« im hier gemeinten Sinne. Ebensowenig liegt eine solche vor, wenn nur wir auf Grund der eigenen individuellen begabungsmäßigen Gren­ zen ein mathematisches oder linguistisches Problem nicht lösen können. Sogar wenn alle Menschen und Physiker heute unfähig sind, die Wellen-Korpuskel-Problematik der Materie zu lösen oder einen scheinbaren Widerspruch darin erblicken, so handelt es sich bei dem Gefühl der Unlösbarkeit dieses Problems nicht um eine Aporie im hier gemeinten Sinne, da wir nicht wissen, ob diese Ratlosigkeit und Lösungsunfähigkeit in den allgemeinen Grenzen der menschlichen Vernunft oder nur in empirischen Grenzen des jetzigen Forschungs­ standes ihre Ursache hat. Der objektive Sinn der Aporien ist selbstverständlich nie rein objektiv im Sinne, daß die betreffenden »Geheimnisse« oder un­ durchdringlichen und scheinbar widersprüchlichen Zusammenhänge in sich selber so wären. Vielmehr sind wir uns einer Subjekt-Bezogenheit eines objektiven aporetischen Zusammenhangs klar bewußt. Bezogen auf unsere endliche oder auch nur auf unsere menschliche Vernunft ist der objektive Zusammenhang undurchdringlich und scheinbar unvereinbar. Wie können wir dies aber mit Recht behaupten und diese Un­ durchdringlichkeit als eine erkennen, die nicht nur von unseren ak­ zidentellen Erkenntnisgrenzen bedingt ist? Sicher können wir oft feststellen, daß ein Nichtverstehenkönnen nur akzidentell ist. So, wenn das ganze intellektuelle Niveau, auf dem sich ein schachliches oder mathematisches Problem stellt, dasselbe ist, auf dem wir bereits viele andere Probleme gelöst haben: z. B. ein Problem, in einer gege­ ^ 39

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

benen Position ein Matt in 5 Zügen zu finden. Wir wissen, daß diese Art von Problemen nicht 'prinzipiell jenseits unseres Begreifenkön­ nens liegen kann. Ähnliches gilt von zahlreichen wissenschaftlichen und mathematischen Problemen. Wie aber wissen wir, daß etwas prinzipiell jenseits unseres Ver­ stehenshorizontes liegt und vor allem, wie wissen wir, daß der An­ schein der Inkompatibilität bei näherer Betrachtung des Gegenstands nicht verschwindet? Das Wissen darum, daß wir nicht wissen und daß unser Verstand nicht allwissend ist, genügt sicher nicht, um mehr als die Möglichkeit von Aporien zu erkennen. Dennoch sind wir in der Lage, ein prinzipielles Nichtverstehenkönnen unsererseits zu erkennen. Wir können nämlich zunächst auf vielen Gebieten wis­ sen, daß etwas prinzipiell jenseits der natürlichen Fakultäten des menschlichen Erkennens liegt. So verstehen wir, daß menschliche Sehwahrnehmung durch einen Horizont begrenzt ist und nicht ins Unendliche geht und deshalb wesenhaft durch Ansichten und Aspek­ te verschiedener Art eingegrenzt ist: Zum Beispiel ist uns die Rückseite des gesehenen Gegenstands verborgen und sind uns die unendlich vielen Aspekte, die derselbe Gegenstand von unendlich vielen Blickpunkten aus bietet, nicht gleichzeitig zugänglich. Wir wissen, daß wir nicht Dinge erkennen können, die jetzt auf Millionen von Lichtjahren entfernten Gestirnen passieren, usf. Diese Erkennt­ nis unserer Grenzen entstammt nur zu einem gewissen Teil dem Wesen der Sinneswahrnehmung und hat apriorischen Charakter, in anderer Hinsicht ist sie empirisch und könnte durch irgendeine völlig unerwartete Änderung unseres Zustands oder durch technische Er­ findungen prinzipiell überwunden werden. Bei echten Aporien liegt mehr vor als derartige prinzipielle und empirische Grenzen menschlichen Wahrnehmens oder Erkennens, nämlich eine prinzipielle Grenze des Verstehens angesichts der Un­ endlichkeit, die bei vielen Aporien eine Rolle spielt, und angesichts der bei diesen meist vorliegenden besonderen Art von scheinbarer Unmöglichkeit der Zusammenhänge aporetischer Prägung, die ich in einem früheren Werk über das Leib-Seele-Problem als »natürliche Geheimnisse«22 bezeichnete: Dieser Begriff weist einerseits auf eine 22 Dieser - auf Grund verschiedener Mißverständnisse - besser durch den Ausdruck »Aporien« zu ersetzende Terminus wurde in einer früheren Arbeit eingeführt und er­ klärt: J. Seifert, Leih und Seele, S. 201-211. Die Idee der natürlichen Geheimnisse, deren Existenz wir klar erkennen, die aber sonst mit einer Unbegreiflichkeit und anscheinen­

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ähnliche Unbegreiflichkeit hin, wie wir sie in religiösen Glaubens­ mysterien finden, andererseits möchte er die Tatsache thematisieren, daß wir diese »natürlichen Geheimnisse« allein durch unsere Erfah­ rung und Vernunft, ohne Fundament in einer übernatürlichen göttli­ chen Offenbarung oder einem religiösen Glauben, erkennen können. »Natürlich« hat hier also nicht die ontologische und theologische Bedeutung dessen, was innerhalb einer gegebenen Natur liegt, im Unterschied zu dem, was prinzipiell in seinem Ursprung und seiner Werthöhe über die gegebene Natur hinausliegt und ihr gnadenhaft gegeben ist.23 Vielmehr ist »natürlich« hier ein primär epistemologischer Begriff mit einer ontologischen Ursache und weist auf solche Geheimnisse bzw geheimnisvoll-unergründlichen Aspekte der Wirk­ lichkeit hin, die nicht durch den Glauben an eine positive Selbst­ offenbarung Gottes, sondern durch die allgemeinmenschliche Erfah­ rung und durch die diese durchdringende rein rationale Erkenntnis als solche erkannt werden können. Die Immensität oder Unendlich­ keit des Gegenstandes, oder auch die besondere Natur der spezifisch aporetischen Verschiedenheit zweier Eigenschaften oder Dinge wie Geist und Körper, ist so groß, daß unser Nichtwissen direkt aus der Natur des sachlichen Zusammenhangs einerseits und unserer Er­ den Unmöglichkeit, sie zu verstehen, verbunden sind, wie die religiösen Mysterien des Glaubens, hat vor allen Newman entwickelt: J. H. Cardinal Newman, Parochial and Plain Sermons, S. 319. Man denke auch an die in mancher Hinsicht verschiedene, aber doch in unserem Zusammenhang relevante Unterscheidung Gabriel Marcels zwischen Probleme und mystere, die Gabriel Marcel z. B. in The Mystery of Being durchführt. Ein Problem ist für ihn etwas Lösbares, nach dessen Lösung das andersartige Staunen, das es erweckt, aufhört; ein Geheimnis in seinem Sinn ist etwas, das nie »gelöst« wird und angesichts dessen die Verwunderung und das Staunen zunehmen, je mehr wir es erken­ nen. Dies wird von Roger Troisfontaines, S. J., De l'Existence a l'Etre. La Philosophie de Gabriel Marcel, S. 141 und in anderen Stellen seines zweibändigen Werkes, gut dar­ gestellt. 23 Dieser Begriff von Natur versus Übernatur erweist sich schon dadurch in seiner Ver­ schiedenheit von dem unsrigen, daß das in diesem Sinne »Übernatürliche« absolut ge­ sprochen ist und nicht etwa nur im Verhältnis zu den menschlichen Erkenntnisgrenzen. Es ist das, was nicht, wie etwa Intellekt oder Freiheit, zur konstitutiven Natur des Men­ schen gehört und aus dieser erwächst. Das Problem des Verhältnisses zwischen Natur und Übernatur in diesem Sinne beherrschte die katholische theologische Debatte zwi­ schen Thomisten und Denkern des 20. Jahrhunderts wie Henri de Lubac über das Ver­ hältnis von Natur und Gnade. Während beide Seiten zugaben, daß das, was sie als Über­ natur bezeichneten, nicht einfach aus der Natur des Menschen erwächst und sich in diesem Sinne von der Natur wohl unterscheidet, vertraten de Lubac, Karl Rahner und andere die Ansicht, daß schon in der Natur eine Orientierung auf die Übernatur liege und daher nicht beide wie getrennte Welten interpretiert werden dürften.

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kenntnisgrenzen andererseits fließt und aus diesem doppelten Grun­ de 'prinzipieller und nicht bloß zufälliger und überwindbarer Natur ist. Die Aporie bzw. das »natürliche Geheimnis« des Leib-Seele­ Verhältnisses betrifft dabei nicht einfach alle Teile dieses Problems, nämlich nicht die klar gegebene Wesensverschiedenheit zwischen Leib und Seele, auch nicht die verschiedenen und klar begreifbaren Beziehungen zwischen Leib und Seele, wie sie in Sinneswahrneh­ mung, Sprache, freier Tat, leiblichem Ausdruck von Gefühlen, psy­ chophysischer Kausierung usf. vorliegen, sondern aporetisch in un­ serem strengen Sinne ist nur das letzte Wie des Übergangs zwischen Leib und Geist, das wegen seiner Unbegreiflichkeit viele Formen des Materialismus und Idealismus, die vom Bestreben beseelt waren, die­ ses Geheimnisvolle der Leib-Seele-Beziehung zu eliminieren, moti­ vierte, das aporetische Verhältnis überhaupt zu leugnen.24 Der prinzipielle Charakter der Unbegreiflichkeit einer Aporie im objektiven Sinne ist besonders deutlich bei dem Problem der Pa­ radoxien des Unendlichen, da - wie mittelalterliche Philosophen deutlich erkannten - gerade das Unendliche in jeder Form, sei es das absolut Unendliche, seien es die Unendlichkeiten innerhalb des End­ lichen, etwa jene der Teilbarkeit oder der Anzahl nach, unser Erfas­ sungsvermögen prinzipiell übersteigen. Ähnliches gilt von der von Soeren Kierkegaard analysierten Idee der Schöpfung und Verursa­ chung der in uns, endlichen Wesen, erkennbaren Freiheit. Wir sehen etwa ein, daß alle uns erreichbaren und konkret vorstellbaren Formen des Machens und Schaffens niemals ein freies Wesen hervorbringen oder mit der Freiheit des von einem menschlichem Machen ähnlichen Schaffens Erzeugten vereinbar sind. Freiheit, die wir in uns ebenso unbezweifelbar feststellen wie unsere Kontingenz und Abhängigkeit im Dasein, kann unmöglich in einem auf solche Weise Geschaffenen existieren. Gleichzeitig mit dieser Erkenntnis erfassen wir die Unend­ lichkeit und von allen menschlichen Vorstellungen unerreichbare Größe der Allmacht eines notwendig existierenden Wesens, die allein menschliche Freiheit begründen kann. Daraus ergibt sich in mehr­ facher Hinsicht eine Aporie. Wir verstehen nämlich die Natur eines Schaffens, welches das Geschaffene frei läßt, nicht. Wie kann es über­ haupt eine Macht geben, die das von ihr Geschaffene unabhängig und frei läßt? Das scheint unmöglich. Mehr noch, die Idee eines Schaffens 24

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Vgl. Josef Seifert, Leih und Seele, und auch Das Leib-Seele Problem.

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aus dem Nichts ist ein noch viel radikaleres Machen und involviert eine noch radikalere Abhängigkeit als das Hervorgehrachtwerden durch menschliche Kreativität, daher scheint diese radikale Seinsahhängigkeit noch viel unverträglicher mit menschlicher Freiheit als die Abhängigkeit von einer endlichen Ursache in der Welt wie der angeblichen Evolution.25 Und solange wir dieses Hervorhringen eines freien Wesens nach seinen menschlichen oder innerweltlichen Analogaten betrachten, scheint es uns gänzlich unmöglich, ein Schaffen der Freiheit zu begreifen. Wir ahnen oder sehen die Ungeheuerlich­ keit eines solchen alle Erfahrung und Vorstellungen übersteigenden Schaffens ein und begreifen dessen Unergründlichkeit und die prin­ zipielle Unmöglichkeit, jeden Anschein der Unverträglichkeit durch weiteres Nachdenken restlos zu überwinden. Wir finden hier nicht nur ein einfaches Nichtwissen in uns und erkennen nicht nur das Wie dieses Zusammenhangs zwischen end­ licher Freiheit und deren Ursache nicht, sondern wir wissen und er­ kennen, daß wir diesen Zusammenhang in seinem Wie niemals um­ fassend verstehen können. Und weil wir die Aporie, oder das Geheimnis in diesem Sinn, als Geheimnis rein durch unsere Ver­ nunft begreifen, nennen wir es ein »natürliches«. 1.1.1.4 Dieser »Schein der Unmöglichkeit« des Zusammenbestehens der zwei Termini einer Aporie schließt jedoch nicht aus, daß eine tiefere Analyse der Aporie, bzw der sie begründenden Wirklichkei­ ten, einen spekulativen philosophischen Lösungsversuch zuläßt. Ein gewisses Verstehen, wie die bei erster Betrachtung scheinbar unver­ träglichen Wirklichkeiten zusammenbestehen können, ist durchaus möglich. Um ein konkretes Beispiel zu nehmen: Angesichts der Aporie, in die Augustinus und Descartes beim Nachdenken über das Zu­ sammenbestehen zwischen menschlicher Freiheit und totaler Abhän­ gigkeit von der absoluten Erstursache geführt wurden, versucht z. B. Kierkegaard, nicht bei der bloßen Anerkennung des eigenen Nicht­ wissens stehenzubleiben, die sich bei Descartes in diesem Zusam­ menhang findet und die gewiß ein unentbehrliches Moment der rich­ tigen Antwort auf eine Aporie ist, worauf ich im zweiten Kapitel 25 Wie brüchig der Inhalt und die Begründung der Evolutionstheorie ist, zeigt Phillip E. Johnson glänzend in seinem Buch Darwin on Trial. Zur philosophischen Unklarheit des Begriffs vgl. auch Josef Seifert, Leib und Seele, und What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life.

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ausführlicher eingehen werde;26 Kierkegaard schreitet vielmehr zur Erkenntnis fort, daß zwischen Freiheit und Abhängigkeit von All­ macht deshalb kein Gegensatz bestehe, weil nur eine weltliche und primitive Vorstellung von Macht als totalem Unterjochen, nicht aber Allmacht, der Freiheit des Menschen entgegengesetzt sei. Allmacht allein könne sich nämlich »so leicht« machen, daß sie Freiheit ermög­ liche.27 Wir können uns an dieser Stelle nicht auf eine Begründung der Richtigkeit und Haltbarkeit dieses Kierkegaardschen Lösungsver­ suches einer konkreten Aporie einlassen, sondern nur mit Hilfe die­ ses Beispiels die Möglichkeit spekulativer Lösungen von Aporien an­ deuten. 1.1.2 Kritische Überlegungen zu verschiedenen Konzeptionen und Lösungsversuchen der Aporien Außer der bereits in dieser Kennzeichnung des Wesens der Aporie angedeuteten Antwort auf die Aporien (die der Autor dieser Arbeit für die richtige hält), seien im folgenden weitere grundsätzlich mögliche Stellungnahmen erläutert, die ein Philosoph auf eine Apo­ rie geben kann. 1.1.2.1 Eine erste mögliche und historisch oft gegebene Antwort des Philosophen auf eine Aporie leugnet die »eine Seite« bzw. den einen der zwei Tatbestände, die der Aporie zugrundeliegen. Die »Lösung« wird also dadurch angestrebt, daß das ganze Problem zum Ver­ schwinden gebracht wird. Parmenides gab diese Antwort auf die Aporie des Zusammenbestehens von Gott und Welt, indem er die Welt leugnete, Nicolai Hartmann, indem er auf Grund verschiedener Aporien Gott leugnete. Berkeley und andere Vertreter eines Spiri­ tualismus leugneten in ähnlicher Weise einen der zwei »Termini« des Leib-Seele-Problems, das auch eine typische Aporie im erörterten Sinn einschließt. Sie lehnten die Realität der Materie ab und wurden damit die Schwierigkeit los, mit der Descartes und seine Nachfolger sich plagten, wie denn eine geistige Seele mit einem materiellen Körper vereint sein könne. Man könnte ebenfalls unschwer nachwei­ sen, daß viele Formen des Materialismus von ebendemselben Motiv 26 Vgl. Rene Descartes, Prinzipien der Philosophie, 39-41. 27 S. Kierkegaard, Papirer VII, I, 141 (Übers. v. Roos in: Kierkegaard nachkonziliar, S. 49-50). Vgl. den vollen Text und seine Interpretation in Kapitel 2.

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bewegt sind; sie wollen die in der Beziehung zwischen Geist und Leih liegende Aporie auflösen, indem sie die eine Seite des Dilemmas wegleugnen, den Geist. Obwohl hier nicht behauptet werden soll, daß die Leugnung der menschlichen Seele auf derselben Stufe stehe wie die Leugnung der Wirklichkeit des Leibes, wie wir diese hei vie­ len Idealisten und Spiritualisten finden, kommen beide Positionen doch in dem Punkt überein, daß sie das »skandalon« einer Aporie vermeiden wollen, dadurch, daß eine von zwei an sich eindeutig er­ kennbaren Wirklichkeiten wegdiskutiert wird.28 Es liegt auf der Hand, daß diese Lösung des Aporienproblems nur dann zulässig ist, wenn es sich bei ihrem Ausgangspunkt um keine echten Gegebenheiten und wenigstens um keine unbezweifel­ bar gewiß erkannten Gegebenheiten handelt, im Gegensatz zu Fällen wie der erwähnten Aporie zwischen unserer Freiheit und Kontin­ genz. 1.1.2.2 Eine zweite mögliche Stellungnahme des Philosophen zu ei­ ner Aporie leugnet zwar keine der beiden in Frage stehenden Wirk­ lichkeiten, wohl aber das Problem, das in ihrer Verbindung liegt. Es gibt ein rationalistisches Vorbeireden und Vorbeisehen an diesen Ge­ heimnissen des Seins, an den aporetischen Aspekten der Wirklich­ keit. Man rückt den Problemen mit irgendeiner simplistischen Theo­ rie oder eleganten Spekulation auf den Leib und fühlt sich dabei ganz sicher, jeden Anschein einer Schwierigkeit aufgelöst zu haben. Diese Famulus-Wagnerhafte Haltung oder eine subtilere rationalistische Einstellung, die an den abgründigen Unbegreiflichkeiten der Aporien einfach vorbeisieht, ist ebenfalls weit verbreitet. Es sei gleich hier angemerkt, daß selbstverständlich eine ernst­ hafte Kritik an diesen beiden allgemeinen Stellungnahmen zum Aporienproblem oder an konkreten Lösungsversuchen einer Aporie in den beiden beschriebenen Formen erst nachweisen müßte, daß und warum es sich in einem gegebenen Fall tatsächlich um zwei klar er­ kennbare Gegebenheiten handelt, von denen keine wegdiskutiert werden darf und die keiner leichten Auflösung der Schwierigkeiten fähig sind; eine solche Kritik müßte ebenfalls zunächst begründen, daß und warum es sich im jeweiligen konkreten Fall um die bereits 28 Vgl. dazu Josef Seifert, Leib und Seele; ders., Das Leib-Seele Problem und die gegen­ wärtige philosophische Diskussion; »Sind Geist und Gehirn verschieden? Kritische An­ merkungen zu einigen Neuerscheinungen zum Leih-Seele-Prohlem«.

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beschriebene Art der »Unbegreiflichkeit« von Zusammenhängen handelt. Jetzt geht es uns jedoch nur darum, die prinzipiell möglichen verschiedenen Antworten auf Aporien darzustellen; später erst wird die konkrete Existenz solcher Aporien, wie sie auch innerhalb der Kantischen Antinomien eine Rolle spielen, aufgewiesen, und die richtige Antwort auf sie zu begründen versucht. 1.1.2.3 Eine dritte mögliche Antwort des Philosophen auf eine Aporie besteht in dem Versuch, die anscheinende Unversöhnlichkeit zweier Gegebenheiten durch die Leugnung ihrer radikalen oder schroffen Verschiedenheit zu lösen. Man verneint weder eine der beiden Seiten der Aporie, noch bietet man eine platte »Erklärung« ihres Zusam­ menbestehens an; im Gegenteil wird bei den Philosophen, die wir hier im Auge haben, ein oft grandioser Versuch unternommen, in Verkennung der letzten Verschiedenheit der beiden in Frage stehen­ den Gegebenheiten diese so lange zu deuten und umzudeuten, bis eine »Versöhnung« der Gegensätze und eine Lösung der Probleme möglich werde. Dieser Versuch liegt z. B. dem Spinozistischen philosophischen Gebäude der Zweiseitentheorie und der pantheistischen Einsubstan­ zenlehre zugrunde, in denen zwar sowohl der Unterschied zwischen physischen und geistigen Gegebenheiten als auch jener zwischen Welt und Gott in gewissem Ausmaß anerkannt wird, wobei aber zu­ gleich der letzte aufeinander nicht zurückführbare Charakter des Geistes und der Materie, bzw. des Unendlichen und Endlichen, ge­ leugnet bzw. radikal umgedeutet wird, um die »Lösung« des unter Voraussetzung des irreduziblen Wesensunterschieds und der Merk­ male der beiden Wirklichkeiten unauflösbar scheinenden aporetischen Problems zu erreichen. Der Philosoph, der außer Spinoza wohl am meisten im Zusam­ menhang mit dieser dritten Lösung von Aporien genannt werden muß, ist Hegel. Sein ganzes Denken scheint von dem Bestreben ge­ tragen zu sein, alle Unterschiede und erst recht Gegensätze so »auf­ zuheben«, daß sie sich im letzten Grunde als bloß scheinbare darstel­ len. Hegels Frühschriften zeigen einen Denker, der die klassischen Unterschiede zwischen Welt und Gott, zwischen Geist und Materie so auffaßte, als seien sie (wegen der in ihnen liegenden Aporien) absolut unvereinbar, wenn man sie nicht durch ein neues dialekti­ sches System auflöste. Dieser Versuch wird bei Hegel dahingehend durchgeführt, daß z. B. das Unendliche nicht mehr als von der kon­ 46

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tingenten Welt und der Geist nicht mehr als von der Materie letztlich verschieden bestehen bleiben, sondern dialektisch in ihr Gegenteil übergehen, darin aufgehoben und doch wieder bewahrt werden, so daß das Problem, wie ein Unendliches und das Endliche oder wie Geist und Materie Zusammenhängen, wegfällt, indem beide als letzt­ lich identisch, als Identität-in-Differenz, erklärt werden. 1.1.2.4 Eine vierte mögliche Lösung der Aporien bringt uns wieder zum Thema der Rolle der Antinomien in Kants Kritik der reinen Vernunft zurück. Aporien können nämlich auch als Antinomien ge­ deutet werden; denn man kann behaupten, daß es streng unmöglich sei, daß die beiden Termini einer Aporie zusammen bestehen, so daß die Gegebenheit eines der Glieder der Aporie notwendig die Leug­ nung des anderen einschließe. Und wenn dann noch behauptet wird, daß dennoch für jedes Glied einer Aporie ein unbestreitbar gültiger Beweis aus wahren Prämissen geliefert werden könne, faßt man diese Aporien nicht mehr als Aporien im eigentlichen Sinne, sondern als Antinomien auf. Kant deutet sie so, wie gezeigt werden soll, wenn er z. B. in der dritten Antinomie behauptet, daß Freiheit und Kausalität der Natur sich gegenseitig ausschlössen und sich zugleich gegenseitig bedingten, oder wenn er in der vierten (und dritten) Antinomie er­ klärt, daß kausale zeitliche Wirkungen eines ewigen, notwendigen und nicht in der Zeit befindlichen Wesens vom Standpunkt einer realistischen (nicht-idealistischen) Philosophie aus schlechterdings unmöglich seien - und doch seien, vom Standpunkt einer »dogmati­ schen« Philosophie aus, beide Seiten dieser Antinomie ebenso be­ weisbar wie ihre Unmöglichkeit. In der Hoffnung, die nun folgenden Thesen im weiteren Verlauf dieses Buches begründen zu können, sollen hier zwei fundamentale und sich nur scheinbar widersprechende Fehler hervorgehoben wer­ den, die unseres Erachtens den genannten Argumentationen (in der zweiten bis vierten Antwort auf Aporien) zugrundeliegen: 1. Alle genannten Antworten auf Aporien außer der oben (in 1.1.1) befürworteten enthalten ein irrationalistisches Moment, das sich in Form eines Wegleugnens von evidenten Wahrheiten offen­ bart. Parmenides leugnet die Evidenz der Welt, der Vielheit, der Zeit­ lichkeit und des realen zeitlichen Seins, das uns, jedenfalls im eigenen Bewußtsein, unbezweifelbar gegeben ist, um an der Realität des ewigen, notwendigen, anfanglosen Seins festzuhalten und die beim Festhalten beider Termini der Relation entstehende Aporie zu besei­ ^ 47

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tigen.29 Spinoza leugnet aus dem nämlichen Grund die letzte und unzurückführhare Wesensverschiedenheit von Geist und Körper, von endlichem und unendlichem Sein. Ähnliches trifft auf Hegel zu. Viele Deterministen leugnen die menschliche Freiheit, um an der Ahsolutheit Gottes festzuhalten, viele Verteidiger der Freiheit leug­ nen Gott oder das Vorherwissen Gottes, um die menschliche Freiheit zu retten. Und in all diesen Positionen hesteht der Irrationalismus im Ahstreiten ahsolut evidenter Wahrheiten. Die Beispiele ließen sich häufen; da eine kritische Analyse derselben in diesem Rahmen aher zu weit führen würde, können hier nur einige Hinweise gegehen werden.30 Der Irrationalismus in allen heschriehenen Positionen macht sich aher nicht nur im Ahstreiten evidenter Wahrheit geltend, son­ dern auch in der Behauptung von Sachverhalten, für die es entweder keinerlei Evidenz giht oder die sogar echter Evidenz widersprechen. Dies könnte man meines Erachtens z.B. für die Behauptung eines einzigen sowohl unendlichen wie endlichen Seins, hzw. einer Natur, die zugleich endlich und unendlich ist, nachweisen; oder für die Be­ hauptung einer Suhstanz, die ein einziges Suhjekt realer Eigenschaf­ ten und doch zugleich geistig und materiell, ausgedehnt und unaus­ gedehnt ist, oder auch für die Leugnung der Evidenz der Freiheit oder den Atheismus. Der Irrationalismus der inkorrekten Lösungsver­ suche des Aporienprohlems stellt jedenfalls - oh er sich in den er­ wähnten Beispielen nachweisen läßt oder nicht - evidente Erkennt­ nisse, die wir tatsächlich gewinnen können, in Frage, wohei er aher eine solche evidente Erkenntnis zugleich dort ansetzt, wo wir sie nicht hesitzen oder wo sie sogar der Evidenz klar widerspricht. 2. Das zweite Moment, das uns in diesen Theorien entgegen­ tritt, ist ein Rationalismus, eine Tendenz, »alles verstehen zu wol­ 29 Eine an Augustinus, Descartes und D. v. Hildehrand anschließende nähere philoso­ phische Analyse und Begründung dieser These versuchten wir in Erkenntnis und Back to Things in Themselves zu gehen. 30 Vgl. Augustinus, De libero Arbitrio II; und De Civitate Dei V, wo in diesem Sinne eine Lösung der mit Freiheit zusammenhängenden Aporien gehoten wird; ders., in De Civitate Dei XXI, 10, löst auch die Aporien hinsichtlich des Verhältnisses zwischen Leih und Seele in ähnlicher Weise wie nach ihm in noch expliziterer Weise J. H. Cardinal Newman in Parochial and Plain Sermons, S. 319. Diese Augustinisch-Newmansche Lösung der Leih-Seele-Aporien versuchte ich, systematisch weiterzuentwickeln. Vgl. J. Seifert, Leib und Seele, S. 186 ff., 189 ff., 208 ff., 327ff.; ders., Das Leib-Seele-Problem, S. 49ff., 126ff., 130ff., wo sich einige die hier hingestellte These konkret hegründende Untersuchungen finden.

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len«, keinerlei Geheimnis zu dulden, das die Grenzen unseres Ver­ stehens übersteigt. Kant hat diesem der Sokratischen Einsicht, daß menschliche Weisheit immer im Wissen des eigenen Nichtwissens und der eigenen Erkenntnisgrenzen ihren höchsten Ausdruck findet, zutiefst widersprechenden Glauben einen beredten Ausdruck verlie­ hen, der in geradezu verblüffender Weise die offenkundigen Grenzen menschlichen Verstehens zu verkennen scheint:31 In der Erklärung der Erscheinungen der Natur muß uns indessen vieles un­ gewiß und manche Frage unauflöslich bleiben, weil das, was wir von der Na­ tur wissen, zu dem, was wir erklären sollen, bei weitem nicht in allen Fällen zureichend ist ... Ich behaupte nun, daß die Transzendentalphilosophie unter allem speku­ lativen Erkenntnis dieses Eigentümliche habe: daß gar keine Frage, welche einen der reinen Vernunft gegebenen Gegenstand betrifft, für eben dieselbe menschliche Vernunft unauflöslich sei, und daß kein Vorschützen einer un­ vermeidlichen Unwissenheit und unergründlichen Tiefe der Aufgabe von der Verbindlichkeit freisprechen könne, sie gründlich und vollständig zu beant­ worten; weil eben derselbe Begriff, der uns in den Stand setzt zu fragen, durchaus uns auch tüchtig machen muß, auf diese Frage zu antworten, indem der Gegenstand außer dem Begriffe gar nicht angetroffen wird (wie bei Recht und Unrecht).32

Diese These Kants, die selbstverständlich im Gesamtrahmen seiner Philosophie eine gewisse Plausibilität besitzt und auch im Gesamt­ zusammenhang der eben zitierten Stelle weitere Erklärungen er­ fährt, die sie in ein anderes Licht rücken und ihr manchen wahren Kern lassen, scheint mir dennoch wenigstens zwei Irrtümer zu ent­ halten. Erstens baut sie auf die Kantischen Überzeugungen auf, daß der Gegenstand der transzendentalen Ideen (Welt, Seele, Gott) ein reines Vernunfterzeugnis sei, dem keine transzendente Realität oder auch nur eine Wesenheit zukäme, die nicht von einer schöpferischen Leistung der Vernunft abhinge.33 Zweitens stellt Kant hier die bloß 31 Das hindert natürlich nicht, daß Kant mit seiner Auffassung und Lösung des Antino­ mienproblems gleichzeitig den Rationalismus Descartes' und Leibniz' und den Empiris­ mus Humes kritisieren wollte. Zur Verteidigung dieser These vgl. Lewis White Beck, »Kant's Strategy«. Vgl. auch Lewis W. Beck, Kant Studies Today. Vgl. auch die Diskus­ sion dieser Antinomie im Licht moderner Physik und der Philosophie Whiteheads in Ivor Leclerc, »Kant's Second Antinomy, Leibniz, and Whitehead«. 32 Kant, KrV,B 505. 33 Zur Kritik dieser These vgl. Adolf Reinach, Was ist Phänomenologie?; Walter Hoeres, Kritik der transzendentalphilosophischen Erkenntnistheorie; vgl. auch Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 3-5. Vgl. auch Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis.

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vermeintlich evidente These auf, daß der Vernunft ihre eigene Tätig­ keit und alle Produkte derselben restlos einsichtig sein müßten, so als besäße der menschliche Geist absolute reflexive Selbsterkenntnis und könne sich nicht selber ein unaufgeklärtes Rätsel sein.34 Die Un­ richtigkeit dieser beiden Behauptungen muß allerdings später an­ hand der Auflösung der Kantschen angeblichen Antinomien näher begründet werden. Nach dieser kurzen Analyse der Eigenart der Aporien, die sich indirekt für die Behandlung unseres Hauptthemas als hilfreich er­ weisen soll, müssen wir uns dem letzteren selbst zuwenden und nach dem Wesen der Antinomien fragen, bevor die Kantische Behandlung der Antinomien einer eingehenden Darstellung und kritischen Prüfung unterzogen werden kann.

1.2 Antinomien In Form einer Erweiterung und Vertiefung unserer obigen kurzen Kennzeichnung des Wesens der Antinomien stellen wir die folgen­ den Merkmale fest, die für eine Antinomie im engeren Sinn wesent­ lich sind. Dieser Sinn entspricht im Grunde auch dem Kantischen, impliziert aber eine bei Kant nicht vorgefundene Differenzierung, die uns erlauben wird, Antinomien nicht bloß von Aporien, sondern auch von logischen Paradoxien deutlich abzugrenzen. Eine solche Differenzierung halte ich auch für die Klärung des Antinomienpro­ blems bei Kant und seine Lösung für unerläßlich. 1.2.1 Was ist eine Antinomie? 1.2.1.1 Antinomien gehen von Tatsachen und natürlichen Gegeben­ heiten aus, oder zumindest von Phänomenen, die sich zunächst als solche darstellen, wie z.B. Raum, Zeit, Bewegung, Kausalität, Frei­ heit usf. Damit unterscheiden sich Antinomien in unserem engeren Sinn von jenen Paradoxien, die auf bloßen Definitionen, Konstruk­ tionen oder Theorien beruhen, welche als in sich widersprüchliche Ansetzungen erwiesen werden können. (Wie wir sehen werden, er­ kennt auch Kant dieses erste Kennzeichen einer Antinomie an.)

34 Zur Kritik dieser These vgl. vor allem Max Scheler, »Idole der Selbsterkenntnis«.

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1.2.1.2 Eine Antinomie liegt nur dann wirklich vor, wenn tatsächlich zwei kontradiktorische Sachverhalte evident sind oder aus evidenten Prämissen gültig bewiesen werden hzw beide als wahr bzw. als zu­ gleich wahr und falsch erwiesen werden können.35 Der Schein einer Antinomie im strikten Sinn liegt dementsprechend dann vor, wenn es so scheint, als ob zwei kontradiktorische Thesen bewiesen werden könnten, z. B. daß Kausalität Freiheit zugleich notwendig voraussetze und notwendig ausschließe, wie Kant in der dritten Antinomie behauptet. Liegt ein schlechthin unüberwindlicher Schein der Wider­ sprüchlichkeit vor, wie Kant meint, handelt es sich um eine un­ vermeidliche und um eine - zumindest auf einer naiven philosophi­ schen Ebene - unauflösbare Antinomie. Läßt sich der Schein der Antinomie auflösen und überwinden, handelt es sich um eine schein­ bare und überwindbare Antinomie. Mit diesem Moment des An­ scheins schlechthinniger Widersprüchlichkeit unterscheiden sich An­ tinomien deutlich von Aporien, wo zunächst nur zwei schwer zu vereinende Wirklichkeiten festgestellt werden, wie Körper und Geist, Gott und Welt, Freiheit und Verursachtheit. (Wie bereits erwähnt, können Aporien auch Anlaß zur Behauptung von Antinomien geben, bzw. ein und derselbe Sachverhalt kann sowohl als Aporie als auch als Antinomie gedeutet werden. Wie wir sehen werden, deutet z. B. Kant die Beziehung zwischen Freiheit und Kausalität so, daß sich eine scheinbare Antinomie ergibt, während ich nachzuweisen suchen wer­ de, daß hier eine bloße Aporie vorliegt. Nur die zu gebende Sachanalyse kann lehren, welche dieser Deutungen korrekt ist.) Das zweite Wesensmerkmal der Antinomie im strengen Sinne wird auch von Kant verschiedentlich festgestellt, z. B. im folgenden Text: Die transzendentale Antithetik ist eine Untersuchung über die Antinomie der reinen Vernunft, die Ursachen und das Resultat derselben. Wenn wir unsere Vernunft nicht bloß, zum Gebrauch der Verstandesgrundsätze, auf Gegenstände der Erfahrung verwenden, sondern jene über die Grenzen der letzteren hinaus auszudehnen wagen, so entspringen vernünftelnde Lehr­ sätze, die in der Erfahrung weder Bestätigung hoffen, noch Widerlegung fürchten dürfen, und deren jeder nicht allein an sich selbst ohne Wider­ 35 Die Behauptung wirklicher Antinomien und ihre formallogischen Konsequenzen ver­ teidigen und entwickeln F. G. Asenjo und J. Tamburino im Aufsatz »Logic of Antino­ mies«. Die Autoren selber definieren in der Zusammenfassung ihres Aufsatzes im Philosopher's Index (1997) den Kernpunkt so: »Antinomies are formulas which are both true and false.«

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spruch ist, sondern sogar in der Natur der Vernunft Bedingungen seiner Notwendigkeit antrifft, nur daß unglücklicherweise der Gegensatz ebenso gültige und notwendige Gründe der Behauptung auf seiner Seite hat.36

Bei allen spezifischen, der Kantischen Transzendentalphilosophie entstammenden Elementen in dieser Darstellung des Wesens der An­ tinomien hält Kant doch eindeutig an demselben unterscheidenden Merkmal der Antinomie fest, das eben erörtert wurde: In rigoroser und nicht auf widersprüchlichen oder sophistischen Argumenten be­ ruhender, ja sogar in von der Vernunft für notwendig befundener Weise werden zwei kontradiktorische Thesen als evident oder bewie­ sen anerkannt. 1.2.1.3 Dabei (und das könnte man als drittes Wesensmerkmal zu­ mindest mancher Antinomien bezeichnen) ist es bei einer Antinomie im vollsten Sinn des Wortes so, daß die beiden einander widerspre­ chenden Thesen nicht aus zwei ganz verschiedenen Gegebenheiten, sondern gewissermaßen aus ein und demselben Fundament abgelei­ tet und bewiesen werden; so postuliert z. B. Kant in der dritten Anti­ nomie, daß gerade die Annahme von Kausalität nach Naturgesetzen die Annahme von Freiheit sowohl notwendig verlange als auch sie notwendig ausschließe; in ähnlicher Weise setzt bereits Zenon an, daß die Annahme der Realität der Bewegung, wenn tiefer durch­ dacht, zu deren Leugnung führe. Allerdings ist dieses Merkmal der Antinomien nicht in allen Antinomien zu finden. 1.2.1.4 Ein letztes und wichtiges Wesenskennzeichen einer echten Antinomie ist das folgende: Eine Antinomie im strikten Sinn liegt nur dann vor, wenn auch bei vollem, umsichtigem Einsatz vernünf­ tigen Denkens beide Glieder der Antinomie (These und Antithese) schlechthin evident oder zwingend bewiesen sind oder bewiesen er­ scheinen, so daß weder der Nachweis, daß auf Grund von Äquivokationen in These und Antithese gar keine Antinomie vorliegt, noch eine vernünftige »Auflösung« der Antinomie dadurch möglich ist, daß eine der beiden kontradiktorischen Thesen mit evidenten Grün­ den widerlegt oder daß der Beweis der beiden antinomischen Thesen entkräftet werden kann.37 36 Kant, KrV, B 448/9. 37 Auf Ambiguitäten und Äquivokationen in den Antinomien in der Kritik der reinen Vernunft und die Unhaltbarkeit der gänzlich verschiedenen Lösungen der mathemati­

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Antinomien

Nur wenn dieses Merkmal gegeben ist, handelt es sich um eine wirkliche Antinomie oder sogar nur um den echten unvermeidlichen Schein einer solchen. In diesem Sinne ist das vierte Merkmal als We­ sensmerkmal der Antinomie zu verstehen. Wie bei allen anderen Wesenszügen der Antinomien gilt selbstverständlich auch hier, daß diese Wesenszüge nur dann wirklich vorhanden sind, wenn es Anti­ nomien wirklich gibt, was jedoch bestritten werden soll. Wenn ich hier von »Wesensmerkmalen« spreche, so behaupte ich nicht, daß eine in sich unmögliche Angelegenheit wie eine Anti­ nomie ein echtes Wesen besitzt, ähnlich wie ja auch ein viereckiger Kreis kein Wesen besitzt. Dennoch können wir in einer Widerlegung der Möglichkeit viereckiger Kreise sagen, was auf Grund des echten Wesens von deren inkompatiblen »Elementen« (rund und viereckig) zu ihrem Wesen gehören müßte oder aus ihm folgen würde. In die­ sem Sinne nur ist hier vom »Wesen« der Antinomie die Rede. Wie Kant die oben genannten Wesensmerkmale der Antinomie feststellt, wenn auch nicht präzise genug, so legt er auch auf dieses vierte Gewicht und erklärt, daß nur dogmatische, blinde Entschei­ dungen die evidente Grundlage und Gültigkeit der Beweise für die acht kontradiktorischen Thesen innerhalb der vier von ihm behaup­ teten Antinomien in Frage stellen können. Die wichtigsten Texte dazu sind die folgenden: Es ist aber merkwürdig, daß der transzendentale Paralogismus einen bloß einseitigen Schein, in Ansehung der Idee von dem Subjekte unseres Denkens, bewirkte, und zur Behauptung des Gegenteils sich nicht der mindeste Schein aus Vernunftbegriffen vorfinden will. Der Vorteil ist gänzlich auf der Seite des Pneumatismus, obgleich dieser den Erbfehler nicht verleugnen kann, bei allem ihm günstigen Schein in der Feuerprobe der Kritik sich in lauter Dunst aufzulösen. Ganz anders fällt es aus, wenn wir die Vernunft auf die objektive Synthesis der Erscheinungen anwenden, wo sie ihr Prinzipium der unbe­ dingten Einheit zwar mit vielem Scheine geltend zu machen denkt, sich aber bald in solche Widersprüche verwickelt, daß sie genötigt wird, in kosmologi­ scher Absicht, von ihrer Forderung abzustehen. Hier zeigt sich nämlich ein neues Phänomen der menschlichen Vernunft, nämlich: eine ganz natürliche Antithetik, auf die keiner zu grübeln und künstlich Schlingen zu legen braucht, sondern in welche die Vernunft von schen und dynamischen Antinomien bei Kant (trotz deren gleichen Ursprungs) weist auch Victoria Wike hin. Vgl. Victoria S. Wike, Kant's Antinomies of Reason: Their Origin And Their Resolution.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

selbst und zwar unvermeidlich gerät, und dadurch zwar vor dem Schlummer einer eingebildeten Überzeugung, den ein bloß einseitiger Schein hervor­ bringt, verwahrt, aber zugleich in Versuchung gebracht wird, sich entweder einer skeptischen Hoffnungslosigkeit zu überlassen, oder einen dogmatischen Trotz anzunehmen und den Kopf steif auf gewisse Behauptungen zu setzen, ohne den Gründen des Gegenteils Gehör und Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Beides ist der Tod einer gesunden Philosophie, wiewohl jener allenfalls noch die Euthanasie der reinen Vernunft genannt werden könnte.38

Es scheint unnötig, diesem klaren Text einen weiteren Kommentar hinzuzufügen. Statt dessen sei zur weiteren Erläuterung eine andere Kant-Stelle wiedergegeben: Ein dialektischer Lehrsatz der reinen Vernunft muß demnach dieses, ihn von allen sophistischen Sätzen Unterscheidendes, an sich haben, daß er nicht eine willkürliche Frage betrifft, die man nur in gewisser beliebiger Absicht auf­ wirft, sondern eine solche, auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Fort­ gange notwendig stoßen muß; und zweitens, daß er, mit seinem Gegensatze, nicht bloß einen gekünstelten Schein, der, wenn man ihn einsieht, sogleich verschwindet, sondern einen natürlichen und unvermeidlichen Schein bei sich führe, der selbst, wenn man nicht mehr durch ihn hintergangen wird, noch immer täuscht, obschon nicht betrügt, und also zwar unschädlich ge­ macht, aber niemals vertilgt werden kann.39

Hier bemerkt Kant zu Recht, daß man nur wenn die beiden wider­ sprechenden Thesen einen »natürlichen und unvermeidlichen Schein bei sich führen« von einer »Antinomie« reden kann. Weniger ein­ leuchtend ist seine psychologisierende Bemerkung, es müsse sich um eine Schwierigkeit bzw. um einen Widerspruch handeln, welcher »nicht eine willkürliche Frage betrifft, die man nur in gewisser belie­ biger Absicht aufwirft, sondern eine solche, auf die jede menschliche Vernunft in ihrem Fortgange notwendig stoßen muß«. Denn was soll die Unvermeidlichkeit des auf eine Frage Stoßens damit zu tun ha­ ben, daß die Frage sich auf ein grundlegendes Datum bezieht und erst recht damit, daß sie einen scheinbar unvermeidlichen Widerspruch in der Wirklichkeit selbst einschließt? Nur darauf aber, als jenes uner­ läßliche Merkmal der Antinomie, auf das Kant hier wohl letztlich, wenn auch in unklarer Weise, mit Recht abzielt, kommt es wirklich an. 38 KrV, B 433-434. Hier, wie bei den übrigen Zitaten aus der Kritik der reinen Vernunft wurde jene Lesart gewählt, die u.E. den besten Sinn ergibt, anstatt einer einzigen Aus­ gabe der KrV sklavisch zu folgen. 39 KrV, B 449-450.

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ALBER PHILOSOPHIE

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Antinomien

Um das Antinomienproblem in der Form, in der Kant es auf­ wirft, und um seinen Lösungsversuch kritisch untersuchen zu können, wird es dienlich sein, zunächst eine knappe Darstellung von fünf prinzipiell verschiedenen möglichen Antworten eines Philoso­ phen auf das Antinomienproblem zu bieten und dabei Kants Position einzuordnen.40 Die ersten vier der folgenden fünf Antworten gehen von der Überzeugung aus, oder schließen dieselbe wenigstens ein, daß es Antinomien tatsächlich gibt. 1.2.2 Fünf verschiedene Antworten von Philosophen auf Antinomien 1.2.2.1 Nimmt man an, daß es Antinomien wirklich gibt, kann man den skeptischen Schluß ziehen, daß unser Erkennen ein hoffnungs­ loses, sich in radikalste und fatale Widersprüche verwickelndes Un­ terfangen ist, in dem es keine Aussicht auf Gewißheit und Wahr­ heitserkenntnis gibt. Unsere Vermutung, daß es (neben anderen Gründen) diese Antwort auf Antinomien ist, die der Skepsis Pyrrhos und seiner Schule zugrundeliegt, müßte untersucht werden.41 Jeden­ falls deutet Kant im vorletzten der zitierten Texte aus der Kritik der reinen Vernunft (B 433-B 434) an, daß die Skepsis eine mögliche Reaktion auf die Existenz von Antinomien ist. 1.2.2.2 Man kann auch den Schluß ziehen, daß die betreffende Gege­ benheit, in der eine Antinomie gründet, ein bloßer Schein ist, und zwar eine besondere Art des Scheins: ein in sich widersinniger Schein. Dies ist etwa Zenons Antwort auf die von ihm behaupteten Antinomien; es ist auch Kants Lösung der beiden ersten, von ihm als »mathematische« bezeichneten Antinomien, die er bekanntlich da­ hingehend aufzulösen sucht, daß sowohl die These, z. B. daß die Welt keinen Anfang in der Zeit habe, als auch die Antithese, daß sie einen habe, falsch sei, weil diese einander widersprechenden Thesen eine gemeinsame falsche Annahme machten, nämlich die einer in sich bestehenden Welt, die entweder einen zeitlichen Anfang oder keinen zeitlichen Anfang haben müsse. Dies sei aber eine in sich falsche und 40 Diese dürfen nicht mit den oben erwähnten Antworten auf das Aporienproblem ver­ wechselt werden. 41 Vgl. Ugo Toscano, »Storia e logica nello scetticismo greco«. Vgl. auch Giovanni Reale, Ipotesi per una rilettura della filosofia di Pirrone di Elide.

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widersinnige Annahme und deshalb seien beide kontradiktorischen Thesen, insofern sie die notwendige Voraussetzung einer an sich sei­ enden Welt machten, falsch. (Kant erklärt damit zwar nicht die er­ fahrbare Welt, wohl aber die den kosmologischen Ideen entsprechen­ de Welttotalität für einen bloßen widerspruchsvollen Schein.) 1.2.2.3 Man kann viertens zur Überzeugung gelangen, daß es sich beim Ausgangspunkt einer Antinomie in Wirklichkeit um zwei ganz verschiedene Ebenen handle. Deshalb seien beide (anscheinend) kon­ tradiktorischen Urteile wahr, weil sie eben in letzter Analyse nicht kontradiktorisch seien, sondern sich auf zwei verschiedene Welten, Gegebenheiten oder metaphysische Ebenen bezögen. So meint Kant, die Lösung der dritten und vierten - von ihm als »dynamische« bezeichneten - Antinomien sei darin zu sehen, daß sich die These, dergemäß die Freiheit bzw. ein notwendiges Sein anerkannt werden müsse, auf die Sphäre des »Dinges an sich« (die noumena), die Anti­ these hingegen, die die Freiheit (dritte Antinomie) bzw. eine absolut notwendige Existenz (vierte Antinomie) verwirft, auf die Welt der Erscheinungen beziehe. Kant verteidigt hier also die »metaphysi­ sche« Seite des Paares kontradiktorischer Urteile als wahr für das Ding an sich, die antimetaphysische als wahr für die Welt der Er­ scheinungen.42 Beide »kontradiktorischen« Thesen der Antinomie seien also wahr, und seien nur dem - allerdings unausrottbaren Scheine nach entgegengesetzt, weil sie sich, wie eine tiefere Analyse zeige, auf Verschiedenes bezögen. 1.2.2.4 Man kann, viertens, aus der Anerkennung von Antinomien den Schluß ziehen, daß unser verstandesmäßig-logisches Seinsver­ ständnis falsch oder zumindest begrenzt und oberflächlich sei; daß wir aus der Existenz der Antinomien nicht auf ein Ungenügen unse­ res Denkens, sondern auf eine prinzipiell den Erwartungen des Ver­ standes zuwiderlaufende Seins- oder Wirklichkeitserfassung schlie­ ßen müßten. Das Sein selbst schließe eben die Aufhebung des Widerspruchsprinzips in sich ein. Die nicht dem logischen Verstand, sondern nur der höheren Vernunft zugängliche dialektisch sich wi­ 42 Eine originelle und provokative Kant-Interpretation behauptet, es gehe bei der jewei­ ligen These der antinomischen Beweise Kants nicht um die »metaphysische« oder Leibnizianische Seite, wie Kant selber nahelegt und wir hier voraussetzen. Vgl. Sadik Jalal Al-Azm, The Origins ofKant's Arguments in the Antinomies.

