Kants Staat der Freiheit: Zur Interpretation der Rechtslehre Kants durch Julius Ebbinghaus 3515128131, 9783515128131

Kants Rechts- und Staatslehre wurde in der Forschung lange Zeit ignoriert und nur von wenigen Interpreten näher untersuc

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German Pages 266 [270] Year 2020

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Table of contents :
EDITORIAL
INHALT
VERZEICHNIS DER SIGLEN
VORWORT
KANT ÜBER PRIVATRECHT UND ÖFFENTLICHES RECHT
NEUKANTIANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE, DER POSITIVISMUS UND SEINE ÜBERWINDUNG
DAS RECHT DER MENSCHHEIT AUF DEN RECHTSFRIEDEN
CESARE BECCARIA UND DIE KRIMINALPOLITISCHE AUFKLÄRUNG
EBBINGHAUS ÜBER DIE VOR- UND NACHGESCHICHTE DER STAATSIDEE KANTS
KANTS RECHTLICHE LEGITIMIERUNG DES CONTRAT SOCIAL
JULIUS EBBINGHAUS, DIE RECHTLICHEN GRENZEN DER STAATSGEWALT UND DIE INTERPRETATION DERRECHTSLEHRE KANTS
„RECHTS- UND STAATSPHILOSOPHIE SEIT KANT“WINTERSEMESTER 1954/1955
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Kants Staat der Freiheit: Zur Interpretation der Rechtslehre Kants durch Julius Ebbinghaus
 3515128131, 9783515128131

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Kants Staat der Freiheit Zur Interpretation der Rechtslehre Kants durch Julius Ebbinghaus

Herausgegeben von Manfred Baum und Dieter Hüning

Staatsdiskurse | 38 Franz Steiner Verlag

Staatsdiskurse Herausgegeben von Rüdiger Voigt Wissenschaftlicher Beirat Andreas Anter, Erfurt Paula Diehl, Kiel Michael Hirsch, München Sebastian Huhnholz, Hannover Manuel Knoll, Istanbul Marcus Llanque, Augsburg Samuel Salzborn, Gießen Birgit Sauer, Wien Peter Schröder, London Band 38

Kants Staat der Freiheit Zur Interpretation der Rechtslehre Kants durch Julius Ebbinghaus Mit einem Anhang:  Julius Ebbinghaus: Vorlesung über „Rechts- und Staatsphilosophie seit Kant“,  Marburg Wintersemester 1954/55 Herausgegeben von Manfred Baum und Dieter Hüning

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020 Druck: Beltz Grafische Betriebe, Bad Langensalza Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12813-1 (Print) ISBN 978-3-515-12815-5 (E-Book)

EDITORIAL Der Staat des 21. Jahrhunderts steht in einem Spannungsfeld zwischen Sicherheit und Freiheit, zwischen Ordnung und Veränderung, zwischen Herrschaft und Demokratie. Er befindet sich zudem in einem Dilemma. Internationale Transaktionen reduzieren seine Souveränität nach außen, gesellschaftliche Partikularinteressen schränken seine Handlungsfähigkeit im Innern ein. Anliegen der Reihe Staatsdiskurse ist es, die Entwicklung des Staates zu beobachten und sein Verhältnis zu Recht, Macht und Politik zu analysieren. Hat der Staat angesichts der mit „Globalisierung“ bezeichneten Phänomene, im Hinblick auf die angestrebte europäische Integration und vor dem Hintergrund einer Parteipolitisierung des Staatsapparates ausgedient? Der Staat ist einerseits „arbeitender Staat“ (Lorenz von Stein), andererseits verkörpert er als „Idee“ (Hegel) die Gemeinschaft eines Staatsvolkes. Ohne ein Mindestmaß an kollektiver Identität lassen sich die Herausforderungen einer entgrenzten Welt nicht bewältigen. Hierzu bedarf es eines Staates, der als „organisierte Entscheidungs- und Wirkeinheit“ (Heller) Freiheit, Solidarität und Demokratie durch seine Rechtsordnung gewährleistet. Gefragt ist darüber hinaus die Republik, bestehend aus selbstbewussten Republikanern, die den Staat zu ihrer eigenen Angelegenheit machen. Der Staat seinerseits ist aufgefordert, seinen Bürgerinnen und Bürgern eine politische Partizipation zu ermöglichen, die den Namen verdient. Dies kann – idealtypisch – in der Form der „deliberativen Politik“ (Habermas), als Einbeziehung der Zivilgesellschaft in den Staat (Gramsci) oder als Gründung der Gemeinschaft auf die Gleichheit zwischen ihren Mitgliedern (Rancière) geschehen. Leitidee der Reihe Staatsdiskurse ist eine integrative Staatswissenschaft, die einem interdisziplinären Selbstverständnis folgt; sie verbindet politikwissenschaftliche, rechtswissenschaftliche, soziologische und philosophische Perspektiven. Dabei geht es um eine Analyse des Staates in allen seinen Facetten und Emanationen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des In- und Auslands sind zu einem offenen Diskurs aufgefordert und zur Veröffentlichung ihrer Ergebnisse in dieser Reihe eingeladen. Rüdiger Voigt

INHALT Verzeichnis der Siglen .............................................................................................8 Vorwort ..................................................................................................................11 Manfred Baum Kant über Privatrecht und öffentliches Recht....... ................................................15 Bernward Grünewald Neukantianische Rechtsphilosophie, der Positivismus und seine Überwindung .........................................................................................................33 Franz Hespe Das Recht der Menschheit auf Rechtsfrieden........................................................75 Dieter Hüning Cesare Beccaria und Immanuel Kant über Verbrechen und Strafen .....................99 Lutz Koch Julius Ebbinghaus und die Vor- und Nachgeschichte der Staatsidee Kants........113 Dieter Scheffel Kants rechtliche Legitimierung des Contrat social .............................................127 Michael Wolff Julius Ebbinghaus, die rechtlichen Grenzen der Staatsgewalt und die Interpretation der Rechtslehre Kants ...................................................................145 Anhang Julius Ebbinghaus Vorlesung über „Rechts- und Staatsphilosophie seit Kant“ Marburg Wintersemester 1954/55 .......................................................................195

VERZEICHNIS DER SIGLEN

I. SCHRIFTEN VON IMMANUEL KANT AA Kants Schriften werden zitiert nach folgender Ausgabe: Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1– 22 Preussische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23 Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin, ab Bd. 24 Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Berlin 1900ff. GMS

Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (AA IV)

KpV

Kritik der praktischen Vernunft (AA V)

KrV Kritik der reinen Vernunft (AA III), Zitate unter Angabe der Erstauflage (A) bzw. der Zweitauflage (B) KU Kritik der Urteilskraft (AA V) MS Die Metaphysik der Sitten (AA VI) OP Opus Postumum (AA XXI-XXII) Päd Pädagogik (AA IX) Prol Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA IV) Refl Reflexionen (AA XIV-XIX) RezSchulz Recension von Schulz’s Versuch einer Anleitung zur Sittenlehre für alle Menschen (AA VIII) RGV

Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (AA VI)

RL Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre (AA VI) TL Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre (AA VI) TP Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis (AA VIII) VNAEF Verkündigung des nahen Abschlusses eines Tractats zum ewigen Frieden in der Philosophie (AA VIII) VAProl Vorarbeit zu den Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik (AA XXIII) VAZeF Vorarbeiten zu Zum ewigen Frieden (AA XXIII) V-Eth/Baumgarten Baumgarten Ethica Philosophica (AA XIX) V-Met/Mron Metaphysik Mrongovius (AA XXIX) V-MS/Vigil Die Metaphysik der Sitten Vigilantius (AA XXVII) V-NR/Feyerabend Naturrecht Feyerabend (AA XXVII) V-PP/Powalski

Praktische Philosophie Powalski (AA XXVII)

ZeF Zum ewigen Frieden (AA VIII)

Verzeichnis der Siglen

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II. SCHRIFTEN VON JULIUS EBBINGHAUS GS I | Ebbinghaus, Julius (1986): Gesammelte Schriften, Band I: Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929–1954. Herausgegeben von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn: Bouvier. GS II | Ebbinghaus, Julius (1988): Gesammelte Schriften, Band II: Philosophie der Freiheit. Praktische Philosophie 1955–1972. Herausgegeben von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn: Bouvier. GS III | Ebbinghaus, Julius (1990): Gesammelte Schriften, Band III: Interpretation und Kritik. Schriften zur Theoretischen Philosophie und zur Philosophiegeschichte 1924–1972. Hrsg. von Hariolf Oberer und Georg Geismanan, Bonn: Bouvier. GS IV | Ebbinghaus, Julius (1994): Gesammelte Schriften, Band IV: Studien zum Deutschen Idealismus. Schriften 1909–1924. Herausgegeben in Verbindung mit Georg Geismann und Hariolf Oberer von Karlfriedrich Herb/Stephan Nachtsheim/Udo Rameil. Bonn: Bouvier, S. 145–342.

VORWORT Die Beiträge dieses Bandes wurden ursprünglich anlässlich einer philosophischen Tagung „Kants Staat der Freiheit“ verfasst, die das Institut für Philosophie der Universität Marburg am 9. November 2010 aus Anlass des 125. Geburtstags von Julius Ebbinghaus in Marburg veranstaltete. Sie wurden in der Folgezeit überarbeitet und durch zusätzliche Beiträge ergänzt. Der Philosoph Julius Ebbinghaus, Sohn des Mitbegründers der naturwissenschaftlichen Psychologie Hermann Ebbinghaus, lebte von 1885 bis 1981. Nach dem Studium der Philosophie bei Friedrich Paulsen, Carl Stumpf und Fritz Medicus promovierte er 1909 bei Wilhelm Windelband mit einer Dissertation, die unter dem Titel Relativer und absoluter Idealismus – Historisch-systematische Untersuchung über den Weg von Kant zu Hegel 1910 in Leipzig erschienen ist. Nach ausgedehnten Platon-Studien wurde er 1921 mit einer Arbeit über Die Grundlagen der Philosophie Hegels bei Edmund Husserl in Freiburg habilitiert. 1930 wurde er auf den Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Rostock, 1940 als einer der Nachfolger Hermann Cohens auf ein philosophisches Ordinariat an der Universität Marburg berufen, die er 1945 als von den Amerikanern eingesetzter „Acting Rector“ wiedereröffnete. Seine philosophische Auseinandersetzung mit der „deutschen politischen Katastrophe“ fand ihren Niederschlag in der Sammlung seiner Reden Zu Deutschlands Schicksalswende (Frankfurt 1946, 2. Auflage 1947). Ebbinghaus’ Schriften sind dokumentiert in der Ausgabe seiner Gesammelten Schriften, die im Bouvier Verlag Bonn erschien und vier Bände (I 1986, II 1988, III 1990, IV 1994) umfasst. Ein fünfter Band, Philosophische Studien aus dem Nachlass, ist 2013 im Verlag Königshausen & Neumann (Würzburg) erschienen. Ebbinghaus hat nach einem anfänglichen Fichteanismus im Gefolge Windelbands und einer daran anschließenden Wendung zu Hegel in seiner 1924 erschienenen Abhandlung über Kantinterpretation und Kantkritik einen Bruch mit dem Neukantianismus beider Schulen, der Windelband-Rickertschen und insbesondere der von Cohen begründeten Marburger Schule, vollzogen, der zugleich der Beginn einer Abrechnung mit dem ihn selbst bis dahin beherrschenden Kantverständnis des deutschen Idealismus war. Diese beiden Weisen des Hinausgehens über Kant schienen ihm auf einem mangelhaften Verständnis der die Philosophie revolutionierenden Leistungen Kants zu beruhen, deren Freilegung, Analyse und Interpretation den Schwerpunkt seiner Tätigkeit als Forscher und akademischer Lehrer bildeten. Der genannten Abhandlung von 1924 hat Ebbinghaus selbst programmatische Bedeutung für seine ganze nachfolgende philosophische Arbeit zugeschrieben. Sie beruht auf seiner Erfahrung mit den verschiedenen Schulen des Neukantianismus, nach welcher „jene ganze Bewegung der ‚über Kant Hinausgehenden‘ fort-

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Vorwort

während mit einer großen Unbekannten rechnete, und dass diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei“. Es schien ihm, „dass man nur deswegen allenthalben über Kant hinauszugehen sich anschickte, weil man an Ort und Stelle nicht sicher zu stehen gelernt hatte“. Und so entschloss er sich zu „einer bis aufs Letzte durchgreifenden Zergliederung der Kritik der reinen Vernunft, die über Jahrzehnte fortgeführt und zu einer ebenso eindringlichen neuen Untersuchung und Reproduktion des argumentativen Aufbaus des übrigen Kantischen Werkes ausgebaut wurde. Als Erneuerer der authentischen Kantischen Philosophie nach den Entstellungen, Vereinseitigungen und Missverständnissen derselben vor allem durch den deutschen Idealismus einerseits, den Neukantianismus, die Phänomenologie, die (Heideggersche) Existenzphilosophie und den Neopositivismus andererseits hat sich Ebbinghaus mit Recht verstanden. Dabei hat er immer wieder darauf hingewiesen, dass Kants Lösungen für die Hauptprobleme der (von ihm selbst so genannten) Metaphysik der Natur und der Sitten seit zwei Jahrhunderten nicht verstanden wurden, weil man schon diese Probleme selbst verkannte. Insofern konnte es auch keine überzeugenden Widerlegungen dieser Problemlösungen geben. Eine so verstandene Aktualität schrieb er auch der Kantischen Neubegründung der Moralphilosophie in Recht und Ethik zu. Seine beiden Abhandlungen zur Erklärung und Verteidigung des Kantischen Prinzips der Moralität (Deutung und Mißdeutung des kategorischen Imperativs (1948) und Die Formeln des kategorischen Imperativs und die Ableitung inhaltlich bestimmter Pflichten (1959)) sind bis heute unverzichtbar für das Verständnis dieses Grundsatzes der Kantischen Ethik. Den vielleicht wichtigsten Beitrag zum Verständnis und zur Würdigung der Kantischen Philosophie hat Ebbinghaus im Gebiete der Rechtsphilosophie geleistet. Das gilt sowohl im einzelnen für das Völkerrecht, das übrige öffentliche Recht (einschließlich des Strafrechts) sowie das Recht des Menschen und Bürgers in ihrer geschichtlichen Entwicklung bis zu Kant als auch für die Geschichte der Rechtsidee überhaupt und des Naturrechts. Besonders hervorzuheben ist dabei Ebbinghaus’ Nachzeichnung der Kantischen Argumente für die moralische Notwendigkeit des Staates und seines Rechts sowie seine Analyse der Übereinstimmungen und Differenzen dieser Konzeption des Staatsrechts im Vergleich mit denen von Hobbes und Rousseau. Aber diese Arbeiten sind trotz ihrer stilistischen Brillanz von einer solchen Dichte, Präzision und Knappheit der Gedankenführung, dass sie sich in ihrem Gehalt nicht leicht erschließen und einen entschlossenen Leser fordern. Obwohl Ebbinghaus es für eine Aufgabe der Philosophie hielt, ihre Aussagen nicht ohne den Nachweis ihrer Notwendigkeit vorzutragen und sich darin von der Unverbindlichkeit von Alltagsmeinungen und der Vorläufigkeit von erfahrungswissenschaftlichen Hypothesen zu unterscheiden, hat er selbst zu aktuellen politischen Streitfragen über Jahrzehnte hinweg immer wieder Diskussionsbeiträge geliefert, die es an Entschiedenheit der Stellungnahme nicht fehlen ließen. Auch darin folgte er seinem Vorbild Kant, den er für einen Lehrer der Menschheit hielt, von dem man auch lernen konnte, dass Politik nicht bloß Staatsklugheit und die Geschicklichkeit bedeutete, andere Menschen zu seinen Zwecken zu gebrauchen, sondern als ausübende Rechtslehre die Verbindlichkeit hatte, der Stimme der Vernunft, ihren Ideen und Prinzipien im öffent-

Vorwort

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lichen Leben der Menschen Gehör zu verschaffen. Die im Anhang abgedruckte Transkription des Manuskripts seiner Vorlesung „Rechts- und Staatsphilosophie seit Kant“ aus dem Wintersemester 1954/1955 ist nicht nur ein Stück lebendig argumentierender Philosophiegeschichte, sondern auch ein Dokument seines Engagements als Lehrer des Philosophierens. Die Herausgeber danken Rüdiger Voigt, dem Herausgeber der Reihe „Staatsdiskurse“, für seine Geduld, Dr. Dieter Ebbinghaus (Wasserburg) für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses sowie Isabella Zühlke (Trier) für die Unterstützung bei der Erstellung der Druckvorlage. Manfred Baum (Wuppertal)

Dieter Hüning (Trier)

KANT ÜBER PRIVATRECHT UND ÖFFENTLICHES RECHT Manfred Baum (Wuppertal) I. DER ALLGEMEINE WILLE IM PRIVATRECHT In seiner 1947 erschienenen Rede „Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechtes“ vertritt Julius Ebbinghaus einen „Sozialismus des Rechtes“, in dessen Exposition sich folgende Sätze finden: „Alle wahre Sozialpolitik ist […] Befreiungspolitik. Der Staat selbst ist durch und durch Freiheit, und in ihrem Interesse hat er das souveräne Recht und die Pflicht, die privatrechtliche Verfügungsgewalt einzuschränken auf die Bedingungen einer wechselseitigen Unabhängigkeit aller in der möglichen Verfolgung ihres Glückes.“1

Dass diese Worte gegen den Liberalismus als Ideologie des uneingeschränkt freien Unternehmertums gerichtet sind, ergibt sich aus der folgenden Beschreibung eines seinem Sozialismus des Rechts gegenübergestellten Prinzips: „Das Prinzip, jeder müsse frei seinem Glücke nachgehen können, ohne dass der Staat verpflichtet sei, ihn zu verhindern, andere in der möglichen Verfolgung ihres Glückes von seinem Belieben abhängig zu machen. Wenn die Meinung, dass eine solche Verpflichtung des Staates gegenstandslos sei, weil der Gang der wirtschaftlichen Entwicklung von selber diesem Übel steuern würde, Liberalismus heißt, so beruht der Liberalismus in der Tat auf einem grundsätzlichen Irrtum – ja er enthält einen Widerspruch. Wo jeder frei ist, von seinem (Privat)rechte zu seinem Glücke Gebrauch zu machen ohne Rücksicht darauf, ob er durch diesen Gebrauch irgend jemand anderem ein Gesetz für die Möglichkeit, sein Glück zu suchen vorschreibt, da herrscht überhaupt nicht Freiheit, sondern Willkür.“2

Und schließlich heißt es über das Eigentum: „außer in Beziehung auf einen wenigstens möglichen allgemeinen Willen ist gar kein Eigentum denkbar, weil nämlich kein Erwerb der Sachen als ursprünglich durch einen einseitigen Willensakt entstanden, gedacht werden kann; dieser Erwerb bedarf der Möglichkeit allgemeiner Zustimmung. Folglich kann niemand im Widerspruch mit einer solchen möglichen Zustimmung aller derer, mit denen er in Rechtsgemeinschaft steht, Eigentümer sein, und die Einschränkbarkeit meiner Verfügungsfreiheit durch Gesetze des öffentlichen Rechtes ist in der rechtlichen Möglichkeit des Eigentums selbst enthalten.“3

Die letzten Worte erinnern natürlich an Kants Besitz-, Eigentums- und Erwerbslehre, also an Kants Privatrechtslehre innerhalb seiner Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre. Es gibt in den letzten Jahrzehnten in der Kantforschung eine Tendenz, die Kantische Staatsrechtslehrer als Teil der Lehre vom öffentlichen Recht in ihrer Begründung von seiner Privatrechtslehre abhängig zu 1 2 3

Ebbinghaus, Julius (1947): „Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechtes“. In: Ders., Zu Deutschlands Schicksalswende. Frankfurt a. M., S. 147. Ebd., S. 148. Ebd., S. 132.

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Manfred Baum

machen, und Reinhard Brandt hat in seinem Nachruf auf Julius Ebbinghaus (Juni 1981, Oberhessische Presse) über ihn gesagt: „Seine Interpretation der Kantischen Rechtsphilosophie enthält einen Fehler, der nicht zufällig ist und den ich hier kurz skizzieren möchte, weil er den etatistisch gesonnenen Bürger Ebbinghaus charakterisiert.“ Am Ende dieser kurzen Skizze, die aus einem langen Ebbinghaus-Zitat besteht, heißt es dann über dessen Interpretation: „Aus dem Prinzip der Übereinstimmung der Freiheit eines jeden mit der aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz wird der Kantische Gesellschaftsvertrag entwickelt. Aber Kant knüpft den Gesellschaftsvertrag an die provisorische Vorgabe des äußeren Mein und Dein; das äußere Mein und Dein, besonders das Eigentum an Grund und Boden wird unter Verletzung des Rechtsprinzips durch einseitige Willkür erworben – eine Willkür, die Kant im Namen des Rechts erlaubt. Das Problem des Eigentums ist für den späten Kant essentiell. Ebbinghaus hat es aus seiner Kantinterpretation eliminiert. Es ist zugleich eines der Probleme, die die eigentliche Schwierigkeit ausmachen, in Dingen der praktischen Philosophie, zumal des Rechts, zu Kant zurückzukehren.“4

Es ist hier nicht der Ort, um auf die Brandtsche Diagnose des Ebbinghausschen „Fehlers“ einzugehen und insbesondere nicht auf Brandts eigene, unrichtige Darstellung der Kantischen Rechtsphilosophie hinsichtlich des sog. Erlaubnisgesetzes. Es genügt, darauf hinzuweisen, dass sich in Übereinstimmung mit diesem Nachruf zahlreiche Bücher und noch viel mehr Aufsätze die Meinung vertreten haben, dass Kants Staatsrechtslehre sich nur in ihrer Abhängigkeit von seiner Privatrechts- und insbesondere von seiner Eigentumstheorie verstehen lasse und dass Kant, wie John Locke, in die Reihe der possessive individualists in der politischen Philosophie gehöre. Auch das ist ein zu weites Feld, um es in einem Vortrag bearbeiten zu können. Ich beschränke mich im Folgenden vielmehr auf eine kurze Darstellung der Rolle, die Kants Version von Rousseaus staatsrechtlichem Prinzip der volonté générale innerhalb seines Privatrechts spielt. Es wird sich zeigen, dass Ebbinghaus’ kurze Bemerkungen über die Abhängigkeit des Privateigentums vom allgemeinen Willen in der Tat einen wesentlichen Zug der Kantischen Rechtslehre treffen. Kant unterscheidet innerhalb des Naturrechts das Privatrecht vom öffentlichen Recht als „Inbegriff derjenigen Gesetze, die keiner [öffentlichen] Bekanntmachung bedürfen“ vom „Inbegriff der Gesetze, die einer öffentlichen Bekanntmachung bedürfen“.5 Das Privatrecht handelt entsprechend vom „natürlichen Recht“, das vor dem Staat oder besser: abgesehen von ihm gilt, aber auch im Staat weitergelten soll, während das öffentliche Recht vom „bürgerlichen Recht“ handelt, dem Recht im bürgerlichen Zustand der Gesellschaft, also einer solchen möglichen Gesellschaft, die „durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein sicher[t]“ (RL, AA VI: 242) und insofern ein Staat ist. Demnach ist das Recht im „Naturzustande“, das sogenannte „Privatrecht“, das, abgesehen von aller öffentlichen Gesetzgebung, von jedem Menschen als Privatperson a priori durch Vernunft erkannt werden kann, und deshalb auch in einem „nicht-rechtlichen Zustand“ der Gesellschaft (Naturzustand) gilt (RL, AA VI: 306). Aber solche rationale und reine Prinzipien des Naturrechts gelten auch für das öffentliche Recht, sofern es nicht das positive öffentliche Recht einer historisch gegebenen 4 5

Reinhard Brandt, Nachruf auf Julius Ebbinghaus, in: Oberhessische Presse, Juni 1981. RL, AA VI: 210.

Kant über Privatrecht und öffentliches Recht

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Gesetzgebung ist, sondern seiner Idee nach (RL, AA VI: 297) aus reiner Vernunft erkannt werden kann und insofern den Maßstab der Beurteilung und Kritik wirklicher, d.h. positiver staatlicher Gesetzgebung abgeben kann. Zum Verhältnis des Naturzustandes als eines Zustands des Privatrechts zum Zustand des öffentlichen Rechts sagt Kant, dass der letztere „nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich [enthalte], als im [Naturzustand] gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden [Zuständen]. Die [eigenen] Gesetze des [öffentlichen Zustands] betreffen also nur die rechtliche Form ihres [der Menschen] Beisammenseins (Verfassung), in Ansehung deren diese Gesetze nothwendig als öffentliche gedacht werden müssen“ (RL, AA VI: 306).“

Wenn das Privatrecht definiert wird als „Inbegriff derjenigen Gesetze, die keiner [öffentlichen] Bekanntmachung bedürfen“ (RL, AA VI: 210), und deshalb auch im Naturzustande gelten, dann ist klar, dass es auch vom „inneren Mein und Dein“, dem angeborenen Recht der äußeren Freiheit handelt, einem Recht, „welches, unabhängig von allem rechtlichen Act, jedermann von Natur zukommt“ (RL, AA VI: 237). Dieses angeborene subjektive Recht der äusseren „Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes Andern Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann“, ist nach Kant das „einzige, ursprüngliche, jedem Menschen kraft seiner Menschheit zustehende Recht“ (RL, AA VI: 237). Dieses „innere Meine“ der „angeborenen Freiheit“ (RL, AA VI: 238) ist natürlich ein (Privat)Recht fundamentaler Art gegenüber allen erworbenen Rechten. Es wird geschützt in demjenigen Teil der öffentlichen Gesetzgebung, die vom Strafrecht handelt, und in dem es um die Verletzung des Freiheitsrechts von Personen geht. Die erworbenen Rechte, die das „äußere Mein und Dein“ betreffen, treten dagegen im Plural auf, und das hat Konsequenzen für die Gliederung der von Kant veröffentlichten Rechtslehre von 1797 und ihre Interpretation. „Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen [d. h. die Einleitung der MAdR] geworfen und die Eintheilung der Rechtslehre [selbst] bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können“ (RL, AA VI: 238).“

Und so handelt denn Kants Rechtslehre in ihrem ersten Teil nicht von Kants Privatrecht, sondern nur vom „Privatrecht in Ansehung äußerer Gegenstände“ (RL, AA VI: 210) oder, wie es in der Überschrift des ersten Teils der Rechtslehre heißt, vom „Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt“ (RL, AA VI: 245) (das „überhaupt” wird noch wichtig werden), also zunächst von der Besitz-, Eigentums- und Erwerbslehre, ohne dass in der Rechtslehre selbst eine gesonderte Abhandlung des „inneren Mein und Dein“ bzw. des „angeborenen Rechts“ zu finden ist. Für das Verhältnis von Privatrecht und öffentlichem Recht erweckt das den Eindruck, als sei das letztere nur für die Sicherung von Besitz- (einschließlich Eigentums-) und Vertragsrechten (entsprechend der römischen Einteilung in Sachenrecht und persönliches Recht) und zusätzlich des „Rechts der häuslichen Gesellschaft“ (RL, AA VI: 282) zuständig. Es ist ersichtlich, dass durch einen solchen Eindruck die Interpretation begünstigt wird, es sei das Staatsrecht nichts als ein Mittel der Garantie und Sicherung von privaten Eigentums- und privaten

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Manfred Baum

Vertragsrechten, wie es der Vorstellung vom possessive individualism in der politischen Philosophie entspricht. Kants eigene Ansicht vom Verhältnis des öffentlichen Rechts zum Privatrecht lässt sich einer Vorarbeit zum öffentlichen Recht entnehmen, die kurz vor dem Erscheinen der Rechtslehre (1797) geschrieben sein muss. Dort heißt es: „Das öffentliche Recht ist ein Inbegriff der einer allgemeinen Verkündigung (declaratio) fähigen Rechtsgesetze für ein Volk. […] Man kann es als einen Grundsatz des allgemeinen Naturrechts [d. h. des Privatrechts und des öffentlichen Rechts] annehmen: handele nach Maximen, die auch als Gesetze des öffentlichen Rechts gelten können“ (RL, AA VI: 23.346).

Einen solchen Grundsatz könnte man einen kategorischen Imperativ des öffentlichen Rechts nennen, und wenn er als praktischer Grundsatz des „allgemeinen Naturrechts“ gelten soll, dann müssen gerade die Handlungen im Naturzustand gemeint sein, von denen zunächst nur das Privatrecht gilt, die aber außerdem noch als der Idee einer öffentlich-rechtlichen Gesetzgebung unterworfen gedacht werden müssen. Denn von den Maximen der Handlungen im bürgerlichen, also öffentlich-rechtlichen, Zustand wäre es tautologisch zu sagen, dass sie so sein müssen, dass sie „auch als Gesetze des öffentlichen Rechts gelten können“ müssen. Offenbar soll man nach diesem kategorischen Imperativ auch unter den Bedingungen des Privatrechts schon so handeln, dass der äußere Freiheitsgebrauch seiner Maxime nach in einen öffentlich-rechtlichen Zustand hineinpassen würde. Denn dieser unterscheidet sich ja vom Zustand des Privatrechts (außer seinen eigenen, die Verfassung der Gesellschaft in einem Staat betreffenden Gesetzen und Rechten), wie wir schon gehört haben, nicht seiner Materie nach, also nicht der Zahl und Art der Rechtspflichten nach, die das Verhalten der Menschen zu einander betreffen. Es ist also nach Kant nicht so, dass wir die durch ein rein rationales Naturrecht für das Verhalten von Menschen in einem vor- bzw. außerstaatlichen Zustand a priori erkennbaren Pflichten und Rechte einfach in den bürgerlichen Zustand übertragen (vgl. John Locke), sondern nach Kant ist schon das Recht im vor- bzw. außerstaatlichen Zustand, also das Privatrecht, nur dadurch a priori bestimmbar, dass die Handlungen in diesem Zustand unter der Idee eines öffentlich-rechtlichen Zustandes gedacht und ihr gemäß bestimmt werden. Was ist aber das Gemeinsame von Privat- und öffentlichem Recht, aus dem die Identität der „Materie“ des Privatrechts mit der „Materie“ des öffentlichen Rechts (abgesehen von der Staats-„Verfassung“ als „Form“ des „Beisammenseins“ der Menschen) folgt? Das öffentliche Recht der Idee nach unterscheidet sich vom positiven öffentlichen Recht, wie wir gesehen haben, dadurch, dass es in ihm keine wirkliche Gesetzgebung durch einen wirklichen und machthabenden Gesetzgeber gibt. In einem wirklichen Staat ist hingegen „das öffentliche Recht […] der Inbegriff öffentlicher Gesetze (d.i. solcher die durch einen machthabenden Gesetzgeber allen denen eine Pflicht obliegt [nicht nur wie im idealen, d.h. naturrechtlich bestimmten, öffentlich-rechtlichen Zustand „verkündigt werden können“, sondern wirklich] verkündigt werden)“ (RL, AA VI: 23.347).

Kant fährt fort: „Sollen nun diese Gesetze a priori durch die Vernunft erkennbar seyn [wie es dem Naturzustand als bloßem Zustand des Privatrechts entspricht], so können sie aus nichts anders

Kant über Privatrecht und öffentliches Recht

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als der Idee eines gemeinschaftlichen Willens, der dem Obersten Gesetzgeber beygelegt wird (der Idee desselben) hervorgehen, nur daß der declarirte Wille [dann im Falle einer positiven Gesetzgebung] einer wirklichen Person beygelegt werden muß. Ohne diese hat der Begrif des Rechts keine bestimmte Quelle der Ausführung, nämlich der wirklichen Verbindung des Willens aller zu einem Willen des Ganzen. […] Ohne ein öffentliches [Recht] ist es [das Privatrecht] der status naturalis und die bloße Idee der Möglichkeit einer Rechtspflege [d. h. einer iustitia distributiva]“ (RL, AA VI: 23.347).

Das gemeinschaftliche Rechtsprinzip des öffentlichen und des Privatrechts ist also Rousseaus staatsrechtliches Prinzip der volonté générale oder, wie Kant hier sagt, der „Wille des Ganzen“, und diese Idee ist es, die, wie ich im folgenden zeigen will, auch den wesentlichen Rechtspflichten des Privatrechts, nicht nur, wie sich von selbst versteht, im persönlichen Recht qua Vertragsrecht, sondern auch im sogenannten Sachenrecht, genauer im Besitz-, Eigentums- und Erwerbsrecht, zugrundeliegt. Im § 7 des Privatrechts vom äußeren Mein und dein überhaupt spricht Kant von seiner „Critik der rechtlich-practischen Vernunft im Begriffe des äußeren Mein und Dein“ (RL, AA VI: 254). Zu ihr werde die Vernunft durch eine Antinomie der Sätze über die Möglichkeit eines solchen Besitzes, also im Falle des Sachbesitzes, über die Möglichkeit des Privateigentums genötigt und damit zu einer Unterscheidung „zwischen dem Besitz als Erscheinung und dem bloß durch den Verstand denkbaren [Besitz]“ (RL, AA VI: 255). Unter Voraussetzung diese Unterscheidung könnten nämlich zwei kontradiktorisch entgegengesetzte Sätze zugleich wahr sein, nämlich der Satz: „Es ist möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben; ob ich gleich nicht im Besitze desselben bin“ und der „Gegensatz: Es ist nicht möglich, etwas Äußeres als das Meine zu haben; wenn ich nicht im Besitz desselben bin.“ (ebenda) Der erste Satz sei wahr, wenn er vom „empirischen Besitz (possessio phaenomenon)“ gelte, also vom physischen Besitz eines Gegenstandes oder seiner Inhabung, der zweite Satz sei wahr, wenn ich unter dem Wort „Besitz […] den reinen intelligiblen Besitz (possessio noumenon) verstehe“ (ebenda), also den Besitz ohne Inhabung, den Kant auch den „bloß-rechtlichen“ Besitz nennt. Die Unterscheidung dieser zwei Arten von Besitz ist, unter einer anderen Terminologie, ein Standardthema aller Lehrbücher des Naturrechts im 17. und 18. Jahrhundert. Uns interessiert hier nicht die Begründung, die Kant für seinen zweiten Satz gibt, sondern die viel wichtigere Aussage Kants, dass „der Grund der Gültigkeit eines solchen Begriffs vom Besitze (possessio noumenon)“ eines äußeren Mein in nichts anderem liege als in „einer allgemeingeltenden Gesetzgebung; denn eine solche ist in dem Ausdrucke enthalten: „Dieser äußere Gegenstand ist mein“, weil allen andern dadurch eine Verbindlichkeit auferlegt wird, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs desselben zu enthalten“ (RL, AA VI: 253). Die Ausschließung aller anderen vom Gebrauch eines äußeren Gegenstandes, der in meinem Privatbesitz ist, ist also ein Begriff, der nur aufgrund der in ihm vorausgesetzten „allgemeingeltenden Gesetzgebung“ für alle aktuellen und potentiellen Besitzer äußerer Gegenstände als gültig gedacht werden kann. Es ist klar, dass es im Naturzustande als einem Zustande des Privatrechts nur die Idee einer solchen Gesetzgebung durch einen ebenso nur in der Idee gedachten Gesetzgeber geben kann, aber dieser Gesetzgeber kann niemand anderer als die volonté générale sein. Also ist die Idee eines Staatsrechts nach Kant die Bedingung der rechtlichen Möglichkeit des Gebrauchs eines äußeren

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Manfred Baum

Gegenstandes als eines ausschließenden Meinen, auch dann, wenn ich gerade nicht im physischen Besitz desselben bin. Denn die in diesem Begriff liegende Verpflichtung aller anderen, sich des von mir unerlaubten Gebrauchs meines Gegenstandes zu enthalten, kann gar nicht von meinem einseitigen Willen ausgehen, sondern bedarf eines Gesetzgebungswillens, der für alle ihm Unterworfenen gilt und die Reziprozität in der Beschränkung der äußeren Freiheit aller im Gebrauch äußerer Gegenstände durch allgemein geltende Gesetze garantiert. Eine analoge Argumentation lässt sich, wie Kant im § 8 der Rechtslehre zeigt, auch aus dem Begriff der Sicherung des äußeren Mein und Dein durch Zwangsgesetze führen, denn „nur ein jeden anderen verbindender, mithin collectiv-allgemeiner (gemeinsamer) und machthabender Wille, [ist] derjenige, welcher jedermann jene Sicherheit leisten kann“. Aber durch dieses Argument würde nur die Sicherheit der privaten Eigentümer von einem machthabenden allgemeinen Willen abhängig gemacht, die im Naturzustande nicht zu erhalten ist und also den bürgerlichen Zustand voraussetzt. Daraus ergibt sich, dass der Besitz einer äußeren Sache im Naturzustande eigentlich nur ein physischer und kein rechtlicher sein kann. „Die Art etwas Äußeres als das Seine im Naturzustande zu haben, ist ein physischer Besitz, der die rechtliche Präsumtion für sich hat, ihn durch Vereinigung mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung zu einem rechtlichen zu machen, und gilt in der Erwartung comparativ für einen rechtlichen“ (RL, AA VI: 257).

Es geht also nicht um die triviale Tatsache, dass Sicherung des äußeren Mein und Dein ohne Zwangsgesetze eines allgemeinen Willens und deren Durchführung durch die Staatsgewalt nicht möglich ist, sondern darum, dass die Rechtlichkeit des Besitzes selbst nur gedacht werden kann, in Abhängigkeit von der bloßen Idee einer „Vereinigung“ meines Willens, einen äußeren Gegenstand als das ausschließend Meine zu haben, „mit dem Willen aller in einer öffentlichen Gesetzgebung“ (ebenda). Diese öffentliche Gesetzgebung als eine bloß mögliche liegt der rechtlichen Möglichkeit des Privateigentums also zu Grunde, und damit ist der gesetzgebende allgemeine Wille schon im Naturzustand eine logisch notwendige Bedingung dafür, etwas Äußeres als das rechtlich Meine zu denken, also für das hier geltende Privatrecht. Dasselbe Prinzip liegt nach Kant auch der äußeren Erwerbung zu Grunde. Auch sie ist nur „gemäß der Idee eines möglichen vereinigten Willens“ (RL, AA VI: 258) rechtlich möglich. Denn diese Erwerbung als eine ursprüngliche kann nur durch eine prima occupatio erfolgen, deren entscheidendes drittes Moment, die von Kant so genannte „Zueignung (appropriatio)“, als „Act eines äußerlich [also öffentlich] allgemein gesetzgebenden Willens (in der Idee) gedacht werden muss, durch welchen jedermann zur Einstimmung mit meiner Willkür, [die will, eine Sache solle mein sein] verbunden wird“ (RL, AA VI: 259).

Nur dadurch (und durch die rechtliche Möglichkeit einer physischen Apprehension und einer Bezeichnung (declaratio) des Besitzes eines Gegenstandes) kann eine solche ursprüngliche Erwerbung als die eines rechtlich Meinen erfolgen, obwohl eine solche prima occupatio ihrerseits nur Akt einer einseitigen Willkür sein kann. Auch die Erwerbslehre des Kantischen Privatrechtes bedarf also der Idee des allgemeinen und gesetzgebenden Willens zu ihrer Begründung. Denn die

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Erwerbung durch einen einseitigen Willen bedarf zu ihrer Berechtigung der volonté générale als eines Rechtsgrundes. Das Entscheidende in diesem privatrechtlichen Lehrstück der äußeren Erwerbung ist aber, dass Kant in seiner Okkupationslehre nicht nur die Rechtlichkeit dieser Bemächtigung, sondern alle subjektiven und erwerblichen Rechte davon abhängig macht. „Derselbe Wille [sc. der einseitige Wille, eine Sache ursprünglich zu erwerben] kann doch eine äußere Erwerbung nicht anders berechtigen, als nur so fern er in einem a priori vereinigten (d.i. durch die Vereinigung der Willkür Aller, die in ein practisches Verhältniß gegeneinander kommen können) absolut gebietenden Willen enthalten ist; denn der einseitige Wille […] kann nicht jedermann eine Verbindlichkeit auflegen, die an sich zufällig ist, sondern dazu wird ein allseitiger nicht zufällig, sondern a priori, mithin nothwendig vereinigter und darum allein gesetzgebende Wille erfordert; denn nur nach dieses seinem Princip ist Übereinstimmung der freyen Willkühr eines jeden mit der Freyheit von jedermann, mithin ein Recht überhaupt, und also auch ein äußeres Mein und Dein möglich“ (RL, AA VI: 263).

Demnach ist die gesetzgebende volonté générale in ihrer Idee nicht nur eine unabdingbare Voraussetzung des Privateigentums und der äußeren Erwerbung, sondern sie ist eine notwendige Bedingung der Möglichkeit allen äußeren Rechts einschließlich allen Privatrechts. Was die äußere Erwerbung anbelangt, so sagt Kant von ihr, dass dem „Rechtgesetz der Natur“ (RL, AA VI: 264), d. h. der natürlichen Rechtspflicht, den Naturzustand zu verlassen und in eine bürgerliche Verfassung einzutreten, „alle äußere Erwerbung unterworfen ist“ (ebenda). Der Staat ist also nicht dazu da, den Erwerb und Besitz des äußeren Mein und Dein zu ermöglichen und zu sichern, sondern umgekehrt sind Erwerb und Besitz des Seinen als rechtliche nur möglich, wenn ihnen die Idee einer öffentlichen Gesetzgebung durch den allgemeinen Willen zu Grunde gelegt wird, ganz unabhängig von dem wirklichen Zustandekommen und Bestehen eines solchen Staates. Und deshalb wird Kant nicht müde, alle Hauptlehrstücke des natürlichen Privatrechts aus Rousseaus volonté générale zu begründen: „Der Vernunftstitel der Erwerbung […] kann nur in der Idee eines a priori vereinigten, (notwendig zu vereinigenden) Willens aller liegen“. Diese Vereinigung ist also als äußere Rechtspflicht aller Menschen zu denken, die untereinander in einem praktischen Verhältnis ihres äußeren Willkürgebrauchs stehen. Kant fährt fort: „welche [Idee] hier als unumgängliche Bedingung (conditio sine qua non) stillschweigend vorausgesetzt wird; denn durch einseitigen Willen kann anderen eine Verbindlichkeit, die sie für sich sonst nicht haben würden, nicht auferlegt werden“ (RL, AA VI: 264).“

Also ist der vereinigte Wille Aller der bei aller Erwerbung äußerer Gegenstände und Rechte stillschweigend vorausgesetzte Rechtsgrund einer solchen Erwerbung, durch den allein sie zu einer rechtlichen wird. Nun ist aber „der Zustand […] eines zur Gesetzgebung allgemein wirklich vereinigten Willens […] der bürgerliche Zustand“ der Gesellschaft oder der Staat. „Also nur in Conformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes [oder eines Staates], d.i. in Hinsicht auf ihn und seine Bewirkung, aber vor der Wirklichkeit desselben […] mithin nur provisorisch kann [im Naturzustand und nach seinem Privatrecht] etwas Äußeres ursprünglich erworben werden“ (RL, AA VI: 264).

Das kann man, wenn man will, Kants Etatismus nennen, den er mit Rousseau und Hobbes teilt und durch den er sich z. B. vom Frühliberalismus John Lockes unter-

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scheidet. Die Idee des bürgerlichen Zustandes oder des Staates liegt aber nicht nur der Beurteilung der Rechtlichkeit von Erwerbsakten, die „in Hinsicht auf ihn“ zu erfolgen hat, zu Grunde, sondern sie ist diejenige Idee, die auch der „Bewirkung“, d.h. der Realisierung dieser Idee durch menschliche Praxis, also jedem wirklichen Staat (als Rechtsstaat) zu Grunde zu liegen hat. Er ist, ebenso wie aller Besitz und Erwerb von äußeren Rechten nach dem Privatrecht, nur vermittelst der Idee der volonté générale mit der Idee und dem Prinzip des Rechts vereinbar. Eine austeilende Gerechtigkeit (iustitia distributiva) kann es nur im bürgerlichen Zustand geben, der seinerseits, auch wenn er ein historisch-faktisch nur durch einen Gewaltakt herbeigeführt werden kann, mit der Idee „eines ursprünglich und a priori vereinigten Willens“ (RL, AA VI: 267) übereinstimmen, also auf der Idee eines ursprünglichen Vertrages beruhen muss. Nur als aus einer so zu Stande gekommenen Gesetzgebung entspringend kann „das austheilende Gesetz des Mein und Dein“ und damit eine peremtorischen Erwerbung gedacht werden, die mit „dem Axiom der äußeren Freyheit“, also dem allgemeinen Rechtsprinzip übereinstimmt. Eine Person kann also nur gemäß „der allgemeinen Gesetzgebung des a priori als vereinigt gedachten Willens“, sei dieser nun wirklich oder eine bloße Idee, andere Personen „in Ansehung des Gebrauchs der Sachen […] verbinden“. Darauf beruht der intelligible Besitz eines Gegenstandes „durchs bloße Recht“ (RL, AA VI: 268), denn „das Recht“ bedeutet in diesem Falle „nur die Befugniß der besonderen Willkür zum Gebrauch eines Objekts, sofern sie als im synthetisch-allgemeinen Willen enthalten, und mit dem Gesetze desselben zusammenstimmend gedacht werden kann“ (RL, AA VI: 269).

