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German Pages 291 [300] Year 1980
Gerhard Lehmann Kants Tugenden Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants
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Gerhard Lehmann
Kants Tugenden Neue Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants
Walter de Gruyter · Berlin · New York 1980
Mit vier Faksimiletafeln.
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen Bibliothek
Lehmann, Gerhard: Kants Tugenden : neue Beitr. zur Geschichte u. Interpretation d. Philosophie Kants / Gerhard Lehmann. - Berlin, New York : de Gruyter, 1980. ISBN 3-11-008295-0
© 1980 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung · Georg Reimer · Karl J. Trübner · Veit 8c Comp. Berlin 30, Genthiner Straße 13 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Ubersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es auch nicht gestattet, dieses Buch oder Teile daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Wübben Sc Co., Berlin
Inhaltsverzeichnis 1. Neue Perspektiven der Kantforschung
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2. Hypothetischer Vernunftgebrauch und Gesetzmäßigkeit des Besonderen in Kants Philosophie 3. Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie 4. Kants Tugenden
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5. Zur Problemanalyse von Kants Nachlaßwerk
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6. Kants Entwicklung im Spiegel der Vorlesungen 7. Zur Frage der Systematik in Kants Metaphysikvorlesungen 8. Die Vorlesungen Kants in der Akademieausgabe 9. Bemerkungen zu dem Brief Kants an Kiesewetter vom 27. März 1790 10. Diaconus Wasianski. Unveröffentlichte Briefe 11. F. H. Jacobis Handexemplar der Kritik der Urteilskraft
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12. Kant im Spätidealismus und die Anfänge der neukantischen Bewegung 219 13. Eine quaternio terminorum bei Kant? M. Aebis Kant-Widerlegung 237 14. Spontaneität und Zeitlichkeit 250 15. Eine Faksimile-Ausgabe von Kants erster Einleitung in die Kritik der Urteilskraft 258 Nachwort Die Schriften von Gerhard Lehmann Quellennachweis Personenverzeichnis
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Neue Perspektiven der Kantforschung Kantforschung ist ein etwas allgemein gehaltener Begriff, der sowohl die Kant interpretation als auch die Kantphilologie i. e. Sinne umfaßt. Wir würden meinen, daß die Kantinterpretation, auch wenn sie noch so sehr Hermeneutik (im Sinne Diltheys) sein will, systematisch ist, was von der Kantphilologie zunächst jedenfalls nicht gilt. Sie ist „Liebe zum Wort", auch wenn der Text nicht widerspruchsfrei ist; das zu bereinigen, überläßt sie der Interpretation. Neue Perspektiven setzen begreiflicherweise neues Material voraus. „Material" - das sind die Druckschriften Kants; die Vorarbeiten und Nachträge dazu; die Schriften werkähnlichen Charakters (Fragmente, | Inedita); die Reflexionen und Losen Blätter; die Vorlesungsnachschriften und -abschriften; die Briefe und Lebensdokumente. Das gegenüber Druckschriften und Briefen „neue" Material bringt die Akademieausgabe in den Bänden XIV-XIX (Reflexionen und Lose Blätter), XX und XXIII (Vorarbeiten und Nachträge zu den Werken), XXI und XXII (opus postunum), XXIV und (bisher) XXVIII (Vorlesungen) - was natürlich nicht heißt, daß in diesen Bänden nur neues Material enthalten ist. Ein großer Teil des „handschriftlichen Nachlasses" wurde sogar schon vor 1900 veröffentlicht. Wenn es neue Perspektiven geben soll, welches sind die alten? Das ist in erster Linie eine philosophiegeschichtliche Frage, die uns als solche hier nicht zu beschäftigen braucht. Man müßte die ältere Kantphilologie und Kantinterpretation der ersten Kantschüler, der Grundsatzphilosophie, des subjektiven, objektiven, absoluten Idealismus, des Spätidealismus, des Positivismus, Neukantianismus usw. berücksichtigen - die ersten Textausgaben, Ubersetzungen, Kommentare, Marginalien, Wörterbücher, Gesamtausgaben, in denen soviel saubere und brauchbare Arbeit geleistet ist, und die man doch für Einzelfragen „heute" kaum noch benutzt, eben weil sich die „Perspektiven" geändert haben. Dabei erscheinen die alten Perspektiven von vornherein als die richtigen, weil „natürlichen". Man geht von den Druckschriften aus, insbesondere von der Kritik der reinen Vernunft als dem „Grundwerk". Man faßt die drei Kritiken zusammen als kritisches „System". Man übernimmt Kants Unterscheidung kritischer und vorkritischer Schriften und schließt sich der von Kant (polemisch) gebrauchten Unterscheidung Dogmatismus/Kritizismus an. Eine „postkritische" Phase gibt es nicht. Die Metaphysik der Sitten gilt als Teil der von Kant versprochenen (V 170) kritischen Metaphysik. Die Frühschriften gehören zur Physik, und für die Entwicklung der Kantischen Philosophie hält man sich an Windelbands Wort, daß sie - in origineller Form
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- eine „Repetition der vorkantischen Philosophie" sei. Demgegenüber sind die „neuen" Perspektiven, wann immer sie sich vom Stofflich-Philologischen her auftun, nicht minder „natürlich". Bloß im entgegengesetzten Sinne. Man könnte sagen, Kant werde vom Kopf auf die Füße gestellt - muß dann freilich wissen, was Kopf, was Füße sind. Was tat Kant von 1755 bis 1796 vornehmlich? Er hielt Vorlesungen. Was brauchte er dazu? Schriften, die auf ihn aufmerksam machten, so lange er noch nicht Ordinarius war. Diese Schriften - eine ganze Reihe seiner sog. vorkritischen Schriften sind Programme, deren Inhalt sich unmittelbar auf die Vorlesungen bezieht, die sie ankündigen. Man muß also die Programmschriften im Hinblick auf Kants Vorlesungen lesen. Kann man glauben, daß Kants spätere Werke, insbesondere die I Kritik der reinen Vernunft, außerhalb seiner Arbeit an den Hauptvorlesungen: Logik und Metaphysik, entstanden sind? Man kann es nicht glauben, selbst wenn es Heidegger behauptet. Schwer fällt es zu denken, daß Kant seine Studenten narrte, indem er ihnen vortrug, was überholt und für ihn falsch war - bloß weil es in den (vorgeschriebenen) Kompendien stand. Das Gegenteil ist der Fall: er trägt ihnen seine Gedanken, Zweifel, Textbeanstandungen vor, verweist auf eigene Schriften usw. Also wird man - abgesehen natürlich von dem vor 1755 Geschriebenen - von den Vorlesungen ausgehen müssen. Das zweite ist, daß Kant (wie Fichte) Federdenker war, und daß seine Philosophie ein fortlaufender Prozeß ist - nicht (wie bei Schopenhauer) ein intuitiv gewonnener einmaliger Entwurf, den er hernach bloß umzuschreiben brauchte. Kant hat in seine Vorlesungskompendien immer neue Bemerkungen eingetragen, die aus Raummangel schließlich ganz unleserlich wurden, und die er im Kolleg überhaupt nicht benutzte. Wir müssen diese Reflexionen in den Kompendien mit den (gut erhaltenen) Vorlesungsnachschriften zusammennehmen, um die Phasen seines Weiterdenkens zu rekonstruieren. So gesehen sind die Werke selbst Aufgipfelungen, Fixierungen des bereits Durchdachten. Wie arbeitet er sie aus? Reflexionen werden auf Losen Blättern vorläufig durchdacht und dann in zusammenhängende Entwürfe („kurze Abrisse") gebracht. Diese „unterzog er sodann einer gründlichen Durchsicht, wobei er die Veränderungen und Einschiebungen auf eingelegten kleinen Papierstreifen niederschrieb" (Adickes). Aus den Entwürfen entsteht die Reinschrift, die selbst noch redigiert wird. Jedenfalls verwendet Kant Material verschiedenster Zeit und Herkunft. Kant ist Problemdenker. Da er niemals mit fertigen Formulierungen zufrieden ist, muß er oft in Konflikt mit seiner Systematik kommen. Mit welcher? Es gibt eine Antwort, die aber falsch ist: mit einer künstlichen Systematik, einer vorgetäuschten „Architektonik" blinder Fenster (Schopenhauer, Paulsen, Adickes). Und es gibt noch eine, ebenso falsche Antwort: daß er bestimmte Voraussetzungen, Antworten, Probleme für sich behält („Privat-
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metaphysik"). Richtig ist nur, daß er in öffentlicher Wirksamkeit stärker dogmatisiert als mit seiner kritischen Haltung vereinbar ist, oder auch politische Konsequenzen abfängt, die seiner Philosophie schaden könnten. Zu welchen Problemen führt denn nun das neue Material? Man geht am besten vom opuspostumum aus. „ N e u " kann man seinen 1936/38 vollständig veröffentlichten Inhalt nicht gerade nennen; doch es hat 20 Jahre gedauert, bis das erste größere Werk darüber erschien (Mathieu). Früher | galt er als seniles Altersprodukt wie Newtons theologische Schriften; als etwas von dem Solipsismus des VII. Konvoluts durchsickerte (A. Drews 1894), hielt man es für eine Art Greuelmärchen. Adickes führte den erstaunlichen Abschluß des NachlaßWerkes - nicht erstaunlicher als die ganze Transzendentalphilosophie - auf eine Art Persönlichkeitsspaltung Kants zurück. Nimmt man das opus postumum ernst, dann ergeben sich Beziehungen zur Kritik der Urteilskraft, besonders zu ihren Einleitungen, ferner zur transzendentalen Deduktion der Kritik der reinen Vernunft, die in der (von Adickes so genannten) „neuen Deduktion" des opus postumum erweitert wird, wobei jetzt die Kategorien des Besonderen durch Einschaltung des eigenen Organismus bzw. seiner Wahrnehmungen teleologisch abgeleitet werden. Weiter werden Zusammenhänge mit der Moralphilosophie sichtbar. Uber die technischen Imperative und die Technik der Natur gelangt Kant jetzt zur technisch-praktischen Vernunft, und das „System" der drei Kritiken erhält seine eigentliche Form als Kritik der reinen, moralisch-praktischen und technisch-praktischen Vernunft. Das alles sind zunächst nur „Perspektiven", und ob sich von der technisch-praktischen Vernunft auch Beziehungen zur Kybernetik herstellen lassen (H. Schmidt), bleibt abzuwarten. Gesetzt, das opus postumum mit seinen „Perspektivproblemen" sei hinreichend bekannt, so ist doch das Vorlesungsmaterial noch fast ganz unausgewertet. Zwar hatte schon Erdmann (1883) die von Pölitz herausgegebenen Vorlesungen über Metaphysik als „unbeachtet gebliebene Quelle zur Entwicklungsgeschichte Kants" behandelt, aber das von ihm und seinen Nachfolgern (Arnoldt, Heinze, Menzer, Kowalewski) veröffentlichte Material reichte für eine wirkliche Reproduktion der „Entwicklung" Kants bei weitem nicht aus. Auch heute fehlen Nachschriften aus der Frühzeit; immerhin geben die großen Logiknachschriften von Blomberg und Philippi für die Logik, vor allem aber die sorgsame Metaphysiknachschrift von Herder für die Metaphysik der früheren Zeit (Anfang der 60er Jahre) eine deutliche Vorstellung von dem, was Kant damals seinen Studenten eigentlich vortrug, und in welcher Form er es vortrug. Für die Metaphysik sind am wichtigsten Prolegomena und Ontologie, weil sie die Geburtstätte der Kritik bilden. Gesetzt, der Weg zu Kant über die Vorlesungen sei der einfachste - weil, was die Studenten damals verstehen konnten, wir auch heute am ehesten verstehen - , so ist es eben der Weg an Hand des Lehrers, d.h. des Menschen Kant selber. Im Unterschied zur „Natürlichkeit" der alten Perspektive be-
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steht die der neuen im Blick auf beides: Mensch und Werk. | Wird dann nicht, in der neuen Perspektive, auch der Mensch Kant andere Züge erhalten als in der alten? Was in den Vorlesungen, chronologisch angeordnet, sogleich hervortritt, und nicht erst aus den Schriften rekonstruiert zu werden braucht: die „ K o n tinuität im philosophischen Entwicklungsgange Kants" (Höffding 1893), könnte dazu verführen, vom Kritizismus der 60er, 70er, 80er und 90er Jahre zu reden. Doch gibt es nach Kants eigener Äußerung „Umkippungen", Diskontinuitäten, deren wichtigste in die Jahre 1764/65 fällt. Das Material hierfür (XX 1-192) ist so umfangreich und eindringend, daß man es, in Verbindung mit den Vorlesungsnachschriften zur Anthropologie (und natürlich der Anthropologie von 1798 selbst) zur Erhellung von Kants „Lebenskrise", seiner Geistesart und seiner Philosophie, verwenden kann. Darauf ist hier leider nicht weiter einzugehen. Die Schlußfrage, die sich uns stellt, ist vielmehr diese: wird irgendeines der Kantischen Probleme durch neue Perspektiven wirklich beantwortet, oder wird es dadurch bestenfalls nicht bloß verschoben? Wird durch die Erhellung von Kants Wesen oder Geistesart irgendetwas über die sachliche Richtigkeit oder Unrichtigkeit seiner philosophischen Aussagen gewonnen? Ist nicht alles, was von Kant nicht selbst veröffentlicht bzw. gebilligt wurde, von zweifelhaftem Wert? Und sollte nicht heute, wo man in der Literaturgeschichte die Werkanalyse in den Vordergrund stellt, und v o n , .geisteswissenschaftlichen" Methoden tunlichst Abstand nimmt, gleiches in der Philosophiegeschichte gelten? Ohne diese Einwände en bloc abzuweisen, geben wir zu bedenken, daß die Beschäftigung mit Kants Druckschriften (Druckvorlagen und Drucken selbst) viel zweifelhaftes Material (Textversetzungen, falsche Einfügung von Zusätzen etc.) zutage gebracht hat, daß die Analyse der Texte auf Materialien (Beispiele, Formulierungen) aus ganz anderer Zeit führte (Kritik der Urteilskraft), daß es zweifellos eine postkritische Phase bei Kant gibt, in welcher Formulierungen, die früher feststanden, zurückgenommen und andere dafür eingesetzt werden (z.B. Philosophie als „Genieprodukt", Verhältnis von Philosophie und Mathematik im opus postumum). Die neue Perspektive ist also die umfassendere; sie schließt die alte ein. Manche der neuen Umrisse sind noch verschwommen und unklar; manches (z. B. im opus postumum) ist überhaupt nicht recht feststellbar. Aber man muß es wagen, neues Material auch zur systematischen Interpretation heranzuziehen, sonst brauchte man überhaupt keine Textforschung zu treiben.