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Antinomien

dersprechende Wirklichkeitsverfassung spiegle sich in den Antino­ mien wider. Hier dürfen Hegels und, in verschiedener Form, Marx' Auffassungen hzw. Lösungen des Antinomienprohlems eingeordnet werden. An dieser Stelle wird auch deutlich, wie die sogenannte dia­ lektische Methode und die Philosophie der Dialektik in dieser vierten Antwort auf das Antinomienprohlem eine Hauptwurzel hat.43 1.2.2.5 Die fünfte und radikal von den vorigen verschiedene Antwort auf die Antinomien hesteht in dem Versuch nachzuweisen, daß sich vor dem kritischen Denken gar keine echten Antinomien ausweisen, hzw. daß eine tiefere Erkenntnis der sich als Antinomien ausgehen­ den Dialektik zeigt, daß es sich dahei in jedem einzelnen Fall um eine hloß scheinbare Antinomie handelt, die - vielleicht in jeweils dem Einzelfall entsprechender verschiedener Weise - aufgelöst werden kann. Derartige Lösungen der scheinharen Antinomien können wie­ derum zumindest die drei folgenden »Formen« hesitzen: 1.2.2.5.1 Man kann auf Grund des letztevidenten Charakters des Wi­ derspruchsprinzips, das sowohl als Seinsprinzip als auch als ein oherstes Grundprinzip der Logik aufzuweisen wäre,44 von der a priori gegehenen Unmöglichkeit echter Antinomien ausgehen. Daher könnte man in dem Fall, wo es uns auf Grund der Schwierigkeit und Tiefe des (eine scheinhare Antinomie hegründenden) Ohjekts un­ möglich ist zu erkennen, welche »Seite« der Antinomie im Recht ist, dieses Nichtwissen in sokratischer Weise eingestehen. Man könnte sich dahei zugleich mit Recht auf das Wissen herufen, daß von zwei kontradiktorischen Urteilen, für die jeweils viele, aher letztlich un­ genügend evidente Gründe sprechen, nur eines wahr sein kann. Zieht man zusätzlich die ohjektive Evidenz des Prinzips vom ausgeschlos­ senen Dritten heran, so läßt sich ehenfalls hegründetermaßen ein­ sehen, daß von den heiden kontradiktorisch entgegengesetzten Sät­ zen einer mit Gewißheit wahr, der andere falsch sein muß, es sei denn, heide machten eine falsche Voraussetzung und seien daher nicht wirklich kontradiktorisch, in welchem Falle sie (wie in der 43 Zu einer interessanten Begründung der Unintelligihilität der Hegelschen Dialektik im Zusammenhang mit dem Antinomienprohlem vgl. Lorenz Puntel, »Läßt sich der Begriff der Dialektik klären?«. 44 Vgl. die im Rahmen der Aporien-Diskussion und Einleitung gegehenen Hinweise auf Aristoteles, E. Husserl und A. Pfänder, von denen dieser Nachweis erhracht wurde.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

Kantschen Interpretation der dynamischen Antinomien) beide falsch sein könnten. Auf Grund der Evidenz des Widerspruchsprinzips sowie des Prinzips vom ausgeschlossenen Dritten könnte man an dieser Lösung durchaus als an der richtigen festhalten, auch wenn es faktisch oder prinzipiell unmöglich wäre, den Streit zwischen den für die These und den für die Antithese sprechenden Gründen zu einer positiven Entscheidung zu bringen. Es würde sich hier um eine Art der Aporie handeln, die von der eingangs skizzierten verschieden und durch eine besondere Perplexität bzw. Ausweglosigkeit gekennzeichnet ist, wie sie sich aus unserer Unfähigkeit ergibt, uns für eine von zwei kon­ tradiktorisch entgegengesetzten Thesen, für die jeweils gewichtige Gründe sprechen, zu entscheiden bzw. zu erkennen, welche von den beiden widerstreitenden Sätzen wahr ist. Warum Kant diese Antwort auf das Antinomienproblem prinzi­ piell ablehnt, haben wir bereits gesehen und mit dem Zitat einer Stelle aus der Kritik der reinen Vernunft (B 505) belegt. Kant leugnet jedes Nichtwissen in bezug auf Probleme, deren Ursprung rein in der Sphäre apriorischer Erkenntnis liegt, ohne Beimischung irgendwel­ cher empirischer Momente. Der Grund für diese prinzipielle Weige­ rung Kants, in solchen Fragen das eigene Nichtwissen zuzugestehen, bricht jedoch zusammen, wenn man nicht mit Kant die Vernunfterzeugtheit der (a priori notwendigen) Gegenstände annimmt, in de­ nen scheinbar Antinomien gründen. Sind es nämlich objektive und in sich selber notwendige, unserem Geist transzendente Wesenheiten (von Zeit, Bewegung, Kausalität, Freiheit, Gott usf.), in denen scheinbare Antinomien ihren Ursprung haben, läßt sich das bereits kritisierte Prinzip Kants selbstverständlich nicht anwenden, daß nämlich alle Antinomien, da sie angeblich in rein von der Vernunft erzeugten Gegenständen gründeten, auch von der Vernunft restlos auflösbar sein müßten. (Auf eine zweite Kritik dieses Prinzips, die selbst bei der Annahme der Subjektivität und des transzendentalen Ursprungs des Apriori Gültigkeit besitzt, wurde bereits oben hinge­ wiesen.) An dieser Stelle muß übrigens auch kritisch angemerkt werden, daß Kant selber den Grund seiner Ablehnung des Zugeständnisses eines sokratischen Nichtwissens eigentlich nur auf die beiden mathe­ matischen, nicht auf die dritte und vierte (dynamische) Antinomie anwenden dürfte. Denn nach seiner eigenen Meinung geht es bei diesen Antinomien nicht ausschließlich um Erscheinungen, sondern 58

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Antinomien

auch um einen transzendentalen Bereich des Dings an sich, der weder von der Vernunft hervorgehracht und erzeugt noch dieser restlos oder üherhaupt intelligihel ist. Deshalh dürfte gerade Kant nicht prinzipiell die Möglichkeit des Nichtwissens der richtigen Lösung dieser Antinomien ausschließen. 1.2.2.5.2 Eine zweite, die Existenz wirklicher Antinomien ahlehnende Antwort auf dieselben hestünde in dem konkreten Nachweis, welcher der beiden antinomisch entgegengesetzt scheinenden Sachverhalte wirklich besteht, und welcher nicht. Man könnte einen solchen Auf­ weis durch eine Untersuchung der jeweiligen Evidenz oder Beweis­ barkeit der zwei entgegengesetzten Thesen einleiten. Eine solche kri­ tische Untersuchung müßte dann die Ungültigkeit oder das Fehlen echter Evidenzgrundlagen des Beweises der einen These, und - in einem weiteren Schritt - die Gültigkeit und evidente Fundierung des Beweises der zweiten These erhellen. Damit nicht genug, müßte die Wahrheit oder Falschheit wenigstens einer der beiden antinomischen Thesen aufgewiesen und daraus der entgegengesetzte »Wahrheits­ wert« der kontradiktorischen These erschlossen werden (da ja auch für wahre Thesen logisch ungültige Argumente und für falsche The­ sen logisch gültige »Beweise«, die falsche Konklusionen logisch kor­ rekt aus falschen Prämissen ahleiten, möglich sind).45 Das philosophi­ sche Ideal dieser Art von Auflösung einer Antinomie ist jedoch erst dann erfüllt, wenn sowohl die These als auch die Antithese unahhängig von einander in ihrer Wahrheit hzw. Falschheit evident gemacht werden und zugleich die Gültigkeit oder Ungültigkeit der verschiede­ nen Beweise erkannt wird. Zumindest eine der beiden Hauptphasen einer derartigen Untersuchung (Erkenntnis bzw. Evidentmachung der Wahrheit oder Falschheit einer der beiden antinomischen Thesen) müßte erfolgreich abgeschlossen werden. Gelingt es, ein solches Er­ gebnis zu erzielen, so wird eine echte Lösung der Antinomie bzw. eine vollkommene Auflösung des reinen Scheins erreicht, daß im gegebe­ nen Fall eine wirkliche Antinomie bestehe. Kant erkennt diese Lösung zwar für andere, z. B. für die Zenonischen, nicht aber für die von ihm 45 Man denke an das Pfändersche Beispiel in seiner Logik: Alle Chinesen sind große Philosophen Kant ist ein Chinese Also ist Kant ein großer Philosoph. Beide Prämissen sind hier falsch, die Schlußform (Barbara) gültig, und dennoch die Konklusion wahr.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

selbst behaupteten vier Antinomien in der transzendentalen Dialek­ tik der Kritik der reinen Vernunft an.46 Die Möglichkeit und Rechtfertigung einer solchen Lösung gerade auch für die Kantischen Antinomien soll später, insbesondere anhand der dritten Antinomie, nachgewiesen werden. 1.2.2.5.3 Eine weitere Art der Auflösung der Antinomien als bloß scheinbarer bestünde in dem Nachweis, daß nur eine künstliche An­ setzung einer in sich widersprüchlichen Fiktion an einer gegebenen Antinomie schuld ist, nicht aber die objektive Eigenart des in Frage stehenden Sachbereichs. Dann läge - nach der hier einzuführenden Terminologie - keine (auch nur scheinbare) Antinomie, sondern eine »logische Paradoxie« vor. Auch diese Lösung wird einen Teil unserer Antwort auf die dritte Kantische Antinomie bilden, deren objektive Begründetheit im Wesen von Kausalität und Freiheit als bloßer Schein erwiesen werden soll. Gleichzeitig soll deutlich gemacht wer­ den, daß die Kantische Formulierung des Kausalitätsprinzips unrich­ tig ist und daß dieselbe sowie das daraus resultierende Mißverständ­ nis der Freiheit tatsächlich zu einer unauflösbaren Antinomie führen. Da diese Antinomie aber nicht im objektiven Wesen der Din­ ge, sondern in einer gänzlich willkürlichen Ansetzung des Wesens von Kausalität gründet, handelt es sich nicht mehr um eine echte Antinomie in unserem Sinne, sondern um eine bloße logische Anti­ nomie oder logische Paradoxie in der gleich zu erörternden Bedeu­ tung dieses Terminus. Die Begründung für diese Behauptung werden wir noch betrachten.

1.3 Logische Paradoxien 1.3.1 Was ist eine logische Paradoxie? Bereits aus den vorangehenden Überlegungen und Andeutungen er­ gibt sich, daß das Antinomienproblem nur dann richtig gesehen und kritisch untersucht werden kann, wenn die Eigenart echter (wirk­ licher oder scheinbarer) Antinomien nicht mit jener der sogenannten »logischen Paradoxien« verwechselt wird. Die Analyse und Unter46 Vgl. KrV, B 433, 434; 449-450; 452-453.

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Logische Paradoxien

Scheidung dieser beiden Phänomene wird von grundlegender Bedeu­ tung sowohl für die Darstellung als auch für die Kritik der Kantischen Behandlung des Antinomienprohlems sein. »Logische Paradoxien« in unserem Sinne ähneln äußerlich An­ tinomien, unterscheiden sich von diesen jedoch in entscheidender Weise, wie die folgenden Merkmale zeigen. Eine genauere Analyse der logischen Paradoxien würde zeigen, daß es ganz verschiedene Arten derselben gibt. Manche von ihnen sind einfach dadurch sinnlose Sätze, daß sie entweder in ihrer Struk­ tur selbst oder hinsichtlich der von ihnen logisch geforderten »zwei­ ten Gedanken« hzw. Bedingungen bestimmte Regeln einer »rein lo­ gischen Grammatik« verletzen und keine eigentlichen Gedanken ausdrücken, wie z. B. das Urteil: »Der Satz auf S. 120 dieses Buches ist falsch«, wobei es auf dieser Seite nur diesen Satz gibt, oder: »Die­ ser Satz ist falsch«, ohne daß ein zweites Urteil da wäre, auf das sich dieses Wahrheitsurteil bezöge. Es gibt aber auch »logische Parado­ xien«, die Antinomien sehr ähnlich sind und scheinbar unausweich­ lich zu unauflösbaren Widersprüchen führen ähnlich denen, die oben im Rahmen der Antinomiendiskussion erörtert wurden. So etwa das berühmte »Lügner-Paradox« des Kreters, der sagt, daß alle Kreter immer lügen. Daraus folgt, daß er - falls er lügt - die Wahrheit seiner Aussage zugleich bestätigt und zugleich widerlegt, und falls er die Wahrheit sagt, zugleich den Inhalt seiner Aussage widerlegt. Ähnli­ che Paradoxe folgen aus Definitionen wie der »jener Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten«, wenn man die Frage stellt, ob diese Menge zu jenen gehört, die sich nicht selbst als Element enthalten. Unter diese Art von »logischen Paradoxien« gehören einerseits »logische Antinomien«, die in allen Punkten den oben erörterten »Antinomien« ähnlich sind, auch darin, daß sie von unvermeidlichen »natürlichen« Gegebenheiten wie »Zahl«, »Menge« oder »beschrei­ ben« ausgehen. Sie werden »logisch« genannt, weil sie von Begriffen oder mathematischen und logischen Kategorien im Gegensatz zu an­ deren Gegebenheiten ausgehen. Ihre Behandlung in einem späteren Werk wird also die Diskussion der Antinomien fortsetzen, und ich würde sie als (scheinbare) »logische Antinomien« im Gegensatz zu »logischen Paradoxien« im engeren, hier gebrauchten, Sinn bezeich­ nen. Nur um die Eigenart dieser letzteren geht es uns an dieser Stelle, und wir wollen versuchen, sie darzulegen:

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

1.3.1.1 Anstatt von wirklichen oder auch nur »natürlichen« Gege­ benheiten (etwa von Bewegung, Zeit, Raum, Freiheit, Kausalität usf.) auszugehen, gründen logische Paradoxien in willkürlichen und sich bei näherer Analyse als in sich widerspruchsvoll erweisenden Defini­ tionen oder theoretischen Ansetzungen. Auch Kant unterscheidet lo­ gische Paradoxien in diesem Sinne der Sache (nicht dem Namen) nach von Antinomien.47 Beispiele mögen diesen Punkt illustrieren. Im berühmten »Bar­ bier von Sevilla«-Paradoxon wird künstlich angesetzt, es sei möglich, daß ein Einwohner von Sevilla buchstäblich alle Männer dieser Stadt rasiere, die sich nicht selbst rasieren, und zugleich nur jene, die sich nicht selbst rasieren.48 Sowie man die künstliche Annahme dieses willkürlich angesetzten Sachverhalts macht, ergibt sich, daß diese Annahme bei Anwendung auf den Barbier selbst eben wider­ sprüchlich ist, müßte er sich ja gerade dann rasieren, wenn er sich nicht selbst rasiert, und dürfte er sich zugleich eben dann nicht rasie­ ren, wenn er sich selbst rasiert. Auch im berühmten Beispiel aus der Mengenlehre, wo die »Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als ein Element enthalten« gesucht wird, und in ähnlichen Fällen könnte gezeigt werden,49 daß der in diesen Definitionen entworfene Sach­ verhalt durchaus künstlich und widerspruchsvoll ist, und daß er, wor­ auf es uns hier vor allem ankommt, weder in der Wirklichkeit ange­ troffen noch auch nur in seiner Möglichkeit ausgewiesen wird. Dort sollen folgende Sachverhalte nachgewiesen werden: 1. Der Begriff des »sich selbst Enthaltens« einer Menge als Ele­ ment ihrer selbst ist ein absurder, weil eine Menge zwar mit sich identisch sein, unmöglich aber, um mit Alexius Meinong zu spre­ chen, ihr eigenes Inferius sein kann. Das Verhältnis des Elements zur Menge, deren Element es ist, ähnlich wie des Teiles zum Ganzen, schließt ein Verhältnis der Unterordnung (inferius) und Überord47 Vgl. KrV, B 449-450. 48 Lewis Carroll erfand dieses Paradox und es wird von Russell erörtert in Bertrand A. W. Russell, Alfred North Whitehead, Principia Mathematica. Dabei hält Russell die­ ses Paradox für ein Pseudo-Paradox (ein logisches Paradox in unserem Sinne), weil es sich durch Klärung auflösen läßt, während er unter echten Paradoxien, etwa denen der Mengenlehre, so etwas wie logische Antinomien versteht. Vgl. A. W. Burks, I. M. Copi, »Lewis Carroll's Barber Shop Paradox«. Vgl. auch James Moulder, »Is Russell's Paradox Genuine?«. 49 Dies soll in einem weiteren Buch über Aporien, Antinomien und logische Paradoxien geschehen.

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Logische Paradoxien

nung (superius) ein, was die Vorstellung als sinnlos erweist, daß et­ was sein eigener Teil oder daß eine Menge ihr eigenes Element sei. Darauf haben neben Meinong viele andere Autoren und Kritiker der Russellschen Typentheorie hingewiesen.50 Vor allem sei hier auf A. Meinongs philosophisch besonders gründlich durchgeführte Un­ tersuchung dieses Punktes hingewiesen. 2. Das, was dem Begriff der »Menge einer Menge, die sich selbst als ein Element enthält« oder »... die sich nicht selbst als ein Element enthält« an sinnvollen Gedanken zugrundeliegt, hat ebenfalls Mei­ nong scharfsinnig ausgeführt. Es ist nämlich möglich, daß eine Men­ ge M (oder eine Klasse) ein Element einer Menge M 1 sein kann, die nicht nur die Menge M, sondern auch die Elemente der Menge M 1 als Elemente in sich enthält; es ist überdies möglich, daß der die Menge M 1 konstituierende Gesichtspunkt, bzw. die inhaltliche Be­ stimmung, die zur Bildung der Menge M 1 führt (z. B. das eine gera­ de oder ungerade Anzahl von Elementen Besitzen einer Menge, oder einer »Menge von Mengen«), nicht bloß die Zusammenfassung der Elemente der Menge M in M 1, sondern auch die Zusammenfassung der Menge M mit ihren Elementen in der neuen Menge M 1 gestat­ tet. (Zum Beispiel könnte die Menge einer bestimmten Anzahl ande­ rer Mengen, die eine ungerade Anzahl von Elementen haben, selber eine ungerade Anzahl von Elementen besitzen und daher die Bildung einer Menge M 1 gestatten, die unter demselben Gesichtspunkt wie die Menge M gebildet würde, nun aber zusätzlich diese als Element enthält.) Damit ergibt sich auch, daß man innerhalb der Mengen einen Unterschied zwischen solchen, die zusammen mit ihren Elementen im angegebenen Sinn in einer Menge M 1 zusammengefaßt werden, und solchen, die nicht solcherart zusammengefaßt werden können, machen kann. 3. Wenn die auf der an sich absurden Vorstellung des »sich selbst Enthaltenkönnens« basierenden Begriffe der »Menge aller Mengen, die sich selbst als Element enthalten« oder der »Menge aller Mengen, die sich nicht selbst als Element enthalten« in dieser von Meinong vorgeschlagenen Weise sinnvoll gedeutet werden, so bleibt auch auf dieser Ebene neugewonnener philosophischer Klärung die entschei­ dende Frage bestehen, nämlich: Gibt es »zur Menge aller Mengen«, 50 Vgl. etwa Paul Weiss, »The Theory of Types«; Alexandre Koyre, »Manifold and Category«.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

die in der erwähnten Weise samt ihren eigenen Elementen Elemente einer neuen Menge M 1 werden können, die unter demselben Ge­ sichtspunkt zusammengefaßt ist wie die Menge M, wiederum eine neue Menge M 2, die die Menge M 1 in ähnlicher Weise enthält, usf.? Nun scheint diese Frage erstens nicht sinnvoll zu sein, weil der Gesichtspunkt, unter dem die Menge M (Menge aller Mengen, zu denen es eine Menge M 1 im erörterten Sinn gibt) gebildet ist, kei­ neswegs genügt, um diese Frage sinnvoll stellen bzw. beantworten zu können. Es ist darum ähnlich wie um eine andere bekannte angeb­ liche Antinomie bestellt, die sich aus Aussagen wie den folgenden ergeben soll: »Der Satz, den ich jetzt ausspreche, ist falsch«, ohne daß da ein zweiter Satz vorhanden wäre, auf den dieser sich bezöge; oder: »Der Satz auf S. 250 dieses Buches ist falsch« (wobei dieser Satz selbst als einziger auf S. 250 des betreffenden Buches zu lesen steht). Angeblich ergibt sich daraus dieselbe Antinomie, die die Alten in viel sinnvollerer Weise im Lügner-Paradox formuliert hatten, daß diese Urteile nämlich gerade dann falsch sein müssen, wenn sie wahr sind, und umgekehrt. Während dies im Lügner-Paradox tatsächlich der Fall ist, aber, ähnlich wie beim Widerspruch der Wahrheitsleugnung oder des Relativismus, darin seinen Grund hat, daß diese Aussagen in sich widersinnig sind (eben weil die Annahme, daß man zugleich die Wahrheit sage und immer lüge, oder die Annahme, daß es keine Wahrheit gibt, in sich widersprüchlich und widersinnig sind), trifft dies auf die oben angeführten Sätze nicht zu.51 Diese sind nämlich schlechthin sinnlos, nicht widersinnig, und zwar deshalb, weil bei einem einzigen Urteil, das nichts als seine eigene Wahrheit oder Falschheit zum Gegenstand hat, die Voraussetzung für seinen Sinn fehlt. Denn ein Urteil über Wahrheit oder Falschheit ist ausschließ­ lich dann sinnvoll, wenn ein zweites Urteil bzw. irgendeine andere Aussage vorhanden ist außer jener, die Falschheit (oder Wahrheit) feststellt. Ein Wahrheitsurteil (oder Urteil über Falschheit) verlangt immer ein anderes Urteil, über das ausgesagt wird. Da diese notwen­ dige Voraussetzung für den Sinn einer Wahrheitsaussage in den er­ wähnten Beispielen fehlt, sind diese in bestimmtem Sinne sinnlos. Ähnliches muß auch über die Menge M X, die bloß dadurch be­ stimmt wird, daß sie als ihre Elemente andere Mengen enthält, die 51 Hartshorne versucht, die Prozeßphilosophie als geeigneten Weg der Überwindung des Antinomienproblems zu sehen, weil sie Relativität (und Widerspruch) zulasse. Vgl. Charles Hartshorne, »Present Prospects for Metaphysics«.

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Logische Paradoxien

sich nicht für die Bildung einer neuen, natürlichen Menge M 1 im oben ausgeführten Sinn eignen, gesagt werden. Denn auch hier fehlt in analoger Weise jede sinnvolle Unterlage für die Frage, ob sich für diese Menge eine Menge M 1 bilden lasse oder nicht. Auf die Gründe dieses Umstands kann hier nicht eingegangen werden. 4. Durch die erwähnten Klärungen läßt sich die Russellsche An­ tinomie auflösen bzw. manche Elemente derselben als Frage, deren notwendige Sinnvoraussetzung fehlt, andere Versionen dieser Anti­ nomie als logische Paradoxien im oben angegebenen Sinne erweisen. 5. Die von Russell vorgeschlagene Typentheorie, welche die »Selbstanwendung« einer These und ähnliches verbietet, könnten wir als unhaltbar erweisen. Denn während in vielen Fällen (z.B. dem Barbier-Paradox Lewis' und Russells)52 das Sich-selbst-Ausnehmen einer These oder eines Sprechenden vom Inhalt der These her berechtigt und natürlich ist, gibt es viele absolut allgemeine und notwendige Prinzipien, bei denen ein Verbieten der sogenannten »Selbstanwendung« zur Unterminierung allen Sinnes führt (z. B. im Falle des ontologischen und logischen Widerspruchsprinzips). So müssen z. B. die obersten logischen Prinzipien, wie das des Wider­ spruchs, oder die Aussage über das Wesen des Urteils selbstredend auch auf diese selbst anwendbar sein. Denn wenn z.B. das Wider­ spruchsprinzip selbst gleichzeitig wahr und falsch sein könnte und nicht sein Gegenteil ausschlösse, wäre der Sinn auch aller übrigen Urteile zerstört. Russells Typentheorie müßte kritisch untersucht werden, und eine solche Untersuchung würde zeigen, daß sie eine von begrenzten korrekten Beobachtungen ausgehende - willkürliche, unnötige und letztlich sogar widersinnige »Lösung« des Antino­ mienproblems ist. Es handelt sich beim Ausgangspunkt logischer Paradoxien in unserem strikten Sinne also gerade nicht um natürliche Gegebenhei­ ten oder Elemente der Welt, deren tatsächlicher Bestand oder auch nur deren Möglichkeit vom natürlichen Menschen oder vom ver­ nünftig Denkenden fraglos angenommen wird oder sich auch nur als möglich erweist. Vielmehr handelt es sich um willkürlich ange­ 52 Das Paradox des Barbiers einer Stadt (von Sevilla) besteht, wie oben erwähnt, darin, daß dieser ankündigt, er rasiere alle (und nur jene) Männer in einer Stadt (Sevilla), die sich nicht selbst rasieren, und deshalb, wenn man die Aussage auf ihn anwendet, sich selbst rasieren muß, wenn er sich nicht rasiert, und sich nicht rasieren darf, wenn er sich selbst rasiert. Vgl. von den vielen Werken, die sich mit dem Paradox des Barbiers be­ schäftigen, z.B. Pierre H. Conway, »The >Barber< Paradox«.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

setzte und bei näherer Analyse sich als in sich widersprüchlich erwei­ sende Fiktionen. 1.3.1.2 Unter Voraussetzung solcher künstlicher Fiktionen, wie sie logischen Paradoxien (im Unterschied zu den »logischen Antino­ mien« in unserem Sinn) zugrundeliegen, ergeben sich allerdings mit Notwendigkeit zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte; beide können aus derselben Annahme bewiesen wer­ den. Die Gültigkeit der Schlußfolgerung von zwei einander kontra­ diktorisch entgegengesetzten Thesen aus denselben Prämissen läßt sich dabei nicht in Frage stellen. 1.3.2 Zur Lösung logischer Paradoxien Ohne hier, wie dies in der obigen Diskussion der Aporien und Anti­ nomien geschah, auf die grundsätzlich möglichen verschiedenen Lösungsversuche solcher logischer Paradoxien einzugehen, da diese wesentlich komplizierter und vielfältiger sind, sei hier bloß die von uns als richtig angesehene Lösung näher erörtert. Zunächst muß be­ tont werden, daß es selbstverständlich auch den Schein echter logi­ scher Antinomien (wobei nun der Antinomienbegriff im oben ein­ geführten strikten Sinn verwendet wird) gibt, die sich aus wahren oder zumindest aus möglicherweise wahren Behauptungen zu erge­ ben scheinen. Bei den logischen Paradoxien in unserem engeren Sinn geht es aber um Beweise widersprüchlicher Thesen aus künstlichen Anset­ zungen. Daher liegt der erste Schritt zur Auflösung logischer Para­ doxien darin, daß dieselben als solche erkannt und von dem Schein echter logischer Antinomien befreit werden, indem die Künstlichkeit und Willkürlichkeit der sie begründenden Annahmen oder Definitio­ nen aufgedeckt werden. Die eigentliche Lösung erfolgt dann nicht dadurch, daß der eine Beweis als korrekt bzw. die durch ihn bewiese­ ne These als wahr, die Gegenthese als falsch erwiesen wird, wie in der zweiten oben beschriebenen korrekten (5.) Auflösung der Antino­ mien. Vielmehr wird die Lösung einer logischen Paradoxie dadurch erreicht, daß die Ansetzung, von der die Paradoxie ihren Ausgang nimmt, als in sich widerspruchsvoll erwiesen wird. Es wird gezeigt, daß die eine logische Paradoxie begründende Annahme nicht bloß falsch, sondern sogar aus dem Reich des Möglichen prinzipiell aus­ geschlossen ist. Daß aber aus einer notwendig falschen Annahme 66

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Logische Paradoxien

kontradiktorisch entgegengesetzte Sachverhalte folgen können oder sogar folgen müssen, darf uns keineswegs erstaunen. Eine der älte­ sten Formen der Widerlegung einer falschen These liegt ja gerade in dem Nachweis, daß aus ihr ein Widerspruch folgt. Das berühmteste Beispiel dafür sind die wiederholten Widerlegungen radikaler Skep­ sis oder des radikalen Relativismus, deren Falschheit und Widersin­ nigkeit daraus bewiesen bzw. neben anderen direkteren Einsichten in die Absurdität oder Falschheit einer These daraus erkannt wird, daß die in diesen Positionen gesetzte These ihr eigenes Gegenteil impli­ ziert und damit ihre wesenhafte Falschheit oder Unhaltbarkeit offen­ bart. Daß dagegen auch Russells Typentheorie nichts vermag und Heideggers These, daß es sich bei solchen Widerlegungen um einen plumpen Überrumpelungsversuch handelt, keineswegs zutrifft, wur­ de anderwärts nachgewiesen.53 Logische Paradoxien sind also ein durchaus auflösbares »Pro­ blem« im Sinne Gabriel Marcels und keineswegs ein natürliches Ge­ heimnis. Werden logische Paradoxien als solche erfaßt, d. h., wird ihr Gründen in in sich widerspruchsvollen und künstlichen Ansetzungen entdeckt, ergibt sich aus der Existenz logischer Paradoxien in unse­ rem engeren Sinn keinerlei Infragestellung der Rationalität unseres Denkens, sondern vielmehr die berechtigte Zurückweisung der An­ nahmen, in denen logische Paradoxien gründen, als falsch und in sich widerspruchsvoll. Antinomien hingegen, auch »logische Antinomien«, mit denen logische Paradoxien oft verwechselt werden, würden, bestünden sie wirklich, tatsächlich eine ungeheure Herausforderung an das Denken und eine Bedrohung jeder objektivistischen Erkenntnisauffassung enthalten. Wie Kant ausdrücklich gesehen hat, würden Antinomien in der Tat eine Versuchung zur Skepsis darstellen. Kant meinte, daß die von ihm angenommenen echten Antinomien, wenn diese nicht entweder zur Skepsis führen oder in rein dogmatischer Weise »ge­ löst« werden sollen, nur durch den transzendentalen Idealismus an­ gemessen beantwortet werden können. Auf die Annahme von Anti­ nomien als ein entscheidendes Motiv für den transzendentalen Idealismus wird noch gleich zurückzukommen sein.

53 In einer an der Universität Salzburg im Sommersemester 1972 gehaltenen Vor­ lesung, deren Kritik an Russells Typentheorie von John Crosby in seinem Aufsatz »Re­ futation of Skepticism and General Relativism« erklärt wird; siehe bes. S. 106-108.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

1.4 Abschließende Bemerkungen zum grundlegenden Charak­ ter des Aporien-, Antinomien- und Paradoxienproblems Der grundlegende Charakter der Frage nach der Stellungnahme, die der Philosoph zu den wirklich oder anscheinend für die Vernunft schlechthin unauflösbaren Aporien einnehmen soll, sowie jener nach der Natur und möglichen Auflösbarkeit von Antinomien und logi­ schen Paradoxien tritt hell ins Licht, wenn man noch einmal an das ganze Spektrum der Antworten denkt, die historisch gesehen auf das Auftauchen von Aporien, Antinomien und logischen Paradoxien ge­ geben wurden: In den historisch gesehen wohl frühesten Philosophen der Apo­ rien und Antinomien - Parmenides und Zenon - begegnet uns die Leugnung der einen Seite des aporetischen oder scheinbar antino­ mischen Wirklichkeitspaares. So leugnet Parmenides die Welt der Vielheit und Bewegung, weil er nicht sieht, wie diese mit dem not­ wendig seienden, einen und ewigen Sein vereinbar sein sollte. Zenon leugnet ebenfalls Bewegung und Vielheit, indem er primär von den anscheinenden inneren Antinomien und Widersprüchen in der Viel­ heit und Bewegung selbst ausgeht und deshalb jene anscheinende »Wirklichkeit«, in der solche antinomische Widersprüche gründen, als unwirklich verwirft. Das Problematische daran ist, daß die Wirk­ lichkeit und noch mehr das Phänomen der Bewegung eben keine willkürlich angenommene These ist wie die Leugnung der Wahrheit oder wie jene willkürlichen und widerspruchsvollen Annahmen und Begriffe, in denen die logischen Paradoxien gründen, sondern viel­ mehr die von uns allen angenommene Wirklichkeit von Bewegung im raum-zeitlichen Kontinuum oder andere ähnlich klassische Phä­ nomene. Die Skeptiker und Sophisten schlossen schon in der Antike in­ nerhalb des Pyrrhonismus, der auch stark von der indischen Philoso­ phie beeinflußt war/4 daß unvermeidliche Widersprüche, wie sie in den Antinomien zu finden seien, oder sogar unauflösbare und nicht objektiv entscheidbare Meinungsgegensätze der Schulen die Untaug­ lichkeit menschlicher Erkenntnis zur Wahrheitsfindung beweisen.54 55 54 Vgl. Bhikkhu Nanajivako, »The Indian Origin of Pyrrho's Philosophy of Epoche«. 55 Vgl. auch neuere Sammlungen der einschlägigen Texte, z.B. Myles Burnyeat (ed.), The Skeptical Tradition. Neuere Arbeiten zum Pyrrhonismus haben versucht, einerseits zu zeigen, daß Pyrrho den Unterschied zwischen der Wirklichkeit, an der er zweifelt,

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Abschließende Bemerkungen

Ein Denken, das sich notwendig in Widersprüche verwickle oder auch eines, das die elementarsten aporetischen Zusammenhänge nicht zu lösen vermöge, könne nur zu objektiver Erkenntnis unfähig sein. Auch Kant erwähnt die skeptische Konsequenz als eine der verbrei­ teten Antworten auf das Auftauchen von Antinomien,56 und wir fin­ den dieselbe skeptische Antwort bei vielen Denkern heute. Einen anderen Schluß von den weitreichendsten philosophi­ schen Konsequenzen ziehen jene Philosophen aus den Antinomien, die mit Hegel und Marx annehmen, daß Widersprüche und eine ge­ wisse dialektische Aufhebung des Widerspruchsprinzips zur Wirk­ lichkeitsverfassung selbst gehören, daß diese deshalb nicht mit den Mitteln rationaler intellektueller Verstandeserkenntnis und im Rah­ men der Logik begriffen werden könne, sondern nur durch eine De­ struktion der logischen und ontologischen Grundprinzipien wie des­ jenigen des Widerspruchs oder der Kausalität und mit Hilfe einer höheren dialektischen Vernunfterkenntnis. Diese Philosophen neh­ men an, daß Sein und Nichts zugleich identisch und verschieden sei­ en und in einander übergehen oder umschlagen könnten, daß dassel­ be Ding zugleich hier und nicht hier sein, daß das Nichts und das Sein zugleich Gegensätze sein und sich doch zugleich bei näherer Prüfung als identisch erweisen könnten, und daß deshalb aus der Dialektik von Sein und Nichts das Werden entspringe und so aus dem Nichts alles werden könne, usf. Eine unseren Verstand total unlogisch und irrational anmutende »Wirklichkeit« ist das Resultat dieser Konklu­ sion. Solche Philosophen deuten also die Wirklichkeit als etwas ganz anderes als sie sich ursprünglich darstellt, um eine Lösung der Anti­ nomien oder auch der Aporien und natürlichen Geheimnisse zu fin­ den. So z.B. glaubten Hegel und Marx, wahrscheinlich aber schon Nikolaus von Cusa in seiner Idee Gottes als »coincidentia oppositorum omnium«, man müsse das Widerspruchsprinzip und damit un­ sere gesamte Wirklichkeitsauffassung in Frage stellen, um die Apound den Erscheinungen, die evident sind und an denen er nicht zweifelt, aufrecht erhal­ ten habe, andererseits betonen sie die Radikalität der Idee des absoluten Scheins bei Pyrrho, in dem es auch kein Subjekt des Scheinens mehr gibt, das kein Schein wäre, sondern einen universalen Schein, ähnlich wie beim französischen Philosophen M. Richir heute. Der Sinn des ou maüon (»dies nicht mehr als jenes«) Pyrrhons bezieht sich auf unser Problem und den Widerstreit der Schulen. Vgl. Marcel Conche, Pyrrhon ou l'apparence. Vgl. auch M. Richir, »De l'illusion transcendantale dans la theorie cantorienne des ensembles«. 56 Vgl. Kant, KrV, B 435.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

rien, Antinomien und logischen Paradoxien aufzulösen. Und ähnli­ ches, wenn auch mehr in Form einer skeptischen Frage, vertreten auch zeitgenössische Philosophen, denen das Antinomienprohlem in der modernen Logik und Mathematik zu schaffen macht. Wieder andere Denker zeigen die Bedeutung einer adäquaten Behandlung des Antinomienprohlems dadurch, daß sie dessen Lö­ sung für ein Grundprohlem und Grundlagenprohlem der Philosophie - und inshesondere der Logik - halten, selhst wenn manche von ihnen versuchen, simplistische rationalistische Auflösungen aller aporetischen und antinomischen Prohleme zu liefern und dadurch diese Prohleme in einer nicht ausreichend ernsthaften philosophi­ schen Weise hehandeln. Zu diesen die Quellen scheinharer Antino­ mien groh vereinfachenden Lösungen und ihrer falschen Deutung als innerhalh einer klassischen Ontologie, Logik und Mathematik un­ auflösbare Widersprüche rechne ich z. B. Russells Typentheorie und das Prinzip der Unerlauhtheit von Sätzen, die zugleich Metasätze üher alle anderen Sätze sind und sich dennoch zugleich auf sich selhst anwenden ließen. Denn dieshezüglich läßt sich zeigen, daß es zwar in manchen Fällen empirischer Allgemeinheit möglich ist, einen hestimmten Satz, der üher alle X spricht, oder den Redenden selhst von dem Anwendungshereich eines Urteils auszunehmen, daß dies aher keineswegs ein universales Prinzip sein kann. Immer, wo es um das notwendige Wesen einer Sache und um notwendige Sachverhalte geht, ist es nämlich unmöglich, das unter ein Wesen oder Prinzip fallende Suhjekt, den Satz selhst, in dem ein solches Prinzip (etwa das Widerspruchsprinzip) formuliert wird, oder den Akt, in dem et­ was üher alle Erkenntnis Gültiges erkannt werden soll, in einer künstlichen Anwendung der Typen- oder Metasprachentheorie vom Umkreis dessen auszuschließen, von dem die Rede ist. Das hisher Gesagte sollte genügen, um die grundlegende Bedeu­ tung des Antinomienprohlems zu heleuchten. Denn oh die genann­ ten Konsequenzen aus der Existenz von Antinomien zu ziehen sind oder nicht, ist von der grundlegendsten Bedeutung nicht nur für die Ontologie und Logik, sondern z. B. auch für die Ethik, die die Freiheit des Menschen voraussetzt und zu hegründen sucht. Denn wie soll eine Begründung der Freiheit geliefert werden können, wenn die Freiheit in ihrem Verhältnis zur Kausalität Widersprüche enthält? Es geht also heim Antinomienprohlem um ein derart fundamentales Prohlem für alle Philosophie und alles Denken, daß man wohl ohne Ühertreihung sagen darf: von der Lösharkeit dieses Prohlems und von 70

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Abschließende Bemerkungen

dem spezifischen Inhalt seiner Lösung hängt das Schicksal der Phi­ losophie selber weitgehend ah.57 Natürlich soll es dem Philosophen niemals darum gehen, irgendeine dogmatisch angenommene Phi­ losophie durch eine schon vorher konzipierte Auffassung des Antinomienprohlems zu retten oder zu bestätigen. Dem Philosophen darf es nur um die Frage der Wahrheit zu tun sein. Daher soll im folgen­ den Abschnitt dieses Buches das entscheidende Problem untersucht werden, oh es Antinomien tatsächlich giht oder oh es sich hei ihrer Aufstellung (wie ich meine) und nicht hei ihrer objektivistischen Lösung und der Zurückweisung ihrer wirklichen Gegebenheit (wie Kant meint) um einen »blendenden« Schein handelt. Im folgenden beabsichtige ich nicht, eine ausführliche Darlegung des philosophischen Antinomienproblems in seinen ersten historischen Gestalten, nämlich bei Parmenides und Zenon, zu geben und dann den Versuch zu unternehmen, dieses Problem aufzulösen. Auf das Aporien- und Antinomienproblem bei Parmenides und Zenon werde ich kurz in einem späteren Abschnitt dieser Arbeit eingehen, wäh­ rend eine umfassende Antwort auf Zenon eine ausführliche Beschäf­ tigung mit Platon, Aristoteles, Bergson, Reinach und Grundpro­ blemen der Naturphilosophie (Raum, Zeit, Bewegung u. a.), und vielleicht auch zugrundeliegender Probleme der Physik und Mathe­ matik, verlangen würde, die den Rahmen dieser Arbeit überschreiten würde. Aus ähnlichen Erwägungen heraus möchte ich davon abse­ hen, das moderne Antinomienproblem in der Relativitätstheorie Ein­ steins und der Unschärferelation Heisenbergs zu studieren. Vielmehr beabsichtige ich, das Antinomienproblem an einigen großen und für die neuere Philosophie höchst einflußreichen Beispielen aufzurollen und zu lösen, nämlich am Beispiel der vier Kantischen Antinomien der Kritik der reinen Vernunft und ausführlich nur anhand einer die­ ser Antinomien, nämlich der dritten, die von dem Verhältnis zwi­ schen Kausalität und Freiheit handelt. In einer späteren Veröffentli­ chung möchte ich auf einige von antiken und späteren Philosophen erkannte Aporien und Antinomien Zenons eingehen, die diesen ent­ springenden Probleme so weit als möglich einer Lösung näherführen 57 Die für alle Philosophie grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems als sol­ chen und ihre Bedeutung für Kant, im Anschluß an den der Autor eine Wesensbestim­ mung der Philosophie als Lösung von Antinomien gibt, führt Rohatyn aus. Vgl. Dennis Rohatyn, »Six Criteria in Search of a Philosopher«.

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Aporien, Antinomien und logische Paradoxien

und zugleich die wesentlich mysteriösen und für die menschliche Vernunft nicht restlos auflösbaren aporetischen Aspekte der Gege­ benheiten, in denen diese Aporien gründen und die ein besonderes philosophisches Staunen verlangen, deutlicher dartun. Solche Beschränkungen werden uns nicht nur durch einen Ge­ sichtspunkt der Ökonomie der Kräfte auferlegt, da es hier nur um einen begrenzten Beitrag und kein Kompendium zum Antinomien­ problem gehen kann, sondern auch durch die Erkenntnis nahegelegt, daß die Überwindung des Antinomienproblems auch nur in einigen wenigen Fällen genügt, um zumindest die Möglichkeit ersichtlich zu machen, daß nicht nur in diesen behandelten Fällen, sondern auch in anderen die Annahme von unauflöslichen Widersprüchen als »Skan­ dal der Vernunft« unhaltbar ist und daß daher die erwähnten schwer­ wiegenden Konsequenzen aus der Existenz solcher Antinomien nicht gezogen zu werden brauchen, ja nicht einmal gezogen werden dürfen. Zudem stellen die Kantschen Antinomien, die für ihn Anlaß und einziger »Probierstein« (Beweis) der kopernikanischen Wende und Transzendentalphilosophie mit ihrer Wende zum Subjektivis­ mus waren, eine so wichtige Phase der europäischen Philosopiegeschichte dar, daß ihre vornehmliche und ausführlichere Behand­ lung nicht eigens gerechtfertigt zu werden braucht. Wenn unsere Auswahl wesentlich und unsere Untersuchung und Auflösung ein­ zelner Antinomien gründlich genug ist, kann der Leser auch andere Antinomien und logische Paradoxien mit ähnlichen Methoden lösen.

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Kapitel 2

Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Antinomien als »Probierstein« für das System der Transzendentalphilosophie: die der dritten Antinomie zugrundeliegenden Einsichten und Verwechslungen Nicht die Untersuchung vom Daseyn Gottes, der Unsterblichkeit etc. ist der Punkt gewesen, von dem ich ausgegangen bin, sondern die Antino­ mie der r(einen) V(ernunft) ...; diese war es, welche mich aus dem dog­ matischen Schlummer zuerst aufweckte und zur Critik der Vernunft selbst hintrieb, um das Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Ver­ nunft mit ihr selbst zu heben. Immanuel Kant Brief an Garve vom 21.9.1798 XII 257/8 Diese kantischen Antinomien bleiben immer ein wichtiger Theil der kritischen Philosophie; sie sind es vornehmlich, die den Sturz der vor­ hergehenden Metaphysik bewirkten, und als ein Hauptübergang in die neuere Philosophie angesehen werden können, indem sie insbesondere die Überzeugung von der Nichtigkeit der Kategorien der Endlichkeit ... herbeiführen halfen ... allein die tiefere Einsicht in die antinomische oder wahrhafter in die dialektische Natur der Vernunft zeigt überhaupt jeden Begriff als Einheit entgegengesetzter Momente auf, denen man also die Form antinomischer Behauptungen geben könnte ... G. W. F. Hegel Wissenschaft der Logik, I. B., II. Abschn., Anm. 2 (III, 216-217)

2.1 Die grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems für Kant und seine Lösbarkeit durch den transzendentalen Idealismus als einziger Beweis der kopernikanischen Wende Daß es sich beim Antinomienproblem nicht um eine untergeordnete Frage für den transzendentalen Idealismus handelt, und daß daher eine Kritik an Kants Auffassung des Antinomienproblems mehr als ^ 73

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Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Antinomien

eine unbedeutende Frage zum Idealismusproblem betrifft, geht aus Kants eigenen Worten hervor. In einer berühmten Stelle aus der Ein­ leitung zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft formu­ liert Kant die sogenannte kopernikanische Wende und damit das Grundprinzip des transzendentalen Idealismus, dem gemäß sich der menschliche Geist in der Erkenntnis nicht nach der objektiven und vorgegebenen Eigenart des Seins und der Erkenntnisgegenstände zu richten habe, sondern diese sich vielmehr nach unserer Erkenntnis zu richten hätten: Bisher nahm man an, alle unsere Erkenntnis müsse sich nach den Gegenstän­ den richten; aber alle Versuche, über sie a priori etwas durch Begriffe aus­ zumachen, wodurch unsere Erkenntnis erweitert würde, gingen unter dieser Voraussetzung zunichte. Man versuche es daher einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser fortkommen, daß wir annehmen, die Gegenstände müssen sich nach unserem Erkenntnis richten, welches so schon besser mit der verlangten Möglichkeit einer Erkenntnis derselben a priori zusammenstimmt, die über Gegenstände, ehe sie uns gegeben werden, etwas festsetzen soll. Es ist hiermit eben so, als mit den ersten Gedanken des Kopernikus bewandt, der, nachdem es mit der Erklärung der Himmelsbewe­ gungen nicht gut fort wollte, wenn er annahm, das ganze Sternenheer drehe sich um den Zuschauer, versuchte, ob es nicht besser gelingen möchte, wenn er den Zuschauer sich drehen, und dagegen die Sterne in Ruhe ließ .. ,1

Es fällt auf, daß Kant diesen entscheidenden Grundgedanken der Kri­ tik der reinen Vernunft wie eine bloße, naturwissenschaftlichen An­ nahmen ähnliche Hypothese einführt. Man sei mit den Aufgaben der Erkenntnislehre und Metaphysik unter der Voraussetzung der Be­ stimmtheit der Erkenntnis von Wirklichkeit nicht gut fort gekom­ men. »Man versuche es daher einmal ...« mit der Lösung des tran­ szendentalen Idealismus. Der folgende Text ergibt jedoch, daß Kant, ebenfalls in Analogie zu den naturwissenschaftlichen Forschungs­ weisen, nicht bei einer bloßen Hypothese stehenbleiben, sondern diese durch eine Art »Experiment der reinen Vernunft« bestätigen wollte. Gerade die Antinomien spielen jedoch in diesem Experiment zur Bestätigung des transzendentalen Idealismus eine zentrale Rolle, wie Kant im folgenden Text erklärt: Was Gegenstände betrifft, sofern sie bloß durch Vernunft und zwar notwen­ dig gedacht, die aber (so wenigstens, wie die Vernunft sie denkt) gar nicht in der Erfahrung gegeben werden können, so werden die Versuche sie zu denken 1 KrVBXVI.

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Die grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems

(denn denken müssen sie sich doch lassen), hernach einen herrlichen Probier­ stein desjenigen abgeben, was wir als die veränderte Methode der Denkungs­ art annehmen, daß wir nämlich von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen ... Diese dem Naturforscher nachgeahmte Metho­ de besteht also darin: die Elemente der reinen Vernunft in dem zu suchen, was sich durch ein Experiment bestätigen oder widerlegen läßt. Nun läßt sich zur Prüfung der Sätze der reinen Vernunft, vornehm­ lich wenn sie über alle Grenzen möglicher Erfahrung hinaus gewagt werden, kein Experiment mit ihren Objekten machen (wie in der Naturwissen­ schaft): also wird es nur mit Begriffen und Grundsätzen, die wir a prio­ ri annehmen, tunlich sein, indem man sie nämlich so einrichtet, daß diesel­ ben Gegenstände einerseits als Gegenstände der Sinne und des Verstandes für die Erfahrung, andererseits aber doch als Gegenstände, die man bloß denkt, allenfalls für die isolierte und über alle Erfahrungsgrenze hinausstre­ bende Vernunft, mithin von zwei verschiedenen Seiten betrachtet werden können. Findet es sich nun, daß, wenn man die Dinge aus jenem doppelten Gesichtspunkte betrachtet, Einstimmung mit dem Prinzip der reinen Ver­ nunft stattfinde, bei einerlei Gesichtspunkte aber ein unvermeidlicher Wi­ derstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe, so entscheidet das Experi­ ment für die Richtigkeit jener Unterscheidung.2

In diesem Text wird klar gesagt, daß die Lösung des Antinomienpro­ blems einen Beweis für den transzendentalen Idealismus und seine grundlegende These der Bestimmtheit der Gegenstände durch die Erkenntnis darstelle. (Wie wir sehen werden, spricht Kant später so­ gar vom »einzigen Probierstein«.) Denn wenn, wie Kant ausdrücklich feststellt, die menschliche Vernunft bei der Bewältigung ihrer natürlichen Aufgaben nur dann »Einhelligkeit« und Widerspruchs­ freiheit erreicht, wenn der aus der kopernikanischen Wende ent­ springende doppelte Gesichtspunkt der Betrachtung der Welt ange­ nommen wird, ergibt sich ein glänzender Beweis für die Richtigkeit des transzendentalen Idealismus. Kant nimmt, wie im einzelnen viel genauer dargelegt werden soll, an, daß sich vier Antinomien ergeben, wenn die Vernunft ver­ sucht, die Totalität der Bedingungen der Welt bzw. der Erscheinun­ gen zu ergründen: 1. Beim Nachdenken über die Grenzen oder die Grenzenlosigkeit der Welt in Zeit und Raum ergäbe sich, daß wir zugleich beweisen könnten, daß die Welt der Zeit nach einen Anfang gehabt haben müsse und auch dem Raum nach nicht unbegrenzt sein 2 KrV, B XVIII. Der Abschnitt dieses Zitats von »Diese dem Naturforscher ...« bis zum Schluß der Stelle stammt aus der Anmerkung zu dem Text B XVIII.

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Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Antinomien

könne, andererseits daß sie weder dem Raum noch der Zeit nach be­ grenzt sein könne. 2. Von den Körperdingen (Erscheinungen im Raum) könne die Vernunft einerseits beweisen, daß sie aus ein­ fachen, unteilbaren Teilen bestehen müssen, andererseits daß sie un­ endlich teilbar sein müssen. 3. Was die Kausalität betrifft, könne man einmal beweisen, daß es Freiheit als deren Bedingung geben müsse, andererseits, daß es sie nicht geben könne. 4. Was schließlich die nicht-notwendige Existenz der Welt angehe, so setze diese einerseits ein notwendig existierendes Wesen voraus, andererseits schließe sie ein solches auch wieder aus. Wenn nun Kant meint, die doppelte Betrachtungsweise der Welt durch seine kritische Philosophie erlaube es, diese Antinomien auf­ zulösen, so handelt es sich im Grunde um zwei ganz verschiedene »doppelte Betrachtungsweisen«, wie sie seiner Philosophie entsprin­ ge 1. um eine Betrachtung der Welt als bloßer Erscheinung bzw. des Raumes und der Zeit als reine Anschauungsformen für die Wahr­ nehmung und als Denkformen (Kategorien), die bloß auf Erfah­ rungsgegenstände (Erscheinungen) anwendbar seien, einerseits, und als transzendentale kosmologische Idee der Vernunft bzw. als bis zur Vernunftidee »erweiterter Begriff« andererseits: Dies ist die »Doppeltheit« der Weltbetrachtung, die insbesondere für die ersten beiden »mathematischen« Antinomien in Frage kommt. 2. Der davon verschiedene weitere Sinn der »Betrachtung der Welt unter doppeltem Gesichtspunkt« ist der von Welt als Inbegriff der Erscheinungen einerseits und als Sphäre der »Dinge an sich« (des »Dings an sich«) andererseits. Wie sich herausstellen wird, spielt die letztere Unterscheidung eine entscheidende Rolle für Kants Erklä­ rung und vor allem Auflösung der dritten und vierten Antinomie (der sogenannten »dynamischen« Antinomien, die von Welt als In­ begriff aller existierenden Dinge anstatt von Welt als »mathemati­ schem Ganzen« der Erscheinungen ausgehen).3 Die Lösung gerade des Antinomienproblems durch den tran­ szendentalen Idealismus, so verstehen wir den Text, stellt jenen »herrlichen Probierstein« für die Auffassung dar, »daß wir ... von den Dingen nur das a priori erkennen, was wir selbst in sie legen«. Kant benützt dabei neben dem positiven »Test« der transzenden­ 3 Vgl. die unten gegebene Darstellung der Einleitung zur Antinomienlehre in der Kritik der reinen Vernunft.