Also gilt wiederum, diesmal im Hinblick auf eine, nur in einem bürgerlichen Zustandes wirkliche öffentliche Gesetzgebung überhaupt, dass ein bloßesrechtlicher Besitz und damit auch das Mein und Dein des Privateigentums logisch und rechtlich den „synthetisch-allgemeinen Willen“ voraussetzen, der dieses Mal als Gesetzgebungswille gedacht wird, dessen Gesetzgebung aller gesetzlichen Regelung von erwerblichen Rechten überhaupt und damit auch von Eigentumsrechten im Staat als Grundnorm vorausgehen muss. Die Idee von vorstaatlichen Eigentumsrechten, zu deren Garantie und Schutz der Staat und seine Gesetzgebung das geeignete Mittel seien, sowie die Idee von Freiheitsrechten der Bürger als Schutzrechten gegen den Staat, die zum eisernen Bestand des liberalen und neoliberalen Denkens und zur politischen Philosophie des possessive individualism gehören, können sich jedenfalls nicht auf Immanuel Kant berufen. Sie sind weiterhin bei John Locke gut aufgehoben. II. DAS PRIVATRECHTLICHE ERLAUBNISGESETZ Obwohl es nach diesen Erörterungen klar ist, dass das staatsrechtliche Prinzip des allgemeinen Willens eine tragende Säule des Privatrechts des äußeren Mein und Dein ist, könnte man einwenden, dass die Möglichkeit des äußeren Mein und Dein vielmehr auf einem Postulat beruht, das nach Kant auch ein Erlaubnisgesetz genannt werden kann. Das nötigt zu der Frage: Was ist ein Erlaubnisgesetz und welche Rolle spielt es im Privatrecht und bei der Begründung des öffentlichen Rechts, insbesondere des Staatsrechts?

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Die Frage, ob es nach dem Naturrecht Erlaubnisgesetze, also natürliche Erlaubnisgesetze, geben könne, ist nach der Vigilantius-Vorlesung von 1793/94 von Hufeland aufgeworfen worden (V-MS/Vigil, AA XXVII: 513). Die Frage setzt voraus, dass im positiven Recht Erlaubnisgesetze als Ausnahmeregeln zu vorhergehenden Verbotsgesetzen üblich sind. Das Anstößige dieser positiven Gesetzgebungspraxis, die meistens dem Erhalt alter Privilegien des Adels oder der Kirche diente, liegt darin, dass Gesetze als solche universale, also ausnahmslose Geltung haben sollten, gegen die durch solche positiven Erlaubnisgesetze verstoßen wird. So notiert Kant in den achtziger Jahren: „Es kann nur lex arbitraria lex permissiva seyn. […] Aber die exceptio a lege durch ein ander Gesetz ist eigentlich ein Gesetz, das vorige aufzuheben“ (Refl, AA XIX: 295 f.; Reflexion 7256). Dementsprechend heißt es bei Vigilantius: „Dass man in jure statutario leges permissivas annehmen müsse ist außer Streit“ (V-MS/Vigil, AA XXVII: 514). Aber die Hufelandsche Frage bezüglich der Möglichkeit natürlicher Erlaubnisgesetze wird von Kant zunächst „verneint“ (V-MS/Vigil, AA XXVII: 513). Die Begründung dafür lautet, dass ein moralisches Gesetz überhaupt als principium dijudicationis dazu dient, „zu bestimmen, was erlaubt oder nicht erlaubt sei“, nämlich das dem Gesetz nicht Widersprechende ist erlaubt, das ihm Widersprechende ist nicht erlaubt, ein Drittes gibt es nicht. Die Ablehnung solcher natürlichen Erlaubnisgesetze durch Kant ist ganz im Einklang mit etwa Pütters und Achenwalls Elementa iuris naturae von 17506. Dort heißt es: „Da die moralische Verbindlichkeit entweder positiv oder negativ ist, zerfällt das moralische Gesetz in gebietendes und verbietendes [praeceptiva et prohibitiva]. Was keine Verbindlichkeit [obligationem] enthält, kann nicht Gesetz [lex] genannt werden. Daraus folgt, was von dem sogenannten erlaubenden Gesetz [lege permissiva] zu halten ist.“7

Also nichts ist davon zu halten, weil es eine contradictio in adjecto wäre. Gleichwohl heißt es bei Vigilantius, „Herr Kant“ glaube, „dass man die Frage [Hufelands] nicht schlechthin verneinen“ könne (V-MS/Vigil, AA XXVII: 515). Wenn man nämlich annehme, dass es Fälle gäbe, in denen „Gewalt für Recht“ gehe, dann gebe es auch ein natürliches Erlaubnisgesetz (ebenda). Vigilantius nennt zwei solcher Fälle: (1) die lex necessitatis, „die die Befugnis ertheilt, etwas verbotenes zu thun, wenn man in einen solchen Nothfall [z.B. in den klassischen Fall des Brettes des Karneades] gekommen, der mit der Gefahr des Lebens verbunden ist“ (V-MS/Vigil, AA XXVII: 514) und (2) den Fall der Beendigung des Naturzustandes, „wo jeder in der Meinung steht, dass er die Gesetzmäßigkeit seiner Handlung vertheidige; hier reiben sie unter einander die Möglichkeit auf, in einen gesetzlichen Zustand überzugehen, und da bleibt nur die Gewalt des Stärkeren übrig; hier geht also Gewalt für Recht; – die wahrscheinliche Entstehung aller Staatsgesellschaft“ (V-MS/Vigil, AA XXVII: 514),

und, wie man im Jahre 1793 hinzufügen muss, auch der neuen französischen Republik. Diese Berufung auf ein Ausnahmegesetz der Erlaubtheit an sich verbotener Handlungen auch im Naturrecht, die zugleich eine Unterscheidung von univer6 7

Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan (1995): Anfangsgründe des Naturrechts. Hrsg. u. übersetzt von Jan Schröder. Frankfurt am Main. Ebd. § 106 (Übersetzung von Jan Schröder).

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salen gegenüber generalen Verbotsgesetzen (ebenda) impliziert, liegt offenbar auch der bekannten Fußnote in Kants Zum ewigen Frieden zu Grunde, in der die Hufeland-Frage zunächst wiederholt wird: „Ob es außer dem Gebot (leges praeceptivae) und Verbot (leges prohibitivae) noch Erlaubnisgesetze (leges permissivae) der reinen Vernunft [also: im Naturrecht] geben könne, ist bisher nicht ohne Grund bezweifelt worden. Denn Gesetze überhaupt enthalten einen Grund objectiver praktischer Nothwendigkeit, […] mithin würde ein Erlaubnißgesetz Nöthigung zu einer Handlung, zu dem, wozu man nicht genöthigt werden kann, enthalten, welches, wenn das Object des Gesetzes in beiderlei Beziehung einerlei Bedeutung hätte, ein Widerspruch sein würde“ (ZeF, AA VIII: 347 f.).

Da man aber das Objekt des Gesetzes qua verbotene künftige Erwerbsart von dem Objekt qua erlaubtem gegenwärtigen Besitzstand unterscheiden könne, so könne man insofern ein „Erlaubnißgesetz des Naturrechts“ (ZeF, AA VIII: 348) annehmen, ohne sich zu widersprechen. Die Unterscheidung in generale und universale Gesetze, das heißt solche, „die allgemein gelten“, ist also in diesem Beispielsfalle nicht erforderlich, und dem Begriff eines Gesetzes, der dessen universale Geltung „zu erfordern scheint“, ist durch die Unterscheidung der jeweiligen Objekte des Gesetzes Genüge getan. Joachim Hruschka hat in einer 2004 erschienenen Abhandlung über das Erlaubnisgesetz8 darauf aufmerksam gemacht, dass der aus dem positiven Recht stammende Begriff des Erlaubnisgesetzes als eines Ausnahmegesetzes bei vorausgegangenem Verbotsgesetz zwar, wie Kant es in seiner Vorlesung und in der zur Politik als ausübender Rechtslehre gehörenden Schrift Zum ewigen Frieden getan hat, versuchsweise auf das Naturrecht übertragen werden kann, dass Kant aber in der Metaphysik der Sitten und dem in ihr enthaltenen Privatrecht von einem anderen Begriff des Erlaubnisgesetzes ausgeht. Ich ergänze diese richtige Beobachtung durch einige eigene Bemerkungen. Kant scheint mir bei seiner Verwendung des Begriffs der lex permissiva im Privatrechtsteil seiner Rechtslehre dreierlei vorauszusetzen: (1) die Unterscheidung zweier Arten von erlaubten Handlungen, die er Achenwalls Prolegomena Juris naturalis (2. Aufl. 1763 [von Kant wahrscheinlich benutzt] und 3. Aufl. 1767, § 26) entnehmen konnte9. Eine actio licita ist eine erlaubte Handlung insofern sie keiner bestimmten Art von Gesetzen zuwiderläuft [nulli est contraria]. Eine actio indifferens ist eine Handlung, die durch die genannten Gesetze nicht dazu bestimmt wird, dass sie geschehe oder nicht geschehe, die also weder geboten noch verboten ist. Eine solche indifferente Handlung ist zulässig [licita], sei es, dass sie vollzogen, sei es dass sie unterlassen werde. Kant nennt nun die actio licita Achenwalls eine erlaubte Handlung, d. h. eine solche, „die der Verbindlichkeit nicht entgegen ist“ (RL, AA VI: 222). Zu ihr hat das handlungsfähige Subjekt eine moralische „Befugnis (facultas moralis)“ (ebenda), aber noch nicht ein subjektives Recht (facultas juridica). Solche der Verbindlichkeit nicht entgegengesetzten Handlungen können im Falle eines Verbotsgesetzes Begehungshandlungen sein, die dem Gesetz nicht zuwider sind, oder aber solche 8 9

Hruschka, Joachim (2004): „The Permissive Law of Practical Reason in Kant’s Metaphysics of Morals“. In: Law and Philosophy 23, S. 45–72. Hruschka, Joachim (1986): Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767. Hamburg.

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Unterlassungen, die keine durch das Gesetz gebotenen Pflichten sind. Allgemein sind also gebotene Handlungen (Begehungs- und Unterlassungshandlungen), d.h. Pflichten, eine Teilklasse der erlaubten Handlungen (actiones licitae), die nicht gegen das entsprechende Gesetz und die durch es gestiftete Verbindlichkeit oder ihm sogar gemäß (conformes) sind. Dagegen nennt Kant eine erlaubte Handlung im Sinne von Achenwalls actio indifferens, die also durch kein die Freiheit einschränkendes Gesetz geboten oder verboten ist, eine „bloß erlaubte“, eine „sittlich-gleichgültig[e]“ Handlung, ein „adiaphoron“ bzw. eine „res merae facultatis“ (RL, AA VI: 223). Eine solche bloß erlaubte Handlung kann begangen oder unterlassen werden, ohne dass ein Gesetzesverstoß vorliegt. Aber im Falle der nicht bloß-erlaubten Handlungen ist die Begehung dieser Handlung unerlaubt (illicita), wenn ihre Unterlassung geboten (und also auch erlaubt), sie selbst also verboten ist, und entsprechend ist die Unterlassung einer Handlung unerlaubt, deren Begehung geboten (und also auch erlaubt) ist. Entsprechendes gilt für die Pflichten. Solche vom Gesetz bestimmten Handlungen (actiones obligatoriae) ist es unerlaubt zu unterlassen oder zu begehen, je nachdem sie Gebots-oder Verbotspflichten sind. (2) Diese von Achenwall übernommenen Begriffsbestimmungen bringen Kant aber im Falle des Erlaubnisgesetzes in zwei begriffliche Schwierigkeiten. Denn entweder nennt man, wie Achenwall es gelegentlich tut, die actio indifferens auch actio permissa (im Unterschied zur actio licita), dann ist es naheliegend zu erwarten, dass die lex permissiva, wenn es solche Erlaubnisgesetze im Naturrecht geben sollte, nur solche Handlungen gebieten kann, die weder geboten noch verboten sind, „weil in Ansehung ihrer gar kein die Freiheit (Befugnis) einschränkendes Gesetz und also auch keine Pflicht“ besteht (RL, AA VI: 223). Das ist der Grund, aus dem etwa Pütter und Achenwall 1750 eine lex permissiva für absurd gehalten hatten. Oder man lässt zwar sittlich-gleichgültige Handlungen zu, wie Kant es tut, muss sich dann aber fragen, „ob dazu, dass es jemandem freistehe, etwas nach seinem Belieben zu thun oder zu lassen […] noch ein Erlaubnißgesetz (lex permissiva) erforderlich sei“ (ebenda). Offenbar ist das nicht der Fall. Erlaubnisgesetze scheinen also entweder widersprüchlich oder überflüssig zu sein. Also kann, wenn es überhaupt ein Erlaubnisgesetz sinnvollerweise geben soll, die durch es erteilte „Befugniß nicht allemal eine gleichgültige Handlung (adiaphoron) betreffen“ (ebenda), also nicht auf Achenwalls actiones permissae, bei denen dieses Gesetz ja überflüssig wäre, eingeschränkt sein, sondern auch moralisch gebotene oder verbotene Handlungen betreffen. Kants Privatrecht gibt Beispiele für nicht-indifferente oder moralisch-notwendige und für indifferente Handlungen, von denen natürlich nur die ersteren für ein Erlaubnisgesetz infrage kommen. (3) Aber was ist nun das Erlaubnisgesetz, das in seiner Notwendigkeit und sogar in seiner Möglichkeit so zweifelhaft ist, und das etwas ganz anderes als ein Ausnahmegesetz zu einem vorliegenden Verbotsgesetz ist? Die Antwort dazu findet sich in Baumgartens Initia philosophiae practicae primae von 1760, dort im § 68. Dass Kant in seinem Gebrauch des Terminus Erlaubnisgesetz im Privatrecht der Metaphysik der Sitten Baumgarten folgt, ist spätestens seit 1936 bekannt. In diesem Jahr veröffentlichte Adam Horn seine kleine Schrift Immanuel

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Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung, die Hariolf Oberer 199110 kommentiert hat. Aber weder Horn noch Oberer haben in der seit einigen Jahren geführten Debatte über das Erlaubnisgesetz bei Kant eine Rolle gespielt. Das gilt auch für die ältere Auseinandersetzung über die lex permittens oder permissiva bei Grotius, Pufendorf, Thomasius, Burlamaqui und vor allem bei Barbeyrac und für den Hinweis darauf den Mellin schon 1799 gegeben hat (s. den Artikel „Erlaubt“ in seinem Enzyklopädischen Wörterbuch der kritischen Philosophie), worauf Hruschka 2004 seinerseits verwies. Baumgartens Definition der lex permissiva ist schon deshalb von Bedeutung für dieses Thema, weil sie nicht nur die genannten Probleme hinsichtlich der Möglichkeit dieser sonderbaren Gesetzesart löst, sondern weil sie offenbar von Achenwall, der anderen Autorität in Sachen Naturrecht, an der Kant sich orientierte, in seine Prolegomena ab 176311 übernommen worden ist. Das zeigt ein Vergleich zwischen den Auflagen dieses Buches von 1758, in der sich diese Auffassung der lex permissiva noch nicht findet, und von 1763 und 1767, in denen sie, ohne Verweis auf ihren Urheber, rezipiert ist. Das aber Kant an Baumgarten und in diesem Punkte nicht an Achenwall anknüpft, wird aus dem bloßen Umstand ersichtlich, dass er zweimal in der Rechtslehre von der „Gunst“ des Erlaubnisgesetzes spricht (RL, AA VI: 267; 276), wovon bei allen genannten Naturrechtslehrern außer Baumgarten nicht die Rede ist. Bei Baumgarten heißt es: „Permissio stricte dicta lex permissiva est lex declarans certam actionem non praeceptam quidem, nec tamen impediendam esse, est peculiaris species legis prohibitivae, in favorem alicuius certa forsan acturi obligans alios ad omissionem impeditionis, quae tali determinationi liberae alias obiici posset.“12 „Eine Erlaubnis im strengen Sinne, ein Erlaubnisgesetz, ist ein Gesetz, das verkündet, dass eine gewisse Handlung, die zwar nicht geboten ist, dennoch nicht be- oder verhindert werden darf. Es ist eine eigentümliche Art des Verbotsgesetzes zu Gunsten von jemandem, der etwa gewisse Dinge tun wird, das die anderen verpflichtet, die Be- oder Verhinderung zu unterlassen, die einer solchen freien Bestimmung andernfalls entgegen sein könnte.“

Nach dieser Definition ist das Erlaubnisgesetz (1) nicht eine dritte Art des Gesetzes neben den Gebots- und Verbotsgesetzen, sondern eine Unterart der Verbotsgesetze, (2) verschafft dieses Gesetz jemandem eine Gunst (favor), der nicht durch dieses Gesetz verpflichtet wird, und sich frei entscheiden kann, etwas zu tun oder zu lassen und (3) wird nicht dem durch das Gesetz Begünstigten, sondern allen Anderen etwas verboten, nämlich die Be- oder Verhinderung des Handelns dieses Begünstigten. Baumgarten fügt deshalb seiner Definition den Satz hinzu: „Actio lege permissiva licita dicitur explicite permissa“ („Eine Handlung, die durch ein Erlaubnisgesetz erlaubt ist, wird ausdrücklich erlaubt genannt“). Sie unterscheidet sich dadurch von den Handlungen tacite permissae im weiteren Sinne, die nur von keinem Gesetz verboten sind und von Achenwall auch licitae genannt werden. 10 Horn, Adam (1991): Immanuel Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung. Mit einem Nachwort von Hariolf Oberer, hrsg. v. Manfred Kleinschnieder. Würzburg 1991. 11 Achenwall, Gottfried (1763): Prolegomena Iuris Naturalis. Denuo curatius exarata. Göttingen; ders. (1767): Curatius exarata et tertium edita. Göttingen. 12 Achenwall, Prolegomena, § 68.

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Mit der Subsumtion unter die Verbotsgesetze wird das Erlaubnisgesetz aus der prekären Lage befreit, entweder überflüssig oder in sich widersprüchlich zu sein. Als eine Art von Verbotsgesetz verleiht es dem durch es Begünstigten einen gesicherten Spielraum seiner freien Handlungen, selbst über seine Pflichten hinaus. Zunächst wollen wir sehen, was Achenwall aus Baumgartens Erlaubnisgesetz gemacht hat. Die Formulierungen des Anfangs des § 90 der Prolegomena (1763 und 1767) enthalten eine fast wörtliche Übernahme. „Si lex iuridica determinat actionem quamdam non quidem praeceptam nec tamen impediendam esse, est lex et species legis prohibitivae § 19. Quum tamen diversum effectum habeat respectu eius, cui facultatem tribuit aliquid licite agendi, et respectu eius, cui obligationem imponit, alterum non impediendi; vocatur respectu illius lex permittens (permissiva), respectu huius lex iubens. Appellatur nempe lex respectu priori permittens, quod legislator vi talis legis facultatem [1767: alicui] largiatur, certam actionem tamquam permissam §63 perpetrandi.“13 „Wenn ein Rechtsgesetz bestimmt, dass eine zwar nicht gebotene Handlung dennoch nicht zu behindern sei, so ist es ein Gesetz und zwar eine Art Verbotsgesetz § 19. Da es jedoch eine verschiedene Wirkung hat hinsichtlich dessen, dem es eine Befugnis erteilt, etwas erlaubtermaßen zu tun, und hinsichtlich dessen, dem es eine Verpflichtung auferlegt, den anderen nicht zu behindern; so wird es in Beziehung auf jenen Erlaubnisgesetz, in Beziehung auf diesen Befehlsgesetz genannt. Das Gesetz wird nämlich hinsichtlich des ersteren erlaubend genannt, weil der Gesetzgeber kraft dieses Gesetzes jemandem eine Befugnis erteilt, eine bestimmte Handlung als erlaubte § 63 auszuführen.“

In § 63 war festgesetzt worden, dass eine vom Gesetzgeber weder gebotene noch verbotene Handlung in Beziehung auf ihn eine actio permissa sei, und wenn der Gesetzgeber bestimmt habe (determinaverit), dass es erlaubt (licite) sei, sie zu begehen oder zu unterlassen, dann heiße die Handlung actio explicite permissa. Hier hat Aachenwall allerdings nicht gesagt, dass der Gesetzgeber die Handlung durch eine lex permissiva bestimmt habe, vermutlich weil die Baumgartensche Definition dieses Gesetzes als eines Verbotsgesetzes hier nicht passte. Es bleibt allerdings bei Achenwall hinsichtlich der actio licita und permissa eine gewisse Unentschiedenheit im Ausdruck. Das Neue an Achenwalls Version des Baumgartenschen Erlaubnisgesetzes ist die Betonung der durch seinen Gesetzgeber (legislator) jemandem (alicui) verliehenen Befugnis (facultas), eine bestimmte Handlung erlaubtermaßen auszuführen (certam actionem tamquam permissam perpetrandi). Es wird außerdem als ein Befehlsgesetz (lex iubens) verstanden, durch das jemandem (cui) die Verpflichtung auferlegt wird, einen anderen, dem hier keine Gunst erwiesen wird, nicht zu behindern, und insofern ist es ein Verbotsgesetz. Und schließlich wird die nicht zu behindernde Handlung nicht als Folge einer freien Selbstbestimmung (Baumgartens libera determinatio) bezeichnet. Achenwall fährt fort: „Quamobrem omnis facultas hominis moralis, omne ius naturale, omne ius sensu iuridico tale est ex lege vel iubente vel certe permittente. Distat vero ius ex lege iubente ab eo, quod ex lege permittente derivatur, quemadmodum actio iussa ab actione distat permissa.“14 „Deshalb stammt jede moralische Befugnis des Menschen, jedes natürliche Recht, jedes Recht im juridischen Sinne als solche(s) entweder aus einem Befehlsgesetz oder einem 13 Achenwall, Prolegomena § 90. 14 A.a.O.

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Manfred Baum Erlaubnisgesetz. Es unterscheidet sich aber ein Recht aus einem Befehlsgesetz von dem, das aus einem Erlaubnisgesetz abgeleitet wird, in derselben Art wie eine befohlene Handlung sich von einer erlaubten unterscheidet.“

Hier wird also (über Baumgarten hinaus) sogar eine Art Recht (ius) und nicht nur die allgemeine moralische Befugnis (facultas) für ableitbar aus einem Erlaubnisgesetz gehalten. Doch ist die Terminologie auch hier schwankend. Kant hat aus den Vorgaben Baumgartens und Achenwalls seine eigene Auffassung des Erlaubnisgesetzes komponiert. Im § 2 des Privatrechts vom äußeren Mein und Dein wird, nach der Definition des rechtlich Meinen und der Unterscheidung des sinnlichen und bloß-rechtlichen oder intelligiblen Besitzes eines Gegenstandes außer mir (im Sinne eines von mir verschiedenen Gegenstandes) im § 1, das „Rechtliche Postulat der praktischen Vernunft“ (RL, AA VI: 246) erörtert. Es besagt, dass es möglich sei, „einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als das Meine zu haben“ (ebenda). Die Begründung für dieses Postulats der Möglichkeit eines rechtlich Meinen besteht, kurz gesagt, in der Darlegung einer gewissen Art von moralischer Unmöglichkeit der Verneinung dieses Satzes: eine Sache, die nicht das rechtlich Seine von irgendjemandem, also eine res nullius wäre, kann nicht als durch die Erhebung der Maxime einer Willkür zum allgemeinen Gesetz zu einer solchen herrenlosen Sache gemacht worden sein, denn durch eine solche Maxime würde sich diese Willkür des Gebrauchs brauchbarer Gegenstände berauben. Das ergäbe zwar keinen Widerspruch in der zum Gesetz gemachten Maxime selbst, also ihrer Form nach, wohl aber wäre eine rechtliche Unmöglichkeit des Gebrauchs von Gegenständen im Widerspruch mit dem physischen Vermögen des Gebrauchs dieser Gegenstände als der Materie der Willkür, deren Freiheit somit als Freiheit im Gebrauch von Gegenständen sich selbst, nämlich durch ihr eigenes Gesetz, aufheben würde. Also ist das kontradiktorische Gegenteil wahr: es ist rechtlich möglich, äußere Gegenstände zu gebrauchen und, da die subjektive Bedingung der Möglichkeit des Gebrauchs eines Gegenstandes der physische Besitz dieses Gegenstandes, die rechtliche Bedingung des Gebrauchs eines Gegenstandes aber der (physische und) rechtliche Besitz dieses Gegenstandes ist, wodurch er zu einem rechtlich Meinen wird, so ist es um dieser Gebrauchsfreiheit willen rechtlich möglich, einen jeden äußeren Gegenstand meiner Willkür als einen rechtlich Meinen zu besitzen. Dieses Postulat der rechtlichen Möglichkeit eines rechtlich Meinen und damit des jedermann zukommenden „Vermögen[s], einen äußeren Gegenstand seiner Willkür als das Seine zu haben“ (RL, AA VI: 257) ist also in rein analytischen Überlegungen begründet, aber es ist durch die Begriffe des rechtlich Meinen und der Materie der Willkür als eines von mir verschiedenen Gegenstandes mit Voraussetzungen versehen, die über den Begriff der äußeren Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz und das Verbot eines Freiheitsgebrauchs, der diese gesetzliche Freiheit verletzt, hinausgehen. Uns interessiert hier nur die Wende, die dieser Gedanke nimmt, wenn von diesem Postulat gesagt wird, dass man es „ein Erlaubnisgesetz (lex permissiva) der praktischen Vernunft“ nennen könne (RL, AA VI: 247). Denn ein solches Rechtsgesetz gebietet offenbar äußere Handlungen, nämlich Unterlassungen, was ein bloßes Postulat der Möglichkeit eines rechtlich Meinen und seines intelligiblen Besitzes ebenso offenbar nicht kann. Und

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zweitens wird von diesem Rechtsgesetz gesagt, dass es „uns die Befugnis giebt […] allen anderen eine Verbindlichkeit aufzulegen, die sie sonst nicht hätten, sich des Gebrauchs gewisser Gegenstände unserer Willkür zu enthalten“ (ebenda). Ein solches Verbot des Gebrauchs gewisser Gegenstände zu Gunsten dessen, der sie zuerst in seinen Besitz genommen und sie als das rechtlich Seine erworben hat, beruht offenbar auf einem als Verbotsgesetz verstandenen Erlaubnisgesetz im Sinne Baumgartens und Achenwalls, das zugleich eine rechtliche Befugnis oder ein subjektives Recht erteilt, nämlich das Vermögen (facultas iuridica), die Andern zur Unterlassung von unbewilligten Gebrauchshandlungen zu verpflichten. Wir selbst sind also diejenigen, denen ein solches Erlaubnisgesetz die Gunst erweist, solche Gegenstände unbehindert von andern zu gebrauchen und zugleich nicht nur ein subjektives Recht erteilt, nämlich das Vermögen, andere zu Unterlassungen zu verpflichten, sondern, da das strikte subjektive Recht eine Befugnis zu zwingen ist, das Recht gibt, sie zu einer Unterlassung des unverwilligten Gebrauchs der von uns zuerst erworbenen Gegenstände zu zwingen. Aber die rechtlich-praktische Vernunft gibt keine Gesetze der äußeren Freiheit, also auch kein Erlaubnisgesetz, ohne es allen ihren Untertanen, also in durchgängiger Reziprozität unter ihnen, zu geben. Meiner Befugnis, andere zu verpflichten, correspondiert also deren Befugnis, mich zur Enthaltung vom unverwilligten Gebrauch des Ihrigen zu verpflichten, und diese Befugnis ist ebenfalls eine solche zu zwingen. Von dieser gesetzgebenden Vernunft wird nun gesagt, dass sie „als praktische Vernunft […] will, dass dieses [Postulat] als [praktischer] Grundsatz [also als allgemeines Gesetz des äußeren Handelns] gelte“ (ebenda). Das bedeutet einmal, dass die Vernunft als gesetzgebende Wille gedacht wird, dem es nicht genügt, ein Postulat der Möglichkeit des rechtlich Meinen aufzustellen, sondern der will, dass jedermann rechtsgesetzlich gegen jedermann befugt ist, also das subjektive Recht hat, einen äußeren Gegenstand der Willkür als das Seine zu haben. Ein solcher allgemeiner Gesetzgebungswille ist also nicht mein Wille, sondern ein „Wille überhaupt“ (RL, AA VI: 389). Zweitens bedeutet das Gesetz der als Wille gedachten praktischen Vernunft, dass diese nicht nur das formale Verhältnis von Willkür zu Willkür, also das „Recht überhaupt“ durch ihr Rechtsgesetz bestimmen will, sondern, dass die praktische Vernunft „sich durch dieses ihr Postulat a priori erweitert“ (RL, AA VI: 247), nämlich auf das Verhältnis der Willkür zu ihren äußeren Gegenständen, die durch das Postulat als erwerbbar postuliert und durch das als Erlaubnisgesetz gedachte Postulat als das jeweilige Seine von privaten Besitzern bestimmt werden, die einander wechselseitig vom unverwilligten Gebrauch des Ihrigen ausschließen. Damit ist auch der Gebrauch von äußeren Gegenständen der rechtlich-praktischen Vernunftgesetzgebung für die äußere Freiheit unterworfen, einer Vernunft, die ein allgemeiner gesetzgebende Wille ist, dessen besitzrechtliches Gesetz ein Erlaubnisgesetz der praktischen Vernunft genannt werden kann, wenn man es nur wie Baumgarten und Achenwall versteht und nicht für ein Ausnahmegesetz hält, das eine durch ein Verbotsgesetz an sich untersagte Handlung nachträglich legitimiert. Aber das privatrechtliche Erlaubnisgesetz als Verbotsgesetz erteilt nicht nur das Recht eines von anderen nicht behinderten Gebrauchs des rechtlich Meinen, das zugleich ein Recht ist, möglichen Behinderern dieses Gebrauchs notfalls mit Gewalt zu widerstehen. Es bildet eine Basis zur Erfüllung einer natürlichen

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Rechtspflicht, die Kant schon in der Einleitung zur Rechtslehre abgeleitet hatte. Der Grundgedanke dieses Nachweises der rechtlichen Notwendigkeit des Ausgangs aus dem natürlichen und des Eintritts in einen rechtlichen Zustand der menschlichen Gesellschaft findet sich systematisch entfaltet in der 1964 von Julius Ebbinghaus veröffentlichten Abhandlung über Das Kantische System der Rechte des Menschen und Bürgers unter dem Titel Kants Begründung des Contrat social15 (260 f.). Gehen wir kurz auf den Kantischen Text in der Einleitung ein. Das System der Rechtspflichten nach dem Naturrecht lässt sich im Anschluss an Ulpian in das der inneren und äußeren Rechtspflichten einteilen, sowie „in diejenigen [Rechtspflichten], welche die Ableitung der Letzteren [also der äußeren] vom Prinzip der Ersteren [also der inneren] durch Subsumtion enthalten“ (RL, AA VI: 237). Wie in jeder trichotomischen Einteilung a priori wird (1) die Bedingung genannt, (2) das Bedingte und schließlich (3) die Ableitung des Bedingten von der Bedingung durch „Subsumtion“, d.h. durch Unterordnung des Bedingten, also der äußeren Rechtspflichten, unter die Bedingung, die inneren Rechtspflichten. Im Text spricht Kant jeweils nur von einer Rechtspflicht, so dass die dritte nichts anderes als die zweite, die äußere Rechtspflicht, unter der Bedingung der inneren ist. Diese lautet: „Sei ein rechtlicher Mensch“ (RL, AA VI: 236). Gefordert ist „die Angemessenheit der [äußeren] Handlungen zum Rechte“ (RL, AA VI: 390), d. h. nicht bloß die Erfüllung der Rechtspflichten gegenüber anderen, sondern reziprok dazu auch die Erhaltung der eigenen Rechtsfähigkeit als Bedingung aller äußeren Rechte und Pflichten. Konkret folgt daraus das Verbot der Veräußerung der Rechtsfähigkeit durch einen Unterwerfungsvertrag, also die Selbstversklavung, und das Verbot der Verdinglichung seiner selbst zu einem Gegenstand des Genusses eines anderen im Geschlechtsverhältnis von Personen. Die äußere Rechtspflicht „Tue niemandem Unrecht“ ist eine bloße Unterlassungspflicht gegenüber allen anderen, ob es sich dabei nun nur um die äußere Freiheit dieser Personen handelt oder um das rechtlich Seine eines jeden anderen, sofern es nämlich ein Äußeres, also erworbenes Seine ist. Mache ich nun die Erfüllung der äußeren Rechtspflicht gegenüber anderen von der Möglichkeit abhängig, meine innere Rechtspflicht gegen mich selbst zu erfüllen, so bedeutet das: ich darf die Pflicht, anderen nicht Unrecht zu tun nur dann erfüllen, wenn ich nicht eben dadurch, dass ich andern kein Unrecht tue, mich selbst in die Gefahr bringe, von anderen in meinem Recht verletzt zu werden. Ich bin also „nicht zu mehrerem von Anderen verbunden […], als wozu [ich] sie wechselseitig auch verbinden kann“ (RL, AA VI: 237). Das aber bedeutet, dass ich in den rechtlichen Zustand einzutreten die Pflicht habe, nämlich in einen Zustand, in dem das Recht eines jeden nur zugleich mit dem Recht aller anderen in strenger Reziprozität garantiert ist. Das ist der „Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann“ (RL, AA VI: 237). Der Rechtszustand, der das Verlassen des Naturzustandes und die Etablierung eines gesetzgebenden allgemeinen Willens voraussetzt, ist also ein Zustand der austeilenden Gerechtigkeit nach allgemeinen Gesetzen der äußeren Freiheit, in denen nicht nur das innere Seine, d.h. die äußere Freiheit, eines jeden, sondern auch das erwerbliche oder 15 Ebbinghaus, Julius (1988): Gesammelte Schriften, Band II. Herausgegeben von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn: Bouvier.

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erworbene äußere Seine eines jeden durch Rechtsgesetze bestimmt wird. Füge ich nun die unüberwindliche Zwangsgewalt der Rechtsdurchsetzung hinzu, so ist die Staatsableitung komplett. In der Einleitung fehlt daran nur, dass das Seine nicht ausdrücklich als ein auch das äußere Seine umfassendes Seine bezeichnet und die Sicherung des Seinen von jedermann nicht einer Staats- d. h. Regierungsgewalt anvertraut wird, die die Aussprüche einer rechtsprechenden Gewalt nach den allgemeinen Rechtsgesetzen einer gesetzgebenden Gewalt durchzusetzen hat. Wenn es also natürliche Rechtspflicht ist, in einen solchen rechtlichen Zustand der Gesellschaft, also in einen Staat einzutreten, so beruht diese Rechtspflicht auf der Ableitung der äußeren von der inneren Rechtspflicht noch bevor den Menschen ein „Vermögen“ eingeräumt werden kann, „einen äußeren Gegenstand seiner Willkür als das Seine zu haben“ (RL, AA VI: 257), nämlich durch das rechtliche Postulat der praktischen Vernunft. Denke ich dieses Postulat nun als Erlaubnis-, d.h. als ein alle Anderen betreffendes Verbotsgesetz, das jedermann die Gunst erweist, sich des Gebrauchs des äußeren Seinen unbehindert zu erfreuen, so erteile ich damit gleichzeitig jedermann das subjektive Recht, jeden Anderen nicht nur zur Enthaltung vom unverwilligten Gebrauch des Seinen eines andern, sondern auch zum Eintritt in einen Zustand der austeilenden Gerechtigkeit zu zwingen. Das Erlaubnisgesetz als Verbotsgesetz ist also nicht ein vom allgemeinen System der Rechtspflichten unabhängiges Prinzip der rechtlichen Notwendigkeit eines Staates, sondern nur ein trivialer Anwendungsfall der dritten Rechtspflicht, angewandt nämlich auf das äußere Seine eines jeden, bei dem es, im Falle eines Rechtsstreites über es, der Entscheidung durch eine rechtsprechende Gewalt nach der vorausgesetzten Idee eines allgemeinen Willens bedarf. Der Eintritt in einen solchen Staat ist also nicht nur eine Pflicht eines jeden Menschen im Naturzustande, sondern auch das erzwingbare subjektive Recht eines jeden, der, wie es im Naturzustand unvermeidlich ist, mit jedem anderen in einen Rechtsstreit über die Grenzen der Befugnis des unbehinderten Gebrauchs des äußeren Seinen geraten kann. Nur die mit diesem subjektiven Recht identische Zwangsbefugnis zum Eintritt in einen Staat ist auf das Erlaubnisgesetz als Verbotsgesetz gegründet, aber sie setzt ersichtlich die Pflicht zum Eintritt in ihn voraus. Und so heißt es am Ende des Privatrechts: „Aus dem Privatrecht im natürlichen zu Stande geht nun das Postulat des öffentlichen Rechts hervor: du sollst im Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanderseins mit allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit übergehen. – Der Grund davon lässt sich analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt (violentia) entwickeln“ (RL, AA VI: 307).

Dieses Postulat des öffentlichen Rechts ist offenbar ein weiterer kategorischer Imperativ, der sich ausschließlich auf die Gesetzlichkeit des äußeren Freiheitsgebrauchs bezieht. Hier ist vom Besitz eines äußeren Gegenstandes der Willkür nicht die Rede, aber nur deshalb nicht, weil er einen trivialen Anwendungsfall des äußeren Rechts und der äußeren Rechtspflicht des neminem laede darstellt. Wenn es also am Anfang des ersten Abschnitts des öffentlichen Rechts, sc. des Staatsrechts, heißt: „Es würde also, wenn es im Naturzustande auch nicht provisorisch ein Äußeres Mein und Dein gäbe [sc. nach dem rechtlichen Postulat der praktischen Vernunft und dem von ihm

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Manfred Baum abhängigen Erlaubnisgesetz als Verbotsgesetz], auch keine Rechtspflichten in Ansehung desselben [des äußeren Mein und Dein] mithin auch kein [relativ darauf gegründetes] Gebot geben, aus jenem Zustand heraus zu gehen“ (RL, AA VI: 313),

so bedeutet das nicht, dass die Rechtspflicht des exeundum esse e statu naturali erst auf dem Privatrecht des äußeren Mein und Dein beruht. Vielmehr heißt es, dass das Recht des äußeren Mein und Dein, das es im Naturzustand nur als provisorisches geben kann, ein solches ist, „in Ansehung“ dessen sich besondere Rechtspflichten ergeben können, die im Naturzustand nicht nach allgemeinen Rechtsgesetzen der äußeren Freiheit, die nur das „äußere Mein und Dein überhaupt” (RL, AA VI: 245) betreffen, bestimmt werden können, so dass sich das schon vorausgesetzte allgemeine Gebot, aus dem Naturzustand herauszugehen, nun bloß spezifiziert zur Pflicht in einen Zustand einzutreten, in dem allein auch die jeweiligen besonderen Rechtspflichten der einzelnen Menschen unter empirischen Bedingungen bezüglich ihres äußeren Mein und Dein im Falle eines Rechtsstreites über ihre erworbenen Rechte durch einen Gerichtshof nach positiven Gesetzen festgestellt und ihre Befolgung nicht mehr durch private Gewalt, sondern durch die des vereinigten Volkswillens erzwungen werden kann.

BIBLIOGRAPHIE Achenwall, Gottfried (1763): Prolegomena Iuris Naturalis. Denuo curatius exarata. Göttingen. Achenwall, Gottfried (1767): Curatius exarata et tertium edita. Göttingen. Achenwall, Gottfried/Pütter, Johann Stephan (1995): Anfangsgründe des Naturrechts. Hrsg. u. übersetzt von Jan Schröder. Frankfurt am Main. Ebbinghaus, Julius (1947): „Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechtes“. In: Ders., Zu Deutschlands Schicksalswende. Frankfurt a. M., S. 121–154. Ebbinghaus, Julius (1988): Gesammelte Schriften, Band II. Herausgegeben von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn: Bouvier, S. 249–281. Horn, Adam (1991): Immanuel Kants ethisch-rechtliche Eheauffassung. Mit einem Nachwort von Hariolf Oberer, hrsg. v. Manfred Kleinschnieder. Würzburg 1991. Hruschka, Joachim (1986): Das deontologische Sechseck bei Gottfried Achenwall im Jahre 1767. Hamburg. Hruschka, Joachim (2004): „The Permissive Law of Practical Reason in Kant’s Metaphysics of Morals“. In: Law and Philosophy 23, S. 45–72.

NEUKANTIANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE, DER POSITIVISMUS UND SEINE ÜBERWINDUNG Bernward Grünewald (Köln) KANT UND DER NEUKANTIANISMUS Das Ende der neukantischen Rechtsphilosophie Am Anfang soll ein Zitat stehen, in dem sich die Rechtsphilosophie mit der Rechtsgeschichte auf eine vielleicht tragische Weise kreuzt. Denn der Autor, ein vom Neukantianismus beeinflusster Rechtsphilosoph mit einer politisch und moralisch achtungswürdigen Biographie, vollzieht darin am Ende seines Lebens eine theoretische Kehrtwende von einer dem Positivismus zumindest nahestehenden zu einer den Positivismus ablehnende Position. Das Zitat findet sich in dem Aufsatz Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, den Gustav Radbruch 1946 anlässlich einiger Prozesse, in denen nationalsozialistische Rechtsakte korrigiert wurden, veröffentlicht hat: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz Unrechts dennoch geltenden Gesetzen. Eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘ vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“1

Die zentralen Sätze dieser von Gustav Radbruch 1946 publizierten Passage sind später als Radbruchformel berühmt geworden. Sie sind für die Bundesrepublik Deutschland, für ihre Rechtsprechung, ja für ihre Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit zu einer Art Leitsatz geworden. – Sie wurden nicht nur unmittelbar für den Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit, sondern noch für den Umgang des vereinigten Deutschlands mit der DDR-Vergangenheit prägend.

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Radbruch, Gustav (1946): „Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht“. In: Süddeutsche Juristen-Zeitung 105 (107); vgl. Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 1950, S. 352/353.

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Mit diesen Sätzen war, nach der geläufigen Interpretation, das Ende eines uneingeschränkt positivistischen Rechtsverständnisses gekommen. Mit Radbruchs Wendung gegen den Rechtspositivismus war auch das Ende des rechtsphilosophischen Neukantianismus gekommen. Das könnte einen Studenten der Kantischen Rechtsphilosophie, der dem Neukantianismus keine große Aufmerksamkeit gewidmet hätte, verwundern. Denn der Neukantianismus war rechtsphilosophisch alles andere als ein Kantianismus. Er war in seinen verschiedenen Spielarten eine Abkehr von Kant und weitgehend ein Rechtspositivismus, ja für die konsequenteste Form des Rechtspositivismus, für diejenige Hans Kelsens, eine Quelle wissenschaftstheoretischer Rechtfertigung: so sehr, dass sich Kelsen selbst durchaus als Neukantianer verstehen konnte und dies auch in den 20-ger Jahren, in der polemischen Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Schüler Fritz Sander durch eine Erklärung der für die reine Rechtslehre maßgeblichen „transzendentalen Methode“ deutlich zum Ausdruck brachte.2 Unsere Frage muss sein, ob die in der „Radbruchformel“ zum Ausdruck gebrachte Position theoretisch das leisten kann, was ihr vom Autor und vielen seiner Rezipienten zugemutet wird oder ob die diese Formel nicht immer noch einen Brennspiegel neukantianischer Begriffsverwirrungen darstellt. Eine Schlüsselrolle nicht nur in dem Radbruch-Zitat, sondern auch in der mit dem Neukantianismus verbundenen Rechtsphilosophie, scheint nämlich das Verhältnis des Rechts zu dem Begriff, besser: dem Terminus ‚Gerechtigkeit‘ einzunehmen. Und eine entscheidende Frage könnte es sein, ob man den Begriff des Rechts auf einen Begriff der Gerechtigkeit oder aber den der Gerechtigkeit auf den des Rechts zurückführen müsse. Um die Differenz zwischen Kant (wie der neuzeitlichen Rechtsphilosophie überhaupt) und dem Neukantianismus deutlich hervortreten zu lassen, soll vorab kurz an Kant und zuvor ein wenig an Rousseau erinnert werden. Rousseaus Problem und Kants Rechtsbegriff „Der Mensch ist frei geboren und überall liegt er in Ketten“.3 – Das AusgangsProblem des Rechts ist die natürliche Freiheit der Menschen, zu tun, was ihnen beliebt – das Ausgangsproblem der Rechtsphilosophie ist die Legitimität der Einschränkung dieser natürlichen Freiheit oder, wie Rousseau wohl in Anspielung auf Hobbes4 formuliert: die Legitimität der Ketten, in denen der Mensch, so frei er

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Vgl. Radbruch, Gustav (1988): „Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuchs zur Überwindung der ‚Rechtsdogmatik’ (1922)“. In: Stanley L. Paulson (Hrsg.): Die Rolle des Neukantianismus in der Reinen Rechtslehre. Eine Debatte zwischen Sander und Kelsen. Aalen, S. 279–411. Rousseau, Jean Jacques : Du contrat social I, 1, in: Ders. (Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1969, p. 351. Vgl. Hobbes, Thomas: Leviathan, or the Matter, Forme & Power of a Common-weath ecclesiastical and civill, ed. by Richard Tuck, Cambridge 1991, ch. XXI, p. 147: „But as men, for the atteyning of peace, and conservation of themselves thereby, have made an Artificiall Man, which we call a Common-wealth; so also have they made Artificiall Chains, called Civill Lawes, which they themselves, by mutual covenants, have fastned at one end to the lips

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auch geboren sein mag, überall liegt. Die Lösung des rechtsphilosophischen Problems kann nach Rousseau (anders als bei Hobbes) nur gefunden werden, wenn diese Lösung die natürliche Freiheit nicht einfach vernichtet, sondern in eine gesetzliche Freiheit transformiert. Gesetzliche Freiheit darf nicht einfach bloß die Freiheit eines jeden gleich viel beschneiden und also jedem gleich viel übriglassen, sondern sie muss die sonst gänzlich ungesicherte Freiheit sichern, und zwar auch gegen den gesetzgebenden Souverän. Dieser Souverän kann deshalb nur das durch einen Vertrag – zwischen einem jeden von uns und uns als Körperschaft – vereinigte Volk selbst sein, ein gesetzgebender Souverän, dem also wir als Mitglieder angehören und der durch unsere rechtliche Verpflichtung selbst verpflichtet ist.5 Dieser Gedanke des Rousseau’schen Contrat social ist, zugegebenermaßen, ein recht komplizierter Gedanke. Kant musste ihm freilich noch die Klarstellung hinzufügen, dass dieser Vertrag zum einen „nur“ eine Idee sei, zum andern aber eine Idee von objektiv-praktischer Realität, was zugleich bedeutet, dass die Gültigkeit dieser Idee sich gerade auch die unbedingte Verpflichtung zum Eintritt in den bzw. zum Verbleib in diesem rechtlichen Zustand nach sich zieht. Recht ist demgemäß von Kant definiert als „der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Willkür des einen mit der Willkür des andern nach einem allgemeinen Gesetze der Freiheit zusammen vereinigt werden kann“ (RL, AA VI: 230). Diese Definition will, wie Kant betont, die Frage beantworten, was Recht sei, nicht bloß die Frage, was rechtens sei (was einem empirisch gegebenen, positiven Gesetzessystem entspreche). Sie gibt also an „ob das, was sie [die positiven Gesetze] wollten, auch recht sei, und das allgemeine Kriterium, woran man überhaupt Recht sowohl als Unrecht (iustum et iniustum) erkennen könne“. Damit ist zwar noch nicht gesagt, welche praktischen Konsequenzen zu ziehen sind für den Fall, dass irgend ein Gesetz oder Gesetzessystem diesem Kriterium nicht entspricht – und es lässt sich leicht denken, dass die uneingeschränkte Befugnis des Gesetzesunterworfenen, einem von ihm als unrecht beurteilten Gesetz zu widerstehen, jede Rechtssicherung und also den Rechtszustand überhaupt aufheben würde; darin liegt da der Grund der Kantischen Ablehnung des Widerstandsrechts. Gleichwohl ist jedoch ein Rechtpositivismus, der die Frage nach dem, was Recht sei, auf das einschränken wollte, was in einem gegebenen Staat von den Herrschenden rechtens genannt wird, durch die Kantische Definition ausgeschlossen. Der Begriff des Rechts und das sich daran anschließende „allgemeine Princip des Rechts“ sowie das „allgemeine Rechtsgesetz“ (der Imperativ des Rechts) wer-

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of that Man, or Assembly, to whom they have given the Soveraigne Power, and at the other to their own Ears.“ Vgl. Rouseau, Jean Jacques: Du contrat social I, 6, in: Ders., Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1964, S. 361, und – mit Bezug auf die Relation zwischen den ‚Vertragspartnern’ „chacun de nous“ und „nous … en corps“ noch deutlicher: Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou l’éducation, 1. V, in: Ders., Œuvres complètes, tome IV, Paris 1969, p. 841): „ [...] le peuple ne contracte qu’avec lui même, c’est à dire le peuple en corps comme souverain, avec les particuliers comme sujets“).