Hypothetischer Vernunftgebrauch und Gesetzmäßigkeit des Besonderen in Kants Philosophie Der Versuch, philosophische Systeme entwicklungsgeschichtlich zu behandeln, stößt auf Schwierigkeiten. Der Begriff geistesgeschichtlicher „Entwicklung" - aus der Biologie übernommen1 - ist nicht eindeutig; der Wahrheitsanspruch der Systeme widersetzt sich ihrer geschichtlichen Einordnung. Kant hat das seinige dazu gesagt2, ohne voraussehen zu können, was ihm widerfuhr. Zu seinen Lebzeiten konnte er noch Einspruch erheben gegen die „Weiterbildner" seiner Philosophie. Mit dem spekulativen Idealismus aber wird der Kritizismus zur Erinnerung. Als der Wahrheitsanspruch des absoluten Idealismus erlosch und man Kants Philosophie zu „erneuern" begann, setzte man andere Akzente. Julius Ebbinghaus, der zwischen den „grundlegenden Ansätzen Kants selbst und den durch die verschiedenen Neu-Kantischen Schulen einheitlich dargestellten Verstehensmöglichkeiten" eine klaffende Lücke findet, äußert den Verdacht, „daß jene ganze Bewegung . . . fortwährend mit einer großen Unbekannten rechnete, und daß diese Unbekannte niemand anders als Kant selbst sei"3. Ferdinand Jakob Schmidt, ähnlich argumentierend, sagt, daß der „Pseudokantianismus" in Wahrheit gar nicht auf Kant „zurückgegangen" ist, sondern die unmittelbare Weiterentwicklung der kritischen Philosophie durch die Einführung des in seiner Wurzel fremdländischen Positivismus erst tatsächlich unterbrochen" hat 4 . Das sind - so wohlbegründet sie immer sein mögen - doch Bewertungen, denen man den „Standpunkt" ansieht, und eben dieser Standpunkt ist das sich Verändernde. In der Kantexegese des späten 19. Jahrhunderts will man standpunktlos verfahren; zur Erforschung des Kantischen Buchstabens gibt man nötigenfalls den Sinn preis - und es ist kein Wunder, daß sich diese Kantphilologie meist Kant-feindlich gebärdet (Paulsen, Vaihinger, Adickes u.a.). Dennoch entrinnt man auch hier nicht den Schwierigkeiten „entwick' Siehe dazu besonders E. Brandenburg, Der Begriff der Entwicklung und seine Anwendung auf die Geschichte. Berichte üb. d. Verhandl. der Sachs. Akad. d. Wiss. zu Leipzig, Leipzig 1941. 2 A 835 ff. (die Kritik d. r. V. wird nach A und Β zitiert, alle anderen Zitate nach der Akademieausgabe). 3 J. Ebbinghaus, Kantinterpretation und Kantkritik, jetzt in: Gesammelte Aufsätze, Darmstadt 1968, S.3. 4 F. J. Schmidt, Kant-Orthodoxie, in: Zur Wiedergeburt des Idealismus, Leipzig 1908, S.236.
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lungsgeschichtlicher" Betrachtung. Es gibt nämlich zwei Weisen der Textinterpretation: die regressive und die progressive. Jene blickt zurück und findet I in dem von Kant später Erarbeiteten nur Rückschritte. Diese sieht die Aufgaben und findet in ihren Lösungen nur Fortschritte. In progressiver Sicht gäbe es also bei Kant eine positive „Entwicklung" von den Frühschriften bis zum Nachlaßwerk, eine Problemverdichtung, Systemerweiterung. In regressiver Sicht ist diese vermeintliche Entwicklung zu bestreiten (wenigstens die seit 1787) bzw. als Kette immer neuer Fehler, Inkonsequenzen anzusehen. Vielleicht auch als Folge von Selbstberichtigungen aufgrund fremder Einwände, eigener Einsichten. Das sind nur Extreme; Mittelglieder gibt es genug. Doch soll dies nicht allgemein erörtert werden. Es kommt uns auf eine bestimmte Fragestellung an, die sich von der Kritik bis zum Nachlaßwerk erstreckt, und an deren Beantwortung es sich zeigen soll, ob es eine „Entwicklungslinie" oder eine Linie bloßer Veränderungen ist. Bei der außerordentlichen Menge ineinander verwobener Probleme, die Kant in der Kritik behandelt, deren kunstvolle Verknüpfung wie bei einem handgewebten Teppich erst auf der Rückseite, d.h. erst unter Absehen von der Systematik der Vorderseite, hervortritt, wurde eine Wahl getroffen: die „bestimmte" Fragestellung sollte eine solche sein, die wirklich in den späteren Schriften (nach 1781) behandelt und zu neuen Antworten geführt wird; sie sollte mit der transzendentalen Deduktion 1. Fassung einsetzen und sich über die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft und die Kritik der Urteilskraft bis zum opus postumum erstrecken; es sollte sich zudem um eine Fragestellung handeln, die zum Verständnis aktueller Kantprobleme unerläßlich ist. Erörterungen über das „Wesen" der Kritik, ob sie Theorie der Erkenntnis („Erkenntnistheorie") oder Analyse der Erfahrung („Theorie der Erfahrung") sei, dahin einzuengen, daß es sich in ihr eben nur um eine Theorie der apriorischen Erkenntnis handelt5, ist billig. Denn wie sich das Empirische zum Apriorischen, das Besondere zum Allgemeinen verhält, gehört ja ebenso zu einer solchen „Theorie" wie die Frage nach ihren eigenen Voraussetzungen. Soll die Erfahrung begründet, die Metaphysik begrenzt werden, so scheint aber doch ein hypothetisches Verfahren im Sinne eines Vermutens, Meinens oder dessen, was - in unserer Zeit - „induktive Metaphysik" genannt wird, gänzlich ausgeschlossen: in dieser Art von Betrachtungen, sagt Kant, ist alles, „was darin einer Hypothese nur ähnlich sieht, verbotene Ware, die | auch nicht für den geringsten Preis feil stehen darf, sondern sobald 5
Auch hierzu siehe F. J. Schmidt, a. a. O. S. 228 : Indem man verkannte, „daß der philosophische Kritizismus es . . . allein mit den Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung zu tun habe, geriet man der Methode nach . . . auf eine vorkantische Stufe der Philosophie zurück, nämlich auf die des physiologischen Empirismus." - Ähnlich H. Ebbinghaus und andere.
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sie entdeckt wird, beschlagen werden muß" ft . Das führt die Methodenlehre in einem eigenen Abschnitt weiter aus7: die von der Erfahrung abgesonderte Vernunft kann alles nur a priori oder gar nicht erkennen; ihr Urteil ist „niemals Meinung, sondern entweder Enthaltung von allem Urteile, oder apodiktische Gewißheit" (A 775). Freilich, beim praktischen Gebrauch der Vernunft könnten Annahmen ohne hinreichende Beweisgründe zur Abwehr gegenteiliger Meinungen verwendet werden - Hypothesen sind hier „als Kriegswaffen" erlaubt (A 777). Aber diese Waffen sind abzulegen, sobald der „dogmatische Eigendünkel des Gegners abgefertigt" ist (A 781). Als „Meinungen an sich selbst" haben also Hypothesen im spekulativen Gebrauch der Vernunft „keine Gültigkeit" (ebd.). Damit ist zwar der Wert der Hypothese innerhalb der Dialektik der reinen Vernunft angegeben, nicht aber die der Hypothese selbst eigene „Dialektik", - eines negativ zu bewertenden bloßen Meinens und eines positiven Begründens, Zugrunde-Legens. Es gibt eben (und das wird in der Methodenlehre nur angedeutet) „transzendentale Hypothesen" (A 772), die „eigentlich nur zur Befriedigung der Vernunft und nicht zur Beförderung des Verstandesgebrauchs in Ansehung der Gegenstände dienen" (ebd.). Daß Kant vom „hypothetischen Gebrauch der Vernunft" bereits in der Elementarlehre, im Anhang zur transzendentalen Dialektik, ausführlich gesprochen hatte, sagt er hier nicht, vielleicht weil die Methodenlehre früher geschrieben ist als der Anhang zur Dialektik. Und daß die Selbstbefriedigung der Vernunft den Verstandesgebrauch in Ansehung der Gegenstände sehr wohl „befördert", ist im Anhang auch schon ausgeführt. Vor weiterem Eindringen in diese Problematik sei jedoch einiger Hinweise Rudolf Zochers gedacht, die nicht nur durch ihre Prägnanz erfreulich, sondern auch durch ihre anscheinende Naivität besonders lehrreich sind. In einem Aufsatz über den Doppelsinn der Kantischen Ideenlehre" (1966)8 beschäftigt sich Zocher mit dem eben genannten „Anhang" und findet, daß er eine a n d e r e „Ideendreiheit" aufstellt als die bekannte Dreiheit von Seele, Welt, Gott in der transzendentalen Dialektik selbst (S. 225). Nämlich die Prinzipien systematischer Einheit: Gleichartigkeit, Varietät und Affinität, die den drei „Scheingebilden Seele, Welt, Gott . . . strukturell ganz offenbar disparat sind" (S. 222). Der „Anhang" erscheine so als Fremdkörper im Gesamtaufbau der Dialektik (S.225). Und die einzige Vermutung zur Lösung dieses „Rätsels" | ergebe sich aus der, später in der (Einleitung zur) Kritik der Urteilskraft behandelten Problematik „reflektierender Urteilskraft", deren Begriff Kant hier noch nicht gefunden habe, „aber schon vor Augen sah", '' Vgl. neben zahlreichen anderen Stellen XXIII43: „Probabilität im absolut Nothwendigen ist widersprechend". 7 Dazu jetzt R. E. Butts, Kant on Hypothesis in the „Doctrine of Method" and the Logik, in: Archiv für Gesch. d. Phil. 44, 2 (1962). 8 R. Zocher, in: Zeitschrift für philosophische Forschung XX 2, S. 222-226.
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„ohne daß es ihm gelang, sie von den Ideen . . . klar abzuheben" (S.226). Dasselbe hatte Zocher- ohne es eigens zu erwähnen - schon 1958 in seiner Studie: „Zu Kants Transzendentaler Deduktion der Ideen der reinen Vernunft" 9 geltend gemacht. Die für die „Dialektik" wesentlichen Ideen (Seele, Welt, Gott) seien von den im Anhang zur transzendentalen Dialektik behandelten Ideen als „Systematisierungsformen" inhaltlich verschieden (S.56); es erkläre sich diese Verschiedenheit, die von Kant gar nicht ausdrücklich hervorgehoben werde, vielleicht daraus, daß die beiden Abschnitte (der „Anhang" zur Dialektik und die Endabsicht" der Dialektik) „zu verschiedenen Zeiten entstanden . . . bei der Schlußredaktion der Kritik . . . nebeneinander gestellt worden seien, ohne daß sie genauer aufeinander abgestimmt wurden" (S. 57). Und das Urteil müsse dann lauten: es besteht eine „mangelnde Einheitlichkeit in der Konzeption der Ideenbegriffe" bzw. es besteht ein „Bruch in der Kantischen Ideenlehre selbst" (S. 58). Und schließlich wird in Zochers Hauptwerk (1959)10, das die Kritik der Urteilskraft in den Mittelpunkt der Kantinterpretation stellt - und dies als Abschluß des axiologischen Idealismus (Rickerts) - , das Spezifikationsprinzip des „Anhangs" zur Dialektik bis zum Prinzip der „formalen Zweckmäßigkeit" der Natur, d. h. bis zur Einleitung in die Kritik der Urteilskraft verfolgt: die Dreiheit der Systematisierungsformen (Homogenität, Varietät, Affinität) schrumpfe in der dritten Kritik zu einem einzigen Prinzip zusammen, nämlich eben dem Spezifikationsprinzip bzw. der formalen Naturzweckmäßigkeit und der sie „erkennenden" reflektierenden Urteilskraft. „Allerdings scheint Kant selbst, soviel sich sehen läßt, diesen Zusammenhang von erster und dritter Kritik nicht ausdrücklich hervorzuheben. Ersetzt er stillschweigend die drei Vernunftideen durch das eine Prinzip der reflektierenden Urteilskraft? Man wird sich kaum anders entscheiden können" (S. 65). Eben auf diesen „Zusammenhang", der auch von älteren Vertretern der südwestdeutschen Schule hervorgehoben wird", kommt es uns an. Doch soll er noch über die Kritik der Urteilskraft hinaus, bis zum opus postumum verfolgt I werden - dessen letztes (erstes) Konvolut (1800-1803) sozusagen den systemgerechten „Abschluß" dieser Entwicklung bildet. Die bestimmtere Darstellung einer Systematik des Besonderen, wie sie sich im „Elementarsystem der Materie" - als dem „Ubergang" zur Physik - findet, ist dabei ebenso wichtig wie der Versuch einer „neuen", d. h. den Organismusbegriff der Kritik der Urteilskraft einbeziehenden, „transzendentalen" Deduktion 9
R. Zocher, in: Zschr. f. philos. Forsch. XII 1, S.42ff., thematisch schon bei W. Ernst, Der Zweckbegriff bei Kant und sein Verhältnis zu den Kategorien, Berlin 1909, S. 9: „Durch die Idee des Zwecks erweist sich die Vernunft als der Natur angemessen und umgekehrt gibt es keine Natur als systematische Einheit ohne die Idee des Zwecks. Darin besteht die transzendentale Deduktion der transzendentalen Vernunftidee des Zwecks". 10 R. Zocher, Kants Grundlehre, Erlangen 1959. " Vgl. besonders Bruno Bauch, Immanuel Kant, 3. Aufl. Berlin 1923, S.422ff.
