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German Pages 435 [452] Year 1969
Gerhard Lehmann
Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1969
Mit zwei Beilagen und vier Faksimiletafeln.
Ardiiv-Nr. 36 79 691 © 1969 by "Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Gösdien'sche Verlagshandlang — J . Gattentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J . Trübner — Veit & Comp.» Berlin 30 Alle Rechte des Nachdrucks, der photoraedianischen Wiedergabe, der Obersetzung» der Herstellung von Mikrofilmen und Photokopien, auch auszugsweise, vorbehalten. Printed in Germany. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin 44
Vorwort Diese Sammlung kleinerer Schriften und Aufsätze der Jahre 1935 bis 1967 enthält nur Arbeiten, die im Zusammenhang mit der Akademieausgabe von Kants Werken entstanden sind. Und auch von ihnen nur einen Teil. Die Ordnung ist nicht chronologisch, sondern — wenn man so will — systematisch. Ich gebe zuerst Abhandlungen, die sich unmittelbar oder mittelbar auf die Geschichte der Akademieausgabe beziehen (1—5), dann solche, die es mit der Interpretation der ganzen Philosophie Kants zu tun haben, auch wenn sie von Einzelfragen ausgehen (6—12). Es folgen Arbeiten, die, im Gegensatz hierzu, allein oder vorwiegend Probleme des Nachlaßwerkes behandeln (13—18). Ein vierter Teil (19), eigentlich nur ein Anhang, beschäftigt sich mit Kants Biographie. In allen diesen Stücken wurden Druck- und Sinnfehler verbessert, Zitate auf die Akademieausgabe umgestellt, neu hinzugekommene Anmerkungen durch Buchstabenindices gekennzeichnet, jedoch keine grundsätzlichen Änderungen vorgenommen. Der erste Beitrag zur Geschichte der Kantausgabe (S. 1—26) enthielt ursprünglich (1956) als „Beilagen" nur vier Briefe von Dilthey an Adickes aus dem Winter 1904—1905. Da P. Menzer mit Recht das Fehlen der Briefe von Adickes an Dilthey bemängelt hatte (Kant-Studien Bd. 49, 4, 1958, S. 344), wurden diese Briefe hinzugenommen. Womit das Für und Wider der beiderseitigen Argumentationen nun wohl ganz deutlich geworden ist. Hinzu kamen ferner zwei Faksimileanlagen: die „Regeln für die Abtheilung der Werke", deren Gültigkeit für die Ausgabe von Menzer bezweifelt worden war (a. a. O. S. 339), und Diltheys erster Bericht über die Ausgabe. (Seine Ankündigung der Kantausgabe in der Akademie findet sich in den Kantstudien, 1. Bd. 1896, S. 149 f.). Mit den „Regeln" ist die „Einleitung in die Abtheilung der Werke" (I 505—517; jetzt auch in der Paperback-Ausgabe) zu vergleichen. Schließlich ließ es sich ermöglichen, die in der Akademieabhandlung über ein Reinschriftfragment zum Ewigen Frieden (51—66; 1955) enthaltenen Faksimiletafeln in Originalgröße zu bringen. Von meiner Greifswalder Habilitationsschrift (eingereicht am 1.2. 1939) habe ich das Vorwort gestrichen: darin stand etwas von einer „Ent-
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Vorwort
deckung" — ein Ausdruck, der auf Leute, die immer alles besser wissen, leicht wie ein rotes Tuch wirkt. Dagegen wurde das „Schrifttum zu Kants Nachlaßwerk" auf den heutigen Stand gebracht. — Für den ganzen Band wurde ferner ein Personenverzeichnis und eine Obersicht der Erstveröffentlichungen angefertigt. Desiderat bleibt nach wie vor eine ausführliche, nach den Akten gearbeitete und auf persönlichen Erfahrungen beruhende — meine Erfahrungen mit der Preußischen Akademie begannen im Jahre 1923 — Geschichte der Kantausgabe. Nicht minder wichtig, aber weit schwieriger, dürfte es sein, die im letzten Beitrag (411—421) skizzierte Biographie Kants wirklich auszuführen. Vordringlich aber bleibt der Abschluß der Ausgabe selbst (IV. Teil Vorlesungen). Zu Dank verpflichtet bin ich Herrn Dr. Dr. Paul Junker für die Rückgabe der Urheberrechte an meiner Arbeit von 1939, der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin: Herrn Prof. Dr. Hartke und dem Akademieverlag, sowie dem Verlag Walter de Gruyter bzw. dem Leiter der geisteswissenschaftlichen Abteilung, Herrn Prof. Dr. H . Wenzel, der mich zur Neuausgabe dieser Kantarbeiten ermutigt hat. Berlin-Lichtenrade, am Totensonntag 1968
Gerhard Lehmann
Inhaltsverzeichnis
I. Zur Geschichte der Kantausgabe 1. Zur Geschichte der Kantausgabe 1896—1955 Beilage: Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und Erich Adickes (Winter 1904—1905)
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2. Fragen der Kantedition 27 3. Geschichte eines Manuskriptes 45 4. Ein Reinschriftfragment zu Kants Abhandlung vom ewigen Frieden 51 5. Einführung in Kants Vorlesungen 67
II. Ubergreifende Interpretationsfragen 6. Voraussetzungen und Grenzen systematischer Kantinterpretation 7. Kritizismus und kritisches Motiv in der Entwicklung der Kantischen Philosophie 8. System und Geschichte in Kants Philosophie 9. Kants Widerlegung des Idealismus 10. Anwendung und Übergang als Systemprobleme der Kantischen Philosophie 11. Kants Besitzlehre 12. Kant und der Evolutionismus Zur Thematik der Kantforsdiung Paul Menzers
89 117 152 171 188 195 219
III. Zur Analyse des Nachlaßwerkes 13. Ganzheitsbegriff und Weltidee in Kants Opus Postumum 14. Das philosophische Grundproblem in Kants Nachlaß werk 15. Die Technik der Natur
247 272 289
Inhaltsverzeichnis
VIII 16.