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den von Kant nicht weiter gerechtfertigt, vom letzteren heißt es gar „und dieses sagt sie [die Vernunft] als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist“. Auch das Verhältnis zum kategorischen Imperativ wird nicht näher charakterisiert (nur die der Rechtslehre und ihrer speziellen Einleitung vorangestellte allgemeine Einleitung in die „Metaphysik der Sitten“ macht deutlich, dass das Rechtsprinzip unter dem allgemeinen kategorischen Imperativ steht), anders als bei letzterem wird nicht die Möglichkeit oder Notwendigkeit einer „Deduktion“ diskutiert.6 DER BEGRIFF DES RECHTS BEI DEN NEUKANTIANERN Diese Unvermitteltheit, mit der Kant in der „Metaphysik der Sitten“ seine rechtsphilosophischen Grundlagen einführt, macht es vielleicht verständlich, warum es unter Kantinterpreten über den systematischen Ort der Rechtsphilosophie immer wieder Diskussionen gegeben hat. Freilich ist damit die durchgängige Ablehnung der Kantischen Rechtsphilosophie innerhalb der Bewegung, die sich „Neukantianismus“ nannte, nicht schon erklärt. Hermann Cohens Rückgriff auf das Faktum der Rechtswissenschaft zur Begründung der Ethik Die wohl entscheidende Wendung, die den Neukantianismus von der Kantischen Rechtsphilosophie entfernte, liegt in dem Gedanken, die transzendentale Methode der „Kritik der reinen Vernunft“, freilich in der „analytischen“ Abwandlung der Prolegomena7, zum Vorbild für die praktische Philosophie zu nehmen. Im Verständnis Cohens besteht die transzendentale Methode der „Kritik der reinen Vernunft“ darin, im Ausgang vom ‚Faktum‘ der Mathematik und Naturwissenschaft nach den Bedingungen der Möglichkeit der (wissenschaftlichen) Erfahrung zu fragen.8 Es kommt daher für Cohen darauf an die „Schwäche der Ethik“ zu heilen, 6

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Zu den Gründen, warum Kant den reinen Vernunftbegriff des Rechts in seiner Notwendigkeit „analytisch“ entwickelte, obwohl er in der Einleitung zur Metaphysik der Sitten im Abschnitt „Vorbegriffe zur Metaphysik der Sitten“ klarstellt, dass das Recht ebenso wie die Tugendprinzipien unter dem allgemeinen kategorischen Imperativ steht (vgl. MS, AA VI: 225), vgl. Oberer, H. (1997): „Sittengesetz und Rechtsgesetze a priori“. In: H. Oberer (Hrsg.): Kant. Analysen – Probleme – Kritik, Bd. III. Würzburg, S. 157–200, insbes. S.177 ff. Vgl. die Beschreibung des ‚analytischen Verfahrens’ im § 4 der Prolegomena, AA IV: 274 f. und §14 der „Kritik der reinen Vernunft“ im kritischem Rückblick auf Lockes und Humes Behandlung des Kategorienproblems: „Die empirische Ableitung aber, worauf beide verfielen, läßt sich mit der Wirklichkeit der wissenschaftlichen Erkenntnisse a priori, die wir haben, nämlich der reinen Mathematik und allgemeinen Naturwissenschaft, nicht vereinigen, und wird also durch das Factum widerlegt“ (KrV, B 127 f.). – Das Problem des Gebrauchs, den die Neukantianer von dieser ‚analytisch-regressiven Methode’ machen, besteht darin, dass sie Kants nachträgliches Zusatzargument für die Apriorität der transzendentalen Prinzipien zur Hauptsache machen und sowohl die ursprüngliche Problemstellung (die Frage nach der Möglichkeit synthetischer Urteile a priori) als auch die eigentliche Rechtfertigung (Deduktion) der Prinzipien (in der synthetisch-progressive Methode) verdrängen. Vgl. Cohen, Hermann (1904): Ethik des reinen Willens. Berlin, etwa S. 62 u. ö.

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„dass sie sich nicht auf den Rückhalt einer Wissenschaft berufen kann“, jene Schwäche, die sich in dem „geringschätzigen Sinn“ zeigt, den „der Ausdruck der moralischen Gewissheit“ mit sich führt und dazu verführt, „zur Psychologie eines moralischen Sinnes oder zur Aesthetik eines moralischen Gefühls seine Zuflucht“ zu nehmen.9 Das Remedium gegen diese Schwäche findet Cohen nun in der Rechtswissenschaft und deren begrifflichen und methodischen Grundlagen. Kants „unheilbarer Fehler“ in der praktischen Philosophie sei es gewesen, „dass er die Deduktion der Ethik nicht an der Rechtswissenschaft vollzogen hat, wie die der Logik an der Naturwissenschaft“.10 Die Rechtswissenschaft ist das ‚Faktum‘, von dem aus auf die Ethik, die zugleich Rechtsphilosophie sein soll, zurückgegangen werden kann. So heißt es in Cohens Ethik des reinen Willens: „Die Ethik läßt sich als die Logik der Geisteswissenschaften betrachten. Sie hat die Begriffe des Individuums, der Allheit sowie des Willens und der Handlung zu ihrem Problem. Alle Philosophie ist auf das Faktum von Wissenschaft angewiesen. Diese Anweisung auf das Faktum der Wissenschaften gilt uns als das Ewige in Kants System. Das Analogon zu Mathematik bildet die Rechtswissenschaft. Sie darf als die Mathematik der Geisteswissenschaften, und vornehmlich für die Ethik als ihre Mathematik bezeichnet werden.“11

Der Grundgedanke ist offenbar, dass die rechtswissenschaftlichen Begriffe etwa der Handlung, der Person und des Willens eine Art formalontologisches Gerüst darstellen, dessen Möglichkeitsbedingungen in einer Ethik gefragt werden soll und das zugleich die Grundbegriffe für die Geisteswissenschaften bereitstellt.12 Das „Bedenken [...], welches von der alten Unterscheidung zwischen Sein und Sollen herüberklingt“, das bei dieser Anordnung der Begründungsrelationen (zwischen Ethik und Geisteswissenschaften) sich melden könnte13, drängt Cohen beiseite:

9 Vgl. ebd., S. 63. 10 Ebd., S. 215; mit der ‚Logik’ ist die transzendentale Logik im Sinne der „Kritik der reinen Vernunft“ gemeint. 11 Ebd., S. 62 f. – Cohen unterstellt er Kant eine vergebliche Suche nach einem „Analogon zur Mathematik“: „Selbst Kant, der das der Mathematik entsprechende Analogon eines Faktums suchte und forderte, hat es nicht in einer Wissenschaft gefunden. Er hielt die Rechtslehre von der Sittenlehre getrennt, und stellte für beide besondere metaphysische Anfangsgründe auf.“ (ebda.); er spielt wohl auf die Stelle im § E der Einleitung zur Rechtslehre an, wo Kant im ‚durchgängigen wechselseitigen Zwang’ metaphorischer Weise ein Analogon zur mathematischen Konstruktion der Körperbewegungen sieht (vgl. RL, AA VI: 232 f.); Cohen hat offensichtlich nicht bemerkt, dass es für Kant dort gerade auf die strikte Unterscheidung von Recht und Ethik (Tugendlehre) ankam; Cohens mangelndes Verständnis hat wohl auch damit zu tun, dass es ihm bei der Mathematik von vornherein nicht wie Kant auf das Moment der Anschauung a priori, sondern nur auf die Begrifflichkeit der wissenschaftlichen Methode ankam. 12 Vgl. dazu insbes. in der Einleitung des Werkes die Seiten 62–75. 13 Es wird im Text nicht ganz klar, welche ‚Bedenken’ hier genau gemeint sind; jedenfalls wird die Frage, ob die Rechtswissenschaft als Wissenschaft den Verpflichtungscharakter RechtsSätze in gleicher Weise impliziert wie die Naturwissenschaft den Wahrheitsanspruch der Erfahrungssätze, von Cohen nicht weiter behandelt.

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Bernward Grünewald „Lassen wir uns jedoch von dem fahlen, der Wirklichkeit abgekehrten Nebensinn im Sollen nicht beirren, und sehen wir den allgemeinsten Begriffen und Problemen der Rechtswissenschaft getrost ins Angesicht.“14

Es wird im Text nicht ganz klar, welche ‚Bedenken‘ hier genau gemeint sind; jedenfalls wird die Frage, ob die Rechtswissenschaft als Wissenschaft den Verpflichtungscharakter Rechts-Sätze in gleicher Weise impliziert wie die Naturwissenschaft den Wahrheitsanspruch der Erfahrungssätze, von Cohen gar nicht erst gestellt.15 Aufschlussreich für die Zielsetzung des Unternehmens ist die zentrale Funktion, die Cohen dem Begriff des Staates beimisst: „Das Volk ist von dem logischen Blute der Familie; es stellt die Menschen in ihrer sinnlichen Natürlichkeit dar. Der Staat dagegen ist ein juristischer Begriff; der Begriff einer juristischen Person; das Musterbeispiel dieses Begriffes für den Begriff des sittlichen Menschen. In dieser Ausbildung des Rechts zum Staatsrechte liegt daher die eminente methodische Bedeutung der Rechtswissenschaft für die Ethik, mit welcher weder die Psychologie noch die Geschichte und die Sociologie, noch auch die Religion in der Praecision und Praegnanz der Begriffe auch nur entfernt sich vergleichen lassen könnten.“16

Deutlicher nämlich als beim Begriff der natürlichen Person wird bei dem der juristischen Person erkennbar, dass sie durch Gesetze konstituiert wird, und zwar nicht nur durch diejenigen, unter denen sie steht, sondern diejenigen, die sie sich selbst gibt. „Ohne Gesetze kein Wille. also auch kein Selbstbewusstsein des Staates. Dieser Staatsbegriff des Gesetzes muss der Leitbegriff werden für das persönliche Selbstbewusstsein. Das Gesetz unterscheidet die Aufgabe des reinen Willens von der psychologischen Aufgabe der Tendenz, der Bewegung und der Begehrung.“17

Daher soll die Ethik, indem sie von der Besonderheit des (äußeren) Zwangs zunächst absieht18, zugleich als Rechtsphilosophie durchgeführt werden: „Die Ethik muß selbst als Rechtsphilosophie sich durchführen. [...] Die Rechtswissenschaft bedarf der Ethik zu ihrer eigenen Grundlegung. Es darf in keiner Weise zugestanden werden, was Stammler in seinem Buche vom Richtigen Rechte unternimmt, das Recht richtig zu machen, ohne den Grund der Richtigkeit in der Ethik festzulegen und festzuhalten. Das ist Aufgeben, Preisgeben der Ethik und der Philosophie. Es darf nicht zugestanden werden, daß selbständig und schlechterdings unabhängig das Recht seine eigenen Wege ginge; und daß, sei es vorher oder hinterher, eine Ethik kommen dürfte, als Ethik des Individuums und der

14 Ebd., S. 67. 15 W. Kersting spricht von dem „systematische[n] Zwielicht, das über diesem Unternehmen des rechtsphilosophischen Neukantianismus liegt und die Grenzen zwischen Theorie des Rechts und Theorie der wissenschaftlichen Rechtserkenntnis, zwischen wissenschaftstheoretischem Erkenntnisprogramm und normativer Rechtsbegründung verschwimmen lässt und den Positivismus als Wahrheit des Apriorismus enthüllt“ (Kersting, Wolfgang (2002): Neukantianische Rechtsbegründung. Rechtsbegriff und richtiges Recht bei Cohen, Stammler und Kelsen, in: Neukantianismus und Rechtsphilosophie, hrsg. v. R. Alexy, S. L. Paulson und G. Sprenger. Baden-Baden, S. 23–68, dort S. 28). Auch wenn der Positivismus bei Cohen noch nicht ausdrücklich formuliert wird, liegt er wohl schon in der Konsequenz dieses Ansatzes. 16 Cohen (1904), Die Ethik des reinen Willens, S. 75. 17 Ebd., S. 248; vgl. auch die Überlegungen Cohens zur Form des Gesetzes und dem Verhältnis von Sein und Sollen, S. 247 f., und zum Begriff der Autonomie, S. 302 f. 18 Vgl. ebd., S. 255.

Neukantianische Rechtsphilosophie, der Positivismus und seine Überwindung

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Gesinnung Denn es gibt keine Gesinnung ohne Handlung; kein Individuum im ethischen Sinne ohne Rechtsgemeinschaft.“19

Individuum und Gesinnung sind dagegen Sache der Religion. Bei Cohen gibt es zwar noch ein Begriff vom überpositiven Gehalt des Rechts.20 Bei aller Kritik daran, dass „Kant selbst das Naturrecht von der Ethik abtrennte“, hält Cohen fest: „Es kann keine Rechtswissenschaft sich ausdenken, auf ihre letzten Gründe sich zurückdenken lassen, die den Zusammenhang mit der Ethik verschmäht. Das Recht des Rechtes ist das Naturrecht oder die Ethik des Rechts.“

Aber man sucht man vergebens nach einem Begriff des Rechts, welcher der Gesetzgebung eines Staates eine Grenze zu setzen in der Lage wäre, die ihn vom Unrechtsregime unterscheidbar machte. Stattdessen setzt Cohen dem Recht einen Zweck. Nachdem der Begriff des moralischen Individuums aus der Analogie zur juristischen Person des Staates modelliert worden ist, werden umgekehrt die Anforderungen des Rechts an den Staat nach dem Modell einer Tugendlehre, nämlich von der Gerechtigkeit, modelliert: „So ist die Gerechtigkeit die Tugend der Rechtsphilosophie.“21 Und ganz gemäß dem Kantischen Tugendbegriff (von den Zwecken, die zugleich Pflicht sind) wird Gerechtigkeit zu einem Zweck des Rechts.22 Tugend-Zwecke aber können, im Unterschied zu den Rechtspflichten in Kantischen Sinne, keine strikten Pflichten sein, weil sie immer neben anderen Tugend-Zwecken stehen und diese sich wechselseitig einschränken.23 Daraus folgt, dass der Cohensche Gerechtigkeitsbegriff keinesfalls mit dem Kantischen Rechtsbegriff, auch nicht mit seinen bei Kant unter dem Titel ‚Gerechtigkeit‘ stehenden Korrelatbegriffen24, zu verwechseln ist. Entsprechend der tugendethischen Konzeption soll die Idee der Gerechtigkeit nach Cohen weder dem (eudaimonistischen) Utopismus verfallen noch sie rechtfertigt das revolutionäre Alles-oder-Nichts. Sie wird zu einem in der (Kultur)Geschichte wirksamen Prinzip erklärt: „Die Gerechtigkeit hält den Blick gespannt auf den Abstand der Wirklichkeit vom ewigen Ideal. Sie ist demgemäss die Tugend der Geschichte.“25 So erscheit dieser historische Idealismus wie eine idealistische Modifikation des historischen Materialismus. Immerhin entdeckt Cohen innerhalb dieser Konzeption ein Aufgabenfeld für die Rechtsphilosophie oder Ethik: nämlich die kritische Klärung der Rechts-Begriffe des Personen-, Sachen-, und Obligationsrechtes und damit die Eigentumsfrage. Daraus entwickelt er eine Kritik des durch Macht und Eigentumsverhältnisse bestimmten Wilhelminischen Staates: 19 20 21 22 23

Ebd., S. 213 f. – Auf die Anspielung auf Stammler kommen wir noch zurück. Vgl. ebd., S. 66. Ebd., S. 570. Ebd., S. 569 f. Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI: 390; Tugendpflichten gebieten nicht Handlungen, sondern nur Handlungs-Maximen (die betreffenden Zwecke nach Möglichkeit zu befördern). 24 Sie werden häufig als Übersetzungen der entsprechenden lateinischen Termini (iustitia distributiva, commutativa usw.) angeführt; vgl. z. B. Metaphysik der Sitten, AA VI: 297; 302; 306; 312 f.; in solcher Bedeutung ist aber der Terminus ‚Gerechtigkeit’ nicht der Titel einer sei es auch institutionellen Tugend (als einem anzustrebenden Zweck), sondern bezeichnet einfach die Funktion der jeweiligen Institution. 25 Cohen (1904), Die Ethik des reinen Willens, S. 569.

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Bernward Grünewald „Der empirische Staat ist freilich der Staat der Stände und der herrschenden Klassen; er ist nicht Rechtsstaat. Nur dadurch kann der Machtstaat Rechtsstaat werden, dass er das Recht, der Idee des Staates gemäss, nicht im Interesse der Stände und der Klassen ausbildet.“26

Die Konsequenz ist eine Konzeption von Sozialismus, die freilich, abgesehen von Andeutungen über die Einschränkung des Erbrechts (damit wohl die Abschaffung des Adelsprivilegs) und die Einschränkung des Eigentumsrechts ebenso vage bleibt wie die die Begriffe von Menschenrecht und Rechtsstaat in der feierlichen Deklaration: „Das Recht der Gerechtigkeit wird das Menschenrecht im Staate. Das Menschenrecht im Staate ist das Naturrecht des Rechtes und des Staates. Ohne den Staat kein Menschenrecht. Aber auch ohne das Menschenrecht kein Recht des Staates, als des Staates der Gerechtigkeit. Ohne das Menschenrecht im Staate herrscht Machtrecht, Klassenrecht im Staate. Ein Schattenbild des Staates ist alsdann der Staat.“27

Zwar wird diesem Schattenbild über „kurz oder lang [...] der Untergang“ prophezeit, aber worin genau das Menschenrecht besteht und wo genau Recht überhaupt aufhört und Unrecht anfängt, dafür würde man doch wenigstens ein begriffliches Kriterium genannt bekommen. – Das Kriterium jedoch, das Cohen bei dem trotz aller Kritik verehrten Kant im Begriff des Rechts immerhin hätte finden und ausschöpfen können, ist unter der Idee von der notwendigen Stütze im ‚Faktum der Rechtswissenschaft‘ verschüttet.28 Die Realisierung von Tugendzwecken ist außer auf die Berücksichtigung anderer Tugendzwecke (in unserem Zusammenhang etwa der Rechtssicherheit) immer auch auf die empirisch bedingte Urteilskraft verwiesen. Die Konzeption der Gerechtigkeit als gesellschaftliches Ideal ist daher unvermeidlich mit einer Konkurrenz von Gerechtigkeits-Vorstellungen konfrontiert, die kaum mit philosophischen Mitteln entschieden werden kann. Den Kollateralschaden einer verfehlten Rechtsbegründung kann man zum einen bei einer tagespolitischen Auseinandersetzung betrachten, wenn man in den Dokumenten des „Berliner Antisemitismusstreits“ nachliest, wie sehr sich Cohen bemüht, etwa die Assimilation an das ‚Deutschtum‘ nicht weniger als die Gegenpartei zur Bedingung der Rechtsgleichheit der Juden zu machen.29 – Zum anderen ist die Rechtsphilosophie ohne einen normativ fundamentalen Begriff des Rechts einem Relativismus der Gerechtigkeits-Konzeptionen ausgeliefert. Kelsen wird daher gerade im Schutz des Arguments von der Relativität aller Gerechtigkeitsvorstellungen wenig Mühe haben, in Cohens Berufung auf das ‚Faktum der Rechtswissenschaft‘ einen Anknüpfungspunkt für seinen Positivismus zu finden.30

26 Ebd., S. 582. 27 A.a.O. 28 Erst recht benimmt sich Cohen durch seine Missachtung der Kantischen Rechtslehre die Möglichkeit, für seine eigentumsrechtlichen Überlegungen eine Grundlage in Kants besitzrechtlichen Begriffen zu entdecken. 29 Vgl. dazu Geismann, G. (1993): „Der Berliner Antisemitismusstreit und die Abdankung der rechtlich-praktischen Vernunft“. In: Kant-Studien 83, S. 369–380; überarb. Fassung in ders.: Kant und kein Ende, Bd. II, S. 279–290. 30 Wohl nicht so sehr durch eigene Lektüre, sondern durch eine positive Rezension veranlasst, die in den Kantstudien erschienen war (Rezension der Kelsenschen Hauptprobleme der

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Rudolf Stammlers Dualismus von Rechtsbegriff und Rechtsidee Rudolf Stammler lehrte zunächst in Marburg neben Cohen (aber in keinem sehr engen Kontakt), dann in Halle und Berlin. Er verbindet einen streng positivistischen Begriff des Rechts mit einem kritisch gemeinten Begriff der Rechtsidee. Zwar hält er die Differenz zwischen ethischer und rechtlicher Problematik gegen Cohen fest, aber auch bei ihm dient, in freilich noch vagerer Weise, die theoretische Philosophie Kants „Kritik der reinen Vernunft“ als Folie. Von der kritischen Philosophie Kants weiß Stammler nur zu berichten: Sie „räumte mit dem Dogmatismus auf“ und die „Kritik der reinen Vernunft erneuerte die Methode des SOKRATES“, vor dem Aufstellen allgemeiner Lehrsätze deren „sachliche Möglichkeit“ erst darzulegen, und zwar aufgrund der Einsicht in „die notwendigen Bedingungen des wissenschaftlichen Erkennens“, denen als „formalen Richtlinien des einheitlichen Ordnens, allein eine allgemeingültige Bedeutung und ein absoluter Geltungswert zukommen könne“.31 Mit der „Möglichkeit des einheitlichen Ordnens überhaupt“ will Stammler ausdrücklich das wiedergeben, „was KANT die transszendentale Einheit des Selbstbewußtseins nannte“.32 Die Methode Von Stammlers Rechtsphilosophie ist demgemäß einfach: „die kritische Selbstbesinnung. Wir fragen nach den Begriffen und Grundsätzen, die unerläßlich sind, um Einheit und Ordnung in allen jemals denkbaren Rechtsfragen zu haben.“33 Dieses Ordnen der Bewusstseinsinhalte aber geschieht nach Stammler auf zweierlei Weise: „in der Richtung des Wahrnehmens und in der Richtung des Wollens“. Ersteres hat die gegenständliche Verarbeitung von Eindrücken zur Aufgabe, letzteres das Setzen eines Gegenstandes, der zu bewirken ist, also eines Zwecks.34 Es geht also um die ordnende Konstitution des Reichs der Zwecke. Diese Ordnung beschränkt sich nach Stammlers Verständnis der „kritischen Methode“ jedoch im Hinblick auf den Begriff des Rechts auf eine bloß formale Einheit; „Der Rechtsbegriff bedeutet nichts als ein Verfahren des Ordnens.“35 An anderer Stelle heißt es gar: „Der Rechtsgedanke ist eine Form unserer Erkenntnis.“36 – Zu Kants Rechtslehre bemerkt Stammler einfach: sie „ist wissenschaftlich unhaltbar“.37 Dagegen habe Kant einen inhaltlichen Maßstab des Rechts in den Rechtsbegriff gemengt:

31 32 33 34 35 36 37

Staatsrechtslehre, [1. Aufl. Tübingen 1911] von Oscar Ewald (1912), Kantstudien 17, S. 390–398). Stammler, Rudolf (1921): Lehrbuch der Rechtsphilosophie. Berlin u. Leipzig, 21923 (im Folgenden zitiert als „LR“), dort S. 33. LR, S. 54, Fn. 1. LR, S. 9, Fn. 2. LR, S. 54. LR, S. 53. Stammler, Rudolf (1964): Die Lehre von dem richtigen Rechte (Nachdruck der neubearb. Aufl. Halle 1926), Bad Homburg (im Folgenden zitiert als LRR), S. 15. LRR, S. 27.

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Bernward Grünewald „... Kant hat in seiner Rechtslehre die kritische Methode selbst nicht voll durchgeführt. Er blieb bei dem Fehler aller Anhänger des natürlichen Rechtes stehen, daß der Begriff und die Idee des Rechtes zusammengelegt wurden.“38

Wir werden unten sehen, dass für Stammler erst die „Idee des Rechts“ eine Frage der Geltung oder ‚Richtigkeit‘ an das Recht heranträgt. Kants Formel dagegen „Eine jede Handlung ist recht, die [...] mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ trägt für Stammler „den Fehler in sich, daß sie zugleich den Begriff und den richtigen Inhalt des Rechtes normativ bestimmen will“.39 – Was folgt, ist eine staubtrockene, über zig Seiten sich erstreckende Serie von Definitionen, die gerade das, was im Theoretischen die „Kritik der reinen Vernunft“ leistet, nämlich Bedingungen objektiver Gültigkeit (dort von Erfahrungsurteilen) herauszuarbeiten und zu rechtfertigen, auf praktischem Gebiet gar nicht erst in Angriff nehmen.40 Das zeigt sich vor allem beim Ziel des ganzen Verfahrens, dem rein formalen Rechtsbegriff Die Überschrift des § 47 des Lehrbuchs der Rechtsphilosophie lautet: „Das Recht: das unverletzbar selbstherrlich verbindende Wollen.“41 – Eine Begriffsbestimmung, die das Recht von einem bloßen Willkürakt unterscheiden soll. – Das Begriffsmoment der Unverletzbarkeit besagt, dass das betreffende Wollen sich durch seinen Wollensakt insofern eine Selbstbindung auferlegt, als es eine bleibende Ordnung zu stiften beabsichtigt.

38 LR, S. 34; an späterer Stelle führt Stammler diesen Fehler auf Rousseau zurück (LR, S. 175, Fn. 2); Rousseaus volonté générale versteht Stammler als einen Willen, der auf das Glück des Menschen gerichtet sei; nun will nach Rousseau zwar jeder, der vom allgemeinen Willen beseelt ist, „le bonheur de chacun d’eux“ (Du contrat social II, 4; Œuvres complètes, tome III, p. 373); Stammler ist aber offenbar entgangen, dass das „plus grand bien de tous“ in nichts anderem besteht als in Freiheit und Gleichheit: „Si l’on recherche en quoi consiste précisément le plus grand bien de tous, qui doit être la fin de tout système de législation, on trouvera qu’il se réduit à ces deux objets principaux, la liberté et l’égalité.“ (Du contrat social II, 11; Œuvres complètes, tome III, p. 391). 39 Vgl. LRR, S. 150; Stammler zitiert tatsächlich nicht den Begriff, sondern das „Princip des Rechts“ in verkürzter Form (ohne die oben gesetzte Auslassungsmarkierung); das mag man hinnehmen, da das Prinzip aus dem unmittelbar zuvor formulierten Begriff des Rechts folgt. Nur zeigt Stammlers Kommentar dann, dass für ihn „der Gebrauch des Wortes Freiheit hier missverständlich“ und der Bezug auf das allgemeine Gesetz gänzlich unklar ist (wie es sich mit ihm verhalte, bleibe „unausgetragen“). Aus Kants eigentlicher Formulierung des RechtsBegriffs freilich hätte Stammler entnehmen können, dass es sich um ein Gesetz der Freiheit handelt und dass dieses die Funktion hat die Vereinbarkeit der Willkür des einen mit der aller anderen zu garantieren. 40 Das liegt vor allem daran, dass das praktische Geltungsproblem von vornherein unterbestimmt ist, insofern die Frage, was praktische Notwendigkeit, also was Pflicht und Verpflichtung heißt, nicht gestellt wird. 41 LR, S. 89.

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„Der willkürliche Gewaltbefehl wird in der Meinung erlassen, daß dem Gebietenden in nichts auferlegt wird, sich selbst daran zu halten. ... Das rechtliche Wollen besagt das gerade Gegenteil. Es stellt die bleibende Ordnung des Menschengeschlechtes dar.“42

Dass Stammler keinerlei inhaltliche Einschränkung mit seinem Rechtsbegriff verbinden will, bekräftigt die anschließende Feststellung: „Der Begriff des Rechtes ist damit erschöpfend bestimmt.“43 Schon vorher hat er klargestellt: „Der Gegensatz von Willkür und Recht kann nicht nach der Güte des Inhaltes von sozialen Regeln angegeben werden.“44 Auch die Despotie setzt Recht, solange der Despot nicht bloß willkürlich Befehle gibt, sondern bleibende Regeln vorschreibt (die ihn also binden, entsprechende Handlungen als rechtmäßig anzusehen). Der Rechtsbegriff Stammlers ist ein uneingeschränkt positivistischer und er definiert nicht das, was Recht ist, sondern was eine positive Rechtssatzung sei. Da bis hierhin aber auch gar nicht erkennbar ist, welches Problem eigentlich dem Recht als dem „unverletzbar selbstherrlich verbindende[n] Wollen“ zugrunde liegt, wodurch zumal Notwendigkeit und Verbindlichkeit jenes Wollens begründet ist, muss man sich fragen, was diesen Begriff eigentlich von einem deskriptivsoziologischen Begriff unterscheidet.45 Rechtsidee Allerdings will Stammler nicht darauf verzichten, über die inhaltliche Güte, die ‚Richtigkeit‘ von Recht sprechen zu können. Denn von dem Begriff des Rechts müsse man noch die Rechtsidee, den Gedanken des reinen rechtlichen Wollens unterscheiden.46 Dieses strebt nach einem ‚sozialen Ideal‘ und wird (soziale) ‚Gerechtigkeit‘ genannt. Deren Prinzip ist, wie er betont, weder Freiheit, noch Gleichheit noch Brüderlichkeit. Die Begründungen für die Ablehnung der beiden ersten Begriffe zeigt, wie wenig Stammler die Problemstellung der neuzeitlichen Rechtsphilosophie rezipiert hat: „Im rechtlich geordneten sozialen Leben“ sei ohnehin „nur eine relative Freiheit möglich“, weil das „in dem Begriffe des rechtlichen Verbindens [Verpflichtens] menschlicher Bestrebungen“ liege (Klammerzusatz BG).47 Die rechtliche Ordnung kommt bei Stammler offenbar nur als ein Faktum und dazu ein der Freiheit gegenüber fremdes in Betracht, das weder der Rechtfertigung noch der Begrenzung durch die Freiheit bedarf. Dass einerseits die natürliche Freiheit allererst das Rechtsproblem stellt, wie Hobbes gezeigt hat, das Recht aber andererseits keinen anderen Zweck hat, als die Freiheit zu 42 A.a.O. 43 A.a.O. 44 Ebd., S. 87; eine Fußnote zu diesem Satz weist darauf hin, dass Stammler sich durch diese Bestimmung gerade von dem ansonsten sich positivistisch gebenden Ihering noch unterscheiden will. 45 Max Weber hatte schon in Stammlers Werk Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung. Eine sozialphilosophische Untersuchung (2. Aufl Leipzig 1906) die Konfusion zwischen deskriptiven und normativen Begriffen scharf kritisiert, vgl. Weber, Max (71988): „R. Stammlers ‚Überwindung der materialistischen Geschichtsauffassung’“. In: Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre. Tübingen, S. 291–359. 46 Vgl. LR, S. 167 ff.; 176 ff. 47 Vgl. ebd., S. 204 mit Rückverweis auf den § 41, S. 83 f.

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ermöglichen, wie schon Locke erkannt hat48 und wie Rousseau in seinem Vertragsformeln und Kant in seinem Rechtsbegriff es an den Anfang ihrer Konzeptionen gestellt haben, bleibt Stammler verschlossen. Die Gleichheit, bei Rousseau und Kant als gleiche Freiheit verstanden, kommt für Stammler als Prinzip des Rechts nicht in Frage: „Da die Menschen untereinander ungleich sind, und ihr jeweiliger Wert für ihre Gesellschaft verschieden ist, so würde ihre äußere Gleichstellung in sich unbegründet sein.“49 Die Brüderlichkeit schließlich identifiziert Stammler mit der christlichen Nächstenliebe, die allenfalls den Gedanken der Gerechtigkeit ergänzen, aber zu seiner Klärung nichts beitragen könne.50 Stammler stellt dagegen seine Formel des „sozialen Ideals“, welche durch die „Methode eines unbedingten gegenseitigen Ausgleichens“ die Rechtsunterworfenen („Verbundenen“) „der Idee nach aus dem Mechanismus der Mittel füreinander“ hebt: „jeder bleibt dem andern nur als Selbstzweck verknüpft“; der Inhalt eines solchen rechtlichen Wollens ist „eine Gemeinschaft frei wollender Menschen“.51 Dabei betont Stammler immer wieder, dass die Kriterien des richtigen Rechts keinesfalls Kriterien des Rechts seien; sie sind selbst keine Rechtsätze schon gar nicht überpositive Rechtssätze. Richtiges Recht ist eine besondere Art des positiven Rechts; für die Rechts-Praxis heißt das lediglich, dass bei der Auswahl eines Obersatzes einer Entscheidung aus mehreren möglichen positiven Rechtssätzen der Gedanke der „reinen Gemeinschaft“ die leitende Idee sein soll. – Dies 48 Locke, John: The Second Treatise of Government (in: Ders. Two Treatises of Government, ed. by Peter Laslett, Cambridge1988, § 57): „So that, however it may be mistaken, the end of Law is not to abolish or restrain, but to preserve and enlarge Freedom: For in all the states of created beings capable of Laws, where there is no law there is no freedom. For Liberty is to be free from restraint and violence from others which cannot be, where there is no Law: But Freedom is notreedom is not, as we are told, A Liberty for every Man to do what he lists.“ 49 LR, S. 204; vollends unhaltbar ist für Stammler „das soziale Ideal der quantitative[n] Gleichheit äußerer Annehmlichkeiten“, weil es – hier mag er durchaus an Kantische Grundsätze gedacht haben – auf den „sozialen Eudaimonismus“ hinauslaufe. Diese Abgrenzung hinderte Stammler freilich nicht, für einen Sozialismus einzutreten (vgl. seine Bücher Wirtschaft und Recht nach materialistischer Geschichtsauffassung, Leipzig 1896, und Sozialismus und Christentum. Erörterungen zu den Grundbegriffen und den Grundsätzen der Sozialwissenschaft, Leipzig 1920); die Begründung des Sozialismus hält er aber für von rechtsphilosophischen Überlegungen weitgehend unabhängig, weil dieser nur ein historisch bedingtes, „beschränktes Mittel“ des sozialen Lebens sei (vgl. LR, S. 117 f. u. 118, Anm. 6). 50 Vgl. ebda., S. 204; in der französischen Revolution scheint die fraternité auf die Solidarität mit den Völkern anderer Staaten bezogen worden zu sein. 51 Ebd., S. 199; die Formulierungen mögen uns z. T. an die Zweckformel des kategorischen Imperativs in der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten“ erinnern; aber Stammler verweist in diesem Zusammenhang nicht darauf, sondern auf eine Fußnote in der Kritik der Urteilskraft: Dort stellt Kant unter Hinweis auf das im Zuge der revolutionären Ereignisse gerade in Mode gekommene Wort ‚Organisation’ eine Analogie zwischen der Naturzweckmäßigkeit des Organismus und dem Verhältnis von Ganzen und Teilen im Staat her (vgl. KU, AA V: 375). – Stammler seinerseits merkt kritisch an, dass es darauf ankomme, diesen „idealen Gedanken reiner Gemeinschaft auch unter den einzelnen Rechtsunterstellten überall einzusetzen“ und bedauert: „In seiner Rechtslehre kommt KANT überhaupt nicht wieder darauf zurück.“ – Man sieht, wie wenig die Stammlersche ‚Rechtsidee’ auf konstitutive Momente des Rechts, und wie sehr sie in ihrem „sozialen Ideal“ auf eine bloße reflektierende Beurteilung und allenfalls regulative Funktion hinausläuft.

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kann wohl auf die Auswahl von existierenden positiven Rechtssätzen bei richterlichen Entscheidungen, evtl. auch bei Überlegungen des Gesetzgebers de lege ferenda und also bei der Weiterentwicklung eines Rechtsystems eine Rolle spielen, aber niemals ein Grund für die Ungültigkeit irgend eines unrichtigen Rechtssatzes sein. Unrichtige positive Rechtssätze (eines gegenwärtigen Rechtssystems) sind nicht weniger geltendes Recht als richtige. Stammler stellt zwei Gruppen von je zwei „Grundsätze[n] eines richtigen Rechtes“ auf: „1. Grundsätze des Achtens. a) Es darf nicht der Inhalt eines Wollens der Willkür eines andern anheimfallen. b) Jede rechtliche Anforderung darf nur in dem Sinne geschehen, daß der Verpflichtete sich noch der Nächste sein kann. 2. Grundsätze des Teilnehmens. a) Es darf nicht ein rechtlich Verbundener nach Willkür von der Gemeinschaft ausgeschlossen sein. b) Jede rechtlich verliehene Verfügungsmacht darf nur in dem Sinne ausschließend sein, daß der Ausgeschlossene sich noch der Nächste sein kann.“52 „Gegen den ersten grundsätzlichen Gedanken verstößt ein Begehren, welches ein fremdes Bestreben einseitig zu seinem Mittel nimmt, ohne den; Gedanken des verbindenden Wollens in unbedingt reiner Art zu führen und nach ihm die eigenen Zwecke als Mittel des ihm Verbundenen einzusetzen; – gegen die zweite Art vergeht sich, wer die Grenzen der fraglichen Verbindung in bloß subjektiver Weise stecken möchte“.53

Diese „Grundsätze eines richtigen Rechtes“ sind, wie gesagt, keine Rechtssätze, nach denen ein Streit entschieden werden könnte, sie haben „nur die Bedeutung methodischer Denkrichtungen“, die etwa einem Richter helfen sollen, beim Ansatz von Obersätzen unter verschiedenen historisch gegebenen Rechtssätzen eine Wahl zu treffen.54 Was es genau heißt, dass jemand sich selbst der Nächst sein können müsse, ist offen für mancherlei Deutungen. So sehr sie mit der Formel „es darf nicht“ den Anschein von Verboten (der Auslieferung eines Rechtssubjekts an die Willkür eines Anderen – Sklaverei, des Ausschlusses eines Rechtssubjekts aus der Gemeinschaft) erwecken, sie bringen Rechtsgrundsätze zum Ausdruck, die durchaus auch im zeitgenössischen Zivilund Strafrecht enthalten waren: Rechtsgeschäfte etwa, durch die jemand verkauft wird oder sich an einen anderen verkauft, sind nichtig.55 Aber ein Gesetz, das dergleichen – in einem entsprechenden Rechtssystem – erlauben würde, wäre nach den Voraussetzungen des Stammlerschen Rechtsbegriff keineswegs ausgeschlossen, sondern Recht, es wäre nur ungerechtes Recht. Für die von einem ungerechten Gesetz Betroffenen sind die „Grundsätze eines richtigen Rechtes“, so müssen wir schließen, nichts weiter als ‚fromme Wünsche‘. Stammler sah sich jedenfalls in seinem Alter, als der Gesetzgeber eine durch Herkunft oder angebliche Rassen definierte Gruppe von Menschen aus der 52 Ebd., S. 209 – in einer Fußnote werden hierzu „zur Übung des Wiedererkennens“ Paragraphen-Beispiele aus dem positiven Recht angeführt, u. a. zu 1 a) BGB § 138 (Sittenwidriges Rechtsgeschäft; Wucher), § 826 (Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung); zu 2b) BGB 904 (Notstand beim Gebrauch einer fremden Sache zur Abwendung einer großen Gefahr). 53 A.a.O.; vgl. auch LRR, S. 148–152. 54 Vgl. LR, S. 209 f. 55 Vgl. dazu LRR, S. 268.

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Gemeinschaft auszuschließen beliebte, nicht daran gehindert, seine Sympathie für das neue Regime dadurch zu dokumentieren dass er „Mitglied [...] des rechtsphilosophischen Ausschusses der vom NS-Justizminister gegründeten Akademie für Deutsches Recht“ wurde.56 Hans Kelsens Rechtsbegriff und die Grundnorm als transzendentale Bedingung der Rechtswissenschaft Hans Kelsen kann man wohl kaum als einen echten Neukantianer bezeichnen, allerdings hat er sich ganz ähnlich wie Cohen unter Rückgriff auf ein damals durchaus übliches Verständnis der „Kritik der reinen Vernunft“ seinen eigenen Kantianismus zurechtgelegt. Und nachdem eine Rezension der 1. Auflage von Kelsen Hauptproblemen der Staatsrechtslehre57 auf Berührungspunkte zwischen Kelsens Konzeption und derjenigen Cohens aufmerksam gemacht hatte, knüpfte Kelsen in den 20ger/30ger Jahren ausdrücklich an Cohens Grundgedanken aus der „Ethik des reinen Willens“ an58. Der Absicht seines (von ihm im übrigen kritisierten) Schülers Sander „nach den Prinzipien der Transzendentalphilosophie in strenger Analogie zur Naturwissenschaft aufgebaute Rechtswissenschaft“ zu begründen, gesteht er zu, dass „Stammlers, Cohens und auch meine eigenen Arbeiten durchaus schon bewusst in dieser Richtung“ zielen.59 Dabei hebt Kelsen jedoch auch den Unterschied zwischen den in der „Kritik der reinen Vernunft“ und den in der Rechtstheorie zu begründenden Aussagen entschieden hervor: Der 56 Vgl. den Eintrag „Rudolf Stammler“ im „Onlinelexikon hallischer Gelehrter“, http://catalogus-professorum-halensis.de/stammlerrudolf.html. Die Formulierung lautet vollständig: „Mitglied des deutschen Freiheitsringes der NSDAP in Wernigerode und des rechtsphilosophischen Ausschusses der vom NS-Justizminister gegründeten Akademie für Deutsches Recht“. Über einen „deutschen Freiheitsring der NSDAP“ waren keine weiteren Auskünfte zu finden. – Claudius Müller stellt fest, Stammler habe „selbst zur Vereinnahmung seiner Person durch die nationalsozialistische Rechtstheorie beigetragen“, wobei er auf den Nachruf von C.A. Emge auf Stammler verweist: Emge, C. A. (1938): „Rudolf Stammler zum Gedächtnis“. In: Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht; darin heißt es S. 335: „Es befriedigt, zu wissen, daß sich Rudolf Stammler nach dem Umbruch sofort und gern zur Verfügung stellte. Es mag ferner als Symbol für geistige Verantwortung gelten, daß Stammler bei der Gründungssitzung des rechtsphilosophischen Ausschusses der Akademie für Deutsches Recht seinerzeit im Nietzsche-Archiv zu Weimar anwesend war und sogleich ein echtes rechtsphilosophisches Gespräch gestalten half. Der Vorsitzende dieses Ausschusses, Reichsminister Dr. Frank, hatte mit der Frage begonnen: „Was ist Recht?“ (zitiert nach: Müller, Claudius (1994): Die Rechtsphilosophie des Marburger Neukantianismus. Naturrecht und Rechtspositivismus in der Auseinandersetzung zwischen Herrmann Cohen, Rudolf Stammler und Paul Natorp. Tübingen, S. 10. 57 Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1. Aufl. Tübingen 1911; 2. Aufl. Tübingen 1922. – Vgl. die Rezension von Oscar Ewald, Kantstudien 17, 1912, S. 390–398; das Werk wird dort dargestellt als „ein mit logischer Strenge durchgeführter Versuch, den Transzendentalismus in die Rechtsphilosophie einzuführen.“ 58 Vgl. Kelsen, Hauptprobleme, 2. Aufl., S. 17. 59 Kelsen, Hans (1922): „Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuches zur Überwindung der ‚Rechtsdogmatik’“. In: ZöR 3, S. 103–235. Nachgedruckt in: F. Sander/H. Kelsen (1988): Die Rolle des Neukantianismus in der reinen Rechtslehre, hrsg. v. St. L. Paulson. Aalen, S. 279–411.