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der bewegenden Kräfte als „Kategorien" des Besonderen. Zunächst der hypothetische Vernunftbegriff selbst. Er wird A 646 aus dem Verhältnis des Allgemeinen zum Besonderen entwickelt, und zwar als Gegenstück zur subsumierenden Urteilskraft: hier wird das Besondere durch das Allgemeine notwendig bestimmt; im Falle des „hypothetischen" Vernunftgebrauchs wird das Allgemeine nur problematisch angenommen, es ist eine „bloße Idee", während die besonderen Fälle „insgesamt gewiß" sind (A 647 f.). Insofern ist der hypothetische Vernunftgebrauch nicht konstitutiv, sondern regulativ: er bringt, „soweit als es möglich ist", Einheit in die besonderen Erkenntnisse (A 647). Gegenstand des hypothetischen Vernunftgebrauchs ist der Verstand „und dessen zweckmäßige Darstellung" (A 644). Dem Verstände „bereitet" die Vernunft „sein Feld" (A 657), d.h. sie bringt Einheit in die besonderen Erkenntnisse - die als solche freilich nur projektierte Einheit, nicht gegeben, sondern nur als „Problem" anzusehen ist (A 647). Sie bringt „Ordnung" in die Mannigfaltigkeit der Verstandesbegriffe (A 643). Sie „setzt" eine gewisse kollektive Einheit zum „Ziele" der Verstandeshandlungen, „richtet" den Verstand zu einem gewissen Ziele, um dadurch, soweit es möglich ist, die Verstandesregel „der Allgemeinheit zu nähern" (A 647). Könnte dies noch immer von den Ideen Seele, Welt, Gott als Ordnungsbegriffen gelten, insofern sie nicht transzendent, sondern immanent gebraucht werden, so ist zunächst jedenfalls nicht einzusehen - und darauf hatte sich Zocher bezogen - , was die uns nunmehr präsentierten „Prinzipien" der Homogenität, Spezifikation, Kontinuität mit der Ideentrias der metaphysica specialis zu tun haben. Klar ist zwar, daß der „Anhang" zur transzendentalen Dialektik dem „Anhang" zum dritten Teil der transzendentalen Analytik systematisch zugeordnet ist, und daß beide „Anhänge" sich mit der Leibnizschen Philosophie auseinandersetzen - dort (A267) expressis verbis, hier (A 668) unter Zwischenschaltung des „durch Bonnet trefflich aufgestutzten Gesetzes der kontinuierlichen Stufenleiter der Geschöpfe". Nahe liegt es auch, die in dem Abschnitt über die Amphibolie der Reflexionsbegriffe (A 260 ff.) enthaltenen Aussagen über die Reflexion (Überlegung) als „Unterscheidung der Erkenntniskraft, wozu die gegebenen Begriffe gehören" (A261) bzw. über die transzendentale Reflexion als „Grund der objektiven Komparation der Vorstellungen untereinander" (A 262) mit denen über den hypothetischen Vernunftgebrauch zusammenzuhalten, wobei die Folgerung, Kant hätte wie hiervon Keñexionsbegnffen, so im Anhang zur Dialektik be|reits von reflektierender Urteilskraft (anstatt von hypothetischem Vernunftgebrauch) reden können, nicht abzuweisen ist 12 . Wie die transzendentale Überlegung die „richtige Bestimmung" eines 12
Dazu M. Liedtke, Der Begriff der reflektierenden Urteilskraft in Kants Kritik der reinen Vernunft, Diss. Hamburg 1964.
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Verhältnisses sucht - nämlich die Zugehörigkeit der Vorstellungen zum reinen Verstände oder zur sinnlichen Anschauung (A 261, Β 317) - , so ist auch der hypothetische Vernunftgebrauch bzw. die (später so genannte) reflektierende Urteilskraft suchend: sie sucht nach einer nicht gegebenen systematischen Einheit der empirischen Erkenntnisse. Wie immer es Kant gelingt, den hypothetischen Vernunftgebrauch als transzendentalen „nicht bloß subjektiv und logisch, als Methode, sondern objektiv notwendig" zu machen (A 648) - es gehört dies in das Kapitel der von Ζ o c h e r erörterten transzendentalen Deduktion der Ideen - , vordergründlich, immer wieder auftretend und den Zusammenhang mit dem Gottesbegriff der Dialektik herstellend, ist der Gesichtspunkt des ganzmachenden Verstandes (intellectus archetypus, originarius), dessen Kontamination mit der „allerhöchsten Vernunft" (A 686) Kants transzendentale Theologie bis zum Schluß charakterisiert13. Gesetzt, es sei ein „glücklicher Zufall", wenn wir eine „systematische Einheit unter bloß empirischen Gesetzen antreffen" (V 184), so könnte der Grund hierfür, wie überhaupt für die spürbare Zweckmäßigkeit der Welt, „der „Ur-" bzw. (inB) „Ungrund der Welteinheit" (A687, Β 725)-Gottals höchstes Wesen sein. Da jedoch nach dem Ergebnis der Kritik aller spekulativen Theologie das höchste Wesen zwar ein „fehlerfreies Ideal" (A 641), aber weder beweisbar, noch Prinzip der Ableitung empirischer Erkenntnisse sein kann, so bleibt die Frage, ob sich der „glückliche Zufall" nicht auf andere Weise als durch die wirkliche oder vermeintliche Wirksamkeit Gottes erklären läßt 14 . Daß eine solche „Erklärung" modo obliquo d.h. als diskursive „Erkenntnis" des intuitiven archetypischen Verstandes, also als eine Art Nachvollzug eines uns gar nicht möglichen schaffenden Erkennens gegeben werden könne, führt auf eine Problematik, die Kant bis zum opus postumum15 unermüdlich ventiliert, | aber eben nur als Grenzproblematik, deren eigentlicher Dialektik er entgehen zu können glaubt. Sei es doch (V 408) nicht einmal nötig, zu beweisen, daß „ein solcher intellectus archetypus möglich sei, sondern nur daß wir in der Dagegenhaltung unseres discursiven . . . Verstan13
Unter zahlreichen Stellen siehe jetzt etwa XXVIII 328 ( L t ) : „die Ursprünglichkeit des intellectus originarii ist: daß er alle Theile erkennt aus dem Ganzen . . . Die Erkenntnisse des intellectus originarii sind nicht Begriffe, sondern Ideen", sowie XXVIII 781 : „die Verwechselung des conceptus originarii mit dem ente originario macht große Verwirrung in der Metaphysik" (K 2 ). - Zur Tradition vgl. besonders F. Delekat, Immanuel Kant, Heidelberg 1963, S. 23 u.ö., sowie A. Baeumler, Kants Kritik der Urteilskraft, Halle 1923, S.330ff.
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Uber die „Zufälligkeit" in der Kritik der Urteilskraft siehe I. Bauer-Drevermann Kantstudien 56, 3 - 4 (1966), S.497ff. Siehe etwa X X I 185 7H . : , ,wenn wir einen von der Materie unabhängigen Verstand annehmen der in Ansehung dieser Formen architectonisch ist und uns die bewegende Kräfte der Materie nach der Analogie desselben vorstellen welches nach Begriffen a priori geschehen kann . . . " (1799).
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des . . . auf jene Idee (eines intellectus archetypus) geführt werden". Obwohl de facto der „Gesichtspunkt" bzw. „Standpunkt" des archetypischen Verstandes von uns eingenommen wird - um nämlich die „Zufälligkeit der Beschaffenheit des unsrigen aufsuchen" zu können (V 406) oder (IV 458) „ u m sich selbst als praktisch zu denken". Das weist zurück auf die Problematik des Spontaneitätsbegriffs, die uns aber als solche hier nicht zu beschäftigen braucht 16 . Dagegen ist ein anderer Begriff noch anzuführen, der nicht nur den genannten Prinzipien systematischer Einheit angehört, sondern auch in der transzendentalen Deduktion auftritt, an die wir ja die Gesetzmäßigkeit des Besonderen allererst anzuknüpfen haben. Es heißt nämlich A 657, die Vernunft bereite dem Verstände sein Feld „durch ein Prinzip der Gleichartigkeit des Mannigfaltigen unter höheren Gattungen" und „durch einen Grundsatz der Varietät des Gleichartigen unter niederen Arten". Die Vernunft füge aber „noch ein Gesetz der Affinität aller Begriffe hinzu, welches einen kontinuierlichen Übergang von einer jeden Art zu jeder anderen . . . gebietet". Dieses Gesetz der Affinität könne man auch das Prinzip der Kontinuität der Formen nennen. Es ist sozusagen die Vereinigung der beiden anderen Prinzipien und die Vollendung des systematischen Zusammenhangs - jetzt sind „alle Mannigfaltigkeiten untereinander verwandt" (A 658). Beiläufig entwickelt Kant von hier aus seine Lehre vom logischen Horizont (A 658 f.) als „Standpunkt eines Zuschauers" (A 658) ' 7 , der eine Menge voji Dingen überschaut, die immer wieder kleinere Horizonte haben, um schließlich auf den „Standpunkt" des höchsten Begriffs zu gelangen (A 659). Dieses logische Gesetz setzt aber ein transzendentales voraus (A 660); es muß auf „reinen transzendentalen und nicht empirischen Gründen beruhen" (ebd.). Als solches bringt es „eigentlich das Systematische der Naturerkenntnis zuerst hervor" (ebd.). Es ist um deswillen eine bloße Idee, weil wir von ihm keinen bestimmten empirischen Gebrauch machen können - weil es uns „nicht das geringste Merkmal der Affinität" anzeigt, „nach welchem und wie weit wir die Gradfolge ihrer (sc. der Arten bzw. Zwischenglieder) Verschiedenheit zu suchen . . . haben" (A 661). Dennoch: das transzendentale Gesetz der Formen zeigt an, daß wir danach zu suchen haben. | Es gilt ja von allen Ideen des hypothetischen Vernunftgebrauchs, daß sie „bloße" Ideen, d.h. dem empirischen Vernunftgebrauch unerreichbar sind und trotzdem als „synthetische Sätze a priori, objektive, aber unbestimmte Gültigkeit haben" (A 663). Da Kant, was er an dieser Stelle betont, die Un-
17
Vgl. I. Heidemann, Spontaneität und Zeitlichkeit, Köln 1958, sowie G. Lehmann, Kantstudien 51, 3 (1959/60), S. 353-360. Zum „Standpunkt" bei Kant allgemein: F. Kaulbach, Archiv für Philosophie 12, 1-2, 1963, S. 14-45. - Zu Kants Ablehnung der infima species bzw. des Individualbegriffs siehe auch A 655.