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Die grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems

talphilosophischen Lösung des Antinomienprohlems auch den ent­ sprechenden »negativen Test«. Wenn nämlich umgekehrt die Ver­ nunft, sohald sie »einerlei Gesichtspunkt« einnimmt, d.h. vom Er­ kenntnisideal der klassischen Philosophie getragen wird, wonach sich unsere apriorische Erkenntnis auf die ohjektive Wesensnotwen­ digkeit der Dinge an sich hezieht, unvermeidliche Antinomien, also Widersprüche denken muß, so erweist sich das ohjektive Erkenntnis­ ideal ehen durch das »Experiment der Antinomien« als unhaltbar. In Kants eigenen Worten: Wenn die Auffassung, daß Erkenntnis sich nach den Dingen selber richte, dazu führt, »daß ein unvermeidlicher Widerstreit der Vernunft mit sich selbst entspringe« (in den Antino­ mien), »so entscheidet das Experiment für die Richtigkeit jener Un­ terscheidung«. Die zentrale Rolle, die das Antinomienprohlem innerhalh der Begründung des transzendentalen Idealismus Kants spielt, tritt noch deutlicher in den folgenden Texten hervor, in denen Kant geradezu die Unmöglichkeit, die Antinomien anders als durch den transzen­ dentalen Idealismus zu lösen, zum Hauptargument für die Richtig­ keit des transzendentalen Idealismus erklärt. (Auch diese Stelle fin­ det sich bereits in der Vorrede zur Kritik der reinen Vernunft.) Findet sich nun, wenn man annimmt, unsere Erfahrungserkenntnis richte sich nach den Gegenständen als Dingen an sich selbst, daß das Unbedingte ohne Widerspruch gar nicht gedacht werden könne; dagegen, wenn man annimmt, unsere Vorstellung der Dinge, wie sie uns gegeben werden, richte sich nicht nach diesen, als Dingen an sich selbst, sondern diese Gegenstände vielmehr, als Erscheinungen, richten sich nach unserer Vorstellungsart, der Widerspruch wegfalle; und daß folglich das Unbedingte nicht an Din­ gen, sofern wir sie kennen, (sie uns gegeben werden,) wohl aber an ihnen, sofern wir sie nicht kennen, als Sachen an sich selbst, angetroffen werden müsse: so zeigt sich, daß, was wir anfangs nur zum Versuche annahmen, gegründet sei.4

Und die dem letzten Wort dieser Stelle von Kant beigefügte Anmer­ kung erklärt diesen Gedanken noch einmal: Dieses Experiment der reinen Vernunft hat mit dem der Chemiker, welches sie manchmal den Versuch der Reduktion, im allgemeinen aber das syn­ thetische Verfahren nennen, viel Ähnliches. Die Analysis des Meta­ physikers schied die reine Erkenntnis a priori in zwei sehr ungleichartige Elemente, nämlich die der Dinge als Erscheinungen, und dann der Dinge an 4 KrV, B XX.

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Kritik der Kantischen Darstellung und Lösung der Antinomien

sich selbst. Die Dialektik verbindet beide wiederum zur Einhelligkeit mit der notwendigen Vernunftidee des Unbedingten, und findet, daß die­ se Einhelligkeit niemals anders, als durch jene Unterscheidung herauskom­ me, welche also die wahre ist.5

Kant meint eindeutig, daß die für seine ganze Kritik grundlegende Unterscheidung »also die wahre ist«, weil allein durch sie die Anti­ nomien vermieden bzw. gelöst werden könnten. Sollte sich nun er­ weisen, daß die von Kant angenommenen Antinomien gar nicht be­ stehen und daß die von ihm mit Recht als grundlegend angesehene Widerspruchsfreiheit der Vernunft gerade auf der Basis einer objek­ tivistischen Erkenntnisauffassung sichergestellt werden kann, der gemäß das menschliche Erkennen nicht spontan die Strukturen und Formen der Dinge setzt, sondern rezeptiv ihr Wesen erfaßt, so fällt der Hauptbeweis der Kritik der reinen Vernunft fort. Mehr noch, wenn sich Kants eigene versuchte Lösung des Antinomienproblems als widersprüchlich und überdies als total ungeeignet erweisen sollte, das Antinomienproblem zu lösen, so muß der letzte Satz des eben wiedergegebenen Zitats aus der Vorrede: »welche also die wahre ist«, dahingehend abgeändert werden, daß die transzendentalphiloso­ phische Lösung des Antinomienproblems durch die Unterscheidung von Erscheinung und Ding an sich »also die falsche ist«. Dies kann selbstverständlich an dieser Stelle unserer Ausführungen nicht be­ hauptet, sondern soll nur bereits hier als ein mögliches Ergebnis der folgenden Untersuchungen erwähnt werden, um die Rolle des Anti­ nomienproblems als eines philosophischen Grundproblems und als eines Grundproblems der Kantischen Philosophie weiter zu illustrie­ ren. Zur weiteren Begründung unserer Anschauung, die das Antino­ mienproblem für ein Grundproblem der Kritik der reinen Vernunft und der Philosophie überhaupt hält, sei nur noch eine Stelle aus der Vorrede zur zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft zitiert, aus der hervorgeht, daß Kant seine Lösung der dritten Antinomie, die wir noch eingehender kennenlernen sollen, für einen entscheidenden Beweis der Wahrheit seiner ganzen Naturphilosophie und prakti­ schen Philosophie hält. Läßt sich nun diese Antinomie auf andere

5 KrV, Anm. zu B XX. Es ist interessant, daß D. P. Dryer in seinem Buch Kant's Solution for Verification in Metaphysics diese von Kant selbst als hauptsächlichste oder einzige bezeichnete Methode der Verifikation überhaupt nicht zur Kenntnis nimmt.

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Die grundlegende Bedeutung des Antinomienproblems

Weise auflösen, fällt der eigentliche Grund für einige der zentralen Lehrstücke der Kantischen Philosophie völlig weg: Nun wollen wir annehmen, die durch unsere Kritik notwendiggemachte Un­ terscheidung der Dinge als Gegenstände der Erfahrung, von eben denselben, als Dingen an sich selbst, wäre gar nicht gemacht, so müßte der Grundsatz der Kausalität und mithin der Naturmechanismus in Bestimmung derselben durchaus von allen Dingen überhaupt als wirkenden Ursachen gelten. Von eben demselben Wesen also, z.B. der menschlichen Seele, würde ich nicht sagen können, ihr Wille sei frei, und er sei doch zugleich der Naturnotwen­ digkeit unterworfen, d. h. nicht frei, ohne in einen offenbaren Widerspruch zu geraten; weil ich die Seele in beiden Sätzen in eben derselben Bedeu­ tung, nämlich als Ding überhaupt (als Sache an sich selbst) genommen ha­ be, und, ohne vorhergehende Kritik, auch nicht anders nehmen konnte. Wenn aber die Kritik nicht geirrt hat, daß sie das Objekt in zweierlei Be­ deutung nehmen lehrt, nämlich als Erscheinung, oder als Ding an sich selbst ..., so wird eben derselbe Wille in der Erscheinung (den sichtbaren Handlungen) als dem Naturgesetz notwendig gemäß und sofern nicht frei, und doch andererseits, als einem Dinge an sich selbst angehörig, jenem nicht unterworfen, mithin als frei gedacht, ohne daß hierbei ein Wider­ spruch vorgeht ... Gesetzt nun, die Moral setze notwendig Freiheit (im strengsten Sinne) als Eigenschaft unseres Willens voraus ., die spekulative Vernunft aber hätte bewiesen, daß diese sich gar nicht denken lasse, so muß notwendig jene Voraussetzung, nämlich die moralische, derjenigen weichen, deren Gegenteil einen offenbaren Widerspruch enthält, folglich Freiheit und mit ihr Sittlichkeit ... dem Naturmechanismus den Platz einräu­ men.6

In dieser Stelle zeigt sich, welch entscheidende Bedeutung Kant sei­ ner spezifischen Lösung der dritten Antinomie beimißt, und daß er diese Lösung für unmöglich hält, »wenn nicht Kritik uns zuvor von unserer unvermeidlichen Unwissenheit in Ansehung der Dinge an sich selbst belehrt, und alles, was wir theoretisch erkennen kön­ nen, auf bloße Erscheinungen eingeschränkt hätte«.7 Da zweifellos Freiheit, Kausalität und Sittlichkeit nicht bloß Grundprobleme der Kantischen, sondern jeder Philosophie sind, die diesen Namen ver­ dient, erhellt die zentrale Bedeutung des Antinomienproblems als einer Grundfrage der Philosophie. Um aber dieses Problem in Kant und auch als solches besser studieren zu können, erweist sich zunächst eine kurze Darstellung 6 KrV, B XXVII-XXIX. 7 A. a. O., B XXIX.

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der Kantischen Fassung dieses Problems als dienlich, wie sie im fol­ genden gegeben werden soll.

2.2 Darstellung der Kantischen Einleitung in das Antinomienproblem Der Gedankengang Kants, der zur Aufstellung der vier Antinomien führt, kann hier nur in knapper Form zusammengefaßt werden.8 Da­ bei soll auf diesen einleitenden Abschnitt der Antinomienlehre Kants nur referierend, nicht kritisch eingegangen werden, um dann zur entscheidenden kritischen Erörterung der Frage zu gelangen, ob An­ tinomien tatsächlich bestehen oder nicht. Kant geht davon aus, daß die Vernunft selbst keine Begriffe er­ zeuge, sondern sie nur »erweitere«; und dies zwar, indem sie die vom Verstand übernommenen Begriffe (Kategorien) von den empirischen Schranken ihrer Anwendung auf Erfahrungsgegenstände (Erschei­ nungen) befreie. Der Grund für diese Ausdehnung der Begriffe über das Gebiet der Erfahrung hinaus liege darin, daß die Vernunft »die absolute Totalität« der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten fordere. Die Vernunft gibt also nach Kant der empirischen Synthesis eine absolute Vollständigkeit, wie diese niemals innerhalb der Erfah­ rung angetroffen wird. »Transzendentale Ideen der Vernunft« ist der Kantische Terminus für das Produkt dieser Vernunfttätigkeit. Diese transzendentalen Ideen sind, so geht aus dem Gesagten hervor, nichts als »zum Unbedingten erweiterte Kategorien«. Nun eignen sich nur manche Kategorien9 zu diesem Zweck, bzw. nur von manchen verlange die Vernunft ihre Befreiung von den Grenzen des Empirischen; und zwar von jenen, die sich nicht auf beigeordnete, sondern auf untergeordnete Bedingungen eines Gege­ benen beziehen. Ein solches »Gegebenes« im Kantischen Sinne ist z. B. der gegenwärtige Zeitpunkt oder die gegenwärtige Erscheinung 8 KrV, B 433-453. 9 Man erinnere sich an die Kategorientafel Kants, die er aus den vier Urteilsformen und ihren Arten ableitet: 1. Der Quantität: Einheit, Vielheit, Allheit; 2. der Qualität: Realität, Relation, Limitati­ on; 3. der Relation: der Inhärenz und Subsistenz (substantia und accidens); der Kausa­ lität und Dependenz (Ursache und Wirkung); der Gemeinschaft (Wechselwirkung zwi­ schen dem Handelnden und Leidenden); 4. der Modalität: Möglichkeit - Unmöglichkeit; Dasein - Nichtsein; Notwendigkeit - Zufälligkeit.

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als verursacht, usf. Damit die Vernunft also eine Kategorie zum Un­ bedingten erweitern soll, muß sie es mit einer »aufsteigenden Reihe der Bedingungen zu einem gegebenen Bedingten« zu tun haben, nicht mit einer »absteigenden Linie der Folgen«. So ist z.B., um die Gegenwart zu erklären, wohl die Annahme einer bis auf den gegebe­ nen Augenblick völlig abgelaufenen Zeit als gegeben nötig, nicht aber die Annahme einer vollständigen Reihe zukünftiger Augenblikke.10 11 Diese »aufsteigende Reihe der Bedingungen der Möglichkeit eines Gegebenen« nennt Kant auch die »regressive Synthesis«; die absteigende Reihe der Folgen nennt er »progressive Synthesis«. Ent­ scheidend für die von der Vernunft zunächst geforderte und dann auch ausgeführte Tätigkeit der Erweiterung der Verstandesbegriffe über ihren empirischen Gebrauch zum Unbedingten sei also nur die sogenannte »regressive Synthesis«, die in antecedentia gehe. Der Tafel der Kategorien folgend erweist sich nach Kant, daß jeweils nur eine einzige innerhalb der vier Gruppen von (jeweils drei) Kategorien, die nach Kant den vier Bestimmtheiten bzw. Arten des Urteiles entsprechen,11 jene der Vernunft entsprechende »Befreiung vom Empirischen« verlangt. Bezüglich der Kategorien, die der Quantität des Urteils entspre­ chen, wählt Kant weder Einheit noch Vielheit oder Allheit, sondern vielmehr die »ursprünglichen Quanta aller unserer Anschauung«, nämlich Raum und Zeit, als Kandidaten für die von der Vernunft zu besorgende Erweiterung der Kategorien über alle Grenzen der Erfahrung.12 Was nun die Zeit betrifft, so ist in ihr die Vergangenheit offen­ 10 Es fragt sich natürlich, ob hier nicht ein Widerspruch bei Kant vorliegt. Denn da Raum seiner Ansicht nach nicht eine Kategorie, sondern eine Anschauungsform ist (und er ist ja auch zweifellos unmittelbar sinnlich gegeben), müßte angesichts des Raumes von der Vernunft eher eine unendliche »Erweiterung« der Anschauungsform des Rau­ mes (und der Zeit) als die Erweiterung einer Kategorie im Sinne Kants gefordert wer­ den. Damit würde aber die Schematik seiner Darstellung des Antinomienproblems ver­ ändert. 11 Der Quantität, Qualität, Modalität und Relation. 12 Da es sich in diesem Beispiel nicht um eine Kategorie in Kants Sinne, sondern um das handelt, was Kant als »subjektive Anschauungsformen« deutet, nämlich Raum und Zeit, erhebt sich natürlich die bereits erwähnte Frage, wie überzeugend selbst innerhalb seines Systems Kants Ableitung und Einschränkung des Antinomienproblems ist und ob nicht auch in seinem System scheinbare Antinomien auch auf vielen weiteren Ge­ bieten ganz außerhalb der Kantischen Kategorientafel auftreten könnten.

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bar die Bedingung der Gegenwart. Also fordert die Vernunft notwen­ dig die Totalität der abgelaufenen Zeit als Bedingung der Gegenwart. In einem vom Zählen ausgehenden, die »intuitionistische« Be­ gründung der Mathematik bereits vorwegnehmenden Psychologis­ mus versucht Kant zunächst, auch den Raum und seine gleichzeiti­ gen, nebeneinander liegenden Bedingungen, bei denen es keinen Unterschied zwischen regressiver und progressiver Synthesis zu ge­ ben scheint, von der Zeit abhängig zu machen. Erst durch diesen Umweg glaubt Kant erreichen zu können, daß auch im Raum eine regressive Synthesis und damit die Forderung der absoluten Totalität des Raumes vorzuliegen scheint. Darauf, daß es bei Kant eine zweite und, wie mir scheint, tiefere, vom Zählen unabhängige Begründung einer anderen Art von »regressiven Bedingungen« des Raumes gibt, sei hier bloß hingewiesen.13 Innerhalb der nach der Qualität der Urteile gebildeten Katego­ rien zeigt sich, so meint Kant, nur diejenige der Realität, und zwar auch nur dann, wenn sie enger als »Realität im Raume« gefaßt wird, geeignet, die Erweiterung zur Vernunftidee zu gestatten oder sogar zu fordern. Die Teile der Materie seien nämlich als innere Bedingun­ gen der Materie aufzufassen, die Teile der Teile als jeweils entfernte­ re Bedingungen. Die Totalität der regressiven Synthesis fordere da­ her hier entweder eine unendliche Teilung oder deren Aufhören im Einfachen als Bedingung der Möglichkeit materiellen zusammenge­ setzten Seins. Innerhalb der auf der Relation des Urteils gegründeten Katego­ rien bezögen sich weder Substanz noch Gemeinschaft auf eine Reihe regressiver Bedingungen, wohl aber Kausalität, die entweder nach einer unendlichen Reihe von Wirkursachen oder nach einem absolu­ ten Anfang der Kausalität (Freiheit, Erstursache) verlange. Da auf diesen Punkt noch besonders ausführlich einzugehen sein wird, soll diese Bemerkung hier genügen. Bezüglich der Modalität, bzw. innerhalb der auf die verschiede­ nen Modalitäten des Urteils aufgebauten Kategorien, finden wir zwar nach Kant, daß weder Möglichkeit noch Wirklichkeit noch Not­ 13 KrV, B 440. In der Tat ist die Totalität des Raumes, sowohl des Makroraumes als auch des Mikroraumes, nicht über den Umweg des in der Zeit erfolgenden Aktes des Zählens, sondern vom intelligiblen und notwendigen Wesen des Raumes her für jeden Teil des Raumes an sich, und nicht bloß von der menschlichen Vernunft, sondern objektiv und ontologisch, gefordert. Das folgt aus dem notwendigen Wesen des Raumes als Kontinu­ um sui generis.

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wendigkeit als solche eine regressive Reihe von Bedingungen voraus­ setzen. Wenn man jedoch die Kategorie des Notwendigen in Bezie­ hung zu ihrem Gegenhegriff des Zufälligen setze, müsse man auch hier nach einer regressiven Reihe suchen. Denn jedes Zufällige im Dasein muß jederzeit als hedingt angesehen werden. Die Vernunft fordere daher auch hier ein Unhedingtes, das entweder die Form einer unendlichen Reihe des Zufälligen oder die Form der Ahhängigkeit von allem Zufälligen im Dasein von einem notwendigen Dasein hahen könnte. Nur ein solches Unhedingtes könne die Bedingung der Möglichkeit hzw. die Totalität der Bedingungen der Möglichkeit des Zufälligen enthalten. Damit ergehen sich vier Welthegriffe oder vier kosmologische Ideen, hzw., wie man vielleicht korrekter sagen sollte, vier Teile in­ nerhalb der einen kosmologischen Weltidee. Die erste dieser kosmo­ logischen Weltideen hezieht sich auf, oder ist, die Totalität der Zu­ sammensetzung (Quantität/Raum - Zeit); die zweite hezieht sich auf die Totalität der Teilung der Materie im Raum (Qualität/Realität); die dritte kosmologische Weltidee enthält die Totalität der Entste­ hung (Relation/Kausalität); die vierte hetrifft das Unhedingte innerhalh der Abhängigkeit des Daseins (Modalität/Zufälligkeit - Not­ wendigkeit). Alle vier kosmologischen Ideen heziehen sich auf die Erscheinungen, inshesondere (wiewohl nicht ausschließlich) auf die äußeren Erscheinungen. In einem etwas verwirrenden Ahschnitt führt Kant aus, daß es der Vernunft jeweils um das Unhedingte gehe und daß dieses immer in der ahsoluten Totalität einer Reihe vorhanden sei. Kant hemerkt, daß dieses Unhedingte entweder in der ganzen Reihe hestehen oder aher nur ein »Teil derselhen« sein könne. Im ersteren Fall sei die Reihe unendlich, im zweiten hahe sie einen Anfang, hzw. gehe es ein »Erstes« der Reihe. (Es fragt sich natürlich immer noch, wie z. B. das Notwendige im Dasein als »Teil« der Reihe zufällig Daseiender aufgefaßt werden sollte hzw. welchen Begriff von »Reihe« Kant hier zugrundelegt.) In hezug auf die vier kosmologischen Ideen der Welt und des Unhedingten der (Teilung der) materiellen Realität, Kausali­ tät und Zufälligkeit ergiht sich jeweils das Prohlem, oh das Unhedingte in einer unendlichen Reihe der raum-zeitlichen Kontinua und Ereignisse, der Teilharkeit, der Ursachen oder der zufällig Dasei­ enden liege, oder vielmehr einen ahsoluten Anfang als »Erstes« der Reihe oder außer derselhen hahe. (Das letztere muß nach Kant im Fall der Freiheit und noch mehr des notwendig Existierenden gesagt ^ 83

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werden.) Wie noch erörtert werden soll, bezieht sich die These der Antinomien jeweils auf die zweite, die Antithese jeweils auf die erste dieser beiden Möglichkeiten, die hinsichtlich des Unbedingten aller vier kosmologischen Grundbegriffe bestehen. Die vier entwickelten Ideen werden aus zwei Gründen »kosmo­ logische« genannt. Erstens beziehen sie sich alle auf die Welt als den Inbegriff aller Erscheinungen bzw. auf den Anfang der Welt. Zwei­ tens dienen die kosmologischen Ideen der Erforschung der regressi­ ven Synthesis und damit des Ursprungs der Welt, wenn diese als absolute Totalität des Inbegriffs aller existierenden Dinge aufgefaßt wird. Hinsichtlich des Problems der kosmologischen Ideen unter­ scheidet Kant auch zwischen zwei Weltbegriffen. Welt im engeren Sinne bedeutet das »mathematische Ganze aller Erscheinungen« (Raum, Zeit, Teile der Realität im Raum). Auf Welt in diesem Sinne beziehen sich die zwei ersten kosmologischen Ideen, die daher auch »Weltbegriffe im engeren Sinn« heißen können. Die ersten zwei An­ tinomien, die sogenannten mathematischen Antinomien, gründen in diesen Weltbegriffen im engeren Sinn. Die zweite Bedeutung von Welt bezieht sich auf dieselbe Welt, nun aber als Inbegriff aller existierenden Dinge und als »Natur« im Sinne des »dynamischen Ganzen« der Welt verstanden. Dieser zwei­ ten Bedeutung von Welt entsprechen die dritte und vierte kosmolo­ gische Idee, die deshalb auch »transzendente Naturbegriffe« heißen. Sie beziehen sich auf die »Einheit der Welt im Dasein« und auf die entsprechenden Kategorien der Kausalität und (dem Zufälligen ent­ gegengesetzten) Notwendigkeit. In diesen Weltbegriffen bzw. kosmologischen Ideen gründen nach Kant die Antinomien. Kant erklärt, daß ein Schlüssel zum Ver­ ständnis des Ursprungs der Antinomien darin zu finden sei, daß die von der Vernunft gesuchte Einheit oder Synthesis der Bedingungen äußerer Erscheinungen und ihres Daseins im Raum, wenn eine sol­ che Synthesis der Vernunft (nach Kant dem höchsten Erkenntnis­ vermögen bzw. Teil der menschlichen Rationalität) angemessen sei, »für den Verstand zu groß« sei; wenn sie hingegen dem Verstand angemessen sei, wäre sie »für die Vernunft zu klein« (KrV, B 450). Nach diesen Ausführungen und Unterscheidungen erklärt Kant bis dahin von ihm bloß Angedeutetes über Natur und Aufgabe der Antithetik näher. Dabei wird über die von ihm behauptete Unauflös­ barkeit der Antinomien auf »dogmatischer Grundlage« hinaus 84

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hauptsächlich hinzugefügt, daß auf dem Gebiete der reinen Vernunft nicht bloß keinerlei (intellektuelle) Anschauung, sondern auch weder empirische Verifikation noch Falsifikation möglich sei. Da nun sowohl alle empirischen Testverfahren in bezug auf die Probleme der reinen Vernunft versagen, als es auch keine intellektu­ elle Einsicht in Notwendigkeit gebe, sei hier eben die Frage, ob eine gegebene Philosophie die Antinomien überwinde oder notwendig in sie hineinführe, der »einzige Probierstein« für die Wahrheit jener philosophischen Positionen, die sich prinzipiell über allen empiri­ schen Gebrauch erheben. Man darf Kant hier (im Licht der bereits zitierten Stellen aus der Vorrede) so deuten, daß die Transzenden­ talphilosophie überhaupt in ihrer Fähigkeit, die Antinomien aufzulö­ sen, zu denen angeblich alle anderen Philosophien führen, den ein­ zigen Wahrheitsbeweis habe. Denn die für Kants Lösung der Antinomien entscheidende Unterscheidung eines doppelten Ge­ sichtspunkts - Ding als Erscheinung und Ding an sich - ist ja für die ganze kritische Philosophie Kants ausschlaggebend. Wieder wird die entscheidende Bedeutung des Erkenntnispro­ blems für alle Bereiche der Philosophie deutlich. Wenn es nämlich auf dem Gebiet der apriorischen Erkenntnis so etwas wie »kategoriale Anschauung« (Husserls V. und VI. Logische Untersuchung) bzw. auf Erfahrung (Soseinserfahrung notwendiger Wesenheiten) fundierte Einsicht in allgemeine und wesensnotwendige Sachverhalte, wie Max Scheler, Adolf Reinach und Dietrich von Hildebrand sie for­ dern,14 gibt, dann erweist sich Kants quasi experimentell-empirischer 14 Vgl. Adolf Reinach, »Über Phänomenologie«, S. 531 ff.; Max Schelers folgende Texte: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, S. 71: Aus dem Gesagten ist klar, daß, was immer a priori gegeben ist, ebensowohl auf »Erfahrung« überhaupt beruht wie all jenes, das uns durch »Erfahrung« im Sinne der Beobachtung und Induktion gegeben ist. Insofern beruht alles und jedes Gege­ bene auf »Erfahrung«. Wer dies noch »Empirismus« nennen will, mag es so nen­ nen. Die auf Phänomenologie beruhende Philosophie ist in diesem Sinne Empiris­ mus. Max Scheler, »Phänomenologie und Erkenntnistheorie«, S. 381: Das erste, was daher eine auf Phänomenologie gegründete Philosophie als Grund­ charakter besitzen muß, ist der lebendigste, intensivste und unmittelbarste Erleb­ nisverkehr mit der Welt selbst - d. h. mit den Sachen, um die es sich gerade handelt ... Nur was und sofern es in diesem dichtesten, lebendigsten Kontakt >da< ist, soll der Strahl der Reflexion zu treffen suchen. Vgl. auch Max Scheler, Formalism in Ethics and Non-Formal Ethics of Values, S. 45­ 110; ders., On the Eternal in Man, S. 198-213. Vgl. auch Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 4; ders., What is Philosophy?, Kap. 4; Josef Seifert, Back to Things

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Zugang zum Antinomienproblem als methodischer Fehler und gilt es nicht, mögliche Hypothesen zur Lösung der Antinomien zu entwikkeln, sondern vielmehr, die intelligiblen Wesensstrukturen von Kau­ salität, Freiheit, Einfachheit etc. zur Evidenz zu bringen und die An­ tinomien durch Rückgang auf erfahrene und doch zugleich objektiv notwendige Wesenheiten zu lösen. Denn dann sind die Urgegebenheiten von Raum, Zeit, Materie, Kausalität oder Freiheit apodikti­ scher Erkenntnis zugänglich und ist ihre Aufhellung nicht bloßen Hypothesen, die durch den chemischen ähnliche »Experimente der reinen Vernunft« plausibel gemacht werden sollen, überlassen. Damit ist die abgekürzte Darstellung der Erwägungen, die Kant seiner Analyse der vier Antinomien, die den vier kosmologischen Ideen entsprechen, vorausschickt, vollendet. Leider erlauben das Hauptthema unserer Ausführungen und der begrenzte Rahmen dieser Arbeit nicht, einen kritischen Kommentar über diese das An­ tinomienproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft einleitenden Überlegungen zu geben. Vielmehr müssen wir uns jetzt der entschei­ denden Antinomienfrage selbst zuwenden. Auch dabei soll der Hauptteil der folgenden Ausführungen sich auf die Darstellung und Kritik der Kantischen Entwicklung und Lösung der dritten Antino­ mie konzentrieren. Allerdings sollen auch die Anwendbarkeit der wesentlichsten Ergebnisse unserer Analyse auf die drei übrigen An­ tinomien und einige spezifisch diesen Antinomien eigene Probleme und Lösungen knapp ausgeführt werden.

2.3 Darstellung und Kritik der Kantischen Entwicklung und Lösung der dritten Antinomie, Freiheit und Kausalität be­ treffend In der dritten Antinomie, deren Entfaltung, wie überhaupt das Anti­ nomienproblem, wir in keiner vorkritischen Schrift Kants antref-15 in Themsehes; ders., Erkenntnis objektiver Wahrheit; Fritz Wenisch, Die Philosophie und ihre Methode; ders., »Insight and Objective Necessity - A Demonstration of the Existence of Propositions Which Are Simultaneously Informative and Necessarily True«. 15 Eine Ausnahme dürfte der in die Zeit zwischen 1775-1777 zu datierende Text der Reflexion 4757 darstellen, in dem Kant allerdings bezeichnenderweise nur von »einer scheinbaren Antinomie der Vernunft« spricht. Vgl. dazu die interessante, aber fast aus­ schließlich historische Arbeit Wolfgang Ertls, Kants Auflösung der »dritten Antino­

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fen,15 finden wir zunächst Kants Gegenüberstellung zweier einander kontradiktorisch entgegengesetzter Thesen (These und Antithese). Die These besagt, daß Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht die einzige sei, aus welcher die Erscheinungen der Welt (und ihre Entstehung) insgesamt abgeleitet werden können. Dazu sei vielmehr noch eine andere Art von Kausalität, nämlich Kausalität durch Frei­ heit, nötig. Die dieser These entgegengesetzte Antithese besagt dement­ sprechend, daß es keine Freiheit gebe, sondern alles in der Welt ledig­ lich nach Gesetzen der Natur geschehe.16 Eine nähere Analyse dieser These und Antithese ergibt zunächst folgendes: Es geht hier, ohne daß Kant dies explizit feststellt, zumin­ dest um zwei verschiedene Thesen und dementsprechend um zwei verschiedene Antithesen, also um zwei kontradiktorische Urteilspaa­ re, von denen sich jedes noch einmal in zwei relativ von einander unabhängige Urteilspaare aufspalten ließe. Das erste Urteilspaar, in das die These und Antithese der dritten Antinomie zu zerlegen ist, kann in einer an Kant sich anlehnenden Sprache folgendermaßen ausgedrückt werden: 1. Kausalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, noch ist Kausalität nach Gesetzen der Natur die einzige Erklärung der Ent­ stehung der Erscheinungen der Welt (der Seienden und Ereignisse in der Natur). 1A. Kausalität nach Gesetzen der Natur ist die einzige Art von Kausalität. Daher ist sie auch die einzig mögliche Erklärung der Ent­ stehung der Erscheinungen der Welt (der Seienden und Ereignisse in der Natur). mie«. Zur Bedeutung des Schöpfungskonzepts in der Freiheitslehre, S. 31. Vgl. auch Katsutoshi Kawamura, Spontaneität und Willkür. Der Freiheitsbegriff in Kants Antino­ mienlehre und seine historischen Wurzeln. Vgl. auch Norbert Hinske, »Kants Begriff der Antinomie und die Etappen seiner Ausarbeitung«. 16 Diese Antinomie wird hier so behandelt, wie sie laut Kant in einer realistischen Phi­ losophie angeblich auftreten soll und Kants Transzendentalphilosophie begründet. An dieser Stelle möchte ich die Frage nicht behandeln, ob die Quelle der dritten Antinomie, wie nämlich Freiheit und Kausalität überhaupt auf einander bezogen sein können und wie Freiheit auf Körper in Raum und Zeit wirken und von ihnen beeinflußt sein kann, in Kants kritischer Philosophie eigentlich gegenstandslos ist, so daß Kant sich hier gleich­ sam in eine realistische Position versetzen muß, um überhaupt das Problem der dritten Antinomie stellen zu können, wie Brent Singer mit Recht behauptet. In gewisser Weise ist sich Kant dessen auch klar. Vgl. dazu Brent A. Singer, »Kant's Conception of a Causality through Freedom«.

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Wie erwähnt, ließe sich auch dieses erste Paar von These und Antithese weiter aufspalten. Denn die These, daß Kausalität nach Gesetzen der Natur nicht die einzige sei, besagt an sich noch gar nicht, daß diese nicht die einzige Erklärung der Naturdinge (Erschei­ nungen) sei. Denn es könnte ja zum Beispiel eine rein innerhalb der Seele (der Person) existierende andere Art von Kausalität geben, z. B. ein Erzeugtwerden von Erkenntnisakten durch intentionale Gegen­ stände oder eine Kausalität durch Freiheit, die bestimmte innere Tä­ tigkeiten hervorrufen, ohne daß diese anderen Arten der Kausalität »aus sich«, bzw. aus dem inneren Bereich der von der Natur geson­ derten Welt der Seele, »heraustreten« und zur Erklärung der Natur­ erscheinungen beitragen würden. Deshalb ist die These, daß diese von der Kausalität nach Geset­ zen der Natur verschiedene Kausalität zur Erklärung der Natur­ erscheinungen nötig sei, bzw. daß die letzteren nicht ausschließlich durch Kausalität nach Naturgesetzen erklärt werden könnten, eine durchaus neue These gegenüber der Aussage, daß Kausalität nach Naturgesetzen nicht die einzige Form von Kausalität sei. Damit ergibt sich natürlich auch, daß sich die Antithese eben­ falls in zwei verschiedene Urteile aufspalten läßt, von denen das erste leugnet, daß es außer der Kausalität nach Gesetzen der Natur noch eine andere Art von Kausalität gebe, während das zweite zu­ sätzlich behauptet, daß diese Kausalität gemäß Gesetzen der Natur auch zur Erklärung der Entstehung der Erscheinungen der Natur völlig hinreiche. Diese zweite in der Antithese enthaltene Behaup­ tung ist schon deshalb ein neues Urteil, weil sie eine unausgespro­ chene weitere Voraussetzung macht, nämlich daß Naturerscheinun­ gen überhaupt Kausalerklärungen fordern. (Es wäre ja an sich wenigstens denkbar, wenn es auch faktisch oder metaphysisch un­ möglich ist, daß - wie manche moderne Physiker meinen - gewisse Naturerscheinungen gar keine Ursache haben, oder daß es über­ haupt in der Natur keine Kausalität, sondern nur Zufall oder stati­ stische Regelmäßigkeiten zeitlicher Abfolgen von Ereignissen gäbe; dem entsprechend wäre es an sich denkbar, daß Kausalität nach Ge­ setzen der Natur - trotz des Namens - bloß auf den Bereich des Psychischen oder auf einen bloßen Teilbereich der Naturerscheinun­ gen eingeschränkt wäre.) Wenn jedoch die zwei Thesen, in die sich die These (1) aufspalten läßt, logisch von einander ganz unabhängig sind, trifft dies auf die zwei Urteile, in die sich die erste Fassung der Antithese (1A) zerlegen läßt, nicht zu. Denn nachdem man die er­ 88

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wähnte Voraussetzung gemacht hat, daß alle Naturerscheinungen eine Kausalerklärung verlangen, folgt aus der behaupteten Tatsache, daß es keine andere Art von Kausalität als jene nach Gesetzen der Natur gebe, mit Notwendigkeit, daß diese auch die einzige sei, de­ ren man zur Erklärung der Naturerscheinungen (oder Naturdinge) bedürfe. 2. Es gibt (Kausalität durch) Freiheit. 2A. Es gibt keine (Kausalität durch) Freiheit. Die These (2), daß es Freiheit gibt, unterscheidet sich eindeutig von der These (1), daß die Kausalität nach Naturgesetzen nicht die einzige ist. Man kann ja, und zwar ganz mit Recht, annehmen, daß es - z.B. im menschlichen Erkenntnisbereich - eine von der Naturkau­ salität ganz verschiedene »Kausalität« gibt, die dennoch auch nicht Freiheit ist. Man muß überdies mit Aristoteles annehmen, daß sich die vier traditionellen causae (materialis, formalis, efficiens und finalis) unmöglich alle auf die Wirkursächlichkeit reduzieren lassen, von der allein in der Kantischen These die Rede ist. Wenn aber man­ che »Ursachen« und Erklärungsgründe weder frei noch Wirkursa­ chen und andere zwar Wirkursachen, aber weder frei noch durch Na­ turkausalität bestimmt sind, dann läßt sich die Kantische These, daß es Freiheit gibt, gewiß nicht aus der Leugnung ableiten, daß Natur­ kausalität die einzige Form von Kausalität sei. Auch die zweite These (2) läßt sich, wie die Klammern andeuten sollen, in zwei weitere verschiedene Urteile aufspalten; und dasselbe gilt dem entsprechend auch für die ihr kontradiktorisch entgegen­ gesetzte Antithese (2A). Das Urteil, daß es Freiheit gibt, unterschei­ det sich nämlich von dem Urteil, daß es »Kausalität durch Freiheit« gibt, zumindest dann, wenn man nicht die der Freiheit selbst wesens­ eigenen Momente der Selbstbestimmung sowie den der Freiheit ei­ genen Selbstbesitz als Kausalität bezeichnen will.17 Denn während diese Wesensmerkmale der Freiheit tatsächlich verwirklicht sind, wenn immer die Person frei innerlich Stellung nimmt, frei mit einem inneren »Ja« oder »Nein« auf ein Seiendes antwortet, findet sich Kausalität durch Freiheit nicht notwendig bei jeder solchen inneren

17 Von diesen Momenten handelt z.B. Bonaventura an vielen Stellen. Sie stehen im Zentrum der Freiheitslehre von Karol Wojtyla. Siehe Karol Wojtyla, The Acting Person, bes. S. 106 ff. Vgl. auch J. Seifert, »Karol Cardinal Wojtyla (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy«, besonders S. 158ff., 162 ff.

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freien Stellungnahme zu einem Sachverhalt oder Gegenstand.18 Kau­ salität durch Freiheit findet sich vielmehr erst dort, wo der Wille nicht unmittelbar im Akt des Wollens und willentlicher Antworten und innerer Stellungnahmen tätig ist, sondern Tätigkeiten befiehlt, oder vielmehr diese Aktivitäten, seien sie psychischer oder leiblicher Natur, hervorruft. Nur der Wille als »Herr der Handlung« oder als Ursprung von Aktivitäten, die nicht mit dem freien inneren Akt selbst zusammenfallen, kann im eigentlichen Sinn als Ursprung von »Kausalität durch Freiheit« bezeichnet werden. Denn nur hier findet sich im vollen Sinne jene »Doppeltheit«, die als Ursache und Wir­ kung bezeichnet werden kann; dies bleibt wahr, auch wenn nach­ gewiesen wurde, daß in jedem freien Akt der Selbstbestimmung we­ senhaft eine Zweiheit von Person »als sich selbst bestimmend« und »als durch sich selbst bestimmt« vorliegt.19 Aber dieses Verhältnis ist gewiß nicht das von Kant als »Kausalität durch Freiheit « bezeichnete Phänomen, und zwar wegen der in der inneren Selbstbestimmung liegenden eigentümlichen Identität des Subjektes sowie des Vorgan­ ges, in dem die Person, in ein und demselben Akt, sich selbst be­ stimmt und durch sich selber bestimmt wird. Darauf kann hier nicht weiter eingegangen werden. Was meine Hauptthese betrifft, nämlich daß sich die These 1 von der These 2, und dementsprechend die Antithese 1A von der Antithese 2A unterscheidet, sei der bereits gegebenen Erklärung noch folgende Erläuterung hinzugefügt. Wenn Kausalität nach Ge­ setzen der Natur nicht die einzige Erklärung der Entstehung der Na­ turerscheinungen wäre, so könnte diese entweder durch absoluten 18 Vgl. dazu Thomas von Aquin, Summa Theologica la IIae, Q. 6, art. 4, wo der Aquinate den klassischen Unterschied zwischen unmittelbarer Tätigkeit des Wollens, die nicht erzwungen sein kann, und vom Willen befohlenen Handlungen, die durch Zwang verhindert werden können, unterscheidet. In ganz ähnliche Richtung gehen die Kapitel 20ff. über Freiheit in D. von Hildebrand, Ethik, bes. S. 295 ff. über die beiden Vollkom­ menheiten des Willens (als Stellungnahme gegenüber einem Gut, als Wertantwort, usf.; und als »Herr der Handlung«). Vgl. auch a.a.O., Kapitel 17. In J. Seifert, Was ist und was motiviert eine sittliche Handlung?, S. 11 (Anm. 2), 15 (Anm. 4), und vor allem in D. von Hildebrands Werk, Moralia, S. 73ff., 316 ff., findet sich eine Korrektur der an Stellen in Hildebrands Ethik geäußerten Einschränkung des Objekts der antwortenden Perfektion des Willens (der volitionalen Stellungnahme) auf noch nicht realisierte und »durch mich realisierbare« Sachverhalte. 19 Siehe dazu Karol Wojtyla, The Acting Person, S. 60ff., 96ff.; J. Seifert, »Karol C. Wojtyla as Philosopher ...«, S. 158ff., 192ff. Vgl. die deutsche Version von Karol Wojtyla, Person und Tat.

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Zufall (wie ihn z. B. J. Monod in Zufall und Notwendigkeit annimmt) oder durch spontane tierische Eigenhewegung u. ä. erklärbar sein. Solche Erklärungsgründe unterscheiden sich aber eindeutig von der starren, Kant vorschwehenden Kausalität nach Gesetzen der Natur, wie insbesondere H. Conrad-Martius zeigte.20 Daß sich die Annahme der Existenz von Freiheit nicht notwen­ dig mit der These verbinden muß, daß diese Freiheit auch die Erklä­ rung der Entstehung der Naturerscheinungen hiete, läßt sich durch die mögliche Annahme eines Parallelismus zwischen physischen und psychischen Erscheinungen oder durch den Leihnizschen Gedanken einer prästahilisierten Harmonie zwischen Seele und Natur belegen. Denn nicht nur wird in diesen Systemen ganz offensichtlich die menschliche Freiheit ganz ohne jeden Beitrag derselben zur Erklä­ rung der Entstehung der Naturerscheinungen gedacht, sondern es stellt sich auch ernsthaft die Frage, oh gemäß diesen Systemen ir­ gendeine andere Freiheit zur Erklärung der Entstehung der Natur­ erscheinungen herangezogen wird. Gewiß, in den okkasionalistischen Systemen von Geulincx, Cordemoy oder Malehranche wird göttliche Freiheit als Grund der Naturerscheinungen behauptet, aber schon für die Leihnizsche Philosophie ergiht sich die Frage, oh der letzte Ursprung der Welt nicht hier viel mehr in die intelligihlen Gründe der göttlichen Erkenntnis der bestmöglichen Welt und damit in Notwendigkeit (allerdings eine rein intelligihle Notwendigkeit) verlegt wird, als daß er in göttlicher Freiheit erblickt würde. Ohne dieser letzten Frage hier weiter nachgehen zu können, muß jedenfalls unser Hauptergebnis festgehalten werden, nämlich daß die Anerken­ nung von menschlicher Freiheit noch nichts darüber ausmacht, oh diese Freiheit auch einen Beitrag zur Erklärung der Entstehung der Ereignisse innerhalb der materiellen Welt leistet.21 Der kritischen Analyse der Kantischen Formulierungen der These und Antithese der dritten Antinomie ist auch noch hinzuzufü­ gen, daß der dort verwendete Begriff der Freiheit vieldeutig ist, vor allem deshalb, weil die Frage, um welche Freiheit es hier eigentlich gehe, menschliche Freiheit in der natürlichen Welt oder göttliche 20 Siehe vor allem Hedwig Conrad-Martius, Die Seele der Pflanze, S. 125 ff. Vgl. auch von derselben Autorin, Der Selbstaufbau der Natur Entelechien und Energien. Siehe auch J. Seifert, Leib und Seele, S. 71 ff. 21 Dies wird auch implizit an vielen Stellen des ethischen Werkes Kants, vor allem im Zusammenhang seiner Gesinnungsethik, anerkannt.

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Freiheit außerhalb derselben, nicht hinreichend entfaltet ist. Damit versäumt es Kant jedoch, das der dritten Antinomie zugrundelie­ gende Problem ohne störende Mehrdeutigkeit zu formulieren. Eine klarere Fassung der - je nach dem angenommenen Subjekt der Freiheit - ganz verschiedenen Probleme des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität würde nämlich zeigen, daß es bei der soge­ nannten »dritten Antinomie« eigentlich um radikal verschiedene scheinbare Antinomien geht. Nehmen wir z.B. einmal an, alle Vorgänge in der Welt seien durch strenge Naturgesetze bestimmt oder zumindest völlig in ihren Ursachen determiniert (und das sind wieder zwei ganz verschiedene Thesen), so wäre menschliches Handeln unfrei und es gäbe keine Freiheit in der Welt. Dann könnte es jedoch immer noch sein, daß das Kausalsystem der Natur und Geschichte durch eine Freiheit aus­ serhalb der Welt, nämlich durch die göttliche Freiheit, kausal deter­ miniert würde. Eine scheinbare Antinomie bestünde in diesem Fall dann, wenn einerseits nachgewiesen wäre oder angenommen werden müßte, daß es eine solche Freiheit als absoluten Grund der Natur gibt, andererseits dieselbe aber auch verworfen werden müßte, z. B. aus dem von Kant erwähnten Grund, daß eine nicht innerweltliche, sondern ewige Freiheit keine Erscheinungen in der Zeit hervorrufen könne, usf. (Diese Schwierigkeit bleibt übrigens bei Kant selbst durchaus bestehen, da dieser ja sogar die menschliche Freiheit in einen transzendentalen, außer der Zeit befindlichen Bereich ver­ setzt.) Von der Frage, ob eine außerzeitliche und absolute Freiheit zur Erklärung der Naturerscheinungen und Naturkausalität nötig oder aber mit der Annahme von Naturkausalität unverträglich sei, unter­ scheidet sich ganz offenbar eine andere Frage, die sich auf das Pro­ blem der menschlichen Freiheit innerhalb der Welt bezieht. Hier ist das Problem ja nicht, wie Freiheit überhaupt als Grund der Natur­ erscheinungen gedacht werden könne, sondern ganz spezifisch, wie Freiheit in einem endlichen und zeitlichen Wesen möglich sei. Ich behaupte nun, daß Kant dieses durchaus neue und viel schwierigere Problem, in dem man viel leichter eine Antinomie vermuten könnte, gar nicht klar formuliert und deshalb auch nicht klar von dem ersten unterschieden hat. Denn bei diesem schwierigen Problem geht es ge­ rade nicht, wie Kant nahelegt, um Freiheit überhaupt oder Kausalität durch Freiheit als solche, sei diese auch absolute, göttliche Freiheit, sondern spezifisch um die Freiheit eines endlichen und von Ursachen 92

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abhängigen Wesens. Dieses spezifische zweite Problem könnte so for­ muliert werden: Kann ein zeitliches, in Natur und Geschichte befind­ liches Wesen frei sein? Dies scheint unmöglich, denn wie sollte denn ein an den Leib, und damit an die Natur gebundenes Wesen frei sein können, da es doch kein reiner Geist ist und die Materie den Natur­ gesetzen unterworfen bleibt? Ja, wie kann überhaupt ein endlich­ kontingentes Wesen, sei dieses nun körperlich oder rein geistig, frei sein? (Das letzte Problem, wie ein endliches Wesen frei sein kann, wurde von der Antike, insbesondere von Cicero an, nicht nur im Rahmen des Prädestinationsproblems, sondern auch im ganz anderen und vom Kausalitätsproblem abgehobenen Kontext der Frage des göttlichen Vorherwissens diskutiert.) Abgesehen von dem Fehlen dieser nötigen Unterscheidungen bei Kant unterläßt dieser überdies eine eingehende Analyse der für die dritte Antinomie grundlegenden Begriffe der »Kausalität«, »Kau­ salität nach Naturgesetzen«, »Kausalgesetz« usf. Wie in unserer Kri­ tik der Kantischen Entwicklung der dritten Antinomie gezeigt wer­ den soll, muß eine solche dringend erforderte Klärung nicht bloß zwecks einer deutlichen gedanklichen Fassung der von Kant eigent­ lich behaupteten Antinomie durchgeführt werden, sondern verlangt vor allem auch die durchaus mögliche Lösung der scheinbaren Anti­ nomie zwischen Kausalität und Freiheit eine solche Untersuchung und die aus dieser resultierenden Unterscheidungen. Wenden wir uns jetzt Kants Beweisen für die These und Anti­ these der dritten Antinomie zu. Von diesen Beweisen möchte ich hier denjenigen für die Wahrheit der These nicht eingehend behandeln, da ich seinen Kerngedanken für wahr und für wenig problematisch halte und mich hier lieber auf die Analyse jener Punkte konzentrie­ ren möchte, die der Kritik bedürfen. Um dennoch den Kerngedanken des Beweises für die »These« (die in verschiedene Thesen zerfällt) in eigenen Worten zu formulieren, betrifft dieser zunächst jene Kausa­ lität, die selbst wieder gemäß Naturgesetzen determiniert ist bzw. nach allgemeinen Naturgesetzen von anderen Ereignissen kausal hervorgerufen wird. Soll diese Art der Kausalität sich selbst be­ gründen bzw. die einzige sein, führt sie in einen unendlichen und unmöglichen Regreß. Denn niemals kann eine Ursache, die selbst durch eine andere determiniert ist, einen letzten Erklärungsgrund einer kausalen Wirkung abgeben. Auch eine unendliche Reihe solcher Ursachen, wobei jedes Glied dieser Reihe, d. h. jede einzelne Ursache, seine Erklärung in einem ^ 93

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vorhergehenden anderen hätte, kann ebensowenig jemals eine abso­ lute, letzte Erklärung für Kausalität hergehen. Nicht nur obwohl, sondern sogar weil eine derartige Reihe ja nicht selbst als Ursache angesehen werden kann, liegt dieser Feststellung auch nicht jener »Trugschluß der falschen Zusammensetzung« zugrunde, in dem ein nur den Gliedern einer Reihe zukommendes Merkmal der Reihe selbst zugesprochen würde. Dieser logische Fehler läge hier ja nur dann vor, wenn die Reihe selbst eine Ursache sein könnte, was offen­ bar nicht der Fall ist, da sie selber keine eigene Wirklichkeit und erst recht keine Ursächlichkeit besitzt und ja nicht mehr ist als die Ge­ samtheit aller ihrer Glieder, welche allein Ursachen sind. Wenn aber keine dieser Ursachen (da jede von ihnen nur wirkt, weil sie selbst von einer anderen bestimmt ist) einen letzten Grund für ihr eigenes kausales Wirken enthält, kann ein solcher auch nicht in einer unendlichen Reihe von Ursachen, die selbst nach Gesetzen der Natur von anderen Ursachen verursacht sind, liegen. Denn keine einzige solche Ursache und auch nicht die Gesamtheit der selbst de­ terminierten Ursachen kann einen letzten Erklärungsgrund für Kau­ salität darstellen. Vielmehr bleibt Kausalität nach Gesetzen der Na­ tur völlig unverständlich und ist sogar objektiv unmöglich, wenn sie die einzige Form der Kausalität wäre, da es dann keinen zureichenden Grund für Kausalität überhaupt gäbe. Da es auch unhaltbar ist anzu­ nehmen, daß der reine Zufall der letzte Erklärungsgrund der Kausa­ lität oder irgendeines Seienden ist, und da überdies evidenterweise jede Wirkursache, die sich nicht selber erklären kann, einer außer ihr liegenden Wirkursache bedarf, muß es eine andere Art von Wirk­ ursächlichkeit geben als die Ursächlichkeit nach Gesetzen der Natur. Diese andere Art von Ursächlichkeit kann aber wiederum nur dann eine letzte Erklärung der Ursachen nach Gesetzen der Natur sein, wenn sie eine freie Ursache ist. Denn nur »Bewegung«, die der freien Selbstbestimmung eines Subjektes entspringt, bzw. in dieser besteht, kann solcherart sein, daß ihre Spontaneität oder Wirksam­ keit keiner weiteren Ursache bedarf. Nur Freiheit hat in der Person und in deren Spontaneität der Selbstsetzung ihren letzten schöpferi­ schen und unhinterfragbaren Erklärungsgrund. Nur Freiheit kann daher auch ein letztes »Warum« darstellen, für das keine weitere Ursache zu suchen ist als die freie Person selbst und die Aktualisie­ rung ihrer Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Daher muß eine Kausa­ lität durch Freiheit, d. h. eine kausale Relation, die in Freiheit ihren letzten und hinreichenden Grund hat, den letzten Erklärungsgrund 94

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für alle anderen Wirkursachen enthalten. Also setzt Kausalität nach Gesetzen der Natur notwendig Kausalität durch Freiheit voraus. Selbstverständlich möchte ich hier nicht behaupten, daß diese Erklärung bzw. Wiedergabe der Beweisführung für die Wahrheit der These vollständig derjenigen entspricht, die Kant selbst gibt. Ich habe mir vielmehr hier die Freiheit erlaubt, das eigentlich von Kant Gese­ hene, wie ich meine, in eigenen Worten und mit teilweise größerer Vollständigkeit zu formulieren, als dies bei Kant geschieht. Noch viel weniger erhebt diese Darstellung des Arguments für die These den Anspruch, die hier relevante Wahrheit vollständig auszudrücken und zu deren Entfaltung keiner weiteren Schritte und Klärungen zu bedürfen. Insbesondere die Frage, ob nicht jede endliche Freiheit, ohne sie als echte Freiheit in einem letzten metaphysischen Sinne aufzuheben, nicht noch einer absoluten Ursache bedürfe, kann hier nicht entwickelt werden.22 Auch sehe ich hier davon ab, diesen Be­ weis bzw. seine evidenten Grundlagen weiter zu entfalten, indem ich im einzelnen auf die oben unterschiedenen vier verschiedenen The­ sen eingehen würde, und in dem dargestellten Beweisgang genau unterschiede, welche Teile der Beweisführung sich auf jede einzelne dieser vier Behauptungen beziehen, in die sich die These der dritten Kantischen Antinomie aufspalten läßt. Vielmehr gilt unsere eigentliche Aufmerksamkeit dem Kantischen Beweis der Antithese, da ich diesen nicht einmal in seinem eigentlichen Kerngedanken für korrekt halte und insbesondere die Evidenz der Prämissen bezweifle, auf denen er aufbaut. Auch bedarf es zur Widerlegung des Kantischen Anspruchs, daß es sich bei der dritten Antinomie um eine echte Antinomie handelt, die lediglich durch die Transzendentalphilosophie zu lösen sei, nur einer kriti­ schen Analyse des Beweises der Antithese, dem wir uns hiermit zu­ wenden und dessen Diskussion übrigens weiteres Licht auf den Be­ weis der These werfen wird. 2.3.1 Die inhaltlichen und logischen Hauptschritte in Kants Argumentation In dem Beweis der Antithese, die besagt, daß es neben der Kausalität durch Naturgesetze keine Kausalität durch Freiheit gäbe, geht Kant zunächst von der Annahme des Gegenteils aus. Wir können in dem 22 Vgl. dazu Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 11; ders., Gott als Gottesbeweis.