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normative Sinn (Sollenssinn) der letzteren sei von dem deskriptiven Sinn der naturwissenschaftlichen Aussagen (Seinssinn) durch eine „unüberbrückbare Kluft“ unterschieden.60 Das lässt ihn gegen jede Art von Historismus, Soziologismus oder Psychologismus streiten. Deshalb hat er auch Stammlers Verknüpfung der Sein-Sollen Unterscheidung mit der Kausalität-Teleologie-Unterscheidung scharf kritisiert.61 Kelsens Darstellung der Geschichte der Rechtsphilosophie: „reines Naturrecht“, historisches Naturrechtslehren und das Vernunftrecht Um sich den Kelsen’sche Rechtspositivismus verständlich zu machen, ist es hilfreich, Kelsens etwas merkwürdige Interpretation der rechtsphilosophischen Tradition in Rechnung zu stellen. Sein Verständnis der neuzeitlichen Rechtsphilosophie manifestiert sich etwa in Sätzen über das Naturrecht in einem Aufsatz, der ausdrücklich das Vernunftrecht unter den Begriff des Naturrechts mit subsumiert: Nach der Feststellung, dass „das positive Recht eine Zwangsordnung im Sinne einer Zwang anordnenden Ordnung“ sei, heißt es: „Das Naturrecht aber ist eine seiner Idee nach zwangsfreie, anarchische Ordnung.“62 Dies gilt freilich, wie sich in den späteren Paragraphen herausstellt, nur von der „Theorie des reinen Naturrechtes“; sie sei „stets Anarchismus“, insofern sie besagt: „Vom Standpunkt einer als geltend angenommenen Naturrechtsordnung aus bedeutet die ‚faktische‘ Existenz des positiven Rechts nichts anderes, als daß das positive Recht nicht als System in Sollgeltung stehender Normen, sondern buchstäblich nur als Seinsfaktum in Betracht kommt.“63 Dann aber seien „die positiven Rechtsverhältnisse, wie die des Eigentums, des Dienstvertrages usw., nichts als nackte Machtbeziehungen“ wie im Anarchismus. Die historischen Naturrechtslehren dagegen hätten beide Normsystem nebeneinander nur deshalb wie selbstverständlich als gültig ansehen können, weil sie sich über die Möglichkeit eines notwendigen Konflikts zwischen beiden gar nicht wirklich Klarheit verschafft hätten und statt

60 Kelsen, Hauptprobleme, S. 8. Vgl. auch ders. (1968): „Über die Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode“ (Vortrag 1911). In: H. Klecatsky/R. Marcic/H. Schambeck: Die Wiener rechtstheoretische Schule. Schriften von Hans Kelsen, Adolf Merkl, Alfred Verdross, Band I. Wien, S. 3–36, hier S. 6. 61 Kelsen, Hauptprobleme, S. 57–63; auch die Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Schüler Fritz Sander betrifft diesen Punkt; in ähnlicher Weise setzt sich Kelsen, die Kluft zwischen Sein und Sollen betonend, mit den unzureichenden Versuchen Rickerts und den von diesem beeinflussten Überlegungen Lasks und Radbruchs auseinander, die Rechtswissenschaft in die Nähe der (empirischen, auf einen besonderen Teil der seienden Wirklichkeit bezogenen) Kulturwissenschaften zu rücken; vgl. etwa Kelsens zuerst in Schmollers Jahrbuch 1916 erschienen Aufsatz „Die Rechtswissenschaft als Norm- oder als Kulturwissenschaft. Eine methodenkritische Untersuchung“, abgedruckt in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, ebd., S. 37–93. 62 Kelsen, Hans (1928): „Die philosophischen Grundlagen des Naturrechts und des Rechtspositivismus“. In: Kant-Gesellschaft (Hrsg.): Philosophische Vorträge. Charlottenburg. Wieder abgedr. in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, a.a.O., Band I, S. 281–350, hier S. 284; vgl. auch S. 349. 63 Ebd., S. 308.

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dessen das Naturrecht immer nur als (Schein)-Rechtfertigung von als gültig betrachteter positiver Normen gebraucht hätten.64 Revolutionären Charakter will Kelsen allenfalls Rousseaus Rechts- und Staatstheorie, dieser „besonderen Richtung innerhalb der jahrtausend alten Strömung“ zugestehen, freilich sei er auch bei ihr „durchaus nicht so eindeutig gegeben“.65 Dagegen bescheinigt er Kants „Naturrechtstheorie des optimistischorientierten metaphysischen Dualismus“, dass sie recht nahe „an eine positivistische Rechts- und Staatslehre heranreicht“ und dass es „jener ebenso wie dieser vor allem auf die Geltung der positiven Rechtsordnung und auf die Autorität der staatlichen Gewalten“ ankomme.66 Aber zum einen habe Kants praktische Philosophie „seine transzendentale Methode verlassen“ und sei „als Rechtsphilosoph in den ausgetretenen Gleisen der Naturrechtslehre geblieben“, zum anderen verzichte sie nicht auf eine absolute Begründung in einem metaphysischen Dualismus, so dass man bei dem „Alles-Zermalmer“ der Metaphysik leider „vergeblich nach einem offenen und rückhaltlosen Bekenntnis zum Relativismus suchen“ werde.67 Das oberflächliche Beiseiteschieben der Kantischen Rechtslehre ist nur verständlich, wenn andere, die Neukantianer im engeren Sinne, das Geschäft des Missverstehens und Beiseiteschiebens bequemer Weise schon besorgt haben. Kelsens ‚Kantianismus‘ reduziert sich auf eine vermeintliche Orientierung an der „Kritik der reinen Vernunft“ zu einer „Erkenntnistheorie der wissenschaftlichen Weltanschauung“68, die ihn in demselben Aufsatz seine eigene Theorie der Grundnorm „am besten als transzendentallogisches Naturrecht“ charakterisieren“ läßt.69 – Ein solcher Titel klingt an sich vielversprechend, denn warum sollten transzendentale Bedingungen des Rechts überhaupt nicht eben das sein, was Recht beanspruchende Handlungen und Entscheidungen, Sätze und Gesetze wahrhaft zu Recht macht? Aber kann man transzendentale Bedingungen des Rechts ermitteln, wenn man Recht bloß als Zwangsordnung, mithin durch das Mittel seiner Durchsetzung definiert? Müsste man nicht wissen, was, welche Ordnung, da durchgesetzt werden soll – oder noch elementarer: welches Problem durch diese Ordnung gelöst werden soll? – Eine Auseinandersetzung mit irgendeinem Satz der Kantischen Rechtsphilosophie wird man in solchen Überlegungen umsonst suchen – immerhin hätten sich doch die Definition, das Prinzip und das allgemeine Gesetz des Rechts samt der Folgerung auf die rechtliche Zwangsbefugnis dazu angeboten. – Welches sind nun die Hauptgedanken von Kelsens „Reine Rechtslehre“ in ihrer endgültigen Fassung?

64 Vgl. ebd., S. 310–312; vgl. auch Kelsens Auseinandersetzung mit Karl Magnus Bergbohms konservativer Kritik der Naturrechtslehre (Jurisprudenz und Rechtsphilosophie, 1892) in dem Aufsatz „Naturrecht und positives Recht“, in: Die Wiener rechtstheoretische Schule, a.a.O., Band I, S. 215–244, insbes. S. 237–244: Bergbohm nehme das, was in den Natuurrechtslehren nur Schein sei (ihren revolutionären Charakter), „für den wahren und eigentlichen Kern“, den beabsichtigten Effekt aber (die Legitimierung des positiven Rechts, die Stützung von Thron und Altar) für eine Maske. 65 Vgl. ebd., S. 313 f. 66 Vgl. ebd., S. 348 f. 67 Vgl. ebd., S. 349. 68 Vgl. ebd., S. 335 69 Vgl. ebd., S. 339.

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Grundnorm, Rechtsgemeinschaft und ‚Räuberbande‘ Die „Reine Rechtslehre“70 Hans Kelsens ist wohl die am konsequentesten und klarsten durchgeführte positivistische Rechtstheorie. Kelsen erklärt in dem folgenden Textstück die logischen Voraussetzungen rechtlicher Geltung. Es unterscheidet den ‚normativen‘ oder objektiven ‚Sinn‘ von Rechtsakten und Rechtssätzen und damit das rechtlich gültige ‚Sollen‘, von dem ‚Sollen‘ in einem bloß ‚subjektiven Sinn‘, das zu jedem Befehls-Satz als bloßer Willensäußerung des Sprechers gehört. Unter Bezugnahme auf eine Stelle bei Augustinus71 schreibt Kelsen: „Auch der Akt eines Straßenräubers, der jemandem unter Androhung irgendwelcher Übel befiehlt, ihm sein Geld auszuliefern, hat [...] den subjektiven Sinn eines Sollens. [...] In dieser Hinsicht, das heißt: insoweit nur der subjektive Sinn der in Frage stehenden Akte in Betracht kommt, besteht kein Unterschied zwischen der Beschreibung des Befehls eines Straßenräubers und der Beschreibung des Befehls eines Rechtsorgans. Ein Unterschied kommt erst dann zum Ausdruck, wenn nicht der subjektive, sondern der objektive Sinn des Befehls beschrieben wird, den das eine Individuum an das andere richtet. Dann legen wir dem Befehl des Rechtsorgans, nicht aber dem des Straßenräubers den objektiven Sinn einer den Adressaten bindenden Norm bei. Das heißt: wir deuten den Befehl des einen, nicht aber den Befehl des anderen als eine objektiv gültige Norm. [....] Was ist der Geltungsgrund der Norm, die wir als den objektiven Sinn dieses Aktes ansehen? Das ist die entscheidende Frage.“72

Kelsen analysiert nun den Fall der Hinrichtung eines Verbrechers. Im Unterschied zu einem etwa von der Räuberbande begangenen Mord setzt die Hinrichtung als Rechtsakt des Rechtsorgans Scharfrichter nach Kelsen drei Ebenen (3 bis 1) von Normen, normsetzenden Rechtsakten und Rechtsorganen voraus. Diese Ebenen beruhen aber ihrerseits auf einer nicht mehr durch einen Rechtsakt eines Rechtsorgans gesetzten, sondern nur noch logisch vorausgesetzten Norm (0):

0

Rechtsorgan

Rechtsakt

Norm (in Anführung vereinfachte Formulierung)





Grundnorm einer Rechtordnung „Man soll sich der tatsächlich gesetzten und wirksamen Verfassung gemäß verhalten.“

Verfassungsgebung

Verfassungsbestimmungen als Norm für die Gesetzgebung „Gesetze werden vom Parlament mit einfacher Mehrheit beschlossen.“

1 Verfassungsgebende Autorität

70 Kelsen, Hans (1934): Reine Rechtslehre. Leipzig und Wien (2. Aufl.: Wien 1960); wir zitieren die 2. Aufl. als RR. 71 Kelsen bezieht sich hier ausdrücklich auf Augustinus zurück: „Das Problem des Unterschiedes zwischen dem Staat als einer Rechtsgemeinschaft und einer Räuberbande wirft Augustinus in seiner Civitas Dei, IV, 4, auf.“ (RR, S. 46, Fußnote). 72 RR, S. 46 f.

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2

Gesetzge bungsorgan

Gesetzgebung

Gesetz als generelle Norm für Gerichtsurteile „Wer Hochverrat begeht, ist mit dem Tode zu bestrafen.“

3

Gericht

Verurteilung

Urteil als individuelle Norm für Vollstreckungen „Der Angeklagte ist als Hochverräter mit dem Tode zu bestrafen.“

Hinrichtung

(Normgemäße Strafe)

4 Scharfrichter

Diese Tabelle enthält eine ‚Unstimmigkeit‘, die uns auf Probleme aufmerksam machen kann.: das Fehlen eines ‚Rechtsorgans‘ und eines ‚Rechtsaktes‘ auf der ‚Null-Stufe‘ markiert den Unterschied zwischen den gesetzten Normen und einer nur noch gedanklich vorausgesetzten Norm: Sie ist „[...] vorausgesetzt, wenn der in Frage stehende Akt als verfassungsgebender Akt und die auf Grund dieser Verfassung gesetzten Akte als Rechtsakte gedeutet werden. Diese Voraussetzung festzustellen, ist eine wesentliche Funktion der Rechtswissenschaft. In dieser Voraussetzung liegt der letzte, aber seinem Wesen nach nur bedingte und in diesem Sinne hypothetische Geltungsgrund der Rechtsordnung.“73

Wenn man sich fragt, warum die Grundnorm vorausgesetzt wird und von wem, so scheint die zitierte Passage die Antwort zu geben: die Rechtswissenschaft stellt die Voraussetzung fest. Wie kann sie das tun und warum stellt sie diese Voraussetzung bei einer Rechtsordnung fest, aber im allgemeinen nicht bei den Befehlen einer Räuberbande, die ja auch ihre innere ‚Ordnung‘ haben könnte? Die Antwort auf diese Frage ist in der Rede von dem ‚nur bedingten‘ und ‚hypothetischen‘ Geltungsgrund schon angedeutet verweist auf die beiden Bestimmungen, welche die Verfassung als Bedingungen auszeichnen sollen: Der tatsächlich gesetzten und wirksamen Verfassung gemäß soll man sich verhalten. Explizit verdeutlicht wird diese Antwort durch einen ‚praktischen Syllogismus‘: „In dem die Geltung einer Rechtsordnung begründenden normativen Syllogismus bildet der die Grundnorm aussagende Soll-Satz: Man soll sich der tatsächlich gesetzten und wirksamen Verfassung gemäß verhalten, den Obersatz; der die Tatsache aussagende Seins-Satz: die Verfassung wurde tatsächlich gesetzt und ist wirksam, das heißt: die ihr gemäß gesetzten Normen werden im großen und ganzen angewendet und befolgt, den Untersatz; und der SollSatz: man soll sich der Rechtsordnung gemäß verhalten, das heißt: die Rechtsordnung gilt, den Schlußsatz.“74

Das zunächst Vorzügliche an dieser Erklärung ist, dass sie deutlich macht, dass der Sollsatz nicht etwa durch einen Seinssatz ersetzbar ist, sondern den unerlässlichen normativ-praktischen Obersatz eines Schlusses bildet: „Der Geltungsgrund einer Norm kann nur die Geltung einer anderen Norm sein.“ macht Kelsen uns 73 RR, S. 46 f. 74 RR, S. 219.

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klar.75 – Das Erstaunliche aber an diesem Obersatz ist dies, daß er als Geltungsbedingung des Sollens nichts außer den beiden Seins-Bedingungen (a) tatsächliches Gesetztsein (‚Legitimität‘ genannt) und (b) ‚Wirksamkeit‘ (‚Effektivität‘) enthält, diejenigen Seinsvoraussetzungen, die im Untersatz dann als tatsächlich gegeben festgestellt werden. Daraus läßt sich nun zwar verstehen, warum eine solche Grundnorm (genauer: der Schlußsatz des Syllogismus) bei der ‚Zwangsordnung‘ selbst einer gut organisierten Räuberbande im allgemeinen nicht vorausgesetzt wird: „Sie wird nicht vorausgesetzt, weil – oder richtiger – wenn diese Ordnung nicht jene dauernde Wirksamkeit hat [...]. Sie hat diese Wirksamkeit offenbar nicht, wenn [...] die als Rechtsordnung angesehene Zwangsordnung wirksamer ist als die die Räuberbande konstituierende Zwangsordnung.“76

Aber andernfalls, wenn die Räuberbande in einem bestimmten Gebiet eine wirksamere Zwangsordnung etabliert, „kann sie als Rechtsordnung und die durch sie konstituierte Gemeinschaft sehr wohl als ‚Staat‘ betrachtet werden, auch wenn dieser nach außen eine – nach positivem Völkerrecht – verbrecherische Tätigkeit entfaltet. Das beweist die Existenz der sogenannten SeeräuberStaaten an der Nordwestküste Afrikas (Algier, Tunis, Tripolis), deren Schiffe vom 16. bis zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch Piraterie das Mittelmeer unsicher machten.“77

Warum jedoch sollte jene, auf die Bedingungen des ‚Gesetztseins‘ und der ‚Wirksamkeit‘ sich beschränkende Grundnorm gelten? Die Antwort lautet schlicht: Für die Geltung der Grundnorm selbst gibt es überhaupt keinen Grund. – Aber sagte Kelsen nicht, es sei die wesentliche Funktion der Rechtswissenschaft, diese Voraussetzung ‚festzustellen‘. Was genau heißt das eigentlich? – Kann es die Aufgabe der Rechtswissenschaft sein, das tatsächliche Gegebensein jener empirischen Bedingungen festzustellen, die in der Grundnorm genannt sind, und also zu einer soziologischen Disziplin zu werden? Das würde dem Kelsenschen Ansatz widersprechen. Die Rechtswissenschaft, verstanden jedenfalls als reine Rechtslehre, hat vielmehr festzustellen, dass dies und nichts anderes der (hypothetische) Geltungsgrund der Rechtsordnung ist. – Warum? Eine boshafte Antwort würde lauten: weil die Rechtswissenschaft ohne diese Voraussetzung nichts zu tun hätte, weil sie es nämlich keinen Gegenstand hätte. Etwas vornehmer gesagt: weil diese Voraussetzung die Bedingungen der Möglichkeit der Rechtswissenschaft ist. Denn die Rechtswissenschaft hat ja eben dies zu tun: explizite und implizite Äußerungen von Sollenssätzen als Rechtakte zu deuten. So sagt denn auch Kelsen später: Die Grundnorm ist die „transzendental-logische Voraussetzung“ dafür, dass wir den „subjektiven Sinn des verfassungsgebenden Aktes und der Verfassungsgemäß gesetzten Akte als deren objektiven Sinn, das heißt als objektiv gültige Rechtsnormen [...] deuten“.78 Es geht also um die ‚transzendentale‘ Bedingung einer wissenschaftlichen Deutungsaufgabe (im Sinne der neukantianischen Wissenschaftstheorie).

75 76 77 78

Ebd., S. 196. RR, S. 49. RR, S. 49. RR, S. 204.

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Aber mit dieser ‚transzendentalen‘ Begründung scheint sich, sozusagen unter der Hand, eine ganz andere zu Begründung zu verknüpfen: „Die Funktion der Grundnorm ist: die objektive Geltung einer positiven Rechtsordnung [...] zu begründen“.79 Versteht man diesen Satz so, wie ein Rechtsunterworfener ihn verstehen muss: dass er nämlich begründeterweise verpflichtet sei, dann wird aus der transzendentalen Bedingung einer wissenschaftlichen Deutung ein ‚realer‘, praktische Notwendigkeit mit sich führender Verpflichtungsgrund. – Aber das kann ein hypothetischer, bloße Seins-Bedingungen enthaltender Geltungsgrund nach der Logik praktischer Schlüsse gar nicht leisten. Die Grundnorm begründet in der Funktion als „transzendentale Voraussetzung“ keineswegs die objektive Geltung einer positiven Rechtsordnung, sondern nur deren wissenschaftliche Deutung und es fehlt jeder Grund dafür, dass die potentiellen Rechtsunterworfenen sich um diese wissenschaftliche Deutung überhupt scheren sollten. Die Konsequenz des Kelsenschen Rechtsbegriffs ist der bloß hypothetische Charakter nicht nur der Grundnorm. Aber er ist dessen Konsequenz, weil der Rechtsbegriff in allem, was über ein Machtverhältnis hinausgehen könnte, vollkommen leer ist. Kelsen stellt denn auch bei der Erläuterung des ‚dynamischen‘ Charakters der Grundnorm fest: „Daher kann jeder beliebige Inhalt Recht sein. Es gibt kein menschliches Verhalten, das als solches, kraft seines Gehalts, ausgeschlossen wäre, Inhalt einer Rechtsnorm zu sein.“80

Aber die Grundnorm ist schon strukturell eine leere Norm, eine Schein-Norm, weil sie sich auf ein ‚man‘, ein Menge von Menschen, bezieht, als seien diese schon Rechts-Unterworfene, obwohl von einem ‚Recht‘ und also einer ‚Pflicht‘ der Unterworfenen an dieser Stelle der logischen Ableitung noch gar keine Rede ist und sein kann, wenn sozusagen der Platz des ‚Rechtsorgans‘ und des entsprechenden ‚Rechtsaktes‘ schlechthin leer bleibt. Man könnte sich daher beim Blick auf die obige Tabelle fragen, ob man nicht doch in der ersten Zeile ein Rechtsorgan braucht, das die Autorität hätte, den Rechtsgehorsam einzufordern. Die Frage verweist zugleich auf die Stellung der Rechtsunterworfenen, die in dem Schema sozusagen als bloße Objekte der Rechtssätze vernachlässigt werden. Warum sollten sie sich eine Verfassungsgebung ‚gefallen lassen‘, wenn sie nicht schon in irgendeiner Weise der Grundnorm einer solchen Verfassung zustimmen können müssten? Dann aber kann die Verfassung nicht mehr beliebig sein. In unserer schematischen Darstellung der Normen-Hierarchie müssen wir nur die Spalte der von den Normen und Rechtsakten Betroffenen ergänzen, um zu sehen, dass sich an allen Stellen dieser Hierarchie die Frage stellt, warum die Rechtsunterworfenen sich unterwerfen sollen – und nicht bloß faktisch, nur der drohenden Gewalt gehorchend, also normlogisch zufällig sich unterwerfen. Selbst der Hinzurichtende müsste, wenn die Logik des Schemas plausibel sein soll, ein ‚Recht‘ darauf haben, eine normgemäße, d. h. rechtmäßige Strafe zu erleiden und 79 RR, S. 205. 80 RR, S. 201; ‚dynamisch’ nennt Kelsen Normsysteme, deren Grundnorm nur „die Einsetzung eines normerzeugenden Tatbestandes, die Ermächtigung einer normsetzenden Autorität“ beinhaltet; statisch dagegen solche, die „kraft ihres Inhaltes“ ein Verhalten als gesollt ansehen (vgl. RR, 198 f.).

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nicht einfach einen gewaltsamen Tod. Das heißt: er müsste Grund haben können, die Sträflichkeit seiner Tat anzuerkennen. Letztlich heißt das: da schon auf der ‚Nullstufe‘ des normativen Schemas der normative Bezug der Grundnorm zu ihren Adressaten unmöglich ist, wenn der Platz des ‚Rechtsorgans‘ und des entsprechenden ‚Rechtsaktes‘ schlechthin leer bleibt, fehlt auch auf allen weiteren Stufen eine logische Differenz zwischen Sein und Sollen. Wer aus der Geschichte der neuzeitlichen Rechtsphilosophie das Mindeste zur Ausfüllung dieser Leerstelle entnehmen wollte, müsste sagen: Das Rechtsorgan und dessen Rechtsakte müssen etwas sein, das in einem bestimmten Sinne von allen Adressaten anzuerkennen ist, weil es von ihnen selbst, genauer von ihrem eigenen Willen nicht abtrennbar ist. Die neuzeitliche Tradition hat diesen Rechtsakt in die Metapher vom ursprünglichen Vertrag gekleidet, dessen Kontrahenten alle potentiellen Adressaten rechtlicher Normen sind. Deshalb können die Normen, mit Rousseau gesprochen, als Ausdruck eines „allgemeinen Willens“ gelten, der dann eben nicht mehr Beliebiges enthalten kann.81 Kelsens Position, dass „jeder beliebige Inhalt Recht sein“ könne82, ist auch dem alltäglichen Rechtsverständnis so fremd, dass man sich fragt, wie Kelsen selbst, der ja kein Verteidiger der Tyrannei sein wollte83, sie gegenüber diesem Alltagsverständnis einnehmen konnte. Eine Antwort auf diese Frage scheint in seiner Argumentation mit der Vieldeutigkeit des Terminus „Gerechtigkeit“ zu liegen. Kelsen weist nämlich mit der folgenden Begründung die Anschauung ab, das Recht sei „eine gerechte Zwangsordnung“ und unterscheide „sich somit durch die Gerechtigkeit seines Inhalts von der Zwangsordnung einer Räuberbande“: „Daß Gerechtigkeit kein das Recht von anderen Zwangsordnungen unterscheidendes Merkmal sein kann, ergibt sich aus dem relativen Charakter des Werturteiles, demzufolge eine Gesellschaftsordnung gerecht ist.“84

Als Beleg für diese Relativität führt Kelsen zunächst die Gerechtigkeitskonzeption des Augustinus an, wonach gerecht nur ein Staat sein könne, der dem wahren (christlichen) Gott Verehrung zukommen lasse. Danach könne das Römische Reich überhaupt „kein Staat, sondern nur eine Räuberbande sein. Damit ist dem römischen Recht der Rechtscharakter abgesprochen. Wird Gerechtigkeit als Kriterium der als Recht zu bezeichnenden normativen Ordnung angenommen, dann sind die kapitalistischen Zwangsordnungen der westlichen Welt, vom Standpunkt des kommunistischen Gerechtigkeitsideals, und die kommunistische Zwangsordnung der Sowjetunion, vom Standpunkt des kapitalistischen Gerechtigkeitsideals, kein Recht. Ein zu solcher Konsequenz führender Begriff des Rechts kann von einer positivistischen Rechtswissenschaft nicht akzeptiert werden.“85

81 Die Idee a priori des allgemeinen Willens ist dann nach Kants Weiterentwicklung des Gedankens schon vor aller faktischen Vereinigung der Grund aller besonderen Rechte, denn diese Idee beruht auf dem Begriff des Rechts überhaupt und fordert zu dessen Bestimmung und Sicherung eben diese Vereinigung (vgl. z. B. ZeF, AA VIII: 378; RL, AA VI: 250; 306). 82 RR, S. 201. 83 Kelsen hat die Verfassung der Ersten Österreichischen Republik maßgeblich beeinflusst, ja insgesamt entworfen und musste später nach Amerika auswandern; er ist persönlich für Freiheit, Toleranz und Demokratie eingetreten. 84 RR, S. 50. 85 RR, S. 50 f.

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Diese Argumentation zieht ihre Plausibilität aus der Gegenüberstellung eines formalistisch (im Vorgriff auf eine spätere Theoriebildung könnte man sagen: systemtheoretisch) definierten Rechtsbegriffs auf der einen und einem (dann konsequenterweise) an keinen Rechtsbegriff zurückgebundenen, als weltanschauliche, insbes. (ideologisch-)politische Wertvariable fungierenden Gerechtigkeitsbegriff auf der anderen Seite. Diese Gegenüberstellung verdeckt sowohl die Möglichkeit, im Rechtsbegriff die Antwort auf ein bestimmtes Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens zu denken (das der wechselseitigen Freiheitseinschränkung von Handlungssubjekten) als auch die Möglichkeit, einen Gerechtigkeitsbegriff zumindest auf dem Boden einer Antwort auf jenes Grundproblem zu konzipieren, sei dessen politische Ausgestaltung auch noch so variabel. Die Gegenüberstellung eines problemvergessenen Rechtsbegriffs und eines rechtsbodenlosen Gerechtigkeitsbegriffs verfehlt von vornherein die Möglichkeit einer rechtlichen und politischen Vernunft. So ist denn auch der Gedanke einer „normsetzenden Vernunft“ für Kelsen „unhaltbar, da die Funktion der Vernunft Erkennen, nicht Wollen ist, die Setzung von Normen aber ein Akt des Willens ist“.86 Das ist nichts anderes als die empiristische Antwort David Humes, der freilich, anders als Kelsen, von den Kantischen Gedanken einer reinen praktischen und einer rechtlich-praktischen Vernunft noch nichts wissen konnte. Rechtsphilosophie im südwestdeutschen Neukantianismus Wenn man die Radbruchformel und ihre Vorgeschichte in Radbruchs eigener Rechtsphilosophie verstehen will, muss man auch einen Blick auf die südwestdeutschen Neukantianer werfen, welche allerdings die Rechtsphilosophie noch weniger als die Marburger ins Zentrum ihrer Bemühungen gestellt haben.87 Zwar hat Radbruch gerade von Windelband und Rickert manche Anregungen, insbesondere im Hinblick auf die Unterscheidung zwischen Sein und Sollen, Wirklichkeit und Wert, übernommen, aber einen eigenen rechtsphilosophischen Ansatz, mit dem sich auch Kelsen auseinandersetzte, fand er allenfalls in dem knappen rechtsphilosophischen Abhandlung des Rickert-Schülers Emil Lask. 86 RR, S. 198. 87 Rickert würdigt in seiner Abhandlung zum Kant-Jubiläum von 1924 „Kant als Philosoph der modernen Kultur“ die Kantische Rechtsphilosophie mit keinem Wort; die Ethik des kategorischen Imperativs ist ihm allzu „rationalistisch“ (vgl. Rickert, Heinrich (1924): Kant als Philosoph der modernen Kultur. Ein geschichtsphilosophischer Versuch. Tübingen, S. 178). Zwar gesteht er Kant noch zu: „Schon seinen Formulierungen des ‚kategorischen Imperativs’, so unvollkommen sie in mancher Hinsicht sein mögen, tritt das soziale Moment zutage, und die Tendenz zur Anerkennung sozialer Eigenwerte wird deutlich.“ (ebd., S. 173); aber „[...] die Sittlichkeit läßt sich überhaupt nicht restlos in allgemeine Grundsätze oder in rational geordnete Pflichtmäßigkeit des Willens auflösen. Das verengert ihren Begriff für das moderne Bewußtsein in unzulässiger Weise. Wir können unter Umständen, auch ohne daß wir uns dem Pflichtbewußtsein unterordnen, ‚frei’ von jedem Gehorsam gegen ein Sollen, eminent sittlich sein.“ (ebd., S. 177) – Gegen die Rationalität führt Rickert die „christliche Liebe“ ins Feld: „Daher vermag eine nur rationalistische Ethik wie die Kants das tätige Leben niemals erschöpfend zu würdigen. Völlig irrationale, aus dem Christentum stammende Momente sind in ihm unter Umständen geradezu entscheidend.“ (ebd., S. 178)

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Emil Lask Die mit dem Titel „Rechtsphilosophie“ überschriebene Abhandlung Emil Lasks ist ihrem hauptsächlichen Inhalt nach eher eine Darstellung des Forschungsstandes aus der Perspektive der Rickertschen Wertlehre als eine eigene rechtsphilosophische Darlegung. Seine eigene Position ist nicht ganz leicht zu erkennen, aber er entwickelt bestimmte Unterscheidungen von Positionen, denen gegenüber er eine Distanz zeigt, die von vornherein einen werttheoretischen Relativismus nahelegen. Eindeutig ablehnend steht auch er dem Naturrecht, sofern es in Konkurrenz zum positiven Recht treten könnte, und dem Rechts-Historismus, sofern er die „Nivellierung aller Werte“ führt. „Naturrecht und Historismus sind die beiden Klippen, vor denen die Rechtsphilosophie sich hüten muß.“88 Diese beiden Klippen seien zu vermeiden durch die „Auseinanderhaltung von Wert und empirischem Wertsubstrat“, woraus „der Dualismus philosophischer und empirischer Methode“ folge.89 Seine Darstellung der zu zeitgenössischen rechtsphilosophischen Richtungen beginnt Lask mit dem Satz: „Den Ausgangspunkt aller neueren rechtsphilosophischen Spekulation bildet die auch von Kant angenommene Begriffsbestimmung, daß das Recht die äußere Regulierung menschlichen Verhaltens zur Erreichung eines inhaltlich wertvollen Zustandes sei.“90

Ob Kant in dieser Formulierung, die vage genug dessen Rechtsphilosophie wertphilosophisch eingemeindet, seine eigene Begriffsbestimmung wiedererkannt hätte, muss man bezweifeln. Denn wenn der „inhaltlich wertvolle Zustand“ einfach er Rechtszustand wäre, handelte es sich um eine Zirkeldefinition; ist er etwas anderes, dann wird das Recht durch einen materialen Zweck definiert, was durch die Kantische Rechtslehre a limine ausgeschlossen ist. – Unter dem werttheoretischen Dach unterscheidet Lask sodann zwei Hauptrichtungen, die zugleich mit den Namen Kant und Hegel in Beziehung gesetzt werden, den personalen oder individualistischen und den transpersonalen oder sozialen (kollektivistischen) Werttypus. Die beiden Typen scheinen für Lask zunächst gleichberechtigt nebeneinanderzustehen.91 Da das Recht „zweifellos in den Bereich der ‚sozialen‘ Institutionen“ gehört, ergibt sich für Lask eine gewisser Vorzug des sozialen ‚Werttypus‘: Denn nur wenn „dem Werttypus des Sozialen eine selbständige Stelle in einem umfassenden Wertsystem gebührt, ist das Recht „nicht mehr bloß Mittel, sondern gleichzeitig Mitglied oder Bestandteil in einem gegliederten Bau des ‚objektiven Geistes‘“.92 Stammler dient Lask als „Musterbeispiel eines rechtsphilosophischen Kantianismus“, der vor allem als Individualismus charakterisiert wird, in welchem das Recht „seiner sozialen Struktur nach gänzlich aus der Wertsphäre herausfallen“ müsse und „nur als selbst empirische Maschinerie zur Erhaltung überempirischer 88 Lask, Emil (1924): „Rechtsphilosophie (1905)“. In: Gesammelte Schriften, hrsg. v. Eugen Herrigel, Band I, S. 291. 89 Ebd., S. 280. 90 Ebd., S. 292. 91 Vgl. ebd., 292 f. 92 Vgl. Ebd., S. 293 u. 292.

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Freiheitszwecke begriffen werden“ könne. Allerdings habe bei Kant (anders als bei dem konsequenteren Fichte) auch „das Recht selbst an der Heiligkeit der Zwecke Anteil, denen es dient“. Insofern lasse Kants „Auflösung aller empirischen Rechtsverhältnisse und Rechtsinstitute in lauter intelligible Freiheitsbeziehungen sich schwer mit der gleichzeitigen Behauptung der Äußerlichkeit des Rechts in Einklang bringen“. Lask will, so kann man gelegentlich in die Darstellung der verschiedenen Richtungen eingestreuten Bemerkungen entnehmen, eine kritische Wertlehre des Rechts entwickeln, in der Gerechtigkeit als absoluter, aber nur formaler, inhaltlich nicht einheitlich bestimmbarer, Rechtswert fungiert.93 Sie ist für sich genommen eine ‚inhaltsleere‘ Idee; es wäre daher „vergeblich, eine einheitliche Definition der Gerechtigkeit versuchen zu wollen. Denn da dieser Terminus einfach die Absolutheit und Apriorität des Rechts als solche aussagen will, so sind in ihm all die Anforderungen zusammengedrängt, die nach den verschiedenen Weltanschauungen an das Recht gestellt werden.“94

Worin nun die Absolutheit des Rechtswertes besteht, ist nicht leicht erkennbar, sie ist jedenfalls nichts Inhaltliches: Sie besteht, wie G. Mohr, wohl auch im Vorgriff auf Radbruchs spätere Erläuterungen, zusammenfasst, „darin, dass Gerechtigkeit (a) genau derjenige Wert ist, auf den abzweckt, wer überhaupt Recht erzeugen und pflegen will, (b) nicht aus einer höheren Norm, der Moral oder des Naturrechts, abgeleitet, sondern selbst höchster, eigener Wert ist und (c) nicht induktiv aus empirischen Rechtssystemen hergeleitet werden kann, wenn gleich sie nur in diesen jeweils inhaltlich bestimmt ist.“95 – Man sieht sogleich, dass eine solche Konzeption, wenn es um einen Begriff des Rechts (und Unrechts) geht, kaum brauchbar ist. Brauchbar ist sie nur als Variable in der Beschreibung von absolut gemeinten Zielvorstellungen gesellschaftspolitischer Weltanschauungen oder Ideologien. Selbst wenn diese als Modifikationen des Rechts verstanden werden können, trägt die Variable nichts zum Begriff des Rechts bei, setzt einen solchen vielmehr voraus. Enthält der vorausgesetzte Begriff jedoch nichts Inhaltliches, dann reduziert er sich auf den positivistischen Begriff der autoritär gesetzten, effektiven Norm und aller (Rechts-)Wert ist eine Funktion autoritativen, also letztlich subjektiven Beliebens: gerade das, was eine Wertphilosophie zu vermeiden verspricht. Gustav Radbruchs Rechtsphilosophie Gustav Radbruch nun, der schon zu Anfang seiner Rechtsphilosophie seine Zugehörigkeit zum südwestdeutschen Neukantianismus hervorhebt, knüpft nach

93 So interpretiert auch Georg Mohr die Tendenz der wenigen Hinweise Lasks auf seine eigene Position, vgl. Mohr, G. (2002): „Was kann eine Theorie der Rechtskultur vom Neukantianismus lernen? Zu Emil Lasks Rechtsphilosophie“. In: R. Alexy/S. L. Paulson/G. Sprenger: Neukantianismus und Rechtsphilosophie. Baden-Baden, S. 119. 94 Vgl. Lask, a.a.O., S. 303. 95 Mohr, a.a.O., S. 119 f.

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eigenem Bekunden an den Lask’schen Entwurf an.96 So bringt Radbruch auch Lasks Verknüpfung des Rechtsbegriffs mit dem Ziel der Gerechtigkeit auf die einprägsame Formel: „Recht ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, der Gerechtigkeit zu dienen.“97 Man wird Gustav Radbruch auch in seiner frühen Phase nicht ohne Vorbehalte einen Rechtspositivisten nennen können. Schon in der frühen Fassung des Hauptwerks, Grundzüge der Rechtsphilosophie (1914), unterscheidet Radbruch zwischen der rechtsphilosophischen und der juristischen Geltungslehre. Die erstere frage durchaus, „geht Rechtssicherheit vor Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit vor Rechtssicherheit?“ und könne das nur „von Fall zu Fall“ entscheiden, je nachdem, ob dem beiden Gesichtspunkten zugrundeliegenden Rechtszweck, der Gerechtigkeit in einem umfassenderen Sinne, mehr gedient sei: „Die rechtsphilosophische Geltungslehre spricht also ungerechtem positivem Rechte unter Umständen die Geltung ab; die juristische Geltungslehre dagegen vermochte dem positiven Recht die Geltung niemals zu versagen.“98

Dabei hat aber die juristische Geltungslehre, als wissenschaftsfundierende Theorie, wiewohl von der soziologischen Analyse unterschieden, nur eine rein theoretische Funktion: sie klärt den Sinn der Rechtssätze.99 Die „schlechthinnige Geltung des positiven Rechts ist [...] nur positivrechtliche Wahrheit, der wahre Sinn des positiven Rechts, aber darum noch nicht die Wahrheit“.100 Hier unterscheidet sich Radbruch deutlich von Kelsen. Nicht einmal die Gesetzesgebundenheit des Richterstandes beruht nach Radbruch auf der positivrechtlichen Wahrheit, vielmehr ist es der Richtereid und die ihm zugrundeliegende Ethik, die den Richter auf unbedingte Gesetzestreue verpflichtet. Über die praktische, „wirkliche, nicht nur von ihr selbst vorgegebene Verbindlichkeit der Rechtsordnung handelt ausschließlich die philosophische Geltungstheorie“.101 Die Gleichheit gilt Radbruch schließlich in seiner spätern Fassung der Rechtsphilosophie (1932) als ein Hauptmerkmal der Gerechtigkeit, jenseits allen Parteienstreits.102 Das ist schon mehr als jener Lasksche ‚Variablen‘-Begriff für gesellschaftspolitische Zielsetzungen. Eine solche Variable gibt es auch bei Radbruch, er bringt sie in der Auflage von 1932 aber unter einem anderen Titel. Der Begriff des Rechts lässt sich danach nämlich nicht auf den der Gerechtigkeit reduzieren, das Recht „ist die Wirklichkeit, die den Sinn hat, dem Rechtswerte, der Rechtsidee zu dienen.“ Und diese Rechtsidee enthält neben der Gerechtigkeit zwei weitere Bestandteile: die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit und alle drei Elemente stehen zueinander in einem Spannungsverhältnis. Die gesellschaftspolitische Variable dabei ist der Begriff der Zweckmäßigkeit, womit nicht etwa 96 Radbruch, Gustav (22003): Rechtsphilosophie (Fassung von 1932), Studienausgabe, hrsg. v. R Dreier u. St. L. Paulson, Heidelberg; vgl. S. 8, wo Radbruch auf Windelband und Rickert verweist und betont: „insbesondere ist Lasks Rechtsphilosophie [...] für diese Ausführungen und dieses Buch wegweisend geworden“. 97 Rechtsphilosophie, S. 123. 98 Radbruch, Gustav (1914): Grundzüge der Rechtsphilosophie, Leipzig, S. 178. 99 Vgl. ebd., S. 179 f. 100 Ebd., S. 180. 101 Vgl. ebd. S. 181. 102 Vgl. Rechtsphilosophie (Studienausgabe), S. 35 u. 74.

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eine pragmatisch verstandene ‚Anwendungsfreundlichkeit‘ des Rechts gemeint ist, sondern die Bezogenheit auf als höchste Wert bevorzugte Zielvorstellungen. Radbruch unterscheidet dabei Individual-, Kollektiv- und Werkwerte, und entsprechend die die individualistische (freiheitsbezogene), die überindividualistische (nationalistische) und die transpersonale (kulturbezogene) Rechtsauffassung. Das Spannungsverhältnis zwischen den drei Elementen der Rechtsidee will Radbruch folgendermaßen aufzulösen: „Von den drei Bestandteilen der Rechtsidee gilt für die zweite, die Zweckmäßigkeit, die relativistische Selbstbescheidung. Die anderen beiden aber, Gerechtigkeit wie Rechtssicherheit, stehen über den Gegensätzen der Rechts- und Staatsauffassungen, über dem Kampf der Parteien. Daß dem Streite der Rechtsansichten ein Ende gesetzt werde, ist wichtiger als daß ihm ein gerechtes und zweckmäßiges Ende gesetzt werde, das Dasein einer Rechtsordnung wichtiger als ihre Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit, diese die zweite große Aufgabe des Rechts, die erste von allen gleichermaßen gebilligte aber die Rechtssicherheit, das heißt die Ordnung, der Friede.“103

Man sieht hier, wie die Gerechtigkeit als Gleichheitspostulat zwar aus dem Relativismus der weltanschauungs-abhängigen Wertvorstellungen herausgenommen wird, aber dann doch wieder mitsamt der ‚Zweckmäßigkeit‘ gegenüber der Rechtssicherheit hintangesetzt wird. Ja, auch die Gerechtigkeit ist offensichtlich nicht einfach ‚feststellbar‘, sie „ist immer nur Abstraktion von gegebener Ungleichheit unter einem bestimmten Gesichtspunkte“ und gerät deshalb auf der einen Seite unter die Gesichtspunkte der Zweckmäßigkeit und in deren Abhängigkeit.104 Auf der anderen Seite gerät die Gerechtigkeit um der Rechtssicherheit willen unter den Druck der notwendigen „Positivität des Rechts“. So scheint Radbruchs Position vom Positivismus des faktisch gesetzten Rechts nicht weit entfernt zu sein: „Die Sicherheit des Rechts fordert Positivität des Rechts: Wenn nicht festgestellt werden kann, was gerecht ist, so muß festgesetzt werden, was rechtens sein soll, und zwar von einer Stelle, die, was sie festsetzt, auch durchzusetzen wieder in der Lage ist.“105

Gegen die Gefahr des Positivismus versucht sich Radbruch im Text von 1932 noch durch die Reflexion auf den Begriff der Geltung abzusichern, indem er zwischen einer juristischen, einer historisch-soziologischen und einer philosophischen Geltungslehre unterscheidet. In einer rein juristischen Geltungslehre führt aller Rechtsgeltung auf die Verfassung zurück; die Verfassung selbst kann sie nur „als eine causa sui auffassen“.106 „Ja sie wäre sogar unfähig, den Imperativen eines Paranoikers, der sich König dünkt, mit zwingenden Gründen die Geltung abzusprechen. Sie kann immer nur vom Standpunkt einer

103 Ebd., S. 74 104 Vgl. ebd., S. 75; Radbruch setzt hinzu: „Unter dem Gesichtspunkt der Zweckmäßigkeit aber bleibt jede Ungleichheit wesentlich.“ – Den Grund für diese Abhängigkeit der Gleichheit von der ‚Zweckmäßigkeit’ kann man schon der Nikomachischen Ethik des Aristoteles entnehmen: Es geht um eine Proportion; die Demokraten setzen die Qualität, ein freier Bürger zu sein, als Maßstab der Proportion an, die Oligarchen den Reichtum oder die vornehme Geburt, die Aristokraten die Charaktervorzüge (vgl. NE 131a25−29). 105 Rechtsphilosophie, S. 73. 106 Vgl. ebd., S. 78 f.