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möglichkeit einer transzendentalen Deduktion der Ideen, an anderer (A 670) rückgängig macht (es müsse „durchaus eine Deduktion derselben" - sc. der Ideen - möglich sein), so dürfen wir hier von der Frage der Deduzierbarkeit, die bei den Kategorien anders gelagert ist als bei den Ideen, absehen. Nicht aber von dem Ineinandergreifen beider Deduktionen. Denn hier ist der Nerv freigelegt, der von der alten zur „neuen" Deduktion im opus postumum führt: daß sich die Gesetzmäßigkeit des Besonderen nicht ohne den hypothetischen Vernunftgebrauch ableiten läßt, daß mithin die reflektierende Urteilskraft, wie es später heißt, dazugehört, um den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. Die Affinität, A 657 Gesetz aller Begriffe, welches einen kontinuierlichen Ubergang von einer jeden Art zu jeder anderen „durch stufenartiges Wachstum der Verschiedenheit gebietet" (A 658), tritt bekanntlich als terminus zuerst und an wichtigster Stelle in der 1. transzendentalen Deduktion auf. Kant handelt von der Affinität des Mannigfaltigen bzw. der Erscheinungen (A 113), zunächst als empirischer, sodann als transzendentaler (A114). Die letztere ist objektiver Grund aller „Assoziation der Erscheinungen" (A122). Erscheinungen sind also verknüpfbar (assoziabel) nur nach Maßgabe ihrer Affinität. „Es muß . . . ein objektiver, d.i. vor allen empirischen Gesetzen der Einbildungskraft a priori einzusehender Grund sein, worauf die Möglichkeit, ja sogar die Notwendigkeit eines durch alle Erscheinungen sich erstrekkenden Gesetzes beruht" (sc. des Assoziationsgesetzes), und diesen „objektiven Grund", die Affinität, können wir nirgends anders „als in dem Grundsatze von der Einheit der Apperzeption . . . antreffen" (A 122). Kurz danach (A 123) heißt es noch schärfer: „die Affinität aller Erscheinungen (nahe oder entfernte) ist eine notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist" 1 8 . Also: Affinität der Erscheinungen ist Grund ihrer Assoziation und nur in dem Grundsatz von der Einheit der Apperzeption „in Ansehung aller Erkenntnisse, die mir angehören sollen", anzutreffen. Affinität der Erscheinungen ist Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft; d. h. sie ist nicht Voraussetzung dafür, daß Verbindung der Erscheinungen möglich ist. Dies ist der für die Deduktion springende Punkt; wobei wir davon absehen können, daß der Affinitätsbegriff in anderen Entwürfen der transzendentalen Deduktion nicht auf|tritt, daß der Sinn der Kantischen Fassung von Affinität und Assoziation auf Hume zu beziehen ist usw. Ein Vergleich zwischen dem, was in der Deduktion Affinität der Erscheinungen, im Anhang zur Dialektik Affinität der Begriffe genannt wird, setzt 18
W. Emst, a. a. O . , S. 57, fragt, was mit der Affinität des Mannigfaltigen bei Kant erklärt sei: N u r die Assoziationsmöglichkeit im allgemeinen, nicht aber, warum . . . nur eine bestimmte Anzahl (in der „Masse möglicher Aufeinanderfolgen") assoziiert wird. Eben diese Frage scheint uns von Kant entwickelt und einer, wenn auch anfechtbaren, Lösung im opus postumum zugeführt zu sein.
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voraus, daß „Affinität" für Kant ein systemeigener Begriff ist 19 . Das scheint uns kaum zweifelhaft zu sein. Abgesehen davon, daß beidemal Affinität in doppelter Bedeutung, in empirischer und transzendentaler, gebraucht wird (wie Apperzeption, Einbildungskraft, Schema etc.), zeigt schon die Art der Durchführung, daß es sich um einen systemeigenen Begriff handeln muß: zur Möglichkeit der Erfahrung gehört die Affinität der Erscheinungen als „notwendige Folge einer Synthesis in der Einbildungskraft, die a priori auf Regeln gegründet ist" (A 123); zur Möglichkeit systematischer Einheit (der Erfahrung) gehört die Affinität der Begriffe als notwendiges Vernunftprinzip (Maxime), das als „transzendentales Gesetz" „eigentlich das Systematische der Naturerkenntnis zuerst hervorgebracht" hat (A 660)20. Wollen wir die - über Zocher hinausgehende - These der Zugehörigkeit der Ideenlehre (des hypothetischen Vernunftgebrauchs, des transzendentalen Prinzips der Vernunfteinheit der Regeln [A 650], des transzendentalen Gesetzes der Spezifikation [A 656]) zur transzendentalen Deduktion der Kategorien sichtbar machen, ohne dies selbst genauer behandeln zu müssen, so genügt es, auf das Ergebnis der Deduktion in Β 159 ff. bzw. auf die darin enthaltene Restriktion Β 165 hinzuweisen: alle Erscheinungen der Natur stehen unter den Kategorien; von den Kategorien hängt die „Natur, bloß als Natur überhaupt betrachtet", ab. „Auf mehrere Gesetze aber, als die, auf denen eine Natur überhaupt, als Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen in Raum und Zeit, beruht, reicht auch das reine Verstandesvermögen nicht zu", den Erscheinungen a priori Gesetze vorzuschreiben. „Besondere Gesetze, weil sie empirisch bestimmte Erscheinungen betreffen, können davon nicht vollständig abgeleitet werden . . . Es muß Erfahrung dazu kommen . . . " In A heißt es von der „Besondergesetzlichkeit" etwas anders formuliert: empirische Gesetze könnten ihren Ursprung keineswegs vom reinen Verstände herleiten, „so wenig als die unermeßliche Mannigfaltigkeit der Erscheinungen aus der reinen Form der sinnlichen Anschauung hinlänglich begriffen werden kann" (A 127). Uber den Sinn dieser Restriktion, die zunächst nicht eben rätselhaft erscheint, ist gestritten worden. B. Erdmann z.B. meint, daß „weder der Einzelbestand der Empfindungen, der in jedem konkreten empirischen Objekt gegeben ist, noch die konkrete Abgeschlossenheit ihrer speziellen Raumund Zeitformen, noch endlich die mannigfaltigen besonderen Naturgesetze" 19
20
Nach H. Heimsoeth (Methodenbegriffe der Erfahrungswissenschaften und Gegensätzlichkeiten spekulativer Weltkonzeption, in: Studien zur Philosophie Immanuel Kants II, Bonn 1970, S. 60 f.) hat Kant den Affinitätsbegriff der Chemie entnommen; in der Anmerkung dazu eine Reihe von Belegen. Siehe auch: H. Heimsoeth, Transzendentale Dialektik. Ein Kommentar zu Kants Kritik der reinen Vernunft, Berlin 1969, S. 431 f. Dies unterscheidet den Kritizismus vom naiven oder transzendentalen Realismus, der die systematische Beschaffenheit der Natur bzw. Welt für die Erkenntnis voraussetzt (ζ. B. Adikkes, Külpe, N. Hartmann etc.).
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sich aus den apriorischen Erkenntnisbedingungen ableiten lassen. Die Kategorien, „vornehmlich der Substantiaütät, Kausalität und Wechselwirkung, enthalten nur die allgemeinen Bedingungen der Gesetzmäßigkeit der Erscheinungen" 2 1 . Die „Ableitungsbedingungen" für den „speziellen Objektund Gesetzesbestand" finden wir dagegen in der „intelligibelen Kausalität der Dinge an sich" ; denn sie „vertritt bei Kant die Milieuursachen, die wir f ü r diese Bestimmtheiten annehmen müssen" (S.217). Wie immer es zu denken sei, daß die Dinge an sich die besonderen Gesetze und Objekte verursachen - fraglos ist doch mitzudenken, daß in der Setzung des Besonderen auch das Allgemeine gesetzt ist, wie im speziellen Pferd die Pferdheit. W o z u brauchen wir dann also eine allgemeine, nicht auf die Dinge an sich, sondern auf den reinen Verstand zurückzuführende Gesetzlichkeit? Bei Erdmann wird sowohl der transzendentalen Deduktion der Ideen gedacht (S. 194) als auch der transzendentalen Affinität der Erscheinungen (S. 207) 22 - aber weder er noch Adickes oder Vaihinger sehen, daß beide Deduktionen, die der Verstandes- und Vernunftbegriffe, ineinandergreifen, und daß die Affinitäten der Erscheinungen und der Vernunftbegriffe zusammengehören. Jenes wird A 657 bereits dadurch hervorgehoben, daß Kant dem Verstände von der Vernunft sein „ F e l d " bereiten läßt. Was das aber für ein Feld ist, sagt er kurz davor anläßlich des „transzendentalen Gesetzes der Spezifikation" in einem Beispiel: daß „absorbierende Erden von 2 3 verschiedener Art I (Kalk- und muriatische Erden) sind, bedurfte zur Entdeckung eine zuvorkommende Regel der Vernunft, welche dem Verstände es zur Aufgabe machte, die Verschiedenheit zu suchen" (A 657). Mit anderen Worten: die Vernunft geht über die vom Verstände konstituierte Erscheinungsgesetzlichkeit als solche hinaus, indem sie zur „ E n t d e c k u n g " empirisch bedingter Erscheinungen beiträgt. Beide Verhältnisse: das der Systemideen zu den allgemeinen Verstandes21
22
23
B. Erdmann, Kritik der Problemlage in Kants transzendentaler Deduktion der Kategorien, Sitzungsberichte der Kgl. Preuß. Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-historische' Klasse, XI, 1915, S.216. „Wir dürfen dem Tiefsinn des Versuchs, die Assoziabilität der Wahrnehmungsvorstellungen und damit ihre Reproduzibilität aus einer transzendentalen Affinität herzuleiten, unsere Anerkennung nicht versagen. Aber dieser Versuch ist doch . . . nur die Konsequenz der irrtümlichen Annahme, daß eine autonome synthetische Tätigkeit den zureichenden Grund f ü r die Assoziation abgeben könne . . . Der Grund der Assoziabilität liegt . . . nicht in subjektiv transzendentalen, sondern in empirisch objektiven Bedingungen des Gedächtnisses." Zu dieser Stelle (S. 207, Zeile 26) finde ich in meinem Sonderabdruck eine handschriftliche Notiz von Paul Hofmann: „Fraglich. Mir erscheint es nicht umgereimter, eine subjektive Tendenz anzunehmen, die beständig den Bewußtseinsinhalt auf Regelmäßigkeiten und nützliches Inbeziehungsetzen der Bestandteile ,durchspäht' und so im Grenzfall selbst in einem empirisch chaotischen Gegebenen Associationen hervorbringen würde, als eine objektive Regelmäßigkeit schon in dem ursprünglich Gegebenen vorauszusetzen." „ v o n " mit Valentiner.
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begriffen, und das der Affinität des Mannigfaltigen der Erscheinungen zur Affinität der Begriffe, sind nicht nur Analogien, wie man sie bei Kant so häufig findet 24 , sondern stehen selbst in systematischem Zusammenhang, zu dessen Explikation es freilich der Weiterführung des Problems in der Kritik der Urteilskraft bzw. deren beiden Einleitungen bedarf. Dabei taucht sogleich der Begriff der Affinität wieder auf, jetzt als „Affinität der besonderen Naturgesetze" ( X X 210 6 EE.). Die Natur als Inbegriff aller Gegenstände der Erfahrung ist ein System nach transzendentalen Gesetzen ( X X 2O823 EE.). Daraus folgt aber nicht, daß sie auch nach empirischen Gesetzen ein für das menschliche Erkenntnisvermögen faßliches System sei ( X X 209 4f .) : Mannigfaltigkeit und Ungleichartigkeit der empirischen Gesetze könnten ja so groß sein, daß es uns niemals gelänge, sie „zur Einheit der Verwandtschaft unter ein gemeinschaftliches Princip zu bringen" ( X X 209 12 f)- Der Verstand ist der Gesetzgeber der Natur, gewiß. Aber er „abstrahiert" von aller Mannigfaltigkeit empirischer Gesetze; er zieht „nur die Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung überhaupt ihrer Form nach" in Betracht. Das Prinzip der „Affinität der besonderen Naturgesetze" ist also im Verstände nicht anzutreffen ( X X 210 5 . 6 EE.). Wohl aber im hypothetischen Vernunftgebrauch oder - wie es jetzt heißt - in der reflektierenden Urteilskraft. Diese, der bestimmenden Urteilskraft entgegengesetzt, ist zwar gesetzgebend, aber nur in Beziehung auf sich selbst: das Subjekt gibt sich selbst das Gesetz (Heautonomie), wie es zu urteilen (forschen, reflektieren) hat. An dieser Stelle ( X X 2 2 5 20 ff.) findet sich Kant bereits auf dem Wege zur Ästhetik des Beurteilungsvermögens, von der hier abgesehen werden kann. Denn die Beziehung aufs Gefühl der Lust und Unlust ist dem Reflexionsurteil nicht wesentlich, jedenfalls dann nicht, wenn es sich - wie bei der Gesetzmäßigkeit des Besonderen als solcher - um empirische Begriffe und Gesetze handelt, die „gemäß dem Mechanism der Natur gegeben sind" ( X X 2 2 1 u EE.). | In der zweiten Einleitung wird dann auch die Selbstgesetzgebung der reflektierenden Urteilskraft vor der Beziehung der Urteilskraft zum Gefühl der Lust und Unlust angeführt (V 185f.), obgleich diese Beziehung damit nicht preisgegeben sein soll: sei ja doch die „entdeckte Vereinbarkeit zweier oder mehrerer empirischen heterogenen Naturgesetze unter einem sie beide befassenden Princip der Grund einer sehr merklichen Lust, oft sogar einer Bewunderung" (V 18723-26) - ein Gedanke, der systematologisch kaum von Bedeutung ist. Denn gilt nicht allgemein von jeder Erkenntnis, daß sie Lust bereitet bzw. bereiten kann? 24
Vgl. jetzt S. Takeda, Kant und das Problem der Analogie. Eine Forschung nach dem Logbs der Kantischen Philosophie, Den Haag 1969. Diese aus Japan stammende Schrift wird auch den angeführten Fragen: nach dem hypothetischen Vernunftgebrauch (S. 104 ff.), der, .Zufälligkeit" der Erfahrung (S. 119ff.), der Affinität (S. 123ff.) gerecht.