Kants N a c h l a ß w e r k u n d die Kritik der Urteilskraft
295
Einleitung
295
I. Teil: Grundprobleme der Kritik der Urteilskraft und des Nachlaß werkes . . . . 302 a) Grundprobleme der Kritik der Urteilskraft 302 b) Grundprobleme des Nachlaß werkes 312 II. Teil: Indirekte Hinweise des Nadilaßwerkes auf die Kritik der Urteilskraft 321 a) Explizite indirekte Hinweise 321 b) Implizite indirekte Hinweise 328 III. Teil: Interpretation des Zusammenhanges von Nadilaßwerk und Kritik der Urteilkraft 342 a) Die Technik der Natur 342 b) Die technisch-praktische Vernunft 349 c) Die Selbstsetzungslehre 357 d) Die Selbstaffektion und Erscheinungsstufung 363 Schrifttum zu Kants Nachlaßwerk 371 17.
Erscheinungsstufung u n d Realitätsproblem in K a n t s O p u s Postumum 374
18.
Zur Frage der Spätentwicklung Kants
392
IV. Biographisches 19.
Kants Lebenskrise
Bibliographie der Erstveröffentlichungen Personenverzeichnis
411 422 423
I Zur Geschichte der Kantausgabe
Zur Geschichte der Kantausgabe 1896—1955 Es war im Februar 1896, als in den wichtigsten Zeitungen und Zeitschriften der Reichshauptstadt ein „Aufruf" erschien: die Kgl. Preußische Akademie der Wissenschaften habe beschlossen, eine vollständige, kritische Ausgabe der Werke Kants zu veranstalten; sie möchte dadurch eine „Ehrenschuld der Nation gegenüber ihrem großen Philosophen abtragen" und bitte um Unterstützung aller, die im Besitze von Kantmaterialien sind. Dieser Aufruf gehörte zu einem „Zirkular", dem eine „Orientierung über die Kant-Ausgabe der Kgl. Preußischen Akademie" beigegeben war. Zwei weitere Zirkulare wurden an Bibliotheken und Archive sowie an „Autographensammler" versandt 1 . Das war der erste Schritt, mit dem die neugegründete „Kommission der Kgl. Preußischen Akademie der Wissenschaften für Herausgabe der Werke Kants" an die Öffentlichkeit trat. Unterzeichnet hatten die Mitglieder Dilthey, Diels, Stumpf, Vahlen und Weinhold. Damit beginnt die Geschichte der Kant-Ausgabe, die mit der Veröffentlichung von Band X X I I I im Dezember 1955 ihren Abschluß gefunden hat (wenn wir von zwei noch fertigzustellenden Indexbänden absehen). Sie hat eine Vorgeschichte. Eine offizielle, die Dilthey im ersten Bande der „Werke" (1902) gibt, und eine inoffizielle, die sich in Diltheys Briefwechsel mit dem Grafen York von Wartenburg (Halle 1923) findet. Natürlich ist die inoffizielle interessanter und datenreicher. Wir erfahren aus ihr, wie groß der wirkliche Anteil Diltheys, des Initiators und Organisators der Ausgabe, an den Vorarbeiten war. Wir erfahren, daß er den Plan im Jahre 1893 dem damaligen Kultusminister Fr. Althoff sowie der Akademie vortrug und daß seine Denkschrift „ein ganzes Buch" war, daß die Ausgabe ein „Gegenstück" zur Goetheausgabe sein sollte, „aber von einer ganz anderen Fruchtbarkeit", daß erst „nach Beendigung des K a n t " die Leibnizausgabe folgen sollte. Im Jahre 1894 wurde die Ausgabe von der Akademie beschlossen. Und im Mai 1896 schreibt Dilthey, daß er nunmehr auch einen „guten Sekretär" für die „Kantvorbereitungsarbeiten" habe. Dieser Sekretär war Paul Menzer, auch heute noch 1
Abdruck in: Kantstudien I, 1896, S. 150—154.