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Rechtsordnung den Geltungsanspruch der anderen kritisieren [...] nicht aber aus eigener Kraft begründen, warum sie denn den Standpunkt jener Rechtsordnung einnehme.“107

Die historisch-soziologischen Geltungslehre führt in der Form einer bloßen Machttheorie die Geltung einer Rechtsordnung lediglich auf deren faktische Wirksamkeit zurück; bei einer realistischeren Beschreibung der Verhältnisse zeigt sich jedoch, dass auch die Macht auf die Anerkennung durch die Beherrschten angewiesen ist. Damit leitet die soziologische Analyse schon zur philosophischen Geltungslehre über, indem als Motiv der Anerkennung die Interessen der Rechtsunterworfenen, schließlich gar, unter Absehung von psychologischer Tatsächlichkeit, deren „wahres Interesse“ ins Spiel kommt. Der Gedanke einer philosophischen Geltungslehre des Rechts weckt jedoch bei Radbruch zunächst eine Sorge: „Führt eine solche philosophische Geltungslehre nicht notwendig zur Gleichsetzung des geltenden mit dem richtigen, des richtigen mit dem geltenden Recht, zur Gleichsetzung positiver Geltung mit absoluter Gültigkeit, zum Rückfall in die Irrlehren des Naturrechts, das unrichtigem Recht schon deshalb auch die Geltung absprach und richtigem Recht schon deshalb auch die Geltung zuerkannte?“108

Diese ‚Gefährdung‘ des positiven Rechts setzte jedoch voraus, dass „der Zweck des Rechts und die zu seiner Erreichung notwendigen Mittel wissenschaftlich deutlich erkennbar wären“, was nach Radbruch ausgeschlossen ist, denn es habe „sich als unmöglich erwiesen, die Frage nach dem Zweck des Rechts anders als durch die Aufzählung der mannigfaltigen Parteimeinungen darüber zu beantworten“. So begründe die „Unmöglichkeit eines Naturrechts [...] die Geltung des positiven Rechts“ und der Relativismus werde zum Bauglied des rechtsphilosophischen Systems.109 Freilich kann man sich fragen, warum er in seiner Argumentation für den Relativismus nur noch den variablen Rechtszweck und nicht mehr die zuvor über den Parteien angesiedelte Gerechtigkeit erwähnt. Gewiss, ganz so den strittigen Rechtszwecken entrückt, wie es zunächst schien, hielt er auch sie nicht. Aber es bleibt unklar, wie der Gerechtigkeitsbegriff von dem des Rechtszwecks abzugrenzen wäre. Radbruch kann durchaus, wenn man vom Relativismus absieht, auf die tradierte, insbesondere auch Kants Überzeugung vom Recht der ‚unwiderstehlichen Obergewalt‘ verweisen. Zwar verweist er wohl nicht ohne einen Gedanken an Kelsens zentralen Begriff auf Goethes Vers „Herr ist, der uns Ruhe schafft“ als „Grundnorm, auf der die Geltung alles positiven Rechts beruht“.110 Doch er glaubt, seine Position noch von einem Positivismus des Rechts unterscheidbar halten zu können. Dass es besser sei, dass Unrecht geschehe, als dass die Welt ohne Gesetz sei, dürfe nämlich nicht das letzte Wort der Rechtsphilosophie über die Geltungsfrage bleiben. In Fällen eines Widerstreits zwischen den drei gleichwertigen „Seiten der Rechtsidee“, Gerechtigkeit, Zweckmäßigkeit und Rechtssicherheit, gebe es „zwischen ihnen keine Entscheidung als die des Einzelgewissens“. 107 108 109 110

Ebd., S. 79. Ebd., S. 81. Vgl. ebd., S. 82. Ebd., S. 83

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Bernward Grünewald „Das Einzelgewissen wird und darf einen Verstoß gegen das positive Recht als bedenklicher einschätzen als das Opfer der eigenen Rechtsüberzeugung, aber es kann ‚Schandgesetze‘ geben, denen das Gewissen den Gehorsam verweigert.“111

Man fragt sich bei diesem Zugeständnis freilich, auf welchen Rechts-Begriff diese ‚Rechtsüberzeugung‘ sich berufen kann, wenn der Rechtsbegriff unausweichlich durch die Relativität der Zweckmäßigkeit und Nichtfeststellbarkeit Gerechtigkeit bestimmt ist. Ist das Gewissen nicht auf einen jenen Relativitäten noch vorausliegenden Begriff des Rechts angewiesen, wenn es Schandgesetze als solche erkennen können soll? So gerät Radbruchs Relativismus trotz des Versuchs, den Positivismus durch die Hinordnung des Rechts auf den Zweck der Gerechtigkeit zu vermeiden, schließlich doch zu einer Art von Quasi-Positivismus, vor dem sich die – nicht einfach ‚feststellbare‘ – Gerechtigkeit in die Nische des Einzelgewissens zurückziehen muss. Dies ist offenbar der Stand des Problems, der Radbruch nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus, angesichts der Notwendigkeit, zumindest die noch lebenden Opfer der Nazi-Justiz zu rehabilitieren, nach einer Formel suchen ließ, die solche Revisionen möglich machte. Radbruchs Positionswechsel und die Radbruchformel In der Süddeutschen Juristen-Zeitung (SJZ) veröffentlichte Radbruch 1946 einen Aufsatz, in dem er zunächst von einigen Urteilen nach 1945 berichtet, in denen NS-Unrecht korrigiert wurde. Es ging dabei um Fälle wie die Anklage wegen einer durch NS-Recht gebotene Denunziation eines Nazi-Gegners, der eine abfällige Bemerkung über Hitler gemacht hatte, in der Folge ins KZ gekommen war und dort umgekommen war; oder um die Rehabilitation eines Fahnenflüchtigen, der auf der Flucht einen Polizisten, der ihn ergreifen wollte, angeschossen hatte. Radbruch fasst die Tendenz der Diskussion zusammen: „Allerorten wird also unter dem Gesichtspunkt des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts der Kampf gegen den Positivismus aufgenommen.“ Er kommt dabei schließlich zu einer grundsätzlichen Beurteilung des Rechtspositivismus: „Der Positivismus hat in der Tat mit seiner Überzeugung ‚Gesetz ist Gesetz‘ den deutschen Juristenstand wehrlos gemacht gegen Gesetze willkürlichen und verbrecherischen Inhalts. Dabei ist der Positivismus gar nicht in der Lage, aus eigener Kraft die Geltung von Gesetzen zu begründen.“

Auch wenn man darüber streiten kann, ob es einer Rechtsphilosophie bedurfte, um einen traditionell konservativen Berufsstand auch dem nationalsozialistischen Regime gegenüber obrigkeitshörig zu machen, so trifft Radbruch hier doch zweifellos jenen Mangel des Rechtspositivismus, der ihn zu einer vom 111 Ebd., S. 84; Radbruch verweist auf einen Beschluss der Sozialdemokraten, in Reaktion auf Bismarcks Sozialistengesetze „das Gothaer Programm dahin zu ändern, dass die Partei ihre Ziele mit allen Mitteln, nicht mehr bloß mit allen gesetzlichen Mitteln, erstrebe“. – Man muss sich nur klarmachen, dass der Ausdruck „mit allen Mitteln“, streng wörtlich verstanden, wohl auch für Radbruch über das Ziel hinausschießen würde, um zu sehen, dass mit dem Begriff der Gerechtigkeit in dieser Frage kein Problem zu lösen ist.

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Gesetzgeber unabhängigen Unterscheidung von Recht und Unrecht unfähig macht. Im weiteren Verlauf seiner Überlegungen fallen dann jene schon zitierten Sätze, auf die man sich später immer wieder berufen hat: „Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat. Es ist unmöglich, eine schärfere Linie zu ziehen zwischen den Fällen des gesetzlichen Unrechts und den trotz unrichtigen Inhalts dennoch geltenden Gesetzen; eine andere Grenzziehung aber kann mit aller Schärfe vorgenommen werden: wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo die Gleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei der Setzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da ist das Gesetz nicht etwa nur ‚unrichtiges Recht‘, vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur. Denn man kann Recht, auch positives Recht, gar nicht anders definieren denn als eine Ordnung und Satzung, die ihrem Sinn nach bestimmt ist, der Gerechtigkeit zu dienen. An diesem Maßstab gemessen sind ganze Partien nationalsozialistischen Rechts niemals zur Würde geltenden Rechts gelangt.“

Diese Äußerung zeigt, dass Radbruch sich 1946 bewusst geworden war, dass seine bisherige Bestimmung des Rechtsbegriffs nicht nur für seine eigene Vorstellung von Gerechtigkeit, sondern für eine Unterscheidung zwischen Recht und Unrecht unzureichend war. So versucht er sich in zwei Ansätzen zu korrigieren. Aber die Hilflosigkeit ist diesem Versuch in beiden Ansätzen deutlich anzusehen. Der erste Ansatz zieht eine ‚unscharfe‘ Grenze zwischen ‚richtigem‘ und ‚unrichtigem‘ Recht. Sie ist rechtsphilosophisch so wertlos wie Stammlers Lehre vom richtigem Recht, der sie entstammt. Denn wo es auf Erträglichkeit und Unerträglichkeit ankommt, da könnte auch ein Richter nicht seiner Urteilskraft, sondern seinem bloßen Gefühl vertrauen, das (mit der Zeit) um so mehr ertragen mag, je mehr es sich an das (zuvor) Unerträgliche gewöhnt hat. Der zweite Ansatz will eine scharfe Grenze ziehen, zunächst durch den Begriff Gerechtigkeit, dann durch den der Gleichheit. Aber in seiner Rechtsphilosophie hat uns Radbruch gezeigt, dass auch die von der parteidifferent definierten Zweckmäßigkeit unterschiedene Gleichheit nur durch die Abstraktion von Ungleichheit unter bestimmten, von der Zweckmäßigkeit wiederum abhängigen Gesichtspunkten bestimmbar ist. Wenn die Gleichheit nicht durch den Begriff des Rechts schon auf einen von allen Relativitäten unabhängigen Gesichtpunkt bezogen ist, können wir vielleicht von mehr oder weniger gerechten Gesetzen, auch von für uns unerträglich ungerechten Gesetzen sprechen, aber nicht von der Rechtsnatur oder Unrechtsnatur einer gesetzlichen Regel. JULIUS EBBINGHAUS: RECHTPRINZIP, GERECHTIGKEIT UND DIE GRENZEN DES RECHTSGEHORSAMS Reflexion auf die Erfahrung des Nationalsozialismus Die Geschichte des Neukantianismus und seines Verhältnisses zum Rechtspositivismus lässt sich nicht ablösen von der allgemeinen, zumal der politischen Geschichte. Manchen Neukantianern, auch den Sozialisten unter ihnen, mögen die

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halbwegs gesicherten rechtsstaatlichen Zustände des Kaiserreichs zu wenig Anlass geboten haben, im Kantischen Begriff des Rechts ein Remedium gegen den zeitgenössischen Rechtspositivismus zu suchen. Die Sozialistengesetze mit ihrer Unterdrückung der Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit, der Ermöglichung von Verhaftungen und Ausweisungen waren das äußerste, was sich Radbruch 1932 unter Schandgesetzen vorstellen konnte.112 Auch der Relativismus und Positivismus der Zwischenkriegszeit mag ein wenig verständlicher werden, wenn man bedenkt, dass er auch gegen die monarchistische Legitimitätsideologie der Republik-Gegner gerichtet war und eine Verteidigung demokratischer Verhältnisse sein wollte.113 Bei Radbruch bedurfte es erst der Erfahrung des Nationalsozialismus, um ihn über den Quasi-Positivismus seines Rechtsbegriffs hinausdenken zu lassen. Die Erfahrung des Nationalsozialismus hat auch Julius Ebbinghaus veranlasst, über die Quellen des Rechts und die Grenzen der Staatsgewalt grundsätzlich nachzudenken, nun aber im genauen Studium der Kantischen Schriften. Mit dem Südwestdeutschen Neukantianismus hatte er zwar in seinem Studium bei Rickert Bekanntschaft gemacht und bei Windelband promoviert, fand aber erst auf dem Umweg über ein Hegel-Studium zu Kant zurück und setzte nach dieser „Umkehr“114 seinen Ehrgeiz darein, Kants Lehre, zunächst dessen theoretische, später aber auch seine praktische Philosophie, ohne die Brille der Neukantianer zu lesen. Auf dem Gebiet des Theoretischen kritisierte er schon 1924 das Kantverständnis des Neukantianismus.115 Mit der Abhandlung „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“116 hat er zwar schon 1929 gezeigt, das er auch in der Rechtsphilosophie nun Kant zu folgen gesonnen war, aber der thematische 112 Auch Ebbinghaus kann sich die Tatsache, dass etwa Stammler gar nicht bemerkte, dass sein „Rechtsbegriff […] jeden beliebigen Willkürakt des Machthabers deckt“, nur dadurch erklären, dass für diese Rechtsphilosophie die durch sie begründeten Zwangsgesetze naiver Weise zusammenflossen „mit den Gesetzen, die sie in den europäischen Rechtsstaaten vorfand“ (vgl. Ebbinghaus, Julius (1988a): „Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus (1960)“. In ders.: Philosophie der Freiheit. Praktische Philosophie 1955– 1972. Gesammelte Schriften, Band II. Herausgegeben von Hariolf Oberer und Georg Geismann. Bonn: Bouvier, S. 231–24, hier S. 237). 113 Radbruch war in der Weimarer Republik zweimal Reichsjustizminister; Kelsen war maßgeblich an der Ausarbeitung der Verfassung der Republik Österreich beteiligt. 114 Ebbinghaus schrieb eine Habilitationsschrift über Hegel, die er aber nicht veröffentlichte, weil er sowohl an Hegel als auch an seinen eigenen Thesen zu zweifeln begann. Vgl. dazu den mit „Die Umkehr“ überschriebenen Abschnitt in der Selbstdarstellung von Ebbinghaus in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. L. J. Pongratz, Bd. 3, Hamburg 1977, S. 1–59, dort S. 25 ff. Die Habilitationsschrift ist erst postum publiziert worden: Ebbinghaus, Julius (1994): „Die Grundlagen der Hegelschen Philosophie 1793–1803“. In ders.: Studien zum Deutschen Idealismus. Schriften 1909–1924, in Verb. Mit G. Geismann u. H. Oberer, hrsg. v. K. Herb, At. Nachtsheim u. U. Rameil (Ges. Schr. Bd. IV), Bonn, S. 145–342. 115 Ebbinghaus, Julius (1924): „Kantinterpretation und Kantkritik“. In: DVjS 2, S. 80–115 (wiederabgedruckt in: ders. Kantinterpretation und Kantkritik, Ges. Schr. Bd. 3, S. 4–38; erweiterte Fassung (1968), S. 232–254. 116 Ebbinghaus, Julius (1929): „Kants Lehre vom ewigen Frieden und die Kriegsschuldfrage“. In: Philosophie und Geschichte, Bd. 23, Tübingen (wieder abgedr. in: GS I, S. 1–34; ohne ausdrücklichen Bezug auf Kant, aber ebenfall auf dem Hintergrund Kantischer Argumente ist auch der Aufsatz Grundsätzliches zur Kriegsschuldfrage, in: Die Tatwelt, VI. Jg. 1930 (wieder abgedr. in: GS I, S. 35–45) zu verstehen.

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Horizont ist noch eingeschränkt auf das Verhältnis der Staaten untereinander und durch die Absicht bestimmt, aus Kants Schrift ein Argument gegen das Verhalten der Siegermächte im Zusammenhang mit dem Versailler Vertrag zu gewinnen.117 Weder das Problem des Rechtspositivismus noch die neukantianische Vernachlässigung der Kantischen Lehre werden dabei ins Auge gefasst. Ebbinghaus hat in seiner Rostocker Zeit (1930–1940) zweimal (Sommersemester 1933 und Wintersemester 1936/37) Vorlesungen zu Ethik und Rechtsphilosophie118 gehalten, zu denen teilweise auch für die Hörer vervielfältigte Typoskripte existieren. Von einer Beschäftigung mit der Kantischen Rechtsphilosophie zeugen sodann eine 1936 publizierte Abhandlung „Über den Grund der Notwendigkeit der Ehe“ und mehrere von 1932 bis 1940 in Rostock zu diesem Thema gehaltene Lehrveranstaltungen. Auch diese Beschäftigung mit dem Kantischen Eherecht zeigt zwar, dass sich Ebbinghaus schon in den 30ger Jahren intensiv mit dem Text der Rechtslehre befasst hat, aber die grundsätzliche Bedeutung des Kantischen Rechtsbegriffs wird darin noch nicht erkennbar. Erst nach dem Ende des Krieges hat er die Prinzipien der Kantischen Rechtsphilosophie ins Zentrum auch seiner Veröffentlichungen gerückt. In den Jahren des Nationalsozialismus ist er nicht wie so manche konservative Professoren den Weg der Anpassung an den Zeitgeist gegangen, sondern hat, für seine Umgebung ausreichend erkennbar, dem Regime gegenüber deutlich Distanz gehalten.119 Erst nach dem Ende des Krieges zeigt sich, dass Kants Rechtsphilosophie für Ebbinghaus mehr war als ein beliebiges Studienobjekt, sie war für ihn in „jahrelanger Auseinandersetzung mit der deutschen politischen Katastrophe“ zur Grundlage seiner Beurteilung der nationalsozialistischen Herrschaft und der Forderungen an die politische Zukunft geworden120; und er machte, von der amerikanischen Militärverwaltung zum „acting Rektor“ der Universität Marburg ernannt, von den Kantischen Prinzipien in den Jahren 1945/46 sogleich 117 In seiner „Selbstdarstellung“ schreibt Ebbinghaus zu seiner damaligen politischen Position: „Die Empörung über diesen völkerrechtswidrigen Zwang hatte mich mit vielen Angehörigen meiner Generation, die noch wie ich selber während der Revolution vom November 1918 für die demokratische Partei gekämpft hatten, in die Reihen der weiter rechts stehenden Parteien getrieben. Während der seither verflossenen zehn Jahre hatte ich mich wiederholt als Mitglied der Deutschnationalen Partei an Wahlkämpfen beteiligt und dabei einen gewissen Ruf als ein aus der Schablone herausfallender politischer Redner gewonnen.“ (Artikel „Julius Ebbinghaus“, in: Philosophie in Selbstdarstellungen, hrsg. v. L. J. Pongratz, Band III, Hamburg 1977, S. 1–59, dort S. 34 f.) 118 Der offizielle Titel lautet 1933 „Die Gesetze der moralischen Welt. (Rechtsphilosophie und Ethik)“, 1936 „Ethik und Rechtsphilosophie“. Das Typoskript von 1933 hält sich ziemlich genau an den Kantischen Text von Passagen der Einleitung zur „Metaphysik der Sitten“ und der Tugendlehre, enthält jedoch nichts mehr zur Rechtslehre. Im übrigen hat Ebbinghaus nach Ausweis der im Internet zugänglichen Vorlesungsverzeichnisse der Universität Rostock, wie schon im Sommer 1932, Winter 1937/38 und Winter 1939/40 mehrmals eine Vorlesung für Hörer aller Fakultäten über „Das natürliche Recht der Ehe“ gehalten, im Winter 1935/36 über „Wehrwille und Friedenspolitik“. 119 Vgl. dazu auch den Abschnitt bei Tilitzki, Christian (2001): Die deutsche Universitätsphilosophie in der Weimarer Republik und im Dritten Reich, Band I. Berlin, S. 812–815. 120 Vgl. die „Vorbemerkung“ zu der Textsammlung Zu Deutschlands Schicksalswende (Frankfurt a. M. 1946), wieder abgedruckt in: Julius Ebbinghaus, Sittlichkeit und Recht. Praktische Philosophie 1929–1954, GS I, S. 117–278, dort S. 117.

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ausgiebigen öffentlichen Gebrauch, u. zw. in politisch-pädagogischen Vorträgen im Rundfunk und vor Studenten seiner Universität. Die Texte wurden unter dem Titel „Zu Deutschlands Schicksalswende“ auch gedruckt.121 Schon in der Vorbemerkung zu der Sammlung „Zu Deutschlands Schicksalswende“ versucht Ebbinghaus „den Deutschen [...] eine Vorstellung davon zu erwecken, welchen einzigartigen Augenblick sie vor 150 Jahren verpaßt haben, als sie anfingen, ‚über Kant hinauszugehen‘“.122 Das ist auf den nachkantischen Idealismus ebenso gemünzt wie auf den Neukantianismus. Auf eine ganze Reihe der im Vorangehenden aufgeworfenen Probleme antwortet vor allem der Vortrag „Staatsgewalt und Einzelverantwortung“, der – gewiss schulmeisterlich, aber auch meisterhaft – 10 Artikel eines „Katechismus in den Fragen des Rechtes und des Staates“ entwickelt und zum Schluss auch noch einmal prägnant zusammenstellt.123 Der erste Artikel definiert den Staat durch den Zweck des Rechts seiner Bürger: „Der Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen zum Schutze der Rechte eines jeden von ihnen.“124, der zweite das Recht in Anlehnung an die Kantische Formulierung durch die Freiheit: „Recht ist die äußere Freiheit eines jeden, sofern sie mit der aller anderen in einer Übereinstimmung nach Gesetzen steht.“125 Damit ist schon klargemacht, dass beide Begriffe einen Inhalt haben, der sich nicht in formeller Legitimität und Effektivität, in Regelsetzungs- und Durchsetzungsfunktion, erschöpfen kann, sondern seine Legitimität an die Freiheit eines jeden gebunden ist. Artikel 3 deklariert den Unterschied zwischen dem Recht als Freiheitsbedingung einerseits und unseren an Bedürfnissen orientierten Interessen andererseits, Artikel 4 widerlegt den Verdacht des Individualismus gegen die Kantische Definition des Rechts, indem er das durch Freiheit definierte Recht als Bedingungen der Möglichkeit jeder Gemeinschaft erklärt.126 Die Artikel 5 bis 9 sind zugleich eine Antwort auf die durch das nationalsozialistische Unrecht gestellten Probleme; sie erklären und begrenzen die Gehorsamspflicht gegen die Staatsgewalt. Grund dieser Pflicht liegt im Begriff des Staates (vgl. Artikel 1) als „Vereinigung des Willens aller zu dem Zwecke, daß keinem Unrecht geschieht“ (Artikel 5)127, die oberste Gewalt darf zwar von den Rechtsunterworfenen nicht „mit Gewalt beseitigt werden“, weil der Gemeinschaftswille durch die „Abhängigkeit ihrer Existenz vom Rechtsurteil der Staatsmitglieder unmöglich“ gemacht würde (Artikel 6)128. Diesem (von Kant übernommenen) Widerstandsverbot stellt 121 In seiner „Selbstdarstellung“ schreibt Ebbinghaus dazu: „Die durch die Ideologien des Nationalsozialismus und Faschismus in Verwirrung geratenen Vorstellungen der Völker ZentralEuropas machten eine gleichsam kommentarlose Rückkehr zu der von Hitler bzw. Mussolini gestörten Friedensordnung Mitteleuropas unmöglich. Eine Besinnung auf die Quellen der Staatsgewalt und ihres Rechtes sowie auf die Grenzen dieses Rechtes nach innen und außen drängte sich unabweisbar als Voraussetzung eines Kompasses für die Fahrt in die Zukunft auf.“ („Julius Ebbinghaus“, a.a.O. S. 51 f.) 122 GS I, S. 117 f. 123 Vgl. zu den im Folgenden zitierten Artikeln ebd., S. 190–192. 124 Ebd., S. 190. 125 A.a.O. 126 A.a.O. 127 Ebd., S. 190 f. 128 Vgl. ebd., S. 191.

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Ebbinghaus jedoch in Artikel 7–9 eine, wie Artikel 8 betont, „unbedingte“ Ungehorsamspflicht an die Seite, „von der der Mensch auch nicht durch Gefahr für Leib und Leben befreit werden kann“: „Artikel 7. Die Gehorsamsverpflichtung dem tatsächlich bestehenden Staat gegenüber hört auf und verwandelt sich in eine Ungehorsamspflicht, wenn der Staat Befehle gibt, durch die Menschen grundsätzlich als rechtlos behandelt werden.“129

Artikel 9 weitet die Ungehorsamspflicht auf Befehle aus, „durch deren Vollzug der Mensch sich selbst dem Grundsatze nach als moralisches Wesen vernichten würde“.130 Artikel 10 schließlich erklärt es zur Pflicht jedes Staatsbürgers, „für den Staatszweck zu wirken“ und leitet daraus auch die Pflicht ab, in einem Staat, der „im Widerspruche mit dem Zwecke der Rechtssicherung“ steht, „die Erkenntnis der Notwendigkeit der Beseitigung seiner Macht zu verbreiten, dafür zu sorgen, daß er alle freiwillige Unterstützung verliert“.131 Zu all diesen Gedanken könnte man leicht die Quellen in Kantischen Texten auflisten. Auch die Begrenzung des Rechtsgehorsams auf das, was „was nicht dem inneren Moralischen widerstreitet“ ist gut Kantisch132, nur der letzte Artikel geht wohl verbaliter über das bei Kant zu Findende hinaus, aber auch er lässt sich wohl aus dem Sinn von Kants Überlegungen zu Recht, Politik und Aufklärung rechtfertigen. Schon 1946 gibt Ebbinghaus auch Kants Gemeinspruch-Aufsatz mit einer „Vorbemerkung“ heraus.133 Ebbinghaus glaubt dem Publikum und seinen Studenten in den Vorbemerkungen die Frage beantworten zu müssen, welches die „Grenzen der Befehlsgewalt von Machthabern“ sei, und er findet die Antwort auf diese Frage in Kants „Lehre vom Staatsvertrage und seinem Verhältnis um Rechte der Menschheit“, wonach „der Ungehorsam gegen menschheitswidrige Tyrannenbefehle überhaupt kein juridisches Problem und der Gehorsam gegen Befehle in Sachen des Staatsrechtes, auch wenn sie ungerecht sind, ein juridische Trivialität ist“.134 Soziale Gerechtigkeit Eine besonderes Licht auf die Fragen, die bei den hier zuvor referierten Autoren unter dem Titel ‚Gerechtigkeit‘ verhandelt worden sind, wirft der ebenfalls in der Sammlung „Zu Deutschlands Schicksalswende“ publizierte Vortrag „Sozialismus der Wohlfahrt und Sozialismus des Rechts“.135 Dass über den Inhalt der Gerech-

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A.a.O. A.a.O. Vgl. ebd., S. 191 f. Vgl. MS, AA VI: 371. Julius Ebbinghaus, Vorbemerkung zu: Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis. 1793, wieder abgedruckt in: GS I, S. 95–108. 134 Ebd., S. 103. 135 GS I, S. 231–278; den Text hat Ebbinghaus laut Nachbemerkung größtenteils 1946 auf dem internationalen Kongress für Philosophie in Rom gehalten und 1947 in der 2. Auflage von

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tigkeit – gemeint war immer die soziale Gerechtigkeit – ein unaustragbarer Streit zwischen den Parteien herrscht, galt allen Relativisten und Positivisten als Beleg für die Unmöglichkeit, dem Begriff des Rechts einen moralischen Gehalt zuzubilligen. Ebbinghaus nun unterscheidet, wiederum Kant folgend, zwischen dem Menschenrecht auf Freiheit (als dem ‚subjektiven‘ Korrelat des ‚objektiven‘ Rechtsbegriffs) und den erst in einem existierenden Staat möglichen staatsbürgerlichen Grundrechten. Dadurch eröffnet er die Möglichkeit zu zeigen, dass die vom Relativismus ins Feld geführten Probleme gar nicht auf der Ebene des fundamentalen Begriffs des Rechts, sondern erst auf der Ebene der staatsbürgerlichen Grundrechte auftreten; dass sie darüber hinaus den ersteren als einen inhaltlich bestimmten keineswegs in Frage stellen, ja dass sie durch ihn sogar zumindest im Prinzip beantwortbar werden. Er zeigt nämlich in Auslegung von Kants staatsbürgerlicher Grundrechts-Trias Freiheit, Gleichheit, Selbständigkeit, dass der durch den Freiheitsbegriff inhaltlich bestimmte Rechtsbegriff auch Konsequenzen für eine Konzeption sozialer Gerechtigkeit unter den historischen Bedingungen industrieller Produktionsweise nach sich zieht, indem er durchaus einige Fehl-Konzeptionen, z. B. den „Sozialismus der Wohlfahrt“ (Kommunismus) und den „Liberalismus der Willkür“ ausschließt und eine Wirtschaftsordnung fordert, die Ebbinghaus – damit wohl eine Bandbreite möglicher Konkretisierungen andeutend – „staatsbürgerlichen Sozialismus (sozialen Liberalismus)“ nennt.136 Der unbeschränkte Liberalismus ist danach mit den Grundrecht der Gleichheit eines jeden nicht vereinbar, insofern ihm gemäß die Gesetzgebung die Lage der abhängig Beschäftigten „nur nach privatrechtlichen Gesichtspunkten regelt“, so dass „Menschen und ganze Klassen von Menschen von anderen nach Belieben in jenem Zustand der Abhängigkeit festgehalten werden können und sogar in dem Maße, daß ihnen die Bedingungen, unter denen sie sich zu der Arbeit verstehen müssen, nach Gutdünken vorgeschrieben werden können“.137

Der Sozialismus der Wohlfahrt dagegen „stellt die Gleichheit dadurch her, daß er allen die Freiheit selbständigen Erwerbes nimmt“. Die Folge davon sei es, dass es „schlechterdings unbestimmbar“ werde, „was der einzelne denn überhaupt für Recht haben könnte“. Denn dann könne „die Frage, was für einen Produktionsplan man dann zugrunde legen, und ob man mehr Wert auf stramme Produktion oder auf Freiheit für die Staatsgenossen legen will, an und für sich nur auf willkürliche Weise entschieden werden.“138

Wie sehr eine sozialpolitische Konzeption im übrigen von empirischen Feststellungen und Analysen abhängig sein mag, Ebbinghaus zeigt durch solche Über„Zu Deutschlands Schicksalswende“ veröffentlicht; er erschien gleichzeitig 1947 in der Süddeutschen Juristenzeitung. 136 Vgl. zu dem von Ebbinghaus nicht weiter geklärten Verhältnis der Termini vor allem die Zusammenfassung, ebd. S. 261; die Notwendigkeit einer Bandbreite von Konkretisierungen ergibt sich einerseits aus den empirischen Bedingungen der gesellschaftlichen Situation (z. B. dem Stand der Produktionsweisen), andererseits aus der unvermeidlich durch Interessen und Unsicherheiten über die zu erwartenden Folgen mitbestimmten Beurteilung möglicher Regelungen. 137 Ebd., S. 245. 138 Ebd., S. 250 f.

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legungen, dass auch in sozialpolitischen Fragen der Relativismus keineswegs das letzte Wort sein muss, sondern das Rechtsprinzip selbst einen Maßstab zur Beurteilung von sozialpolitischen Grundsätzen bereitstellt. Eine systematische Präzisierung der Argumente für die natur- oder vernunftrechtliche Position veröffentlicht Ebbinghaus dann 1952 mit dem Aufsatz „Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht“139, in dem er die auch durch Radbruch noch angestoßene Tendenz, sich wieder auf das ‚Naturrecht‘ zu berufen, kritisch untersucht. Dem Positivismus bescheinigt Ebbinghaus darin eine unbestreitbare Stärke, insofern das Recht unabhängig „von irgendeiner gegebenen Zwangsgewalt“ unmöglich „Realität unter Bedingungen der Erfahrung“ haben könne.140 Das schließe aber keineswegs aus, dass die Gesetze und Anordnungen eine solche Zwangsgewalt doch nicht dem schrankenlosen Belieben anheimgestellt seien, sondern einer Ordnung unterworfen werden könnten, deren Begriff von aller Erfahrung unabhängig sei. Denn dies gehöre zum Begriff des Rechts, insofern er „die Unabhängigkeit aller möglichen Einschränkung der (äußeren) Freiheit des einen zugunsten der des anderen von irgendjemandes Belieben als wesentliches Merkmal des Rechtes fordert“.141 Denn Recht als ein „von jedem Menschen gegen jeden zu erhebende[r] Anspruch[]“ beruhe auf einem Interesse, das „seiner Natur nach allen Zwecken der Menschen, sofern zu ihrer Realisierung äußere Willkürhandlungen erfordert sind, vorhergeht“, dem Interesse nämlich, in der Freiheit seiner Willkür nicht „von der uneingeschränkten Freiheit des Beliebens von irgend jemandem abhängig zu sein“. Weil aber diese Unabhängigkeit als eine jedem zustehende nur unter der Bedingung möglich ist, dass die Freiheit eines jeden zugunsten der Freiheit der anderen eingeschränkt ist, kann Ebbinghaus sagen: „Recht in sensu objectivo ist die Idee einer Einschränkung der Freiheit von jedermann auf die Bedingungen einer Übereinstimmung mit der von jedermann nach Gesetzen.“142 Ebbinghaus schlägt nun gegenüber dem Positivismus eine Art von Doppelstrategie zur Verteidigung der Idee des Naturrechts ein. Einerseits nämlich sei die Quelle Rechtsbegriffs nicht die Erfahrung, sondern reine Vernunft, und dessen Verwirklichung wie die seines Korrelats, des subjektiven Rechts, sei nicht in irgendeiner realen Gemeinschaft zu finden.143 Aber die Idee des Rechts sei auch keineswegs bloß die einer Ordnung zum Schutz individueller Interessen oder etwas, dessen Notwendigkeit sich schon aus der zur Natur des einzelnen Menschen gehörende Freiheit und seinen natürlichen Bedürfnissen ergebe, wie man aus manchen Kommentaren zum Begriff des Naturrechts entnehmen könne.144 Vielmehr sei das Recht der Menschen die Bedingung der Möglichkeit einer Gemeinschaft, in der die Unterwerfung des einen unter die Willkür eines anderen ausgeschlossen sei. Diese Gemeinschaft sei letztlich die Menschheit, gedacht als kollektives Subjekt eines allgemeinen Willens, der in der Idee „die

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GS I, S. 349–366 (zuerst im Archiv für Philosophie (1952), Band IV, S. 225–242). Ebd., S. 350. Vgl. ebd., S. 350 f. Ebd., S. 351. Vgl. ebd., S. 352. Vgl. a.a.O.

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Freiheit eines jeden Menschen auf die Bedingungen ihrer Übereinstimmung mit der aller anderen einzuschränken“ vermöchte.145 Andererseits aber sei die Idee des Rechts auch unter Bedingungen der Erfahrung ein Zweck, für den ein allgemeines Interesse möglich sei.146 Denn allzu offensichtlich entbehre diejenige Sicherheit, die ein Mensch sich durch eigene, sei es auch noch so große Gewalt über andere verschaffen könne, eine für alle Freiheitsverhältnisse zureichende Notwendigkeit, so dass es durchaus im wohl erwogenen empirisch bedingten Interesse von Menschen liege, einen Zustand anzustreben, der ihn gegen alle seine Freiheit beliebig verengenden Gewalttaten „sicherstellen würde“.147 So ist zwar „die Quelle des Rechtes der Menschheit […] die Vernunft“, aber gleichwohl sind „sämtliche Voraussetzungen, die für die Idee des Rechtes der Menschheit und das praktische Interesse an ihr notwendig und hinreichend sind, […] in der menschlichen Natur enthalten“ (so wie sie sich in der Erfahrung zeige).148 Insofern jeder menschliche Wille „bloß vermöge der natürlichen Bedingungen seines Wollens“ mit dem dieses Recht konstituierenden allgemeinen Willen übereinstimmen könne, heiße dieses Recht Naturrecht – im Unterschied zu dem durch einen besonderen Willen zu konstituierenden positiven Recht.149 Damit ist nun auch der Gegensatz zu der Position des Positivismus, der ein Unterworfensein der Freiheit der Menschen unter das Belieben irgendeines Gewaltherrschers zulasse150, deutlich: Während der Positivismus das Problem der Grenzen der Staatsgewalt nicht einmal stellen kann, besagt die Idee des Rechts zwar, dass es „kein öffentliches Recht im Widerspruche mit den vom Inhaber der tatsächlichen Gewalt über alle gegebenen Befehlen“ und also kein Recht der Unterworfenen gegen den Staat geben kann, aber nach dieser Idee gebe es statt dessen für sie doch „ein Recht auf Staat, das heißt auf mögliche Wirksamkeit ihres Recht überhaupt“.151 Das aber heiße: „eine Gewalt, deren Befehle als Gesetze die Möglichkeit für irgendwelche Menschen, durch ihre Freiheit die Freiheit anderer zu begrenzen, überhaupt aufheben“ würde, so dass Menschen „um jedes mögliche Recht gebracht“ würden, wäre „im Widerspruche mit jeder möglichen rechtlichen Befugnis, Menschen Befehle zu geben“.152 Solchen Gesetzen und entsprechenden Befehlen fehlte demgemäß jeder Rechtscharakter.153 145 146 147 148 149 150 151

Vgl. ebd., S. 353. Vgl. ebd., S. 356. Vgl. a.a.O. Vgl. ebd., S. 357. Vgl. ebd., S. 358. Vgl. ebd., S. 354. Vgl. ebd., S. 360; vgl. dazu auch Kants Interpretation der dritten Formel des Ulpian, „suum cuique tribue“ (die „Lex iustitiae“) durch den Satz „Tritt in einem Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden anderen gesichert sein kann“ (RL, AA VI: 237), der sich mit anderen Worten im § 42 als „Postulat des öffentlichen Rechts“ wiederfindet. Es ist ein Postulat, das schon seinem Wortlaut nach allem positiven Recht vorhergeht, weil sein Grund „sich analytisch aus dem Begriff des Rechts im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt (violentia) entwickeln“ lässt (RL, AA VI: 307). Das „Recht auf Staat“ ist nichts anderes als das Korrelat dieses Postulats. 152 Vgl. ebd., S. 361. 153 Vgl. ebd., S. 363; Ebbinghaus bestreitet allerdings die Strafbarkeit dessen, der solche Befehle nach den vom Inhaber der gesetzgebenden Gewalt gegebenen Gesetzen ausgeführt hat, was

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Ebbinghaus versucht also die Geltung der Idee des Rechts der Menschheit im Unterschied zum positivistischen Rechtsbegriff dadurch zu erweisen, dass die Vernunftidee dieses Rechts zum einen das Probleme löst, das schon mit den erfahrbaren, natürlichen Bedingungen menschlichen Wollens und Handelns gegeben ist (die sich aus der wechselseitige Freiheitseinschränkung der Menschen ergebende Unsicherheit), zum andern aber auch das Problem, das sich aus dem Versuch ergibt, dieser wechselseitigen Gefährdung durch eine oberste gesetzgebende Gewalt zu abzuhelfen (die Unbegrenztheit dieser Gewalt in ihrem Belieben). Damit ist noch wenig über eine unbedingte Verpflichtung durch die Idee des Rechts gesagt, aber gegenüber dem Positivismus ist ihr größeres Problemlösungspotential dargetan, das vor allem in der Behebung jenes strukturellen Defizits der rechtspositivistischen Legitimitätserklärung besteht: Diese hatte, wie wir an Kelsens Legitimitäts-Ableitung gesehen haben, die Gesetzesunterworfenen, sozusagen als bloße Objekte von Rechtsakten, gar nicht in diese Erklärung einbezogen. In der Erklärung von Ebbinghaus sind die Gesetzesunterworfenen dagegen nur deshalb ‚Unterworfene‘, weil sie als Subjekte ihrer Freiheit zugleich Mitglieder der Menschheit, jenes kollektiven Subjekts eines diese Freiheit gesetzlich ermöglichenden allgemeinen Willens sind. Nur so ist der Unterschied von Recht und Unrecht, Legitimität und effektiver Gewalt erklärbar. Kritik des neukantianischen „Pseudokantianismus“ Mit dem Beitrag zur Festschrift für Theodor Litt, „Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus“154 schließt sich der Kreis unserer Überlegungen. Ebbinghaus rechnet vor allem mit Stammlers Trennung des Rechtsbegriffs und der Idee des „richtigen Rechts“ ab. Er weist zunächst nach, dass der von Jhering stammende Versuch Stammlers, seine Definition des Rechts (als „die ihrem Sinne nach unverletzbar geltende Zwangsregelung menschlichen Zusammenlebens“) dadurch vom Begriff der selbstherrlichen Willkür zu unterscheiden, dass er darin eine zweiseitigen Bindung und also die Selbstbindung des machthabenden Willens enthalten wissen will, von dem „Fluche der Identifikation der Rechtsquelle mit seinem Belieben nicht loskommt“.155 Denn entweder setzt die (bekanntlich von Philosophen und Revolutionären erhobene) Forderung nach einer solche Bindung des Machthabers an gegebene Gesetze „ein Recht voraus, das dem Recht des positiven Gesetzgebers vorhergeht und daher unmögliche wie das des Jhering-Stammlerschen Rechtes von diesem positiven Gesetzgeber abhängig sein kann“, oder man mache gemäß jener Definition „umgekehrt den Willen des Machthabers zur Voraussetzung allen möglichen Rechtes“; dann wird auch diese Selbstbindung „allemal nur Recht sein, insofern als sie ihm beliebt ist. freilich nichts daran ändert, dass ihm die Verpflichtung aus dem Recht der Menschheit die Mitwirkung an solchen Befehlen verbietet (vgl. ebd.). 154 Ebbinghaus, Julius (1988): Kants Rechtslehre und die Rechtsphilosophie des Neukantianismus (1960). In: ders., Philosophie der Freiheit. Praktische Philosophie 1955–1972 (GS II), hrsg. v. G. Geismann u. H. Oberer, Bonn, S. 231–248. 155 Vgl. Ebd., S. 235; als Jhering’sche Quelle weist Ebbinghaus das Werk „Der Zweck im Recht“ (Band I, 1877; 3. Aufl. 1893, dort S. 351) nach.

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Das heißt aber: Es kann auf diese Weise keinerlei rechtliche Bindung des machthabenden Willens gedacht werden.“156 Ebbinghaus erinnert sodann die schon in seinen früheren Veröffentlichungen gemachte Unterscheidung zwischen solchen Willkürakten eines Machthabers, die Menschen zu bloßen Sachen machen und deshalb keinen Rechtscharakter haben können, und bloß „gegen die Bedingungen möglicher öffentlicher Gerechtigkeit“ verstoßenden, aber aus Gründen der Rechtssicherheit als geltend zu betrachtenden Gesetzen. Er stellt dieser Unterscheidnung die Idee Stammlers vom „richtigen Recht“ gegenüber, mit der dieser die Rechtssetzungen eines Machthabers als richtig oder unrichtig bewerten möchte, obwohl eine das Recht des Machthabers begründende Rechtsnorm für ihn undenkbar ist.157 Das Prinzip dieser ‚Richtigkeit‘, die Harmonie der Zwecke der Rechtsunterworfenen (das „soziale Ideal“), ist nach Ebbinghaus schon deshalb zur Beurteilung von Rechtvorschriften, die ja von den subjektiven Zwecken des einen und des anderen unabhängig sein müsste, gänzlich ungeeignet, weil eine solche Harmonie „gänzlich vom Zufall der beiderseitigen Zwecke und ihrer Realisierungsbedingungen abhängen“ würde.158 Ebbinghaus folgert: „Und also bedeutet das ‚soziale Ideal‘ Stammlers, genommen als oberste Norm der menschlichen Gesellschaft, nichts anderes als die Vernichtung jeden möglichen Rechtes.“159 Ebbinghaus sieht darüber hinaus in der Idee des sozialen Ideals eine zweideutige Verknüpfung eines ethischen Ideals, insofern es „die Idee einer Vereinigung der Menschen in bezug auf ihre innere Freiheit“ sein soll, mit der „triviale[n] Maxime der Weltklugheit“, da die Formeln „sich selbst der Nächste bleiben können müssen“ und „nicht von der Gemeinschaft ausgeschlossen werden dürfen“ darauf hinausliefen, die Beförderung der fremden Zwecke unter die Bedingung der Beförderung eigener Zwecke zu stellen.160 Gegen die Verwischung der Grenzen zwischen Rechtslehre und die Ethik setzt Ebbinghaus die strikte Differenz und gemeinsame „Abhängigkeit beider Gesetzgebungen vom kategorischen Imperativ vom kategorischen Imperativ als dem obersten moralischen, Recht und Ethik umfassenden Prinzip“.161 Damit ist auch klargestellt, woher das Rechtsgesetz, über die empirische motivierte Annehmbarkeit für jedes seine äußere Freiheit sichern wollende Mitglied der Menschengemeinschaft seine unbedingte Verbindlichkeit bezieht: Es wird durch die Forderung notwendig gemacht, „daß die Maximen unserer Handlungen als allgemeine Gesetze müssen gedacht werden können“162, mithin durch den „kategorische[n] Imperativ, der überhaupt nur aussagt, was Verbindlichkeit sei“ (MS, AA VI: 225). 156 Vgl. S. 234 f. – Ebbinghaus weist darauf hin, dass Jhering das Problem irgendwie doch bemerke und sich unversehens genötigt sehe, „an eine ganz neue Kraft zu appellieren, nämlich ‚die Erkenntnis des Volkes von der Notwendigkeit der zweiseitig verbindenden Kraft der staatlichen Normen’“, was wohl eine Reminiszenz an die Notwendigkeit sei, das Recht eines jeden Machthabers der volonté générale zu unterwerfen (Ebbinghaus, a.a.O., S. 236 mit Verweis auf Jhering, a.a.O., S. 360). 157 Vgl. ebd., S. 237 f. 158 Vgl. ebd., S. 239 f. 159 Ebd., S. 240. 160 Vgl. ebd., S. 241. 161 Vgl. ebd., S. 243. 162 Vgl. ebd., S. 242.