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Beweis dementsprechend die folgenden Schritte unterscheiden, in deren Wiedergabe wir wieder weitgehend Kants eigene Worte ver­ wenden: 1. Nehmen wir an, Freiheit existiere als ein Vermögen, einen Zustand (eine Reihe von Folgen) schlechthin anzufangen. Wenn dies auch, wie bereits erklärt, nicht das Wesen der Freiheit ausmacht, gehört doch ein solches Vermögen zum Wesen der Frei­ heit, d. h. spezifisch der Handlungsfreiheit. 2. Freiheit setzt, so bemerkt Kant, nicht nur das schlechthinnige Anfängen einer Reihe von Ursachen durch freie Spontaneität, son­ dern auch das schlechthinnige Anfangen der Bestimmung dieser Spontaneität selbst voraus.23 Es müßte hier natürlich gefragt werden - gemäß obiger Unter­ scheidung der verschiedenen in der dritten Antinomie berührten Probleme: In welchem Sinn meint Kant das schlechthinnige Anfan­ gen der Kausalität durch Freiheit und vor allem der freien Selbst­ bestimmung selbst? Denn in weiter zu klärender Weise trifft diese Kennzeichnung gewiß auf jeden freien Akt bzw. auf jedes sich frei bestimmende Subjekt zu. In einem anderen und strikteren Sinn je­ doch kann ein schlechthinniges Anfangen von Kausalität ausschließ­ lich der absoluten Erstursache zugeschrieben werden, nicht jedem freien Akt eines Menschen. Nehmen wir an, Kant meine den ersteren Sinn von »schlechthinnigem Anfang«, so müßten dennoch auch in­ nerhalb der menschlichen Person wiederum verschiedene Dimensio­ nen der Freiheit: Handlungen, Stellungnahmen und Grundhaltun­ gen, unterschieden werden, von denen nicht jede gleichermaßen einen »schlechthinnigen Anfang« bedeutet. Das näher zu bestimmende Moment des absoluten Anfangs in derjenigen Form, in der es sich in jedem freien Akt findet, könnte so ausgedrückt werden: jeder freie Akt und jede freie Handlung schlies23 KrV, B 473. Ähnliche Einsichten über die Freiheit können in Bonaventuras und Wojtylas tiefsinniger Philosophie der Freiheit nachgewiesen werden. Vgl. dazu Karol Wojtyla, The Acting Person, S. 105-148; vgl. auch Seifert, »Karol Cardinal Wojtyla (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow-Lublin School of Philosophy«. An dieser Stelle ist das Problem der göttlichen Schöpfung im Verhältnis zur menschlichen Freiheit nicht unser Thema, das bei Heimsoeth und Josef Schmucker, vor allem in Josef Schmucker, Das Weltproblem in Kants Kritik der reinen Vernunft. Kommentar und Strukturanalyse des ersten Buches und des zweiten Hauptstücks des zweiten Buches der transzendentalen Dialektik, S. 337ff., und auch bei Ertl, Kants Auflösung der »drit­ ten Antinomie«, bes. S. 114ff., S. 218 ff., 249 ff. eine wichtige Rolle spielt.

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sen aus, daß sie durch ihnen vorhergehende Zustände oder Ereignisse oder irgend etwas außer dem Ich der Person seihst bestimmt oder vollständig determiniert würden, oder auch auf diese Zustände hzw. Ereignisse nach einem (allgemeinen) Gesetz folgten. Aber auch diese Erklärung bedarf zu ihrer Begründung weiterer Untersuchungen. Ist z.B. eine Handlung nicht mehr frei, wenn sie mit einer wie auch immer gearteten Notwendigkeit aus einer ihr vor­ hergehenden freien Haltung fließt? Viele Philosophen (es seien hier nur Anselm von Canterhury, Hildehrand und Hengstenherg er­ wähnt)24 haben von der sittlichen Freiheit als der höchsten Stufe der Freiheit gesprochen: sittliche Freiheit ist aber gerade nur zu dem Grad verwirklicht, in dem die einzelne freie Handlung aus einer all­ gemeinen positiven Grundhaltung oder Tugend mit gewisser Not­ wendigkeit folgt. Da jedoch die Grundhaltung selber frei ist, hindert das aus ihr Fließen und der Prozeß der Vernotwendigung von Frei­ heit nicht, daß die gegebene Handlung wirklich frei ist, obgleich sie aus etwas ihr Vorhergehendem mit gewisser Notwendigkeit folgt. Dann aber ist nicht einmal so sehr das »nach einem Gesetz« auf einen vorhergehenden Zustand Folgen als solches mit Freiheit unverträg­ lich. Soll man dann vielleicht das Wesen der Freiheit präziser fassen und sagen, daß ein freier Akt niemals nach einem notwendigen Ge­ setz auf einen vorhergehenden Zustand folgen kann, wenn dieser vorhergehende Zustand nicht selbst frei ist oder wenigstens an Frei­ heit appelliert, wie die vollkommene Schau des Guten? Mit einer solchen Einschränkung läßt sich die zweite These im Beweisgang für die Antithese der dritten Antinomie wohl verteidi­ gen. Dabei bleibt immer noch das Problem bestehen, ob das Moment des auf einen »vorhergehenden Zustand« Folgens ein nötiges oder auch nur ein sinnvolles Element der Wesensbestimmung der Kausa­ lität ist. Zumindest im Augenblick der eigentlichen kausalen Einfluß­ nahme der Ursache auf die Wirkung scheint nämlich zwischen Wir­ ken und Bewirktwerden Gleichzeitigkeit vorausgesetzt zu sein, wie Kant selbst zugesteht.25 Jedenfalls läßt sich nicht leugnen, daß eine

24 Siehe Anselm, De Libertate Arbitrii; Hans-Eduard Hengstenberg, Grundlegung der Ethik, S. 177-185 (der von Hengstenberg bereits in seiner Philosophischen Anthropolo­ gie entwickelte Begriff der Vernotwendigung stammt, soweit ich sehen kann, von ihm selbst). Siehe auch D. von Hildebrand, Ethik, S. 369 ff.; J. Seifert, Was ist und was moti­ viert eine sittliche Handlung?, S. 22ff., (Anm. 20), 19 (Anm. 7). 25 Vgl. dazu auch Kant, KrV, B 247f.

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Handlung auch dann nicht frei wäre, wenn sie zwar nicht auf vorher­ gehende Zustände, wohl aber auf gleichzeitige Faktoren oder auf die mit der Handlung gleichzeitig bestehende Natur des Handelnden notwendig folgte; zumindest überall dort, wo eine (nicht-freie) Natur als solche einen Akt notwendig macht, ist Freiheit ausgeschlossen. Die noch durchzuführende nähere Bestimmung des Begriffs des »Ge­ setzes« wird eine präzisere Erkenntnis möglich machen, welche Art von »nach Gesetzen Folgen« mit Freiheit unverträglich ist, welche nicht. Hier sei nur betont, daß Kant, wenn man die erwähnten nötigen Unterscheidungen durchführt, in dem schlechthinnigen Anfangen von Kausalität und auch in dem schlechthinnigen Anfang der Selbst­ bestimmung des Subjektes selbst etwas wirklich im Wesen der Frei­ heit Liegendes gesehen hat, wenn auch das gesehene Moment nur dann unmißverständlich hervortritt, wenn es genauer abgegrenzt wird als dies bei Kant geschieht. 3. Der dritte wesentliche Schritt in Kants Beweis für die Wahr­ heit der Antithese ist die folgende Überlegung: Jeder Anfang eines Handelns setzt einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus. Denn wenn diese schon gehandelt hätte, könnte man von einem Anfang der Handlung nicht mehr sprechen. Diese These setzt natürlich voraus, daß (trotz der berühmten Kantischen Unterscheidung zwischen zeitlichem und dynamischem Anfang) das für die Freiheit wesentliche Anfängen oder »schlechthinnige Anfangen« (siehe oben, 2) im zeitlichen Sinne gemeint sei, indem es mit zeitlichem Anfang notwendig verknüpft oder gar iden­ tifiziert wird. Eine solche Identifizierung oder auch nur notwendige Verknüpfung des zeitlichen Anfangs mit dem »schlechthinnigen An­ fangen« der Freiheit ist aber nicht bloß nicht evident, sondern sogar evident falsch, wenn auch nur durch indirekte Evidenz kraft logischer Beweise aus unmittelbar evidenten Prämissen. Denn obwohl es wahr ist, daß es keinen menschlichen freien Akt und kein menschliches freies Anfangen gibt, die nicht zugleich auch einen zeitlichen Anfang hätten, so bleibt doch zunächst der Sinn des Terminus »Anfang« im Kontext des »Anfangs« aus Freiheit und in jenem des zeitlichen »An­ fangs« gänzlich verschieden (wie Kant selbst ja an anderer Stelle be­ tont). Der Sinn nämlich, in dem ein freier Akt einen »absoluten An­ fang« einschließt, ist an sich ein rein ontologisch-kausaler. Anfang (aitios) bedeutet hier »ein letzter, der eigenen Ichtätigkeit und spon­ tanen Selbstbestimmung der Person entspringender Ursprung 98

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Sein«.26 Ein solcher Anfang aus Freiheit wäre an sich durchaus mit einem Ewigsein einer (Erst-)Ursache verträglich. Doch selbst in dem­ jenigen Fall, wo die beiden Bedeutungen von »Anfang« verbunden sind, nämlich in der menschlichen Freiheit, unterscheiden sie sich radikal. Das Fehlen einer genügend klaren Unterscheidung und Tren­ nung dieser zwei Bedeutungen von »Anfang« wirkt sich auf Kants Argumentation verhängnisvoll aus, insbesondere auf seine Leug­ nung der Möglichkeit einer unzeitlichen Freiheit als Ursache zeitli­ chen Geschehens. (Auf diesen Punkt und auf Kants ambivalente Po­ sition über diesen Gegenstand wird noch zurückzukommen sein.) Den wesentlichen Kern des dritten Schritts in Kants Argumen­ tation, solange Kant hier vom Verhältnis menschlicher Freiheit zur Kausalität handelt, wird man jedoch kaum bestreiten können: daß es nämlich bei jedem zeitlichen Anfang eines Handelns einen Zustand des Handelnden geben muß, in dem dieser (die Ursache der Hand­ lung) noch nicht gehandelt hat. Damit gelangen wir jedoch zu einem weiteren Schritt in Kants Beweis. 4. Jeder dynamisch erste (freie) Anfang einer Handlung setze einen Zustand voraus oder schließe einen Zustand ein, so behauptet Kant, der mit dem vorhergehenden Zustand ebenderselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Kausalität habe, d. h. in keiner Weise daraus erfolge. Damit aber, und darin gipfelt Kants Gegenbeweis ge­ gen die Freiheit, widerspreche die Annahme der Freiheit dem Kausal­ gesetz und sei mithin ein »leeres Gedankending«. Daraus folgt dann auch die oben formulierte Antithese. Dieser vierte Schritt im Beweisgang Kants ist der entscheidend­ ste und wird daher besonders sorgfältig daraufhin zu untersuchen sein, ob er einwandfrei ist oder Fehler enthält. Dieser Schritt folgt aus Kants grundsätzlicher Auffassung über das Verhältnis zwischen Freiheit und Kausalität, auf dem die in der Kritik der reinen Vernunft diesem Beweis folgenden Ausführungen aufbauen. Wenn dort die berühmte Bemerkung zu lesen ist, daß Natur und (transzendentale) Freiheit sich so voneinander unterschieden wie Gesetz und Regello­ sigkeit, so baut diese Äußerung eben auf der dem vierten Schritt des Beweises der Antithese zugrundeliegenden Konzeption des Verhält­ nisses zwischen Freiheit und Kausalität auf und auf Kants daraus folgender Anschauung, daß eine »dogmatische« (= nicht-transzen­ dentale) Philosophie notwendig Freiheit sowohl im Gegensatz zum 26 Vgl. dazu Seifert, Essere e persona, Kap. 9.

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Kausalgesetz denken müsse, als sie sie auch zugleich als Vorausset­ zung aller Kausalität anzunehmen habe. Mit anderen Worten, Kants Meinung, daß uns ausschließlich der transzendentale Idealismus aus der Antinomie zwischen Freiheit und Kausalität befreien könne, gründet in seiner Konzeption des Wesens der Freiheit und ihrer Re­ lation zur Kausalität. Dieser Auffassung müssen wir uns daher jetzt zuwenden.27 2.3.2 Verwechslung verschiedener Gegebenheiten und Thesen als Ursache der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und Kausalität Um das Ergebnis der folgenden kritischen Untersuchung bereits vor­ wegzunehmen, sei gleich zu Eingang der Überlegungen bemerkt, daß meines Erachtens im entscheidenden vierten Schritt von Kants Be­ 27 Aus den im folgenden angeführten Gründen sind inhaltliche philosophische Analy­ sen, Aufdeckungen von Äquivokationen usf. nötig, um die Kantschen Antinomien auf­ zulösen und genügen dazu keineswegs formallogische Argumente, wie Strawson sie für ausreichend hielt. Vgl. dazu Lewis Baldacchino, »Strawson on the Antinomy«, S. 91ff. Baldacchino versucht zu zeigen, daß Strawsons Einwand gegen Kant, seine Argumente für die Antinomien seien zirkulär (sowohl in ihrer allgemeinen Form und im Detail), ein Mißverständnis des Königsberger Philosophen einschließen. (Auch andere Autoren be­ merken die Unmöglichkeit, die Kantschen Antinomien mit rein formallogischen Mit­ teln zu erfassen. Vgl. etwa Moshe Kroy »Kant's Antinomies and the Compactness Theorem«.) Darin, daß formallogische Argumente nicht genügen und im Einwand Strawsons der Zirkularität Mißverständnisse liegen, stimme ich Baldacchino durchaus zu. Damit ist jedoch nicht die Hauptaussage Strawsons der Widersprüchlichkeit der Kantschen Antinomienlehre widerlegt. Mit diesem Einwand stimme ich in jenem Sinne, der im folgenden geklärt wird, überein. Baldacchino kritisiert auch den zweiten Haupt­ einwand Strawsons gegen Kants Behandlung der Antinomien, nämlich daß die Kantschen Lösungen der dritten und vierten Antinomien einen Appell an die logische Möglichkeit des transzendentalen Idealismus einschlössen und daher inkonsistent mit der Notwendigkeit des Prinzips universaler Kausalität seien, die Kant in der zweiten Analogie behauptet habe. Ohne auf die Subtilität der Argumente des Autors eingehen zu können, scheinen mir hier wesentliche berechtigte Einwände Strawsons zu liegen, auch wenn Strawson Kant nicht ganz richtig interpretiert, wie unser Autor bemerkt. Diese positiven Anliegen Strawsons werden noch zur Sprache kommen. Baldacchino argumentiert ferner, daß die »dynamischen Antinomien« (die dritte und vierte) nicht mit der bloßen logischen Möglichkeit des transzendentalen Idealismus befaßt seien, worin ich mit ihm durchaus übereinstimme. Wenn er hingegen behauptet, die beiden Antinomien seien ein nicht unplausibler Versuch, einige positive Aussagen Kants zu beweisen, kann ich dem Autor nicht folgen, wie aus der folgenden Kritik hervorgehen wird. Voll und ganz stimme ich hingegen Baldacchino zu, wenn er sagt, die Rolle der Antinomien bei Kant würde allgemein unterschätzt.

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weisführung vier radikal verschiedene Dinge miteinander verwech­ selt hzw. stillschweigend miteinander identifiziert werden, und daß diese Verwechslung ein nicht weniger hartes Urteil über den ganzen Beweis für die Antithese der dritten Antinomie berechtigt, als Hegel es über den Beweis der zweiten Antinomie fällt, wenn er sagt: »Die­ ser Beweis kann ein ganzes Nest (um einen sonst vorkommenden Kantischen Ausdruck zu gebrauchen) von fehlerhaftem Verfahren genannt werden.«28 Eine Aufdeckung und Unterscheidung der vier genannten, von Kant stillschweigend identifizierten Dinge wird uns auch dem Hauptziel dieser Arbeit näherbringen, das darin besteht, zu prüfen, ob es wirklich die von Kant behaupteten Antinomien gibt, bzw. zu zeigen, daß diese angeblichen Antinomien bloß scheinbare sind. 2.3.2.1 Kausalität als solche im Sinne der Wirkursächlichkeit (causa efficiens) Um Kants Auffassung der Wirkursächlichkeit besser zu verstehen, müßte zunächst Humes Einfluß auf Kants Kausalitätsbegriff unter­ sucht werden, und es müßte auch auf die zweite Analogie der Erfah­ rung nach Kants transzendentaler Analytik der Grundsätze zurück­ gegriffen werden.29 Für die Zwecke dieser Abhandlung genügt es jedoch, an die Kantische Formulierung des »Grundsatzes der Erzeu­ gung« bzw. des »Grundsatzes der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität« zu erinnern, welcher Grundsatz in der ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft in der Überschrift zur zweiten Analo­ gie der »Grundsatz der Zeitfolge nach dem Gesetze der Kausalität« genannt und von Kant folgendermaßen formuliert wird: »Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt.«30 In einer späteren, in der zweiten Auflage erhaltenen Stelle der 28 Hegel, Logik III, 223. Eine interessante Kritik mancher dieser Verwechslungen und einer falschen Einordnung der Freiheit (agency) unter das Kausalgesetz findet sich auch in John D. Greenwood, »Kant's Third Antinomy: Agency and Causal Explanation«. 29 KrV, B 233 ff. Zum Verhältnis zwischen Hume und Kant in der Antinomienproble­ matik vgl. Manfred Kuehn, »Hume's Antinomies«, 25 ff. 30 KrV, A 189. Ganz ähnlich heißt es in B 240: »Wenn wir also erfahren, daß etwas geschieht, so setzen wir dabei jederzeit voraus, daß irgendetwas vorausgehe, worauf es nach einer Regel folgt.« Ebd.r B 252 heißt es hingegen vager: »Alle Veränderungen geschehen nach dem Gesetze der Verknüpfung der Ursache und Wirkung.«

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Erläuterung der zweiten Analogie fügt Kant die Erklärung hinzu, daß diese Regel einschließe, daß ein Ereignis jederzeit auf ein anderes folgen hzw. als solchermaßen folgend gedacht werden müsse, damit von Kausalität die Rede sein könne. Er identifiziert weiterhin dieses jederzeit zeitliche Folgen von zwei Ereignissen aufeinander mit einem »notwendigen Folgen«. Der wichtige Text lautet: Diese Regel aber, etwas der Zeitfolge nach zu bestimmen, ist: daß in dem, was vorhergeht, die Bedingung anzutreffen sei, unter welcher die Begebenheit jederzeit (d.i. notwendigerweise) folgt. Also ist der Satz vom zureichenden Grunde der Grund möglicher Erfahrung, nämlich der objektiven Erkenntnis der Erscheinungen, in Ansehung des Verhältnisses derselben, in Reihenfolge der Zeit. (KrV, B 246)

Noch ein letzter Text sei hier zitiert, der Kants Auffassung des Kau­ salsatzes deutlich macht: Also ist das Verhältnis der Erscheinungen (als möglicher Wahrnehmungen), nach welchem das Nachfolgende (was geschieht) durch etwas Vorhergehen­ des seinem Dasein nach notwendig, und nach einer Regel in der Zeit be­ stimmt ist, mithin das Verhältnis der Ursache zur Wirkung die Bedingung der objektiven Gültigkeit unserer empirischen Urteile, in Ansehung der Rei­ he der Wahrnehmungen, mithin der empirischen Wahrheit derselben, und also der Erfahrung. Der Grundsatz des Kausalverhältnisses in der Folge der Erscheinungen gilt daher auch vor allen Gegenständen der Erfahrung (unter den Bedingungen der Sukzession), weil er selbst der Grund der Möglichkeit einer solchen Erfahrung ist. (KrV, B 247)

Wenn wir uns nach dieser kurzen Erinnerung an die wichtigsten Tex­ te Kants über Wirkursächlichkeit deren Wesen selber zuwenden und zu erschauen und zu entfalten versuchen, was in diesem notwendig und evident gründet, kommen wir zu folgendem Ergebnis, das von Wichtigkeit für die Beurteilung der dritten Antinomie und der ge­ samten Auffassung Kants über Kausalität ist.31 31 Ein Wort zur Klärung des Verhältnisses der Termini »Kausalität« und »Wirkursäch­ lichkeit«: Während Aristoteles innerhalb der Ursächlichkeit (d. i. Kausalität) vier Arten von Ursachen unterschied (Formalursache, Materialursache, Finalursache und Wirk­ ursache), von denen die causa efficiens (die wir hier als »Wirkursache« bezeichnen) nur eine ist, versteht Kant Kausalität praktisch exklusiv als Wirkursächlichkeit, wie übrigens die meisten modernen Autoren. Wir identifizieren das von Kant als Kausalität Gemeinte also genauer, wenn wir es als Wirkursächlichkeit bezeichnen. Die Unterschei­ dung verschiedener Arten von Gründen und Ursachen, für die wir mit einer solchen Terminologie den Weg offen halten, ist, wie wir gleich sehen werden, für die kritische Untersuchung des von Kant behaupteten Kausalgesetzes wichtig.

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Wirkursächlichkeit schließt nämlich einerseits evidenterweise weniger ein als ein gesetzmäßiges und notwendiges »nach einer Re­ gel« auf einen zeitlich vorhergehenden Zustand Folgen. Dieses von Kant für das Wesen der Wirkursächlichkeit gehaltene Merkmal trifft in Wirklichkeit höchstens für die Kausalität innerhalb der bloß ma­ teriellen Welt, für mechanische und vielleicht manche Formen biolo­ gischer Kausalität innerhalb der Natur zu. Schon im Bereich des Le­ bendigen und vor allem innerhalb des tierischen Seins mit der den Tieren eigenen Spontaneität der Bewegung läßt sich Kausalität nicht mehr durch dieses von Kant angegebene Merkmal bestimmen, ge­ schweige denn mit diesem schlechthin identifizieren.32 Vor allem jedoch innerhalb der Sphäre der Person erweist sich deutlich, daß die eindeutig erfahrene freie Kausalität, kraft deren ich z. B. eine Entscheidung oder Gedankentätigkeit hervorbringe, echte Kausalität ist, aber keineswegs der Kantischen Definition untersteht. Denn hier erzeugt eine einzelne und einzigartige Entscheidung, die weder ihrer inhaltlichen Bestimmtheit, die einerseits von der irredu­ ziblen und je einzigartigen Spontaneität des Subjektes und andrer­ seits vom je individuellen Gegenstand her mitgeprägt wird, noch der Situation nach, die für sie vorausgesetzt wird, wiederholt werden kann, eine kausale Wirkung. Diese Wirkung geht ferner eindeutig aus ihrer Ursache hervor, ohne daß sie aber aus dieser nach einer »allgemeinen Regel« oder gemäß »notwendiger Gesetzmäßigkeit« folgen würde, wie Kant, in einem »mechanistisch-deterministischen« Denken befangen, dies als für Kausalität überhaupt wesentlich an­ sieht. Dieses Mißverständnis Kants rührt wohl von seiner einseitigen Orientierung an den Naturwissenschaften, vor allem der Physik und anderen experimentellen Wissenschaften her, in denen in der Tat Wirkungen auf ihre Ursachen gemäß einer allgemeinen und notwen­ digen Regel folgen, auch wenn wir noch, einer späteren Einsicht Kants folgend, zwischen (natur)»notwendiger Regel« in einem schwächeren naturwissenschaftlichen Sinne und einem notwendigen apriorischen Gesetz unterscheiden.33 Doch bleibt bei Kant in beiden 32 Vgl. Thomas von Aquins These, daß Tieren sogar eine gewisse Art irrationaler Frei­ heit und willentlicher Bezogenheit auf ein Ziel, ohne daß dieses als Ziel und in deutli­ cher Bezogenheit auf die Mittel erkannt werde, zukomme: Thomas von Aquin, Summa Theologica la Ilae, Q. 6, art. 2. 33 Siehe die Nachlaßreflexion R 5414 (ca. 1776-1778,1780-1789). Vgl. zum vollen Text und seiner Interpretation auch Wolfgang Ertl, Kants Auflösung der »dritten Antino­ mie«, S. 39.

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Fällen nicht nur eine gewisse Notwendigkeit der Regel (und eine strikte des »Gesetzes«) bestehen, sondern sieht Kant das Wesen der Kausalbeziehung in einem solchen »nach einer Regel Folgen«. Hätte Kant konsequenter auch an die Fälle freier oder historischer Kausali­ tät gedacht, müßte er gesehen haben, daß das von ihm der Kausalität als solcher zugeschriebene Merkmal nicht auf diese klaren Fälle von Kausalität zutrifft, zumindest nicht so problemlos oder evident, wie er dies in seiner Formulierung des Kausalprinzips voraussetzt. Denn eine personale oder historische Entscheidung und Handlung wird zwar von der Person verursacht, folgt aber nicht auf deren vorher­ gehenden Zustand nach einem allgemeinen und notwendigen Ge­ setz. Zumindest widerspricht eine solche These der Erfahrung dieses Typs von Kausalität, in der wir das Bewußtsein haben, selbst in je individueller und ungezwungener Weise die Ursache unseres Han­ delns zu sein, und darf nicht in der Definition der Kausalität schon vorausgesetzt werden. Eine freie, nach außen hin wirkende Handlung oder Tat bringt ferner äußere Wirkungen hervor (z. B. daß ein Stoß Holz vom Holz­ fäller zerkleinert wird, oder daß die Handlungen der Wiener und Polen 1683 die Türken abwehrten), aber auch solche Wirkungen fol­ gen auf die Handlungen selbst, die einen einzigartigen Charakter haben, nicht »nach einer notwendigen Regel« (obgleich gerade auch von freien Handlungen, wie wir sehen werden, Naturgesetze henützt werden). Daher müssen wir das Element des »notwendigen und nach einer Regel auf einen Zustand Folgens« ganz aus dem allgemeinen Begriff der Wirkursächlichkeit verbannen. Kausalität im Sinne der Wirkursächlichkeit bedeutet also im somit präzisierten Sinn weniger als Kant meint: nämlich zwar ein Folgen (Hervorgehen), nicht aber ein notwendiges Folgen und schon gar nicht ein auf Grund einer not­ wendigen Regel Folgen. Auf der anderen Seite bedeutet Kausalität viel mehr als in der Kantischen Formulierung enthalten ist, viel mehr als das »nach einer Regel Folgen« eines Zustandes auf den vorhergehenden, seien dieses Folgen und diese Regel auch noch so notwendig. Kausalität schließt nämlich das entscheidende Moment eines Zusammenhangs ein, kraft dessen ein Zustand (oder Ding) durch einen anderen (ein anderes) hervorgerufen oder erzeugt wird. Diese mit dem kausalen »durch« (per), dem aristotelischen ötd ob ausgedrückte Beziehung ist viel mehr als eine bloße regelmäßige oder notwendige Beziehung des zeitlichen Nacheinander und auch mehr als eine allgemeine Bezie­ 104

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hung des Bedingungseins, von der Kant in einem der zitierten Texte (.KrV, B 246) spricht und sagt, daß auf eine solche Bedingung hin jedesmal eine bestimmte Folge eintrete. Denn z. B. in der Zeit selbst (der Abfolge der Tage aufeinander, der Bedingtheit der ferneren Zu­ kunft durch die unmittelbare, usf.) gibt es unendlich viele notwendi­ ge Regeln zeitlichen Aufeinanderfolgens und des sich gegenseitig oder einseitig Bedingens, die nichts mit Kausalität zu tun haben, eben weil ihnen das Wesensproprium des »durch« der Wirkursächlichkeit fehlt und hier gerade nicht ein Ereignis vom anderen hervorgebracht wird, und weil es sein Sein oder seine inhaltliche Bestimmtheit eben nicht durch das andere erhält. Während es durchaus möglich wäre, dieses der Kausalität eigentümliche »durch« (per, das aristotelische ötd ob) näher zu bestimmen und von vielen anderen (z. B. logischen, erkenntnisgrundhaften, ontologischen) »durch-Beziehungen« abzu­ grenzen, bleibt es doch eine Urgegebenheit, die nur unmittelbar an­ schaulich erfaßt und nicht mit Hilfe von etwas anderem (wie einer notwendigen Regel und zeitlichen Folge etc.) definiert werden kann. In dem Versuch einer reduktionistischen Definition von Kausalität (Wirkursächlichkeit) allein schon liegt eine Wurzel des Kantischen Mißverständnisses der Kausalität. Und an dieser Stelle erweist sich auch die Gültigkeit des phänomenologischen Prinzips »zurück zu den Sachen selbst«, das ich hier dahingehend interpretiere, daß der Phi­ losoph die jeweiligen Wesenheiten und Wesensmerkmale treu auf­ fassen muß, indem er der Wirklichkeit selbst »ins Gesicht« blickt, ohne das nur in originärer Erkenntnis zugängliche Urgegebene auf etwas anderes zurückführen zu wollen und dabei zu verfälschen.34 34 Sehr schön äußert sich dazu J. W. von Goethe, der auf Grund solcher Stellen als ein Vater der phänomenologischen Methode und des Begriffs des Urphänomens angesehen werden darf, in seiner Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68: Wäre denn aber auch ein solches Urphänomen gefunden, so bleibt immer noch das Uebel, daß man es nicht als ein solches anerkennen will, daß wir hinter ihm und über ihm noch etwas Weiteres aufsuchen, da wir doch hier die Gränze des Schauens eingestehen sollten. Vgl. auch Goethes Gespräche mit Eckermann, S. 448: Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ... ist das Erstaunen, und wenn das Urphänomen ihn in Erstaunen setzt, so sei er zufrieden; ein Höheres kann es ihm nicht gewähren, und ein Weiteres soll er nicht dahinter suchen; hier ist die Grenze. Aber den Menschen ist der Anblick eines Urphänomens gewöhnlich noch nicht genug, sie denken, es müsse noch weiter gehen, und sie sind den Kindern ähnlich, die, wenn sie in einen Spiegel geguckt, ihn sogleich umwenden, um zu sehen, was auf der anderen Seite ist. Farbenlehre, II. Abtheilung, Nr. 177, Bd. 37, S. 68:

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Die Grenzen dieser Arbeit erlauben es nicht, eine eingehendere Ana­ lyse und Abgrenzung des der Wirkursächlichkeit eigentümlichen Moments des »durch« näher auszuführen, aber das bereits Gesagte sollte genügen, um unmißverständlich auf das Urphänomen der Wirkursächlichkeit hinzuweisen und die ungenügende, ja in doppel­ ter Hinsicht falsche Darstellung derselben bei Kant klar zu erkennen. 2.3.2.2 Die »Kausalität nach Gesetzen der Natur« ist von Wirkursächlichkeit als solcher scharf zu unterscheiden Wenn wir es mit Kausalität »nach Gesetzen der Natur« zu tun haben, besteht zusätzlich zu dem kausalen »durch«, das zwei Dinge oder Zustände verbindet und das in eminentem Sinne im Falle der Freiheit besteht und im freien Erzeugen von Akten unmittelbar erlebt wird, noch das Element einer Regel bzw. eines Gesetzes. Ein Naturgesetz hat quasi den Charakter einer allgemeinen überindividuellen Kraft oder Regel, unter deren wirksamem Diktat einzelne Ereignisse ste­ hen; diese gehorchen dem Naturgesetz, nicht wie Personen Gesetzen folgen, die an deren Freiheit appellieren; sie sind den Naturgesetzen nicht bloß de jure, sondern de facto unterworfen. Einen interessanten Fall einer strikten und doch nicht de facto Unterworfenheit des Ein­ zelgeschehens unter ein allgemeines Gesetz finden wir bei Spiel­ regeln, etwa im Schachspiel, die zwar in jedem einzelnen Fall befolgt werden, aber keineswegs notwendig befolgt werden müßten und auch nicht den Charakter eines der Kausalbeziehung selbst einge­ schriebenen wirkkräftigen Gesetzes haben, das gleichsam Teil der Ur­ sachen eines Geschehens ist - und zwar auch ohne verstanden und frei befolgt zu werden.35 Gerade dies ist aber bei der Kausalität nach Naturgesetzen der Fall. Diese de facto Unterworfenheit einzelner Geschehen unter das allgemeine Gesetz macht das Naturgesetz selbst, etwa das Gesetz der Schwerkraft, zu einem wirksamen Gesetz. Im Falle jener Kausalität, die solchen Naturgesetzen untersteht, fin­ den wir tatsächlich das von Kant aller Kausalität zugeschriebene Mo­ ment, daß ein Zustand oder Ereignis gesetzlich und nach einer Regel durch einen andern hervorgerufen wird. Kant identifiziert also ein Der Naturforscher lasse die Urphänomene in ihrer ewigen Ruhe und Herrlichkeit dastehen, der Philosoph nehme sie in seine Region auf ... Zu anderen Goethetexten darüber vgl. Josef Seifert, What is Life? On the Originality, Irreducibility and Value of Life. 35 Vgl. Josef Seifert, Schachphilosophie, Kap. 2.

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Wesensmoment einer bestimmten Art von Kausalität mit dem We­ sen der Kausalität schlechtweg. Diesen fundamentalen Fehler, der zu einer Verwechslung verschiedener Sachverhalte und zu falschen Ver­ allgemeinerungen (und damit zu falschen Prämissen des Kantschen Beweises) führt, werden wir als eine Wurzel der Aufstellung der drit­ ten Antinomie kennenlernen. (Dahei gälte es auch noch, die bereits hervorgehobene Ungenauigkeit der Kantischen Bestimmung des Verhältnisses zwischen Kausalität und Gleichzeitigkeit hzw. zeitli­ chem Folgen zu berichtigen.) Wir sehen in diesem Zusammenhang von der Frage ah, in wel­ chem Sinne man im Falle von Naturgesetzen wie dem der Schwer­ kraft von Naturnotwendigkeit sprechen kann und inwiefern es sich hier bloß um eine statistische Allgemeinheit handelt. Ich neige in diesem Punkt mehr dem Standpunkt Kants gegenüber jenem der Empiristen zu, halte allerdings eine klare Abgrenzung der »Natur­ notwendigkeit« von absoluter Wesensnotwendigkeit für unerläßlich. Wie noch gezeigt werden soll, ist eine der elementarsten Bedingun­ gen für das korrekte Verständnis von Kausalität, und auch von Kau­ salität nach Naturgesetzen, daß nicht nur die Naturnotwendigkeit, von der es Ausnahmen geben könnte und die eine gewisse Kontin­ genz besitzt, klar von der absolut ausnahmslosen Wesensnotwendig­ keit abgegrenzt wird, sondern daß die Objektivität dieser beiden Ar­ ten von Notwendigkeit von bloßer subjektiver Denknotwendigkeit geschieden wird.36 Bevor auf diesen zentralen Punkt auch nur andeu­ tungsweise eingegangen werden kann, wollen wir uns einer dritten Gegebenheit zuwenden, deren deutliche Abgrenzung von Wirk­ ursächlichkeit als solcher ebenso wie von Wirkursächlichkeit nach Naturgesetzen von großer Bedeutung ist. 2.3.2.3 Das Kausalitätsprinzip und seine Verschiedenheit vom Prinzip des zureichenden Grundes Sowohl von einzelnen Fällen der Kausalität, bzw. von realer kausaler Beziehung jedweder Art, als auch von der besonderen Art der Kau­ salität nach Naturgesetzen sowie von diesen Naturgesetzen selbst 36 Dies haben insbesondere A. Reinach, der E. Husserl der ersten Auflage der Logischen Untersuchungen und D. von Hildebrand in seinem Werk, Was ist Philosophie?, Kap. 4 gezeigt. Vgl. auch Seifert, Erkenntnis, II. Teil; und Back to Things in Themselves, Kap. 2-4. Vgl. auch Josef Seifert, What is Life?

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unterscheidet sich das Kausalprinzip, das Kant auch als Kausalgesetz bezeichnet. Aus der oben zitierten Stelle (KrV B 246) erweist sich, daß Kant keinen Unterschied zwischen Kausalprinzip und Prinzip vom zurei­ chenden Grund macht.37 Das letztere ist jedoch ein viel weiteres, all­ gemeineres Gesetz als das Kausalprinzip. Das geht schon daraus her­ vor, daß der Satz vom zureichenden Grund, den Leibniz als solchen erstmals als ein elementares metaphysisches Prinzip hervorgehoben hat,38 allgemein so formuliert werden darf: »Jedes Seiende muß so­ wohl für sein Dasein (Existenz) als auch für sein Sosein (Wesen) und jedwede andere Bestimmtheit (Relation etc.) einen zureichenden Grund besitzen, der erklärt, warum das Seiende ist und warum es so ist, wie es ist. Dieser zureichende Grund kann an sich sowohl in dem betreffenden Seienden als auch außerhalb desselben liegen.« (Ob er wertvoll, vernünftig oder notwendig sein muß oder nicht, wird damit nicht gesagt, und diese Frage darf auf keinen Fall in einem »ersten Prinzip« entschieden, sondern dürfte höchstens am Ende einer gan­ zen Metaphysik beantwortet werden.) Wird der Satz vom zureichen­ den Grund in dieser oder ähnlicher Weise formuliert, ist klar, daß seine strikt universelle Gültigkeit, die sich sowohl auf Zeitliches wie auf Ewiges, auf notwendig Seiendes wie auf zufällig Seiendes er­ streckt, ihn deutlich vom Kausalprinzip unterscheidet. Denn wäh­ rend kein Seiendes die Ursache seiner selbst sein kann, ist es möglich und sogar, wie nähere Untersuchung zeigen würde, notwendig anzu­ nehmen, daß es Seiendes gibt, dessen zureichender Grund in seinem 37 Vgl. dazu etwa Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, AAV, 195, wo er behauptet, daß »das Wort Ursache, von dem Übersinnlichen gebraucht, nur den Grund bedeutet.« Ebensowenig macht Kant einen klaren Unterschied zwischen dem allgemeinen Kausal­ prinzip und speziellen empirischen Kausalgesetzen. Vgl. dazu KrV, B 570. Vgl. auch Ertl, Kants Auflösung der »dritten Antinomie««, S. 144f. 38 Schon viel früher, vor allem bei Aristoteles, war dieses Prinzip, allerdings ohne klare Unterscheidung vom Kausalprinzip, formuliert worden. Leibniz formulierte den Satz vom zureichenden Grund, vor allem in der Monadologie und Theodizee, aber auch in anderen Werken, mit großer philosophischer Schärfe. Vgl. etwa »Metaphysische Ab­ handlung«, in: G. W. Leibniz, Die Hauptwerke, 6 ff. Allerdings gab er diesem Prinzip im Rahmen seines Briefwechsels mit Clarke über die Kontinua und über Freiheit, sowie im Rahmen seiner Diskussion der bestmöglichen Welt eine überaus problematische Deutung, indem er den zureichenden Grund als letztlich notwendigen Grund interpre­ tierte. In der folgenden Formulierung und Interpretation des Prinzips vom zureichenden Grunde wird dieses Prinzip ganz aus derartigen Leibnizschen Interpretationen heraus­ gelöst; eine genauere Auseinandersetzung mit Leibniz würde in diesem Rahmen zu weit führen.

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inneren notwendigen Wesen, nicht außerhalb desselben zu finden ist. Auch schließt das Prinzip vom zureichenden Grund viele von Wirkursächlichkeit verschiedene Ursachen und Gründe ein, z. B. die Materialursache, die Formalursache, die Finalursache, die Exemplar­ ursache, sowie auch Motivation etc., während sich das Kausalitäts­ prinzip, zumindest in seinem engeren, von Kant verwendeten Sinn, ausschließlich auf Wirkursächlichkeit bezieht. Der logische Satz vom zureichenden Grunde, der für die Wahrheit eines Urteils oder die Gültigkeit eines Schlusses und die Wahrheit seiner Konklusionen einen zureichenden Grund verlangt, ist seinerseits zwar nur ein Teil des Satzes vom zureichenden Grund, bezieht sich aber besonders ein­ deutig auf einen Bereich, der von Wirkursächlichkeit und Kausalität ganz verschieden ist - was einen weiteren Beweis für die Verschie­ denheit des Prinzips vom zureichenden Grunde und des Kausalprin­ zips darstellt, das Kant mit jenem verwechselt. Pfänder hat in seiner Logik den spezifisch logischen Sinn des Prinzips vom zureichenden Grund herausgearbeitet, der sich nur auf den zureichenden Grund für die Wahrheit eines Urteils bezieht. Pfän­ der zeigt, wie ausschließlich das im Urteil behauptete Selbstverhalten der Sachen, wenn es unabhängig vom Urteil so besteht, wie es be­ hauptet wird, einen solchen zureichenden Grund für die Wahrheit des Urteils darstellen kann und dieser weder in irgendeiner Eigen­ schaft des Urteils als solchen noch in einer Denknotwendigkeit oder Struktur des Subjekts, noch in anderen Momenten liegen kann. Auch kann er nicht darin liegen, daß Sachverhalte wirklich bestehen, die zwar vom behaupteten Sachverhalt impliziert werden, aber nicht die­ ser selbst sind und daher auch zur Begründung der Wahrheit des Ur­ teils nicht ausreichend sind.39 Allerdings könnte man hier einen enge­ ren und einen umfassenderen Sinn des logischen Prinzips vom zureichenden Grund der Wahrheit eines Urteils einführen. Und in dem letzteren Sinne würde der zureichende Grund der Wahrheit eines Urteils alles überhaupt umfassen, was einen Grund für die Wahrheit eines Urteils bildet, also auch die für das Bestehen eines gegebenen Sachverhalts als Gegenstand des Urteils notwendig vorausgesetzten Sachverhalte sowie Wesen und Sachverhaltsbeziehung des Urteils. Ohne daß es in diesem Rahmen möglich oder für diesen Zusam­ menhang nötig wäre, den genauen Sinn von »Grund« und von »zu­ reichend« zu klären und dabei die Leibnizsche Deutung des Satzes 39 Alexander Pfänder, Logik.

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vom zureichenden Grund kritisch zu beleuchten, möge das Gesagte genügen, um den viel allgemeineren Sinn des Prinzips vom zurei­ chenden Grund gegenüber jenem des Kausalprinzips klarzustellen. Das Kausalprinzip könnte höchstens als ein Sonderfall oder als eine von vielen Konkretisierungen des Satzes vom zureichenden Grunde angesehen werden, etwa als Satz vom zureichenden Grunde, insofern sich dieser auf Kausalität (im Sinne der Wirkursächlichkeit) spezifi­ ziert. Das Kausalprinzip kann nun so formuliert werden: »Es kann absolut kein neuer Zustand eintreten, nichts geschehen, ja nichts Kontingentes (Zufälliges seiner Existenz nach) existieren oder zu existieren fortfahren, ohne daß eine zureichende Wirkursache vor­ handen wäre, d. h. ohne daß diesen Seienden oder Veränderungen eine Kraft im seinsmäßig-kausalen Sinne vorherginge, durch die das betreffende Seiende oder Ereignis hervorgerufen, hervorgebracht oder im Sein erhalten wird.« In dem oben zitierten Satze: »Alles, was geschieht (anhebt zu sein), setzt etwas voraus, worauf es nach einer Regel folgt« ver­ sucht Kant offenbar dieses Kausalprinzip (oder Gesetz der Kausali­ tät, wie er es nennt) zu formulieren. Dabei schränkt er dieses erstens bloß auf die Geschehen und das ein, was einen Seinsanfang hat, ohne zu untersuchen, ob nicht alles kontingent Existierende ebenso einer Wirkursache bedarf, was sich als Ergebnis einer tieferen meta­ physischen Forschung, als sie hier geboten werden soll, als wahr er­ weisen würde.40 Zweitens verfälscht Kant, wie bereits erörtert, das Kausalprinzip, indem er das Element des »nach einer Regel Folgens« in seine Definition desselben hineinnimmt; dieses Element trifft nämlich bloß auf die Kausalität nach Gesetzen der Natur (und viel­ leicht auf weitere Fälle von Wirkursächlichkeit), nicht aber auf alle Kausalität als solche zu. Drittens nimmt Kant in nicht zu rechtferti­ gender Weise im Begriff des »Folgens« auch den Begriff des zeitli­ 40 Zu einem Beweis, daß jedes zufällig Existierende (kontingent Seiende) keine zurei­ chende Erklärung seines Daseins in sich selbst besitzt und eines notwendig Seienden bedarf, und daß dieses notwendig Daseiende zugleich auch Wirkursache des kontingen­ ten Seienden sein muß, vgl. Thomas von Aquin; vgl. auch Seifert, Essere e persona, Kap. 10-11. Es ist auch eine Frage, ob Kant, der ja in der vierten Antinomie das Problem der Abhängigkeit des zufällig Daseienden von einem notwendig existierenden Wesen ins Auge faßt, diese Abhängigkeit als kausale versteht. Vgl. dazu Heinz Heimsoeth, Tran­ szendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Zweiter Teil, S. 248 ff.; Vierter Teil, S. 505f.

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chen Aufeinanderfolgens in die Bestimmung des Verhältnisses von Ursache und Wirkung mit hinein, während dieses Verhältnis sowohl gleichzeitig sein kann (in gewisser Weise sogar sein muß), als auch außerzeitlich. Viertens ist Kants Definition des Kausalprinzips irrig, weil das eigentliche Wesensmerkmal hzw. der Wesenskern der Kau­ salität dahei gar nicht berührt wird, nämlich das bereits diskutierte Moment des kausalen »durch«. Die zitierten Texte41 erweisen wei­ tere Fehler in Kants Fassung des Kausalprinzips: nämlich, daß Kant fünftens zeitliche Folge zwischen Ursache und Wirkung nicht nur als eine notwendige Voraussetzung von Kausalität annimmt (4), sondern die letztere sogar mitunter nur als »Regel, etwas der Zeit­ folge nach zu bestimmen« faßt; sechstens, wie aus derselben Stelle (B 246) hervorgeht, verwechselt Kant das Kausalprinzip mit dem Satz vom zureichenden Grunde. Ein weitaus schwerwiegenderer Fehler besteht jedoch in Kants suhjektivistischer Fassung des Kausalprinzips, das nach ihm bloß ein »leeres Gedankenspiel« ist, solange man es als an sich wahr betrach­ tet. Nur in seinem Bedingung-der-Möglichkeit-der-Erfahrung-Sein liegt nach Kant sein apriorischer Charakter. Weder ließe sich danach die Gültigkeit des Kausalprinzips außerhalb des Feldes menschlicher Erfahrung noch überhaupt seine objektive Notwendigkeit und Digni­ tät als eines Seins- und Wirklichkeitsprinzips erkennen. Statt dessen wäre das Kausalprinzip wirklich nur eine notwendige Denkform von transzendentaler, subjektiver und Erfahrung ermöglichender Art. Damit wird verkannt, was als Kritik an der ganzen Kantischen Er­ kenntnisauffassung anzumerken und von Reinach, Hildebrand42 und anderen an anderer Stelle ausgeführt worden ist:43 daß nämlich die Notwendigkeit des Kausalprinzips weder mit derjenigen bloßer Naturgesetze (die Ausnahmen dulden und anders sein könnten) noch mit derjenigen bloßen notwendigen Denkenmüssens verwechselt werden darf. Im Gegensatz zur bloßen Denknotwendigkeit, die als solche ganz »blind« ist, ist die Wesensnotwendigkeit höchst intelligibel; im Gegensatz zu jener gründet diese nicht in irgendeiner Be­ schaffenheit des Subjekts, sondern in der einsichtigen Wesensstruk­ 41 Kant, KrV, B 246. 42 Vgl. Adolf Reinach, »Über Phänomenologie«, S. 531ff.; Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 4; What is Philosophy?, Kap. 4. 43 Siehe Fritz Wenisch, »Insight and Objective Necessity«; Josef Seifert, Erkenntnis, S. 47ff., 129ff. Vgl. auch ders., Back to Things in Themselves.