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Zur Geschichte der Kantausgabe
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außerakademisches Mitglied der Kantkommission — damals dreiundzwanzigjährig, jetzt der Nestor der deutschen Philosophen. Über den Anteil Menzers an der Ausgabe wird zu berichten sein; damals stand er noch vor der Promotion und hatte die umfangreichen Konzepte und Briefe Diltheys abzuschreiben. Man kann fragen, wie es überhaupt zu dem Gedanken einer KantAusgabe der Preußischen Akademie der Wissenschaften kam? Fehlte es an Ausgaben der Werke Kants? Keineswegs. Es lagen um diese Zeit nicht weniger als drei Gesamtausgaben vor: eine lObändige von Hartenstein 1838/39, eine 12bändige von Rosenkranz und Schubert 1838/42 und eine 8bändige chronologische, ebenfalls von Hartenstein, 1867/69. Dazu kamen die wohlfeilen Ausgaben von v. Kirchmann (1868 f.) und Kehrbach (bei Reclam) o. J.2, die zwar nicht | vollständig sein wollten, von denen aber besonders die letzte bald eine große Verbreitung erlangte. Es fehlte auch nicht an Veröffentlichungen aus Kants Nachlaß — von Benno Erdmann (1882ff.), R. Reicke (1889ff.) u.a. —, aus Kants Vorlesungen und aus Kants Briefwechsel. Aber es fehlte eine Ausgabe, die nicht nur dies alles vereinigte, sondern auch Neues, noch gar nicht Aufgefundenes, bringen konnte — eine Ausgabe auf lange Sicht und auf Zuwachs geplant. Diese Ausgabe mußte ein Organ haben, in welchem vorher veröffentlicht wurde, was später als Konjekturen, exegetische und textkritische Miszellen, in die Ausgabe Aufnahme finden konnte. Daher erfolgte 1896 die Parallelgründung der „Kantstudien", die auch heute noch bestehen, und die zuerst von Hans Vaihinger herausgegeben wurden. Auf Wunsch des Herausgebers traten Dilthey und seine Mitarbeiter in die Redaktion der Kantstudien, so daß von Zeit zu Zeit „authentische Berichte über den Stand der neuen Ausgabe" gebracht werden konnten3. Was nun den Plan selbst betrifft, so waren ursprünglich 8 Bände Werke, 4 Bände Briefe, 7 Bände Nachlaß und eine noch unbestimmte Anzahl von Vorlesungsbänden vorgesehen. Eine gewisse Inkonvenienz ergab sich daraus, daß erstens das eigentliche Nachlaß werk Kants (Opus postumum), d.h. das umfangreiche Manuskript über den „Ubergang" von der Naturmetaphysik zur Physik, an welchem Kant in seinen letzten Lebensjahren arbeitete, der Akademieausgabe (zunächst) nicht zugänglidi war — es war Privatbesitz, und der Versuch der Akademie, die Überlassung der Editionsrechte gerichtlich zu erzwingen, scheiterte 1902 —, daß Kant ferner mehrere Vorlesungen Schülern zur Veröffentlichung übergeben hatte (Logik, Physische Geographie, Pädagogik), die 2
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Die berühmte, textkritisdi hervorragende, Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft von Kehrbach hat ein Vorwort vom März 1877. H . Vaihinger, in Kantstudien I, 1896, S. 6.
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noch zu seinen Lebzeiten erschienen, daß es drittens Schriften von Kant gab, die er überhaupt nicht selber herausgegeben hatte (wie die sogenannte Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik, die von Rink, oder die sogenannte Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft, die im Auszuge von Beck publiziert worden war), und daß 1817 und 1821 Vorlesungsnachschriften erschienen waren (die sogenannten Pölitz-Vorlesungen über Kants Religionsphilosophie und Metaphysik), die als Apokrypha dem festen Bestände der Kantliteratur angehören. An allen diesen Punkten — abgesehen vom letzten, der, wie der Gesamtkomplex „Vorlesungen", noch unerledigt ist — mußte der Plan revidiert werden. Zunächst erschien jedenfalls der Briefwechsel Kants, und zwar Band I und II 1900, Band III 1902. Er war das Lebenswerk des Königsberger Bibliothekars R. Reicke (f 1905) und bradite die Briefe von und an Kant, die Notierungen aller nachweisbaren, aber nicht erhaltenen Briefe, eine Auswahl aus dem amtlichen Schriftverkehr, öffentliche Erklärungen, Denkverse, biographische Urkunden usw. Ein IV. Band: Anmerkungen und Register, sollte folgen, konnte aber von Reicke nicht mehr beendet werden und erschien erst nach der zweiten Auflage der drei Briefbände im Jahre 1922. Besorgt hat ihn nach Reickes Tode Paul Menzer in Verbindung mit Reickes Sekretärin R. Burger. Dieser Band ist mit seinen 699 Seiten präzisester Angaben ein Meisterwerk, und macht die Akademieausgabe der Briefe Kants zu der einzig kritischen, grundlegenden Ausgabe, die durch keine andere ersetzbar