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Den Kantianismus Stammlers kann Ebbinghaus nur einen „Pseudokantianismus“ nennen, denn er läuft wegen seines unzureichenden Rechtsbegriffs im Effekt auf einen Rechtspositivismus hinaus.163 Für Stammler könne es keine Rechtsnorm geben, „die die Kraft hätte, mögliche Zwangsbefehle des Machthabers ihres Rechtscharakters zu berauben“, daher konnte, wie Ebbinghaus feststellt, auch die Lehre vom richtigen Recht und vom sozialen Ideal nichts daran ändern, dass „dasjenige Dogma von der möglichen Geltung rechtlicher Normen, mit dessen Hilfe der Positivismus von Jhering über Stammler bis hin zu H. Kelsen die Menschheit jedem beliebigen Gewaltgebrauch ihrer Machthaber gegenüber rechtlich wehrlos gemacht hat“.164 Damit spielt Ebbinghaus offenbar auf die zitierte Formulierung Radbruchs an, wonach der Positivismus den Juristenstand wehrlos gemacht habe. Aber Ebbinghaus zieht – anders als Radbruch mit seiner ‚Unerträglichkeits‘-Formel – eine scharfe Grenze zwischen der Ungerechtigkeit, die um der Rechtssicherheit willen als geltendes Recht zu betrachten ist, und dem Unrecht, das keinen Rechtscharakter haben kann. So weist Ebbinghaus denn auch, ohne Radbruch ausdrücklich zu erwähnen, am Schluss seiner NeukantianismusKritik die Titelbegriffe von Radbruchs berühmt gewordenen Aufsatz, den des gesetzlichen Unrechts und des übergesetzlichen Rechts, mit Verweis auf Kant zurück: „Kants Rechtsbegriff löst das Problem, indem aus ihm unmittelbar folgt, dass der Begriff des gesetzlichen Unrechtes selber ein juridisches Unding ist.“165 Die Maßnahmen der Nationalsozialisten wie Glaubens- und Rassenverfolgung können niemals den Charakter von Gesetzen haben, sie sind schon „deswegen Unrecht, weil sie nach einem Prinzip erfolgen, das mit aller möglichen gesetzlichen Bestimmung der Freiheit der Menschen und also mit ihrem Rechte im Widerspruch steht“, indem es Menschen als Sachen behandelt.166 Mit Blick auf „verzweifelte Lage“ der zeitgenössischen Judikatur (1960) bei der Aufarbeitung des vergangenen Terrors bemerkt Ebbinghaus: Stellte man einem „gesetzlichen Unrecht“, statt es schon durch den Begriff des Rechts auszuschließen, ein „übergesetzliches Recht“ gegenüber, so gerät man in das unüberwindliches Dilemma, „den Menschen unter dem Titel des Rechtes zwei einander widersprechenden Gesetzgebungen unterworfen“ zu haben.167 Diese begrifflichen Klärungen wären als Leitgedanken der rechtlichen Aufarbeitung verbrecherischen Machtgebrauchs gewiss brauchbarer gewesen als die Vagheiten der Radbruch-Formel oder die in ihrer Nachfolge wieder in Mode gekommenen restaurativ-ideologischen Naturrechts-Vorstellungen. Die von Ebbinghaus wieder freigelegten vernunftrechtlichen Prinzipien Kants, insbesondere auch der Gedanke eines „Rechts auf Staat“, könnten heute auch bei der Weiterentwicklung des überstaatlichen Rechts, da man sich bemüht, mit einem internationaler Strafgerichtshof dem verbrecherischen Machtgebrauch in Situationen sich auflösender Staaten ein überstaatliches Recht entgegenzusetzen, als Kriterien der Unterscheidung von Recht und Unrecht dienen.

163 164 165 166 167

Vgl. GS II, S. 244. Vgl. ebd., S. 245. Ebd., S. 247. Vgl. ebd., S. 247 f. Vgl. ebd., S. 248.

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DAS RECHT DER MENSCHHEIT AUF DEN RECHTSFRIEDEN Franz Hespe (Marburg) Am Ende der Einleitung in seine Rechtslehre1 hat Kant ein mit Eintheilung der Rechtslehre überschriebenes Kapitel eingefügt. Der hier zur Diskussion stehende Abschnitt der Kantischen Rechtslehre ist nicht zuletzt wegen der Schwierigkeiten seiner Interpretation von den Kantinterpreten notorisch vernachlässigt worden.2 Die dort gegebenen Einteilungen scheinen mit der Komposition von Kants eigener Rechtslehre wenig gemein zu haben, die dort aufgeführten Pflichten gegen sich selbst wie das angeborene Freiheitsrecht erfahren im Hauptteil der Abhandlung keine nähere Erörterung. Tatsächlich ist diese Einteilung auch keine Einteilung von Kants Abhandlung über die Metaphysischen Anfangsgründe der Rechtslehre, sondern der Gesamtheit möglicher 1

2

Kant, Immanuel (1797): Die Metaphysik der Sitten. Erster Theil. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre. Kants Werke werden zitiert nach: Kants gesammelte Schriften, hrsg. von der Preußischen (später Deutschen) Akademie der Wissenschaften, Berlin 1900 ff., mit römischer Band-, arabischer Seiten- und Zeilenzahl. Die Rechtslehre ist dort im Band VI, S. 203–494, der hier diskutierte Abschnitt 36–242 abgedruckt. Nach Robert B. Pipin, dem Interpreten dieses Abschnitts in dem von Höffe herausgegebenen Gemeinschaftskommentar zu den Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre ist dieser Abschnitt rätselhaft (puzzling) (vgl. Robert B. Pippin, Dividing and Deriving in Kant’s Rechtslehre, in: Otfried Höffe (Hg), Immanuel Kant. Metaphysische Anfangsgründe der Rechtslehre, Berlin 1999, S. 63-86, hier S. 63, 66, u. ö.). Und in einem der bekanntesten deutschen Kommentare zu Kants Rechtslehre liest man: ,,Im zweiten Teil des Einleitungskapitels der Rechtslehre reiht Kant lediglich Einteilungen und Gliederungen aneinander, deren jede so unvorbereitet gesetzt wird wie die den Einteilungsreigen anführende dreigliedrige Rechtspflichtentafel. Da es an jeder argumentativen Einbettung fehlt, die Pflichtentrias völlig kontextlos dasteht, sieht sich die Interpretation dieses Rechtspflichtenkanons vor große philologische und systematische Probleme gestellt, und sie kann von vornherein nicht hoffen, mehr als plausible Vermutungen hinsichtlich der Bedeutung der inneren Rechtspflicht in Kants Alterswerk zu entwickeln“ (Wolfgang Kersting, Wohlgeordnete Freiheit, Ffrn. 1993, S. 213 f. Note). Nach Heiner F. Klemme (Das „angeborne Recht der Freiheit“. Zum inneren Mein und Dein in Kants Rechtslehre, in: Volker Gerhardt, Rolf-Peter Horstmann, Ralf Schumacher (Hg), Kant und die Berliner Aufklärung. Akten des IX. internationalen KantKongresses, Bd. 4, Berlin 2001, S. 180–188, hier 180) ist dieser Abschnitt gar dem „eigentlichen (stricten) Recht“ vorgelagert. Das hier zum Beleg aus Kants Rechtslehre entnommene Zitat macht Kant jedoch nicht über das angeborene Recht, sondern über das Billigkeitsrecht (vgl. RL, AA VI: 234.21). Eine Ausnahme bildet hier der Vortrag von Julius Ebbinghaus, Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht, in: ders. Gesammelte Schriften, Bd. 1: Sittlichkeit und Recht, hrsg. v. Hariolf Oberer und Georg Geismann, Bonn 1986, S. 349– 366, auch wenn er darin weder auf diesen Text direkt Bezug nimmt, noch Kant überhaupt erwähnt. Neuerdings auch Hariolf Oberer, Honeste vive, in: Metaphysik und Kritik. Festschrift für Manfred Baum zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Sabine Doye, Marion Heinz und Udo Rameil, Berlin-New York 2004, S. 203–213.

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Rechtsverhältnisse, in denen ein Mensch stehen kann. Dabei hat Kant einige Themen, wie die erwähnten Rechtspflichten gegen sich selbst und das angeborene Freiheitsrecht bzw. das inneren Mein und Dein, gleich hier erledigt. Der Haupttext von Kants Rechtslehre kann sich deswegen, wie Kant selbst ausführt, ,,bloß auf das äußere Mein und Dein“ (RL, AA VI: 238.25) konzentrieren. Läßt man jedoch die in der „Eintheilung der Rechtlehre“ skizzierte Gesamtsystematik außer acht und interpretiert Kants Rechtslehre allein ausgehend vom Privatrecht, so erhält sie eine eigenartige Schieflage, als der Staat für den Schutz des inneren Mein und Dein, z. B. für Tötung und Körperverletzung, Zwang und Nötigung, Rufschädigung und Verleumdung keine Kompetenz hat, und allein zur Sicherung des äußeren Mein und Dein notwendig ist. Das Kapitel enthält zwei Unterabschnitte: A. Die Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten und B. Die Allgemeine Einteilung der Rechte. Dieser Gliederung folgend sollen zunächst diese beiden Abschnitte analysiert und sodann gesondert auf das Problem der Rechtspflichten gegen sich selbst eingegangen werden. A. DIE ALLGEMEINE EINTEILUNG DER RECHTSPFLICHTEN Die Einteilung der Rechtspflichten erfolgt in Anlehnung an die Ulpianischen Formeln. Die erste Formel, honeste vive, kann nach Kant als das Gebot interpretiert werden: ,,Sei ein rechtlicher Mensch“. Diese Pflicht entstehe als „Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“ und könne auch in dem Satz ausgedrückt werden: ,,Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck“ (RL, AA VI: 236.24−30). Das Gebot wird im Folgenden auch als „innere“ Rechtspflicht bezeichnet (RL, AA VI: 237.10) und kann nach der Tafel der „Eintheilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht“ auch als Rechtspflicht gegen sich selbst bezeichnet werden.3 Die zweite Formel „Thue niemandem Unrecht, (neminem laede)“ bezeichnet dementsprechend die „äußeren“ Rechtspflichten oder gemäß der erwähnten Einteilung die Rechtspflichten gegen andere. Die Verpflichtung, Unrecht gegen andere zu vermeiden, ist nach Kant so strikt, dass sie selbst dann erfüllt werden muss, wenn dies erfordert, aus aller Verbindung mit anderen Menschen herauszugehen und alle Gesellschaft zu meiden. Dies leitet über zur dritten Rechtspflicht: Ist letzteres nicht zu vermeiden, gemeint ist, ist der Verkehr mit anderen nicht zu vermeiden, so ist es Rechtspflicht, in eine Gesellschaft mit anderen, in welcher jedem das Seine erhalten werden kann, einzutreten. Damit ist implizit unterstellt, dass im Verkehr mit anderen ohne Eintritt in einen Rechtstaat die Läsion des Seinen anderer nicht vermieden werden kann. Die in dieser Einteilung unter Rückgriff auf die Ulpianischen Formeln begründeten Rechtspflichten verpflichten den Menschen überhaupt, noch vor aller Unterscheidung von angeborenen und erworbenen Rechten, d. i. von innerem und 3

„Das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person“ nimmt in der Matrix dieser Tafel die Stelle der Rechtspflichten und der Pflichten gegen sich selbst ein (RL, AA VI: 240).

Das Recht der Menschheit auf Rechtsfrieden

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äußeren Mein und Dein. Die Pflicht in den bürgerlichen Zustand einzutreten, ist also von dieser Unterscheidung völlig unabhängig. Die hier gegebene Begründung steht aber keineswegs zu der im Postulat des öffentlichen Rechts aus dem § 42 der Rechtslehre im Widerspruch. Dieses fordert, aus dem „Verhältnisse eines unvermeidlichen Nebeneinanders mit allen anderen aus jenem heraus in einen rechtlichen Zustand, d. i. den einer austheilenden Gerechtigkeit überzugehen“ (RL, AA VI: 307.9−11). Der Grund hierfür läßt sich nach Kant „analytisch aus dem Begriffe des Rechts im äußeren Verhältniß im Gegensatz der Gewalt“ (RL, AA VI: 307.12 f.) entwickeln. Dieser Beweis soll nun im folgenden Absatz geliefert werden, dessen entscheidendes Argument lautet: ,,Niemand ist verbunden, sich des Eingriffs in den Besitz des Anderen zu enthalten, wenn dieser ihm nicht gleichmäßig auch Sicherheit gibt, er werde eben dieselbe Enthaltsamkeit gegen ihn beobachten“ (RL, AA VI: 307.14−16). In diesem Argument ist implizit enthalten – dies wird dann Gegenstand der Erläuterungen im § 44 sein –, dass diese Sicherheit im Naturzustand aus Gründen, die in der Logik dieses Zustandes liegen, nicht gegeben werden kann, und dieser daher ein Verhältnis ist, in dem rechtlich Zwang, d. i. Gewalt gegeneinander ausgeübt werden darf.4 Genau deshalb ist dieser Zustand aber ein rechtloser und der Vorsatz, in ihm bleiben zu wollen, unrecht (RL, AA VI: 307.27−308.2). Das entscheidende Argument kommt also gänzlich ohne die in diesem Absatz enthaltene Ausführungen über das empirische Verhalten der Menschen aus, niemand dürfe abwarten, dass er durch Erfahrung von der gewalttätigen Gesinnung anderer belehrt werde, da er an sich selbst jene arglistige und gewalttätige Neigung der Menschen in der Verfolgung ihrer Interessen hinreichend wahrnehmen könne. Nicht die Selbstbeobachtung der eigenen Neigungen, die die Menschen zu Misstrauen gegeneinander und vorbeugender Gewaltanwendung zwingt, sondern die in der Logik diese Zustandes liegende Notwendigkeit, dass rechtlich gegenseitig Gewalt gegeneinander ausgeübt werden darf, macht diesen Zustand zu einem unrechtlichen Zustand. Diesen Nachweis, dass der Naturzustand oder der nicht-rechtliche Zustand seiner Natur nach ein Gewaltverhältnis ist, liefert der § 44 „aus jedes seinem eigenen Recht zu thun, was ihm recht und gut dünkt, und hierin von der Meinung des Anderen nicht abzuhängen“. Daraus wird dann erneut das Gebot abgeleitet, ,,sich einem öffentlich gesetzlichen äußeren Zwange zu unterwerfen, also in einen Zustand zu treten, darin jedem das, was für das Seine anerkannt werden soll, gesetzlich bestimmt und durch hinreichende Macht, (die nicht die seinige, sondern eine äußere ist) zu Theil wird“ (RL, AA VI: 312.1−21). Es ist also nicht eine bloße Frage der Unbestimmtheit der Vernunftrechtsregeln, die „eine einvernehmliche Bestimmung der Regeln des Rechtserwerbs“ notwendig machen,5 sondern die prinzipielle Rechtswidrigkeit, durch ein privates Rechtsurteil in eigener Sache andere binden zu wollen. Wie der § 42 schließt auch der § 44 mit der Ausführung, dass niemand im Naturzustand ein Unrecht tue, anderen „nur nach dem bloßen 4 5

Vgl. schon im § 42: ,,er ist zu einem Zwange gegen den befugt, der ihm schon seiner Natur nach damit bedroht“ (RL, AA VI: 307.24); ,,in diesem Zustande ... thun sie einander auch gar nicht unrecht, wenn sie sich untereinander befehden“ (RL, AA VI: 307.27–29). Wolfgang Kersting, Kant und der staatsphilosophische Kontraktualismus, AZP (1983), S. l ff, hier S. 20; ders., Wohlgeordnete Freiheit, Immanuel Kants Rechts und Staatsphilosophie, Frankfurt a. M. 1993, Einleitung zur Taschenbuchausgabe 1993, S. 29.

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Maße seiner Gewalt zu begegnen“ (RL, AA VI: 312.23 f.), der Zustand selbst aber ein Zustand der Rechtlosigkeit sei. Der Grund dieses Gebotes ist dort wie hier in der Einteilung der Rechtslehre das Unrecht, das allein schon in der Rechtsunsicherheit im nichtrechtlichen Zustand besteht; denn niemand kann, solange er bei Abwesenheit einer staatlichen Gewalt zwangsläufig Richter in eigener Sache ist und sein Recht notfalls auf eigene Faust durchsetzen muss, anderen die Sicherheit geben, in ihr Recht nicht einzugreifen, noch seinerseits vor beliebigen Eingriffen in seine Rechte sicher sein. Die im Naturzustand allein mögliche Privatjurisdiktion im Rechtsstreit über das Mein und Dein ist rechtswidrig; sie begründet keinen Zustand des Rechts sondern der Gewalt. Weil ein Rechtsstreit – bedingt durch das Zusammenleben der Menschen in einem begrenzten Raum – notwendigerweise möglich ist, resultiert aus der Möglichkeit des Rechtsstreites die rechtsimmanente Pflicht, in den rechtlichen Zustand einzutreten. Dort wie hier wird die Rechtspflicht, mit anderen in den bürgerlichen Zustand zu treten, als ein Gebot der austeilenden Gerechtigkeit interpretiert. Gleichzeitig steht hier wie dort diese Rechtspflicht unter der Anwendungsbedingung, dass die Menschen allein aufgrund ihrer physischen Nähe untereinander in Verhältnissen leben, in denen es zu strittigem Recht unter ihnen kommen kann.6 Anders als im traditionellen Naturrecht ist der Rechtsgrund des Staates nicht eine Naturordnung, die den Menschen als Teil einer Zweckordnung betrachtet, mit der dieser sein individuelles Handeln und Zwecksetzung in Übereinstimmung bringen soll, sondern allein der Schlichtung strittigen Rechts verschuldet. Mit dem Bezug auf die suum cuique tribuere Formel huldigt Kant eine bis auf die Antike zurückgehende Beschreibung des Prinzips der Gerechtigkeit. In der hier von Kant wiedergegebenen Form wird sie meist auf ein Zitat des Ulpians in den Digesten 1.1.10 zurückgeführt: „lustitia est constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi. Iuris praecepta sunt haec: honeste vivere, alterum nor, laedere, suum cuique tribuere.“

Das Prinzip gilt aber bereits in den Schriften Ciceros als das Fundamentalprinzip der Gerechtigkeit.7 Diese dürften auch die Quelle Ulpians sein. Aus den Digesten

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Eine vernunftrechtliche Begründung des Rechts hat nach Kant nicht nur die objektive Gültigkeit bestimmter Rechtsformen nachzuweisen, sondern auch, dass menschliches Zusammenleben rechtsförmig organisiert sein soll; d. h. die objektive Gültigkeit von Recht überhaupt. Ein solcher Nachweis kann nach Kant nur nichtempirisch geführt werden; als unbedingt geltender (nicht empirischer) praktischer Grundsatz bedarf das Recht einer apriorischen Begründung. D. h. aber nicht, dass Kant ohne alle empirische Annahmen, die Anwendungsbedingungen des Rechts sind, auskommt. Zu solchen notwendigen, apriori aber nicht deduzierbaren Annahmen gehören z. B. die Existenz vernünftiger, aber sinnlich bestimmter Wesen, deren Zusammenleben in einem begrenzten Raum stattfindet, der es notwendig macht, dass sie durch ihr Handeln aufeinander wirken und sich gegenseitig beeinträchtigen. Diese empirischen Anwendungsbedingungen sind notwendig, weil es ohne sie keine Situation gäbe, die rechtsbedürftig wäre, aber sie sind nicht Geltungsgründe des Rechts. Vgl. de rep. III.24; De finihus V.65; de officiis I.42; De natura deorum III.38; De Inventione II.160.

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wird dieses Prinzip dann von der Scholastik übernommen.8 Es wird dann stereotyp auch noch bei Grotius, Baumgarten oder Achenwall zitiert.9 Wie schon Hobbes,10 wendet Kant gegen die suum cuique tribuere Formel ein, sie sei in ihrer wörtlichen Bedeutung, jedem das Seine zu geben, ungereimt, weil man niemanden geben könne, was er schon habe. Wenn sie Sinn haben solle, müsse sie lauten: ,,Tritt in einen Zustand, worin Jedermann das Seine gegen jeden Anderen gesichert sein kann“ (RL, AA VI: 237.2−8). Die distributive Gerechtigkeit interpretiert Kant also als Rechtspflicht, in den öffentlich-rechtlichen Zustand zu treten.11 Darin kommt nun unmittelbar der Unterschied zum traditionellen Naturrecht zum Ausdruck. Im stoisch-scholastischen Denken ist das suum cuique tribuere das Prinzip für Gerechtigkeit überhaupt. Es steht am Ende einer Deduktionskette, nachdem aus einer vermeintlich von Gott eingerichteten zweckmäßigen Naturordnung bestimmte Rechte hergeleitet werden. Den Menschen diese Rechte auch zukommen zu lassen, bedeutet dann Gerechtigkeit. Der Zweck des Staates oder der civitas besteht demzufolge in der Verwirklichung des vom Naturgesetz vorgeschriebenen Gemeinwohls, dem bonum cornmune, des dem Menschen wesentlichen Zwecks des vollkommenen, guten und gerechten Lebens. Der Inhalt dieses Gemeinwohls läßt sich vage beschreiben mit Frieden und Gerechtigkeit und das jedem Menschen zukommende Recht auf ein ausreichendes Maß an den lebens wichtigen und der Annehmlichkeit dienenden Gütern in Übereinstimmung mit dem Wohl des Ganzen. Die subjektiven Rechte leiten sich dabei aus dem bonum commune ab und sind die Bedingungen, unter denen dieser Zweck realisiert werden kann bzw. seine Realisierung nicht gestört wird. Die civitas, wie jeder einzelne, sind demgemäß darauf verpflichtet, jedem das ihm auf diese Weise Zukommende auch wirklich zuteil werden zu lassen. Darin besteht nach stoisch scholastischer Auffassung das Wesen der Gerechtigkeit.12 Dagegen ist es durch 8

Vgl. Thomas von Aquin, Summa Theologica II–II. q.58 a.l ; II–II. q.58 a.11 ; vgl. auch I–II. q.66.a.4; Francisco Suarez, De legibus et Deo legislatore, I.2.5; Dominicus Soto, De iustitia et iure, L III q.l .a. l ; L III q.2.a. l. 9 Grotius, De iure belli et pacis, Prol. §§ 8 u. 10; sowie I.1.3.1; Alexander Gottlieb Baumgarten, Initia philosophiae practicae, 1760, §§ 92–94, abgedruckt in Refl, AA XIX: S. 5–91, hier 44–46; Johann Stephan Pütter/Gottfried Achenwall, Elementa Juris Naturae, 1750, §§ 214 u. 216. Das Werk wird ab der 3. Auflage allein von Achenwall bearbeitet. Dass er auch schon an den frühen Auflagen den maßgeblichen Anteil hatte, zeigt Jan Schröder in seiner zweisprachigen Ausgabe von Gottfried Achenwal/Johann Stephan Pütter, Anfangsgründe des Naturrechts, Ffm 1995, S. 333 f. 10 Dialogue between a Philosopher & a Student of the Common Law of England, The Englisch Works of Thomas Hobbes of Malmesbury. Now first collected and edited by Sir William Molesworth, 11 Bände, Bd. 6, London 1840, S. 9. 11 Vgl. darüber hinaus auch: Refl. 7078 (AA XIX: 243.16–244.7); Refl. 7075 (AA XIX: 242.29–243.5); sowie die von Vigilantius nachgeschriebenen Bemerkungen aus dem Vortrag des Herren Kant über die Metaphysik der Sitten aus dem Jahre von 1793/94 (im folgenden Metaphysik der Sitten Vigilantius) (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 475–732, hier 589.39– 590.8). 12 Nach Cicero – wie nach Thomas von Aquin – ist deswegen die Gerechtigkeit auf die Erhaltung des Gemeinwohls ausgerichtet (vgl. Cicero, de rep. III.24; de off I.15; de finibus V.65; Thomas v. Aquin, S. Th. II–II q.58 a.5 r.). Und noch Grotius leitet das Recht, das auch er in den beiden Ulpianischen Formeln ausgedrückt sieht, ausdrücklich

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das diesem Denken zugrundeliegende Naturgesetz völlig ausgeschlossen, dass der Mensch ein Recht zum beliebigen Gebrauch seiner Willkür ohne Rücksicht auf die Zwecke, die ihn dabei leiten, hätte. Um dies an einem Beispiel zu konkretisieren: nach stoisch-scholastischem Naturrecht folgt aus der ursprünglichen Gemeinschaft aller Menschen an der inferioren Natur, dass die unverschuldet in Not Geratenen, wenn sie sich mit eigenen Mitteln nicht helfen können, einen Anspruch auf die Güter jener haben, die diese im Überfluss haben. Die Wohltätigkeit den Bedürftigen gegenüber ist also ein konkreter Fall des suum cuique tribuere, was im Extremfall, sofern diese Wohltätigkeit einem Bedürftigen nicht zuteilwird, auch dazu führen kann, dass dieser berechtigterweise vom Überfluss anderer nehmen kann. Neminem laede bedeutet dann, niemandem das ihm berechtigterweise zukommende vorzuenthalten und honeste vive die eigenen Interessen nur im Einklang mit den berechtigten Interessen anderer zu verfolgen. Wenn die Realisierung des Gemeinwohls Zweck der Gemeinschaft ist, dann kann es also der Gemeinschaft wie jedem einzelnen zu einem Gebot werden, dass das in dieser Gemeinschaft jedem einzelnen Zukommende auch wirklich zugeteilt wird. Hobbes und Kant gehen aber gemeinsam davon aus, dass ein bonum commune als ein irgendwie bestimmbarer gemeinsamer Zweck aller wegen der Verschiedenheit der Zwecke, die die einzelnen verfolgen, gar nicht – oder allenfalls zufällig – existieren kann und selbst dann als Rechtsgrund staatlichen Handelns völlig irrelevant ist. Aufgabe des Staates kann es dann nur noch sein, die zur Realisierung dieser unterschiedlichen Zwecke notwendige Handlungsfreiheit zu ermöglichen, indem er sie derart einschränkt, dass sie mit der anderer nicht in beliebiger Weise kollidiert.13 Wenn der Staat so aber auf seine Rechtssicherungsfunktion beschränkt wird, dann ist das Seine etwas, das der einzelne als ein Recht jeweils schon hat (sofern es denn das Seine ist) und nicht mehr ein Anspruch auf ein Tun anderer oder der Gemeinschaf. Hält man dann aus traditionellen Gründen weiter an der Formel vom suum cuique tribuere als Prinzip der Gerechtigkeit fest, muss diese neu interpretiert werden. Da nach Hobbes im nichtstaatlichen Zustand individuelle Rechte gar nicht möglich sind, weil bedingt durch die Konstellation dieses Zustandes, jeder ein Recht auf alles – inklusive des Körpers anderer – hat, kann Gerechtigkeit nur im Verzicht auf dieses universale Recht zugunsten bestimmter Rechte bestehen, und die Aufgabe des Staates nur sein, das Seine

aus der Sorge um die Gemeinschaft her. Sie ist die Quelle des Rechts (De Iure Belli ac Pacis, Prol. § 8), Unrecht hingegen ist, was dem Begriff einer Gemeinschaft vernünftiger Wesen widerspricht (I.1.3.1). 13 Die Entwicklung vom stoisch-scholastischen Rechtsbegriff, der sich an die Realisierung des nach Zwecken geordneten bonum commune orientiert, zum neuzeitlichen Rechtsbegriff insbes. bei Hobbes und Kant, der individuelle Handlungsfreiheit in Gemeinschaft mit anderen sichert, zeigt Julius Ebbinghaus, Der Begriff des Rechts und die naturrechtliche Tradition, in: Julius Ebbinghaus, GS I, Bonn 1986, S. 337–348; ders., Die Idee des Rechts, in: ebd. Bd. 2, Bonn 1988, S. 141–198, insbes. S. 142 ff., 162 ff. Jetzt auch Dieter Hüning, Von der Tugend der Gerechtigkeit zum Begriff der Rechtsordnung: zur rechtsphilosophischen Bedeutung des suum cuique tribuere bei Hobbes und Kant, in: Dieter Hüning, Burkhard Tuschling (Hg), Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin 1998, S. 53–84.

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jedes einzelnen durch Einschränkung dieses Rechts erst zu ermöglichen.14 Wohingegen Kant davon ausgeht, dass der Mensch im Naturzustand bereits mit genau definierten Rechten ausgestattet ist, seien sie angeboren oder bereits im Naturzustand erworben, diese jedoch wegen der oben bezeichneten privaten Rechtsbestimmung und -durchsetzung wirkungslos sind. Die Aufgabe des Staates ist es daher, diese Rechte durch öffentliche Gerichte und eine deren Spruch realisierende Gewalt zu sichern. Jedem das Seine zuzuteilen muss also dahingehend interpretiert werden, in einen Zustand einzutreten, in dem jeder im strittigen Falle durch den Spruch einer öffentlichen Gerichtsbarkeit „seines Rechts theilhaftig werden kann“ (AA VI 305.35-306.1; vgl. auch 237.6–8). Diesen Zustand bezeichnet Kant als den rechtlichen oder bürgerlichen Zustand. Im nichtstaatlichen Zustand kann darum das suum cuique tribuere bei Hobbes wie bei Kant nur bedeuten, diesen Zustand zu verlassen und in den status civilis zu treten. Grundsätzlich unterschieden ist bei Hobbes und Kant jedoch das Verhältnis der Rechte zu den Pflichten. Während bei Hobbes das Gebot, in den status civilis zu treten als Realisierungsbedingung aus dem subjektiven Recht folgt, sind nach Kant die subjektiven Rechte erst eine Folge der Rechtspflicht, die Handlungsfreiheit auf die Bedingungen ihrer Realisierung mit der aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz einzuschränken. B. ALLGEMEINE EINTEILUNG DER RECHTE Nachdem Kant zunächst das positive Recht vom Naturrecht abgrenzt, unterscheidet er ganz in der Tradition der Wolffschen Schule zwischen den angeborenen und den erworbenen Rechten.15 Erstere kommen „unabhängig von allem rechtlichen Act jedermann von Natur zu“, zur Erwerbung der letzteren ist hingegen ein rechtlicher Akt nötig (RL, AA VI: 237.18−23). Das angeborene Recht ist nach Kant nur ein einziges: ,,Freiheit (Unabhängigkeit von eines Anderen nöthigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz bestehen kann“. Dieses Recht leitet sich offenbar unmittelbar vom Allgemeinen Prinzip des Rechts aus dem § C der Einleitung in die Rechtslehre ab, das da lautet: ,,Eine jede Handlung ist recht, die oder nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen kann“ (RL, AA 14 Hobbes, Thomas: Elementa philosophica de Cive. The Clarendon Edition of the Philosophical Works of Thomas Hobbes. Vol. II: De Cive. The Latin Version. A Critical Edition by Howard Warrender, Oxford 1983, Epistula dedicatoria, p. 75. Hobbes, Thomas: Leviathan, or The Matter, Forme, & Power of a Common-wealth ecclesiasticall and civill, edited by Richard Tuck, Cambridge 1991, S 101 (Kapitel 15, 3. Absatz). Hobbes, Thomas: Dialogue between a Philosopher & a Student of the Common Law of England, S. 9. 15 Vgl. Christian Wolff, Jus Naturae, Bd 1, Christian Wolffs gesammelte Werke, II. 17, Hildesheim/New York 1972, §§ 26 ff. Bezeichnend auch der Untertitel des ersten Bandes der Ausgabe von 1746: Pars prima, in qua obligationes et jura connata ex ipsa hominis essen tia atque natura a priori demonstrantur et totius philosophiae moralis omnisque juris reliqui fundamenta solida jaciuntur. Vgl. auch Pütter/Achenwall, Elementa Juris Naturae, §§ 234. Zu Wolffs Lehre von den angeborenen Pflichten und Rechten vgl. Hanns-Martin Bachmann, Die naturrechtliche Staatslehre Christian Wollfs, Berlin 1977, S. 96–114.

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VI: 230.29−31). Sofern eine Handlung nach diesem Prinzip recht ist, hat jeder ein subjektives Recht auf diese, ohne dass ein anderer ihn rechtlich an dieser hindern kann. Nichts anderes besagt das angeborene Freiheitsrecht. Aber auch hier geht ja, wie oben diskutiert, die Rechtspflicht, in das Seine des anderen nicht einzugreifen voraus. Wie in den §§ A-E zur Einleitung der Rechtslehre stehen an der Spitze des Rechtssystems die Rechtspflichten. Aus ihnen bestimmen sich für das Subjekt die Rechte als Erlaubnis zu allen Handlungen, die den Rechtspflichten nicht zuwider sind, und als Befugnis andere zu verpflichten, es an diesen Handlungen nicht zu hindem (vgl. Vgl. RL, AA VI: 239.12–21; 237.18 f.). Diese Ableitung ist nicht viel mehr als eine logische Übung: wenn eine Handlung mit dem Gesetz übereinstimmt, dann tut der Unrecht, der jemanden an deren Ausführung hindert. Daraus folgt, dass letzterer ihn verbinden kann, diese Hinderung zu unterlassen und seine Freiheit zwangsweise darauf einschränken kann. Deswegen ist mit dem Recht die Befugnis verbunden, andere zu zwingen, diese Hinderung zu unterlassen,16 oder das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen identisch. Es kann deshalb „als die Möglichkeit eines mit jedermanns Freiheit nach allgemeinen Gesetzen zusammenstimmenden wechselseitigen durchgängigen Zwanges vorgestellt werden“ (RL, AA VI: 232.29; 232.2−5). Mit der Begründung, das angeborene Recht stehe ,,jedem Menschen kraft sei ner Menschheit“ zu, wird nun auch klar, dass mit dem vorangehenden Dictum, es komme dem Menschen von Natur aus zu, nicht behauptet werden soll, dass es ihm natürlicherweise, d. i. unabhängig von seinem Zusammenhang mit anderen Menschen zukomme. Es kommt ihm vielmehr kraft seiner Mitgliedschaft zur Menschheit zu. Seine Geltung beruht darin, dass die Einschränkung einer Handlung auf die Vereinbarkeit mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz die einzig mögliche Bedingung ist, unter der das Zusammensein der Menschen, das ja wie zuvor angenommen unvermeidlich ist, als eine gesetzmäßige Vereinigung möglich ist.17 Trotz der Behauptung, das angeborene Recht sei nur ein einziges, alle anderen sog. angeborenen Rechte seien im Prinzip der angeborenen Freiheit schon enthalten, zählt Kant in der Folge dann aber verschiedene Inhalte derselben auf: „Die angeborene Gleichheit, d.i. die Unabhängigkeit nicht zu mehrerem von Anderen verbunden zu werden, als wozu man sie wechselseitig auch verbinden kann die Qualität des Menschen sein eigener Herr (sui iuris) zu sein die eines unbescholtenen Menschen (Lex iusti) die Befugnis, das gegen andere zu tun, was an sich ihnen das Ihre nicht schmälert ihnen bloß seine Gedanken mitzuteilen, ihnen etwas zu erzählen oder zu versprechen, es sei wahr und aufrichtig, oder unwahr und unaufrichtig (RL, AA VI: 237.27−238.11).“

Eine ähnliche Aufzählung der im Prinzip der angeborenen Freiheiten enthaltenen Rechte gab Kant schon in der von Feyerabend mitgeschriebenen Naturrechtsvor-

16 Rechtslehre §§ C und D (RL, AA VI: 230 f.). 17 Das heißt natürlich nicht, dass nicht auch andere Formen der Vereinigung von Menschen möglich sind, z.B. die, in der alle der willkürlichen Herrschaft eines einzelnen unterworfen sind, oder Formen von Sklaverei und Leibeigenschaft, nur sind dies keine gesetzmäßigen Formen der Vereinigung, weil einzelne die Handlungsfreiheit anderer willkürlich beeinflussen können.

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lesung von 1784.18 Diese Aufzählung geht zurück auf die der Vorlesung zugrunde liegenden Elementa Juris Naturae Achenwalls. Sie werden dort als ius naturale absolutum bezeichnet.19 In der von Vigilantius nachgeschriebenen Vorlesung zur Metaphysik der Sitten gibt es allerdings auch den Versuch einer Systematisierung der Gegenstände, die unter das angeborene Recht fallen. Diese nimmt ihren Ausgangspunkt von einer Systematisierung der Pflichten gegen sich selbst. Die Gegenstände, bzgl. der der Mensch in seiner Freiheit durch die Pflichten gegen sich eingeschränkt ist, teilt Kant unter Rückgriff auf die Relationskategorien in folgende Gruppen: –





Die Disposition über den eigenen Körper (gemäß der Kategorie der Substanz) ist insoweit eingeschränkt, als dem Menschen der Gebrauch davon als einer Sache untersagt ist. Er darf sich daher weder selbst töten, noch verstümmeln (z. B. sich zur Bändigung seines Sexualtriebes kastrieren oder einzelne Glieder abhacken, um sich zum Kriegsdienst untauglich zu machen) noch seine Organe jemanden anderen zur Verfügung stellen (V-MS/Vigil, AA XXVII.2.1: 593.20−594). Sein Vermögen Wirkungen hervorzubringen (gemäß der Kategorie der Kausalität) kann der Mensch anderen zu einem bestimmten Gebrauch überlassen (bspw. als Handwerker oder Arbeiter), aber er kann es anderen nicht zum beliebigen Gebrauch überlassen, indem er sich in die Sklaverei oder Leibeigenschaft verkauft (V-MS/Vigil, AA XXVII.2,1: 594.5−19). Im Verhältnis der Menschen untereinander in der Gemeinschaft darf er sich nicht seiner Ehre berauben lassen (V-MS/Vigil, AA XXVII.2,1: 594.20−29).

Obwohl von Kant nur angedeutet, schützt das angeborene Recht nun offensichtlich dieselben Gegenstände, nämlich vor „Verletzungen des Körpers, Causalität oder Ehre“ (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 595.3 f.). Unter die Freiheit als dem einen angeborenen Recht fallen also die Disposition über den eigenen Körper und das eigene Handlungsvermögen, wie das Recht auf seine Ehre bzw. seinen guten Ruf.20 Über all diese Rechte verfügt der Mensch natürlich nur innerhalb der Ein18 Vgl. V-MS/Vigil, AA XXVII/2,2: 1338 ff. Eine kürzere Liste der sog. Jura connata, die alle unter das eine Recht der Freiheit fallen, der Willkür eines anderen zu widerstehen, wenn sie den gesetzeskonformen Gebrauch meiner Freiheit einschränkt, findet sich in der Metaphysik der Sitten Vigilatius als die Trias: Freiheit, Gleichheit, Ehre (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 588.16). 19 Pütter/Achenwall, Elementa Juris Naturae, §§ 235–261. 20 Angesichts dieser doch recht detaillierten Erörterungen Kants über die Gegenstände des angeborenen Freiheitsrechts mutet es etwas seltsam an, wenn Heiner Klemme ausführt, das angeborene Mein und Dein bezeichne überhaupt noch keinen Gegenstand, der physisch oder intelligibel konkret als Besitz reklamiert werden könne, und folgert, solange dieses rein abstrakte innere Mein und Dein nicht auf einen äußeren Gegenstand bezogen werde, könne es rechtlich auch nicht lädiert werden (Heiner F. Klemme, Das „angebome Recht der Freiheit“, S. 185). Um in den von Klemme gegebenen Beispielen zu bleiben, verletze ich jemandes innere Seine, wenn ich ihm einen Apfel aus der Hand reiße, weil diese Verletzung durch einen äußeren Gegenstand vermittelt ist, aber nicht wenn ich ihn verprügele. Und wenn ich jemanden töte, verletze ich dessen inneres Seine, weil ich ihm den Platz auf Erden streitig mache, aber nicht weil ich seine Person physisch zerstöre. Und wenn ich jemandes Ruf schädige was nach Kants Ausführungen ja ganz offensichtlich eine Läsion des inneren Seinen ist –,

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schränkungen, denen er aufgrund des Rechts der Menschheit an seiner Person und dem Recht anderer unterworfen ist. Diese Rechte fasst Kant nun als „das Meine in meiner Person“ zusammen (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 595.4). An anderer Stelle der Nachschrift bestimmt Kant auch den Besitz der eigenen Person oder den Inbegriff derjenigen Rechte, die einen Teil von mir selbst ausmachen, als Objekt des angeborenen Rechts (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 588.24–29). Auch in der Rechtslehre identifiziert Kant das angeborene Recht mehrfach mit dem angeborenen oder inneren Mein (RL, AA VI: 237.24–26; 238.21–25). Das angeborene Recht ist also identisch mit dem angeborenen oder inneren Mein als dem Inbegriff der Rechte, die einer Person qua Mensch zukommen. Die Sphäre des Meinen kann aber um das äußere erweitert werden. Dieses muss jedoch durch einen rechtlichen Akt erworben werden und setzt das innere Mein als konstitutiv für die Rechtspersönlichkeit voraus.21 Das Meine beinhaltet daher mitnichten allein das Eigentum im modernen Sinne, sondern die Gesamtheit der Rechte, die einer Person an ihr selbst, ihren Handlungen und ihrem äußerem Besitz zukommen. Inneres wie äußeres Mein und Dein sind Gegenstände des neminem laede – des Gebots, das Seine eines anderen nicht zu verletzen, und darum auch Gegenstand der Pflicht, in den bürgerlichen Zustand einzutreten.22 Auch damit befindet sich Kant in der Tradition des Naturrechts. Bereits nach Grotius zerfällt das Seine, das die Gesellschaft mit vereinten Kräften um ihrer selbst willen auch unter Anwendung von Gewalt schützen muss, in zwei Klassen, das, was dem Menschen von Natur eigen ist und was ihm durch Verträge und Gesetze zukommt. Von Natur sind dem Menschen das Leben, der Körper und seine Glieder, die Freiheit, aber auch der gute Ruf, seine Ehre und seine Handlungen zu eigen. Über das natürlicherweise dem Menschen Eigene kann dieses durch Verträge und Gesetze um das Eigentum an äußeren Dingen und das Recht auf Handlungen anderer erweitert werden. 23 So machen auch bei Kant das äußere und das innere Mein und Dein die Gesamtheit der Rechte aus, die einer Person zukommen.24 Das äußere ist nur ein Unterfall des Mein und Dein überhaupt. Dieses – und nicht nur das äußere Mein und Dein – ist Gegenstand der Rechtspflicht, das Seine des anderen nicht zu lädieren und darum in den status civilis einzutreten, wenn sich der Verkehr mit anderen und damit die Möglichkeit einer Rechtsverletzung nicht vermeiden läßt (vgl. dazu auch RL, AA VI: 252.18 f.). In der Metaphysik der Sitten Vigi-

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mittels welchen äußeren Gegenstandes geschieht denn dies? Hier wird offenbar, zu welchen Verzerrungen die Reduzierung von Kants Begriff des Mein und Dein auf das äußere Mein und Dein führen muss. In den Vorarbeiten findet sich mehrfach die Rede von der Erweiterung des Meinen über das angeborene hinaus bzw. ähnliche Formulierungen (vgl. dazu VAZeF, AA XXIII: 309.4–7; 235.14–14; 256.21–28; 296.1–7). Insoweit sind die hier vorgetragenen Überlegungen eine Korrektur der auch vom Verf. Früher vertretenen (z. B. in: Der Gesellschaftsvertrag: rechtliches Gebot oder rationale Wahl, in: Dieter Hüning und Burkhard Tuschling Hg.: Recht, Staat und Völkerrecht bei Immanuel Kant, Berlin 1998, 293–320) Auffassung, daß allein die Sicherung des äußeren Besitzes die Rechtspflicht, in den status civilis einzutreten, begründe. Vgl. Grotius, De iure belli et pacis, I.2.1.5 in Verb. mit II.17.2. 1. Vgl. dazu Metaphysik der Sitten Vigilantius (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 587.33–588.4.