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Dennoch ist der Zusammenhang mit der Teleologie, der sich in der Bezeichnung „Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit der Natur" ausdrückt, nicht zu bestreiten. Er liegt allerdings an anderer Stelle als an der von Kant angegebenen eines „höheren" Verstandes, der unserer Beurteilung zugrunde gelegt werden soll: das transzendentale Prinzip der formalen Zweckmäßigkeit ist subjektiv notwendig, weil es sonst für uns Menschen kein „faßliches" System der Natur geben könnte. Und diese „Faßüchkeit" erweist sich-wie vorgreifend zu sagen ist - als Fassen-können auf dem Grunde unserer eigenen, zweckmäßig zu denkenden, organischen Natur, unserer Organisation. Davon handelt die Kritik der teleologischen Urteilskraft nur insofern, als sie vom Organismus als solchem handelt, nicht vom menschlichen Organismus. Die Bedeutung dieser allgemeinen Beschreibung für unseren Gedankengang tritt aber sofort hervor, wenn die schon A 832 ff. ausgeführte Kongruenz von System und Organismus herangezogen wird: „Der szientifische Vernunftbegriff enthält also den Zweck und die Form des Ganzen, das mit demselben kongruiert" (A 832). Und: das Ganze (System) ist „gegliedert (articulatio) und nicht gehäuft (coacervatio); es kann zwar innerlich (per intus susceptionem), aber nicht äußerlich (per appositionem) wachsen, wie ein tierischer Körper" (A 833)25. In der bekannten Beschreibung des Dinges als Naturzweck (V 370ff.) die nach N. Hartmann „den Charakter eines bloßen Befundes am Phänomen hat"2f> - wird der systematische Gesichtspunkt zur Geltung gebracht, zugleich doch aber gesagt, daß der Begriff organisiertes Wesen „kein konstitutiver Begriff des Verstandes oder der Vernunft", sondern ein „regulativer Begriff für die reflektierende Urteilskraft" ist (V 375), was zu den in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft behandelten Schwierigkeiten führt, deren „Lösung" zumeist im mechanistischen Sinne verstanden wird 27 .| Von der Auflösung der Dialektik mit ihrem Ausblick auf das „Übersinnliche, welches wir der Natur als Phänomen unterlegen müssen" (V 412) und der Synthese des „allgemeinen Mechanismus der Materie mit dem teleologischen in der Technik der Natur" (V 410) wird noch zu handeln sein. Wichtig ist der Hinweis darauf, daß der schon den Eingang in die Ideenlehre erschwerende Gegensatz von konstitutiv und regulativ, nicht definitiv, sondern relativ ist. Regulativ sowohl als konstitutiv sind bekanntlich die dynamischen Grundsätze im Unterschied zu den mathematischen (A 664), aber auch regulative praktische Prinzipien („ für die Klugheit oder Weisheit") sind zugleich konstitutiv (praktisch bestimmend) (V 457). Solche und ähnliche Formulierungen finden sich besonders im Nachlaßwerk: der „Übergang" (XXII240) 25
Vgl. meine Beiträge zur Geschichte und Interpretation der Philosophie Kants, Berlin 1969, S. 162 f. 2 N. Hartmann, Diesseits von Idealismus und Realismus, in: Kantstudien Bd.29, Heft 1/2 (1924), S. 177. 27 Vgl. weiter unten S. 21.
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„ist ein nicht bloß regulatives sondern auch constitutives formales a priori bestehendes Princip", und allgemein ist die Rede (XXII241) „von regulativen Principien die zugleich constitutiv sind". Nicht minder relativ ist die in beiden „Einleitungen" scharf herausgearbeitete, in der Ideenlehre natürlich auch schon angesetzte Unterscheidung zwischen reflektierender und bestimmender Urteilskraft, deren zweite das Besondere unter das Allgemeine „subsumieren", während die erste zum Besonderen das Allgemeine finden soll (V 179) - wobei das „Prinzip" der Reflexion in XX 211 (EE.) kurz so formuliert wird: daß sich zu allen Naturdingen empirisch bestimmte Begriffe finden lassen. Doch fängt eine lange Anmerkung die anscheinende Selbstverständlichkeit dieses Satzes sogleich wieder auf: die Urteilskraft setze eben ein „System der Natur auch nach empirischen Gesetzen voraus, und dieses a priori, folglich durch ein transzendentales Prinzip" (XX 212 EE.). Von Interesse wäre es noch, einige bei Kant angeführte - jetzt von H . Heimsoeth sorgsam ausgebreitete 28 - Beispiele für empirische Gesetze bzw. Begriffe anzugeben. In der Ersten Einleitung nennt er Erden, Steine, Mineralien (XX 217), führt Linné's System der Natur an (XX 215) und sagt zur Erläuterung des Satzes, daß die Zweckmäßigkeit eine Gesetzmäßigkeit des Zufälligen ist: die Natur verfahre „in Ansehung ihrer Producte als Aggregat mechanisch, als bloße Natur; aber in Ansehung derselben als Systeme, z.B. Cristallbildungen, allerley Gestalt der Blumen, oder dem inneren Bau der Gewächse und Thiere, technisch" (XX 217). Ebenfalls von der Kristallisation - und zwar recht ausführlich - handelt der § 58 der Kritik der Urteilskraft (V 348 f.). - A 645 f. hatte sich Kant auf Beispiele aus der Chemie bezogen: man habe Begriffe wie reine Erde, reines Wasser, reine Luft etc. nötig, obzwar sie nicht aus der Natur geschöpft seien, sondern „ n u r in der Vernunft ihren Ursprung haben". Während er A 663 für die Affinität des Mannigfaltigen Beispiele aus der Astronomie gibt und dabei auf „das für uns unbegrenzte Welt|system, das durch eine und dieselbe bewegende Kraft zusammenhängt", hinweist. Es handelt sich nicht darum, welche „Funktion" 2 9 diesen Beispielen hier zukommt, sondern nur darum, daß der Weg zum opus postumum mit ihnen gepflastert ist, wir also nicht auf falscher Fährte sind. Setzt doch der Oktaventwurf (XXI 373 ff.) sogleich mit der Erörterung solcher Gegenstände ein: Kristallisation, Kapillarität, Tropfenbildung, Flüssigkeit und Starrheit, Starrigkeit und Biegsamkeit etc. Der Begriff „Weltsystem" erhält im opus postumum erst seinen systematischen Ort gegenüber dem Elementarsystem. 28
29
Siehe Heimsoeth, a. a. O . Dazu: H. Heimsoeth, Astronomisches und Theologisches in Kants Weltverständnis, Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz, 1963, Nr. 9, S. 845 u.ö. Vgl. I. Heidemann, Die Funktion des Beispieles in der kritischen Philosophie, in: Kritik und Metaphysik, Heinz Heimsoeth zum 80. Geburtstag, Berlin 1966, S. 21 ff.
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Um auf diesem Wege fortschreiten zu können, ist zurückzublicken auf jene Schrift Kants, die vor der 2. Auflage der Kritik der reinen Vernunft erschien und deren Titel im Nachlaßwerk immer wiederkehrt: auf die Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft (1786). Ihr auf den Grund zu kommen - für die Naturphilosophie des spekulativen Idealismus (Schelling), aber auch für Herbart (1829), Apelt (1857), Stadler (1885), Drews (1894) 30 u. a. war sie von größter Bedeutung-, soll hier nicht versucht werden, zumal sie in der gegenwärtigen Literatur höchst verschieden interpretiert wird 31 . Nach Kants Aussage sind die Metaphysischen Anfangsgründe nicht Physik - es ist sehr zweifelhaft, ob man sie (wie bei Plaaß und v. Weizsäcker) mit der modernen Physik konfrontieren kann. Die Architektonik (A 846) spricht von der Physik als Metaphysik der körperlichen Natur, schränkt diese Bedeutung aber sogleich auf die rationale Physik ein. In der Enzyklopädie heißt es über diese rationale Physik: ihr Objekt sei (zwar) durch die Erfahrung gegeben, sie betrachte es (aber) nur durch die bloße Vernunft32. Die transzendentale Philosophie müsse von ihr getrennt werden. In der großen Vorrede zu den Metaphysischen Anfangsgründen tritt die (rationale) Naturwissenschaft (Gegensatz: historische Naturlehre) als „eigentliche" oder „uneigentliche" auf - die erstere | hat apodiktische, die letztere bloß empirische Gewißheit (IV 468). „Ganz ungleichartig" ist der „reine Teil" der Naturwissenschaft (d.h. derjenige Teil der „eigentlichen" Naturwissenschaft, „auf den sich die apodiktische Gewißheit gründen könne"), verglichen mit dem Teil, der empirische „Principien" hat; es ist von „unerlaßlicher Pflicht in Ansehung der Methode, jenen Teil abgesondert und von dem andern ganz unbemengt . . . vorzutragen" (IV 469). „Rein", „rational", „eigentlich", oder wie immer man diese abgesonderte metaphysisch-mathematische Naturwissenschaft nennen will, steht im Gegensatz zur empirischen, auf bloße „Erfahrungsgesetze" abzielenden Vernunfterkenntnis. Diese soll eine angewandte sein (IV 468). Andererseits tut aber auch eine „abgesonderte Metaphysik der körperlichen Natur der allgemeinen vortreffliche . . . Dienste, indem sie Beispiele (Fälle in concreto) herbeischafft, die Begriffe und Lehrsätze letzterer (eigentlich der Transzendentalphilosophie) zu realisieren" (IV Bei ihm (Kants Naturphilosophie als Grundlage seines Systems, Berlin 1894, S. 462 ff.) findet sich der erste Hinweis auf die Beziehungen der Met. A. Gr. d. N . W . auf das op. post. 3 ' Siehe H. Hoppe, Kants Theorie der Physik, eine Untersuchung über das Opus postumum von Kant, Frankfurt a. M. 1969 (S. 30-68); P. Plaaß, Kants Theorie der Naturwissenschaft. Eine Untersuchung zur Vorrede von Kants „Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft", Göttingen 1965; L. Schäfer, Kants Metaphysik der Natur, Berlin 1966; B. Tuschling, Materietheorie und Etkenntnis a priori in den frühen Entwürfen von Kants op. post., Berlin 1971 (noch nicht erschienen); C. F. Frhr. v. Weizsäcker, Kants Theorie der Naturwissenschaft nach P. Plaaß, in: Kantstudien 56, 3 - 4 (1966), S. 528-544. Vgl. dazu E. Heintel, Die beiden Labyrinthe der Philosophie, Bd.I, Wien 1968, S. 562 ff. 1 2 Vorlesungen über Philosophische Enzyklopädie, Berlin 1961 (ed. Lehmann), S. 37. 30
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478). Mit anderen Worten: die Naturmetaphysik realisiert die Transzendentalphilosophie, und sie ermöglicht empirische Gesetzmäßigkeiten 3 3 . In den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft wird nicht schon „das Empirische der Erkenntnis" behandelt 3 4 , sondern sie sind sozusagen ein Vorbau, eine Konstruktion (Gerüst, Modell), durch die man den Inbegriff empirischer (physikalischer) Gesetzmäßigkeiten als System erreichen kann: die Konstruktion einer reinen oder angewandten Bewegungslehre 35 ist zwar auf die Erfahrung bezogen, da „Bewegung" Grundbestimmung eines Etwas ist, „das ein Gegenstand äußerer Sinne sein soll", wodurch allein die Sinne affiziert werden können (IV 476); aber von der Bewegung als solcher (Phoronomie) zu den bewegenden Kräften (Dynamik) bzw. zur Physik im eigentlichen Sinne überzugehen, ist keine bloße „ A n w e n d u n g " der Bewegung auf die sinnliche Anschauung. Vielmehr muß hier wiederum eine Konstruktion eingeschaltet werden, die schon auf die Grundkonzeption des Nachlaßwerkes hinweist, und die eine Systematik der bewegenden Kräfte der Materie allererst ermöglicht: die Ätherhypothese, die seit 1755 Kants Denken beschäftigt und auch in seinen Physikvorlesungen behandelt wird. In der Tat gibt die Allgemeine Anmerkung zur Dynamik (IV 523 ff.) eine Art Extrakt dessen, was Kant in der Physikvorlesung auszuführen pflegte 3 '', und eine Vorwegnahme der im opus postumum durchgeführten Lehre von den bewegenden Kräften der Materie, abschließend mit dem Ätherbegriff: es wäre,,nicht unmöglich", sich eine Materie zu denken (wie man sich etwa den I Äther vorstellt), die ihren Raum ohne alles Leere ganz erfüllt (IV 534). Ausgehend von der Definition des Körpers werden Dichtigkeit, Zusammenhang, Festigkeit und Flüssigkeit, Reibung, Sprödigkeit, Elastizität, chemischer Einfluß : Auflösung und Scheidung etc. angeführt; die dynamische 3 7 Erklärungsart wird der mechanischen gegenübergestellt. Weil es über dem Gesichtskreis unserer Vernunft liegt, ursprüngliche Kräfte a priori einzusehen, ist Metaphysik, die nach dem forscht, was dem empirischen Begriff der Materie zugrundeliegt, nur zu der Absicht nützlich, „die Naturphilosophie . . . auf die Erforschung der dynamischen Erklärungsgründe zu leiten, weil diese allein bestimmte Gesetze, folglich wahren Vernunftzusammenhang der Er-
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Uber die Metaphysikbegriffe der Met. A. Gr. d. N . W. jetzt besonders Schäfer, a.a.O., S. 10 ff. 34 Wie O. Buek in seiner Ausgabe (Leipzig 1909) S. Xlllf. behauptet. 35 Den Versuch, Kants Philosophie im Ganzen vom Çewegungsbegriff aus zu interpretieren, unternimmt Fr. Kaulbach, Das Prinzip der Bewegung in der Philosophie Kants, in: KantStudien 54, 1 (1963) S.3-28. 3< ' Erhalten ist leider nur die sog. Berliner Physiknachschrift (1961 als Anhang zur Vorlesung über Philosophische Enzyklopädie a.a.O.). 37 Die Dynamik der Met. A. Gr. wird von E. Adickes (Kant als Naturforscher I, Berlin 1924, S. 186-232) abgetrennt von der Bewegungslehre und in Zusammenhang mit der Monadologia physica gebracht.