ist. Ähnliches läßt sich leider von der Veröffentlichung der „Werke" (d.h. der Druckschriften Kants) in der Akademieausgabe nicht sagen. Sie sind, vor durchschnittlich 40—50 Jahren bearbeitet, heute zum Teil überholt. Aber auch abgesehen davon, sind sie nicht überall zuverlässig. Es haben zu viele Forscher an ihnen gearbeitet; zu viele „Kommissionen" haben dazwischen geredet, und die Editionsprinzipien waren nicht so | unfehlbar, wie sie es um 1900 schienen. Man hatte für die Textbearbeitung „Regeln für die Abteilung der Werke" aufgestellt und gedruckt, die außer allgemeinen Angaben solche über Sprache, Orthographie und Interpunktion enthielten. Darin heißt es z.B.: „Es ergab sich, daß Kants orthographische Gewohnheiten eines systematischen Zusammenhangs und einer folgerichtigen Durchführung entbehren; es wird die von Kants Brauch sich nicht allzu weit entfernende Schreibung durchgeführt, die bis 1880 in den preußischen Schulen herrschte..." (S. 4). Oder (S. 5): „Die Uberfülle der Kommata in den Drucken wird nicht bewahrt, vielmehr das Zeichen (für dessen Gebrauch Kants interpungierte Handschriften keine Regeln liefern) auf die Fälle beschränkt, in denen die schulmäßige Interpunktionslehre es f o r d e r t . . . " Was dabei verlorenging, war gerade die Urkundlichkeit. Und mit Recht schreibt der alte Zeller
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( f 1908) in einem Briefe an Dilthey (vom 13. Nov. 1899): „Die Sprache, Orthographie und Interpunktion zur Bequemlichkeit der heutigen Leser, für deren Bedürfniss schon von anderer Seite gesorgt wird, zu modernisiren, halte ich um so weniger erlaubt, da vieles, was jetzt correct erscheint, in 100 Jahren vielleicht wieder antiquirt i s t . . . " Nur hätte es heißen müssen: in 50 Jahren sicherlich antiquiert sein wird3". Immerhin ist zu betonen, daß die Akademieausgabe nicht, wie die ab 1912 erschienene Cassirersche Ausgabe von Kants „Werken", das Unternehmen einer Schule war — des Neukantianismus, sondern daß an ihr Forscher aller Richtungen, auch Gegner der Philosophie Kants mitgearbeitet haben. Wir nennen von den sogenannten „Fachherausgebern" der Werke die wichtigsten (mit den Nummern der Bände, die sie ganz oder zum Teil bearbeitet haben): E. Adidkes (II), B. Erdmann (III, IV), M. Frischeisen-Köhler (II, VIII), P. Gedan (II), A. Höfler (IV), O. Külpe (VII), K. Lasswitz (I, II), H. Maier (VIII), P. Menzer (II, IV, VIII), P. Natorp (V, VI), J . Rahts (I), K. Vorländer (VII), W. Windelband (V), G. Wobbermin (VI). Die Bände selbst — wohlgemerkt, immer die „Werke" oder Druckschriften Kants — erschienen ab 1902 in bunter Reihenfolge: 1902 (I), 1903 (IV), 1904 (III), 1905 (II), 1907 (VI u. VII), 1908 (V), 1912 (VIII). (Da der Verlag de Gruyter, mit dem die Akademie 1898 Vertrag geschlossen hatte, ab 1910 Neuauflagen der Bände veranstaltete, ohne sie als solche zu kennzeichnen, findet man in der Literatur oft falsche bibliographische Angaben.) Band I und I I enthalten die sogenannten vorkritischen Schriften, abschließend mit der von Adickes bearbeiteten Inauguraldissertation; Band I I I gibt den Text der zweiten Auflage der Kritik der reinen Vernunft (1787) in Benno Erdmanns Bearbeitung — die Abweichungen der ersten Auflage (1781) sind dann mit den Prolegomenen, der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten und den metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft in Band I V erschienen. Band V enthält die Kritik der praktischen Vernunft (Natorp) und die Kritik der Urteilskraft (Windelband), Band V I die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (Wobbermin) und die Metaphysik der Sitten (Natorp), Band V I I den Streit der Fakultäten (Vorländer) und die Anthropologie (Külpe), 3a
In seinem Aufsatz: Die Kantausgabe der Berliner Akademie der Wissenschaften (Kant-Studien 49, 4, 1 9 5 7 / 5 8 ) bemerkt P. Menzer zu unseren Angaben über die „Regeln", sie seien nicht ganz einwandfrei: es sei sicher, daß die „Regeln" keineswegs für die Kantausgabe maßgebend wurden (S. 339). E r verweist auf I 505—517. Jedoch heißt es auch hier in Bezug auf das Orthographische, es trete „der vor der sogenannten Puttkammerischen Reform geltende Brauch, mit Rücksicht auf die Normen von Heyse bis zu Willmanns, überall ein, wo nicht mangelnde Sicherheit das Festhalten am Originaldruck gebietet." (513 f.) Da die „Regeln", obzwar gedruckt, schwerlich heute noch auffindbar sind, geben wir sie im Faksimile, so daß ein Vergleich mit der „Einleitung in die Abtheilung der Werke" (Bd. I) jederzeit möglich ist.