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lantius (ähnlich wie im Naturrecht Feyerabend) ist es daher das angeborene Recht und seine Sicherung, das zum Eintritt in den bürgerlichen Zustand nötigt: Dieser Zustand der Läsion würde immerwährend sein, solange jeder allein Gesetzgeber und Richter wäre: Dies ist es, was man statum naturalem nennt, ein Zustand aber, der der angeborenen Freiheit ganz entgegen läuft. Es ist daher notwendig, dass sobald Menschen sich bis zur Ausübung ihrer wechselseitigen Freiheit nähern, sie den statum naturalem verlassen, um ein nothwendiges Gesetz, einen statum civilem, einzugehen. ... Dies ist es, was unter allen Natur rechtslehren allein Hobbes als das oberste Prinzip des status civilis annimmt: exeundum esse ex statu naturali“.25

Und in einer kurzen Passage der 1793 erschienenen Schrift Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis heißt es: ,,Verbindung Vieler zu irgend einem (gemeinsamen) Zwecke (den Alle haben) ist in allen Ge sellschaftsverträgen anzutreffen; aber Verbindung derselben, die an sich selbst Zweck ist (den ein jeder haben soll), mithin die in einem jeden äußeren Verhältnisse der Menschen überhaupt, welche nicht umhin können in wechselseitigen Einfluß auf einander zu gerathen, unbedingte und erste Pflicht ist: eine solche ist nur in einer Gesellschaft, sofern sie sich im bürgerlichen Zustande befindet, d. i. ein gemeines Wesen ausmacht, anzutreffen. Der Zweck nun, der in solchem äußern Verhältniß an sich selbst Pflicht und selbst die oberste formale Bedingung (conditio sine qua non) aller übrigen äußeren Pflicht ist, ist das Recht der Menschen unter öffentlichen Zwangsgesetzen, durch welche jedem das Seine bestimmt und gegen jedes Anderen Eingriff gesichert werden kann. Der Begriff aber eines äußeren Rechts überhaupt geht gänzlich aus dem Begriffe der Freiheit im äußeren Verhältnisse der Menschen zueinander hervor“ (TP, AA VIII: 28.16−31).

Auch hier finden wir also die Annahme, dass es für Menschen, die nicht vermeiden können, in ihren äußeren Handlungen aufeinander einzuwirken und damit möglicherweise in die berechtigte Handlungsfreiheit anderer einzugreifen, Rechtspflicht ist, in den bürgerlichen Zustand zu treten. Diese Rechtspflicht besteht unabhängig von der Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein und der dadurch notwendig werdenden Sicherung desselben. Die Rede ist hier vom Mein und Dein überhaupt, und die Rechtspflicht geht ausdrücklich allein aus dem Begriff der Freiheit im äußeren Verhältnis der Menschen bzw. dem angeborenen Recht hervor. Für diese bedarf es deswegen keiner Erweiterung des Mein und Dein über das innere oder das angeborene Recht hinaus. Umgekehrt ist das äußere Mein nur möglich als eine Folge des aus dem allgemeinen Rechtsbegriff folgenden inneren Mein. Denn das für seine Deduktion notwendige Postulat gründet darin, dass es 1. äußere Gegenstände gibt, die ihrer physischen Eigenschaft nach fähig sind, Gegenstand des äußeren Mein und Dein zu werden. 2. Eine Einschränkung äußerer Handlungsfreiheit gemäß dem allgemeinen Rechtsgesetz nur möglich ist aufgrund eines formalen allgemeinen Gesetzes. 3. ein solches Gesetz, dass äußere Mein und Dein verbietet aber nicht möglich ist.

25 V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 589.36–580.10; vgl. V-MS/Vigil, AA XXVII/2,2: 1383.13 f.

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4. darum das Verbot eines äußeren Mein und Dein einen ansonst möglichen Freiheitsgebrauch unmöglich machen würde – ohne dafür ein formales allgemeines Gesetz an der Hand zu haben.26 Nun erweckt Kants Privatrecht zweifellos den Eindruck, die Rechtspflicht, in den bürgerlichen Zustand einzutreten, resultiere allein aus dem äußeren Besitz. Der bürgerliche Zustand – so das Argument – sei die einzige Bedingung, unter dem der provisorische Besitz im Naturzustand ein rechtlicher Besitz werden könne. Kant behauptet in diesem Zusammenhang nicht nur, jede ursprüngliche Erwerbung stehe unter der Bedingung ihrer Übereinstimmung mit der vereinigten Willkür und der Konformität mit der Idee eines bürgerlichen Zustandes (RL, AA VI: 256.20–257.19; 264.17–24), sondern bestimmt den Staatszweck auch in der rechtlichen Sicherung des Besitzes von Gegenständen bzw. der äußeren Erwerbung (RL, AA VI: 306.4 f.; 307.14 f.; 312.29 f.; vgl. auch 256.14–18). Deshalb müsse vor oder abgesehen von der bürgerlichen Gesellschaft schon ein äußeres Mein und Dein vorausgesetzt werden, das in jenem gesichert werden könne (RL, AA VI: 256.30–35). Schließlich behauptet Kant im § 44 sogar, dass es ohne die Möglichkeit einer äußeren Erwerbung im nichtrechtlichen Zustand auch keine Rechtspflicht „in Ansehung desselben“ (i. e. des äußeren Mein und Dein) gebe, aus jenem Zustand in den bürgerlichen zu treten.27 Aus der Notwendigkeit des Staates als Bedingung der Möglichkeit äußeren Besitzes folgt aber nicht, dass dies allein Zwqeck des Staates ist, weshalb aus keiner der eben zitierten Stellen folgt, dass ohne oder unabhängig von der Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein keine Notwendigkeit zum Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft bestehe. Selbst an der eben zitierten Stelle aus dem § 44 heißt es doch, es bestehe keine Rechtspflicht in Ansehung des äußeren Mein und Dein in den bürgerlichen Zustand zu treten, wenn es nicht im Naturzustand bereits provisorisch ein Mein und Dein gäbe. Auch wenn man den Text damit möglicherweise überstrapaziert, wird damit nicht ausgeschlossen, dass diese Pflicht unter einem anderen Gesichtspunkt auch unabhängig von der Möglichkeit äußeren Mein und Dein bestehen kann. Es gilt vielmehr umgekehrt, die Notwendigkeit zum Eintritt in den bürgerlichen Zustand, ,,läßt sich analytisch aus dem Begriff des Rechts im äußeren Verhältnis im Gegensatz der Gewalt ( violentia) entwickeln“ (RL, AA VI: 307.12 f.), d. i. folgt analytisch aus dem Rechtsbegriff; von einem äußeren Mein und Dein ist hier nicht die Rede. Im Kontext der Begründung für die Notwendigkeit des Eintritts in den status civilis erst im letzten Satz des § 44 (und dann in der Anmerkung zu diesem Paragraphen) eingeführt, ist also ein Unterfall des Mein und Dein überhaupt. Auch darin drückt sich die oben 26 Der Rechtsgrund für die Möglichkeit eines äußeren Mein und Dein kann hier nur angedeutet werden. Insbesondere kann hier nicht auf den Zusammenhang mit dem Postulat der rechtlich praktischen Vernunft und dem Erlaubnisgesetz eingegangen werden. Vgl. dazu aber vom Verf.: ,,Wohl dem, der im Besitze ist“. Zur Eigentumsbegründung in Kants Rechtslehre, in: Societas rationis. Festschrift für Burkhard Tuschling zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Dieter Hüning, Gideon Stiening und Ulrich Vogel, Berlin 2002, 119–162. 27 RL, AA VI: 312.34–313.8; vgl. dazu auch den § 16 der Rechtslehre und Kants Ausführung, dass der provisorische Besitz ein bloß in den bürgerlichen Zustand einleitender sei (RL, AA VI: 267.27 f.).

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erläuterte geltungstheoretische Abhängigkeit des äußeren vom inneren Mein und Dein aus. Allein darum macht eine Begründung der Pflicht zum Eintritt in den status civilis allein aus dem äußeren Besitz keinen Sinn. Für die Fokussierung der Rechtslehre auf die Probleme des äußeren Mein und Dein gibt Kant, wie mir scheint, sogar eine plausible Begründung. Im letzten Absatz über das angeborene Recht führt Kant aus: ,,Da es nun in Ansehung des angebornen, mithin inneren Mein und Dein keine Rechte, sondern nur Ein Recht giebt, so wird diese Obereintheilung als aus zwei dem Inhalte nach äußerst ungleichen Gliedern bestehend in die Prolegomenen geworfen und die Eintheilung der Rechtslehre bloß auf das äußere Mein und Dein bezogen werden können“ (RL, AA VI: 238.21–25).

Sinn dieser Ausführung ist offensichtlich, weil es keinen Stoff für eine eigene Abhandlung über das angeborene Mein und Dein gibt, habe er diese Obereinteilung (i. e. die von angeborenem und erworbenem Mein und Dein) und damit auch die Lehre vom angeborenen Mein und Dein bzw. dem angeborenen Recht in die Einleitung geworfen. Deshalb sei es möglich, die Einteilung der Rechtslehre bloß aufs äußere Mein und Dein zu beziehen, mithin im Hauptteil bloß vom äußeren Mein und Dein zu handeln. Deswegen kann Kant nun die Einteilung in Privatrecht und öffentliches Recht als „oberste Einteilung des Naturrechts“ bezeichnen (RL, AA VI: 242.13). Entsprechend bezeichnet die Tafel der Einteilung der Rechtslehre den ersten Teil als „Privatrecht in Ansehung äußerer Gegenstände“ (RL, AA VI: 210.4) und im Text selbst wird dieser Teil dann bezeichnet als „Das Privatrecht vom äußeren Mein und Dein überhaupt“ (RL, AA VI: 245.4 f.). Beides bezeichnet die von Kant unter dem Titel Privatrecht behandelte Materie also als einen Teilbereich des Privatrechts überhaupt und läßt schließen, dass das Privatrecht als Ganzes auch das innere Mein und Dein einschließt. Weil das angeborene Recht mangels Material in die Einleitung gezogen und der Hauptteil der Kantischen Rechtslehre nur vom erworbenen Recht oder äußeren Mein und Dein handeln soll, ist es nur natürlich, dass die Rechtspflicht, in den bürgerlichen Zustand zu treten, auch im Anschluss an diesem hergeleitet wird. Eine vollständige Einteilung würde also zwischen angeborenem oder innerem Mein und Dein und dem erworbenen oder äußerem Mein und Dein unterscheiden. Beide müssten in einer vollständigen Einteilung unter das Privatrecht fallen, auf das das öffentliche Recht folgte. Dabei ist zu beachten, dass bei Kant Privatrecht nicht dasselbe ist, was wir heute als solches bezeichnen, auch wenn die Materie, die Kant in dem als Privatrecht bezeichneten Teil der Rechtslehre abhandelt, sich in etwa mit dem deckt, nämlich Besitzrecht, Vertrag und Familienrecht (Hausherrnrecht). An der soeben erwähnten Stelle macht Kant folgende Zuordnung: als Privatrecht wird das natürliche oder auch das Recht im Naturzustand bezeichnet, das öffentliche Recht ist das bürgerliche Recht oder das Recht im bürgerlichen Zustand.28 Zu dieser Bezeichnung führt Kant weiter aus, das Recht im Naturzu-

28 Eine solche Zuordnung macht Kant auch in den Vorarbeiten: ,,Die Rechtslehre enthält zwey Theile die des Privatrechts und des öffentlichen – Neminem laede, sum cuique tribue also das

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stand heiße Privatrecht, weil es keine bürgerliche, durch öffentliche Gesetze das Mein und Dein sichernde Gesellschaft gebe (RL, AA VI: 242.12–19). Nach dieser Definition wäre das Privatrecht also das Recht im Naturzustand und trüge diesen Namen, weil es gemäß privatem Urteil Geltung hat. Nun spricht Kant aber mehrfach vom Privatrecht im bürgerlichen Zustand.29 Also kann das Privatrecht nicht einfach mit Recht im Naturzustand identisch sein. Ein erster Hinweis findet sich an mehreren Stellen in den Vorarbeiten: In Abgrenzung zum öffentlichen Recht bezeichnet Privatrecht dort das Recht, das wechselseitig unter den Menschen gilt (VAZeF, AA XXIII: 281.10–12; 347.15). Dagegen bezeichnet Kant das öffentliche Recht in der Rechtslehre selbst als die rechtliche Form des Beisammenseins der Menschen oder als Verfassung (RL, AA VI: 306.29). Es ist also zu unterscheiden zwischen einem Zustand des Privatrechts bzw. des öffentlichen Rechts und der Materie derselben. Eine solche Unterscheidung läßt sich jedenfalls aus dem § 41 der Rechtslehre gewinnen. Dort unterscheidet Kant zunächst zwischen einem Zustand des Privatrechts und dem des öffentlichen Rechts und führt dann weiter aus: „Dieses (i.e. das öffentliche Recht; d. Verf) enthält nicht mehr oder andere Pflichten der Menschen unter sich, als in jenem (i.e. der Zustand des Privatrechts; d. Verf) gedacht werden können; die Materie des Privatrechts ist eben dieselbe in beiden (RL, AA VI: 306.31–33; vgl. auch 312.36–313.5).“

Auf Grundlage dieser Definitionen ist die Verbindung von Privatrecht als Recht im Naturzustand nun nicht mehr so schwierig. Das Privatrecht hat Gültigkeit im rechtlichen wie im Naturzustand, es ist der Materie nach in beiden Zuständen dasselbe, nur dass es im rechtlichen Zustand positiviert ist (als öffentliche Gesetze gedacht werden muss) und durch eine öffentliche Gewalt durchgesetzt wird. Das Privatrecht gilt deswegen nicht nur auch im Naturzustand, sondern ist das einzige Recht, das in ihm möglich ist (vgl. RL, AA VI: 307.7; ZeF AA VIII: 383.19 f.; 385.4–6). Deswegen kann Kant es im Gegensatz zum bürgerlichen auch als das natürliche bezeichnen und seinen Schutz zur Deduktionsbasis für das letztere machen. Diese Doppeldeutigkeit der Bestimmung der Differenz von Privatrecht und öffentlichem Recht findet sich insbesondere in einer Passage der Metaphysik der Sitten Vigilantius. Der status naturalis ist demnach „eine bloße Vernunft-Idee, die die Beurteilung des Privatverhältnisses der Menschen untereinander enthält, wie sich nämlich die Freiheit des einen gegen die Freiheit des anderen nach den Gesetzen der allgemeinen Freiheit bestimmt“ (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 589.25– 28). Im status naturalis wird es „jedes einzelnen Menschen Beurtheilung anheimgestellt, was er für Recht oder Unrecht anerkennen will“. Der status civilis dagegen ist der unter einer „allgemeine(n) Gesetzgebung, die für Jedermann Recht und Unrecht festsetzt". Im status civilis wird also eine Menge von Menschen gedacht, die unter einem öffentlichen Gesetz und einer öffentlichen Recht des Naturzustandes tind des bürgerlichen“ (VAZeF, AA XXIII: 386.30–32, vgl. auch Metaphysik der Sitten Vigilantius, AA XXVII/2,1: 587.14–16). 29 Z. B. RL, AA VI: 306.32 f.; 312.36–313.5; vgl. auch 256.22–29; VAZeF, AA XXIII: 345.33– 346.2.

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Gewalt stehen, wodurch die Gesetzmäßigkeit ihrer Handlungen nicht mehr durch ihr privates Urteil, sondern durch öffentliche Gesetze bestimmt und gesichert wird. Der Unterschied zwischen status naturalis und civilis besteht also in der privaten oder öffentlichen Bestimmung der Gesetzmäßigkeit der Handlung. ,,Status naturalis ist also das Privatrecht eines Jeden, status civilis ist das öffentliche Recht eines Jeden, der mit anderen unter denselben getreten“ (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 590.13–16). Als Ergebnis der Allgemeinen Einteilung der Rechte kann nun festgehalten werden: Alle Menschen stehen unter einer objektiven Pflicht, das Seine eines anderen nicht zu verletzen und wo dies nicht anders möglich ist, als durch den Eintritt in den bürgerlichen Zustand, ist letzteres selbst Rechtspflicht. Das Seine eines jeden umfasst das angeborene wie das erworbene Recht, das erstere wird bestimmt als die Freiheit zu all denjenigen Handlungen, die mit der Freiheit aller anderen nach einem allgemeinen Gesetz vereinbar sind. Dieses Recht kommt dem Menschen nicht als Naturwesen zu, sondern kraft seiner potenziellen Zugehörigkeit zur Menschheit als einer nach Rechtsbegriffen gedachten Vereinigung aller Menschen. Natürlich ist dieser Rechtsgrund des angeborenen Rechts keine empirische Realität, sondern die Idee einer möglichen Vereinigung aller Menschen unter Rechtsgesetzen. Dieses die Menschheit vereinende Gesetz ist zunächst objektives Recht und enthält folglich die Rechtspflicht jedes Menschen, seine Freiheit auf diese Bedingungen einzuschränken. Zugleich leitet sich aus ihm aber auch das Recht jedes einzelnen auf die gesetzmäßige Freiheit sowie die korrespondierende Befugnis ab, jeden anderen zu zwingen, der diese Freiheit in ungesetzmäßiger Weise einzuschränken versucht.30 Weil auf diese Weise aber jeder dem privaten Rechtsurteil jedes anderen unterworfen ist, kann auf diese Weise unmöglich garantiert werden, das jedermanns Recht gesichert ist. Deswegen ist dieses Recht auch der Grund für die Notwendigkeit des Eintritts in den öffentlich-rechtlichen Zustand. Eine besondere Problematik der Idee der Menschheit liegt aber darin, dass sie nicht nur Grund von Pflichten und korrespondierenden Rechten der Menschen gegeneinander sein soll, sondern auch von Pflichten des Menschen gegen sich selbst „als Verbindlichkei\en aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person“. Die der Rechtspflicht korrespondierenden Rechte kommen hier nicht anderen, sondern der Menschheit zu.31 30 Das Recht der Menschheit als Grund allen Rechts kommt besonders deutlich in einer Reflexion Kants zum Ausdruck: ,,Die Verbindende kraft alles Rechts liegt nicht sowohl in dem, was einer Persohn eigen ist, als vielmehr in dem Rechte der Menschheit. Daher haben alle Menschen die Verbindlichkeit, das Recht jedes einzelnen zu unterstützen. Dieses Recht der Menschheit verbindet auch einen jeden Gegen sich selbst. Er ist in die Menschheit aufgenommen acqvirirt ihre Rechte aber unter der Pflicht, die Würde derselben zu erhalten. Daher alle Pflichten gegen sich selbst“ (Ref. 7862, AA XIX: 538.17). − Die Begründung des Rechts im Recht der Menschheit zeigt vor allem Julius Ebbinghaus, Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht, GS I, S. 353f. 31 Von der Idee der Menschheit als Rechtsgrund von Pflichten macht Kant allerdings auch noch an anderen Stellen Gebrauch, etwa beim rechtlichen Verbot der üblen Nachrede gegenüber Verstorbenen (RL, AA VI: 295.12; 296.5) oder dem ius talionis (vgl. RL, AA VI: 333.11– 17; 362 f.).

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C. DIE PROBLEMATIK DER INNEREN RECHTSPFLICHTEN Den Pflichten gegen sich selbst können offenbar keine Rechte anderer als ein moralisches Vermögen zu zwingen korrespondieren. Rechtspflichten gegen sich selbst scheinen daher einen Selbstzwang vorauszusetzen.32 Nun ist aber der Selbstzwang in der gedruckten Fassung der Metaphysik der Sitten definitiv ein zur Tugendlehre gehörender Begriff.33 Bekanntlich unterscheidet Kant innerhalb seiner Moralphilosophie zwischen dem Recht und der Ethik und unterscheidet sie durch die Art der Gesetzgebung. Moralische Gesetze, sofern sie bloß auf äußere Handllungen und deren Gesetzmäßigkeit gehen, heißen juridisch; fordern sie aber auch, dass die Gesetze selbst die Bestimmungsgründe der Handlungen sein sollen, so sind sie ethisch (RL, AA VI: 214.14–17). Der Unterschied der Gesetzgebung liegt also in den Triebfedern, durch die die Willkür zu gesetzmäßigem Handeln bestimmt wird (RL, AA VI: 218.10–18). Diejenige, welche eine Handlung zur Pflicht macht und die Pflicht zugleich zur Triebfeder, ist ethisch, diejenige die auch eine andere Triebfeder als die Idee der Pflicht zuläßt, ist juridisch (RL, AA VI: 219.2–6). Ethische oder Tugendpflichten beruhen also auf dem Selbstzwang durch die Vorstellung des Gesetzes selbst (RL, AA VI: 379.15–380.6; 383.19 f.; 394.24–32). Rechtspflichten betreffen dagegen nur das äußere Verhältnis der Menschen aufeinander (RL, AA VI: 230.7–11). Für diese ist daher ein äußerer Zwang möglich (RL, AA VI: 383.18 f.), weswegen ihnen Rechte anderer korrespondieren, jemanden zu zwingen (RL, AA VI: 383.5–8; vgl. auch 388.34–389.6). In einem solchen Rechtskonzept scheinen Rechtspflichten gegen sich selbst aber keinen Platz zu haben. Auch in der Einteilung von Kants Rechtslehre lassen sich die Rechtspflichten gegen sich selbst nicht verorten. Prima facie liegt es vielleicht nahe, die inneren Rechtspflichten mit dem inneren Mein und Dein bzw. dem angeborenen Recht, die äußeren Rechtspflichten mit dem äußeren Mein und Dein bzw. den erworbenen Rechten und die Pflicht, in den öffentlich–rechtlichen Zustand zu treten, mit dem öffentlichen Recht zu korrelieren,34 doch dieser Zuordnungsversuch geht nicht auf. Das angeborene Recht korreliert nicht mit der inneren, sondern – wie oben erörtert – mit der äußeren Rechtspflicht. Gemeinsam mit den erworbenen Rechten entspricht ihm die äußere Rechtspflicht, das Seine des anderen nicht zu 32 Dies ist eine der zentralen – m. E. unzutreffenden – Thesen der Arbeit von Gau-Jeng Ju, Kants Lehre vom Menschenrecht und von den staatsbürgerlichen Grundrechten, Würzburg 1990, S. 62 ff., 75 f., 81 ff, 93, u.ö. 33 Vgl. RL, AA VI: 379.15–380.6; 383.18–20; 394.24–32; auch VATL AA XXIII: 393.24–27: ,,So sind alle Pflichten gegen sich selbst ethisch (nicht juridisch), denn wenn die Triebfeder der Handlung nicht die Pflicht selbst wäre, was würde uns sonst moralisch nöthigen da die Handlung aus uns selbst entspringen soll“ (ähnlich 380.14–21). 34 So der Zuordnungsversuch bei Pippin, Dividing and Deriving in Kant’s Rechtslehre, S. 68 f. Auch Heiner Klemme nimmt offenbar an, es müsse eine Beziehung zwischen der inneren Rechtspflicht und dem Abschnitt über das angeborene Freiheitsrecht bestehen, wenn er mit dem „Gefühl der Enttäuschung“ feststellt, dort nicht „die von Kant angekündigte weiterführende Erläuterung“ für die inneren Rechtspflichten zu erhalten (Heiner F. Klemme, Das „angeborne Recht der Freiheit“, S. 181).

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lädieren. Explizit macht Kant diese Zuordnung in der Metaphysik der Sitten Vigilantius. Danach betreffen die äußeren Rechtspflichten alle das Mein und Dein und sind einzuteilen in das Jus connatum und das Jus acquisitum (-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 587.33–588.4). Beide betreffen den gesetzmäßigen Freiheitsgebrauch der Menschen im Verhältnis zueinander. Da der Text der Druckfassung nur eine äußerst knappe Argumentation enthält, soll hier versucht werden, ihn unter Rückgriff auf andere Texte aus dem Umfeld zu erklären. Als besonders ergiebig erweist sich dabei die Nachschrift Vigilantius aus der Vorlesung über Metaphysik von 1793/94. Wie in der gedruckten Fassung der Metaphysik der Sitten unterscheidet Kant hier zwischen Selbstzwang und äußerem Zwang. Weil sie unseren Neigungen entgegengesetzt sind, führen moralische Gesetze einen Zwang bei sich. ,,Dieser Zwang ist nun a. entweder moralischer Zwang, d.i. der Zwang durch die bloße Vorstellung des moralischen Gesetzes“ oder b. pathologischer oder physischer Zwang. Den ersten bezeichnet Kant nun auch als inneren Zwang oder Selbstzwang (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 519.32–35). Äußerer Zwang hingegen ist eine Nötigung zur Pflicht, zu deren Erfüllung ich von anderen gezwungen werden kann. Auf diese Unterscheidung beruht nun sowohl die Unterscheidung von Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere, wie die von Rechtspflichten und Tugendpflichten: Verbindlichkeiten ... nun, welche nichts von Zwang enthalten, sind Zwangsfreiheiten; dahin alle Pflichten gegen sich selbst, sowie die Rechtmäßigkeit einer Handlung überhaupt gezogen werden, mithin die Handlung überhaupt insofern sie mit der Pflicht übereinstimmend gedacht wird. Verbindlichkeiten dagegen, die auf äußerem Zwang beruhen, oder ihn enthalten, sind Zwangspflichten, und diese betreffen allemal das Verhältniß gegen andere Menschen, mithin Pflichten gegen andere [...] Leges justi sind Rechtsgesetze; diese sind mit Zwang verbunden, d.i. die Rechtmäßigkeit der Handlung enthält ihren Grund in dem Zwang. – Leges honesti sind Tugendgesetze, die ohne Zwang bestimmen, d. i. die ihren Bestimmungsgrund in der inneren Beschaffenheit der Handlung haben, ohne dass durch den Zwang ein Motiv dazu entstanden ist (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 523.14-22 und 26–32).

Pflichten gegen sich selbst fallen damit unter die Tugendgesetze, „die ohne Zwang bestimmen“, gemeint ist in diesem Zusammenhang ohne physischen Zwang. Diese werden auch ausdrücklich als leges honesti bezeichnet.35 Solche Rechtsgesetze betreffen hingegen das Verhältnis gegen andere Menschen und sind mit einem (äußeren) Zwang verbunden. Dementsprechend enthält die Ulpianische Formel „honeste vive“ ,,den ganzen Complex der ethischen Pflichten“ zu denen man „nicht äußerlich gezwungen werden kann“, sondern der Handelnde „sich selbst zwingt“.36 Durch die beiden anderen Ulpianischen Formeln „neminem laede“ und „suum cuique tribuere“ werden dagegen die Rechtspflichten beschrieben. Beide beinhalten nach der Vorlesungsnachschrift eigentlich dasselbe, den anderen das Seine nicht zu 35 Zur Bezeichnung der leges ethica als leges honesti vgl. auch V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 523.33–524.5. 36 V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 527.12–29. Diese Äußerung findet sich auch schon in vielen früheren Vorlesungen Kants zur Moralphilosophie; vgl. Praktische Philosophie Powalski, VPP/Powalski, AA XXVII/1: 144; Moral Mongrovius II, V-Mo/Mron II AA XXIX/1,1: 631 f.; Naturrecht Feyerabend, V-MS/Vigil, AA XXVII/2,2: 1336 f.

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nehmen; denn, so auch schon hier die Argumentation Kants, die letzte Formel kann nicht im wörtlichen Sinne meinen, dem anderen das Seine zuzuteilen, weil man niemanden das zuteilen kann, was schon das Seine ist.37 Zu dieser Einteilung quer liegt allerdings eine andere Einteilung der Gesetze. Kant teilt die Pflichten der Form nach in Pflichten von enger und weiter Verbindlichkeit (obligatio stricta sive perfecta bzw. obligatio lata). Erstere entstehen, wenn die pflichtgemäße Handlung unmittelbar durch das Gesetz bestimmt wird, letztere, wenn durch das Gesetz nur die Maxime der Handlung, nicht aber die Handlung selbst bestimmt wird. Die ersten sind die Rechtspflichten, die anderen „gehören zur Ethic und beruhen auf den beiden Imperativen; befördere fremde Glückseligkeit, und befördere deine eigene Vollkommenheit“.38 Ferner teilt Kant die Pflichten der Materie nach in solche „gegen sich selbst und gegen andere Menschen“. Nach dieser Einteilung werden sie auch als officia interna und ex terna unterschieden (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 579.1–7). Kombiniert man diese beiden Einteilungsprinzipien, so erhält man vier Pflichtengruppen: Rechtspflichten gegen sich selbst Rechtspflichten gegen andere Tugendpflichten gegen sich selbst Tugendpflichten gegen andere.39

Um die Rechtspflichten gegen sich selbst (auch als officiis iuris interna bezeichnet) einzuführen, weist Kant ausdrücklich die Definition der Rechtspflichten als Zwangspflichten zurück, weil auf diese Weise Rechtspflichten durch sich selbst erklärt würden, aber nicht die Möglichkeit des Rechtszwanges begründet würde. Ferner beruhe nicht jedes Officium strictum, d. i. jede Rechtspflicht auf äußerlichen Zwang. Es gebe Rechtspflichten (gemeint sind die Pflichten gegen sich selbst), die keine Pflicht gegen andere voraussetzen und zu denen man gezwungen werden könne, ohne dass ein anderer zwingen kann, d. i. zu denen man sich selbst zwingen kann (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 581.21–582.5). Die Möglichkeit der beiden Unterteilungen der Pflichten danach, ob zu ihnen ein äußerer Zwang möglich ist, oder danach, ob für sie eine strikte oder weite Verbindlichkeit besteht, beruht offenbar darin, dass Kant einen subtilen Unterschied zwischen einer Verbindlichkeit und einer Pflicht macht.40 Verbindlichkeiten lassen sich nach der Art der Gesetzgebung einteilen, ob zu ihnen eine äußere Gesetzgebung möglich ist oder nicht. Erstere machen die officia juridica, letztere die officia ethica aus (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 584.1–18). Pflicht ist aber 37 V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 527.30–39. Kant macht allerdings auch hier schon einen Unterschied in der Bedeutung der Formel für den Naturzustand und den status civilis. Im Naturzustand sei sie identisch mit der zweiten Ulpianischen Formel, neminem laede. Im status civilis komme der distributiven Gerechtigkeit aber die Funktion zu, jedem sein Recht durch eine öffentliche Gewalt zuzuteilen und die Forderung suum cuique tribue erhalte die Bedeutung einer Rechtspflicht, sich einer öffentlichen Gewalt zu unterwerfen (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 528.1–16). 38 V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 577.34–578.26; Zitat 578.25 f.; vgl. auch 536.22–35; 581.21 f. Diese Einteilung hat Kant auch noch in die Metaphysischen Anfangsgründe der Tugendlehre übernommen, vgl. TL, AA VI: 390. 39 Vgl. dazu V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 579.23–25 und die Einteilung der Rechts- und Tugendplichten V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 583.15–26. Gerau diese Einteilung begegnet uns in der Rechtslehre in der Tafel der „Eintheilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht“ (RL, AA VI: 240) wieder. 40 Worauf er allerdings selbst nur en passant (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 585.8–11) hinweist.

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eine Handlung,41 die gemäß dem Gesetz bestimmt ist, oder der Zweck, den man bei einer Handlung haben soll. Pflicht zielt also auf eine Handlung bzw. den Zweck einer Handlung, die (bzw. der) gemäß einem Gesetz bestimmt wird.42 Darin ist implizit schon enthalten, dass durch das Gesetz die Handlung unmittelbar oder nur der Zweck einer Handlung bestimmt wird.43 Im ersten Fall handelt es sich um Rechtspflichten (officia juris) in einem weiteren oder allgemeineren Sinne als den eben genannten officia juridica,44 im zweiten Falle um Tugendpflichten. Beide lassen sich nun wie gesagt wiederum in Pflichten gegen sich selbst und Pflichten gegen andere unterteilen. Im Spannungsfeld zwischen diesen beiden Einteilungen nehmen nun die Rechtspflichten gegen sich selbst eine eigenartige Stellung ein. Einerseits gilt für Kant weiter, Tugendpflichten sind solche für die kein äußerer Zwang möglich ist. Dies ist problemlos für die Tugendpflichten eigene Vollkommenheit und fremde Glückseligkeit. Weil sie auf Zwecke ausgerichtet sind und Zwecke zu haben nicht erzwungen werden kann, ist für sie kein äußerer Zwang möglich (vgl. RL, AA VI: 239.4–12). Die sog. Rechtspflichten gegen sich selbst gehen jedoch unmittelbar auf Handlungen. Gleichwohl ist auch für sie kein äußerer Zwang, d. i. Zwang durch andere, möglich. Man kann sich einen solchen Zwang nur denken, indem man die Person gleichsam in den noumenalen und den phänomenalen Menschen verdoppelt, und sich in Analogie zum äußeren Zwang denkt, dass der phänomenale Mensch durch den noumenalen gezwungen wird.45 Dies ist jedoch nichts anderes als der spezifisch zur Ethik gehörende Selbstzwang. Kant unterscheidet deswegen unter den Rechtspflichten im allgemeinen Sinne (officia juris) solche, für die eine äußere Gesetzgebung möglich ist, nämlich die gegen andere, und solche, für die eine solche nicht möglich ist, nämlich die gegen sich selbst. Nur die Rechtspflichten gegen andere fallen unter die officia juridica (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 586.1–8) oder das spezielle Jus naturae, wohingegen die Rechtspflichten gegen sich selbst „nur zur Moral“ gehören (VMS/Vigil, AA XXVII/2,1: 587.5–13; ähnlich 582.6–10). An einer früheren Stelle der Nachschrift wird der beide Klassen umfassende Rechtsbegriff explizit als allgemeines Recht bezeichnet, von dem das äußere Rechtsverhältnis eine Unterart darstelle (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 542.20–22) und ausdrücklich als das „moralische Recht ... (ethico legale, nicht legale in sensu civile)“ vom äußeren Recht unterschieden (V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 543.14–16). An dieser Stelle führt Kant dann vom Recht der Menschheit in unserer eigenen Person aus: ,,Es kann indeß nie nach Rechtsgesetzen sondern nur ethisch angenommen werden: ein Beweis, dass auch die Ethic nicht wesentlich mit Zweck verbunden ist, sondern strenges Recht im allgemeinen Sinne bey sich führt“ (V-MS/Vigil, AA XXVII/2 ,1: 543.26–29).

41 Dies geht aus der Formulierung hervor, dass zur Pflicht eine Handlung erforderlich ist (VMS/Vigil, AA XXVII/2, 1: 584.39–585.1). 42 Vgl. dazu V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 584.38–585.8. 43 Vgl. dazu außer der eben angegebenen Stelle auch V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 542 ff. 44 Zu dieser Unterscheidung vgl. V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 582.5–10; 585.18–23; 586.1–8. 45 RL, AA VI: 418.14–23; VATL AA XXIII: 386, 13–20; 399.24–400.3; V-MS/Vigil, AA XXVII/2,1: 593.1–16.

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Und auch an einer späteren Stelle bemerkt Kant anlässlich eines Übergangs von den inneren zu den äußeren Rechtspflichten und in Abgrenzung beider voneinander, dass dem äußeren Recht Zwangspflichten oder juridische Pflichten zu Grund liegen und es daher „nicht zur Ethic, sondern zum Jure“ gehöre (VMS/Vigil, AA XXVII/2,1: 594.33–35). Im Umkehrschluss folgt daraus offenbar, dass die inneren Rechtspflichten zur Ethik gehören. Ähnliche Zuordnungen lassen sich auch in Kants handschriftlichen Vorarbeiten finden. Auch dort unterteilt Kant das Recht im allgemeinen in das innere, das allein durch Selbstzwang möglich ist, und das äußere, zu dem man durch andere gezwungen werden kann. Das erste rechnet er zur Ethik, das zweite zum Recht.46 Demzufolge gilt wie in den Vorlesungen die erste Ulpianische Formel, honeste vive, als Ausdruck der Ethik, wohingegen die beiden anderen als Ausdruck des Rechts gelten. Allerdings beschreibt jetzt die neminem laede Formel eindeutig das Privatrecht, während die suum cuique tri buere Formel das öffentliche Recht charakterisiert (VATL, AAXXIII: 386.25–32). Es finden sich in den sog. Vorarbeiten dann aber auch Stellen, an denen Kant umgekehrt behauptet, das Recht der Menschheit in unserer eigenen Person gehöre als bloß einschränkende Bedingung, über die eigene Person nach Willkür zu verfügen, nicht zur Tugend- sondern zur Rechtslehre (vgl. VATL, AA XXIII: 391.1 ff.). Und in einem mit „Einteilung der Pflichten“ überschriebenem Stück scheint Kant die Pflichten gegen sich selbst der Rechtslehre zurechnen zu wollen, indem er auch den Zwang durch die Idee der Menschheit als Zwang durch andere klassifiziert: „Rechtslehre ist die Lehre von den Pflichten so fern sie durch die Willkühr anderer nach dem Prinzip der Freyheit bestimmt wird – Tugendlehre sofern sie durch eigene Willkühr nach dem Princip der Zwecke bestimmt wird. Der Andere dessen Willkühr die unsere nach Gesetzen bestimt ist entweder die Idee der Menschheit in uns oder ein Mensch außer uns“ (VARL, AA XXIII: 269.1–6).

Unabhängig davon, ob die Rechtspflichten gegen sich selbst nun zur Rechts- oder zur Tugendlehre gehören, läßt sich vorläufig folgendes festhalten: Der Mensch ist in seiner äußeren Freiheit in doppelter Hinsicht eingeschränkt; einmal in seiner Verfügung über sich selbst durch das Recht der Menschheit und zum anderen durch die Rechte anderer (Refl. 6795, AA XIX: 163.18–23; vgl. auch Refl. 6792, AA XIX: 162). Das Recht der Menschheit schränkt dabei die Freiheit des Subjekts ein, über sich selbst nach Willkür zu verfügen. Er ist im Verhältnis zu anderen zwar sein eigener Herr, kann aber über sich selbst nicht als Eigentümer (dominus) disponieren (Vgl. RL, AA VI: 270.16–20; V-PP/Powalski, AA XXVII/1: 192.5–8). Das „Recht der Menschheit“ nimmt dabei offenbar die Stelle ein, die im traditionellen Naturrecht bis hin zu Locke Gott eingenommen hatte.

46 „Das Recht formaliter betrachtet ist das Verhältnis einer Person zu einer Handlung nach welchem sie durch dieses jemanden nach Gesetzen der Freyheit zu zwingen befugt ist (facultatem habet). Ist sie nur befugt sich selbst zu zwingen so ist es das Recht der Menschheit zu des Menschen eigener Person d.i. das innere Recht; ist sie befugt andere zu zwingen so ist ihr Recht ein äußeres Recht jenes gehört zur Ethik diese zum ius“ (VARL, AA XXIII: 276.31–37; vgl. auch 385.1–6).

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Das Verbot, über sich selbst als Eigentum zu disponieren, war dort in dem Eigentum begründet, das Gott am Menschen hat.47 Noch vor jeder Einschränkung durch das Recht anderer ist die Handlungsfreiheit also durch das Recht der Menschheit eingeschränkt. Die Bedeutung dieser Einschränkung für die Rechtslehre kommt nun in dem Gebot zum Ausdruck, ,,im Verhältnis zu anderen seinen Werth als den eines Menschen zu behaupten“. Die aus den Pflichten gegen sich selbst resultierende Einschränkung ist für die Rechtslehre aber nur insoweit relevant, als sie das Verhältnis zu anderen berührt. Die Rechtspflichten gegen sich selbst schränken damit die Freiheit ein, im Verhältnis zu anderen über seinen Körper wie über seine Person beliebig zu verfügen. Sie schränken somit seine Freiheit ein, andere von seinen Fähigkeiten wie seinem Körper Gebrauch machen zu lassen. Abmachungen, die diese Einschränkungen verletzen, sind nichtig und können deswegen rechtlich auch nicht erzwungen werden. Beispiele, die Kant immer wieder anführt, sind die vertragliche Verpflichtung zur Prostitution (Refl. 7565, AA XIX: 456.15–18; V-NR/Feyerabend, AA XXVII/2,2: 1335.15–1336.2; VAZeF, XXIII: 359.29–32) oder die Veräußerung von Gliedern (Refl. 7576, AA XIX: 459.22–24; Refl. 7600, AA XIX: 466.29– 31). Die Pflichten gegen sich selbst aufgrund des Rechtes der Menschheit spielen deswegen eine besondere Rolle im Vertragsrecht (als Verbot Teile seines Körpers zu veräußern oder sich in die Sklaverei oder Leibeigenschaft zu verkaufen) oder im Eherecht (als Verbot anderen seine Geschlechtseigenschaften anders als im Rahmen der Ehe zur Verfügung zu stellen).48 Mit der Nichtigkeit von Abmachungen und der Unmöglichkeit ihrer rechtlichen Erzwingung ist zumindest implizit der Zwangscharakter der inneren Rechtspflichten erhalten. Zur Zugehörigkeit dieser Fragen zur Rechtslehre äußert sich Kant ausdrücklich in einer Bemerkung, die offenbar eine Vorarbeit zu dem erst in der zweiten Auflage hinzugekommenen Anhang erläuternder Bemerkungen zu den metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre darstellt, also nach der ersten Auflage der Rechtslehre niedergeschrieben wurde. Kant bejaht ausdrücklich, dass die Frage, ob und unter welchen Bedingungen ein Vertrag zur geschlechtlichen Vereinigung rechtlich erlaubt (nämlich als Ehevertrag) oder nicht erlaubt ist (nämlich als ein Vertrag, einem anderen seinen Körper zur unmittelbaren Befriedigung seiner Lust zu überlassen), eine Rechtsfrage ist. Denn für alles äußere Mein und Dein sei eine äußere Gesetzgebung möglich (VARL, AA XXIII: 358.32–359). Pflichten gegen sich selbst berühren also dann Rechtsfragen und gehören damit zur Rechtslehre, wenn ich einem anderen einen Gebrauch meiner Person, meines Körpers oder meiner Fähigkeiten einräume. Die in den Vorlesungen wie in Kants handschriftlichen Vorarbeiten im Katalog der Rechtspflichten gegen sich selbst enthaltenen Pflichten, die nicht das Verhältnis zu anderen betreffen, wie das Selbstmordverbot und das Verbot der Selbstverstümmelung, sind nun konsequent in die Tugendlehre verwiesen worden. Somit ist der Begriff des Selbstzwanges auch konsequent auf die Ethik be47 Thomas v. Aquin, Summa Theologica, II–II a.66 a.1; Dominicus Soto, De iustitia et iure, L IV q.2 a.3; Locke, John: Two Treatises of Government, ed. by Peter Laslett, Cambridge 1988, II § 6. 48 Zur Unmöglichkeit über sich selbst als Eigentum zu disponieren vgl. RL, AA VI: 270.16–20; zum Eherecht RL, AA VI: 276.24 ff.; 277.33–278.4.

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schränkt. Dazu führt Kant nun in die Tugendlehre vollkommene Pflichten gegen sich selbst ein (RL, AA VI: 421.5), obwohl doch nach der Tafel der „Eintheilung nach dem objektiven Verhältnis des Gesetzes zur Pflicht“ (RL, AA VI: 240) alle Tugendpflichten unvollkommene Pflichten darstellen. Unter diese fallen als sogenannte Pflichten gegen sich selbst als einem animalischen Wesen das Verbot des Selbstmordes, der Wollust und der Völlerei. In der gedruckten Fassung gilt daher strikt, Rechtspflichten sind solche, für die ein äußerer Zwang möglich ist, für Tugendpflichten ist hingegen kein äußerer Zwang möglich, weil sie auf Zwecke gehen (RL, AA VI: 239.4–12). Das Recht gibt das Gesetz für Handlungen, die Ethik für die Maximen der Handlungen (RL, AA VI: 388 f.). Die Rechtslehre hat bloß mit den formalen Bedingungen zu tun, die Tugendlehre gibt noch einen Zweck hinzu, der für die Menschen als Pflicht dargestellt wird (RL, AA VI: 380.19 ff.). Weil ich aber nicht gezwungen werden kann, Zwecke zu haben, ist allein Selbstzwang möglich und deswegen gehört dieser Pflichtbegriff zur Ethik (RL, AA VI: 381.14–21). Mit diesen Ausführungen ist der Stellenwert der Rechtspflicht gegen sich selbst in der Systematik der Rechtslehre Kants jedoch noch nicht erschöpft. Nach einer Formulierung Kants im Anschluss an die Interpretation drei Ulpianischen For meln in der Einteilung der Rechtslehre sind diese zugleich Prinzipien der Einteilung „des Systems der Rechtsptlichten in innere, äußere und in diejenigen, welche die Ableitung der letzteren vom Princip der ersteren durch Subsumtion enthalten“ (RL, AA VI: 237.10–12). Sie stehen also nicht nur äußerlich nebeneinander, sondern im Verhältnis, wo durch das suum cuique tribuere – oder die Rechtspflicht in den Staat einzutreten – als Ableitung des neminem laede aus dem Prizip des ersteren (i.e. dem honeste vive) durch Subsumtion abzuleiten ist. Wie genau diese Ableitung zu denken ist, vor allem was es bedeutet, dass sie durch Subsumtion der äußeren Rechtsplicht unter das „Princip der ersteren“ und nicht unter die Rechtspflicht selbst bewerkstelligt werden soll, hat Kant nicht ausgeführt. Immerhin läßt sich so viel einsehen, dass offenbar an der Spitze des Systems der Rechtspflichten das honeste vive steht, als die Pflicht, Handlungen zu unterlassen, durch die ich meine Eigenschaft als rechtsfähige Person aufhebe. Von dieser Pflicht hängen alle anderen ab, weil nur unter ihrer Voraussetzung der Mensch als mit allen anderen in einem Rechtsverhältnis stehend gedacht werden kann. Darum handelt es sich bei der Pflicht zur Behauptung der Rechtspersönlichkeit auch um eine Rechtspflicht. Sie gehört zum Recht insofern sie allen Menschen eine Pflicht auferlegt, deren Erfüllung Bedingung der Möglichkeit äußerer Rechtsverhältnisse ist. Das dieser Pflicht korrespondierende Recht steht jedoch nicht einzelnen, sondern der Menschheit insgesamt zu. Das von Kant skizzierte Subsumtionsverhältnis läßt sich nun so formulieren: Wenn ich die Pflicht, niemandem zu schaden, unter die Pflicht, meine Rechtspersönlichkeit zu behaupten, subsumiere, so kann ich dies nur tun, indem ich in den bürgerlichen Zustand eintrete. Die m. E. plausibelste Interpretation für diese These hat wiederum Julius Ebbinghaus geliefert: die beiden ersten Pflichten stehen nämlich in einem eigentümlichen Spannungsverhältnis. Sofern ich nämlich der Verpflichtung zum neminem laede nachkomme und auf gesetzlosen Zwang gegen andere verzichte, kann ich nicht sicher sein, dass auch andere darauf ver-

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zichten. Ich mache mich dadurch also möglicherweise selbst zum Gegenstand beliebiger Willkürhandlungen durch andere und verletze dadurch die erste Rechtspflicht und das Recht der Menschheit, meine Rechtsfähigkeit gegen alle anderen zu behaupten. Soll beides vereint werden so folgt aus dem Recht der Menscheit die dritte Rechtspflicht, in eine Gemeinschaft mit anderen einzutreten, in der jedem das Seine erhalten werden kann.49 Das honeste vive, die aus dem Recht der Menschheit fließende Rechtspflicht, sich im Verhältnis zu anderen als Rechtsperson zu behaupten und nicht selbst zum Gegenstand zu machen, erweist sich somit als Grund der gesamten Rechtslehre, an der alle anderen Rechtspflichten und insbesondere die zum Eintritt in den Zustand eines möglichen Rechtsfriedens abhängen.