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klärungen hoffen lassen" (IV 534). Aus diesen „dynamischen Erklärungsgründen" wird hernach im opus postumum das - allerdings nur projektierte System der bewegenden Kräfte (Elementarsystem der Materie), und man kann so, vom opus postumum aus, die Dynamik der Metaphysischen Anfangsgründe als Keim des Ubergangssystems bezeichnen, wobei die bereits in den Metaphysischen Anfangsgründen bestehende Spannung zwischen dynamischer und mechanischer „Erklärungsart" zu einer Scheidung beider führt und schließlich zu einer Sinnverschiebung des Begriffs der Metaphysischen Anfangsgründe der Naturwissenschaft im Nachlaßwerk. Aber das ist nur ein Teilaspekt des hier anzugebenden Problemzusammenhanges. Zwar ist der physikalische Teil des NachlaßWerkes 38 den Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaft angeschlossen, was sich aus der stereotypen Titelverwendung der früheren Schrift, aus zahlreichen Vorredeentwürfen, einer Reihe von Selbstzitaten etc. ergibt. Aber die Systemprobleme des Nachlaßwerkes lassen sich aus denen der Metaphysischen Anfangsgründe allein nicht ableiten; es gehören eben die Erörterungen der Kritik der reinen Vernunft über den hypothetischen Vernunftgebrauch und die der Kritik der Urteilskraft über die reflektierende Urteilskraft hinzu. So mag also die „Ubergangslehre" thematisch an die Metaphysischen Anfangsgründe anschließen - der Weg führt immer über die Kritik der Urteilskraft. Das gibt man vielleicht zu hinsichtlich des Problems des „Systems nach besonderen Gesetzen", wie es von Kant in den beiden Einleitungen behandelt wird. Man will es aber nicht zugeben hinsichtlich des Problems teleologischer Urteilskraft. Damit lasse sich das opus postumum in den Frühentwürfen überhaupt nicht in Zusammenhang bringen. Das ist zwar unrichtig 39 ; wir dürfen es aber hier dahingestellt sein lassen. | Denn uns kommt es auf etwas anderes an: daß mit der Wendung der sogenannten Ätherdeduktion des Nachlaßwerkes zur „neuen" Deduktion 40 bzw. mit der Reflexion auf die Affizierbarkeit des Subjekts durch die bewegenden Kräfte der Materie (im X . und X I . Konvolut) der eigene (menschliche) Körper thematisiert wird: die bewegenden Kräfte „afficiren auch das Subject den Menschen und seine Organe weil dieser auch ein körperliches Wesen ist. Die innere dadurch in ihm bewirkte Veränderungen mit Bewustseyn sind Warnehmungen : die Reaction auf die Materie und äußere Veränderung derselben ist Bewegung" ( X X I I 298 24 _2 8 ). Das erscheint als Materialismus - Heimsoeth verweist auf Hobbes 4 1 - , ist es aber nicht. Denn der 38
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Hierzu besonders die Arbeit von B. Tuschling, der nach Adickes zuerst die Frühentwürfe chronologisch genau untersucht. Siehe meine Beiträge, a . a . O . , S.328ff. Der Ausdruck stammt von E. Adickes (Kants opus postumum, Berlin 1920, S. 235-362, Platz genug, um seine Bedeutung genau zu analysieren). Bestritten wird er von W. Albrecht, in: Archiv f. Philosophie 1954, S. 57-65. Vgl. auch G. Lehmann, Zur Problemanalyse von Kants Nachlaßwerk, in: Il Pensiero VI, 1-2 (1961). H. Heimsoeth, Methodenbegriffe, a . a . O . , S. 16f.
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Mensch als Subjekt „und seine Organe" ist eben organischer Körper im Sinne der Kritik der Urteilskraft; er ist als zweckmäßig eingerichteter ein Ganzes für die reflektierende Urteilskraft. Das Gegeneinander aristotelisch-teleologischer und kartesianisch-mechanistischer Motive, das in der Dialektik der teleologischen Urteilskraft zum Austrag kommt, erschwert das Verständnis dieses Ausgangspunktes. Der intuitive Verstand, den Kant hier wieder zitiert, soll von der Anschauung eines Ganzen bzw. vom Synthetisch-Allgemeinen zum Besonderen gehen können. Er soll also nicht die „Zufälligkeit" der Verbindung der Teile (des Ganzen) in sich enthalten, die unser diskursiver Verstand bedarf (V 407). Es folgt die viel umstrittene Stelle42: obwohl nach unserem Verstände das Ganze nicht den Grund der (Möglichkeit der Verknüpfung der) Teile enthalten kann, sondern nur die Vorstellung eines Ganzen als Grund „der Möglichkeit der Form . . . und Verknüpfung der Teile" (V 408), also als Zweck, sei doch die mechanische Erzeugung eines organischen Körpers nicht unmöglich hieße das doch, „es sei eine solche Einheit in der Verknüpfung des Mannigfaltigen für jeden Verstand unmöglich" (ebd.). Also würde dem ganzmachenden Verstände eine mechanische Erzeugungsart unseres Körpers möglich sein. Kurz danach findet sich der Rekurs aufs Ubersinnliche bzw. den übersinnlichen Realgrund der Natur, zu der wir selbst mitgehören" (V 409, keine Sperrung). Und schließlich enthüllt sich dies Ubersinnliche als „ursprünglicher Verstand" und „Weltursache" - jedoch nur im Hinblick auf die Beschaffenheit des menschlichen Erkenntnisvermögens. Auch der abschließende § 78 der Dialektik bringt keine die Parteien (Vitalisten - Mechanisten) befriedigende Lösung). Es wird gefordert, beide „Erklärungsarten" auf das Ubersinnliche zu beziehen. Es wird zwischen Explikation für die bestimmende und I Exposition für die reflektierende Urteilskraft unterschieden. Und es heißt, die Vereinigung beider „Prinzipien" könne „nur auf einem Grunde der Erörterung (Exposition) derselben für die reflectirende Urtheilskraft beruhen" (V 412). Da sich diese Dialektik auch im opus postumum findet, wenn auch nicht thematisiert, können wir festhalten, daß nach Kants Auffassung die innere Systematik der Organisation im allgemeinen und unseres Körpers im besonderen der reflektierenden Urteilskraft bedarf; eine Erkenntnis dieser „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" kann für uns nur exponierend sein. Sollte sich ergeben, daß das System der bewegenden Kräfte (Elementarsystem) die innere Systematik des eigenen Körpers voraussetzt, so könnte dies Vorausgesetzte nicht innerhalb des Elementarsystems selbst auftreten bzw. in dessen Klassifikation einbezogen werden. So sucht es Kant aber an vielen 42
Vgl. etwa E. Cassirer, Kants Leben und Lehre, Berlin 1921, S. 377; R. Kroner, Von Kant bis Hegel I, Tübingen 1921, S. 286 ff.
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Stellen vorzustellen: er unterscheidet z . B . X X I I 307f. mechanisch-, dynamisch·, organisch-, willentlich bewegende Kräfte; er klassifiziert: solche Kräfte, die bloß die „ A r t einander zu bewegen betreffen", die „sich oder andern rohen Stoff im Körper bilden" 4 3 , die „ein inneres Princip der Zweckmäßigkeit enthalten", die „fühlend und lebend sind" ( X X I I 315). Diese Klassifikation wäre auf ein Subjekt (Bewußtsein) zu beziehen, dessen Zugehörigkeit zum eigenen Körper dann aber problematisch bliebe 4 4 . Wird dagegen auf den Körper als Organismus reflektiert, so sind alle Kräfte der Materie ein System (Ganzes) nach Maßgabe des Organismus und nur vom Organismus aus zu klassifizieren. Bei Kant finden sich beide Ansätze und müssen es wohl auch: der des Bewußtseins und der der (eigenen) Organisation. Die Erfahrung, heißt es X X I I 318, enthält die Vorstellung der Gegenstände als „Erscheinungen", d.i. die Objekte wie sie die Sinne affizieren. Also sind die bewegenden Kräfte nach der Beschaffenheit des affizierten Subjekts innerlich, nicht äußerlich gegeben. Würden die bewegenden Kräfte einfach auf das Subjekt „mechanisch einwirken und dadurch Wahrnehmungen" erzeugen - was Hobbes ganz und gar nicht gelehrt hat 4 5 - , so wäre das „äußerlich" empirisch. „Innerlich", nach Beschaffenheit des affizierten Subjekts (d. i. des Körpers oder eigenen Organismus) gegeben, heißt aber, in besonderer, diesem Organismus angehörender Form gegeben. Die aus der Objektaffektion folgenden Probleme der I doppelten Affektion und Erscheinungsverdoppelung brauchen uns hier nicht zu beschäftigen 46 . Denn entscheidend, als Kernstück der neuen Deduktion, ist ja der Gebrauch, den Kant im X . / X I . Konvolut von dem Prinzip der actio/reactio macht, wobei er das Elementarsystem noch tiefer zu begründen sucht als durch „Anwendung" der Kategorien auf die besonderen Wahrnehmungsinhalte. Es sei befremdlich, heißt es X X I I 493, „das was auf Wahrnehmungen . . . beruht a priori darstellen zu wollen . . . und doch ist dieser Act des Vorstellungsvermögens nothwendig. Denn wenn diesem nicht ein Gegenact des Objects correspondirte so würde jener keine Wahrnehmung des Gegenstandes durch die bewegende Kraft desselben erhalten . . . Die Receptivität Sinnenvorstellungen zu haben setzt also eine relative Spontaneität voraus indirect Warnehmungen in sich selbst zu wirken . . . " . Solche und ähnliche Stellen der späteren Konvolute im Sinne eines bewußten „Experimentierens" mit den Gegenständen aufzufassen, wie Hoppe 43
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45 46
Zur Unterscheidung von Materie und Körper siehe IV 525 f. (Metaphysische Anfangsgründe.) Es ist merkwürdig, daß das Problem des Ichprogresses, das im 19. Jahrhundert eine so große Rolle spielt {Herbart, J. Bergmann, H. Rickert u. a.), bei Kant noch nicht auftaucht. Vgl. meine Geschichte der Nachkantischen Philosophie, Berlin 1931, S. 164 u.ö. Vgl. Elements of Philosophy concerning Body, Chapt. XXV, 2. Cf. meine Beiträge, a.a.O., S.374ff.