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tur des Objekts (in unserem Falle des Wechsels und des kontingenten Seins); im Gegensatz zur Denknotwendigkeit ferner, die an sich (zu­ mindest in anderen Wesen, wie Kant ausdrücklich, insbesondere in seinen Ausführungen im Opus postumum über die transzendentale Zufälligkeit der Verstandeskategorien bemerkt) anders sein könnte, ist die Wesensnotwendigkeit absolut und erlaubt die Einsicht, daß der betreffende notwendige Sachverhalt in sich selbst notwendig besteht und in keiner möglichen Welt anders sein könnte. Die Evidenz, mit der dies gegeben ist, wurde andernorts ausführlicher entfaltet.44 Der Leser sei nur eingeladen, selbst auf die Grundlage des oben formu­ lierten Kausalprinzips im intelligiblen Wesen der Veränderung und des zufällig existierenden Seins hinzublicken, um zu sehen, daß es tatsächlich im objektiven notwendigen Wesen der Veränderung und des Zufälligseins gründet, daß eine solche Veränderung niemals durch nichts, durch sich selbst oder durch bloßen Zufall erklärt wer­ den kann, sondern vielmehr nach einem zureichenden Grund ver­ langt; und daß ferner dieser zureichende Grund zwar viele andere Erklärungen einschließt (etwa Erkenntnis, Kreativität, Exemplarität, Materie usf.), aber eben auch die Erklärung, die nur eine Wirkursa­ che geben kann, als jene Kraft, durch die die Veränderung sozusagen als »vis a tergo« hervorgebracht und »ins Werk gesetzt« wird. Diese einzigartige Dimension der Erklärung ist eben die Wirkursache, und deren notwendige Vorausgesetztheit für jede Veränderung und jedes kontingente Seiende wird im Kausalprinzip formuliert als eine durchaus absolute, unserem Denken transzendente Notwendigkeit, die im Wesen des »Seins selbst« gründet. Nach unserer kurzen Diskussion des Kausalprinzips erhellt auch noch deutlicher, daß dasselbe an sich keinerlei Bezug auf ein all­ gemeines Gesetz oder ein Naturgesetz nimmt, unter dessen Diktat jede Veränderung, die aus dem vor ihr bestehenden Zustand hervor­ geht, stehen müßte. Daher kann die Wirkursache, deren Existenz im Kausalprinzip für jede Veränderung und jedes zufällig Seiende be­ hauptet wird, an sich sowohl frei als auch selber durch andere Ur­ sachen determiniert sein. Gleichfalls ist im Begriff der Ursache noch nicht gesagt, daß dieselbe ihre Wirkung rein von sich aus determi­ niere, also causa fatalis im Sinne Ciceros und Augustinus' sei. Viel­ mehr könnte eine Wirkursache nicht nur an sich frei sein, sondern 44 Vgl. Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1; ders., Back to Things in Themselves, S. 198-222, 303ff.; ders., »Essence and Existence«, Kap. 1.

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auch ihre Wirkung frei machen oder von freier Kooperation abhän­ gig sein lassen, wie dies z. B. in einem Akt des Einladens, Schenkens oder Versprechens der Fall ist, deren Wirkungen von ihrer Ursache nicht ohne die Freiheit des Empfängers (anzunehmen, zu verweigern etc.) erzeugt werden.45 Diese beiden Sachverhalte, daß nämlich weder die Ursache not­ wendig oder »nach einer allgemeinen Regel« wirken muß, sondern frei sein kann, noch die Wirkung mit Notwendigkeit aus der Ursache hervorgehen muß, werden durch Kants Formulierung des Prinzips der Kausalität (das er »Gesetz der Kausalität« nennt) zu Unrecht aus­ geschlossen. Damit kommen wir schon zu einer vierten Gegebenheit oder besser angeblichen Gegebenheit, die Kant weder von Kausalität als solcher noch von Naturkausalität und dem Kausalprinzip unter­ scheidet und deren Entlarvung als willkürliche und falsche Annahme den eigentlichen Grund des Scheines der dritten Antinomie aufdekken soll. 2.3.2.4 Das von Kant behauptete angebliche Kausalgesetz An dieser Stelle können wir den Inhalt des von Kant postulierten »Kausalgesetzes« entfalten. Dieses bereits aus Zitaten belegte und von Kant behauptete Kausalgesetz stellt eine Vermischung zwischen dem Kausalprinzip und einer verabsolutierten Naturkausalität dar. Diesem angeblichen Kausalgesetz nach müßte alles, was geschieht, nicht bloß eine zureichende Ursache haben, sondern auch aus einem früheren Zustand nach einer notwendigen Regel folgen. Dieses an­ gebliche Gesetz ist mit anderen Worten nichts anderes als die Frucht der Behauptung, Kausalität nach Gesetzen der Natur sei die einzige und allumfassende Form der Wirkursächlichkeit. Diese Behauptung haben wir bereits als falsch erkannt. Nur von dieser Behauptung her ist aber der oben erwähnte vier­ te entscheidende Schritt im Beweisgang für die Antithese der dritten Antinomie verständlich. Denn Freiheit widerspricht tatsächlich dem »Kausalgesetz« in der Kantischen Formulierung, das wir bereits als falsche Formulierung des Kausalprinzips erkannt haben. Im Lichte 45 Wir orientieren uns hier besonders an den Untersuchungen A. Reinachs. Siehe vor allem sein Werk »Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes«, S. 141ff.; ders., »Über Phänomenologie«, S. 531 ff. Zu einer ausführlicheren Darstellung spezifisch personaler Ursachen und ihrer Be­ ziehung zur Freiheit vgl. auch Seifert, Essere e persona, Kap. 9.

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dieses angeblichen allgemeinen Kausalgesetzes, das Kausalität nach Gesetzen der Natur oder notwendigen Regeln zur einzigen Form der Kausalität erhebt, erscheint allerdings die Existenz der Freiheit als Widerspruch, erstens als ein in sich unmögliches Abweichen von die­ sem Gesetz, da ja ein freier Akt gerade nicht nach einer allgemeinen Regel aus einem vorhergehenden Zustand des Handelnden fließt, zweitens als Regellosigkeit, die die Ordnung der Natur zerstört. Dies folgt in der Tat, wenn man Kants angebliches Kausalgesetz als evi­ dente Voraussetzung für alles Geschehen und für dessen Ordnung ansieht. Doch würde sich aus diesem angeblichen Kausalgesetz, d. h. aus dieser falschen Formulierung des Kausalprinzips, nicht bloß erge­ ben, daß Freiheit »regellos« und ein Verstoß gegen dieses Kausalge­ setz wäre, sondern es folgt aus ihm auch die dritte Antinomie. Denn dieses angebliche Kausalgesetz widerspricht einerseits der Freiheit (wie eben gezeigt wurde), andererseits setzt es sie auch wieder vor­ aus. Dies geht aus der Überlegung hervor, durch die Kant gezeigt hat, daß ohne Freiheit und ohne Kausalität durch Freiheit jede (auch die verabsolutierte) Kausalität nach Naturgesetzen in sich unbe­ gründet und unverständlich ist. Wie bereits in unserer kurzen Er­ klärung des Kantischen Beweises der These der dritten Antinomie ausgeführt, muß Freiheit als erster, alle Naturkausalität der selbst wieder von anderen Kausalgründen determinierten Ursachen erst verständlich machender, Ursprung von Naturkausalität angenom­ men werden. Damit aber ist klar geworden, daß Kants (irrige) Fassung des Kausalgesetzes tatsächlich eine Antinomie - oder besser, gemäß un­ serer früher festgesetzten Terminologie, eine logische Paradoxie begründet, die notwendig folgt, solange dieses »Kausalgesetz« postu­ liert wird. Während dieses Folgen eines antinomischen Widerspruchs allein schon genügen sollte, um die der Wirklichkeit widerstreitende Natur des von Kant postulierten Kausalgesetzes zu erkennen (können ja aus nichts Wirklichem oder Möglichem Antinomien und innere Widersprüche folgen), so haben wir bereits auch in einer von diesem Hinweis auf Selbstwiderspruch unabhängigen Weise die Falschheit der Formulierung des von Kant behaupteten »Kausalge­ setzes« festgestellt. Der paradoxe Widerspruch der dritten Antinomie ist also, wie aus den durchgeführten Unterscheidungen einleuchtet, nicht darauf zurückzuführen, daß, wie Kant meint, die Vernunft sich beim Nach­ 114

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Bestehen andere, objektive Antinomien?

denken über die kausale Entstehung der Erscheinungen notwendig in Antinomien verstricke. Vielmehr gründet diese angebliche Antino­ mie darin, daß das von Kant behauptete Kausalgesetz eine in sich widersprüchliche und aus dem Reich des Seins ausgeschlossene Fik­ tion darstellt, die nicht bloß jeder Evidenzgrundlage entbehrt, son­ dern sogar evident widersinnig ist. Damit stellt die dritte Antinomie, wie erwähnt, im Grunde keine Antinomie, sondern eine logische Pa­ radoxie bzw. einen logischen Widerspruch in dem Sinne dar, daß aus ein und derselben - eo ipso notwendig falschen und auch im vorlie­ genden Fall als falsch erwiesenen - Annahme mit Notwendigkeit zwei kontradiktorische Sachverhalte folgen. Damit erübrigen sich auch andere Auflösungsversuche der dritten Antinomie, wie etwa der in mancher Hinsicht tiefsinnige (wenn auch Kantsche Vorausset­ zungen nicht überwindende) Nikolai Berdjajews, dem zufolge nur die »Freiheit von« die Antinomien erzeuge, die aber durch die Dimensi­ on der »Freiheit für« überwunden werden könnten.46

2.4 Bestehen andere, objektive Antinomien im Verhältnis zwischen Freiheit und Kausalität? Doch darf sich der Philosoph nicht vorschnell mit einer Widerlegung der von Kant behaupteten Antinomie zwischen Freiheit und Kausa­ lität zufrieden geben, sei sie auch noch so gelungen. Denn mit einer solchen Widerlegung ist ja noch nicht viel über das positive Verhält­ nis zwischen Freiheit und Kausalität gesagt und sind noch nicht die verschiedenen objektiven Schwierigkeiten, die das Verhältnis zwi­ schen Freiheit und Kausalität berühren, aus dem Weg geschafft, von denen Kant selbst einige erwähnt. Überdies, und das ist eine noch viel störendere Begrenzung des Ergebnisses der bisherigen Ausführun­ gen, ist mit einer solchen Widerlegung der von Kant aufgestellten Antinomie, auch wenn diese sich als eine logische Paradoxie erweist, welche auf einer in sich widersinnigen Formulierung des Kausalitäts­ satzes beruht, noch keineswegs bewiesen, daß es nicht andere und objektiv bestehende Antinomien zwischen Freiheit und Kausalität gibt. Die zwei am besten bekannten dieser möglichen Antinomien,

Vgl. Assen Ignatow, »The Dialectic of Freedom in Nikolai Berdjaev«, S. 273ff.

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deren erste die absolute (göttliche) und deren zweite die menschliche Freiheit berührt, betreffen a) erstens die Frage, wie eine göttlich-ewige Freiheit zeitliche Wirkungen haben könne (diese Schwierigkeit wird von Kant wieder­ holt bemerkt, aber nicht zum eigentlichen Ausgangspunkt seiner Antinomie bzw. zum Ausgangspunkt seines Beweises für die Un­ möglichkeit von Freiheit als Wurzel der Naturkausalität gemacht); und b) zweitens die Schwierigkeit, wie ein kontingentes (und von einem ewigen und allmächtig-allwissenden Wesen oder von einer ewigen Naturordnung und als notwendig seiend gedachten Welt ab­ hängiges) Seiendes frei sein könne. Diese zweite Frage betrifft also nur die menschliche, die erste die göttliche Freiheit. Die erste Frage bezieht sich allerdings ebenfalls auf die mensch­ liche Freiheit, wenn Kant darin recht behält, daß er die menschliche Freiheit der Welt des Noumenon dem transzendentalen und damit in gewisser Weise auch dem an sich existierenden Subjekt zuschreibt (obwohl das genaue Verhältnis zwischen transzendentalem Subjekt und Ding an sich ein schwieriges Kapitel der Kant-Interpretation und die Frage der Vollständigkeit der Disjunktion »Ding-an-sich - Er­ scheinung« betrifft). Indem Kant die von ihm als evidente Tatsache festgehaltene Freiheit, die Bedingung der Moral und das notwendige Korrelat des sittlichen Sollens, in einen außerzeitlichen Bereich ver­ setzt, hebt er sie aus der Welt zeitlicher Erscheinungen heraus und muß sie daher als Ding an sich ansetzen, von dem aber doch wieder Wirkungen auf die Welt der Erscheinungen ausgehen. Damit bleibt diese scheinbare Antinomie einer zeitlosen (oder ewigen) Freiheit mit Wirkungen in der Zeit, deren Möglichkeit Kant an manchen Stellen (wenn er in der vierten Antinomie von einer ewig-notwendi­ gen und realistisch gedachten göttlichen Ursache spricht) leugnet, an anderen (wenn er vom transzendentalen menschlichen Subjekt spricht) wieder behauptet, auch in der kritischen Kantschen Philoso­ phie bestehen. Das zweite genannte Problem einer Aporie oder sogar einer scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und Kausalität, die Kant als solche nicht klar sieht und als Problem stellt, die aber seinem Beweis für die Antithese (daß es keine Freiheit gibt und Kausalität nach Gesetzen der Natur die einzige sei) implizite zugrundeliegt, be­ trifft nur die menschliche Freiheit als die Freiheit eines zeitlichen und kontingenten Wesens. Freiheit in der Zeit steht nun aus einem an­ 116

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deren Grund, der von der Kantischen Formulierung des Kausa­ litätsprinzips und dessen analysierter logischer Folge der Freiheits­ leugnung (und der These der Freiheit) völlig unabhängig ist, im scheinbaren Widerspruch zur Freiheit, ja führt sogar zu einer schein­ baren Antinomie. Jede freie Handlung in der Zeit ist nämlich eine Veränderung, die als solche eine Ursache haben muß; wenn diese Ursache nun in die spontane Selbstaktualisierung der Person verlegt wird, kann man wieder fragen, wo denn die Ursache für diese Selbstdeterminierung bzw. Selbstbestimmung, die sich ja auch in der Zeit vollziehen muß, liege. Deutet der Diskussionspartner dann auf die Person selbst, so kann man weiter die These aufstellen, die Selbst­ bestimmung der Person müsse auch irgendeinen Grund haben, und so fort.

2.5 Zur Überwindung einer behaupteten Antinomie und zur Begründung des widerspruchsfreien Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität Obwohl diese beiden metaphysischen Probleme des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität echte Aporien, unergründliche natürliche Geheimnisse, darstellen und also nicht strikte auflösbar sind, so kann doch ihr scheinbar antinomischer Charakter aufgelöst und durch eine vierfache Argumentation das widerspruchsfreie Ver­ hältnis zwischen Freiheit und Kausalität erwiesen werden: 2.5.1 Freiheit als Urtyp der Wirkursächlichkeit innerhalb der Ordnung der Ursachen Dazu muß zunächst in Richtung einer positiven Bestimmung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität das Folgende gesagt werden. Freiheit widerspricht in keiner Weise dem Kausalprinzip, wenn dieses nur korrekt formuliert wird (wie dies eben in Ausein­ andersetzung mit Kant versucht wurde). Ganz im Gegenteil, eine Reflexion auf Wirkursächlichkeit zeigt gerade, daß diese in unfreien Ursachen bloß ganz unvollkommen gegeben ist und in ihrer eigent­ lichsten Gestalt gerade nur innerhalb des Bereichs der Freiheit gefun­ den werden kann. Darauf hat Augustinus in einer tiefdringenden Untersuchung über Wirkursächlichkeit im V. Buch von De Civitate Dei hingewie­ W 117

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sen. Denn jede selber nicht freie und anderswoher determinierte Ur­ sache wirkt ja nur in dem Maß, in dem sie selbst »bewirkt wird«, wie Augustinus formuliert. Dann aber ist klar, daß unfreie und erst recht vollständig von außen determinierte Ursachen nicht einmal eigent­ lich dem Reich der Wirkursachen zuzuzählen sind - eben weil ihre Wirksamkeit letztlich ein bloßes »Weiterleiten« eines Bewirktseins von außen ist. Schon lebendige Pflanzen und erst recht mit spontaner Selbstbewegung ausgezeichnete Tiere sind schon viel eigentlicher Ursachen. Im vollsten Sinn sind ausschließlich freie Handelnde, die »mehr wirken als sie bewirkt sind«, d.h. die in freien Handlungen einen in gewissem Sinne schöpferisch-absoluten Anfang setzen kön­ nen, eigentlich Wirkursachen. Daher ist in letzter Weise nur Gott als eminent freier Schöpfer und nach ihm nur die frei wirkende Person im vollen Sinne eine Wirkursache, weshalb der freie Wille innerhalb der Ordnung der Ur­ sachen, innerhalb des geordneten Stufenbaus der Ursachen, an der Spitze der Wirkursachen steht, wie Augustinus mit seltener Klarheit hervorhebt.47 Es ist bemerkenswert, daß dieser Gedanke, daß nämlich die primäre Form der Wirkursache, die Aristoteles auch in seinem Kausalität veranschaulichenden Bild des frei tätigen Künstlers ge­ genständlich macht, nicht die sächliche materielle Ursache (die aitia), sondern der personale und frei tätig Handelnde oder Schaffende (aitios) ist,48 während das Bewußtsein, daß die primäre Form der Ur­ sächlichkeit der personale Wille ist, in der modernen, von der Natur­ wissenschaft beherrschten Denkweise sosehr verschwindet, daß die Existenz eines freien Subjekts nicht mehr als Urbild, sondern gerade­ zu als Gegensatz der Wirkursächlichkeit bzw. als mit dieser unver­ träglich angesehen werden konnte. 47 DeCivitateDei V, IX, 2ff.: Der Urgrund aller Dinge, die er schafft, nicht wird, ist daher Gott; die anderen Ursachen aber bewirken sowohl als sie auch bewirkt werden; dazu gehören alle geschaffenen Geister, vor allem die vernunftbegabten. Die körperlichen (physi­ schen) Ursachen, die viel mehr bewirkt werden als sie bewirken, sind nicht eigent­ lich den Wirkursachen beizuzählen, weil sie nur das vermögen, was aus ihnen die Willen der Geister machen. Wie kann also die Ordnung der Ursachen, die dem vorherwissenden Geist gewiß ist, machen, daß keine Wirkkraft in unserem Willen sei, wo doch unsere Willen in der Ordnung der Ursachen selbst einen so bedeuten­ den Platz einnehmen? (Eigene Übersetzung) 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik (III, V, VIII), Eudemische Ethik (II u.a.), und die Magna Moralia (I, ix-xix; 1187 a 5 - 1190 b).

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Der Gedanke, daß Freiheit die eigentlichste Form und daher auch die allein alle übrigen Formen der Wirkursächlichkeit verständ­ lich machende Art der Kausalität ist, liegt übrigens auch dem Kantischen Beweis für die These der dritten Antinomie zugrunde. Also muß in Antwort auf unsere Schwierigkeit gesagt werden: Freiheit bildet keinerlei Gegensatz zur Kausalität, indem sie gerade die höchste Form derselben darstellt. Das führt uns bereits zu einer wei­ teren Einsicht in das positive Verhältnis zwischen Freiheit und Kau­ salität. 2.5.2 (Göttliche und menschliche) Freiheit als letzte intelligible Quelle aller Naturkausalität Freiheit ist nicht nur die paradigmatische Urform der Kausalität,49 sondern sie ist auch die einzige sich wirklich selbst erklärende Form der Kausalität, die wirklich Ursache und nicht nur Weiterleiter der ursächlichen Kraft ist. Freiheit widerspricht nicht bloß nicht der Kau­ salität als solcher, sondern auch nicht der Kausalität nach Naturge­ setzen. Denn erstens setzt Naturkausalität (sowohl der Prozeß, der unter ihrem Diktat steht, als auch die Naturgesetze selbst) Freiheit als ihre letzte Begründung voraus, kann es doch innerhalb einer Ket­ te von Ereignissen, deren Ursachen »nach einer allgemeinen Natur­ regel« Wirkungen anderer Ursachen sind, niemals eine letzte Erklä­ rung von Wirkursächlichkeit geben, da jedes Glied dieser Reihe auf eine andere Ursache vor sich hinweist und sich deshalb innerhalb dieser Reihe keine einzige Ursache selbst erklären noch eine letzte Erklärung finden kann. Das ist ja die Grunderkenntnis im oben erörterten Kantschen Beweis der These der dritten Antinomie, der freilich zu seiner vollen Begründung nicht nur das evident wahre

49 Deshalb können wir uns auch Hans-Eduard Hengstenberg nicht anschließen, wenn er im Rahmen seiner interessanten Diskussion der Ursprungsrelationen in Sein und Ur­ sprünglichkeit behauptet, Kausalität (wobei er die vier Ursachen nicht unterscheidet, sondern nur Wirkursächlichkeit im Auge hat) sei die niedrigste Form einer Ursprungs­ relation und deshalb könne ein freies Subjekt nur Sinnmitteilung und Teilhabe urheben, nicht aber causa efficiens sein. Er identifiziert dabei das Kausalitätsprinzip mit einem rein materiellen Prinzip und übernimmt die deterministische Vorstellung der Wirk­ ursächlichkeit ohne jeden Grund von den gängigen modernen Klischees von Wirk­ ursächlichkeit, anstatt in ihr eine Urform des Ursacheseins zu erkennen, die gerade in der Person und ihrer schöpferischen oder handelnden freien Tat kulminiert.

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Kausalprinzip, sondern auch die evidente Wahrheit des Prinzips vom zureichenden Grunde voraussetzt.50 Nur Freiheit, und die Kausalität aus Freiheit, wie wir mit Kant formulieren können, findet in der freien Selbstbestimmung des Sub­ jekts und in dem freien Initiieren einer Kausalkette eine letzte Erklä­ rung, im Menschen eine »relativ letzte«, da er selber in seinem Sein und Gutsein von jenem absolut Seienden abhängt, den Augustinus genial den Geber aller Macht (omnium potestatum), nicht aller Wil­ lensentschlüsse (non omnium voluntatum) nennt. In der göttlichen Freiheit liegt auch die einzige intelligible Grundlage für alle anderen Arten von nicht-freier Kausalität und Wirksamkeit in der Natur, die letztlich alle auf Freiheit zurückgehen müssen, sollen sie nicht in einen absurden endlosen Regreß führen, worauf Kant ja ausdrücklich in seinem Beweis der These der dritten Antinomie hinweist.51 Jede unfreie Wirkursache folgt auf eine andere nach einem not­ wendigen Gesetz, wie Kant sagt, obwohl dies nicht für sämtliche nicht-freien Ursachen gilt. Noch wichtiger ist - worin viel mehr als in der Regelhaftigkeit (die bei der Spontaneität der Tiere wegfällt) das Wesentliche liegt -, daß alle unfreien Ursachen ihre Kraft, selber Ursache zu sein, wieder aus einer anderen Quelle empfangen und deshalb ihre eigene Ursächlichkeit nicht letztlich erklären können. Darum verweist jedes Glied einer solchen Ursachenreihe, auch wenn es in einen absurden unendlichen Regreß hin fortgeführt wird, we­ sensnotwendig über sich selbst hinaus und zurück auf eine andere Ursache, die die eigene Ursächlichkeit unfreier Wirkursachen hervor­ ruft. So gäbe es keinen letzten Grund der Naturursächlichkeit ohne den absoluten Anfang der Freiheit und der Ursächlichkeit aus Frei­ heit. 2.5.3 Gesetz und Ursächlichkeit nach Naturgesetzen ist nicht nur kein Widerspruch, sondern ein notwendiges Korrelat zur Freiheit und Verantwortlichkeit der Person Eine Entfaltung dieser Einsicht führt zu einem weiteren Ergebnis, das im Rahmen einer positiven Bestimmung des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität eine wichtige Stelle hat.

50 Zu dessen eingehender Begründung vgl. Seifert, Essere e Persona, Kap. 11. 51 Kant, KrV, B 490.

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Neben ihrer Rolle als letzte Begründung aller Naturkausalität setzt nämlich die Freiheit auch in anderer Weise Naturkausalität überall dort voraus, wo sie das Reich rein innerer Entscheidungen verläßt und psychische Tätigkeiten (rechnen, vorstellen usf.) oder vor allem leibliche Taten kommandiert, durch die das freie Subjekt in die äußere materielle Welt eingreift. Denn ohne Naturgesetze (und wohl auch ohne andere allgemeine psychologische und wesens­ notwendige Gesetze) wäre eben jene Ordnung und Gesetzlichkeit undenkbar, die Kant mit Recht so bewundert, die aber in keiner Wei­ se einen Gegensatz zur Freiheit, wie Kant fälschlich meint, sondern gerade eine ergänzende Bedingung für sinnvolles freies Handeln in der Welt darstellt. Denn wenn es z.B. im physiologischen und mechanischen Bereich keine Naturgesetze oder zumindest mit mora­ lischer Sicherheit vorhersagbare äußere Folgen bestimmter Hand­ lungen gäbe, dann wäre sinnvolles und verantwortliches mensch­ liches Handeln unmöglich. Roman Ingarden hat in überzeugender Weise Kausalität nach Naturgesetzen als Bedingung der Freiheit aufgewiesen.52 Denn nur weil bleibende Gesetze den Bereich der Natur beherrschen (nur weil z. B. ein rettendes Seil im allgemeinen eine bestimmte Wirkung hat, ein beim Fenster hinausgeworfener mensch­ licher Körper nach den Gesetzen der Schwerkraft bestimmte vorher­ sagbare Schicksale erleidet, usf.), kann es Verantwortlichkeit für Handlungen und überhaupt sinnvolles menschliches Handeln geben. Wenn jede Handlung in der Welt unvorhersehbare und willkürliche Wirkungen hätte, die nicht Naturgesetzen, psychologischen, sozio­ logischen, ökonomischen, historischen und vor allem notwendigen Wesensgesetzen, aber auch gewissen konventionellen allgemeinen Gesetzen unterstünden, wäre sinnvolles und verantwortliches Han­ deln in der Welt nicht möglich und könnte sich Verantwortung höchstens auf rein innerliche freie Akte erstrecken. Damit sind je­ doch Freiheit und allgemeine Gesetzlichkeiten, von denen Naturge­ setze nur ein Teil sind, zwei sich notwendig gegenseitig vorausset­ zende Momente der Weltordnung. Was der Freiheit widerspricht, ist nur das Kantsche und Laplacesche Konstrukt einer Theorie, der ge­ mäß nach den Worten Roman Ingardens:

52 Roman Ingarden, Von der Verantwortung. Ihre ontischen Fundamente, »X. Die kau­ sale Struktur der Welt«, S. 99 ff.

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alle Ereignisse in der realen Welt (also auch die Willensentscheidungen) zu­ sammen ein einziges System der kausalen Beziehungen bilden, in welchem sie als Wirkungen eindeutig und notwendig durch ihre Ursachen bestimmt sind.53

In Wirklichkeit aber bildet die Kausalität nach Naturgesetzen, in der ein Ereignis durch ein vorhergehendes strikte determiniert ist und ihm »nach einer Regel folgt«, nur einen Teil der Erklärung der Ge­ schehen in der Welt und der Kausalität. Es ist hier so wie in der Analogie des Schachspiels bewandt: Die konventionellen Regeln die­ ses Spiels (und erst recht die wesensnotwendigen logischen und ma­ thematischen Gesetze sowie andere Regeln, die in ihm eine Anwen­ dung finden) schließen eine unendliche Zahl von Zügen und Wendungen im Spielgeschehen aus und spielen so eine entscheiden­ de Rolle, ohne die ein sinnvolles Spiel überhaupt nicht denkbar wäre und jeder Weltmeister gegen jeden Stümper, der ohne Regeln zöge, verlieren könnte. Doch werden die innerhalb der Regeln möglichen unendlich vielen verschiedenen Positionsabfolgen einer konkreten Partie (die mehr als die Sekunden seit Anfang des Weltalls aus­ machen) nicht durch die Regeln als solche, sondern nur durch ihre freie Anwendung durch die Spieler, deren konkrete Züge nicht durch die allgemeinen Regeln als solche hinreichend bestimmt werden, festgelegt. Ähnlich ist es mit der Natur bewandt: Ohne die festen kausalen Naturgesetze wäre freies sinnvolles und verantwortliches Handeln unmöglich. Ohne die Existenz solcher Kausalität nach all­ gemeinen Naturgesetzen chemischer, physikalischer, biologischer und anderer Natur könnte verantwortliches handelndes Eingreifen in die reale Welt nicht erklärt werden, aber nur durch diese Natur­ kausalität ebenso wenig. Wird das bedacht, so zeigt sich, daß Kants rhetorische Äußerung, »Kausalität verhalte sich zu Freiheit wie Ge­ setzlichkeit zu Regellosigkeit«, in schroffem Gegensatz zu evidenten Wesenstatsachen steht. Das läßt sich, wie gesagt, schön anhand des Verhältnisses zwi­ schen Freiheit und den strikte einzuhaltenden Spielregeln des Schachspiels dartun. Die Regeln eines Schachspiels sind nämlich voll mit der Freiheit des Schachspielers verträglich, da all die Arten von Regeln und anderen allgemeinen Gesetzen, denen das Schachspiel untersteht, ja nicht alle Züge durchgängig und vollkommen bestim­ 53 Vgl. Roman Ingarden, Von der Verantwortung, S. 99. Ingarden nennt diese Auffas­ sung, die er kritisiert, »den radikalen Determinismus«.

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men. Gerade anhand dieses Beispiels konnte ich die Irrtümer der dritten Kantschen Antinomie nachweisen,54 wie sich überhaupt das Beispiel des Schachspiels als überaus fruchtbarer Ansatzpunkt für philosophische Erkenntnisse erweist. So wiesen Peter Geach und Eli­ zabeth Anscombe nach, daß die These des ethischen Konsequentialismus, daß ausnahmslos gültige Regeln in konkreten Fällen immer zu logischen Widersprüchen führen müßten, durch das Beispiel des Schachspiels und anderer Spiele, die lückenlos von allgemeinen Re­ geln bestimmt sind (wenn auch nicht alle Spielgeschehen durch all­ gemeine Regeln durchgehend und in allem bestimmt sind), leicht zu entkräften ist.55 In der Schachphilosophie habe ich ausführlicher zu zeigen gesucht, daß auch zur Erklärung einer konkreten Schachpartie strikte notwendig geltende konventionelle und auch logisch-mathematisch-schachliche Gesetze einerseits und Freiheit andererseits ohne jeden Widerspruch - herangezogen werden müssen. Wenn allerdings die Kausalität nach Naturgesetzen, die eine wichtige Bedingung für sinnvolles freies Handeln ist, verabsolutiert und zur einzig möglichen Form der Kausalität erklärt wird, wider­ spricht eine solche verabsolutierte Naturkausalität tatsächlich der Freiheit, wie Ingarden in der oben zitierten Stelle und Kant im Be­ weis der Antithese der dritten Antinomie mit Recht behaupten, weil freie Selbstbestimmung des Subjekts und Kausalität durch Freiheit eine ganz andere Art von Kausalität sind als Kausalität nach Natur­ gesetzen und sich auf diese niemals reduzieren lassen. Wird jedoch Kausalität nach Gesetzen der Natur als das erkannt, was sie tatsäch­ lich ist, nämlich als eine Form der Kausalität, die viele Geschehen, sowie viele Aspekte aller physischer Geschehen, beileibe aber nicht alle Wirklichkeitsbereiche beherrscht, dann kann ihre Verträglichkeit mit Freiheit, sowohl die notwendige Vorausgesetztheit der Freiheit für Naturkausalität als auch die Vorausgesetztheit von Naturkausa­ lität für sinnvolles freies Handeln in der Welt, unschwer erkannt werden. Genauso wird jedermann zur Erklärung eines Zuges einer Schachpartie auf konventionelle und allgemein bindende Regeln des Spiels und auf notwendige Sinngesetze des Schachspiels rekurrieren, 54 Vgl. Seifert, Schachphilosophie, S. 21-26. 55 In Geachs Fürst Franz Josef II./Fürstin Gina Vorträgen und Elizabeth Anscombe in ihren 1996 an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechten­ stein im Rahmen desselben Lehrstuhls gehaltenen Vorlesungen. Vgl. Peter Geach, Truth and Hope.

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wird aber niemand der Meinung sein, diese Regeln und Gesetze al­ lein und für sich selber könnten auch nur einen einzigen Zug, der »auf den vorhergehenden nach einer notwendigen Regel folgt«, hin­ reichend erklären. 2.5.4 Zwei echte Aporien und scheinbare Antinomien von Freiheit und Kausalität Alle bislang entwickelten Teile der Auflösung der dritten Antinomie lösen aber noch nicht die erwähnten zwei Schwierigkeiten, die wir als zwei »Aporien der Freiheit« bezeichnen können und die sich in fol­ genden zwei Fragen ausdrücken lassen: 1) Wenn einerseits alle zeitlichen Ereignisse und Dinge letzten Endes - eben wegen ihres zeitlichen Anfangs und wegen ihrer struk­ turellen Zeitlichkeit des Früher und Später - einer Ursache bedürfen, die selber nicht in der Zeit wirkt, wie soll doch andererseits eine zeit­ los-ewige Ursache Zeitliches erklären können, da ja eine zeitlos-ewi­ ge Ursache unmöglich Wirkungen in der Zeit haben zu können scheint? 2) Wie kann freies menschliches Handeln in der Welt, das doch nach dem wesensnotwendigen Kausalprinzip, das in seiner besonde­ ren Anwendung auf zeitliches Geschehen für jede Veränderung (also auch für freie menschliche Akte) eine zureichende Ursache außer­ halb des zeitlichen Geschehens verlangt, frei sein? Muß nicht, mit anderen Worten gesagt, jeder menschliche kontingente zeitliche freie Akt eine Illusion sein, weil er als zeitliches Geschehen von einer von ihm verschiedenen Ursache erzeugt werden und also determiniert sein muß und nicht frei sein kann? Zunächst zur ersten Frage: 1) Die Frage, wie zeitliche Ereignisse (und damit auch freie Akte in der Welt) einerseits eine ewige Ursache voraussetzen, aber ande­ rerseits durch sie nicht erklärt werden könnten, da eine ewige Ursa­ che nur ewige Wirkungen hervorbringen könne, finden wir bereits bei Parmenides. Sie scheint jedoch auf eine typische Aporie, nicht auf eine An­ tinomie hinzuweisen. Wie nämlich eine ewige Ursache zeitliche Wir­ kungen haben soll, wie sie für die letzte ursächliche Erklärung aller endlichen Seienden vorausgesetzt ist, übersteigt allerdings die Gren­ zen unseres Verstandes und erst recht unseres Vorstellungsvermö­ 124

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gens, aber daß dies unmöglich sei, kann keineswegs eingesehen wer­ den. Auch die eingehendste Untersuchung zeigt nicht, daß eine sol­ che zeitliche Wirkung ewiger Ursachen, so unergründlich sie auch ist, absolut unmöglich sei. Kant selbst nimmt ja sogar beim Men­ schen außerzeitliche Ursachen, die in der Zeit wirken, an, nämlich beim transzendentalen Ich und der transzendentalen Freiheit, die seiner Meinung nach als eine noumenale Ursache von Erscheinun­ gen in der Zeit angesehen werden müssen. Ja, er nimmt sogar an, daß ein und dieselben Wirkungen innerhalb der Erscheinungen zu­ gleich durch das transzendentale Subjekt frei hervorgebracht sind (wenn die zeitlichen Geschehen nämlich ihrer Ursache an sich, näm­ lich der transzendentalen Subjektivität, nach betrachtet werden), als sie auch determiniert sind (sofern sie nämlich unter dem Gesichts­ punkt ihrer Abhängigkeit von anderen Erscheinungen nach dem Ge­ setz der Kausalität gedacht werden). Selbst wenn diese Auffassung in sich widerspruchsvoll ist (wie der Autor dieser Arbeit behauptet), so kann doch Kant, wenn er in der Tat widersprüchliche und jeden­ falls viel paradoxere Annahmen (hinsichtlich des Hervorgehens zeit­ licher Ereignisse aus zeitlosen freien Akten) macht, als die Annahme zeitlicher Wirkungen einer zeitlos-ewigen und göttlichen freien Ur­ sache alles innerweltlichen Seins und Tuns ist, nicht ernstlich be­ haupten, daß diese Annahme, die gerade einen Teil der von ihm selber vertretenen und wirklich paradoxen Thesen bildet, in sich wi­ derspruchsvoll sei. 2) Die größte Aporie des Kausalität-Freiheit-Verhältnisses und vielleicht sogar eine scheinbare Antinomie liegt jedoch in der zwei­ ten erwähnten Schwierigkeit, nämlich wie Freiheit kontingent-zeit­ licher Seiender denkbar sein soll. Merkwürdigerweise trennt Kant das Antinomienproblem so radikal von seiner Lehre über die tran­ szendentale Gottesidee, daß er diese Aporien und andere scheinbare Antinomien völlig übersieht. Dieser an sich äußerst überraschende Umstand ist wohl darauf zurückzuführen, daß es Kants oft von star­ ren quasi-ästhetischen Gesichtspunkten geleitetem Systemdenken mehr entspricht, jeder der drei transzendentalen Ideen eine geson­ derte Schwierigkeit zuzuordnen: einer (der Idee der Seele) den Para­ logismus, der anderen (der kosmologischen) die Antinomien, der transzendentalen Gottesidee hingegen die unvermeidliche Hyposta­ sierung und Subreption, die zu einem unvermeidlichen transzen­ dentalen Schein hinsichtlich der Gottesidee führe, indem wir Gott zugleich als eine reine Vernunftidee erkennen können und doch wei­ ^ 125

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terhin für einen transzendenten Gegenstand halten müssen, was eben den unvermeidlichen »transzendentalen Schein« ausmache. In Wirklichkeit aber wirft gerade die Endlichkeit der Freiheit des Menschen objektive und tiefe aporetische Probleme auf, die Kant in seiner Antinomienlehre gar nicht oder nur in beiläufigen Bemerkun­ gen als solche beachtet.56 Wenn der Mensch tatsächlich sowohl in seinem leiblichen als auch in seinem geistigen Sein und auch in sei­ ner Freiheit objektiv in der Zeit existiert, und also von einer ihm selber transzendenten Ursache abhängen muß, wie kann er dann frei sein? Wenn angenommen wird, der Mensch sei in seinem Sein total von ihm vorhergehenden innerweltlichen Ursachen oder auch von einer Erstursache abhängig und es sei nichts in ihm, was nicht durch diese Ursache hervorgebracht werde, dann ist es noch unbegreifli­ cher, wie eine solche Abhängigkeit von Kausalität von außen oder von Allmacht mit Freiheit verträglich sein solle. Diese Schwierigkeit ist noch erheblicher als jene, die sich aus dem bereits von Cicero und Augustinus eingehend diskutierten Pro­ blem der Koexistenz von menschlicher Freiheit und göttlichem Vor­ herwissen ergibt. Schweifen wir einen Moment auf diese außerhalb des Problemkreises »Kausalität - Freiheit« liegende Aporie ab. Diese Aporie und scheinbare Antinomie, die Kant ebensowenig betrachtet wie das Problem einer kontingenten und von einer Ursache abhängi­ gen Freiheit, kann so formuliert werden: Vorausgesetzt, es sei bewie­ sen, daß der göttliche Ursprung der Dinge alle zukünftigen Seienden erkennt, wie kann ein in solchem Allwissen impliziertes Wissen der Zukunft mit der Freiheit einiger Wesen in dieser Zukunft und der Kontingenz (Nichtnotwendigkeit) ihrer Entscheidungen vereinbar sein? Wie kann freies, noch nicht existierendes Handeln der noch nicht existierenden zukünftigen Personen von Gott vorhererkannt oder ihm bereits in einem ewigem Anschauen bekannt sein? Dies hielt Cicero für unmöglich, weil es dem menschlichen Tun die Not­ wendigkeit der Wahrheit des inhaltlichen göttlichen Wissens auf­ erlege. Augustinus zeigte, daß die Notwendigkeit, daß alles ge­ schieht, was Gott ewig vorherweiß und wie er es weiß, nur die Notwendigkeit ist, daß alles sein wird, was sein wird, wie alles war, was geschehen ist, und daß alles eintreten wird gemäß der unfehlbar 56 Denn die von Kant behauptete dritte Antinomie ergibt sich zwingend und hinrei­ chend aus seiner falschen Formulierung des »Kausalgesetzes« bzw. der verabsolutierten Kausalität nach Gesetzen der Natur.

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wahren Erkenntnis der Zukunft. Aber diese Notwendigkeit wider­ spricht nicht der Freiheit, da sie nicht die ganz andersartige Notwen­ digkeit des Zwanges ist, die der Freiheit widerspräche und sie aufhö­ he. Ja da die göttliche Allwissenheit unsere freien Taten als freie Taten und nicht als determiniert oder als Wirkung eines Fatums weiß, wäre sie gerade nicht wahr, wenn diese Taten nicht frei wären. Vorherwissen freier Taten als freier Taten garantiert also Freiheit, statt sie aufzuhehen. Die Aporie, wie man überhaupt vor der Existenz eines freien Wesens dessen inhaltliche Entscheidungen kennen kann, hleiht allerdings eine tiefe Aporie, ein natürliches Geheimnis im erörterten Sinne. Noch größer als diese Aporie des Zusammen von menschlicher Freiheit und göttlichem Vorherwissen ist jedoch die Schwierigkeit, wie sich totale Seinsahhängigkeit eines Wesens mit seiner Freiheit vertragen könne. Dennoch ist auch diese wirklich unauflöshar schei­ nende Schwierigkeit weit davon entfernt, eine echte Antinomie im ohen erläuterten Sinne zu erzeugen, wie wir nun sehen werden.

2.5.5 Descartes' Nachweis des Charakters der scheinbaren Antino­ mie des Verhältnisses zwischen Freiheit und Kausalität (All­ macht) als Aporie und nicht als Antinomie, als widerspruchs­ freies Zusammenbestehen letztlich evidenter endlicher (menschlicher) Freiheit und kausaler Abhängigkeit vom abso­ luten Sein Den Umstand des widerspruchsfreien Zusammenhestehens von menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht hat Descartes in der folgenden tiefsinnigen Stelle ausgedrückt: Auf Grund dessen, was wir bisher von Gott erkannt haben, sind wir sicher, daß seine Macht so groß ist, daß wir ein Sakrileg begingen, wenn wir dächten, wir wären jemals fähig gewesen, irgend etwas zu tun, was er nicht vorher geordnet hätte. Aber aus diesem Grunde könnten wir uns leicht in sehr gro­ ßen Schwierigkeiten verwickeln, wenn wir es unternehmen wollten, die Frei­ heit unseres Willens mit der göttlichen Vorsehung in Harmonie zu bringen, und wenn wir dies verstehen, das heißt mit unserem Verstande die ganze Ausdehnung unseres freien Willens und die Anordnung der ewigen Vor­ sehung umfassen und gleichsam in Grenzen einschließen wollten. Statt dessen werden wir keine große Mühe haben, uns von dieser Schwierigkeit zu befreien, wenn wir bemerken, daß unser Denkvermögen begrenzt, und daß die Allmacht Gottes, durch die er nicht nur seit Ewigkeit W 127

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alles, was ist oder sein kann, gewußt, sondern auch gewollt [bzw. frei zugelas­ sen, Zusatz des Übersetzers] hat ... unendlich ist. Daher kommt es, daß wir genügend Intelligenz besitzen, um klar und deutlich zu erkennen, daß eine solche Macht in Gott ist, aber daß wir nicht genügend Intelligenz haben, um ihre Weite so zu erkennen, daß wir die Art erkennen könnten, wie sie die Handlungen des Menschen vollkommen frei und undeterminiert lasse; und daß andererseits wir auch mit solcher Gewißheit unserer Freiheit und der vom Zwang freien Unbestimmtheit in uns sicher sind, daß es nichts gibt, was wir klarer erkennten . derart, daß die Allmacht Gottes uns in keiner Weise daran hindern darf, von ihr [unserer Freiheit und Unbestimmtheit, Anm. des Übersetzers] überzeugt zu sein. Denn wir hätten Unrecht, an dem zu zweifeln, was wir innerlich wahrnehmen und von dem wir aus Erfahrung wissen, daß es in uns ist, weil wir eine andere >Sache< nicht verstehen, von der wir wissen, daß sie [für uns, sinngemäßer Zusatz des Übersetzers] von Natur aus unbegreifbar ist.57

Wenn man (so dürfen wir diese Stelle auch im Sinne der eingangs ent­ wickelten Analyse der Eigenart von Aporien und der richtigen Ant­ wort auf sie interpretieren) dieses Nichtverstehenkönnen des Zusam­ men von endlicher Freiheit und kausaler Abhängigkeit des Menschen nicht mit einem positiven Sehen von Unmöglichkeit verwechselt, und ferner mit Descartes die evidente Erkenntnis gewinnt, daß der Mensch tatsächlich frei ist und doch zugleich von einer absoluten Ursache ab­ hängt, dann kann man auf diesem indirekten Wege mit größter Ge­ wißheit die Verträglichkeit von Freiheit und seinsmäßiger kausaler Abhängigkeit des Menschen erkennen, auch wenn uns das exakte »Wie« dieses Zusammenbestehens immer geheimnisvoll bleibt. Doch kann der Mensch wirklich mit letzter Evidenz erkennen, daß er frei ist? Bei der Auflösung von scheinbaren Antinomien wie den gegebenen, die in unserem Falle eher den Charakter natürlicher Geheimnisse und auflösbarer Aporien annehmen, ist die Frage der Unbezweifelbarkeit und Evidenz der Erkenntnis derjenigen Gege­ benheiten, von denen die scheinbare Antinomie oder die wirkliche Aporie ausgeht, von grundlegender Bedeutung. Denn wenn wir die beiden Wahrheiten, zwischen denen ein scheinbarer Widerspruch be­ steht, mit Evidenz einsehen, können und dürfen wir uns durch kei­ nerlei Schwierigkeiten, und wären sie auch (wie Newman sagt)58 zehntausend, an der sicheren Erkenntnis irremachen lassen. 57 Eigene Übersetzung aus dem Französischen, Tannery IX, 2, S. 42. 58 John Henry Cardinal Newman sagt, zehntausend Schwierigkeiten rechtfertigten nicht einen einzigen Zweifel.

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Läßt sich also, so wollen wir fragen, die von Descartes behaup­ tete absolute Unbezweifelbarkeit der Freiheit aufrecht erhalten? Wenn ja, dann kann zwischen unserer Freiheit und unserer letzten kausalen Abhängigkeit von unserer Ursache im absoluten Sein kein unauflösbarer Widerspruch bestehen. Die absolute und in gewisser Weise unübertreffbare Evidenz des freien Wollens hat auch Augusti­ nus klar gesehen, der sie an gewisser Stelle sogar noch über jene des Cogito als solchen setzt. Weder die intelligible und notwendige We­ senheit der Freiheit noch ihre reale Existenz in uns, sagt uns Augu­ stinus, ist zweifelhaft oder auch nur eine Hypothese oder Annahme. Wir wissen mit unbezweifelbarer Gewißheit, daß wir frei sind59 - wie auch Rene Descartes60 oder Hans Urs von Balthasar61 nach ihm be­ stätigen. Nichts ist uns evidenter als die Freiheit. Sogar unsere eigene Existenz und unser bewußtes Leben sind uns nicht mit größerer Evi­ denz gegeben, selbst wenn wir sie vielleicht leichter verstehen, fährt Augustinus fort. Wir erkennen unsere Freiheit mit derselben Art unmittelbarer reflektiver Evidenz, mit der wir unsere eigene Exi­ stenz erkennen. Das Bewußtsein des eigenen freien Willens - eine Erkenntnis, die keine Täuschung sein kann - ist Teil der Evidenz des Cogito, wie Augustinus es entfaltet.62 Ja die Existenz unseres freien Willens in uns ist so evident, daß ihre Evidenz in gewisser Hinsicht sogar pri­ märer und unbezweifelbarer als jene des Cogito und aller im Cogito gegebenen evidenten Wahrheiten ist. Denn selbst wenn wir, per impossibile, über all diese Wahrheiten uns täuschen könnten, sagt Au­ gustinus, würde es dennoch wahr bleiben, daß wir uns nicht irren wollen, und von diesem unserem Willen besitzen wir eine so gewisse Erkenntnis, wie Augustinus ausführt, daß es die größte Frechheit 59 Augustinus, De libero Arbitrio II; De Civitate Dei V. 60 Rene Descartes, Discours de la Methode, hrsg. v. Charles Adam & Paul Tannery, S. 1 ff.; Meditationes de Prima Philosophia, S. 1-561. 61 Vgl. Hans Urs von Balthasar, Theodramatik H: Die Personen des Spiels, 1: Der Mensch in Gott, S. 186 ff. Vgl. ebenfalls Balthasar, TheoLogik, Wahrheit der Welt, II, A. Wahrheit als Freiheit, 1; ders., Verita del Mondo, S. 96 ff. Vgl. auch Hans-Eduard Hengstenberg, Grundlegung der Ethik, S. 11 ff., wo Hengstenberg so etwas wie ein CogitoArgument der unmittelbaren Evidenz der Freiheit im moralischen Sollen darlegt. 62 Vgl. auch Ludger Hölscher, The Reality of the Mind. St. Augustine's Arguments for the Human Soul as Spiritual Substance; übers. v. L. Hölscher: Die Realität des Geistes. Eine Darstellung und phänomenologische Neubegründung der Argumente Augustins für die geistige Substantialität der Seele. Vgl. auch Josef Seifert, Back to Things in Themselves, Kap. 4-5.