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49 Julius Ebbinghaus, Positivismus – Recht der Menschheit – Naturrecht – Staatsbürgerrecht, GS I, S. 359 f.

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CESARE BECCARIA UND DIE KRIMINALPOLITISCHE AUFKLÄRUNG1 Von Dieter Hüning (Trier) I. DIE PRINZIPIEN DER STRAFRECHTSREFORM Im 18. Jahrhundert mehren sich die Stimmen, die der Auffassung sind, daß die bestehende Strafrechtstheorie der Kriminalisten zahlreiche Widersprüche und Inkonsequenzen enthält, die Strafpraxis ‚grausam‘ und ‚unnütz‘ ist und beides mit den Leitbildern des ‚Aufgeklärten Absolutismus‘ nur schwer zu vereinbaren ist. In Deutschland war es vor allem Christian Thomasius, der sich die Bekämpfung des Hexenwahns auf dem Gebiet der Rechtsprechung zur Aufgabe machte. In Frankreich war es Montesquieu, der einige Aspekte einer aufgeklärten Position in Sachen Strafrecht entwickelte.2 So war er der Auffassung, daß die Strafmilderung ein Kennzeichen der gemäßigten Regierung ist, während in despotischen Staaten die Todesstrafe vorherrscht. Voltaire hatte mit seinen publizistischen Aktionen in der Affaire Jean Calas, eines hugenottischen Kaufmanns aus Toulouse, der im Jahre 1762 das Opfer eines skandalösen Justizmordes wurde, dem aufgeklärten Publikum die Mißstände der herrschenden Gerichts- und Strafpraxis ganz Europa vor Augen geführt. Das Bewußtsein für die unhaltbaren Zustände der zeitgenössischen Strafjustiz war also vorhanden und auch die rechtsphilosophischen Prinzipien einer möglichen Reform lagen in der Luft, als im m Jahre 1764 anonym ein schmales Bändchen mit dem Titel Dei delitti e delle pene3 erschien, das beanspruchte die „Interessen der Menschheit“ zu vertreten.4 Diese Schrift war das das Ergebnis von intensiven Debatten war, die der Autor im Kreise seiner Freunde bzw. in der Accademia dei Pugni geführt hatte, wobei der Schwerpunkt dieser Debatten auf der Kritik der politischen und ökonomischen Vorstellungen der ständischen Gesellschaft lag. Das Buch erregte kurze Zeit später − vor allem dank der französischen Übersetzung im Jahre 1766 − in ganz Europa Aufsehen, sein Autor − 1

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Eine frühere Fassung dieses Aufsatzes erschien unter dem Titel Beccaria und die kriminalpolitische Aufklärung. − In:    .             . .    .  . . .  .  .  :   ! "-#    (Essence and Word. Collection of Research Papers on the Anniversary of Professor Nelly Vasil’ewna Motroshilova, ed. by Marina Bykova and Maria Solopova), Moscow: Phenomenology-Hermeneutics, 2009, S. 207−220. Vgl. z. B. Montesquieu, Esprit des lois, éd. par Victor Goldschmidt, Paris 1979, VI, 12. Ich zitiere im folgenden − mit Angabe der jeweiligen Paragraphen − die deutsche Übersetzung von Über Verbrechen und Strafen nach der von Wilhelm Alff besorgten Ausgabe (Frankfurt/M. 1988) sowie den italienischen Text nach der Ausgabe von Franco Venturi (Cesare Beccaria, Dei delitti e delle pene. A cura Franco Venturi, Turin 1994). Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, S. 57.

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Cesare Beccaria − wurde eine europäische Zelebrität. Schon im Dezember 1766 erließ die russische Zarin Katharina II. ihre berühmte Instruktion (Nakaz), durch die eine Kommission zur Abfassung eines Gesetzbuches gebildet wurde. Der strafrechtliche Teil dieser Programmschrift beruhte nahezu vollständig auf Beccarias Ausführungen.5 Beccaria stützte sich in seiner Schrift auf die neuzeitliche Naturrechtslehre, in welcher nahezu alle Prinzipien der von Beccaria anvisierten Strafrechtsreform bereits – mehr oder weniger deutlich ausgesprochen – vorhanden waren. Dies gilt insbesondere für die folgenden Punkte: 1. die von Beccaria geforderte Unterscheidung von göttlicher und menschlicher Gerechtigkeit6 mit dem Ziel, die Autonomie der letzteren zu sichern, − eine Forderung, die in der Naturrechtslehre seit Grotius und Pufendorf schon längst vorbereitet worden, 2. die Behauptung, daß der Maßstab für die Bewertung der Größe des Verbrechens die Sozialschädlichkeit sei7, während Verstöße gegen die Sitten und die Religion rechtlich irrelevant seien8, die ebenfalls, wie wir bereits gesehen haben, Gemeingut der Naturrechtslehre war, 3. die Lehre vom Strafzweck, den Beccaria mit der überwiegenden Mehrzahl der Strafrechtstheoretiker des 18. Jahrhunderts in der Abschreckung (im Sinne der negativen Generalprävention9) sieht, weil es wichtiger sei, Verbrechen zu verhindern, als sie zu bestrafen: „Besser ist es, den Verbrechen vorzubeugen als sie zu bestrafen“ (§ XLI), 4. die Forderung nach Vereinfachung der Strafgesetze10 bei gleichzeitiger Abmilderung der Strafen, die Forderung nach Reform des Strafprozesses, insbesondere die Forderung nach der Herstellung der strafprozessualen Öffentlichkeit, 5. schließlich ist selbst das Zentrum der gesamten Strafrechtskritik Beccarias – seine Rede von der „unnütze[n] Häufigkeit der Strafen, die noch nie die Menschen besser gemacht hat“ (§ XXVIII) – nicht originell. Was die Überlegungen Beccarias in den Augen der Zeitgenossen auszeichnete, war also weniger die Neuheit der einzelnen Reformforderungen11 als vielmehr die Zurückführung des gesamten Strafrechts auf einige gängige und von der Aufklä-

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Georg Sacke, Zur Charakteristik der gesetzgebenden Kommission Katharinas II. von Russland, in: Archiv für Kulturgeschichte 21 (1931), S. 166−191. Zur Wirkung und Rezeption Beccarias in Rußland vgl. Franco Venturi, Beccaria en Russie, in: Ders., Europe des lumiéres. Recherches sur le 18e siécle, Mouton, Paris, Den Haag 1971, pp. 145−159. 6 Beccarria, Über Verbrechen und Strafen, § II. 7 Ebd., § VI. 8 Ebd., § XXXIX. 9 Ebd., § XVI. 10 Ebd., § XLI. 11 Peter Gay, The Enlightenment: An Interpretation. The Science of Freedom, New York/London 1977, p. 438: „Nothing in Dei delitti e delle pene is new; its governing ideas had been formulated, often in a tentative or fragmentary shape, by the teachers whom Beccaria so freely acknowledged“.

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rungsphilosophie mehrheitlich propagierte Prinzipien.12 Darüber hinaus beließ es Beccaria nicht bei der Aufstellung der grundlegenden Prinzipien, sondern ging dazu über, diese auf die wichtigsten Fragen des Strafrechts anzuwenden. Auf diese Weise treten nun die Probleme der Strafarten, des Strafprozeßrechts, des Beweisrechts, des Strafvollzugs usw. in das Bewußtsein einer breiteren Öffentlichkeit. Nunmehr beherrschen Fragen der Anwendung philosophischer Prinzipien auf die kriminalpolitische und der kriminalistische Praxis die Debatte. II. GESELLSCHAFTSVERTRAG UND STRAFRECHT Den Ausgangspunkt von Beccarias Lehre bildet die Bestimmung der Grenzen legitimer staatlicher Gewalt und damit verbundenen die Klärung des Ursprungs des jus puniendi. Beide Probleme will Beccaria unter Rückgriff auf die Konzeption des Gesellschaftsvertrags lösen. Die gesellschaftsvertragliche Staatskonzeption ist deshalb der „Fonds, aus dem er die Argumente für die Ausgestaltung der Strafsanktion schöpft“.13 Was die Herrschaftslimitation angeht, so behauptet er, daß die dem Herrscher gegebene Gewalt sich auf die Notwendigkeit gründet, das öffentliche Wohl „gegen partikulare Anmaßung zu verteidigen“ (§ II). Das jus puniendi muß als eine Rechtsfolge des Gesellschaftsvertrags betrachtet werden, d. h. es handelt sich bei der Strafgewalt um eine Kompetenz, die der Souverän aufgrund des staatskonstituierenden Vertrages innehat. Das Strafrecht muß deshalb in Abhängigkeit von dem Willen derjenigen, die sich zu einer societas civilis zusammenschließen, gedacht werden. Allerdings muß betont werden, daß die Konzeption des Gesellschaftsvertrags durch die besondere individualistische Fassung, die Beccaria ihr verleiht, bei ihm eine ganz eigentümliche Gestalt annimmt: Im Unterschied zu der großen Mehrzahl der Verfechter des Kontraktualismus, für die der Staatsvertrag als Konstitutionsakt der Stiftung der souveränen Rechtszwangsgewalt und der Legitimation und Ermächtigung staatlicher Herrschaft eine Rolle spielt, ist Beccaria v. a. an den herrschaftslimitierenden Aspekten der Vertragsfigur interessiert. Die Übertragung der Herrschaftsgewalt auf den Souverän ist nach seiner Auffassung von vornherein limitiert, denn es sei selbstverständlich, daß der Rechtsverzicht der einzelnen auf ein Mindestmaß beschränkt ist: „Kein Mensch hat freiwillig einen Teil der eigenen Freiheit im Hinblick auf das öffentliche Wohl dahingegeben [...]. Es war somit die Notwendigkeit, welche die Menschen zur Dahingabe eines Teils der eigenen Freiheit zwang; demnach ist es gewiß, daß ein jeder nur den geringstmöglichen Teil seiner Freiheit in das öffentliche Verwahrnis einbringen will, nur so viel, wie hinreicht, um die anderen dazu zu bringen, auch ihn zu schützen. Die Gesamtheit dieser geringstmöglichen Teile macht das Recht zum Strafen aus; alles darüber hinaus ist Mißbrauch und nicht Gerechtigkeit” (§ II).

12 Vgl. hierzu Melchior Grimm, Correspondance littéraire, 1. août 1765 : „M. Beccaria réduit la jurisprudence criminelle à un petit nombre de principes, les plus simples et les plus évidents, dont découlent toutes ses idées“ (zitiert nach Venturi, p. 319). 13 Gerd H. Wächter, Strafrechtliche Aufklärung. Strafrecht und soziale Hegemonie im 18. Jahrhundert, jur. Diss. Frankfurt/M. 1987, S. 155.

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So wie das Herrschaftsrechts des Staates kann auch das Strafrecht auf dieser kontraktualistischen Grundlage nur als limitiert gedacht werden: Weil das Strafrecht selbst aus der Anhäufung der jeweils kleinstmöglichen Teile der Freiheitsverzichte („la minima porzion possibile“, § II) bestehe, zu denen die einzelnen im Gesellschaftsvertrag durch die Notwendigkeit der Vergesellschaftung gezwungen waren, ist seine Ausübung an den Zweck des gesellschaftlichen Zusammenschlusses, der Sicherung des verbliebenen Restes der Freiheit, gebunden. Wie aber das Prinzip beschaffen sein soll, nach welchem bestimmt werden kann, ob eine Strafe den Bedingungen des Gesellschaftsvertrag entspricht und welcher Gebrauch des Strafrechts die Gerechtigkeit zerstört, das sagt Beccaria nicht. Aus der Konzeption des Gesellschaftsvertrags zieht Beccaria (§§ II f.) die folgenden Konsequenzen: –







„daß allein die Gesetze die Strafe für die Verbrechen bestimmen können, und diese Befugnis kann nur dem Gesetzgeber zustehen, der die gesamte durch einen Gesellschaftsvertrag vereinigte Gesellschaft repräsentiert“, „daß, wenn jedes einzelne Glied mit der Gesellschaft verbunden ist, diese gleicherweise mit jedem einzelnen Glied druch einen Vertrag verbunden ist, der seiner Natur nach beide Teile verpflichtet“, „sollte es erweisbar sein, die Härte der Strafen wäre, wenn nicht unmittelbar dem öffentlichen Wohl und dem Zweck, der in der Verhinderung der Verbrechen besteht, zuwider, sondern lediglich unnütz, auch dann stünde sie nicht allein jenen wohltätigen Tugenden entgegen, welche die Wirkungen einer erleuchteten Vernunft sind, [...] sondern sie verstieße zugleich gegen die Gerechtigkeit und die Natur des Gesellschaftsvertrags selber“; „nicht einmal die Befugnis, das Strafgesetz auszulegen, kann bei den Strafrichtern beruhen, und zwar aus dem Grunde, weil sie nicht Gesetzgeber sind.“ III. DIE KRITIK DER TODESSTRAFE

Die in den Augen der Zeitgenossen wichtigste Konsequenz, die Beccaria aus dem staatsphilosophischen Kontraktualismus zieht, ist allerdings seine ablehnende Haltung zur Todesstrafe. In dieser Frage finden zugleich Beccarias philosophische und kriminalpolitische Überzeugungen ihren konzentriertesten Ausdruck. Im Folgenden wird deshalb zunächst (a) die kontraktualistisch fundierte philosophische Kritik der Todesstrafe analysiert. Im Anschluß daran (b) werden die spezifischen kriminalpolitischen Einwände behandelt. (a) Aus der im vorigen Abschnitt diskutierten Fassung des staatsphilosophischen Kontraktualismus ergeben sich die Gründe für Beccarias Stellung zur Todesstrafe. Die Todesstrafe steht im Widerspruch zu den Bedingungen, unter denen es für Menschen überhaupt denkbar ist, einen Gesellschaftsvertrag abzuschließen. Kein Vertrag kann somit eine Befugnis stiften, durch die einer der Vertragspartner mit dem Tode bedroht würde. Das vermeintliche Recht zur Todesstrafe kann aus diesem Grunde nicht den gleichen Ursprung haben wie das Herrschaftsrechts des Souveräns, das aus der Summe beschränkter Freiheitsverzichte

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der einzelnen resultiert. Beccaria erinnert in dem Kapitel über die Todesstrafe nochmals an seine Ausführungen über den kontraktualistischen Ursprung der Staatsgewalt und aller mit ihr verknüpften Befugnisse: „Kann überhaupt jemals einer anderen Menschen die Befugnis, ihn zu töten, überlassen haben? Kann in dem kleinsten Opfer der Freiheit eines jeden das des größten aller Güter, des Lebens enthalten sein?” (§ XXVIII)

Das Problem der Vereinbarkeit der Todesstrafe mit den Bedingungen des Gesellschaftsvertrags begegnet uns schon bei Thomas Hobbes. Bei ihm führte die vorausgesetzte Unverzichtbarkeit des Rechts auf Leben zu der Aporie, daß das natürliche Recht des einzelnen auf der einen und das Recht des Souveräns, gegenüber seinen Untertanen beliebige Strafen zu verhängen, nicht zur Denkung gebracht werden konnten.14 Beccaria glaubte dagegen, diese Aporie dadurch vermeiden zu können, daß er die Rechtmäßigkeit von Lebensstrafen überhaupt bestritt. (b) Neben dem kontraktualistischen Argument gegen die Todesstrafe beruft sich Beccaria noch auf ein weiteres kriminalpolitisches, genauer gesagt: abschreckungspsychologisches Argument. Sein Plädoyer für die Abschaffung der Todesstrafe unterfüttert Beccaria mit einer Reihe von trivialpsychologischen Überlegungen aus dem Fundus der Abschreckungstheorie. Der Kern dieser Überlegungen, die Beccaria auch zu einer „allgemeinen Regel“ (§ XXVIII) zusammenfaßt, lautet, daß die Wirkung einer Strafe nicht auf der Intensität ihres Vollzugs beruht, sondern auf ihrer Extensität. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, weil hierin deutlich wird, daß im Rahmen von Beccarias Kritik des traditionellen Strafsystems das Abschreckungsprinzip nicht angetastet, sondern vielmehr im Sinne der o. g. ‚allgemeinen Regel‘ radikalisiert wird: An die Stelle des zwar kurzfristig abschreckenden, aber in seiner Wirkung doch nur vorübergehenden Schauspiels der Hinrichtung, soll die Lebensstrafe in Gestalt lebenslänglicher Arbeitssklaverei treten, in welcher der Mensch sich in ein Lasttier verwandelt, das „durch seine Arbeit die von ihm beleidigte Gesellschaft entschädigt“ und so „das lange und fortwährende Beispiel eines der Freiheit beraubten Menschen“ abgibt (§ XXVIIII). Gerade durch die unbestimmte Dauer der Bestrafung potenziert sich auch ihr Abschreckungspotential zu einem endlosen Schrecken, gegenüber welcher die Todesstrafe schon fast wieder als ein Akt der Humanität erscheint, weil sie die Leiden des Verbrechers zeitlich begrenzt. Beccarias Reformprogramm richtet sich folglich weniger gegen das ‚Theater des Schreckens‘, als das sich die zeitgenössische Strafpraxis erwies.15 Seine Vorschläge zielen darauf ab, die Stoßrichtung dieser Inszenierung der Strafe zu ändern. An die Stelle des quasi rituellen Quälens des Körpers, das nun als unnütze, weil psychologisch wirkungslose Grausamkeit angegriffen wird, tritt der Angriff auf die Seele des Delinquenten. Beccaria erscheint dieser Abschreckungsterrorismus ebensowenig fragwürdig wie seinen Vorgängern. Auch der Umstand, daß sein Strafprinzip den Verbrecher zu einem bloßen Demonstrationsobjekt 14 Vgl. Dieter Hüning, Hobbes on the Right to Punish, in: Patricia Springborg (ed.), The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan, New York 2007, pp. 216−240. 15 Vgl. Richard van Dülmen, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis und Strafrituale in der frühen Neuzeit, München 21988.

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effektiver staatlicher Abschreckungsbemühungen herabgesetzt wird, schien ihm nicht problematisch. Charakteristisch ist in dieser Hinsicht, daß die Frage, ob denn nicht auch der Verbrecher Rechte haben könnte, die seine totale Unterordnung im Strafterrorismus verhindern, auch nicht andeutungsweise aufscheint. IV. NÜTZLICHKEIT, ABSCHRECKUNG UND HUMANITÄT Die kriminalpolitische Aufklärungsliteratur formuliert ihre Reformvorschläge in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des gesellschaftlichen Nutzens. Dabei erfüllt die Berufung auf die Nützlichkeit der Strafen in erster Linie eine polemische Funktion, insofern dieser Maßstab das traditionelle Strafsystem insgesamt diskreditieren soll. Michel Foucault hatte in seiner einflußreichen Studie Surveiller et punir die traditionelle Deutung der kriminalpolitischen Aufklärung im Sinne einer fortschreitenden Humanisierung einer grundlegenden Kritik unterzogen und statt dessen die Kritik der kriminalpolitischen Aufklärung als Durchsetzung einer neuartigen Strafökonomie interpretiert: „Das eigentliche Ziel der Reform und ihrer allgemeinen Forderungen ist nach seiner Ansicht nicht so sehr die Begründung eines neuen Strafrechts auf gerechteren Prinzipien, sondern vielmehr die Etablierung einer neuen ‚Ökonomie‘ der Strafgewalt und die Gewährleistung einer besseren Verteilung dieser Gewalt dergestalt, daß sie weder an einigen bevorzugten Stellen zu stark konzentriert noch unter gegensätzlichen Instanzen zu sehr aufgeteilt, sondern in homogenen Kreisläufen verteilt ist, die den Gesellschaftskörper überall gleichmäßig durchdringen. Die Reform des Kriminalrechts ist als eine Strategie zur Stärkung der Strafgewalt aufzufassen und soll diese geregelter, wirksamer, beständiger und präziser machen“.16

Dieser Ausrichtung des Strafrechts am Gedanken der Nützlichkeit entspricht eine kriminalpolitische Forderung, nach welcher die Verbrechen nach ihrer Sozialschädlichkeit und die Strafen nach der Nützlichkeit für die Gesellschaft betrachtet werden sollen. Die Entrüstung gilt nicht den Qualen des Individuums, sondern der Verschwendung gesellschaftlicher Resourcen durch eine ‚unnütze‘ Strafpraxis. Beccaria, der die „utilità commune“ zum Fundament der menschlichen Gerechtigkeit erklärt (§ VII), hat deshalb die entscheidenden Argumente für die Reform des Strafrechts nicht aus Gesichtspunkten der Humanität, sondern aus denjenigen der politischen Notwendigkeit des Strafens gewonnen. Die Humanitätsidee dient Beccaria in erster Linie „als Mittel der Kritik an einer unzweckmäßigen Strafrechtspflege“, aber sie ist nicht der letzte Zweck des Strafrechts.17 Aus diesem Gesichtspunkt müssen deshalb erstens seine Vorschläge zur Milderung der Strafen, zweitens für die Reform des Strafvollzugs und drittens für die Abschaffung der Todesstrafe beurteilt werden: 1. Was zunächst die Strafmilderung betrifft, so ist Beccaria auch in diesem Punkt der Stichwortgeber einer intensiven Debatte, in der allgemein die Forderung nach Beseitigung der Härte und Grausamkeit der Strafen gefordert wird. 16 Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt/M. 1976, S. 102 f. 17 Naucke, Die Modernisierung des Strafrechts durch Beccaria, S. 47 ff.

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2. Im Hinblick auf den Strafvollzug, plädiert Beccaria für die „unverzügliche Bestrafung“ (§ XIX). Der Grund liegt, wie nicht anders zu erwarten, in der Abschreckungsfunktion der Strafen. Während die ‚unverzügliche Bestrafung‘ in den Gemütern der Menschen einen deutlichen Eindruck des Zusammenhangs von Verbrechen und Strafe hinterläßt, führt der verzögerte Vollzug der Strafen dazu, daß die Menschen beides, Verbrechen und Strafe, nicht mehr adäquat zu kombinieren vermögen und statt dessen den Strafvollzug weniger als Strafe, sondern als Spektakel wahrnehmen. 3. Die Dominanz von Nützlichkeitsgesichtspunkten tritt insbesondere bei der Kritik der Todesstrafe hervor. Diese wird weniger wegen ihrer Grausamkeit, sondern wegen ihrer Nutzlosigkeit abgelehnt. Das kriminalpolitische Nutzenkalkül bestimmt gleichfalls die Überlegungen was denn an die Stelle der Todesstrafe treten soll: Beccaria plädiert für die lebenslängliche Zwangsarbeit, durch die der Verbrecher bis zu seinem Lebensende der Gesellschaft noch nützliche Dienste leisten kann. Während Kant Beccaria vorwirft, dieser hätte die „Unrechtmäßigkeit der Todesstrafe [...] aus theilnehmender Empfindelei einer affectirten Humanität“ (RL § 49 E; AA VI: 334 f.) behauptet, zeigt die genauere Betrachtung des aufgeklärten Strafrechtsutilitarismus, daß hiervon eigentlich keine Rede sein kann. V. DER TRIUMPH DER NÜTZLICHKEIT Den konsequentesten Vorschlag zur Nützlichkeit der Strafe hatte allerdings schon einige Jahre vor Beccaria der Präsident der Berliner Akademie der Wissenschaften, Pierre-Louis Moreau de Maupertius, gemacht.18 Er hatte vorgeschlagen, die Todeskandidaten, statt sie hinzurichten, zu verschiedenen medizinischen Experimenten heranzuziehen, um auf diese Weise den Fortschritt der Medizin und der Anthropologie zu beflügeln.19 Im Falle, daß einer dieser Todgeweihten die an ihm vorgenommenen Eingriffe überleben würde, könnte er begnadigt werden, weil sein Verbrechen in gewisser Weise durch den erzielten medizinischen Nutzen aufgehoben worden sei. Die Hoffnung zu überleben bzw. der medizinische Fortschritt sind also die Köder, den Maupertuis auslegt, um sowohl den Todeskanditaten als auch seinen Lesern seinen Vorschlag schmackhaft zu machen.20 Zwar betont er, daß „le succès de l’opération & l’humanité“ verlangen würden, daß man die Schmerzen und die Lebensgefahr verringert, weshalb man 18 Pierre Louis Moreau de Maupertuis, Lettre sur le progrès des sciences (1752), in: ders.: Œuvres II, hrsg. von Giorgio Tonelli, Hildesheim 1965, § XI: Utilités du supplice des criminels, pp. 407−413. 19 Vgl. hierzu Dieter Hüning, Der Verbrecher als Objekt medizinischer Forschung. Eine bisher nicht nachgewiesene Maupertuis-Referenz in Kants Rechtslehre, in: Kant und die Philosophie in weltbürgerlicher Absicht. Akten des XI. Internationalen Kant-Kongresses. Im Auftrag der Kant-Gesellschaft herausgegeben von Stefano Bacin, Alfredo Ferrarin, Claudio La Rocca und Margit Ruffing, Berlin/ Boston: De Gruyter Verlag 2013, Bd. 5, S. 467-479. 20 Maupertuis, Lettre sur le progrès des sciences, p. 408: „Pour tenter ces nouvelles opérations, il faudroit que le criminel en préferat l’expérience au genre du mort qu’il auroit mérité. Il paroîtroit juste d’accorder la grace à celui qui y survivroit, son crime étant en quelque maniere expié par l’ulitité qu’il auroit procurée.“

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die anvisierten Experimente zunächst an Kadavern, dann an Tieren (insbesondere denen, die dem Menschen am meisten verwandt sind) und schließlich an den Verbrechern vornehmen solle. Aber daß die Betroffenen gleichwohl nur wenig Überlebenschanchen haben würden, ergibt sich aus der Art von Operationen, die Maupertuis vorschweben. Sein Interesse gilt nämlich jener „merveilleuse union de l’ame & et du corps“, über die man vielleicht dann etwas erfahren könne, „si l’on osoit en aller chercher les liens dans le cherveau d’un homme vivant“. Andere Experimente sollen dazu dienen, den Grad der Giftigkeit von Schlangen, Skorpionen, Spinnen und von Pflanzen oder pflanzlicher Wirkstoffe (wie z. B. Opium) zu testen. Den Vorwurf der Grausamkeit weist Maupertuis folgendermaßen zurück: „un homme n’est rien, comparé à l’espece humaine; un criminel est encore moins que rien“.21 Fragt man nun, was der philosophische Ertrag der kriminalpolitischen Aufklärung ist, die hier stellvertretend in einigen Aspekten am Beispiel Beccarias behandelt wurde, so muß festgestellt werden, daß der ungeheure publizistische Erfolg von Beccarias Schrift kaum auf einem begründungstheoretischen philosophischen Fortschritt der Legimierung des Strafgewalt beruhte. Auffällig ist vielmehr der Umstand, daß Beccaria die meisten Theorieelemente der naturrechtlichen Begründung der Strafe reproduziert, nur daß er auf dieser Grundlage zu anderen reformerischen kriminalpolitischen Ergebnissen kommt. Diese für die rechtsphilosophische Bewertung entscheidende Differenz zwischen Strafrechtsphilosophie und Kriminalpolitik wird von den Interpreten zumeist übersehen. So bespricht z. B. Mario Cattaneo, einer der führenden Historiker der neuzeitlichen Strafrechtsphilosophie, in seinem Aufsatz über „Beccaria und Kant“ die oben angeführten problematischen Aspekte des Abschreckungsprinzips bei Beccaria und behauptet dann, daß zwei „grundlegende Faktoren [...] den Eintritt der negativen Konsequenzen des präventiv-utilitaristischen Strafzwecks verhindern: zum einen das humane Empfinden, der Grundsatz der Humanisierung der Strafen und die Polemik gegen ein System barbarischer und unmenschlicher Strafen, zum anderen der Grundsatz der Rechtssicherheit, die Konstruktion eines von rechtsstaatlichen Werten inspirierten Strafensystems“.22

Nun war allerdings bereits gezeigt worden, daß für Beccaria der „Grundsatz der Humanisierung der Strafen“ in erster Linie in ihrer Ausrichtung an ihrer politischen Nützlichkeit besteht. Humanisierung bedeutet also für Beccaria, das Straf21 Maupertuis, ibd., p. 411. Kant wird in seinen „Metaphysischen Anfangsgründen der Rechtslehre“ den Vorschlag von Maupertuis mit folgenden Worten kommentieren: „Was soll man also von dem Vorschlage halten: einem Verbrecher auf den Tod das Leben zu erhalten, wenn er sich dazu verstände, an sich gefährliche Experimente machen zu lassen, und so glücklich wäre gut durchzukommen; damit die Ärzte dadurch eine neue, dem gemeinen Wesen ersprießliche Belehrung erhielten? Ein Gerichtshof würde das medicinische Collegium, das diesen Vorschlag thäte, mit Verachtung abweisen; denn die Gerechtigkeit hört auf eine zu sein, wenn sie sich für irgend einen Preis weggiebt“ (RL, AA VI: 332). Wie ersichtlich setzt Kant dem Nützlichkeitsprinzip dasjenige der (juridischen) Gerechtigkeit entgegen. − Zu Kants Lektüre der Schriften Maupertuis’ vgl. Jean Ferrari, Les sources françaises de la philosophie de Kant, Paris 1979, pp. 110−116. 22 Mario A. Cattaneo, Beccaria und Kant. Der Wert des Menschen im Strafrecht, in: Ders., Aufklärung und Strafrecht. Beiträge zur deutschen Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts, Baden-Baden 1998, S. 37.

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recht nach solchen Forderungen auszurichten, die für jedermann in Bezug auf das sein eigenes Interesse verstehbar sind. Weil aber jedes Individuum von Beccaria als rationaler Egoist, als Nutzenmaximierer auf der Grundlage genereller Prinzipien gedacht wird, ist nicht nur die Nützlichkeit der Strafe, sondern auch die Gewährleistung allgemeiner Rechtssicherheit eine kluge Entscheidung. Aber hierin liegt zugleich der entscheidende Schwachpunkt der Strafrechtstheorie Beccarias und zugleich das Einfallstor für die terroristischen Konsequenzen seiner Prinzipien: Weil der Maßstab der Grausamkeit selbst in ihrer Nützlichkeit bzw. Nutzlosigkeit besteht, ist Beccaria blind dafür, daß er die Verbrecher zu rechtlosen Objekten der Strafpolitik macht.23 Vielmehr scheint Beccaria der Auffassung zu sein, daß im Hinblick auf die Strafe die Grausamkeit dann kein Problem darstellt, wenn sie nützlich ist, und zwar aus dem oben angeführten Grund, daß sie dadurch für jedermann auf der Grundlage seines eigenen Nutzenkalküls verstehbar ist. Darüber hinaus sind die guten Absichten eines Autors und sein ‚humanes Empfinden‘ völlig untaugliche Kriterien zur Klärung der Frage nach der Rechtmäßigkeit der Abschreckungsstrafe.24 VI. BECCARIA, ROUSSEAU UND KANT: EMPIRISMUS UND APRIORISMUS IN DER LEHRE VOM GESELLSCHAFTSVERTRAG25 In seiner Rechtslehre hat Kant Beccarias Begründung für die „Unrechtmäßigkeit aller Todesstrafe“ zunächst kurz skizziert − „weil sie im ursprünglichen bürgerlichen Vertrage nicht enthalten sein könnte denn, da hätte jeder im Volk einwilligen müssen, sein Leben zu verlieren, wenn er etwa einen anderen (im Volk) ermordete; diese Einwilligung aber sei unmöglich, weil niemand über sein Leben disponieren könne“, um dann festzustellen, hier sei „Alles Sophisterei und Rechtsverdrehung“ (RL, § 49 A, AA VI: 334 f.). Angesichts des zeitgenössischen Urteils über die Verdienste Beccarias um die kriminalpolitische Aufklärungsbewegung des späten 18. Jahrhunderts könnte es scheinen, als sei dieses Vernichtungsurteil doch ziemlich ungerecht. Aber wir hatten schon gesehen, daß es mit Beccarias strafrechtstheoretischen Humanismus doch nicht so gut bestellt ist, wie die zeitgenössischen Lobpreisungen zunächst vermuten lassen und daß Beccaria – als Abschreckungstheoretiker hierin konsequent – durchaus bereit ist, Gesichtspunkte der Humanität zugunsten des gewünschten Abschreckungseffekts außer Kraft zu setzen. Nun ist der Begriff der Humanität selbst hinreichend unbestimmt, um eine bedeutende Rolle bei dem Urteil über eine Theorie spielen zu können. Kant selbst 23 Zur Kritik an Beccarias Einwand der Grausamkeit vgl. Julius Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, in: Ders., GS II: Philosophie der Freiheit, hrsg. von Georg Geismann und Hariolf Oberer, Bonn 1988, S. 283−380, hier S. 314 ff., der zeigt, daß Beccarias Kampf gegen die Grausamkeit „ins Unbestimmte verfließt“, weil er u. a. selbst der Auffassung zu sein scheint, daß das ein gewisses Maß an Grausamkeit aus Gründen der Abschreckung unverzichtbar ist. 24 Cattaneo, Beccaria und Kant, S. 37. 25 Unverzichtbar zum Verständnis der Kantischen Kritik an Beccaria sind die Ausführungen von Julius Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen nach Prinzipien einer Rechtsphilosophie der Freiheit, GS II, bes. S. 311−321, 367−380.

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legt den Schwerpunkt seiner Kritik deshalb vernünftigerweise auf einen anderen Aspekt. Seine Kritik gilt der spezifischen Fassung des Kontraktualismus bei Beccaria. Der Maßstab dieser Kritik ist zwar nun gleichfalls die Idee des ‚ursprünglichen Contracts‘. Aber während, wie gezeigt, Beccaria der Auffassung war, daß das Recht, die Todesstrafe zu verhängen, unmöglich Gegenstand eines ursprünglichen Vertrags sein könne und demgemäß im Widerspruch mit dem steht, wozu ein Mensch überhaupt rechtlich verbunden werden kann, zieht Kant aus dieser Rechtsidee ganz andere Konsequenzen als Beccaria. Insbesondere die Annahme, daß es ein unveräußerliches Recht auf Leben gäbe, ist keineswegs so selbstverständlich, wie Beccaria glauben machen will. In dieser Hinsicht ist die Stellungnahme Rousseaus von Interesse, der die juridische Möglichkeit und Notwendigkeit der Todesstrafe im Unterschied zu Beccaria gerade aus dem Zweck des contrat social ableitet: Rousseau bestreitet nämlich, daß das Recht auf Leben eine der konstituierenden Bedingungen der Stiftung der Gesellschaft ist. Für Rousseaus Principes du droit politique ist das Faktum des Lebens irrelevant, weil dasjenige Interesse, das alle zum Abschluß des Gesellschaftsvertrags bestimmt, nicht das Interesse der Selbsterhaltung oder des Lebens ist, sondern das Interesse aller an der wechselseitigen Sicherung ihrer Rechte und damit ihrer rechtlichen Freiheit sein kann. Aus diesem Grunde kann es beim Abschluß des contrat social auch keinen wie auch immer gearteten naturrechtlichen Vorbehalt der einzelnen geben, dieser Vertrag beruht vielmehr auf einer „aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté“, die notwendigerweise „sans reserve“ erfolgt: „Car premierement, chacun se donnant tout entier, la condition est égale pour tous, et la condition étant égale pour tous, nul n’a intérêt de la rendre onéreuse aux autres. De plus, l’aliénation se faisant sans réserve, l’union est aussi parfaite qu’elle ne peut l’être et nul associé n’a plus rien à réclamer: Car s’il restoit quelques droits aux particuliers, comme il n’y auroit aucun supérieur commun qui put prononcer entre eux et le public, chacun étant en quelque point son propre juge prétendroit bientôt l’être en tous, l’état de nature subsisteroit et l’association deviendroit nécessairement tirannique ou vaine“.26

Nur in Bezug hierauf, d. h. nur in Bezug auf die allgemeinen (staats-)rechtlichen Bedingungen, gemäß denen Zwang auf Menschen ausgeübt werden kann, gibt es eine mögliche Übereinstimmung des Willens aller, eben die volonté générale als derjenige Wille, der die gesetzlichen Bedingungen der äußeren Freiheit selbst zum Gegenstand hat: „Tant que les sujets ne sont soumis qu’à de telles conventions, ils n’obéissent à personne, mais seulement à leur propre volonté; et demander jusqu’où s’étendent les droits respectifs du Souverain et des Citoyens, c’est demander jusqu’à quel point ceux-ci peuvent s’engager avec eux-mêmes, chacun envers tous et tous envers chacun d’eux.“27

Der Wille des contrat social ist ein Wille, zu dem jedermann seine Zustimmung hat geben können. Der nach Prinzipien des Vernunftrechts begründete Staat muß nicht nur eine souveräne Zwangsgewalt sein, die auf dem Zusammenschluß aller, auf dem ursprünglichen Vertrag beruht, sondern er muß seinen Zwang auf 26 Du contrat social I, 1, in: Ders. Œuvres complètes. Édition publiée sous la direction de Bernard Gagnebin et Marcel Raymond, tome III, Paris 1969, I, 6. 27 Ebd., II, 4.

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freiheitsgesetzlicher Grundlage ausüben, „parce que l’essence du corps politique est dans l’accord de l’obéissance et de la liberté“.28 In Bezug auf die volonté générale ist das Leben als solches bloß „un bienfait de la nature“ und steht aus diesem Grunde in keinem direkten Verhältnis zu einer auf die Freiheit der Menschen bezogenen allgemeinen Gesetzgebung. Die Naturgegebenheit des Lebens ist juridisch irrelevant, weil das Faktum der Lebendigkeit als solches nach Rousseaus Auffassung überhaupt keinen Rechtsanspruch zu begründen vermag. Deshalb kann jeder Bürger ein Recht auf Leben „nur unter einer Bedingung“ geltend machen, „nämlich in Abhängigkeit von der möglichen Übereinstimmung seines Willens mit dem Willen, der will, daß Menschen sich unter Bedingungen ihres Rechts vereinigen können sollen.“29 Somit verwandelt sich das Leben aus einer bloßen Naturtatsache unter den Bedingungen des status civilis in ein „don conditionnel de l’Etat“30. Im Unterschied zu Beccaria ist Rousseau also der Auffassung, daß gegenüber dem Strafrecht der Staatsgewalt kein diese Kompetenz einschränkendes Lebensrecht des einzelnen geltend gemacht werden kann. Bedingung dafür, daß der Staatsbürger lebt, ist vielmehr die Rechtssicherheit eines jeden, die ihrerseits davon abhängt, daß jeder bereit ist, die gleichen Rechte anderer anzuerkennen. Unter dieser Voraussetzung sind sehr wohl Fälle denkbar, in welchen das Leben des einzelnen im Widerspruch mit den Bedingungen der allgemeinen Rechtssicherheit steht. Umgekehrt ist das Leben jedes einzelnen Bürgers in seiner rechtlichen Möglichkeit dadurch bedingt, daß dieser die rechtlichen Bedingungen der allgemeinen Rechtssicherheit anerkennt. Bekanntlich hat Kant in seiner Staatsrechtslehre die Einsichten von Rousseau übernommen und radikalisiert. Auch für ihn ist die Unbedingtheit der Unterwerfung ein konstitutives Element des Staatsvertrags. Nach Kant besagt diese Idee, daß „alle (omnes et singuli) im Volk ihre äußere Freiheit aufgeben, um sie als Glieder eines gemeinen Wesens, d. i. des Volks als Staat betrachtet (universi), sofort wieder aufzunehmen, und man kann nicht sagen: der Mensch im Staate habe einen Theil seiner angebornen äußeren Freiheit einem Zwecke aufgeopfert, sondern er hat die wilde, gesetzlose Freiheit gänzlich verlassen, um seine Freiheit überhaupt in einer gesetzlichen Abhängigkeit, d. i. in einem rechtlichen Zustande, unvermindert wieder zu finden, weil diese Abhängigkeit aus seinem eigenen gesetzgebenden Willen entspringt.“ (RL § 47, § 47, AA VI: 315 f.).

In der Tat ist nicht einsehbar, wie Beccarias Konzeption des Staatsvertrags überhaupt ein „Prinzip für eine Vereinigung der Menschen mit Bezug auf die mögliche Bestimmung ihrer äußeren Freiheit“ enthalten soll.31 Da Beccaria die einzelnen als rational kalkulierende Egoisten betrachtet, die nur die Rechtsbindung der anderen und gleichzeitig ihren Nutzen im Auge haben32, ist kein allgemeines Prinzip denkbar, das den Maßstab der Vereinigung aller zu einem gesetzgebenden Willen ausmachen könnte. Unter diesen Umständen wird aber völlig uneinsichtig, „wie es jemals zwischen ihnen zu einer allgemeinen, von 28 29 30 31 32

Ebd., III, 13. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, GSII, S. 310 f. Rousseau, Du contrat social II, 5; OC III, p. 376. Ebbinghaus, Die Strafen für Tötung eines Menschen, GS II, S. 313. „Ein jeder von uns [wünschte], daß die Verträge, welche andere binden, uns nicht binden möchten“ (§ II, S. 38).

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zufälligen Bedingungen unabhängigen Einigung über einen noch so kleinen Verzicht auf ihre Freiheit kommen können soll“. Auf dieser Grundlage kann nicht nur kein Recht der Todesstrafe entwickelt werden, sondern überhaupt kein allgemeines Prinzip des Strafrechts und schließlich auch kein allgemeines Staatsrecht, „deswegen nicht, weil aus diesem Vertrage ein Recht von wem immer, die Freiheit der Partner durch allgemeine Gesetze zu beschränken, und folglich eine Vereinigung von Menschen unter Bedingungen ihres Rechtes überhaupt nicht entspringen kann.“33

Die entscheidende Kritik Kants an Beccaria liegt aber in der Zurückweisung der Vorstellung, daß der Verbrecher seiner Bestrafung müsse zugestimmt haben, so als ob der empirische Wille des Verbrechers, sofern er sich in den Bedigungen des Gesellschaftsvertrags niederschlägt, die Bedingung der Rechtmäßigkeit der Bestrafung wäre. „Strafe erleidet jemand nicht, weil er sie, sondern weil er eine strafbare Handlung gewollt hat; denn es ist keine Strafe, wenn einem geschieht, was er will, und es ist unmöglich, gestraft werden zu wollen. [...] Ich als Mitgesetzgeber, der das Strafgesetz dictirt, kann unmöglich dieselbe Person sein, die als Unterthan nach dem Gesetz bestraft wird; denn als solcher, nämlich als Verbrecher, kann ich unmöglich eine Stimme in der Gesetzgebung haben [...]. Wenn ich also ein Strafgesetz gegen mich als einen Verbrecher abfasse, so ist es in mir die reine rechtlich-gesetzgebende Vernunft (homo noumenon), die mich als einen des Verbrechens Fähigen, folglich als eine andere Person (homo phaenomenon) sammt allen übrigen in einem Bürgerverein dem Strafgesetze unterwirft.“ (RL § 49 E, AA VI: 335).

BIBLIOGRAPHIE Beccaria, Cesare (1988): „Über Verbrechen und Strafen“. Nach der Ausgabe von 1766 übersetzt u. hrsg. von Wilhelm Alff. Frankfurt a.M. Cattaneo, Mario A. (1998): „Beccaria und Kant. Der Wert des Menschen im Strafrecht“. In ders.: Aufklärung und Strafrecht. Beiträge zur deutschen Strafrechtsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Baden-Baden, S. 7−47. Foucault, Michel (1976): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a. M. Gay, Peter (1977): The Enlightenment: An Interpretation. The Science of Freedom. New York/London. Hüning, Dieter (2007): „Hobbes on the Right to Punish“. In: Patricia Springborg (Hrsg): The Cambridge Companion to Hobbes’s Leviathan. New York, S. 216−240. Hüning, Dieter (2009): „Beccaria und die kriminalpolitische Aufklärung“. In: Marina Bykova/Maria Solopova (Hrsg.): $%&'()* + ,'-'. .'/&+0 &1$2&34 ()1)56 0 7.+,57 8/'95(('/1 :. ;. )-. /5?.