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es versucht, ist dem Wortlaut Kants wie der Sache nach nicht möglich. Für Hoppe sollen durch die Tätigkeit des Subjekts die bewegenden Kräfte „mobil" gemacht werden; um „erkannt" zu werden, sollen sie sich der Form des Subjekts fügen; als was sie sich zu erkennen geben - darin sollen sie dadurch nicht bestimmt werden47. Auch bei der Selbstaffektion tut das Subjekt „nicht mehr" als daß es sozusagen den bewegenden Kräften eine Möglichkeit gibt, „in dem, was sie sind, für das Subjekt vernehmbar und wahrnehmbar zu werden" (S. 129). Und sein „Ergebnis": Kant habe zeigen wollen, wie „im Experiment und in der Gesamtheit aller Experimente Objekte erkannt werden"; dazu mußte er die Bedingungen der Möglichkeit der experimentellen Naturerkenntnis darstellen (S. 137). Einen Zusammenhang mit den beiden Einleitungen in die Kritik der Urteilskraft will Hoppe zwar nicht leugnen, meint aber, Kant gestehe an diesen Stellen sein „Unvermögen", die „Objektivität der konkreten empirischen Erkenntnis zu erklären" (S. 140). Diese Hervorkehrung des Kantischen Unvermögens macht die Untersuchung glatter, ist aber kaum geeignet, die Fragestellungen Kants im opus postumum richtig zu erfassen, geschweige denn zu interpretieren48. Auch für die Stelle XXII327: wir verbinden die Gegenstände in der Physik „nicht aus der Erfahrung, sondern für dieselbe" und legen „a priori die Sinnenvorstellungen hinein a priori der Form der Verbindung gemäs zu einem System", ist der Schlüssel das Korrespondenzprinzip: „Die bewegende Kräfte der Materie sind das was das bewegende Subject selbst thut mit seinem I Körper an Körpern. - Die diesen Kräften correspondierende Gegenwirkungen sind in den einfachen Acten enthalten wodurch wir die Körper selbst warnehmen." (XXII 326f.). Im übrigen hat E. Adickes einen ganzen Katalog von Bedeutungen aufgestellt, die Kant mit seiner „Lehre" von der Aktkorrespondenz im Sinn gehabt hat 49 , so daß es müßig ist, sie hier noch weiter belegen zu wollen, zumal von einer Eindeutigkeit der Texte nicht die Rede sein kann. Nur von einem ist nicht abzusehen: dem Zusammenhang zwischen „eigenem" Körper und transzendentalem Bewußtsein. Und nicht davon, daß dieser Zusammenhang ein vom transzendentalen Subjekt „gesetzter" ist. Dies eben ist der Sinn der in den Umkreis der neuen Deduktion gehörenden Selbstsetzungslehre des VII. Konvoluts50. „Das Subject constituirt 47 48
49 50
Hoppe, a . a . O . , S. 131. Die grundlegende Theorie des Experiments (für unsere Zeit) hat H. Dingler aufgestellt (H. Dingler, Das Experiment, München 1928; zuletzt://. Dingler, Uber die Geschichte und das Wesen des Experiments, München 1952). Davon Kenntnis zu nehmen, wäre sehr erfreulich gewesen - mehr noch, auf den Zusammenhang Dinglers mit Kant wenigstens hinzuweisen. E. Adickes, Kants Opus Postumum, S. 248-279. Vgl. hierzu besonders F. Lüpsen, Das systematische Grundproblem in Kants Opus postumum, in: Die Akademie 2. Heft, Erlangen 1925. L. beschränkt sich leider auf das VII. (und I.) Konvolut, sieht also den Zusammenhang nicht ganz, dafür erkennt er zuerst, daß es die re-
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sich selbst zu einem Ganzen (keine Sperrung) des Manigfaltigen der Anschauung in Raum und Zeit, nicht durch Apprehension des Realen in der empirischen Anschauung gegebenen" (XXII411). Zusammengedacht: das Subjekt konstituiert sich zum Organismus. Wenn dieser aber als Lebewesen (ohne Zweck) zweckmäßig ist, kann das Subjekt, das „sich selbst setzt, d.i. sich selbst zum Gegenstande seiner Vorstellungen macht" (XXII 409), ihn auch nur teleologisch beurteilen. Also muß die Selbstkonstitution (Selbstsetzung) 5 1 mit der Selbstbeurteilung (Selbstreflexion) verbunden sein, um die „Zufälligkeit" der besonderen Gesetze, denen wir unterliegen, transparent zu machen. Diese Zufälligkeit betrifft ja, insofern sie alle organischen Körper betrifft, auch den eigenen Organismus. Es ist sehr charakteristisch, daß Kant im Nachlaßwerk die „Zufälligkeit" des Lebendigen ganz anders hervorhebt als in der Phänomenanalyse der Kritik der teleologischen Urteilskraft: „Die Möglichkeit eines organischen Korpers kann ohne die Wirklichkeit dessen in der Erfahrung zu erkennen nicht angenommen werden" (XXII 499); der organische Körper setzt Erfahrung voraus; ohne Erfahrung würde seine Idee ein leerer Begriff (ohne Beispiel) sein. Aber - fährt Kant fort, und darauf verweist schon Heimsoeth 194052 „der Mensch hat an sich selbst ein Beyspiel davon daß ein Verstand | bewegende Kräfte enthalt die einen Korper nach Gesetzen bestimmen" (XXII 481). Ohne Erfahrung wäre die Möglichkeit eines organischen Körpers ein „Hirngespinst", „aber da der Mensch an seinem eignen Körper nicht blos ein Gefühl sondern auch eine mit Verstand verbundene Sinnenvorstellung . . . 53 von diesem Objecte abstrahiren und so im allgemeinen Begriffe darstellen kann, so kann er sich selbst durch Erfahrung in demjenigen erkennen was er ohne dies blos als leeres Hirngespinst von seinen Begriffen abweisen müßte (XXII 383). Noch deutlicher heißt es im gleichen Konvolut: „Das durch empirische Anschauung afficirte Subject . . . ist in so fern es sich nach Begriffen selbst afficirt ein organischer Körper . . . dessen Theile wechselseitig gegen einander Zwecke und Mittel sind (einer um des andern Willen da
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flektierende Urteilskraft ist,, ,die der Sache nach in dem Problem der Selbstsetzung verborgen ist" (S. 107). In seiner umfangreichen Dissertation: Das Problem der Kantischen Metaphysik unter besonderer Berücksichtigung des Opus postumum (Tübingen 1953 phil.) gibt H. J. Meyer eine Analyse aller auf die „Selbstsetzung" bezüglichen Textstellen im Rahmen einer Darstellung der neuen transzendentalen Deduktion. Vgl. H. Heimsoeth, Kants Philosophie des Organischen in den letzten Systementwürfen, in: Blätter f. Deutsche Philosophie 14, 1/2 (1940). Das opus postumum, so heißt es hier (S. 91), füge nachdrücklich hinzu (sc. der Kritik der Urteilskraft), „daß solche Erfahrung vor allem mit der konkreten Selbsterfahrung des lebenden (und handelnden) Menschen uns immerfort gegeben ist"! Der Satz ist korrupt. Ergänze etwa: Sinnenvorstellung hat, die er von diesem Objecte abstrahiren . . .
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ist)." (XXII388). Hier wird also auf die Analytik der Kritik der Urteilskraft zurückgegangen, und auch der intuitive Verstand findet sich, wenn es weiter heißt: „Dergleichen Product der Natur hat eine nach der Analogie mit einem Verstände bildende Ursache der Form und kann nicht a priori sondern nur vermittelst der Erfahrung als Möglich vorgestellt oder gedacht werden" (ebd.). Mithin läßt sich nicht sagen, Kant deduziere im op. post, den Leib „als Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung" 54 . Die neue Deduktion kann vielmehr nur so aufgefaßt werden, daß Kant am Leitfaden des Leibes (d.i. teleologisch) das Elementarsystem zu deduzieren versucht. Es fragt sich nur, was mit Einbeziehung der reflektierenden Urteilskraft in die neue Deduktion für eine Interpretation gewonnen ist? Wenn Kant (XX 307) von der Physik sagt, sie sei der Begriff einer „systematischen Physiologie, d. i. der von dem Ganzen der bewegenden Kräfte . . . weil nur durch den Begriff eines Systems dieses Mannigfaltigen das Mannigfaltige zur Natur gehörende aufgesucht und aufgefunden werden kann", so ist das als Hinweis auf den hypothetischen Vernunftgebrauch bzw. auf die reflektierende Urteilskraft zu verstehen. Sicherlich können wir ohne sie das zur „Natur" gehörende Mannigfaltige nicht suchen und finden. Aber kommen wir durch die „zweckmäßige" Einrichtung unseres Organismus näher an die aufgegebene bzw. schon vorklassifizierte Systematik der bewegenden Kräfte überhaupt heran? Wir kommen es auf dem Wege über die Wahrnehmung „als Zusammenfügung der das Subjekt afficirenden Kräfte selbst" (XXII 384). Die Faktizität der Wahrnehmung und Empfindung auf ihre Geltungsbezüge zurückzuführen, ist nach Heyse die Frage des opus postumum55; es intendiert die Idee einer „ganzheitlich-regionalen Konkretisierung der Kategorienlehre" (S. 68). Die „Wahrnehmungsregion" setzt dabei die „physikalische Region" voraus, hebt | sie in sich auf, so daß „mit der Wahrnehmungsregion als der umfassenderen implizite die physikalische mitgesetzt ist" (S.75). Aber ist nicht unsere Wahrnehmungswelt - vordem stets Rohmaterial der Erfahrung, und im opus postumum zumeist „empirische Vorstellung mit Bewußtsein" - der „Redaction" bedürftig (XXII298), ist sie nicht überdies, als menschliche, auf bestimmte Sinnesorgane, Sinnesbezirke eingeschränkt, die bei anderen Lebewesen ganz andere sein können? Andererseits: ist es nicht ein „glücklicher Zufall", daß sich die Wahrnehmungswelt trotz solcher Einschränkungen zur „Orientierung in der Welt", d. h. im Ganzen der Welt als Erfahrung, eignet? Das Lebewesen, und so auch der Mensch, ist so „zweckmäßig" eingerichtet, daß es sich in einer „Welt" orientieren kann: nicht nur die Sinnesdaten sind, wie es in der alten Deduktion heiß, assoziabel, sondern auch die Sinnesfunktionen selbst, und es gibt eine von der reflektie54 55
K. Hübner, Zeitschrift für philosophische Forschung VII, 2, S. 204 ff. H. Heyse, Der Begriff der Ganzheit und die Kantische Philosophie, München 1927, S. 81.
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renden Urteilskraft vorauszusetzende Affinität des Mannigfaltigen der besonderen Sinnesbezirke. Kant spricht zwar im opus postumum vom Weltsystem, von der Weltorganisation, vom „Ganzen der für einander geschaffenen Pflanzen- und Thierarten" (XXII549), er kennt auch schon in der Deduktion eine Synopsis des Mannigfaltigen durch den Sinn56, aber von „dem" Sinn zu „den" Sinnen überzugehen bzw. von den Sinnen des Menschen zu denen anderer Lebewesen, ist ihm offenbar so sehr Angelegenheit der empirischen Psychologie (Anthropologie), daß er darauf in den erkenntnistheoretischen Teilen des opus postumum nicht reflektiert. Jedenfalls wäre es schwierig, aus den oft fragmentarischen und undeutbaren Texten, insbesondere der letzten Konvolute (Χ, XI, VII, I) derartiges herauszulesen. Es ist auch nur erforderlich, die Interpretation bis hier durchzuführen. Anderenfalls nämlich wäre die Gesamtkonzeption als auf den Menschen, die menschliche Wahrnehmung, auf die sinnvolle Zugehörigkeit der bewegenden Kräfte der Materie zu denen des Menschen einerseits, seiner Wahrnehmungswelt (Umwelt) andererseits, gerichtete, nicht zu erfassen. Die Verbindung von Verstand (Kategorien) und Vernunft (Ideen), auf die es dabei vornehmlich ankommt, ist ja aus dem Anhang zur transzendentalen Dialektik geläufig, und für die von Kant intendierte Uberwindung des Dualismus (von Verstand und Vernunft bzw. Natur und Freiheit) in der Kritik der Urteilskraft unerläßüch. Wollte man das ausklammern, so stände man vor einem Scherbenhaufen dogmatischer Behauptungen, die - wie Adickes unermüdlich einschärft - allesamt falsch sind und deren Aufzählung nur noch antiquarisches Interesse besäße. Uberflüssig zu sagen, daß in unseren Bemerkungen über das opus postumum die angezeigte Interpretation nicht selbst ausgeführt werden sollte. Nur auf Ziel und Weg sollte hingewiesen werden.
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'' C f . A 9 7 : „ W e n n ich also dem Sinne deswegen, weil er in seiner Anschauung Mannigfaltigkeit enthält, eine Synopsis beilege . . . " .
Zur Analyse des Gewissens in Kants Vorlesungen über Moralphilosophie Der in Vorbereitung befindliche Band der Kantausgabe1 bringt Texte zur Moralphilosophie. Sie stehen denen zur Logik und Metaphysik nicht nach und werden deshalb den Vorlesungen über Metaphysik 2 angeschlossen. Ihre Bedeutung mag es rechtfertigen, einige Sachfragen herauszugreifen, die es mit dem Begriff des Gewissens bei Kant zu tun haben. Was das Handschriften- und Vergleichsmaterial betrifft, so sei zunächst auf zwei Anomalien hingewiesen. Handschriftenmaterial liegt genug vor, neues und altes, bereits gedrucktes. Zwar hat man sich ungleich weniger mit Kants Vorlesungen über Praktische Philosophie (Ethik und Rechtslehre) befaßt als mit denen über Metaphysik, doch erschien 1924 eine Veröffentlichung von Paul Menzer: Eine Vorlesung Kants über Ethik 3 , und 1964 gab H. D. Irmscher in seiner Edition der Herdernachschriften (1762-1764) auch die Fragmente zur Vorlesung über Praktische Philosophie und Ethik 4 . Was die Vorlagen Menzers betrifft, so gehen sie zurück auf ein Heft von Brauer (1780), das er mit den gleichlautenden5 Heften von Kutzner (1781) und Mrongovius (1782) verglichen hat. Obwohl sich noch die Varianten eines früheren Heftes der „Stammurschrift" - wie wir den Urtext nennen wollen - angefunden haben (Kahler 1777) 6 , ist Menzers Datierung (1775-1780) wohl richtig, insofern man annehmen kann, daß Kählers Abschrift auf eine Mitschrift vom Jahre 1775 zurückgeht. Unrichtig aber ist seine Behauptung, die drei Abschriften gäben den Text der Vorlesungen über Ethik, wie Kant sie bis 1780 gehalten hat. Denn - und hier beginnt die Anomalie - es gibt eine Anzahl weiterer Abschriften desselben Urtextes, deren Anschaffungsdaten7 bis zum Jahre 1791 reichen. Menzer erwähnt sie nicht, obwohl eine im Besitz ' Bd X X V I I der Gesamtausgabe, Bd IV der Vorlesungen. Zitiert wird nach Band und Seitenzahl der Gesamtausgabe. Wo dies noch nicht möglich ist, zitieren wir nach den Drucken und nach der Originalpaginierung (Opg.) sowie (bei Vigilantius) nach den Paragraphen. 2 Bd XXVIII (1968-1972 in drei Teilbänden). 3 Berlin 1924. 4 Köln 1964, S. 89-178. 5 Menzer S. 325: „Die Vergleichung der Handschriften ergab dann eine meist wörtliche Ubereinstimmung des Textes in den drei Heften." '' Diese Varianten aus dem Kählerschen Heft hat O. Schöndörffer nach Erscheinen der Menzerschen Edition besorgt. Näheres darüber in Bd X X V I I . 7 Die auf den Titelblättern der Handschriften angegebenen Datierungen bezeichnen meist nur den Erwerb bzw. die Zeit, in der sie benutzt wurden.