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wäre, uns zu sagen, daß wir nicht nur im Irrtum sind, sondern die Wahrheit gar nicht wollen: Ebenso, wenn jemand sagt, ich will nicht irren; wird es dann nicht wahr sein, daß er nicht irren will, gleichgültig ob er sich irrt oder nicht? Wer könnte einem solchen Menschen, ohne überaus unverschämt zu sein, sagen, Viel­ leicht irrst Du Dich? Da er doch gerade auch, wenn er sich in allem irren sollte, dennoch nicht darin irrt, daß er nicht irren will? Und wenn er sagt, daß er dies weiß, fügt er eine beliebig große Zahl der erkannten Dinge hinzu, und erkennt deren Zahl als unendlich. Denn wer sagt, Ich will nicht getäuscht werden und ich weiß, daß ich das nicht will, und weiß, daß ich auch dies weiß, kann von da ausgehend, auch wenn es sprachlich umständlich ist, eine unend­ liche Zahl erkannter Wahrheiten aufzeigen.63

Natürlich darf diese Priorität hier nicht im absoluten Sinne interpre­ tiert werden. Denn objektiv ist selbstredend die Evidenz der Erkennt­ nis unserer Freiheit schlechthin unmöglich ohne die evidente Er­ kenntnis unserer Existenz und unseres bewußten Lebens, ohne die uns auch die Freiheit unmöglich gegeben sein könnte. Dennoch ist Augustins Feststellung wahr secundum quid, nämlich im folgenden Sinne: Wenn wir annähmen, daß, per impossibile, alle anderen im Cogito gegebenen Wahrheiten zweifelhaft wären, könnten wir im­ mer noch sicher sein, daß wir frei den Irrtum vermeiden wollen und daß wir die Wahrheit ersehnen. Und das meint Augustinus. Denselben Gedanken der absolut unbezweifelbaren Evidenz der Freiheit drückt Augustinus auch als Teil des Cogito anderswo aus: Wer möchte jedoch zweifeln, daß er lebe, sich erinnere, einsehe, wolle, denke, wisse und urteile? Auch wenn man nämlich zweifelt, lebt man; wenn man zweifelt, erinnert man sich, woran man zweifelt; wenn man zweifelt, sieht man ein, daß man zweifelt; wenn man zweifelt, will man Sicherheit haben; wenn man zweifelt, denkt man; wenn man zweifelt, weiß man, daß man nicht weiß; wenn man zweifelt, urteilt man, daß man nicht voreilig seine Zustim­ mung geben dürfe. Wenn also jemand an allem anderen zweifelt, an diesem 63 Der lateinische Text lautet: Item si quispiam dicat, errare nolo: nonne sive erret sive non erret, errare tamen eum nolle verum ent? Quis est qui huic non impudentissime dicat, Forsitan fal­ leris? cum profecto ubicumque fallatur, falli se tamen nolle non fallitur. Et si hoc scire se dicat, addit quantum vult rerum numerum cognitarum, et numerum esse perspicit infinitum. Qui enim dicit, Nolo me falli et hoc me nolle scio, et hoc me scire scio: jam et si non commoda elocutione, potest hinc infinitum numerum ostendere. (Augustinus, De Trinitate XV, xii, 21).

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darf er nicht zweifeln; denn wenn es diese Vorgänge nicht gäbe, könnte er überhaupt an nichts zweifeln.64

Die Evidenz dieser Erkenntnis kann auch durch alle möglichen For­ men der Selbsttäuschung nicht widerlegt werden, weil auch diese be­ reits die Evidenz des Subjekts und des freien Willens voraussetzen.65 Wollten wir das Problem der evidenten Erkenntnis der Freiheit genauer erforschen, könnten wir noch Verschiedenes unterscheiden: 1) die evidente unmittelbare innere bewußte Erfahrung im inneren erlebten Aktvollzug freier Akte; 2) die Evidenz der Freiheit in dem Phänomen, das Karol Wojtyla »reflektives Bewußtsein« nennt, wel­ ches der eigentlichen Reflexion und Selbsterkenntnis vorhergeht;66 3) die nicht weniger evidente ausdrückliche Reflexion und Selbst­ erkenntnis, in der wir uns unserer eigenen existierenden Freiheit be­ wußt werden, und die nicht ihrer Natur als Reflexion nach (da sich auf der Ebene der Reflexion prinzipiell Irrtümer einnisten können, in denen wir über das Gegebene hinausgehen), wohl aber wegen der Enge und Nähe des Sachkontakts dieser Erkenntnis und ihrer klaren Fundierung in der unbezweifelbaren Erfahrung, jeden Irrtum aus­ schließt; und 4) die evidente Einsicht in das Wesen der Freiheit über­ haupt, eine Einsicht, in der wir die notwendigen und intelligiblen Wesensmerkmale der Personalität und Freiheit erfassen, die in jeder Freiheit realisiert sind. Die klare und unzweifelhafte Erkenntnis unserer persönlichen individuellen Freiheit hängt auf der einen Seite von der unmittel­ baren und reflektiven Erfahrung unseres Seins und unserer Freiheit ab, auf der anderen von der unmittelbaren Wesenseinsicht in die 64 De Trin. X, X, 14: Vivere se tarnen et meminisse et inteüegere et veile et cogitare et scire et iudicare quis dubitet? Quandoquidem etiam si dubitat, vivit; si dubitat, unde dubitet meminit; si dubitat, dubitare se intellegit; si dubitat, certus esse vult; si dubitat, cogitat; si dubitat, scit se nescire; si dubitat, iudicat non se temere consentire oportere. Quisquis igitur aliunde dubitat de his omnibus dubitare non debet quae si non essent, de ulla re dubitare non posset. 65 Cf. D. von Hildebrand, »Das Cogito und die Erkenntnis der realen Welt. Teilveröf­ fentlichung der Salzburger Vorlesungen Hildebrands: >Wesen und Wert menschlicher Erkenntnisc«; Josef Seifert, Back to Things in Themselves. 66 Vgl. Karol Wojtyla, The Acting Person; vgl. auch den korrigierten und vom Autor autorisierten (unveröffentlichten) Text des Werkes in der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein, Triesenberg/Vaduz. Vgl. ferner Josef Seifert, »Karol Cardinal Wojtyla (Pope John Paul II) as Philosopher and the Cracow/Lublin School of Philosophy«.

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notwendigen universalen Merkmale der Freiheit und in ihr unzer­ trennbares Band mit der Person. Wenn aber einerseits die Erkenntnis der Freiheit unbezweifelbar ist, und wir andererseits auch die Notwendigkeit unserer Abhängig­ keit vom Willen und Allwissen Gottes erkennen können, so läßt sich auch aus dieser in der Zeit erfolgenden schöpferischen freien Selbst­ bestimmung des Menschen keinerlei Antinomie konstruieren, die dem kritischen Blick auf die Wirklichkeit standhalten könnte. Denn wenn wir auch hier nicht eine eigentliche Auflösung der Aporie - wie bei der von Kant behaupteten Antinomie von Freiheit und Kausalität - erreichen können, so enthüllt uns dennoch a) die Evidenz des Wi­ derspruchsprinzips, b) die klare Einsicht in menschliche Freiheit und ihre Abhängigkeit vom absoluten Sein, c) die Unmöglichkeit der Er­ kenntnis eines klaren Widerspruchs zwischen beiden, die objektive Unmöglichkeit einer echten Antinomie zwischen Freiheit und Vor­ herwissen, sowie einer inneren Widersprüchlichkeit freier Selbst­ bestimmung in einem dennoch ontologisch radikal abhängigen We­ sen. So lassen sich auch aus den viel tieferen Schwierigkeiten des Verhältnisses von Freiheit und Kausalität als jenen, die Kantbetrach­ tet, keinerlei Antinomien begründen. Auf das Wesen der Freiheit oder auf weitere Überlegungen und Unterscheidungen, welche die erwähnten Schwierigkeiten betreffen, hier einzugehen, würde uns zu weit über den Rahmen dieser Arbeit hinausführen, da wir ohnehin schon den strikten Kantischen Diskus­ sionszusammenhang verlassen haben bzw. über dessen Grenzen hin­ ausgegangen sind. Letzteres erweist sich jedoch nicht nur auf Grund der Tatsache als gerechtfertigt, daß die tiefsten Wurzeln der dritten Kantischen Antinomie und eine positivere Behandlung des Verhält­ nisses zwischen Freiheit und Kausalität in einer Arbeit wie dieser nicht ganz unbeachtet bleiben dürfen, sondern auch deshalb, weil es uns in diesem Werk viel mehr um die objektiven sachlichen Proble­ me, um »die Sachen selbst«, geht als um eine Kant-Kritik. Als Ergebnis dieser kurzen philosophischen Untersuchung der von Kant weitgehend unberücksichtigen Probleme des Verhältnisses von Kausalität und Freiheit halten wir fest: Es genügen selbst diese objektiven Schwierigkeiten, die viel größer sind als die von Kant be­ handelten und die viel eher eine Antinomie begründen könnten als jene, die den Gegenstand seiner Überlegungen bilden, in keiner Wei­ se, eine echte Antinomie hervorzurufen.

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2.5.6 Die Selbstbestimmung des Subjekts in Freiheit als ein letzter Endpunkt in der Kausalität und die in bestimmtem Sinn bestehende Unmöglichkeit einer weiteren Rückführung des Inhalts freier Akte auf eine Ursache außerhalb des Subjekts selbst Was letztlich das aufgeworfene Problem betrifft, ob nicht jedes Er­ eignis in der Zeit (und sei es auch die freie Selbstbestimmung der Person) eine Ursache benötige und man daher in bezug auf solche Ereignisse niemals halt machen dürfe in der Frage nach einer wei­ teren Ursache oder Erklärung, was aber Freiheit ausschlösse, so läßt sich folgendes sagen: Ist es denn evident, daß keine Ursache in der Zeit in genau zu bestimmendem Sinn eine letzte unerklärbare sein kann? Ist es nicht eindeutig so und als solches in der Erfahrung gege­ ben, daß in der Freiheit, auch in der menschlichen Freiheit (die ja zugegebenermaßen noch einer weiteren causa prima non fatalis be­ darf, wie noch zu diskutieren sein wird), doch in gewissem Sinn ein absoluter Anfang liegt, der es verbietet, ihn weiter zu hinterfragen, so als müßte man die Antwort: »Weil ich es wollte, habe ich dies getan«67 als ungenügend erachten und nach einer weiteren Ursache für dieses »selbst die Ursache der eigenen Verursachung Sein« der Freiheit verlangen? Wenn es gewiß auch eine kausale Abhängigkeit von einer Erstursache sowie viele weitere Gründe freier Akte, z.B. Motive, gibt, die die Freiheit als Freiheit völlig bestehen lassen und sogar voraussetzen,68 gibt es doch im Urdatum der Freiheit auch ein Letztes, das in analoger Weise keiner weiteren Begründung bedarf, wie die ersten Prinzipien des Seins oder notwendige Wesensgesetze aller Art keiner weiteren Zurückführung bedürfen oder sie erlauben, von denen Aristoteles dies bereits klar sieht,69 oder wie die Erstursa­ che, deren wahres Abbild die Selbstbewegung der Freiheit von innen ist, so daß Platon sie im Phaedrus mit dem absoluten Anfang aller Bewegung identifizieren konnte. Wie es nach Aristoteles philosophische Unbildung verrät, für 67 Augustinus schreibt über diesen Sachverhalt: Denn wir tun vieles, was wir überhaupt nie täten, wenn wir es nicht wollten. Dazu gehört an erster Stelle das Wollen selbst; denn wenn wir wollen, ist es, wenn wir nicht wollen, ist es nicht; wir würden ja nicht wollen, wenn wir eben nicht wollten. (Eigene Übersetzung aus De Civitate V, IX, 2). 68 Vgl. dazu J. Seifert, Sittliche Handlung, S. 22-25 (Anm. 10). 69 Siehe Aristoteles, Zweite Analytik; Topik; Metaphysik, Buch Gamma.

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erste Prinzipien weitere Erklärungen zu fordern, so verrät es eben­ falls philosophische Unbildung oder besser unphilosophische Bor­ niertheit, angesichts der freien Selbstbestimmung der Person immer noch weiter fragen zu wollen: »Warum hat denn die Person sich in ihrer Freiheit so bestimmt?«, in der Erwartung, nicht sachliche An­ sprüche oder subjektive Gründe für freies Tun, die mit dem Geheim­ nis der absolut letzten, nicht weiter erklärbaren Selbstsetzung der Freiheit verträglich sind, sondern außerhalb des freien Personzen­ trums fernere »Ursachen« der freien Entscheidung zu finden. So ge­ heimnisvoll und staunenswert diese spontane Selbstbestimmung und Souveränität des freien Subjekts auch ist, so ist sie zugleich auch eine evidente Erfahrungsgegebenheit, deren Wesen philosophischer Ein­ sicht in notwendige Wesenheiten und Wesenszusammenhänge zu­ gänglich und deren Tatsächlichkeit in uns selbst, wie Descartes rich­ tig sieht, mit absolut unbezweifelbarer Gewißheit gegeben ist. 2.5.7 Kausale Abhängigkeit freier Akte von determinierenden Ur­ sachen außerhalb des freien Subjekts (causae fatales) in der Natur oder in einer freie Akte und Subjekte restlos determinierenden Erstursache (zeitlos-ewigen Ursache) würde Freiheit aufheben, Abhängigkeit von einer freilassenden, ja freimachenden göttlichen causa non fatalis keineswegs Außer in dieser tiefen Cartesischen Form kann man auch in anderer Weise auf die zuletzt erwähnte Aporie antworten. Wenn man mit Augustinus70 den Unterschied zwischen causa fatalis und causa non fatalis macht, kann ja durchaus angenommen werden, daß eine Form der Kausalität, die unser Erfassen unendlich übersteigt, nämlich göttliche, schöpferische Kausalität, auch freie Subjekte hervorbrin­ gen kann. Eine solche nicht determinierende Ursache läßt das, was sie hervorbringt, frei. Freilich vermögen wir die Erhabenheit einer solchen frei-lassenden Ursache nicht zu begreifen, doch sehen wir deren Existenz als Bedingung der Möglichkeit endlicher Freiheit ein. Unsere Freiheit setzt eine nicht zwingende, uns freilassende Ursache voraus. Dies läßt sich dann zumindest, selbst wenn es unserem end­ lichen Verstand zunächst als unmöglich erscheint, keineswegs als eindeutig unmöglich einsehen, ja ihre Wirklichkeit ergibt sich sogar* V, 70 Diesen entscheidenden Unterschied macht Augustinus ebenfalls in De Civitate Dei V, 9.

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als zwingende Schlußfolgerung aus der Evidenz der Freiheit einer­ seits und der Evidenz unserer Abhängigkeit von einer Erstursache andererseits. 2.5.8 Eine spekulative »Lösung« der scheinbaren Antinomie zwischen Freiheit und kausaler Abhängigkeit von Allmacht: Allmacht als alleiniger intelligibler Grund von endlicher Freiheit, nicht als ihr Gegensatz - Zu Soeren Kierkegaards genialem spekulativen Lösungsversuch des Verhältnisses zwischen menschlicher Freiheit und göttlicher Allmacht Angesichts der Aporie, in die Augustinus und Descartes beim Nach­ denken über das Zusammenbestehen von menschlicher Freiheit und totaler Abhängigkeit von der absoluten Erstursache geführt wurden, wenn sie diese auch klar als Aporie, die auf zwei evidenten und daher nur scheinbar widersprechenden Wahrheiten beruht, begriffen, ver­ sucht Soeren Kierkegaard, nicht bei der bloßen Anerkennung des eigenen Nichtwissens stehenzubleiben, die wir in diesem Zusam­ menhang bei Descartes feststellten.71 So bewundernswürdig die klare Einsicht Descartes' in den Cha­ rakter des Problems des Verhältnisses zwischen allmächtiger Kausa­ lität und Freiheit auch ist, so geht doch Soeren Kierkegaard erheblich weiter. Er schreitet nämlich zur Erkenntnis fort, daß zwischen Frei­ heit einerseits und Abhängigkeit von Allmacht andererseits deshalb kein Gegensatz bestehe, weil nur eine weltliche und primitive Vor­ stellung von Macht als totalem Unterjochen, nicht aber Allmacht, der Freiheit des Menschen entgegengesetzt sei. Allmacht allein könne sich nämlich »so leicht« machen, daß sie Freiheit ermögliche, indem sie das, was sie schafft, doch auch autonom und frei und in diesem Sinne unabhängig von sich selbst machen könne. So sei gerade erst die Allmacht die allein einem freien Wesen angemessene Ursache. Anstatt daß wir es hier also mit unversöhnlichen Gegensätzen zu tun hätten, erschließt sich uns das einleuchtende und notwendig einander bedingende Verhältnis zwischen der absolut evidenten menschlichen Freiheit - der Freiheit eines kontingenten mensch­ lichen Wesens - und der göttlichen Allmacht, die einzig und allein imstande sei, Freiheit hervorzubringen:

71 Vgl. Rene Descartes, Prinzipien der Philosophie, 39-41.

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Das Höchste, das überhaupt für ein Wesen getan werden kann, das Höchste, wozu es gebracht werden kann, ist, es frei zu machen. Ebendazu gehört All­ macht, um das tun zu können. Dies scheint sonderbar, da gerade Allmacht abhängig zu machen scheint. Aber wenn man Allmacht denken will, wird man sehen, daß gerade in ihr die Bestimmung liegt, sich selber in der Äuße­ rung der Allmacht wieder so zurücknehmen zu können, daß gerade dadurch das durch die Allmacht Gewordene unabhängig wird. ... alle endliche Macht macht abhängig; nur die Allmacht kann unabhängig machen, aus Nichts her­ vorbringen, was in sich Bestand hat dadurch, daß die Allmacht sich immerfort >selbst zurücknimmt< ... ohne doch das Mindeste ihrer Macht aufzugeben ... Dies ist das Unbegreifliche, daß die Allmacht nicht bloß das Imposanteste von allem hervorbringen kann, der Welt sichtbare Totalität, sondern das Gebrech­ lichste von allem erzeugen kann, ein gegenüber der Allmacht unabhängiges Wesen. Daß also die Allmacht, die mit ihrer gewaltigen Hand so schwer auf der Welt liegen kann, sich zugleich so leicht machen kann, daß das Geworde­ ne Unabhängigkeit erhält. Es ist nur eine erbärmliche und weltliche Vorstellung von der ... Macht, daß sie desto größer wird, desto mehr sie unterjochen und abhängig machen kann.72

2.6 Antinomienprobleme um Freiheit und Kausalität und ihre Lösungen: Jenseits von Kant! Wir sahen uns nach einer Widerlegung der dritten Kantschen Anti­ nomie zwischen Freiheit und Kausalität gezwungen, weit über Kants eigene Behandlung dieses Problems hinauszugreifen und dieses Pro­ blem in seiner objektiv ungeheuren Dimension aufzurollen, die Kant weitgehend verborgen blieb, weshalb er die wichtigsten Antinomien­ probleme zwischen Freiheit und Kausalität weder stellte noch auflö­ ste. Deshalb erwies es sich als unerläßlich, zum Zwecke des Nach­ weises der Widerspruchsfreiheit des Seins und der Tatsache, daß uns eine realistische und objektivistische Philosophie keineswegs not­ wendig zu Widersprüchen und Antinomien führt, wie Kant behaup­ tete, weiter auszuholen. Ein solches weiteres Ausholen hat uns aber, sosehr es uns in ganz neue klassische Problembereiche zwischen Frei­ heit und Kausalität geführt hat, nicht von Kant vollkommen abge­ lenkt, sondern vielmehr auch erlaubt, der merkwürdigen Einengung der Kantischen Auffassung der Antinomien gewahr zu werden, die 72 S. Kierkegaard, Papirer VII, I, 141, S. 49-50.

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Antinomienprobleme um Freiheit und Kausalität

sich z. B. darin erweist, daß eine ganze Reihe von Aporien und mögli­ chen scheinbaren Antinomien, die das Verhältnis zwischen Kausali­ tät und menschlicher sowie absoluter Freiheit betreffen, von Kant kaum berührt und jedenfalls gar nicht entfaltet werden, sondern daß bei ihm eine verengte Sicht auf einen zudem sehr begrenzten Aspekt der Problematik von Kausalität und Freiheit angetroffen wird. Dies liegt wohl vornehmlich an der schematischen Systemati­ sierung der Kantischen Philosophie, der gemäß es eben nur innerhalb der kosmologischen Idee, und nur bei vier der Kategorientafel ent­ sprechenden kosmologischen Unbedingten (Totalitäten) Antino­ mien, und daher auch nur vier Antinomien, geben darf. Wir konnten unsere Erforschung des Antinomienproblems weder auf Kants Pro­ blemstellung noch auf seine Lösung beschränken, sondern mußten versuchen, unseren Blick auf dieses klassische Grundproblem in sei­ ner ganzen Weite zu richten und dieses Problem soweit als möglich zu lösen.

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Kapitel 3

Kurzer Ausblick auf die Kantische Fassung und die mögliche philosophische Auflösung der drei übrigen Antinomien

Es sollen wenigstens knapp die Gründe angedeutet werden, warum m. E. auch die drei übrigen Antinomien bloß scheinbare sind. Dabei sehe ich hier von der komplexen logischen Struktur der Kantschen Antinomien - wie sie sich insbesondere innerhalb der Systeme mo­ derner symbolischer Logik ergeben - ab. Vielmehr konzentriere ich mich im folgenden auf den naturphilosophischen, anthropologischen und metaphysischen Kern dieser Antinomien, wobei ich allerdings Unterscheidungen und Differenzierungen der Kantschen Argumen­ tation und Darstellung der Antinomien anzudeuten hoffe, die auch für die logische Formalisierung der Argumentation erhebliche Aus­ wirkungen haben dürften und z. B. der sorgfältigen formal-logischen Analyse anderer Autoren wie Loparic, Bennett oder Strawson1 eine neue Grundlage geben und zu genaueren logischen Analysen führen könnten. Denn im folgenden werden die wesentlichen inhaltlichen Thesen und Prämissen Kants einer kurzen kritischen Untersuchung unterworfen.12 Die erste von Kant behauptete Antinomie betrifft bekanntlich die bereits in der Spätantike und arabischen Philosophie,3 insbeson­ 1 Vgl. dazu etwa Zeljko Loparic, »The Logical Structure of the First Antinomy,« S. 282 ff. Vgl. auch Jonathan Bennett, Kant's Dialectic; sowie Strawsons Kommentar zur Dialektik in Kants Kritik der reinen Vernunft, in P. F. Strawsons The Bounds of Sense, S. 77. 2 Vgl. zu einer Darstellung dieser Antinomien auch Karl Vogel, Kant und die Parado­ xien der Vielheit. Die Monadenlehre in Kants philosophischer Entwicklung bis zum Antinomienkapitel der Kritik der reinen Vernunft. 3 Vgl. W. L. Craig, The Kalam Cosmological Argument, über jüdische und arabische Autoren zu diesem Gegenstand. Vgl. auch ders., »Kant's First Antinomy and the Beginning of the Universe«; ders., »Diskussion der Ewigkeit der Welt«; ders., »Whitrow and Popper on the Impossibility of an Infinite Past«, 166 ff. Vgl. auch Poppers von Craig kritisierte These in Karl Popper, »On the Possibility of an Infinite Past: A Reply to Whitrow«. Vgl. auch Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10. Außer Craig und mir haben andere Autoren die philosophische Evidenz des zeitlichen Anfangs des Kosmos

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Kurzer Ausblick auf die Kantische Fassung

dere aber im Sentenzenkommentar Bonaventuras4 und bei Thomas von Aquin und Ockham5 diskutierte Streitfrage, ob die Welt einen zeitlichen Anfang (und räumliche Grenzen) haben müsse oder nicht. Vielleicht sollten wir einmal Kant selbst das Wort geben und sehen, wie er die erste Antinomie begründet Thesis. Die Welt hat einen Anfang in der Zeit, und ist dem Raum nach auch in Grenzen eingeschlossen.

Antithesis. Die Welt hat keinen Anfang und keine Grenzen im Raume, son­ dern ist sowohl in Ansehung der Zeit als des Raums unendlich.

Beweis. Denn man nehme an, die Welt habe der Zeit nach keinen Anfang: so ist bis zu jedem gegebenen Zeit­ punkte eine Ewigkeit abgelaufen und mithin eine unendliche Reihe aufeinander folgender Zustände der Dinge in der Welt verflossen. Nun besteht aber eben darin die Unend­ lichkeit einer Reihe, daß sie durch successive Synthesis niemals voll­ endet sein kann. Also ist eine unend­ liche verflossene Weltreihe unmög­ lich, mithin ein Anfang der Welt eine notwendige Bedingung ihres Daseins; welches zuerst zu beweisen war.

Beweis. Denn man setze: sie habe einen Anfang. Da der Anfang ein Dasein ist, wovor eine Zeit vorhergeht, dar­ in das Ding nicht ist, so muß eine Zeit vorhergegangen sein, darin die Welt nicht war, d. i. eine leere Zeit. Nun ist aber in einer leeren Zeit kein Entstehen irgend eines Dinges möglich, weil kein Teil einer solchen Zeit vor einem anderen irgend eine unterscheidende Bedingung des Da­ seins, vor die des Nichtseins, an sich hat, (man mag annehmen, daß sie von sich selbst, oder durch eine an­ dere Ursache entstehe). Also kann zwar in der Welt manche Reihe der Dinge anfangen, die Welt selber aber

verteidigt. Vgl. etwa Pamela M. Huby, »Kant or Cantor: that the Universe, if Real, Must Be Finite in Both Space and Time«. 4 Bonaventura 2 Sententiarium 1.1.1.2.1—6. Zu den Vorläufern der ersten Antinomie in dem Streit um die Ewigkeit der Welt bei Aristoteles, Bonaventura und Thomas von Aquin vgl. Peter van Veldhuijsen, »Kant and the Eternity of the World: A Historicocritical Reading of the First Antinomy«. Der Schlußfolgerung des Autors, daß es sich dabei um keine echte Antinomie handelt, stimmen wir ganz bei, hingegen der von ihm nahegelegten Begründung, daß dies wegen der historischen Strittigkeit der Frage er­ kennbar sei, keineswegs. 5 Vgl. zum Nachweis, daß Ockham (was auf Grund seines Nominalismus verständlich ist) in dieser Frage die Stellung Bonaventuras verwarf und Thomas von Aquin zu­ stimmt, daß die Ewigkeit der Welt möglich sei, Norman Kretzmann, »Ockham and the Creation of the Beginningless World«.

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Kurzer Ausblick auf die Kantische Fassung

In Ansehung des zweiten neh­ me man wiederum das Gegenteil an, so wird die Welt ein unendliches ge­ gebenes Ganzes von zugleich existie­ renden Dingen sein. Nun können wir die Größe eines Quanti, welches nicht innerhalb gewisser Grenzen jeder Anschauung gegeben wird;* [*Wir können ein unbestimmtes Quantum als ein Ganzes anschauen, wenn es in Grenzen eingeschlossen ist, ohne die Totalität desselben durch Messung, d.i. die successive Synthesis seiner Teile konstruieren zu dürfen. Denn die Grenzen be­ stimmen schon die Vollständigkeit, indem sie alles Mehrere abschnei­ den.] auf keine andere Art als nur durch die Synthesis der Teile, und die Tota­ lität eines solchen Quanti nur durch die vollendete Synthesis oder durch wiederholte Hinzusetzung der Ein­ heit zu sich selbst, gedenken.** [**Der Begriff der Totalität ist in diesem Falle nichts anderes, als die Vorstellung der vollendeten Synthe­ sis seiner Teile, weil, da wir nicht von der Anschauung des Ganzen (als welche in diesem Falle unmöglich ist) den Begriff abziehen können, wir diesen nur durch die Synthesis der Teile bis zur Vollendung des Un­ endlichen wenigstens in der Idee fas­ sen können.] Demnach, um sich die Welt, die alle Räume erfüllt, als ein Ganzes zu denken, müßte die successive Syn140

kann keinen Anfang haben und ist also in Ansehung der vergangenen Zeit unendlich. Was das zweite betrifft, so neh­ me man zuvörderst das Gegenteil an: daß nämlich die Welt dem Raume nach endlich und begrenzt ist; so be­ findet sie sich in einem leeren Raum, der nicht begrenzt ist. Es würde also nicht allein ein Verhältnis der Dinge im Raum, sondern auch der Dinge zum Raume angetroffen werden. Da nun die Welt ein absolutes Ganzes ist, außer welchem kein Gegenstand der Anschauung und mithin kein Correlatum der Welt angetroffen wird, womit dieselbe im Verhältnis stehe, so würde das Verhältnis der Welt zum leeren Raum ein Verhält­ nis derselben zu keinem Gegenstän­ de sein. Ein dergleichen Verhältnis aber, mithin auch die Begrenzung der Welt durch den leeren Raum, ist nichts; also ist die Welt dem Raume nach gar nicht begrenzt, d. i. sie ist in Ansehung der Ausdehnung unend­ lich.* [*Der Raum ist bloß die Form der äußeren Anschauung (formale An­ schauung), aber kein wirklicher Ge­ genstand, der äußerlich angeschauet werden kann. Der Raum, vor allen Dingen, die ihn bestimmen (erfüllen oder begrenzen) oder die vielmehr eine seiner Form gemäße empirische Anschauung geben, ist unter dem Namen des absoluten Raumes nichts anderes, als die bloße Möglichkeit äußerer Erscheinungen, sofern sie entweder an sich existieren oder zu gegebenen Erscheinungen noch hin­ zukommen können. Die empirische Anschauung ist also nicht zusam-

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thesis der Teile einer unendlichen Welt als vollendet angesehen, d. i. eine unendliche Zeit müßte in der Durchzählung aller koexistierenden Dinge als abgelaufen angesehen wer­ den; welches unmöglich ist. Dem­ nach kann ein unendliches Aggregat wirklicher Dinge nicht als ein gege­ benes Ganzes, mithin auch nicht als zugleich gegeben angesehen werden. Eine Welt ist folglich der Ausdeh­ nung im Raume nach nicht unend­ lich, sondern in ihren Grenzen ein­ geschlossen; welches das zweite war.

mengesetzt aus Erscheinungen und dem Raume (der Wahrnehmung und der leeren Anschauung). Eines ist nicht des andern Correlatum der Synthesis, sondern nur in einer und derselben empirischen Anschauung verbunden als Materie und Form derselben. Will man eines dieser zween Stücke außer dem anderen setzen (Raum außerhalb allen Er­ scheinungen), so entstehen daraus allerlei leere Bestimmungen der äu­ ßeren Anschauung, die doch nicht mögliche Wahrnehmungen sind, z. B. Bewegung oder Ruhe der Welt im unendlichen leeren Raum, eine Bestimmung des Verhältnisses bei­ der untereinander, welche niemals wahrgenommen werden kann und also auch das Prädikat eines bloßen Gedankendinges ist.]6

Um diese erste Antinomie und den Kantschen Versuch des Beweises der These innerhalb derselben zu begreifen, müssen wir uns zunächst mit Kants Begriff des Unendlichen auseinandersetzen. Dabei be­ trachten wir hier nur das Unendliche innerhalb der endlichen Welt und nicht das, wie ich meine, ausschließlich auf der Idee der Voll­ kommenheit und zwar der reinen Vollkommenheiten aufbauende absolut Unendliche, nämlich Gott, dessen Unendlichkeit Hegel als »qualitative Unendlichkeit« bezeichnet. Im Rahmen seiner Kritik an Hegels abschätziger Bezeichnung der Unendlichkeiten innerhalb des Endlichen als »schlechter Unendlichkeiten«, bezieht sich auch Bolza­ no diese Terminologie.7 Kant sagt im Rahmen seiner Begründung der These der ersten Antinomie Folgendes über das Unendliche: 6 Kant, KrV, B 454 ff. 7 Vgl. Bernard Bolzano, Paradoxien des Unendlichen, §11, S. 7f.: Mit diesem den Mathematikern so wohl bekannten Unendlichen nun sind einige Philosophen, zumal der neueren Zeit, wie Hegel und seine Anhänger, noch nicht zufriedenzustellen, nennen es verächtlich das schlechte Unendliche und wollen noch ein viel höheres, das wahre, das qualitative Unendliche kennen, welches sie namentlich in Gott und überhaupt im Absoluten nur finden. Wenn sie, wie Hegel, Erdmann u. a. sich das mathematische Unendliche nur als eine Größe denken, wel-

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»Nun besteht aber eben darin die Unendlichkeit einer Reihe, daß sie durch successive Synthesis niemals vollendet sein kann.« Ob der Ausdruck der »successiven Synthesis« klar8 und ob damit das Wesen des Unendlichen getroffen ist, bleibt freilich die Frage. Den­ ken wir an die Weisen, in denen Bolzano etwa das Unendliche eines Inbegriffs (einer Menge) zu bestimmen und falsche Bedeutungen des Unendlichen abzuweisen versucht. So weist er erstens den von Cauchy und anderen eingeführten Begriff des Unendlichen als »eine ver­ änderliche Größe ..., deren Wert unbegrenzt wächst und füglich größer werden könne, als jede gegebene, noch so große Größe« zurück. Er stimmt der These: »Die Grenze dieses unbegrenzten Wachsens sei die unendlich große Größe« nicht zu,9 mit Recht, wie ich meine. Zweitens, und ebenso berechtigterweise, lehnt Bernard che veränderlich ist und in ihrem Wachstume keine Grenze hat (was freilich man­ che Mathematiker, wie wir bald sehen werden, als die Erklärung ihres Begriffes aufgestellt haben): so pflichte ich ihnen in ihrem Tadel dieses Begriffes einer in das Unendliche nur wachsenden, nie es erreichenden Größe selbst bei ... Doch meint Bolzano fälschlicherweise, dieses »qualitative Unendliche« auf jenes quan­ titative Unendliche zurückführen zu können, was weder veränderlich noch unerreicht ist wie die unendliche Anzahl von Punkten auf einer Linie: Was ich nicht zugestehe, ist bloß, daß der Philosoph einen Gegenstand kenne, dem er das Prädikat der Unendlichkeit beizulegen berechtigt sei, ohne in diesem Gegen­ stande in irgendeiner Beziehung erst eine unendliche Größe oder doch Vielheit nachgewiesen zu haben. Wenn ich dartun kann, daß selbst in Gott als in demjeni­ gen Wesen, das wir als die vollkommenste Einheit betrachten, sich Gesichtspunkte nachweisen lassen, aus welchen wir eine unendliche Vielheit in ihm erblicken, und daß es eben nur diese Gesichtspunkte sind, aus denen wir ihm Unendlichkeit beile­ gen: so wird es kaum nötig sein, noch ferner darzutun, daß ähnliche Rücksichten auch in allen anderen Fällen, wo der Begriff der Unendlichkeit in seinem guten Rechte ist, zugrunde liegen. Ich sage nun: wir nennen Gott unendlich, weil wir ihm Kräfte von mehr als einer Art zugestehen müssen, die eine unendliche Größe besitzen. So müssen wir ihm eine Erkenntniskraft beilegen, die wahre Allwissen­ heit ist, also eine unendliche Menge von Wahrheiten, weil alle überhaupt, umfaßt usw. Und welcher wäre denn der Begriff, den man uns statt des hier aufgestellten von dem wahren Unendlichen aufdringen will? Ibid., S. 8. Einen solchen qualitativen Begriff der Unendlichkeit finden wir etwa in Anselms Mono­ logion, Kap. 15, sowie bei Duns Scotus. Vgl. Alan Wolter, Duns Scotus, Philosophical Writings. Auch ich habe einen solchen radikal verschiedenen absoluten und primär axiologisch-ontologischen Begriff des Unendlichen zu begründen gesucht in Josef Sei­ fert, Sein und Wesen, und Josef Seifert, Gott als Gottesbeweis, und in meinem Aufsatz »Esse, Essence, and Infinity: a Dialogue with Existentialist Thomism«. 8 Die Gegenthese vertritt M. Fried in »Kant's First Antinomy: A Logical Analysis«. 9 Vgl. Bernard Bolzano, Paradoxien, S. 9.

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Bolzano die Auffassung Spinozas ab, »daß nur dasjenige unendlich sei, was keiner ferneren Vermehrung fähig ist, oder dem nichts mehr beigefügt (addiert) werden kann.«10 11 Denn eindeutig ist die unend­ liche Anzahl von Punkten bzw. Punktmenge auf einer 5 cm langen Linie vermehrt, wenn man auch noch die auf den nächsten 5 cm der­ selben Linie befindlichen hinzufügt, usf. Drittens verwirft Bolzano auch die Auffassung, daß »unendlich sei, was kein Ende hat.«11 Denn dann wäre entweder, wenn der Begriff des »Endes« zeitlich verstan­ den würde, selbst der Punkt, der keine Grenzen habe, unendlich, was wohl niemand außer Hegel eingefallen sei.12 Viertens verwirft Bol­ zano auch die von Fries verteidigte Idee des Unendlichen als des »Unvollendbaren«, bzw. die Meinung, »unendlich groß sei, was größer ist als jede angebliche Größe«, wobei er drei Bedeutungen von »angeb­ lich« unterscheidet.13 Er sieht diverse Schwierigkeiten und Ver­ engungen in einem solchen Unendlichkeitsbegriff, der z. B. die Un­ endlichkeiten auf das Reale beschränkt und jene innerhalb des Idealen, wie die Unendlichkeit der wahren Sätze an sich,14 außer acht läßt. Noch viel mehr geißelt er die Relativierung des Unendlichkeits­ begriffes, die einem Definitionsversuch des Unendlichen durch seine Relation auf das Gegebensein, die Erfahrung, das Zählen usf. anhaf­ tet, als Übel: Doch ich frage jeden, ob er die Worte endlich und unendlich nicht jedenfalls in einem solchen Sinne nehme, und - soll in der Wissenschaft ein nützlicher Gebrauch von ihnen gemacht werden - auch notwendig nur in einem solchen Sinne nehmen müsse, dabei sie jedenfalls eine gewisse innere Beschaffenheit der Gegenstände, die wir so nennen, keineswegs aber ein bloßes Verhältnis derselben zu unserem Erkenntnisvermögen, zu unserer Sinnlichkeit sogar (ob wir Erfahrungen über sie einziehen können oder nicht) betreffen.15

Seine Kritik an jedem Subjektivierungs- und Psychologisierungs­ begriff des Unendlichen durch sein Inbezugsetzen auf unser »in Ge­ danken Zusammenfassen« etc. legt er überzeugend dar.16 So weist Bernard Bolzano jede Psychologisierung des Unendlichkeitsbegriffs, 10 11 12 13 14 15 16

Bolzano, ibid., S. 10. Ibid., S. 10. Ibid., S. 11. Ibid., S. 11. Vgl. dazu auch ebd., §13, S. 13 f. Vgl. Bernard Bolzano, Paradoxien, S. 12-13. Vgl. etwa ibid., §14, S. 14ff.

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wie wir sie auch hei Kant finden, und ihre Erklärung durch wirkliches oder mögliches gedankliches Zusammenfassen zurück17 und hetrachtet den Unendlichkeitshegriff ehenso wie den der Unmöglichkeit als einen ohjektiven, der durch den Einklang oder Widerspruch zu »rei­ nen Begriffswahrheiten«18 hestimmt werden müsse, und als einen unreduzierharen.19 So verdienstlich all dies ist, so hestimmt er aller­ dings auch selhst den Begriff des Unendlichen unzureichend, indem er auf jede weitere inhaltliche Bestimmung verzichtet. Trotz der nötigen Kritik Bolzanos an Kants Unendlichkeits­ hegriff und seiner wertvollen Unterscheidungen verschiedener fal­ scher Bestimmungen des Unendlichen aher finden wir in Kants Be­ gründung für die Unmöglichkeit, daß eine unendliche Zeit real ahgelaufen sein kann, viel Wahres, dem die folgenden Ausführungen gelten sollen. Der in Kants erster Antinomie auf die These üher die notwendi­ ge Endlichkeit der Zeit hezügliche Teil dieses Antinomienprohlems wurde von Bonaventura dahingehend heantwortet, daß die Welt not­ wendig einen zeitlichen Anfang gehaht hahen müsse, während Tho­ mas argumentiert, daß eine ewige endliche Welt denkhar sei und dieselhe nur vom Glauhen her, nicht philosophisch, als unmöglich dargetan werden könne.20 Der vielleicht tiefste Kern des mit den Kantischen Argumenten in Einklang stehenden Bonaventurischen Arguments für die These eines notwendigen zeitlichen Anfangs der Welt ist, daß es im Wesen einer unendlichen zeitlichen und daher sukzessiven Reihe liegt, daß diese niemals aktuell durch sukzessive (endliche, auf einander zeit­ lich folgende) Phasen oder Schritte real durchmessen werden kann. Dieses Argument ist in der Tat der Natur der Sachen entnommen. Hier, im Gegensatz zu vielen anderen Thesen in der »Antinomie der reinen Vernunft«, gelten wirklich Kants Worte: »Jeder dieser Bewei­ se ist aus der Sache Natur gezogen und der Vorteil heiseite gesetzt 17 Vgl. ebd., S. 14-20. 18 Ibid., S. 20. 19 Dieser Auffassung der ersten Antinomie radikal entgegengesetzt ist Milton K. Munitz, »Kantian Dialectic and Modern Scientific Cosmology«. 20 Vgl. zu dieser Meinungsverschiedenheit zwischen Thomas von Aquin und Bonaventura Francis J. Kovach, »The Question of the Eternity of the World in St. Bonaventure and St. Thomas - A Critical Analysis«. Zur Geschichte der ersten zwei Antinomien von Zenon an üher P. Bayle, Leihniz, Wolff und den frühen Kant vgl. K. Vogel, Kant und die Paradoxien der Vielheit.

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worden, den uns die Fehlschlüsse der Dogmatiker von beiden Teilen gehen könnten.«21 Wir können, trotz einer Reihe von bereits erörter­ ten Bedenken gegen den von Kant benutzten Unendlichkeitshegriff, die hier liegende Einsicht tatsächlich mit Kant formulieren: Der wahre (transzendentale) Begriff der Unendlichkeit ist, daß die successive Synthesis der Einheit in Durchmessung eines Quantum niemals vollendet sein kann. Dieses enthält dadurch eine Menge (von gegebener Einheit), die größer ist als alle Zahl; welches der mathematische Begriff des Unendlichen ist. Hieraus folgt ganz sicher, daß eine Ewigkeit wirklicher aufeinanderfol­ genden Zustände bis zu einem gegebenen (dem gegenwärtigen Zeitpunkte) nicht verflossen sein kann, die Welt also einen Anfang haben müsse.22

So problematisch auch im Licht der Bolzanoschen Kritik der hier zu­ grundegelegte Unendlichkeitsbegriff ist, so leuchtet dieser Gedanke der Unvollendbarkeit unendlicher Zeit durch sukzessive endliche Zeitabschnitte doch besonders am Beispiel zukünftiger zeitlicher Dauer ein. Ein zeitliches Wesen, in dem Jahr auf Jahr, Jahrbillion auf Jahrbillion seiner Dauer folgt, kann - so lange es auch immer im Sein verharren mag - aktuell unendliche Dauer in alle Ewigkeit nicht er­ reichen, ja sich dieser auch nicht einmal im mindesten nähern. Wird dieser Gedanke bis zum Ende gedacht, scheint sich klar zu ergeben, daß auch ein unsterbliches (in diesem Sinne ewig dauerndes) Wesen, das doch in seinem Sein zeitlich fortschreitet, niemals aktuell ewig werden oder auch diesem Ziel nur näherkommen kann. Also muß ein solches Wesen, wie lange immer es dauere und selbst wenn es ohne jedes Ende ist, doch immer unendlich weit von unendlicher Seins­ dauer entfernt bleiben. Unendlichkeit ist für ein solches Wesen also immer auch »ewige Zukunft«, immer eine bloß »potentielle Unend­ lichkeit«, wie Aristoteles dies ausdrücken würde und wie auch Ernst Bloch ausgeführt hat, in dessen Denken die Unfertigkeit der Zukunft und ihre Potentialität, die ein Ausschöpfen ausschließt, eine große Rolle spielen.23 Wird dieser Gedanke auf die Vergangenheit übertra­ gen, läßt sich sagen, daß die Welt zwar immer »schon früher« hätte existieren können oder besser, daß es in der Vergangenheit für die

21 Vgl. Kant, KrV, Anmerkungen zur These. 22 Kant, KrV, B 454-489. 23 Diesen in der Physik entwickelten Unterschied verwendet Aristoteles vor allem in der Widerlegung der Zenonischen Antinomien; er spielt überhaupt eine wichtige Rolle in der Aristotelischen Philosophie. Vgl. auch Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung.

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Welt oder andere zeitliche Wesen keine Grenze jeweils längerer po­ tentieller Dauer gibt, daß aber zeitliche Wesen ihrer Vergangenheit nach ebensowenig aktuell unendlich sein können wie ihrer Zukunft nach: eben weil aktuelle unendliche Dauer sich unmöglich durch suk­ zessive Aneinanderreihung von Seinsphasen zeitlicher Art realisie­ ren lasse, was für die Vergangenheit (trotz all ihrer sonstigen Ver­ schiedenheit von der Zukunft) doch gleichermaßen zutreffe wie für künftige Dauer. Daher müßten also Welt und Zeit einen Anfang ge­ habt haben. Dieser Kerngedanke der Bonaventurischen Argumenta­ tion dürfte auch für das Kantsche Argument für die These der ersten Antinomie als entscheidend angesehen werden, wo ja ebenfalls die Unmöglichkeit, eine unendliche Reihe sukzessive zu vollenden, und die These, daß eine anfanglose Welt eben dies Unmögliche voraus­ setzt, als ausschlaggebendste Prämissen des Arguments angeführt werden. Da ich dem Kerngedanken dieser Beweisführung für die These durchaus zustimme24 und ihn anderweitig ausführlich darge­ legt habe,25 sehe ich an dieser Stelle von einer weiteren Entfaltung dieser Argumentation ab. Der wichtigste Gedanke, der im Beweis der Antithese gegen einen zeitlichen Anfang der Welt (oder Zeit) angeführt wird, ist je­ ner, daß schon der Begriff eines »Anfangs« notwendig ein »Zuvor« voraussetzt, durch das allein ein Zeitpunkt als »Anfang« bestimmt werden kann. Der Anfang ist in diesem Sinne negativ bestimmt als das, vor dem X nicht war.26 Sollten die Zeit oder die Welt »angefan­ gen« haben, so muß es wahr sein, daß beide vor diesem ihrem An­ fang nicht waren. Damit wird aber bereits wieder Zeit vorausgesetzt. Also kann Zeit (und wenn wir mit Kant eine leere Zeit als unmöglich erachten, auch »Welt«) unmöglich einen Anfang gehabt haben, son­ dern muß unendlich sein. Diese Antinomie läßt sich nicht so leicht wie die dritte als eine logische Paradoxie erweisen, die auf einer in sich künstlichen und widerspruchsvollen Definition oder Ansetzung beruht (wie jener eines fiktiven »Kausalgesetzes«, dem zufolge jedes Ereignis auf ein anderes »nach einer Regel folgt«, eine Formulierung, in der das 24 Vgl. auch die Diskussion darüber in Aletheia I (1977). 25 Vgl. Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10. 26 Vgl. P. F. Strawson, The Bounds of Sense, S. 77, wo Strawson Kants zeitliche Anti­ thesis als negatives Urteil behandelt. Vgl. dazu auch Loparic, »The Logical Structure of the First Antinomy«.

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evidente Kausalprinzip, dem zufolge jede Änderung und jedes kon­ tingent Seiende eine Wirkursache verlangen, und ein angebliches universales Kausalgesetz gemäß den Naturgesetzen ähnlichen uni­ versalen Regeln verwechselt werden). Die erste Antinomie scheint zunächst vielmehr tatsächlich von der Wirklichkeit und Gegebenheit von Zeit und Zeitlichem »abgelesen« zu sein. Dennoch kann auch diese Antinomie als bloß scheinbare entlarvt werden, und dies zwar durch die Aufdeckung einer Äquivokation im Begriff »Anfang«, die an die Äquivokation des Begriffs »Kausalgesetz« erinnert, die wir im Rahmen der kritischen Diskussion der dritten Antinomie bereits dis­ kutiert haben.27 Das Urteil, daß die Zeit (Welt) einen »Anfang« habe, kann näm­ lich ganz Verschiedenes bedeuten. Einmal läßt sich die These, daß die Welt einen Anfang habe, so fassen, daß die Zeit (Welt) nicht aktuell und sukzessive eine unendlich große Reihe durchschritten habe (eine solche unendlich große Reihe müßte der von Zenon erörterten bei­ derseits begrenzten, aber unendlich teilbaren Ausdehnung gegen­ übergestellt und von dieser abgegrenzt werden). Die Notwendigkeit eines derartigen Anfangs von Zeit und Welt, so meinen wir, ist tat­ sächlich bereits von Bonaventura und auch durch den Kerngedanken von Kants Beweis für die Wahrheit der These der ersten Antinomie dargelegt worden. Also hat die Welt in diesem Sinne einen Anfang. In der Antithese nun, deren Beweis dartut, daß die Zeit »keinen Anfang haben« könne, muß der Begriff »Anfang« ganz anders ver­ standen werden, soll die Antithese wahr und ihr Beweis gültig sein. Die Leugnung eines möglichen Anfanges der Welt oder der Zeit muß dort bedeuten, daß es keinen Weltanfang in dem Sinne geben könne, daß jedes auch nur potentielle »zuvor« bzw. »vor« diesem Anfang Liegen ausgeschlossen sei. Was in der Antithese bewiesen wird, ist daher nur, daß es nicht einen absoluten Anfang zeitlichen Dauerns in dem Sinne geben könne, daß diesem »Anfang« absolut nichts bzw. keine »Dauer« »zuvorläge«; präziser formuliert, was dort als unmög­ lich bewiesen wird, ist, daß es keinen Sinn haben solle zu sagen: Be­ vor die Welt war (die Zeit war), gab es keine Welt; oder: Bevor es Welt und Zeit gab, gab es nichts Endliches. Daß es tatsächlich keinen absoluten Anfang von Welt oder Zeit in einem solchen Sinne geben

27 M.E. unbegründete Zweifel an einem derartigen Nachweis äußert Leo Freuler in seinem Aufsatz, »Les antinomies cosmologiques de Kant«.