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Band VIII — nach einem besonderen Vorschlage Diltheys — die kleineren Abhandlungen nach 1781 in der Bearbeitung von Menzer, Maier und Frischeisen-Köhler. Hinzu kommt noch Band IX mit den gedruckten Vorlesungen über Logik, Physische Geographie und Pädagogik, der aber — nach heftigem Kommissionsstreit — erst 1923 ausgegeben werden konnte (M. Heinze, der Herausgeber der Logik, ist schon 1909 gestorben) — womit dann die „Werke" abgeschlossen waren, denn von Band X an zählt der Briefwechsel. Wir sagten schon, daß nicht in den „Werken" der eigentliche Wert der Akademieausgabe Kants liegt, sondern im Briefwechsel und im handschriftlichen Nachlaß; ihm wenden wir uns nunmehr zu. | Für den handschriftlichen Nachlaß — abgesehen vom eigentlichen Nachlaß werk (Opus postumum), auf das später noch einzugehen ist — gab es zwei Fundstätten: die Handexemplare Kants, d.h. die Kompendien, nach denen er, der Sitte der Zeit gemäß, las (z. B. Achenwall, Baumgarten, Eberhard, Meier) und auf deren Durchschußseiten er fortlaufende Textzusätze (sogenannte Reflexionen) schrieb, sowie die sogenannten Losen Blätter, d. h. Einzelpapiere verschiedenen Formats (meist Oktavblätter), mit Reflexionen, Fragmenten, Entwürfen beschrieben. Die Reflexionen zur Anthropologie und Metaphysik (d. i. Kritik der reinen Vernunft) hatte B. Erdmann, die — von Fr. W. Schubert geordneten — Losen Blätter (Königsberger Kant-Nachlaß) hatte R. Reicke abgedruckt. Beider | Sammlungen waren unvollständig, und eine chronologische Ordnung war entweder gar nicht vorhanden oder höchst mangelhaft. Aus diesen Vorarbeiten eine mustergültige, zuverlässige vollständige Ausgabe des handschriftlichen Nachlasses hergestellt zu haben, ist das Verdienst von E. Adickes, mit dem die Akademie 1896 Vertrag schloß. Adickes — einer unserer bedeutendsten Kantforscher — war damals noch einfacher Realschullehrer in Bremen, und seine Aufgabe war auf vier Jahre berechnet. In Wirklichkeit hat er 32 Jahre für den handschriftlichen Nachlaß gebraucht und ist nicht fertiggeworden. 1911 erschien der erste Band (Mathematik, Physik, Physische Geographie; in der Gesamtzählung Bd. XIV), 1913 der zweite (Anthropologie XV), 1914 der dritte (Logik, XVI), 1926 der vierte (Metaphysik I; XVII), 1928 der fünfte (Metaphysik II, XVIII), 1934 — sechs Jahre nach Adickes' Tode, in der Bearbeitung seines Tübinger Assistenten F. Berger — der sechste Band (Moral-, Rechts-, Religionsphilosophie; XIX). Wie häufig im wissenschaftlichen Leben, erklärt sich auch hier die Länge der Arbeitszeit aus den neu eingeschalteten Schwierigkeiten: die Datierungen immer genauer anzugeben und Kants oft in wenigen, flüchtigen Worten bestehenden Texte immer genauer aufzufassen. Was Adickes hier geleistet hat, ist beispiellos und übersteigt die Kraft eines Einzelnen.
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Galt es doch, jedes Papierfetzdien zu identifizieren, zu entziffern und zu kommentieren. Wir geben hier nur an, daß Adickes nicht weniger als 33 Phasen der Kantischen Handschrift aufstellte: nach Tinte, Duktus, Stellungsindizien usw. In einem Abschlußbande sollte die Richtigkeit dieser Einteilungen durch zahlreiche Handschriftproben bewiesen werden; dazu ist es nicht gekommen, und er hat das Geheimnis seiner Methode mit ins Grab genommen. Man hat viele Vorwürfe gegen ihn erhoben: in Band X I V — dem allerdings schwierigsten Bande des Nachlasses — kommen z. B. auf ein Paar Seiten Text 24 bis 30 Seiten Anmerkungen in Petit; und audi die Art der Edition, die Einfügung von g. u. s. Klammern, ediigen und runden Interpunktionszeichen usw., kann nicht sehr glücklich genannt werden. Aber wenn seine Erläuterungen zu umfangreich sind, sind sie doch richtig, und wenn der Text zu unübersichtlich behandelt wird, ist er doch fehlerfrei. Strenggenommen gehörten noch zwei Abteilungen zum handschriftlichen Nachlaß, die Adickes nicht bearbeitet hat: die sogenannten Vorarbeiten und Nachträge, und das Opus postumum. Wir gehen zunächst auf das Opus postumum ein. Grund dafür, daß es der Akademieausgabe zugänglich gemacht werden konnte, war ein äußerer Faktor — die Inflation. Nach dem Tode des Hamburger Pastors Krause hatte sich sein Erbe, Oberlehrer Dr. Krause, zur Abtretung der Editionsrechte für ganze 1000 Goldmark entschlossen, und es war sehr wichtig, daß auf Grund dieser Regelung das Manuskript damals nicht ins Ausland wanderte. Die Editionsrechte hatte jedoch der Verlag erworben (Oktober 1923) und in einem „Sonderabkommen" zum Vertrage von 1898 (im Dezember 1923) die Kosten für die Herausgabe übernommen, unter der Bedingung, seinerseits eine Einzelausgabe des Werkes — also außerhalb der Akademieausgabe — zu veranstalten. Initiator der ganzen Aktion war der Neukantianer A. Buchenau (f 1946) als Verlagslektor; ihm wurde, unter Oberaufsicht von Adickes, die Ausgabe übertragen; der eigentliche Bearbeiter war G. Lehmann. Adickes, der 1920 eine umfangreiche Darstellung des Nachlaßwerkes veröffentlicht hatte, trat am 19. Juni 1926 vom Vertrage zurück. 1936 erschienen in diplomatisch getreuer, d.h. nicht chronologischer Ausgabe, Band I des Nachlaßwerkes ( X X I bzw. handschriftlicher Nachlaß Bd. 8, Konvolut I—VI), zwei Jahre danach Band II ( X X I I bzw. handschriftlicher Nachlaß Bd. 9, Konvolut V I I — X I I I ) . Uber Wert oder Unwert des Nachlaßwerkes, des monströsesten Produktes aus Kants Feder, etwas auszusagen, ist hier nicht der Ort. Jedenfalls hat sich die Spekulation, die sich an den Namen eines angeblich neuen „Werkes" von Kant knüpfte, als Fehlspekulation erwiesen, und die Fachwelt ist heute noch zu keinem | endgültigen Urteil über das Opus postumum gelangt. Wenn dennoch die Ausgabe, an deren Zuver-