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könne, daß diesem »Anfang« in keiner Weise eine Dauer oder ein Zustand vorhergehe, wird in der Antithese treffend bewiesen. Diese zwei Thesen sind aber keineswegs einander kontradikto­ risch entgegengesetzt; nicht nur das: sie implizieren sich vielmehr gegenseitig, da das Argument, daß von keinem zeitlichen Seienden unendliche Dauer real durchschritten werden könne, ja gerade vor­ aussetzt, daß dasselbe Seiende immer noch »später« und »früher« hätte sein können, »schon länger« existiert haben und »noch länger« existieren könnte. Die potentielle Unendlichkeit der Vergangenheit und Zukunft wird in diesem Argument ja gerade eingeräumt, und deshalb - wegen der Begrenztheit jeder Einheit zeitlicher Dauer und der wahren Unendlichkeit der potentiellen Zukunft - das reale Durchschreitenkönnen derselben geleugnet. Nichts hindert daher, daß beide Thesen der ersten Antinomie nicht falsch, wie Kant meint, sondern - wahr seien. Die Thesis ist wahr, wenn das durch die These des zeitlichen Anfangs der Welt aus­ geschlossene »keinen Anfang Haben« der Welt so verstanden wird, daß man nur behauptet, die Welt könne unmöglich real unendliche zeitliche Dauer in sukzessiven Phasen zeitlichen Dauerns aktualiter durchschritten haben. Wenn dies gemeint ist, muß die Welt tatsäch­ lich einen Anfang gehabt haben. Umgekehrt ist es in der Tat unmöglich, daß die Welt einen An­ fang in jenem Sinne gehabt hätte, daß es nicht auch immer ein po­ tentielles »früher« und »vor« der Welt gegeben hätte, so daß bereits immer - auch bevor die Welt war - Welt, und mit ihr real-aktualer Zeitablauf, hätte sein können. Denn genau wie es in der Zukunft immer ein »später« gibt und man niemals an ein absolutes »Ende« der Zukunft stoßen kann, so gibt es eine analoge zeitliche Grenzen­ losigkeit auch in der Vergangenheit. Eine solche potentiell unend­ liche Folge von »früher« und »später« muß behauptet und daher auch ein dieses ausschließender »Anfang« oder ein »Ende« der Zeit in diesem Sinne geleugnet werden. Der entscheidende Unterschied zwischen Vergangenheit und Zu­ kunft ist dabei allerdings dieser, daß die Zukunft wesenhaft die Potentialität des »Noch Nicht« einschließt, während die Vergangenheit we­ senhaft die Aktualität des »schon real Gewesenen« impliziert. Daher ist ein »wirklich ohne Ende Sein« in Richtung auf die Zukunft wegen der bloßen Potentialität zukünftiger Unendlichkeit möglich, während ein »wirklich unendliches Vergangensein« notwendig ein reales Durchschrittenhaben dieser Vergangenheit und daher aktuelle Un­ 148

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endlichkeit der Dauer einschließen würde und aus diesem Grunde unmöglich ist. Daher kann die Welt zwar als real ohne Ende, nicht aber als real ohne Anfang gedacht werden, wie bereits Kant aus ähnlichen Gründen in den Beweisen der ersten Antinomie und ihrer Erklärung feststellt. Oder besser, da es sich hier um keine bloße Denknotwendig­ keit, sondern um objektive Wesensnotwendigkeit handelt: Sie kann wirklich ohne Ende weiterexistieren, aber unmöglich anfanglos sein. Auch nach dieser Aufdeckung der im Begriff »Anfang« verbor­ genen Äquivokation und nach einer kurzen Darstellung der auf die­ ser Klärung aufbauenden Lösung der ersten Antinomie mögen wir allerdings immer noch mit einer gewissen Aporie konfrontiert blei­ ben, insofern das letzte Zusammenbestehen dieser zwei Sätze, bzw. des Sinnes, in dem Zeit einen Anfang haben muß, und jenes Sinnes, in dem sie keinen Anfang haben kann, unserem Geist unbegreiflich bleibt. Dieses im Grunde der Dinge und der Zeit verborgene Rätsel aber hindert nicht, daß wir die beiden Wahrheiten klar erkennen können, die in gegenseitiger notwendiger Verflechtung und Einheit der von Kant fälschlich postulierten »ersten Antinomie« zugrunde liegen, nämlich: »Die Welt hat einen realen Anfang ihres Dauerns, wie die Zeit selbst, insofern sie nicht sukzessive unendliche Dauer durchschritten haben kann.« Dennoch haben weder Zeit noch Welt einen absoluten Anfang in dem Sinn, daß es nicht sinnvoll bliebe zu sagen: »Sie waren nicht, bevor sie anfingen; und sie hätten schon sein können, bevor sie tatsächlich waren.« In ähnliche Richtung zielen Hedwig Conrad-Martius' Lösungsversuche der Kantschen Antino­ mien.28 Die zweite Kantsche Antinomie betrifft die Frage, ob die mate­ rielle Wirklichkeit (Realität im Raume) unendlich teilbar sei oder aus einfachen Teilen bestehe. Ohne daß hier auf die Gründe für und Ge­ gengründe gegen diese Position29 eingegangen werden soll, sei nur 28 Vgl. den Kantischen Beweis der Antithese. Vgl. auch H. Conrad-Martius, Der Raum, S. 49 ff., bes. S. 53: »In Wirklichkeit liegen Thesis und Antithesis nämlich auf verschie­ dener Ebene und widersprechen sich nie.« Es ist vielleicht nicht uninteressant zu bemer­ ken, daß der christliche Glaube und insbesondere das katholische Dogma immer schon die »doppelte« Wahrheit, daß Welt und Zeit in einem Sinne einen (gemeinsamen) An­ fang hatten, und daß zugleich in einem anderen Sinne die Zeit keinen absoluten Anfang haben konnte, anerkannt und daher, wenn auch ohne philosophische Explikation, die scheinbare (erste, Kantische) Antinomie immer schon »gelöst« hatten. Siehe Denzinger, Enchiridion Symbolorum, Nr. 951, 3002. 29 Vgl. dazu etwa Brigitte Falkenburg, »Kants zweite Antinomie und die Physik«. Vgl. auch Bertrand Russell, Principles of Mathematics, S. 458 ff.

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bemerkt, daß der entscheidende Begriff der »Einfachheit«, wie er so­ wohl in der Thesis als auch in der Antithesis der zweiten Antinomie auftritt, ganz äquivok ist und mindestens drei verschiedene Bedeu­ tungen besitzt, wie dies übrigens schon in der Monadenlehre Leibniz' der Fall ist, auf die die wesentlichen Gedankengänge der zweiten Kantschen Antinomie ja zurückgehen. Erstens kann von Einfachheit im Sinne einer Materie- oder Energieeinheit die Rede sein, die zwar den Raum ausfüllt (und in diesem Sinne nicht »mathematisch« ein­ fach ist), die aber faktisch und physisch unteilbar ist, wie das von der Antike gesuchte »Atom« oder die letzten Elementarteilchen der mo­ dernen Physik (ob das nun Energiequanten, charmes oder andere sein mögen). An anderer Stelle versuchten wir bereits zu zeigen, daß - auch wenn empirisch ein solcher absolut unzerlegbarer mate­ rieller Elementarteil niemals aufgefunden werden könnte - es in der Tat notwendig ist anzunehmen, daß aller realen Zusammengesetzt­ heit der Materie aus voneinander trennbaren Teilen letztlich »ein­ fache« materielle Bestandteile zugrunde liegen müssen, aus denen alle Zusammensetzung der Materie erfolgt. Aus den dort entwickel­ ten Gründen,30 die sich weitgehend mit den Argumenten für die Kantsche These decken, muß es, ebenso wie es innerhalb des Orga­ nismus die Zelle als letztes reales lebendiges Aufbauprinzip gibt, so auch innerhalb des realen materiellen Seins einen nicht weiter zer­ legbaren materiellen Baustein der Materie geben, da diese ja weder selber ein Kontinuum sein noch aus Nichts bestehen kann. Also ist die These der zweiten Antinomie in diesem Punkte korrekt, indem nämlich aller Zusammensetzung von Materie ein in unserem Sinne »einfacher« Bestandteil zugrundeliegen muß.31 Diese elementarsten einfachen Teile sind aber keineswegs im mathematischen Sinne ein­ fach, sondern selbst räumlich ausgedehnt. Dies führt uns zur zweiten Bedeutung von »Einfachheit«, die in­ nerhalb der durch Äquivokationen verwirrten Kantschen Diskussion der zweiten Antinomie auftritt. In diesem zweiten Sinne ist nur der mathematische oder besser real im Raum befindliche Punkt einfach als ein »ausdehnungsloser reiner Ort«, wie ihn antike Mathematiker de­ finierten. Einfachheit in diesem Sinne als Abwesenheit aller im Raum außereinander befindlichen Teile oder Punkte kann unmöglich der Materie oder irgendeinem ihrer Teile zugesprochen werden, wie der 30 Siehe J. Seifert, Das Leih-Seele-Prohlem, S. 33-37. 31 Vgl. zur Kantischen Begründung dieser Annahme insbesondere KrV, B 462 und 464.

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Kantsche Beweis der Antithese zu zeigen sucht32 und wie anderwärts näher begründet wurde.33 Kein materielles Seiendes kann sich im ab­ solut unausgedehnten, keine Dimension besitzenden Punkt befinden oder gar mit diesem zusammenfallen. (Nicht einmal der Raum selbst kann ja aus Punkten zusammengesetzt sein, obwohl die Pythagoräer dies annahmen.) So ist auch der Beweis der Antithese der zweiten Antinomie ganz richtig, nur daß er gar nicht das kontradiktorische Gegenteil der Thesis beweist, ein Umstand, der bloß durch die Äquivokation in Kants Begriff der »Einfachheit«, der die zwei erwähnten radikal verschiedenen Bedeutungen hat, verschleiert wird. Am merkwürdigsten ist es jedoch, daß es Kant (wie vor ihm bereits Leibniz) nicht klar wurde, daß es einen dritten und radikal verschiedenen Sinn von »Einfachheit« gibt, der mit den ersten beiden so wenig Verwandtschaft hat, daß seine Verwechslung mit ihnen nur verblüffen kann.34 Es handelt sich um die Einfachheit einer Seele oder geistigen Substanz. Diese »Einfachheit« widerstreitet zwar auch einem Zusammengesetztsein aus real trennbaren oder im Raum aus­ einanderliegenden Teilen; ein in diesem Sinn einfaches Wesen könnte aber weder aus hier nicht zu entwickelnden Gründen Be­ standteil der Materie, wie die einfachen Elementarteilchen, noch im Raum lokalisiert sein wie der Punkt. Denn dem einfachen Geist (der einfachen Seele) fehlt ebenso wie jede Zusammensetzung auch alle örtliche Lokalisierung. Er kann wesenhaft nicht an einer ganz be­ stimmten Raumstelle oder am Schnittpunkt zweier Linien sein. Die­ se Eigenschaften des mathematisch Einfachen fehlen notwendig dem geistig Einfachen. Genauso wesensnotwendig aber schließt die Ein­ fachheit der Seele die raumausfüllende, wenn auch de facto unteil­ bare, Struktur der Elementarteilchen aus. Deshalb ist die von Chisholm und Kant erkannte Unteilbarkeit der Seele, des Ich, zugleich wesenhaft von der Einfachheit eines unteilbaren Elementarteilchens verschieden, mit dem Chisholm das Ich identifizieren zu wollen scheint.35 In Wirklichkeit ist es jedoch ebenso notwendig vom ein­ 32 KrV, B 463, 465, 467. 33 Vgl. Seifert, Das Leib-Seele Problem, S. 5-15, 26-33; 39-119. 34 Denselben Mangel an Unterscheidung finden wir auch bei Roderick Chisholm (der jedoch später in Diskussionen, die wir in Liechtenstein an der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein führen konnten, diese Unterscheidung zugestand). Vgl. Roderick Chisholm, »Brentano's Conception of Substance and Accident«; ders., »Is There a Mind-Body Problem?«. 35 Vgl. Roderick M. Chisholm, The First Person; ders., Person and Object.

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fachen Seihst ausgeschlossen, einen Diameter von 0,0001 Mykron zu besitzen wie teilhar zu sein.36 Die Wesensverschiedenheit der drei Arten von Einfachheit könnte klarer nicht einleuchten, sobald man all dies betrachtet. Wenn also Leihniz und Kant offenbar meinen,37 daß eindeutige Beweise für die erste Art von Einfachheit irgendetwas mit Beweisen für einfache Substanzen im dritten Sinn von Einfachheit zu tun hätten, so beruht diese Meinung auf einer reinen Äquivokation des Terminus »einfach«, wie im Rahmen einer Arbeit über das Leib-Seele-Problem nachgewiesen wurde.38 Da dieser Aspekt des Antino­ mienproblems aber nicht deren Eigenart als Antinomien, sondern nur die Implikation derselben für das Problem der Seele betrifft, dür­ fen wir diesen Teil der Kantschen Ausführungen hier außer acht las­ sen. Für unseren Zusammenhang genügt es festzustellen, daß auch in der zweiten Antinomie beide Beweise und Thesen dann gültig bzw. wahr sind (und nicht beide falsch, wie Kant annimmt), wenn verstan­ den wird, daß sie, wie hier gezeigt wurde, ganz verschiedene und nicht in einem kontradiktorischen Gegensatz zueinander stehende Sachverhalte beweisen. So verschwindet durch die Durchführung der nötigen Unterscheidungen verschiedener Begriffe von Einfach­ heit auch der Schein der zweiten Kantschen Antinomie völlig. Im Rahmen der von Kant gelieferten Beweise wird darnach einmal dar­ getan, daß die Materie weder im Sinne des mathematischen Punktes noch im Sinne der Seele »einfache Teile« haben könne, aus denen sie real bestehen würde (Antithese); gleichfalls wird bewiesen, daß die Materie einfache Teile im ersten von uns unterschiedenen Sinne be­ sitzen muß. Daraus kann selbstverständlich (selbst wenn der Beweis der These ebenso zwingend wie der der Antithese geliefert würde und die Voraussetzung, daß die reale Materie unmöglich ein Kon­ 36 Bei unseren wiederholten Diskussionen über diese Frage an der Internationalen Aka­ demie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein schien Chisholm dies auch zuzuge­ stehen. Dazu kommt die physiologisch und neurologisch abwegig anmutende Annah­ me, daß ein Elementarteilchen, dem die ganze Nervenstruktur und der ganze Charakter des Lebendigen fehlt, mit dem erlebenden unteilbaren Ich identisch sein könnte, wie Chisholm in seinen erwähnten Schriften meint, aber in den sehr offenen Diskussionen als fraglich anzuerkennen schien. 37 Vgl. Kant, KrV, B 464, 470, 471. 38 Vgl. Josef Seifert, Das Leib-Seele Problem und die gegenwärtige philosophische Dis­ kussion, S. 33 ff.

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tinuum gleich der des Raumes sein könnte, völlig evident ist) keines­ falls eine Antinomie begründet werden, da es sich hier gar nicht um zwei kontradiktorische Thesen handelt. Die vierte Antinomie schließlich betrifft die Frage der Abhängig­ keit des Daseins der veränderlichen, zufälligen Welt.39 In der Kantschen Diskussion dieser angeblichen Antinomie kommen Kants Be­ weis der These und sein Beweis der Antithese in der Annahme überein, daß ein notwendig existierendes Seiendes außerhalb der Welt zur Begründung zufälligen Daseins in der Welt abgelehnt wird.40 Wenn man nun aber mit Kant diese erwähnte Voraussetzung macht, daß ein notwendiges Sein außerhalb der Welt nicht das zufäl­ lige Dasein innerhalb der Welt begründen könne, dann muß man allerdings auch mit Kant die vierte Antinomie annehmen. Denn dann kann man einerseits beweisen, daß ein notwendig existierendes We­ sen unmöglich innerhalb der Welt (des zeitlichen und daher kontin­ genten Seins) existieren kann; zugleich aber muß unter derselben eben genannten Voraussetzung (d. h., wenn man einmal ein notwen­ dig existierendes Sein außerhalb der Welt als Erklärung für die Welt ausgeschlossen hat) aus anderen evidenten Gründen etwas notwen­ dig Existierendes in der Welt angenommen werden. Denn ein in sei­ nem Dasein zufälliges Wesen kann unmöglich selbst sein eigenes Dasein erklären und kann seine letzte Erklärung nur in einem not­ wendig Seienden haben, wie der alte Kontingenzbeweis (z. B. in der Form der tertia via des hl. Thomas von Aquin) immer schon gelehrt hat.41 Aus Kants Annahmen läßt sich also in der Tat sowohl die These als auch die Antithese der vierten Antinomie zwingend beweisen. Zwar geht es bei dem Grund, den Kant für diese Annahme ausführt, in der Tat um eine echte Aporie im oben bestimmten Sinne. Es geht nämlich um die Frage, wie ein notwendig seiendes und außer­ halb der Welt in einem ewig uridentischen reinen Sein verbleibendes Wesen (dessen ewiges »Immer«, wie Plotin sagt, durch ein zukünf­ tiges Sein-Werden von seinem »Thron des Seins« heruntergeworfen würde, während für das endliche Seiende jedes Wegnehmen der Zu­ 39 Zu einer historischen Exposition des Verhältnisses der vierten Antinomie zur ersten Hälfte der Kritik der reinen Vernunft vgl. Peter Baumanns, »Kants vierte Antinomie und das Ideal der Reinen Vernunft«. 40 KrV, B 480-483. Vgl. dazu auch Kants Kritik des kosmologischen Gottesbeweises (KrV B 631-642). 41 Vgl. den Versuch, die Thomasischen ersten vier der fünf viae neu zu begründen in meinem Essere e persona, Kap. 10-14.

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kunft sein Sein und seine Dauer aufhöben),42 trotz der Notwendig­ keit seines Daseins, durch seine Freiheit, kontingente Seiende bewir­ ken kann. Es geht ferner um die Frage, wie ein absolutes Sein, ohne selbst in der Zeit zu sein, doch Wirkungen in der Zeit haben könne. Diese Aporie, die auf unser »nicht wirklich Begreifenkönnen« zu­ rückgeht, darf aber keineswegs mit einer angeblichen Einsicht in die erkennbare Unmöglichkeit einer solchen metaphysischen Kausalre­ lation zwischen ewigem und zeitlichem Sein verwechselt bzw. in eine solche umgedeutet werden. In Wirklichkeit haben wir keinerlei sol­ che unerhörte metaphysische Einsicht in eine derartige Unverträg­ lichkeit, wie Kant sie annimmt. Dabei widerspricht Kant an dieser Stelle in besonders eklatanter Weise seiner gesamten Philosophie, indem er nicht bloß eine intel­ lektuelle Anschauung des Wesens von zeitlichem und ewigem »Sein an sich« annimmt, die er sonst ablehnt, sondern sogar eine derart restlose intellektuelle Wesenseinsicht in einen mysteriösen Bereich der Relation zwischen Zeit und Ewigkeit ansetzt, wie wir sie ganz gewiß nicht besitzen. Außerdem steht diese Kantsche Annahme, daß ein notwendig­ ewiges Sein, das von der Welt verschieden wäre, in der zeitlichen Welt keine Wirkung haben und daher das zufällige Sein der Seienden in der Welt nicht erklären könnte,43 in verblüffender Weise zu Kants eigener Lösung der dritten Antinomie im Widerspruch. In seiner 42 Plotin, »Über Ewigkeit und Zeit«, Enneade III, 7, S. 101 (III, 7, 4): Nähme man dem Gewordenen das >Wird seine weg, so ist es unmittelbar nicht, da es sich immerfort sein Sein hinzuerwerben muß; fügte man aber dem Ungewordenen das >Wird seine hinzu, dann stürzt es vom Sitz des Seins. Offenbar war ihm das Sein nicht wesenseigen, wenn es im Bevorstehen und Gewordensein und Später­ Sein-Werden allererst wird. 43 Vgl. Kant, KrV, B 480-482: Dieses Notwendige aber gehöret selber zur Sinnenwelt. Denn setzet: es sei außer derselben, so würde von ihm die Reihe der Weltveränderungen ihren Anfang ab­ leiten, ohne daß doch diese notwendige Ursache selbst zur Sinnenwelt gehörete. Nun ist dieses unmöglich. Denn da der Anfang einer Zeitreihe nur durch dasjenige, was der Zeit nach vorhergeht, bestimmt werden kann, so muß die oberste Bedin­ gung des Anfangs einer Reihe von Veränderungen in der Zeit existieren, da diese noch nicht war, (denn der Anfang ist ein Dasein, vor welchem eine Zeit vorhergeht, darin das Ding, welches anfängt, noch nicht war). Also gehöret die Kausalität der notwendigen Ursache der Veränderungen, mithin auch die Ursache selbst zu der Zeit, mithin zur Erscheinung, (an welcher die Zeit allein als deren Form möglich ist), folglich kann sie von der Sinnenwelt als dem Inbegriff aller Erscheinungen nicht abgesondert gedacht werden. Also ist in der Welt selbst etwas Schlechthin­

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treffenden Unterscheidung zwischen >Anfang< der Zeit und der Kau­ salität nach schlägt Kant ja vor, daß nicht nur in Gott, sondern sogar im Menschen - im Bereich des transzendentalen Ich - eine völlig außerzeitliche noumenale Freiheit anzusetzen sei, welche als die Ursache von Erscheinungen innerhalb der Zeit angesehen werden müsse.44 Im folgenden wollen wir - über unsere immanente Kritik hinaus - wenigstens kurz die philosophische Auflösung der vierten Kantschen Antinomie andeuten, zu welchem Zweck wir zum Teil nur die bereits gewonnenen Ergebnisse zusammenzufassen brauchen. Zu­ nächst müßte im schon erörterten Sinn die dieser scheinbaren Anti­ nomie zugrundeliegende bloße Aporie von der von Kant behaupteten Antinomie klar unterschieden werden. Sodann müßte gezeigt wer­ den, daß aus Kants teils wahren, teils künstlichen und falschen An­ setzungen tatsächlich eine (Pseudo-)Antinomie folgt, wie bereits ge­ zeigt wurde. Diese Antinomie müßte in einem nächsten Schritt aber als logische Paradoxie im eingangs erklärten Sinne erwiesen werden, da sie sich eben aus der falschen Alternative ergibt, daß die zufällig Daseienden in der Welt ausschließlich entweder durch ein notwendi­ ges innerweltliches Dasein oder durch eine unendliche Reihe zufällig Daseiender erklärt werden könnten. Der Grund für die Aufstellung notwendiges enthalten, (es mag nun dieses die ganze Weltreihe selbst, oder ein Teil derselben sein). 44 Vgl. folgende Stelle, Kant, KrV, B 476-478: Nun haben wir diese Notwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Erschei­ nungen aus Freiheit zwar nur eigentlich insofern dargetan, als zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erforderlich ist, indessen daß man alle nachfolgenden Zustände für eine Abfolge nach bloßen Naturgesetzen nehmen kann. Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzu­ fangen, bewiesen, (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch er­ laubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen der Kausalität nach von selbst anfangen zu lassen und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln. Man lasse sich aber hiebei nicht durch einen Mißverstand aufhalten: daß, da nämlich eine successive Reihe in der Welt nur einen komparativ ersten Anfang haben kann, indem doch immer ein Zustand der Dinge in der Welt vorhergeht, etwa kein absolut erster Anfang der Reihen während dem Weltlaufe möglich sei. Denn wir reden hier nicht vom absolut ersten Anfange der Zeit nach, sondern der Kausalität nach. Wenn ich jetzt (zum Beispiel) völlig frei und ohne den notwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufste­ he, so fängt in dieser Begebenheit samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist.

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dieser falschen Alternative in der wahren Annahme, daß zufällig Da­ seiendes ein notwendiges Dasein voraussetzt, sowie in der falschen Annahme, daß ein notwendiges Dasein außerhalb der Welt unmög­ lich die Welt erklären könne, müßte aufgezeigt werden; zunächst durch eine Vertiefung und Weiterentwicklung der bereits angedeute­ ten Erkenntnis, daß wir die von Kant beanspruchte metaphysische Einsicht in die angebliche Unverträglichkeit zwischen ewig-freier Ur­ sache und zeitlich-kontingenten Wirkungen nicht besitzen; sodann durch den Versuch, in positiver Weise mit Hilfe einer Analyse der reinen Vollkommenheiten der Freiheit und des Lebens, sowie einer Abgrenzung eines bloß zeitlosen Seins, mit dessen Begriff Kant ope­ riert, von einem ewigen freien Selbstbesitz allen Lebens, den reinen Schein der Kantschen Annahme gründlich aufzudecken und den von ihm bestrittenen metaphysischen Sachverhalt in helleres Licht zu setzen. Denn wenn eine bessere metaphysische Analyse des Wesens der Zeit und der Ewigkeit (über die bereits Plotin in der Enneade III, 7 viel Tiefsinnigeres sagte als sich in den dürftigen Hinweisen Kants findet) angestellt wird, dann kann man außer durch den indi­ rekten Beweis für die Verträglichkeit einer notwendig seienden ewi­ gen Ursache zeitlichen Seins (aus der Existenz dieses zeitlichen Seins und aus dem Beweis, daß es ausschließlich durch ein ewig-gegenwär­ tiges, notwendiges Sein erklärt werden kann) auch in positiverer Weise die genannte Aporie klären oder wenigstens ihre Lösung auch positiv erahnen lassen.45 Obwohl sich also aus den geschilderten Kantschen Annahmen wirklich zwei einander kontradiktorisch entgegengesetzte Thesen ableiten lassen, und sich beide Thesen aus den nämlichen Annahmen gleichfalls widerlegen lassen, könnte gezeigt werden, daß der ganze Gedankengang doch keine Antinomie, sondern, wie gesagt, eine blo­ ße logische Paradoxie im früher bestimmten Sinn darstellt, deren Widersinn als solcher schon die Falschheit und den Widerspruch we­ nigstens einer der ihr zugrundeliegenden Annahmen beweisen sollte. Die Falschheit mancher der Kantschen Voraussetzungen der vierten Antinomie ließen sich aber außerdem, wie bereits andeutungsweise ausgeführt wurde, auch unabhängig von dem aus ihnen resultieren­ den Selbstwiderspruch der Antinomie, der durch die erwiderte Wahr­ heit des Widerspruchsprinzips ausgeschlossen ist, erweisen. 45 Zu einer ausführlichen Behandlung dieser Aporie und dem Versuch ihrer Auflösung vgl. Seifert, Essere e persona, Kap. 9-12.

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Kapitel 4

Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft« Kurze Darstellung und Kritik

Eine eingehendere Darstellung und Kritik der bisher in unseren Ausführungen bloß angedeuteten von Kant versuchten Lösungen der Antinomien erübrigt sich insofern, als sich die eine derartige Lösung nötig machende Voraussetzung, nämlich die angenommene Existenz von Antinomien, als gar nicht bestehend erwiesen hat. Dennoch darf in einer Arbeit, die dem Antinomienproblem, vor allem in der Form, in der es in Kants Kritik der reinen Vernunft auf­ tritt, gewidmet ist, zumindest eine kurze Behandlung dieses Themas nicht fehlen.

4.1 Kritik der Kantischen »Lösung« und der in dieser versteck­ ten vier ganz verschiedenen »Lösungen« der »mathemati­ schen Antinomien« Was zunächst die Kantische Lösung der ersten beiden - von Kant als »mathematische« bezeichneten - Antinomien betrifft, so besteht die­ se im wesentlichen in der Behauptung, daß allein die kritische Phi­ losophie des transzendentalen Idealismus diesen Antinomien ihren Stachel nehmen könne, und zwar auf Grund der dieser Philosophie eigentümlichen Annahme, daß Raum und Zeit bloß subjektive An­ schauungsformen und keine objektiven Realitäten seien. Diese Auf­ fassung könne sowohl das Entstehen dieser Antinomien erklären als auch ihre eng mit der Erkenntnis ihrer Quelle verbundene Lösung bieten. Als »subjektive Anschauungsformen« seien nämlich Raum und Zeit in ihrer Gültigkeit ausschließlich darauf beschränkt, die »subjektiven Formen« aller inneren und äußeren Wahrnehmung zu sein, und damit auch »Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung«. Während diese Rolle als Ermöglichungsgrund von Erfahrung nach Kants Meinung Raum und Zeit noch eine gewisse Dignität beläßt, eine ihnen durch die Erfahrung bzw. durch ihre Rolle als apriorische ^ 157

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

Bedingungen der Möglichkeit sinnlicher Erfahrung sozusagen trotz ihrer Subjektivität verliehene Würde, die sie besitzen, solange sie nur die Welt der Erscheinungen konstituieren, so verwandeln sich nach dieser Kantischen Auffassung Raum und Zeit, sobald sie von der Ver­ nunft über alle mögliche Erfahrung hinaus im Gedanken der Unend­ lichkeit oder unendlichen Teilbarkeit, kurz im Gedanken des Raumes und der Zeit als absolute, von der Vernunft geforderte Totalität, er­ weitert werden, in eine bloße transzendentale und rein subjektive Idee. Genau deren Auffassung als objektive Wirklichkeit und Quelle der Erkenntnis nun führe zu bloßem »transzendentalem Scheine«. Diese transzendentalen Ideen (Welt, Seele, Gott) werden von der Vernunft zwar ihrer eigentlichsten Natur nach gedacht und erzeugt; sie behalten auch eine gewisse Rolle für die Erfahrung als »heuristi­ sche Fiktionen«, die weitere Erfahrung anregen und gewissermaßen einen unbegrenzten Horizont möglichen Erfahrungs- und Erkennt­ nisfortschritts liefern. Aber wenn man sie als objektive, an sich be­ stehende Wirklichkeiten ansehe, verwandelten sie sich in reinen Schein und offenbarten ihre Eigenart als bloße Hirngespinste und subjektive Vernunfterzeugnisse. Wenn nun Raum und Zeit (und die Realität im Raum) in solcher Weise innerhalb der kosmologischen Weltidee als absolute Totalität der Bedingungen von Erscheinungen betrachtet werden, dann treten, so meint Kant, die beiden ersten - »mathematischen« - Antinomien auf. Dabei stellten diese Antinomien (zusammen mit den »dyna­ mischen«) einen Hauptbeweis, ja den vortrefflichsten und einzigen »Probierstein« dar, der Kant nach seinen eigenen Worten die Wahr­ heit der Transzendentalphilosophie zu bestätigen schien, ja ihn in diese hineintrieb; und dies erstens deshalb, weil Antinomien, die »ein(en) Scandal der reinen Vernunft«, und zwar »den Scandal des scheinbaren Widerspruchs der Vernunft mit ihr selbst« (Brief an Garve, 1798) darstellen, auf transzendentalphilosophischer Basis in ihrem Ursprung verständlich werden, während sie sich nach der Mei­ nung Kants auf objektivistischer Grundlage unmöglich überhaupt anerkennen, geschweige denn in ihrer Entstehung erklären lassen. Zweitens stellten die Antinomien den herrlichsten Beweis des tran­ szendentalen Idealismus aus dem ganz anderen Grunde dar, daß nur diese Philosophie erlaube, sie zu lösen. Im besonderen Fall der mathematischen Antinomien bestehe diese Lösung im wesentlichen darin, daß den transzendentalen Ideen des Raumes und der Zeit als absolute Totalität von Kant nicht nur 158

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jeder direkte Erkenntniswert abgesprochen wird, sondern diese Ideen auch als in sich widerspruchsvolle Fiktionen angesehen werden müssen. Die transzendentalen kosmologischen Ideen stellen in die­ sem Fall nicht nur einen reinen Schein, sondern auch einen in sich widersprüchlichen Schein dar. Gerade nur aus diesem Grunde kann die in den Antinomien gelegene und aus diesem widerspruchsvollen Schein erwachsende Antinomie der reinen Vernunft nach Kant nicht mehr als störend empfunden werden. Mit anderen Worten, so denkt Kant, kann den Philosophen ein notwendiger Widerspruch, der nicht von einer an sich bestehenden Wirklichkeit oder von einer Erfah­ rungsgegebenheit, sondern von einer rein subjektiven Idee ausgeht, nicht ernstlich stören und er kann auf dieser Grundlage erklären, wie es überhaupt zu den Antinomien kommt. Denn das Reich der Fiktion und Irrealität läßt ja in sich widerspruchsvolle Fiktionen wie einen viereckigen Kreis usf. durchaus zu. Sie sind nicht wie die Wirklich­ keit und die Erfahrungsgegenstände an das Widerspruchsprinzip und den Satz vom ausgeschlossenen Dritten gebunden. Wenn also die beiden mathematischen Antinomien einer falschen und sogar in sich widerspruchsvollen Annahme eines absoluten Raums und einer ab­ soluten Zeit entspringen, so können sowohl These als auch Antithese falsch sein, weil es einen solchen an sich bestehenden Gegenstand gar nicht gibt, sondern die Totalitäten des Raumes und der Zeit nicht gegeben, sondern nur »aufgegeben«, nicht wirklich, sondern nur »heuristische Fiktionen« sind. Wenn man sie deshalb wie an sich be­ stehende Dinge in ihrer absoluten Totalität nimmt, ergibt sich, da sie dann zu widerspruchsvollen Fiktionen werden, ein Widerspruch. Wir wollen nun zeigen, daß dieser Lösungsversuch kaum über­ zeugen könnte, selbst wenn die Antinomien wirklich bestünden. Zunächst, wie kann die Intelligibilität des Raumes und der Zeit, da diese ja weit über deren Rolle als Anschauungsformen und als Bedingungen der Möglichkeit von Sinneserfahrung hinausgeht, durch Kants Theorie erklärt werden, der gemäß ja Raum und Zeit höchstens qua Anschauungsformen, nicht aber jenseits ihrer Rolle als Bedingungen und Formen sinnlicher Wahrnehmung intelligibel sein dürften, sind doch nach Kant der absolute Raum und die absolu­ te Zeit in sich widersprüchliche Fiktionen und müßten ja als solche ihren inneren Widersinn erraten lassen, was nicht geschieht, wie die Erkenntnis von Raum und Zeit lehrt? Nun bezieht sich aber außer­ dem gerade die evidenteste Erkenntnis über Raum und Zeit nicht auf diese als Anschauungsformen, wie sie von einem bestimmten Be­ ^ 159

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obachtungspunkt Null der Sinneswahrnehmung etc. gegeben sind, sondern auf den mathematischen Raum. Die Intelligibilität von Zeit bezieht sich ebenfalls mehr als auf die erlebte Zeit, wie sie Ausgangs­ punkt oder »Form« der Erfahrung ist, auf die reine, quasi-mathema­ tisch erfaßte Zeit, die nicht Form der Wahrnehmung ist, sondern evidenterweise jedes Werden und jede Bewegung als solche kenn­ zeichnet, auch wenn die subjektive menschliche Wahrnehmungs­ form der Zeit ihre eigene Intelligibilität des inneren und äußeren Zeitbewußtseins besitzt.1 Wie können aber dann von Kant die rein mathematischen Evi­ denzen bezüglich des Raumes, wie ihn die Geometrie erforscht, oder wie können von ihm die letztlich intelligiblen Wesensgesetze und Wesensstrukturen der Zeit erklärt werden, die sich ja doch, wie gleich noch weiter verdeutlicht werden wird, auf Raum und Zeit »selbst«, und nicht bloß auf diese als subjektive Anschauungsformen und Be­ dingungen der Sinneserfahrung beziehen? Die Gegenstände von geometrischen Evidenzen oder Einsichten in die Wesensbeschaffen­ heit der Zeit sind doch ein mathematischer Raum und eine objektive Zeit, die gerade nicht jene Merkmale des sinnenhaft erlebten Raumes und der erlebten Zeit besitzen, die diese als »Anschauungsformen« bzw. als objektive humane Aspekte von Raum und Zeit aufweisen, sondern diese vielmehr ausschließen. Die phänomenologisch aufweisbaren Kennzeichen des Raumes und der Zeit als Anschauungs­ formen und Grundlagen der Sinnlichkeit, wie sie durch feinsinnige und reiche Analysen über die »Lebenswelt« von Edmund Husserl und von vielen anderen Phänomenologen (Merleau-Ponty, Gabriel Marcel u.a.) aufgeklärt wurden, schließen ja derartige Merkmale ein wie die Rolle des eigenen Leibes als beweglichen »Nullpunkt« (Husserl) der Gesichtswahrnehmung und anderer Wahrnehmungen, die Momente der Perspektiven und Horizonte, die jeweils einen be­ stimmten Gesichtspunkt des wahrnehmenden Subjekts vorausset­ zen, durch das eine potentiell unendliche Anzahl von Aspekten kon­ stituiert werden, usf. Alle diese intelligiblen Elemente von Raum und Zeit als Anschauungsformen und Bedingungen der Möglichkeit von Sinneserfahrung unterscheiden sich aber gerade von den ebenso und in noch präziserem Sinne intellektuell gegebenen intelligiblen Merk­ malen des objektiven Raumes und der objektiven Zeit, die keinerlei 1 Vgl. Edmund Husserl, Zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins. Vgl. auch Josef Seifert, Essere e persona, Kap. 10.

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solche »subjektiven« Blickpunkte voraussetzen und zu deren gegebe­ nen notwendigen Wesensmerkmalen unendliche Teilbarkeit und un­ endliche Ausdehnung (Raum) oder potentielle Unendlichkeit (Zeit) ebenso einsichtig zählen wie andere von der Geometrie oder Philoso­ phie der Zeit untersuchte Wesensmerkmale. Unendliche Teilbarkeit und andere mathematische Gesetze des Raumes gehören aber als solche ebensowenig zu Raum und Zeit als Anschauungsformen wie Unendlichkeit bzw. unendliche Ausdehnung. Die Intelligibilität des Raumes und der Zeit als solcher übertrifft also jene der raumzeitli­ chen Aspekte der Sinnesanschauung und ist vor allem von dieser gänzlich verschieden. Wie kann dann aber Kant die Geometrie oder die Wesensgesetze der Zeit aus Raum und Zeit als Anschauungsfor­ men erklären wollen? Und wie kann er letzte intelligible und wesens­ notwendige Sachverhalte über Raum und Zeit, wie sie jenseits aller sinnlichen Anschauungsformen liegen, aus einer widersprüchlichen Fiktion verabsolutierter Anschauungsformen ableiten wollen? Dies sind voreilige, ungeprüfte und bei näherer Prüfung abstruse Behaup­ tungen, die aus einer philosophisch sehr unzureichenden Analyse des Gegebenen stammen. Wie kann denn eine solche evidente Intelligibilität von Raum und Zeit bestehen oder von Kant erklärt werden, wenn er in seiner Lösung der ersten beiden Antinomien annimmt, daß unendliche Teilbarkeit und die über alle mögliche Rolle der Er­ fahrung hinausgehende, von der Vernunft verlangte (unendliche) Ausgedehntheit des Raums und der Zeit Frucht einer in sich wider­ sprüchlichen Konstruktion sein sollen, analog derjenigen, die wir in Kants der dritten und vierten Antinomie zugrundegelegten Annah­ men tatsächlich gefunden haben? Unser Argument hier ist jenem sehr ähnlich, das Adolf Reinach in seiner bedeutenden unvollendeten Schrift über die Bewegung ge­ gen die Zenonischen Antinomien anführt.2 Reinach meint dort, daß die bekannte Geste des Diogenes, der Zenon durch einfaches Aufund Abgehen widerlegen wollte, nicht bloß im Sinne eines Hinweises auf Sinneserfahrung als auf die höchste Quelle von Evidenz über die reale Existenz von Bewegung interpretiert werden könnte, sondern auch die Deutung zuließe, daß Diogenes die Intelligibilität und evi­ dente Struktur von Bewegung anschaulich vor Augen führen und gleichsam sagen wollte: »Wie kann eine Gegebenheit von solch intelligiblem, notwendigem Wesen eine widersprüchliche Fiktion 2 Adolf Reinach, »Über das Wesen der Bewegung«.

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sein?« Reinachs Aufsatz versucht dann, in einer äußerst subtilen Weise die Wesensmerkmale der Bewegung philosophisch zu entfal­ ten und hauptsächlich durch die sich von ihnen selbst her zeigenden Wesensgesetze von Bewegung die Zenonische These von deren Wi­ dersprüchlichkeit zu widerlegen. In ähnlicher Weise könnte auch die­ se unsere erste Kritik an Kants Lösung der »mathematischen« Anti­ nomien dahingehend weiterentwickelt werden, daß die eindeutige Intelligibilität und Wesensnotwendigkeit von raumzeitlichen Eigen­ schaften, die jenseits von deren Rolle als Anschauungsformen liegen, weiter entfaltet würden. Hier zeigt sich überdies ein anderer Fehler in Kants Lösung der mathematischen Antinomien sowie in seiner allgemeinen Philoso­ phie des Raumes und der Zeit. Kant faßt nämlich die innerhalb seiner Lösung der mathematischen Antinomien benützte »Zweiheit« von Raum und Zeit ganz anders auf als sich aus der Logik seiner eigenen Überlegungen zwingend ergeben würde, nämlich nicht als Anschau­ ungsformen und Bedingungen der Sinneserfahrung einerseits und als rein objektiven Raum und objektive Zeit andererseits. Vielmehr faßt Kant Raum und Zeit einerseits als Anschauungsformen plus ob­ jektivem Raum und objektiver Zeit, insofern diese Objekte der Geo­ metrie (und Arithmetik) seien, auf, andererseits als Raum und Zeit in ihrer absoluten Totalität und als vollständige Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung, wie die Vernunft sie in kosmologischer Absicht erzeuge. Abgesehen davon, daß die menschliche Vernunft wesensnotwendige Gegenstände überhaupt nicht macht oder schafft, sondern vorfindet, entsprechen die Einsichten der Geometrie gerade jenem absoluten und idealen Raum, der allein geistiger Einsicht zu­ gänglich ist und in dem die unendliche Teilbarkeit ebenso wie die unendliche Ausdehnung wurzeln. Dieser ist jedoch nicht der immer von Horizonten begrenzte und sinnlich gegebene Raum der An­ schauung. Wie kann aber dann die hier implizierte eigentümliche Kantische Zwitter-Konzeption der »Gedoppeltheit« des objektiven Raumes und der objektiven Zeit plausibel gemacht werden? Wie darf ferner einerseits von Kant behauptet werden, daß Raum und Zeit, insofern sie subjektive Anschauungsformen seien und angeblich zugleich der Geometrie und Arithmetik zugrundelägen, höchste Evidenz besäßen und sogar synthetische apriorische Erkenntnis ermöglichten; und an­ dererseits von ihm die These aufgestellt werden, daß derselbe in sei­ nem Wesen intelligible Raum, der doch der Geometrie als Gegen­ 162

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stand zugrundeliegt, wenn er über den Erfahrungsbereich, d. h. über seine Rolle als Anschauungsform hinaus ausgedehnt werde (was im geometrischen Raum ja in Wirklichkeit immer schon geschieht), zu unsinnigen und aller Evidenz widerstreitenden Absurditäten führe? Gibt es nicht in Wirklichkeit, so müssen wir Kant weiter ent­ gegenhalten, eine evidente und höchste intelligible innere Einheit sowohl des Raumes als auch der Zeit, und zwar noch mehr, wenn die letzteren als objektive Gegenstände von Geometrie und Zeit­ erkenntnis als wenn sie als »Anschauungsformen« bzw. in ihrem er­ fahrenen Aspekt betrachtet werden? Ist es nicht dieselbe intelligible Struktur des Raumes, die wir innerhalb des Gegenstandes der end­ lichen Geometrie und die wir innerhalb des von der Vernunft gefor­ derten räumlichen Alls und unendlich teilbaren Raums antreffen? Woher nimmt Kant plötzlich die Zweiteilung des (vom Wahrneh­ mungsraum als solchem verschiedenen) »geometrischen« Raumes und der objektiven Zeit in intelligiblen und absurden Raum, in intelligible und absurde Zeit? Andersartige Evidenzen, auf die bereits hingewiesen wurde, be­ treffen den Wahrnehmungsraum als solchen. Ja sogar hinsichtlich der notwendigen Beziehungen, die zwischen Raum und Zeit als ob­ jektiven Gegenständen bzw. realen Medien aller materiellen und vie­ ler anderer Wirklichkeiten (oder auch als ideale Gegenstände der Geometrie und Zeiterkenntnis) einerseits und den erlebten Anschau­ ungsaspekten von Raum und Zeit andererseits bestehen, gibt es ähn­ lich objektive Evidenzen, die den Blick auf eine weitere Dimension der intelligiblen Einheit des Raumes und der Zeit eröffnen. Die er­ lebte Zeit und der wahrgenommene Raum könnten nämlich phä­ nomenologisch als besondere, von leiblichen zeitlichen Subjekten ab­ hängige objektive Aspekte des objektiven Raumes und der objektiven Zeit erwiesen werden.3 Dabei bleiben der objektive Raum und der geometrische »ideale Raum« sowie die objektive Zeit zwar vom Wahrnehmungsraum vorausgesetzt, sind jedoch von diesem ganz verschieden und jedenfalls mit diesem nicht einfach zu identifizieren, wie Kant zu meinen scheint. Muß nun diese evidente intelligible Einheit des Raumes und der Zeit in allen ihren Dimensionen nicht entweder überhaupt eine Illu­ 3 Vgl. dazu ähnliche Gedanken und eine eingehende Analyse des humanen Aspektes der Außenwelt in Dietrich von Hildebrand, Was ist Philosophie?, Kap. 5; ders., What is Philosophy?, Kap. 5.

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sion bzw. unmöglich sein oder aber das objektive Wesen des Raumes und der Zeit sowohl innerhalb als auch außerhalb der Grenzen der erfahrbaren Welt umfassen? Als ein letzter Punkt unserer Kritik an Kants versuchter Lösung der mathematischen Antinomien muß auf eine gewisse Ambiguität in der Kantischen These über den eigentlichen Ursprung dieser An­ tinomien hingewiesen werden. Dabei geht es uns in diesem folgen­ den Abschnitt des vorliegenden Kapitels primär um eine immanente Kantkritik und sekundär um die genauere Klärung des Wesens der Antinomien und logischen Paradoxien. Wir haben gesagt, daß nach der Meinung Kants die zur Vernunftidee erweiterten Gegebenheiten von Raum, Zeit und »Realität im Raum« deshalb zu Antinomien führten, weil es sich hier um in sich widerspruchsvolle Fiktionen handle. Ja es läßt sich Kants Lösung der mathematischen Antino­ mien, daß nämlich sowohl die These, der Raum bzw. die Zeit seien endlich, als auch die Antithese, sie seien nicht endlich (unendlich) (sowohl die These, die Materie im Raum sei unendlich teilbar, als auch die Antithese, sie sei nicht unendlich teilbar), falsch seien, objektiv nur dann sinnvoll verteidigen, wenn die von der Vernunft geforderte Totalität der Bedingungen des Raumes, der Zeit und der Teilbarkeit (Teile) der Materie den Charakter eines Widersinnes hat. Denn eine bloße Fiktion als solche genügt ja nicht, um eine Antinomie zu erzeugen. Aus der Annahme einer überaus schönen Insel, die nicht tatsächlich existiert, läßt sich ja kein antinomischer Widerspruch ableiten, ebensowenig wie aus einer wirklichen Insel. Nur wenn eine Fiktion zugleich widersinnig ist wie der viereckige Kreis, läßt sich sowohl eine Eigenschaft A (z.B. Viereckigkeit) als auch die entsprechende Eigenschaft non-A (z.B. Nicht-Viereckig­ keit) einer gegebenen Fiktion B (z. B. des viereckigen Kreises) be­ weisen. Wenn eine und dieselbe Voraussetzung einer Antinomie die beiden kontradiktorischen Thesen erzeugt, wie im Falle des Kausalgesetzes als verabsolutierter Kausalität nach Naturgesetzen, dann sind überdies noch zusätzliche, über den Fall der bloß wider­ spruchsvollen Fiktion (z.B. des viereckigen Kreises, aus dem ja kei­ ne Antinomie folgt) hinausgehende Bedingungen nötig, vor allem die Verdecktheit der Widersprüchlichkeit des Ausgangspunktes einer Antinomie. Nun gibt es Stellen, an denen Kant dem von uns Gesagten zu­ stimmen und eben die innere Widersprüchlichkeit der Idee des un­ endlichen Raumes (sogar einfach des objektiv an sich bestehenden 164

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Raumes, der ja Unendlichkeit impliziert) und der an sich bestehenden Zeit behaupten würde. Der Begriff des »transzendentalen Scheins« selbst weist ja in diese Richtung. Zum Beispiel schreibt Kant: Es bleibt also kein Mittel übrig, den Streit gründlich und zur Zufriedenheit beider Teile zu endigen, als daß, da sie einander doch so schön widerlegen können, sie endlich überführt werden, daß sie um Nichts streiten, und ein gewisser transzendentaler Schein ihnen da eine Wirklichkeit vorgemalt habe, wo keine anzutreffen ist.4

An anderen Stellen scheint Kant jedoch zu erklären, daß es zu diesem Schein und dem in ihm implizierten Widerspruch nicht einfach des­ halb komme, weil die Idee eines absoluten Raumes oder einer an sich bestehenden Zeit widerspruchsvoll sei, sondern erst deshalb, weil man zwei ganz verschiedene »Gegebenheiten«, oder besser, Idee und Anschauungsform verwechsle und durch diesen konfusen Begriff so­ zusagen die objektiv widersprechenden Eigenschaften zweier ganz verschiedener Dinge für einen Widerspruch in ein und derselben Sa­ che halte. Vgl. die Stelle: So wird demnach die Antinomie der reinen Vernunft bei ihren kosmologi­ schen Ideen gehoben, dadurch, daß gezeigt wird, sie sei bloß dialektisch und ein Widerstreit eines Scheins, der daher entspringt, daß man die Idee der ab­ soluten Totalität, welche nur als eine Bedingung der Dinge an sich selbst gilt, auf Erscheinungen angewandt hat, die nur in der Vorstellung und, wenn sie eine Reihe ausmachen, im sukzessiven Regressus, sonst aber gar nicht exi­ stieren.5

Diese Stelle ist zumindest aus den folgenden drei Gründen merk­ würdig. Erstens spricht Kant hier von dem, was »nur als eine Bedin­ gung der Dinge an sich selbst gilt«, beansprucht also - entgegen allen früheren Verdikten - eine Erkenntnis des Wesens der Dinge an sich, zumindest dessen, was ihr Wesen ausmachen würde, wenn sie exi­ stierten. Damit begeht Kant in diesem Gedanken aber einen Wider­ spruch zum Rest seiner Philosophie, allerdings einen innerhalb sei­ nes Systems unvermeidlichen Widerspruch. Zweitens setzt Kant hier voraus, daß die Wurzel der Antinomie in einer Konfusion von zwei­ erlei Gesichtspunkten bzw. Betrachtungsweisen des Raumes erfolge, während er früher ganz im Gegenteil behauptet hatte, wie wir gese­

4 KrV, B 530. 5 KrV B 535.

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

hen haben,6 die Antinomien ergäben sich gerade dann, wenn man den Raum objektivistisch unter einerlei Gesichtspunkt (nämlich als objektiven, an sich bestehenden) betrachte. (Auch ist tatsächlich im Ausgangspunkt der von ihm angesetzten Antinomien keine Spur da­ von zu entdecken, daß in deren Prämissen oder Beweisen jeweils von Raum und Zeit etc. in den zwei verschiedenen von ihm genannten Bedeutungen die Rede sei.) Damit würde sich aber hier - und das ist der dritte verwunderliche Aspekt dieser Stelle - ein Ansatz für die Anwendung der ganz andersartigen Lösung, die Kant auf die dritte und vierte Antinomie beschränkt (daß nämlich sowohl These als auch Antithese wahr seien, weil sie sich auf eine jeweils verschiedene Ebene, einmal Erscheinung, dann Ding an sich, bezögen), auf die ma­ thematischen Antinomien bieten. Mit der eben zitierten Stelle scheint auch die folgende nur teil­ weise in Einklang zu stehen. Dort versucht Kant nämlich zu erklären, daß der antinomische Widerstreit nicht in der Verwechslung zweier Gesichtspunkte, aber auch nicht (wie in B 529 f.) in der Wider­ sprüchlichkeit der Idee eines an sich bestehenden Raumes als sol­ chen, sondern vielmehr in einer besonderen Kennzeichnung bzw. Ei­ genart dessen liege, was Kant subjektive Anschauungsformen nennt, von denen man weder sagen dürfe, ihr Gegenstand sei endlich, noch er sei unendlich, eben wegen ihrer Eigenart als rein subjektiver For­ men der Anschauung. Diese dritte Erklärung des Ursprungs der ma­ thematischen Antinomien formuliert Kant folgendermaßen: Ich kann demnach nicht sagen: die Welt ist der vergangenen Zeit, oder dem Raume nach unendlich. Denn dergleichen Begriff von Größe als einer ge­ gebenen Unendlichkeit ist empirisch, mithin auch in Ansehung der Welt als eines Gegenstandes der Sinne schlechterdings unmöglich. Ich werde auch nicht sagen: der Regressus von einer gegebenen Wahrnehmung an zu allem, was diese im Raume sowohl als der vergangenen Zeit in einer Reihe be­ grenzt, geht ins Unendliche; denn dieses setzt die unendliche Weltgröße voraus; auch nicht: sie ist endlich; denn die absolute Grenze ist gleichfalls empirisch unmöglich. Demnach werde ich nichts von dem ganzen Gegen­ stande der Erfahrung (der Sinnenwelt), sondern nur von der Regel, nach welcher Erfahrung in ihrem Gegenstande angemessen dargestellt und fort­ gesetzt werden soll, sagen können.7

6 Vgl. oben, Kap. 1-2. 7 KrV, B 549.

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Kritik der Kantischen »Lösung«

Diese Erklärung des Ursprungs der Antinomie scheint dieselbe durch folgende Erwägung auflösen zu sollen: Betrachtet doch nur Raum und Zeit ihrer Natur (als bloße Anschauungsform) nach eingehend; so werdet ihr finden, daß dieselben nichts enthalten als eine poten­ tiell unbegrenzte Möglichkeit eines empirischen Regressus; von die­ ser potentiellen Unbegrenztheit läßt sich nun weder sagen, sie sei unendlich (denn ihre Unendlichkeit kann offensichtlich nie in der Erfahrung, deren Bedingung sie ist und deren äußerste Möglichkeit sie gleichsam als transzendentale Idee absteckt, gegeben werden); noch läßt sich von diesen transzendentalen Ideen (die dabei jedoch immer in ein und demselben Sinn verstanden werden) sagen, sie sei­ en endlich, weil auch ihr Ende niemals im empirischen Regressus gegeben sein kann. Es ist evident, daß dies eine von den beiden vor­ herigen radikal verschiedene Erklärung des Ursprungs der Antino­ mien ist. Es wird hier eigentlich nur behauptet, daß das, was sich als Antinomie ausgibt (nämlich daß ein Ding weder endlich noch unend­ lich ist), in Wirklichkeit bloß aus einer besonderen Eigenschaft ein und derselben Sache folgt, innerhalb derer - wegen ihres besonderen Charakters als subjektiver »Form« - weder der eine noch der andere zweier kontradiktorischer Sachverhalte je gegeben sein kann. Raum und Zeit als Ausgangspunkte der Antinomie werden hier ja weder als in sich widersprüchlich noch unter zweierlei Gesichtspunkt auf­ gefaßt. Wie daraus eine Antinomie folgen soll, die auch den Geschei­ testen äfft, bleibt unerklärlich. Eine vierte Erklärung bzw. Lösung der mathematischen Antino­ mien schließlich wird von Kant dort gegeben, wo er die einfache Nichtexistenz des Ausgangspunktes der Antinomie für eine zurei­ chende Begründung derselben hält. Wenn jemand sagt, ein jeder Körper riecht entweder gut, oder er riecht nicht gut, so findet ein Drittes statt, nämlich daß er gar nicht rieche (ausdufte), und so können beide widerstreitende Sätze falsch sein. Sage ich, er ist entweder wohlriechend oder nicht wohlriechend (vel suaveolens vel non suaveolens): so sind beide Urteile einander kontradiktorisch entgegengesetzt, und nur der erste ist falsch, sein kontradiktorisches Gegentheil aber ... (wahr). Sage ich demnach: die Welt ist dem Raume nach entweder unendlich, oder sie ist nicht unendlich (non est infinitus), so muß, wenn der erstere Satz falsch ist, sein kontradiktorisches Gegenteil: die Welt ist nicht unendlich, wahr sein. Dadurch würde ich nur eine unendliche Welt aufheben, ohne eine andere, nämlich die endliche, zu setzen. Hieße es aber: die Welt ist entweder unendlich, oder endlich (nichtunendlich), so könnten beide falsch sein. Denn ^ 167

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

ich sehe alsdann die Welt als an sich selbst ihrer Größe nach bestimmt an ... Also können von zwei dialektisch einander entgegengesetzten Urteilen alle beide falsch sein, darum, weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, son­ dern etwas mehr sagt, als zum Widerspruch erforderlich ist.8

In diesem wichtigen Text macht Kant einen scharfsinnigen logischen Unterschied zwischen zwei Arten von Gegensätzen, von denen die eine über den kontradiktorischen Gegensatz hinaus eine weitere Vor­ aussetzung macht, die sowohl bestehen als auch nicht bestehen mag. Besteht sie nicht, ist keiner der dialektischen kontradiktorischen Sät­ ze wahr. Zur Kritik dieser Lösung, die eine unausgesprochene Vorausset­ zung (nämlich die der Existenz der Welt bzw. der Bestimmtheit ihrer Größe) als Wurzel der ersten beiden Antinomien ansieht, läßt sich erstens sagen, daß eine totale Unbestimmtheit eines Gegenstandes hinsichtlich seiner Größe (wegen seiner mangelnden Existenz) nur begründen könnte, warum man von ihm weder eine bestimmte Größe noch ihr Fehlen wahrhaft aussagen oder beweisen kann; nicht aber kann dadurch die Antinomie erklärt werden, der gemäß man ja sowohl die bestimmte Größe als auch deren Gegenteil (sowohl Un­ endlichkeit als auch Nicht-Unendlichkeit) beweisen könne. Zweitens setzen die erste und zweite Antinomie gar nicht die Existenz der Welt, bzw. die tatsächliche Bestimmtheit ihrer Größe, voraus, son­ dern gehen vom Wesen des Raumes, der Zeit und der Zusammenge­ setztheit aus Teilen usf. aus.9 Drittens sind die Wesen, von denen die angeblichen mathematischen Antinomien ausgehen, eindeutig be­ stimmt und in ihren objektiven Wesensstrukturen eindeutig vor­ gegeben, so daß der Kantische Vergleich einer rein faktisch-zufäl­ ligen, empirischen Voraussetzung von Existenz oder tatsächlicher Größenbestimmtheit mit einer von ihm implizierten ähnlichen Vor­ ausgesetztheit einer derartigen Bestimmtheit in Raum und Zeit völlig unzutreffend ist, weil es sich im letzteren Fall um notwendige Wesensmomente von Raum und Zeit und nicht um dem Wesen äu­ ßerliche empirische Bestimmtheiten handelt. So sehen wir, daß bestenfalls die erste dieser Erklärungen (der 8 KrV, B 532, B 533. 9 Brigitte Falkenburg meint, der Ausgangspunkt der zweiten Antinomie sei eine ver­ altete Raumtheorie, eine These, der ich nicht zustimme, deckt aber einige interessante Doppeldeutigkeiten und den nicht echt kontradiktorischen, sondern konträren Gegen­ satz in der zweiten Antinomie auf. Brigitte Falkenburg, »Kants zweite Antinomie und die Physik«, 4-25.