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lässigkeit kein Zweifel möglich ist und in der ja auch alle Forschungen von Adickes verwertet sind, eine Bedeutung für die Gesamtinterpretation der Kantsdien Philosophie besitzt, so verdankt sie das nicht zuletzt dem im zweiten Bande ( X X I I ) enthaltenen Index zum Nachlaßwerk, der die Ausweitung der Systematik des Kritizismus um 1800 deutlich macht und zum Verständnis der Terminologie Kants überhaupt unentbehrlich ist. Was noch zu erledigen blieb, waren die „Vorarbeiten und Nachträge". Diese Abteilung des handschriftlichen Nachlasses sollte die Vorarbeiten und Nachträge zu Kants Druckschriften enthalten, also diejenigen unter den Reflexionen und Losen Blättern, die sich als von einer Druckschrift bestimmt erweisen. Das ist sehr dehnbar; vieles kann sich auf ein geplantes Werk beziehen, braucht es aber nicht. Und die „Vorarbeiten" zur Kritik der reinen Vernunft waren von Adickes sowieso abgesondert worden; sie wurden zu den Metaphysikreflexionen gerechnet. Die Schwierigkeit ist ja eigentlich die, daß man jede Kantische Bemerkung auf eine geplante Druckschrift beziehen kann bzw. daß die Druckschriften oder Werke nur Ausschnitte aus einem Denkprozeß sind, an dem Kant Tag für Tag zu formulieren sucht. Immerhin hatte schon Adickes aus den Materialien zu Band X I V bis X I X alles beiseite gelegt, was sich eindeutig als „Vorarbeit" einer Druckschrift ansehen ließ. Und wenn er dabei auch den Rahmen der „Vorarbeiten und Nachträge" zu sehr einengte, schadete dies nichts. Eine Sonderstellung nehmen die wichtigen „Bemerkungen zu den Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" ein, d.h. die Zusätze Kants zum Handexemplar der „Beobachtungen"4. Dieses war kein Kompendium, und die Zusätze hatten in der Tat den Charakter von „Nachträgen"; sie wurden — nachdem sie größtenteils schon von Adietes entziffert worden waren — in Band X X abgedruckt. Dieser Band — eigentlich der erste Band der „Vorarbeiten und Nachträge" — erschien 1942 in der Bearbeitung von G. Lehmann; er enthielt den sogenannten Rostocker Kantnachlaß, insbesondere die Erste Einleitung in die Kritik der Urteilskraft und die Preisschrift über die Fortschritte der Metaphysik (1804). Aus äußerlichen Gründen mußte er dem Opus postumum vorangestellt werden und ist dadurch vom zweiten Bande der „Vorarbeiten" um zwei Bände getrennt. So sieht er wie ein Lückenbüßer aus, ist es aber nicht. 4
Vgl. hierzu G. Tonelli, Kant, dall'Estetica Metafísica all'Estetica Psicoempirica, in: Memorie della Accademia delle Scienze di Torino, Serie 3 a, Tomo 3, Parte II. S. 123 ff. (1955), sowie schon vorher: P . Menzer, Kants Ästhetik in ihrer Entwicklung, Abhandlungen der Deutschen Akademie d. Wissensch, zu Berlin, Jahrg. 1950, N r . 2 ( 1 9 5 2 ) Klasse für Gesellschaftswissenschaften, S. 50 ff.
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Noch einmal griff eine äußere Macht in die Geschichte der KantAusgabe ein: der zweite Weltkrieg. 1945 nämlich, nach Abschluß der Kampfhandlungen, waren die in der Nähe von Greifswald zum Schutze gegen Fliegereinwirkungen verlagerten Materialien (Originale, Abschriften, Photokopien usw.) — darunter die Abschrift von Kants Zusätzen zum Handexemplar der Kritik der reinen Vernunft — verloren, und auch die meisten der in Ostpreußen selbst verlagerten Kantmaterialien der ehemaligen Universitätsbibliothek Königsberg müssen als verloren angesehen werden. Für den zweiten Band der „Vorarbeiten und Nachträge" (XXIII) ist das ein unersetzlicher Verlust; wohl hatten Reicke, Warda, Erdmann, Kullmann u. a. die meisten Stücke schon veröffentlicht, aber nur weniges einwandfrei und den Forderungen der Akademieausgabe entsprechend. Es schien also damals, | nach dem Untergange der alten Preußischen Akademie der Wissenschaften, auch die Kant-Ausgabe unabschließbar geworden zu sein. Wie so viele andere Ausgaben wurde jedoch auch die Kant-Ausgabe von der vor zehn Jahren gegründeten Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin übernommen. Und wenn auch dem Bearbeiter die Wiederherstellung des Bandes XXIII in der ursprünglichen Gestalt unmöglich war, so konnte doch aus noch erhaltenen Originalen, Sekundärdrucken und Abschriften — unter Angleichung an die Editionsprinzipien der Akademieausgabe und Anlehnung an die Systematik der einzelnen Druckschriften (auf genaue Datierung der Handschriften mußte natürlich verzichtet werden) ein einigermaßen gleichwertiges Werk geschaffen werden, das zur Erforschung der Kantischen Philosophie, insbesondere der Metaphysik der Sitten (Rechtslehre), auf Grund der umfangreichen „Vorarbeiten" bzw. Losen Blätter des ehemaligen Königsberger Kant-Nachlasses, unentbehrlich ist. Dieser Band, von N . Hartmann (f 1950) und P. Menzer aufs wärmste gefördert, konnte nach großen Schwierigkeiten Ende 1955 das Licht der Welt erblicken. Der handschriftliche Nachlaß Kants ist damit abgeschlossen. Nicht dagegen der ursprüngliche Plan der Kant-Ausgabe. Dieser sah als letzte Abteilung die Nachschriften der Vorlesungen vor, und W. Dilthey hatte mit Nachdruck von der Wichtigkeit der Arbeit daran gesprochen (cf. I, S. XIV f. 1902). Die Nachschriften sind Quellen. „Sie dienen der Aufgabe,... die Druckschriften Kants zum Zusammenhang seines Systems zu ergänzen." Kann man dies insofern bezweifeln, als das dabei resultierende „System" mehr ein äußerliches, exoterisches, fürs Publikum bestimmtes, nicht das eigentliche System des Kritizismus ist, so kann man andererseits geltend machen, daß ja der handschriftliche Nachlaß alle Voraussetzungen für die Vorlesungsnachschriften enthält, indem er Kants Aufzeichnungen für seine Vorlesungen in
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den Kompendien genau wiedergibt. Diese Materialien durch das Geschwätz der Abschreiber zu verwässern, dürfte nur insofern zu rechtfertigen sein, als es darauf ankäme, von Kants Vorlesungen ein ausführliches, anschauliches Bild zu erhalten. Dann aber ist es notwendig, aus den Vorlesungsnachschriften einen Querschnitt durch das ganze Vorlesungswesen Kants, d. h. durch die ganze „Systematik" seiner Philosophie, herzustellen. Das war um 1900, und erst recht später, als Adickes seine „Untersuchungen zu Kants physischer Geographie" (1911) schrieb, möglich. Heute, nach den Verlusten des zweiten Weltkrieges, ist es nicht mehr möglich. Und wenn man damals, im sicheren Besitz so vieler Vorlesungsnachschriften, einen Abdruck der Pölitz-Vorlesungen (s. o.) für eine der Akademie unwürdige Sache hielt, so dürfte heute ein Ergänzungsband mit den apokryphen Pölitz-Vorlesungen sehr nützlich sein. Soviel über die noch ungeklärte Vorlesungsfrage. Daß die KantAusgabe ohne einen ausführlichen und auf zwei Bände berechneten Index unbenutzbar ist, versteht sich besonders im Hinblick auf den handschriftlichen Nachlaß. Für den Briefwechsel gibt es ein Register; für die Druckschriften gibt es genug andere Register, — der Index der Akademieausgabe hätte hier nur den Wert, den Zusammenhang zwischen Druckschriften und handschriftlichem Nachlaß herzustellen. Denn die Hauptschwierigkeit bei der Benutzung der Gesamtausgabe ist ja die, daß den gegliederten, systematischen Zusammenhängen der Druckschriften die fragmentarischen, oft aus wenigen Worten, nicht einmal Sätzen, bestehenden Reflexionen des handschriftlichen Nachlasses gegenüberstehen und daß dabei auf die Gruppierung und Numerierung der Reflexionen (bei Erdmann und Adickes, später ist die Numerierung abgeschafft worden) kein Verlaß ist. Für die Technik der Verzettelung ist entscheidend der Wechsel des Maßstabes: will man wiedergeben, was Kant auf zwei Zeilen gesagt hat, so kommt man natürlich nicht mit dem Maßstab aus, den man unter Umständen für zwei Seiten in sidi klargegliederten Textes einer Druckschrift benötigt. — Es ist übrigens sonderbar, daß Diltheys Plan keinen Index umfaßte; dieser wurde erst in den dreißiger Jahren unter Heinrich Maier beschlossen. | Die Kant-Ausgabe der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin ist das geblieben, was sie in der Preußischen Akademie der Wissenschaften war: ein nationales Unternehmen und ein Instrument der Forschung. Gewaltig aber haben sich die Zustände in der Philosophie und in unserem Vaterlande seit den Tagen Diltheys und Zellers geändert. Der Neukantianismus, damals eine noch aufsteigende Macht, ist heute aus der Philosophie verschwunden. Aber das heißt nicht, daß Kants Probleme und Antworten aus ihr verschwunden sind. Generationen von Forschern aller Richtungen — auch solche, die in den Texten und Erläuterungen nicht genannt sind — waren an der Kant-Ausgabe betei-
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Zur Geschichte der Kantausgabe
ligt 5 ; Adickes hat noch auf dem Totenbette daran gearbeitet. Und das Wort Diltheys: „So hängt . . . mit den größten Aufgaben überall die Andacht zum Unbedeutenden und Kleinen zusammen, welche das Merkmal des echten historischen Geistes ist" (I, S. V I I I ) , hat sich immer wieder bewährt. Unser Rückblick auf die mehr als fünfzigjährige Geschichte der Kant-Ausgabe ist auf diese Kleinarbeit der Forschung nicht eingegangen, sondern nur auf die größeren Zusammenhänge. Viel wäre von der Behandlung der Handschriften und Lesarten, von der Interpretation und Erläuterung der Texte im einzelnen zu berichten. Aber dafür ist hier nicht der Ort. Außerdem gibt es keinen Maßstab der Akribie und Zuverlässigkeit, den die Kant-Ausgabe für sich gepachtet hätte und dessen sie sich anderen Ausgaben gegenüber rühmen könnte. Dazu ist sie — auch das bringt ein halbes Jahrhundert Geschichte mit sich — viel zu uneinheitlich. Selbst das Lob, ganz oder zum größten Teil „fertig" zu sein, ist zweifelhaft. Wir haben ja gesehen, wie mancherlei es noch — selbst abgesehen vom Index — daran zu tun gibt. Ebendarum aber kann sie doch auch noch etwas erwarten lassen; sie besteht nicht aus abgelegten Akten. Im übrigen aber ist und bleibt die Kant-Ausgabe so lebendig, wie Kant selber lebendig sein und bleiben wird.