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Kritik der Kantischen Lösung der »dynamischen Antinomien«

gemäß die gegebene Totalität von Raum und Zeit eine in sich wider­ sprüchliche Idee, aus der daher eine bloße logische Paradoxie in un­ serem Sinne folgte, wäre) selbst von einem rein immanent-kantischen Gesichtspunkt aus überzeugen könnte. Aber diese Erklärung haben wir ja bereits durch unsere vorhergehenden Argumente für die Einheit und Intelligibilität von Raum und Zeit zu entkräften ge­ sucht.

4.2 Kritik der Kantischen Lösung der »dynamischen Antinomien« Wenn schon die Kantische Erklärung und Lösung der beiden »ma­ thematischen« Antinomien nicht überzeugen kann, so muß erst recht gefragt werden, wie denn die von Kant vorgeschlagene Lösung der dritten und vierten, d. i. der von ihm als »dynamische« bezeichneten Antinomien, auch nur von seinen eigenen Voraussetzungen her, überzeugen soll. Kant stellt ja hinsichtlich dieser beiden letzten Antinomien die These auf, daß die Antithese sich jeweils auf die Welt der Erscheinung, die These hingegen auf das »Ding an sich« beziehen könnte, daß also in der dritten und vierten Antinomie sowohl These als auch Antithese wahr sein könnten, während seiner Meinung nach bei den beiden mathematischen Antinomien beide Thesen gleicher­ maßen falsch sein müßten. Diese unterschiedliche Terminologie von müssen und können wird deshalb gewählt, weil Kant manchmal, insbesondere im An­ schluß an die zur Erläuterung der von ihm vorgeschlagenen Lösung der dritten Antinomie gegebene Untersuchung des doppelten Ge­ sichtspunktes, unter dem eine boshafte Lüge betrachtet werden kann (KrV B 582 ff.), ausdrücklich bemerkt, daß seine Argumente nicht die Wirklichkeit, ja nicht einmal die Möglichkeit der Freiheit bewiesen haben: »daß Natur der Kausalität aus Freiheit wenigstens nicht widerstreite, das war das einzige, was wir leisten konnten, und woran es uns auch einzig und allein gelegen war« (KrV B 587). Die­ ser Beschränkung bleibt Kant jedoch in anderen Texten nicht treu, und vor allem geht auch das an der zitierten Stelle beanspruchte Er­ gebnis über das innerhalb der von Kant der Vernunft gesetzten Grenzen Gestattete hinaus. Denn Kant setzt hier eine Erkenntnis des Wesens der Dinge (Raum, Zeit, Materie) an sich voraus, ebenso wie übrigens ein gewisses Einsehen der Möglichkeit von Freiheit, W 169

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

ohne die weder Unverträglichkeit (das »sich Widerstreiten«) von Natur und Freiheit noch deren Gegenteil behauptet werden könnte. Während Kant also den Ursprung der mathematischen Antino­ mien letztlich in einer in sich widersinnigen Annahme sieht und die­ se Antinomien selbst daher als logische Paradoxien im oben be­ stimmten Sinne auffaßt, deutet er die dynamischen Antinomien, ohne daß er dafür eine Äquivokation oder einen anderen Fehler in der Formulierung oder den Beweisen für diese Antinomien selbst verantwortlich machen würde, so, daß sie sich bloß scheinbar auf ein Paar kontradiktorischer Sachverhalte oder Urteile bezögen. In Wirklichkeit handle die These von einem ganz anderen »Ding« als die Antithese. Hier ergeben sich noch größere Schwierigkeiten als aus Kants Lösung der mathematischen Antinomien. Zunächst: Wie kann Kant den in seiner Lösung der ersten Anti­ nomien abgelehnten Sprung über die Sphäre der Erscheinung und der rein subjektiven Vernunftideen ins Reich des »Dinges an sich« rechtfertigen? Wie soll denn - sei es auf Grund von unmittelbarer Einsicht, sei es auf Grund irgendeines indirekten Beweisverfahrens - das zuvor von Kant aus dem Reich des Erkennbaren ausgeklammer­ te »Ding an sich« nun auf einmal als frei oder notwendig existierend erkannt oder auch nur vermutet und geglaubt werden? (Selbst be­ gründetes Glauben und Vermuten setzt ja bereits ein begrenztes Er­ kennen des in Frage stehenden Seinsbereiches voraus, ähnlich wie Wahrscheinlichkeit Gewißheit voraussetzt, worauf schon Augusti­ nus in Contra Academicos hingewiesen hat.) Wie kann Kant ferner seine Meinung rechtfertigen, daß die letz­ ten beiden - »dynamischen« - Antinomien nicht ebenso wie die er­ sten plausibler dahingehend zu lösen wären, daß die Annahmen von Kausalität bzw. von notwendiger und zufälliger Existenz bloß auf in sich widersprüchliche Fiktionen bzw. auf Kategorien verwiesen würden, die zwar in bezug auf erfahrbare Gegenstände anwendbar wären und Gültigkeit besäßen, die aber sofort zu widersinnigen und Antinomien begründenden Annahmen würden, wenn sie über ihre Funktion als Bedingung der Möglichkeit von Erfahrung hinaus zu Vernunftideen erweitert oder als mehr denn als heuristische Fiktio­ nen angesehen werden sollten? Wie könnte Kant denn wirklich den von ihm behaupteten Unterschied zu den mathematischen Antino­ mien einsichtig machen, daß nämlich in diesem Falle die sich aus einer Annahme ergebende Antinomie, bzw. ein unvermeidlicher Wi­ derspruch zwischen These und Antithese, uns dazu berechtigen soll, 170

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Kritik der Kantischen Lösung der »dynamischen Antinomien«

die These der Antinomie als für ein - übrigens völlig unverkennbares - »Ding an sich« und die Antithese als für die Erscheinungswelt wahr zu behaupten (ohne daß die Existenz beider dieser Welten oder auch nur die Tatsache, daß These und Antithese sich auf verschiedene Wirklichkeiten bezögen und daher nicht tatsächlich kontradiktorisch seien, evident gegeben wären oder von Kant als Ergebnis irgendeiner zwingenden oder auch nur plausiblen Überlegung erhärtet würden)? Von den von ihm angeführten Gründen10 11 könnte noch am ehesten die Erfahrung sittlichen Sollens und die vom letzteren implizierte Freiheit überzeugen. Aber die in der Erfahrung der Sittlichkeit von Kant auch in den ersten Sätzen der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten angenommene transzendentale Erfahrung widerspricht dem Rest seiner Philosophie und »sprengt« dieselbe völlig.11 Indem wir 10 KrV, B 475 f. 11 Im folgenden Text spricht Kant in einem vielfachen Sinne, den ich in einem Beitrag zum Weltkongress für Philosophie in Boston 1998 zu klären suchte, von einem absolu­ ten Wert und einer Einsicht, daß der gute Wille allein »im absoluten Sinne« in dieser und jeder möglichen Welt uneingeschränkt »gut« genannt werden dürfe. Diese Einsicht und Kants These haben keinerlei Fundierung in seiner allgemeinen Erkenntnistheorie, stellen aber einen bedeutenden Beitrag Kants zur philosophia perennis dar: I. Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, IV 393: Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt auch außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille. Verstand, Witz, Urtheilskraft und wie die Talente des Geistes sonst heißen mögen, oder Muth, Entschlossenheit, Beharrlichkeit im Vorsatze als Eigen­ schaften des Temperaments sind ohne Zweifel in mancher Absicht gut und wün­ schenswert^ aber sie können auch äußerst böse und schädlich werden, wenn der Wille, der von diesen Naturgaben Gebrauch machen soll und dessen eigentümli­ che Beschaffenheit darum Charakter heißt, nicht gut ist. Mit den Glücksgaben ist es eben so bewandt. Macht, Reichthum, Ehre, selbst Gesundheit und das ganze Wohlbefinden und Zufriedenheit mit seinem Zustande unter dem Namen der Glückseligkeit machen Muth und hiedurch öfters auch Übermuth, wo nicht ein guter Wille da ist, der den Einfluß derselben aufs Gemüth und hiemit auch das ganze Princip zu handeln berichtige und allgemein-zweckmäßig mache; ohne zu erwähnen, daß ein vernünftiger unparteiischer Zuschauer sogar am Anblicke eines ununterbrochenen Wohlergehens eines Wesens, das kein Zug eines reinen und guten Willens ziert, nimmermehr ein Wohlgefallen haben kann, und so der gute Wille die unerläßliche Bedingung selbst der Würdigkeit glücklich zu sein auszuma­ chen scheint. Einige Eigenschaften sind sogar diesem guten Willen selbst beförderlich und können sein Werk sehr erleichtern, haben aber dem ungeachtet keinen //IV 394// innern unbedingten Werth, sondern setzen immer noch einen guten Willen voraus, der die Hochschätzung, die man übrigens mit Recht für sie trägt, einschränkt und es nicht erlaubt, sie für schlechthin gut zu halten. Mäßigung in Affecten und Lei­

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

die Annahme der Erkennbarkeit der Dinge an sich in Kants Ethik, wo er es für evident ansieht, daß weder in der Welt noch außerhalb der­ selben etwas in uneingeschränktem Sinne gut genannt werden dürfe als allein ein guter Wille, begrüßen, müssen wir im Rahmen einer »immanenten Kant-Kritik« doch auf den Widerspruch hinweisen, der hier liegt, wenn man an die grundlegende These der Kritik der reinen Vernunft denkt, die eine Erkenntnis der Dinge an sich für unmöglich erklärt. Wie läßt sich ferner - besonders hinsichtlich der dritten Antino­ mie - die geradezu schizophrene Betrachtungsweise der Welt auf­ rechterhalten, die sich aus Kants Lösung der dynamischen Antino­ mien ergibt? Wie soll z. B. eine bösartige Lüge oder ein sonstiges Verbrechen als restlos von Charakter, Erziehung usf. determiniert und zugleich (in Hinsicht auf die noumenale Sphäre) als frei und verantwortlich betrachtet werden? Es scheint durch die Vermeidung des hier einzig angebrachten »Entweder-Oder« die Kantische Lösung mit einem ärgeren Widerspruch behaftet zu sein als derjenige ist, den er in der Antinomie selbst anzutreffen und zu lösen meint. Denn denschaften, Selbstbeherrschung und nüchterne Überlegung sind nicht allein in vielerlei Absicht gut, sondern scheinen sogar einen Theil vom innern Werthe der Person auszumachen; allein es fehlt viel daran, um sie ohne Einschränkung für gut zu erklären (so unbedingt sie auch von den Alten gepriesen worden). Denn ohne Grundsätze eines guten Willens können sie höchst böse werden, und das kalte Blut eines Bösewichts macht ihn nicht allein weit gefährlicher, sondern auch unmittel­ bar in unsern Augen noch verabscheuungswürdiger, als er ohne dieses dafür würde gehalten werden. Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt oder ausrichtet, nicht durch seine Tauglichkeit zur Erreichung irgend eines vorgesetzten Zweckes, sondern al­ lein durch das Wollen, d.i. an sich, gut und, für sich selbst betrachtet, ohne Ver­ gleich weit höher zu schätzen als alles, was durch ihn zu Gunsten irgend einer Neigung, ja wenn man will, der Summe aller Neigungen nur immer zu Stande gebracht werden könnte. Wenn gleich durch eine besondere Ungunst des Schick­ sals, oder durch kärgliche Ausstattung einer stiefmütterlichen Natur es diesem Willen gänzlich an Vermögen fehlte, seine Absicht durchzusetzen; wenn bei seiner größten Bestrebung dennoch nichts von ihm ausgerichtet würde, und nur der gute Wille (freilich nicht etwa als ein bloßer Wunsch, sondern als die Aufbietung aller Mittel, so weit sie in unserer Gewalt sind) übrig bliebe: so würde er wie ein Juwel doch für sich selbst glänzen, als etwas, das seinen vollen Werth in sich selbst hat. Die Nützlichkeit oder Fruchtlosigkeit kann diesem Werthe weder etwas zusetzen, noch abnehmen. Sie würde gleichsam nur die Einfassung sein, um ihn im gemeinen Verkehr besser handhaben zu können, oder die Aufmerksamkeit derer, die noch nicht gnug Kenner sind, auf sich zu ziehen, nicht aber um ihn Kennern zu emp­ fehlen und seinen Werth zu bestimmen.

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Einige Bemerkungen zu Hegels Kritik der Kantischen Antinomik

Kants Lösung beinhaltet in der Tat eine Kontradiktion, indem ein und derselbe Akt zugleich als frei und als nicht-frei, als determiniert und als nicht-determiniert behauptet wird. Einem solchen Wider­ spruch entgeht Kant höchstens dadurch, daß er in weiter nicht ge­ rechtfertigter Weise behauptet, eine von der Erfahrungswelt völlig getrennte »transzendentale und zeitlose Freiheit« zu erkennen und die in der Zeit erfolgende und restlos determinierte Handlung zu­ gleich als deren Wirkung gedacht und sie als bloße Erscheinung und sogar als nur vom Subjekt konstituierten Schein entlarvt zu haben.12 Aber läßt sich für alle diese und viele andere Behauptungen und Im­ plikationen in Kants Kritik der reinen Vernunft oder in der Wirklich­ keit irgendeine evidente oder auch bloß plausible Grundlage auf­ zeigen? Diesen und einer langen Reihe anderer kritischer Fragen zu Kants versuchter Lösung des Antinomienproblems brauchen wir hier nicht weiter nachzugehen. Denn haben sich von einer grundsätz­ lichen Kritik der von Kant aufgestellten Antinomien her dieselben als bloß scheinbare erwiesen, so ist ihre Auflösung bereits erreicht, und so erübrigen sich nicht nur Kants Auflösungsversuche der als objektiv bestehend angenommenen Antinomien, sondern so sind diese Versuche - ganz abgesehen von ihren übrigen, nur teilweise erwähnten, Mängeln - ohne jede Grundlage, weil sie ein gar nicht bestehendes Problem zu lösen suchen bzw. eine ganz anders zu lösen­ de Schwierigkeit in einer dieser wahren Lösung widersprechenden Weise auflösen möchten.

4.3 Einige Bemerkungen zu Hegels Kritik der Kantischen Antinomik Am Ende dieser Überlegungen soll auch ein knapper Hinweis auf die fünf Hauptargumente nicht fehlen, die Hegel - nach seinem hohen Lob der Kantischen Behandlung der Antinomien - an der Antinomie der Kritik der reinen Vernunft übt, bzw. an Kants Auffassung und versuchter Lösung der »mathematischen Antinomien«.13 12 Vgl. KrV, B 575 ff., wo viel weitergehende Ansprüche erhoben werden, als sie sogar in der Stelle B 582 ff. sich finden. 13 Vgl. die in das Motto aufgenommene Hegel-Stelle und den ganzen Abschnitt der Logik, Erstes Buch, Zweiter Abschnitt, Anm. 2 (III, 216 ff.), wo neben Hegels Würdi­

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Der erste Einwand Hegels betrifft die bereits angedeutete Hegelsche Auffassung, daß der antinomische Widerspruch nicht bloß im Denken, sondern auch im dialektischen Wesen des Seins selbst bestehe. Deshalb kritisiert auch Hegel Kants Beschränkung des Anti­ nomienproblems auf die Sphäre der Subjektivität des Denkens und die Kantische Bestimmung des Problems als Frage, wie die unaus­ weichlichen Widersprüche des Denkens sich auflösen lassen. Hegel rügt mit anderen Worten Kants strikte Anerkennung des Wider­ spruchsprinzips als eines sowohl logisch wie ontologisch universalen Prinzips. Zwar erkennt er die Gültigkeit dieses Prinzips für die Do­ mäne des Verstandes an, die (höhere) Vernunft hingegen müsse das Widerspruchgesetz zerbrechen, um die innerste dialektische Verfaßtheit des Seins erkennen zu können. Da wir es aus den früher erörter­ ten Gründen für evident halten, daß Philosophen wie Aristoteles, Husserl oder Pfänder die absolute Gültigkeit und Evidenz des Wider­ spruchsprinzips dargetan haben und vor allem, daß diese einsichtig ist, stimmen wir in diesem Punkte selbstverständlich Kant zu. Da wir ferner meinen und darzulegen versuchten, daß gerade das möglich ist, was weder Kant noch Hegel für möglich halten, nämlich den Schein der Antinomien durch nähere Untersuchung zum Verschwin­ den zu bringen, erübrigt sich nicht nur die Kantische, sondern auch die Hegelsche Lösung, der gemäß die Antinomien ebensosehr beste­ hen wie nach Kant, wenn sie auch nach Hegel ihre Lösung in der Aufhebung des Kontradiktionsprinzips auf der dem Verstand überle­ genen Ebene der Vernunft finden. Der zweite Haupteinwand Hegels kann dahingehend zusam­ mengefaßt werden, daß die Kantische Liste der Antinomien unvoll­ ständig sei und daß auf dem Grunde aller Begriffe eine antinomische Struktur sichtbar werde, wie zwischen Sein und Nichts, Materie und Form, usf. Dieses Grundprinzip der Hegelschen dialektischen Metho­ de bedürfte ebensosehr wie Kants Antinomien einer eingehenden kritischen Untersuchung. Es würde sich dabei m. E. zeigen, was be­ reits Hegel-Kritiker wie W. Becker14 gezeigt haben, daß nämlich die­ ser Hegelschen Behauptung der antinomischen Struktur aller Begrif­ fe bzw. des dialektischen Verhältnisses zwischen Sein und Nichts, gung und Kritik der Antinomienlehre auch zum Ausdruck gebracht wird, wie die He­ gelsche Dialektik hauptsächlich der Kantischen Antinomienlehre ihren Ursprung ver­ dankt. Vgl. auch Nathan Rutenstreich, »Kant's Dialectic«. 14 Werner Becker, Idealistische und materialistische Dialektik. Das Verhältnis von >Herrschaft< und >Knechtschaft< bei Hegel und Marx.

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Einige Bemerkungen zu Hegels Kritik der Kantischen Antinomik

Materie und Form, usf., ähnliche Äquivokationen zugrundeliegen, wie wir sie in hezug auf Kants Antinomik darzutun suchten. Im Falle der von Hegel behaupteten Antinomie hzw. Dialektik zwischen Sein und Nichts z.B. zeigt sich, daß die Hegelsche Behauptung, daß das reine Sein zugleich Gegensatz zum Nichts und zugleich mit diesem identisch sein müsse, sorgfältiger Kritik durchaus nicht standhalten kann. Denn diese These beruht auf einem Vergessen der Tatsache, daß das reine Sein oder der Begriff des Seins als solchen, weil in ihm von sämtlichen Unterschieden innerhalb des Seins abgesehen wird, ein radikal abstrakter Begriff ist; mit diesem Begriff wird zwar etwas in allem Seienden getroffen, was dem Nichts entgegensetzt ist und was z. B. in den sogenannten mit dem Sein koextensiven Transzen­ dentalien (Duns Scotus) ausgedrückt werden kann; dieses »reine Sein« aber kann nicht selbst existieren (sein). Wenn nun dieser ohne besondere Mühe feststellbare Sachverhalt vergessen und dann von Hegel ein hypostasiertes »reines Sein« vorgestellt wird, dann folgt gewiß die »andere Seite« des dialektischen Prinzips Hegels, nämlich daß das reine Sein als solches eben nicht sein kann und daß deshalb der Gegensatz zum Nichts zugleich selber nichts ist. Die Wurzel die­ ser angeblichen antinomisch-dialektischen Struktur liegt aber ein­ fach im Vergessen der klar gegebenen Tatsache, daß das »Sein als solches« eben nicht als solches, sondern jeweils nur in einem Seien­ den existieren kann, das einen über den abstrakten »reinen Seins­ gehalt« hinausliegenden Inhalt besitzen muß.15 In einer Fortführung der Linien dieser Gedankengänge könnte eine vollständigere Kritik an Hegels Dialektik entwickelt werden, wodurch noch deutlicher würde, daß das Antinomienproblem nicht nur die Wurzel der Kantischen Kritik, sondern auch der Hegelschen Dialektik ist. Dann würde sich auch erweisen, daß keineswegs alle Begriffe antinomisch sind, wie Hegels zweiter Einwand gegen Kants Antinomienlehre ansetzt. Allerdings stimmen wir mit Hegel darin überein, daß Kant das Anti­ nomienproblem in unkritischer und unhaltbarer Weise auf bloß vier Antinomien eingeengt hat.16 Der dritte Einwand Hegels setzt an Kants Philosophie aus, daß darin die Wurzel der Antinomien in äußeren Welt- oder Ideenstruk­ turen erblickt werde, anstatt in den reinen Gedankenstrukturen und im Geist selbst. Es ist klar, daß unsere Antwort auf das Antinomien­ 15 Vgl. dazu Josef Seifert, Sein und Wesen, Kap. 1-4. 16 Vgl. Manfred Baum, Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, S. 9 ff., 91ff.

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problem, wenn sie korrekt ist, ergibt, daß Antinomien weder in äu­ ßeren Seins- oder Ideenstrukturen noch in subjektiven Denkverfas­ sungen gründen, weil sie gar nicht objektiv bestehen. Der Schein echter Antinomien kann allerdings sowohl in objektiv bestehenden, geheimnisvollen Wesenseigenschaften des Unendlichen, unendlich Teilbaren, der Zeit usf. begründet sein als auch in subjektiven Mo­ menten wie der falschen Hypostasierung abstrakter Begriffe oder Äquivokationen, usf. Diese subjektiven Momente liegen nicht im Wesen des Geistes begründet, von dem Hegel undurchsichtig sagt, er sei so stark, daß er den Widerspruch aushalten könne, noch gehen sie auf die Natur des Geistes bzw. den Zwiespalt zwischen dem auf Anschauung beruhenden Denken der Natur und der Vernunftforde­ rung nach der Totalität der Bedingungen äußerer Erscheinungen zurück, wie Kant meint, sondern vielmehr gründen die scheinbaren Antinomien in bestimmten Denkfehlern und den willkürlichen De­ finitionen, die logischen Paradoxien zugrundeliegen. Der vierte Einwand Hegels, daß nämlich die Kantischen Lösun­ gen der Antinomien keine gültigen seien, ist gewiß berechtigt, wie bereits erörtert wurde. Dabei müßten freilich Hegels Gründe für die Zurückweisung der einzelnen Lösungen im einzelnen kritisch ge­ prüft werden. Auf den Kern des fünften Einwands Hegels, daß nämlich die angeblichen Kantischen Beweise für die Antithetik keine wirklichen Beweise seien, sind wir schon in unserer eigenen Überlegung von der Sache her eingegangen und brauchen deshalb hier nicht weiter auf die Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Hegels und unserer eigenen Darstellung der Ungültigkeit dieser Beweise einzugehen.

4.4 Abschließende Bemerkungen über den bloßen Schein der Kantischen Antinomien Als Ergebnis unserer teils durchgeführten, teils bloß angedeuteten Untersuchungen darf festgehalten werden, daß alle Kantischen Anti­ nomien in der Kritik der reinen Vernunft bloß scheinbare sind und sich eindeutig nach entsprechender Aufklärung von Äquivokationen, Prinzipien usf. als solche erweisen, wie dies in dieser Arbeit insbeson­ dere anhand der dritten Antinomie gezeigt werden sollte. Läßt sich dieses Untersuchungsergebnis aufrecht erhalten, so begegnen wir in diesen Antinomien in keiner Weise einem »unvermeidlichen Schein« 176

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Abschließende Bemerkungen über den bloßen Schein der Kantischen Antinomien

oder »Widerstreit der Vernunft« im von Kant angenommenen Sinne. Es ist keineswegs so, daß kritisches Denken auf dem Boden der An­ erkennung des erkennbaren objektiven Wesens und Seins der Dinge (was Kant als »dogmatische Philosophie« bezeichnet) »das Scandal« dieser Antinomien gar nicht beseitigen könnte. Ganz im Gegenteil, Kants Annahme der Antinomien und des in ihnen liegenden »un­ ausrottbaren Scheines« erweist sich als durchaus dogmatisch im negativen Sinne, d. h. als eine Annahme, die auf einer Reihe von Äquivokationen und auf unbewiesenen und nicht-evidenten Voraus­ setzungen beruht, die von Kant nicht einmal einer näheren Unter­ suchung unterzogen, geschweige denn als evident erwiesen werden, was auch unmöglich ist, da sie nicht evident und sogar evident falsch sind. Wirklich kritisches Denken zeigt nun gerade, daß die Behaup­ tung von Antinomien, deren Bestehen die Vernunft unvermeidlich annehmen müßte und von der sie nur durch die sich selber als »kri­ tisch« empfehlende Transzendentalphilosophie befreit werden könnte, selbst unkritisch ist und auf einem Mangel an Unterschei­ dungen sowie auf fälschlich angenommenen Definitionen und Be­ hauptungen beruht, die näherer kritischer Analyse nicht standhalten können. Damit zeigt sich aber das dem natürlichen Menschen eigene Vertrauen auf die Fähigkeit evidenter Wahrheitserkenntnis, das Kant durch die vermeintliche Existenz von Antinomien erschüttert sieht, als durchaus berechtigt und kritisch rechtfertigbar. Um zu voller episteme zu werden, muß ein solches vorphilosophisches Erkennen al­ lerdings durch einen harte geistige Arbeit verlangenden Prozeß vol­ ler Bewußtmachung, klarer Unterscheidungen und komplexer Gedankengänge und Beweise gehen und sich von vielen möglichen Vorurteilen und Verwechslungen freihalten, in die die theoretisierende Vernunft so leicht fällt. Jene skeptische Sackgasse und Ver­ zweiflung an der Erkennbarkeit objektiver Wahrheit aber, die sich aus der Annahme echter Antinomien eindeutig in der einen oder anderen Form ergäbe, erweist sich als durchaus unbegründet bzw. als keineswegs durch die (als nicht wirklich bestehend erkannten) Antinomien berechtigt. Indem sich aber die Antinomien als bloß scheinbare erweisen, bricht nicht bloß einer der von Kant selbst als überaus wichtig erach­ teten »Probiersteine« des Kantischen transzendentalen Idealismus und der Hegelschen Philosophie der »dialektischen Natur der Ver­ nunft« sowie »ein Hauptübergang in die neuere Philosophie« (He­ ^ 177

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Kants transzendentalphilosophische Lösung der »Antinomie der reinen Vernunft«

gel) überhaupt zusammen, und damit einer der wichtigsten Beweise für die Wahrheit einer Philosophie, die uns vom Erkennen der »Din­ ge an sich« und einer vom menschlichen Geist völlig unabhängigen Wahrheit abzuschneiden droht. Es fällt auch nicht bloß jener »Punkt« weg, von dem Kant nach seinen eigenen Worten ausgegan­ gen ist und der ihn »zur Kritik der Vernunft selbst hintrieb«. Viel­ mehr, und dies ist noch viel bedeutungsvoller als alle Kantkritik, sieht sich die Tatsächlichkeit und Gegebenheit eines echten Einsehens und Beweisens evidenter Wahrheit und höchst intelligibler Sachverhalte, wie es für die Philosophie und das gesamte Reich menschlichen Erkennens von grundlegender Bedeutung ist, durch eine kritische Prüfung des Antinomienproblems nicht in Frage gestellt, wie Kant meint. Ganz im Gegenteil, die Fähigkeit des Menschen zur Einsicht in objektive, evidente Wahrheit bewährt sich in der kritischen Erfor­ schung des Antinomienproblems zuverlässiger als je. Dies ist nicht so gemeint, als ob die innere rationale Evidenz und »Selbstrechtfer­ tigung« der Einsicht in notwendige Wesenssachverhalte eines äuße­ ren »Probiersteins« oder Kriteriums bedürftig oder auch nur fähig wäre.17 Wohl aber manifestiert sich die letzte rationale Rechtferti­ gung einer unfehlbar gewissen philosophischen Erkenntnis notwen­ diger Zusammenhänge, von der Bonaventura sagt, daß sie notwendig zur Würde des erkennenden Geistes (Menschen) gehört,18 dort be­ sonders deutlich, wo eine solche evidente Wahrheitserkenntnis einem überaus schweren Einwand gegenüber und angesichts eines sehr tiefen Problems bestehen und zur echten Klärung der »Sachen selbst« vordringen kann. So leuchtet am Ende einer Untersuchung des Antinomienpro­ blems, das gewissermaßen in der intellektuellen Tat der Einsicht de­ ren erneute Bewährung liefert, die Wahrheit des berühmten Satzes Spinozas auf, daß letztlich nur die (evidente) Wahrheit selbst Krite­ rium ihrer selbst sowie des Falschen sein kann. Dieser Satz würde, ebenso wie jede Gewißheit menschlicher Er­ 17 Darauf haben seit Aristoteles unzählige Denker hingewiesen, innerhalb des phäno­ menologischen Realismus besonders der Husserl der Logischen Untersuchungen und Adolf Reinach in seinen Schriften über das Apriori im Bürgerlichen Recht (»Die aprio­ rischen Grundlagen des bürgerlichen Rechtes«) und seinem Werk »Über Phänomenolo­ gie 18 Vgl. J. Seifert, »Bonaventuras Interpretation der augustinischen These vom notwen­ digen Sein der Wahrheit«.

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Abschließende Bemerkungen über den bloßen Schein der Kantischen Antinomien

kenntnis überhaupt, alle Grundlage verlieren, wenn es tatsächlich Antinomien gäbe. Das hat Kant gesehen, und dieses Bewußtsein trieb ihn in den transzendentalen Idealismus als scheinbar einzige Lösung des »Skandals der Vernunft«, der in Antinomien liegt. Wenn aller­ dings Antinomien im präzisen Sinn bestünden, könnten auch die ge­ nialen und höchst akrobatischen Gedankengänge des Kantischen Lösungsversuchs der Antinomien unmöglich von jenem »alles zerbröckelnden und zernagenden Skeptizismus und Relativismus« befreien, den Nietzsche in der Dritten Unzeitgemäßen Betrachtung als Folge der Kantischen Philosophie prophezeit hat. Haben sich indessen von unserer Kritik der von Kant aufgestell­ ten Antinomien her dieselben wirklich als bloß scheinbare erwiesen, so befreit uns eine solche Lösung nicht nur von den skeptischen Kon­ sequenzen der Antinomien, sondern so zeigt sich aufs neue die Fä­ higkeit des Menschen, Sachverhalte mit apodiktischer und unfehlbar wahrer Gewißheit einzusehen und zu beweisen. Dann manifestiert sich die in solcher unbezweifelbarer Wahrheitserkenntnis beruhende Würde menschlicher Erkenntnis ebenso glänzend wie zu Bonaventuras Zeiten und, wenn man so sagen darf, durch das Feuer der kriti­ schen Auseinandersetzung mit dem Kantischen Genie gereinigt, noch glänzender, als dies jemals in der vorkantischen Periode der Ge­ schichte der Philosophie möglich war. Noch wichtiger als die Rechtfertigung der Würde menschlichen Erkennens ist jedoch die Rechtfertigung des Seins selbst, das sich gegenüber Hegels Meinungen über seine innere Widersprüchlichkeit erneut als widerspruchsfrei erwiesen hat. Anstatt der von Kant ver­ meinten dunklen und widersprüchlichen Konstitution der elementa­ ren natürlichen Gegebenheiten von Raum, Zeit, Materie, Kausalität, Freiheit, Zufälligkeit und Notwendigkeit, zeigen sich diese Gegeben­ heiten in ihrem Wesen erneut als eine unerschöpfliche Quelle des Sinnes und einer objektiven Intelligibilität, als eine trotz der aporetisch-geheimnisvollen Aspekte der Wirklichkeit doch nicht obskure, sondern klare Fülle von einsichtigen Wesensmomenten und Wesens­ zusammenhängen, deren innere notwendige Einheit zu stets tiefe­ rem philosophischem Erstaunen führt und zu deren philosophischer Aufdeckung auch durch diese Arbeit ein bescheidener Beitrag gelei­ stet werden sollte.

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Personenregister

Achilles 26-27 Adam, Charles 129 Albertazzi, Liliana 16 Allison, Henry E. 12 Ameriks, Karl 17 Anscombe, G. E. M. 123 Anselm von Canterbury 35, 97 Aristoteles 16, 23, 29-30, 35, 57, 71, 89, 102,108,118, 131,133,139,145, 174, 178 Asenjo, F. G. 51 Augustinus, Aurelius 32, 43, 48,112­ 113,118,120, 126,129-130,132-134, 170,178 Baldacchino, Lewis 100 Balthasar, Hans Urs von 129 Baum, Manfred 175 Baumanns, Peter 153 Bayle, Pierre 144 Beck, Lewis White 49 Becker, Werner 174 Bennett, Jonathan 33, 136, 138 Berdjajew, Nikolai 115 Bergson, Henri 19, 71 Berkeley, George 42 Bloch, Ernst 145 Bolzano, Bernard 16,19, 141-144 Bonaventura 31-32, 89, 96,139, 144, 147, 178-179 Broad, C. D. 32 Burks, A. W. 62 Burnyeat, Miles 68 Cantor, Georg 21, 33, 139 Carroll, Lewis 62 Cauchy 142 Chisholm, Roderick 151-152

Cicero 93, 112, 126 Clarke, Samuel 108 Conche, Marcel 69 Conrad-Martius, Hedwig 91, 149 Conway, Pierre H. 65 Copi,l.M. 62 Cordemoy, Geraud de 91 Cornford, F. M. 29 Craig, W. L. 138 Crosby, John F. 67 Cusa, Nikolaus von 36, 69 Darwin, Charles 43 De Laurentiis, Allegra 33 Denzinger 149 Derrida, Jacques 13 Descartes, Rene 38, 44, 129, 135 Dilthey, Wilhelm 13 Diogenes 161 Dooyeweerd, Hermann 13 Dryer, D. P. 78 Duns Scotus 175 Eckermann 105 Einstein, Albert 17, 21, 71 Erdmann 141 Ertl, Wolfgang 87, 96, 103, 108 Falkenburg, Brigitte 149, 168 Frege, Gottlob 19, 23, 33 Freuler, Leo 147 Fried, M. 142 Garve, Christian 12, 71, 158 Geach, Peter 123 Geulincx, Arnold 91 Gigon, Olof 31 Glouberman, Mark 12

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Personenregister

Gödel, Kurt 34 Goethe, Johann Wolfgang von 105 Gram, Moltke 14 Greenwood, John D. 101 Hartmann, Nicolai 14, 42 Hartshorne, Charles 64 Hegel, G. W F 12, 32-33, 46, 57, 71, 141, 171, 173-177,179 Heidegger, Martin 67 Heimsoeth, Heinz 96,110 Heisenberg, Werner 21, 71 Hengstenberg, Hans-Eduard 97,119,129 Hildebrand, Dietrich von 19, 48, 85, 90, 97,107,111, 131, 163 Hinske, Norbert 87 Hoeres, Walter 49 Hölscher, Eudger 129 Hoogland, J. 13 Huby, Pamela M. 139 Hume, David 49, 99, 101 Husserl, Edmund 16, 21, 23-24, 35, 57, 85, 107, 160, 174, 178 Ignatow, Assen 115 Ingarden, Roman 121-123 Johnson, Phillip E. 43 Kant 171 Kaufmann, Felix 15-16 Kawamura, Katsutoshi 87 Kierkegaard, Soeren 42-44,133,136 Kovach, Francis J. 144 Koyre, Alexandre 63 Krausser, Peter 33 Kretzmann, Norman 139 Kroy, Moshe 100 Kuehn, Manfred 101 Kutschera, F. von 33 Eamb, Matthew 11 Eeclerc, Ivor 49 Eeibniz, Gottfried Wilhelm 13, 49, 56, 108, 144, 150-152 Eonergan, Bernard 11 Eoparic, Zeljko 136, 138, 146 Eopez, Alvarez Pablo 11

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Eubac, Henri de 41 Eukacs, György 11 Malebranche, Nicolas 91 Marcel, Gabriel 41, 67, 69, 160 Marx, Karl 36, 57, 69,174 Meinong, Alexius 16,19, 62-63 Merleau-Ponty, Maurice 160 Mittelstaedt, Peter 17 Monod, J. 91 Moulder, James 62 Munitz, Milton K. 144 Nanajivako, Bhikku 68 Neisser, Hans P. 14 Newman, J. H. Cardinal 41, 48, 128 Nietzsche, Friedrich 179 Ockham, William of 139 Otto, W. F 28 Parmenides 24, 28, 30, 38, 42, 47, 66, 71, 122 Patt, Walter 13 Peirce, Charles Sanders 14 Pena, Eorenzo 33 Petrov, S. 33 Pfänder, Alexander 16, 23, 35, 57, 59, 109,174 Platon 25, 28-30, 71, 131 Plotin 153-154, 156 Poincare, Henri 34 Popper, Sir Karl 138 Priest, Graham 13 Puntel, Eorenz 57 Pyrrhon von Elis 53, 55, 68 Rahner, Karl 41 Reale, Giovanni 29, 55 Reid, Thomas 14 Reinach, Adolf 16-19, 21-22, 49, 71, 85, 107, 111, 113, 161, 178 Richir, M. 69 Rohatyn, Dennis 71 Roos, Heinrich 44 Rotenstreich, Nathan 174 Russell, Bertrand A. W. 19, 23, 33, 62, 65, 67, 70, 149

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Personenregister

Scheler, Max 50, 85 Schleiermacher, Friedrich 28 Schmucker, Josef 96 Scholz, Heinrich 23 Schroeder, J. F. L. 14 Schuhmann, Karl 16 Schwarz, Balduin 25 Sedgwick, Sally 12 Seifert, Josef 14-15, 17-19, 21, 25, 32, 35, 37,40,42-43,45,48-49, 85, 89-91, 95-97, 99,106-107,110-113,120,123, 129, 131, 133, 138, 142, 146, 150-152, 156,160,175, 178 Singer, Brent A. 87 Smith, Barry 16 Sokrates 21-22 Spinoza, Benedict de 46, 48, 143, 178 Stegmüller, Wolfgang 34 Strawson, Peter Frederick 100, 136, 138, 146 Strohmeyer, Ingehorg 17 Szekely, Laszlo 33 Tamhurino, J. 51 Tannery, Paul 129 Tarski, Alfred 19

Thomas von Aquin 13-14, 90,103, 139, 144, 153 Toscano, Ugo 55 Troisfontaines, Roger, S. J. 41 Veldhuijsen, Peter van 139 Vogel, Karl 138,144 Weiss, Paul 63 Wenisch, Fritz 19, 86,111 Whitehead, Alfred North 34, 49, 62 Whitrow, G. J. 138 Wielema, M. R. 14 Wike, Victoria S. 53 Wittgenstein, Ludwig 13 Wojtyla, Karol 89-90, 96, 131 Wolff, Christian 144 Wood, Allen W. 33 Young, Thomas J. 13 Yovel, Yirmiyahu 12 Zanetti, Veronique 13 Zenon 19, 21, 24, 27-28, 30, 33, 52-53, 66, 71, 147, 161

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Sachregister

a priori, - synthetisch, - analytisch 57­ 58, 74-77, 85 Abgrenzung 106-107,156 absolut 35, 41-42, 46, 48, 56, 65, 107, 110,112,125, 130,133-134, 141, 147, 150-151, 155 Anfang der Philosophie 29 Antinomie(n) 9, 12-13,15, 27-32, 34, 46-49, 51-54, 56-60, 64-65, 71, 76, 78-79, 84, 86-87, 91-93, 95-98, 100­ 103, 107-108, 110-111, 113-117, 119­ 120, 122-123, 125-128, 132-134, 136, 139,141,144, 146-150,152-156, 159, 161, 164-165, 167-168, 170-172, 174 Antinomienproblem 9, 13-15, 18-19, 23-24, 28-33, 36-37, 55-58, 69-72, 77-78, 84, 86, 125, 155, 175-176 Aporie(n) 9, 13, 20, 24-25, 30, 33, 35, 37-40, 42-43, 45-48, 50-51, 57-58, 62, 64, 66, 69, 71,116, 122, 125-128, 132-133, 137, 149, 153, 155-156 Begrenzung 33, 113, 140 Begriff 12, 25, 27, 39-41, 49, 57, 62-63, 71, 76, 83, 87, 91, 97,104,110, 112, 140-142, 144-147, 149-151, 156, 165­ 166, 175 Bewegung 24, 27, 30, 46, 52, 58, 62, 66, 71 Definition 103,105, 110, 146 Ding 13, 28, 32, 56, 69, 78-79, 85, 104, 116,139,154, 166-167,170-171 einsichtig 50, 161, 170 Empirismus 49, 85 Erkenntnis 172

Existenz, esse 17, 32-33, 35, 40, 46, 53, 56, 59, 67, 70, 72, 76, 91,108,110, 112, 114, 118, 122, 127, 129-131, 155-156, 168, 170, 177 Falschheit 32 Freiheit 33, 42-43, 46 Gewißheit, absolute, unfehlbare, etc. 53, 57,128-129,134, 170, 178-179 Gott 25, 42, 46, 48-49, 51, 58, 95, 118, 125-126, 128-129, 141-142, 155, 158 Idealismus 13-14, 42, 67, 69, 74-77,100, 153, 158, 177,179 Idee 33, 40, 42, 53, 69, 76, 84, 125,137, 140-141, 143, 158-159, 164-167, 169 intelligibel 59,111, 159 Intelligibilität 15, 159, 161, 169, 179 Irrationalismus 30 Kantianismus 14 Kategorien 12, 14, 61, 71, 76, 78, 81-82, 84,170 Kausalität 15, 22, 46-47, 51-52, 58, 60, 62, 69-71, 76, 79-80, 82-84, 86-90, 92-94, 96-100, 102-105, 107, 109­ 111, 113-123,125-126,131-134,154­ 155, 164, 167,170, 179 Kausalitätsprinzip 105, 109, 119 Kontinuum/ua 26-27 Leben 129 Logik 9,12,14-15,19, 22-24, 33-35, 57, 59, 69-71,101,109, 136,162,173 logisch 59, 61, 88,123, 174 »logische Paradoxien» 31-32; siehe unter Paradoxien

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Überwindung des Skandals https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

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»logische Antinomien» 32; siehe auch un­ ter Antinomien Mathematik 9,15-21, 23-24, 33-34, 70­ 71, 82 Metaphysik 12,15, 24, 29-30, 34-37, 71, 74, 108, 133, 171 Möglichkeiten 84 Natur 12,18, 20, 29-30, 41, 47-49, 52, 66, 71, 84, 87-88, 90-94, 98-99,103­ 104, 110-111, 114,116,120-123, 126, 128, 131-132, 144, 158, 167, 172, 176­ 177 Neuere Philosophie 32 Nichtwissen 38 objektiv 35, 39, 66, 82, 86, 94, 113, 126, 130, 134, 164-165,173,176 Paradoxe 30 Paradoxie, logische 56, 60, 64, 113-115, 146, 155-156, 169 Person 25, 88-90, 94, 96-98, 103, 117­ 119, 131-132,134,151, 172 Pfeil 24, 27 Phänomenologie 16,18-19, 21, 24, 49, 85, 111, 113, 160, 178 phänomenologisch 160, 163 Philosophie 9, 11-20, 22, 24-25, 28-34, 36, 38, 41, 44, 47, 49, 54, 57, 66, 70-71, 76-79, 85, 87, 91, 96, 99,107,111,116, 123, 131, 134-136, 145, 151-154, 158, 161-163, 165, 171, 175, 177, 179 Principia Mathematica 34, 62 Priorität 130 Rationalismus 30 Raum 24, 27, 46 real 144, 148, 150-152 reale Existenz 129 Relation 21, 29, 47, 80-83, 94, 100, 108, 143, 154 Relativismus 64, 67, 179 Relativität 22, 24, 64 Sachverhalt 35, 51, 62, 90,109, 112, 133, 156, 175

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Seele 15, 19-20, 25, 33, 40, 42-43, 45, 48-49, 79, 88, 91, 125, 129, 150-152, 158 Skandal (für die Vernunft) 9, 12,14-15, 34, 71-72, 158, 177 Sprache 34, 42, 87, 100 Staunen 29, 41, 72 Teilbarkeit 29 Teilhabe 29-30 Theorem 34, 100 Typentheorie 34, 63, 65, 67, 70 unendlich(e) 24, 27 Unendlichkeit 15,17, 20-21, 27, 29, 31, 40, 139, 141-142, 145, 148, 158, 161, 165-168 Urgegebenheit 105 Urteil 31, 35, 61, 64, 81, 88-89,101,109, 146-147 Verzweiflung 177 Vollkommenheit: reine, gemischte, begrenzte 141 Wahrheit 14, 19, 23-25, 31-32, 34-36, 48, 59, 61, 64, 66, 71, 78, 85-86, 93, 95, 98, 102, 109, 120, 126, 129-130, 147, 149, 158, 177-178 Wert 17, 131,142, 171 Wesenheit 49, 58, 85, 105 Wesenheit, notwendige 86, 129, 134 Wesenskern 38, 111 Wesensnotwendigkeit 20, 77,107, 111, 162 Widerspruch 27, 29-33 Widersprüchlichkeit 27, 29-32 Widerspruchsfreiheit 9, 14-15, 24, 34, 75, 78, 134 Widerspruchsprinzip 35-36, 65, 69-70, 159 Wirklichkeit, wirklich 9, 14-16, 28, 33, 36, 38, 41-43, 45-47, 49, 51-54, 56­ 57, 59, 62, 66-69, 74, 80, 82-84, 94, 97-98,101,103, 105,109,111, 114, 117, 122, 125-129, 132, 144, 147-149, 151,154,156, 158-159, 163-165,167, 170, 173, 177, 179

ALBER PHILOSOPHIE

Josef Seifert https://doi.org/10.5771/9783495997352 .

Sachregister

Wissenschaft 9,12, 18, 21, 24, 33-34, 36, 71, 143 Wollen 133,172

Zahl 30 Zeit 24, 27, 46 Zweifel 32, 128,147, 171

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