Beilage Briefwechsel zwischen Wilhelm Dilthey und Erich Adickes (Winter 1904—1905)
Brief von Wilhelm Dilthey an Erich Adickes 30. 11. 1904. Sehr geehrter Herr College! In Bezug auf Ihre Anordnung ersudie ich in einigen Punkten um Aufklärung. Es ist ja selbstverständlich, daß schließlich der Herausgeber selber den Inbegriff der Gründe für die Anordnung überblickt, da die Masse der Manuskripte selbst hier die Entsdiei-
Wir erinnern hier nur an die Zusammenarbeit Natorps mit Stammler oder an die Hilfe Adickes' durch Warda. 5 a D e r Briefwechsel geht zurück auf den „Bericht über die 3. Abteilung der Kantausgabe", den Adickes im August 1904 der Akademie vorgelegt hatte. E r umfaßt 5
Äusgabe Der gefammettett S d j r i f t e r t
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' P f e i f u n g ber ^crRe. Um einen allen Slnforberungen entfpredjenben Seyt bei Sßerfe ÄantS fjerjufteflen, hat bie Äantcommifjton befdjloffen, benfelben in 23ejug auf Spraye, Drtljograpljie unb Snterpunction Bon einem ©ermaniften be» arbeiten ju laffen. SKitlefen ber Sorrectur» unb 3ieöiftonSbogen ift ferner Dr. 3Kenjer ber Ausgabe oerpfIicf)tet morben. Siuä tiefen Sefüm» mungen ergiebt ftd) folgenber Verlauf ber Arbeit. I. Siügemetnes. ®er gadjljerauSgeber beftimmt bie bem ®rucf gu ©runbe ju legenbe Ausgabe (§ 1). Serfelbe i)at bann ben Sejrt ber ausgemalten SluSgabe gu reinigen (§ 2) unb ba§ ii>m pfatlenbe SSergetc^nife ber SeSarten Ije» jufteüen (§ 7). 3« i«bem SBer! fügt ferner ber Saci)f)erau3geber eine Einleitung (§ 3) unb bie erforberlici)en fad)Ud)en Erläuterungen (§ 4) l)tnju. 3hm fällt bie «Sicherung ber Südjtigfeit beS STejteS burd) 33er= gleidjung mit bem Drtginal anheim. £)er fo bearbeitete £e;rt geht an bie ßommiffton unb wirb alsbann Don bem germaniftifchen Mitarbeiter nad) ben ihm gegebenen ©irectiüen in SSejug auf «Spraye, Orthographie (§ 5) unb gnterpunction (§ 6) ge= regelt. 2)ar«uf erfolgt ber SDrucf. ©ie Gorrecturbogen beS 3>;cte8 gehen
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mit ber ©rudoorlage an ben ©ertnaniften. 3tad)bem biefer nad) ber 2)ruc!t>orIage bie Gorrectur beforgt, fenbet er jie an ben 3rad)Ijerau«fleber unb biefer an §errn ÜDfenjer. 25ie SReoifton wirb in berfelben Reihenfolge erlebigt. 9ìacl)bem ber Sogen baS Sinprimatur beS gachherauSgeberS erhalten unb feitenS ber Seitung ber SluSgabe fein Sebenfen erhoben ift, wirb berfelbe gebrudt. 2)ie Äantifdjeit Stente fielen in jebem Satibe ooran, ihnen folgen 1. bie Dom Herausgeber abjufaffenbe ©inleitung, 2. fadjltdje (5rläute= rungen, 3. gegarten. 311S SHanufcript bient bie »om Sachherausgeber ausgewählte S r i * ginalauSgabe ober, wo eine folcfye nidjt erreichbar ift, ber Don ber 2lfa» bemie ju liefernbe Abbrutì ber betreffenben S ^ r i f t in ber §artenfteinifdjen SluSgabe (1867/8), in welken ber nadj einer ju entleiljenben Original» auSgabe ^ergeftetlte 2eft Ijineincorrigirt wirb. I I . 93efonbere ©eftimmungen. § 1. S l u S w a h l ber bem 5)rucf su © r u n b e j u legenben SluSgabe. ß u ©runbe ju legen ift bie lefcte »on Äant felbft burdjgefeljene 2luS* gäbe. 3 n ben meiften Säßen wirb ber SRadjweiS, bafj Äant felbft irgenb etwas für eine SluSgabe gettyan nur aus ben Énberungen geführt werben fönnen. SDaher fällt bem $acf)herauSgeber bie SluSwahl ber ju ©runbe ju legenben Sluégabe ju. ®ie für i)ie (Sntftheibung ntafcgebenberi ©rünbe werben an ber €>pi{je ber ßeSarten angegeben. § 2 . § e r f t e l l u n g beS Siebtes ber © r u c f ö o r l a g e . •Kur wo bie SSerberbnife be§ SejteS jweifelloS ift, tritt bieSmenbation ber ausgewählten Ausgabe ein. S i e geflieht auf ©runb einer 33er= gleidjung ber SeSarten etwa üorljanbener anberer Driginalbrucfe unter ^ingiijiehung fachlicher ©efiihtspunfte unb mit ber erforberlidjen S3erü