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Diltheys war; sein Interesse galt nur der Entwicklung der Kantischen Ethik bis 1785". I Aber er hätte sie erwähnen sollen. Denn aus ihren Datierungen folgt, daß der „Urtext" bis zum Jahre 1791 auch benutzt wurde; das heißt, daß Kant noch in dieser Zeit dasselbe über Ethik vortrug. Zwar enthalten die späteren Abschriften Zusätze, doch sind sie unwesentlich und bieten keine sachlichen Textänderungen 9 . Kant hat von ca. 1775 bis 1791 also dieselbe Ethik vorgetragen, obwohl in der Zwischenzeit die kritischen Hauptschriften zur Moralphilosophie: 1785 die Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1788 die Kritik der praktischen Vernunft, erschienen sind. Die zweite Anomalie betrifft das Vergleichsmaterial (Kompendien, Reflexionen, Lose Blätter). Kant las Allgemeine praktische Philosophie und Ethik nach Baumgarten. Und zwar, in dieser Form, zuerst im Winter 1764/651 Im Winter zuvor soll er, wie Arnoldt angibt, nach Baumeister gelesen haben". Die Frage ist noch ungeklärt, da Kant bereits in seinem Programm 1759 angekündigt hat, nicht nur Metaphysik, sondern auch Ethik nach Baumgarten vorzutragen. Diese lag in erster Auflage seit 1740, in zweiter seit 1751 vor. Nicht aber lagen vor die Initia philosophiae practicae primae, die Kant später stets als zweites Kompendium Baumgartens mit dessen Ethik verband 12 - eine Zweiteilung, die auf Wolff zurückgeht. Während Kants Textexemplar (Kompendium) der Initia vom Jahre 1760 mit den Reflexionen Kants erhalten ist, fehlt das entsprechende Textexemplar der Ethica. Wir besitzen also für die Ethikvorlesung, bzw. für ihren zweiten eigentlichen Teil, kein Vergleichsmaterial, sondern nur für die Initia. In dem ohnehin nicht sehr glücklich aufgebauten, von Adickes nicht mehr fertiggestellten Band XIX der Kantausgabe13, wird darüber nichts gesagt; es werden auch nicht - wie sonst bei Adickes - Vorlesungsabschriften zur Erläuterung herangezogen. Es entsteht daher ein ganz falsches Bild von Gang und Inhalt der Kantischen Vorlesung über Moralphilosophie. Was nun die Druckschriften Kants betrifft, die zur Erläuterung herange-
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Vgl. Menzer, a.a.O., S.326 u. 328. Die Behauptung Menzers: „Neben der durchgehenden allgemeinen Übereinstimmung finden sich zahlreiche Abweichungen im einzelnen, deren Erklärung mir unmöglich erscheint." (325) läßt sich nicht nachprüfen, da die Originale nicht mehr erhalten sind und er (335) nur wenige Varianten angibt. 10 Vgl. E. Arnoldt, Gesammelte Schriften, Band V, Teil II, Berlin 1909, S.201. 11 Ebd. S. 196. 12 Wie in den Titeln der Abschriften (z.B. Brauer: Philosophia practica universalis una cum Ethica substrato compendio Baumgartenii) und in den Vorlesungsankündigungen zum Ausdruck kommt. 13 Er enthält außer dem Abdruck der Initia 1760 die Reflexionen zur Moralphilosophie, Rechtsund Religionsphilosophie und ist vonF. Berger veranstaltet (Berlin 1934). Vgl. die Rezension von KL Reich in: Blätter für deutsche Philosophie X, 3, 1936, S. 336-338.
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zogen werden müssen, so besteht auch hier eine eigentümliche Anomalie: die beiden Hauptschriften der 80er Jahre weichen zwar sachlich voneinander ab, aber das umfangreiche Alterswerk Kants, die aus Rechts- und Tugend-| lehre bestehende, 1797 erschienene, Metaphysik der Sitten14 zeigt gegenüber den früheren Schriften so beträchtliche Abweichungen, daß man sie nicht als Fortsetzung oder gar systematischen Abschluß der beiden Arbeiten von 1785 und 1788 bezeichnen kann. Das wurde früher meist ignoriert, wenn man sich nicht hinsichtlich der Form und des Inhalts der Spätschrift auf Kants „Senilität" berief. Erst G. Anderson hat in zwei Abhandlungen (1921,1923)1S den Versuch gemacht, die Differenz selbst zu thematisieren. Er bestimmt - ohne allerdings die Ethikotheologie der Kritik der Urteilskraft heranzuziehen - die „Tugendlehre" des Alterswerkes als objektive Zwecklehre und den „Uberschritt" (die Anwendung), den Kant vornimmt, um zu den einzelnen Tugenden zu gelangen, als Schritt vom formalen zum materialen Apriori. „Die Lehre der Grdlg. vom kategorischen Imperativ ist in der M. d. S. ihres ausschließlich formalen Charakters entkleidet; ihr Pflichtprinzip ist als das formende Grundprinzip der ethischen inneren Gesetzgebung bestehen geblieben und wird durch die materialen Sittengesetze zu dem System der inneren Freiheitsgesetze ergänzt." Anstatt von „Ergänzung" spricht H. J. Heß (1971)16 von Konkretisierung, wobei er die „Gebiete" der formalen und materialen Gesetzgebung aus dem Gegensatz zu lösen sucht, in welchen sie die Kritik an Kants „Formalismus" gebracht hatte. Mehr und mehr habe Kant sich in seinem Spätwerk von der Deduzierbarkeit der einzelwissenschaftlichen Grundsätze entfernt; insofern bilde die „Zweckordnung" in der Tugendlehre (der Metaphysik der Sitten) „eher ein Korrektiv der möglichen und unmöglichen Zwecksetzungen des Menschen als ein die einzelnen Tugendpflichten bzw. ihre entgegengesetzten Laster konstituierendes System." Wie immer der Unterschied der ethischen Schriften aus den 80er Jahren zur Metaphysik der Sitten von 1797 bestimmt werde - die Beispiele sollten nur auf die möglichen Gegensätze in der Interpretation hinweisen 17 - , es ist schon ein Gewinn, ihn überhaupt zu bestimmen und nicht bei defizienten 14
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Nachdem der erste Teil bereits im gleichen Jahre selbständig veröffentlicht worden war; siehe VI 517ff. G. Anderson, Die „Materie" in Kants Tugendlehre und der Formalismus der Kritischen Ethik, Kant-Studien XXVI 3-4, S. 289ff.; G. Anderson, Kants Metaphysik der Sitten - ihre Idee und ihr Verhältnis zur Ethik der Wölfischen Schule, Kant-Studien XXVIII 1-2, 1923, S. 41 ff. H. J. Heß, Die obersten Grundsätze Kantischer Ethik und ihre Konkretisierbarkeit, Bonn 1971, S. 35. Hier ist noch eine Königsberger Dissertation von M. Laupichler anzuführen (Die Grundsätze der materialen Ethik Kants, Berlin 1931), in der Heimsoeths metaphysische Kantinterpretation für die Moralphilosophie fruchtbar gemacht wird. Dazu meine Beiträge zur Geschichte und Interpretation Kants, Berlin 1969, S. 122f.
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Merkmalen der Altersschrift oder gar bei Hinweisen auf Kants Senilität stehen zu bleiben. Wird die Distanz bei Herbart, der auch dieser Charakteristik zuneigt, zunächst noch sachlich anzugeben versucht: die Weise wie Kant hier „von Zwecken redet, die zugleich Pflichten seien, ist so rhapsodisch, erinnert so deutlich an die Güterlehre, weicht von der Forderung, nur die gesetzgebende Form der Maximen sollte Motiv des freien Willens sein, so offenbar| ab, daß hierauf kein Gewicht zu legen ist", so heißt es anschließend wegwerfend; das Ganze dieser Abhandlung erscheine als ein „mißratener Anhang zu den früheren Arbeiten" 1 8 . Schopenhauer, der mit der Behauptung der Senilität bei Kant immer schnell bei der Hand ist, bemerkt über die „Rechtslehre", sie sei eines der spätesten Werke Kants und ein so schwaches, daß er eine Polemik dagegen für überflüssig halte, „da sie, gleich als wäre sie nicht das Werk dieses großen Mannes, sondern das Erzeugnis eines gewöhnlichen Erdensohns, an ihrer eigenen Schwäche natürlichen Todes sterben m u ß . 1 9 " Indessen zeigt schon ein Blick auf die kritischen Hauptschriften der 80er Jahre, daß ihnen etwas fehlt: grob gesprochen, die Ethik selbst. Kant hat offenbar geglaubt, den Inhalt seiner Ethikvorlesung hier nicht einfügen oder besonders bearbeiten zu müssen. Wenn er das in dem Alterswerk (Tugendlehre) nachholt, so sind es allerdings nur Restbestände, die er aufnimmt, und man kann wohl mit Herbart von einem „Anhang" sprechen. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht eine Handschrift von Vigilantius (1793/94), die schon Arnoldt zu bearbeiten versuchte 20 und die Material zur Metaphysik der Sitten enthält, das in der Druckschrift fehlt. Auch eine Reihe Loser Blätter zur Metaphysik der Sitten 21 enthält solches Material; sogar systematisch wichtige Ansätze (zur Rechtslehre) sind in der Druckschrift ausgeschlossen worden. Kants Ehtik gilt einerseits als formalistisch, rigoristisch, andererseits als Gesinnungs- bzw. Gewissensethik. Dann müßten die Druckschriften 1785 und 1788 besonders vom Gewissen handeln. Dies ist jedoch nicht der Fall: es wird kaum erwähnt, geschweige denn thematisiert 22 . In der Metaphysik der Sitten tritt es auf an Stellen, die nicht recht zueinander passen: einmal- in der Einleitung zur Tugendlehre - ist es ein,, Vorbegriff" der Empfänglichkeit des 18
Herbart
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Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I 3 , 1859, S. 626. In den Annotationen zur Rechtslehre heißt es an einer Stelle: hier „rabbelt der alte Mann zum E r b a r m e n " (Grisebach, Nachlaß III 2 , S . 3 3 ) . - Zur Frage der „Senilität" Kants s. X X I I 787ΰ.
20
Vgl. Arnoldt, a . a . O . , S. 174 u . 3 0 0 f . - Einige Paragraphen der Handschrift sind von R. Brandt deutsch-italienisch veröffentlicht in: D e Homine, R o m 1971, S. 1 5 5 - 1 8 7 . S. X X I I I 2 0 7 - 4 1 9 .
21
(Hartenstein) V I I I 1 ; S . 3 4 8 .
22
Vgl. IV 4 0 0 f . , w o die „ A c h t u n g " in die Pflichtdefinition aufgenommen, aber als „dunkeles Gefühl" verrufen wird. V o m Gewissen ist hier nicht die Rede. - V 98 werden zwar die ,,Richteraussprüche desjenigen wundersamen Vermögens in uns, welches wir Gewissen nenn e n " erwähnt. Aber im „ B e s c h l u ß " bringt die berühmte Apotheose des moralischen Gesetzes (V 161 f.) auch n u r - als Pendant zur „ B e w u n d e r u n g " - die Achtung, nicht das Gewissen.
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VI 4 0 0 ff.
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Analyse des Gewissens
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Gemüts für Pflichtbegriffe (neben moralischem Gefühl, Menschenliebe und Achtung) 23 , das andre Mal - im 2. Hauptstück der Tugendlehre - gehört | es zur Pflicht des Menschen gegen sich selbst 24 . Hier ist es eine ursprüngliche intellektuelle und moralische Anlage, während es dort als die „dem Menschen in jedem Fall eines Gesetzes seine Pflicht vorhaltende praktische Vernunft" gilt, als bloß aufs Subjekt bezogen, als eine „unausbleibliche Tatsache, nicht eine Obliegenheit und Pflicht". - Indessen: ist es keine Pflicht, wie sollte es zur Pflicht des Menschen gegen sich selbst gehören? Solche und andere Widersprüche werden im folgenden zu klären sein. In den Druckschriften zur Ethik fehlt jedenfalls eine volle Deskription des Gewissens, seiner Funktionen. Es fehlt, wenn man so will, eine „Phänomenologie" bzw. eine Aufzeigung der phänomenalen Struktur des Gewissens 25 , wozu auch die Unterscheidung des Gewissens von seinen „Analogien", ζ. B. Reue über unkluges Verhalten, gehört - ein oft hervorgehobener Mangel. Sieht man aber auf die Vorlesungen, so fehlt nichts davon! Baumgarten behandelt in den §§ 175-191 der Ethica (in Anschluß an Wolff 2 6 , der ebenso wie Crusius dem Gewissen viel Platz einräumt) nahezu 30 Merkmale des Gewissens, viel knapper als Wolff, aber doch noch Unwesentliches oder Falsches bietend. Und Kant geht auf die meisten dieser Merkmale ein. In seiner Weise, d. h. ablehnend, zustimmend, umformend, indem er stillschweigend die Begriffe anders oder andre Begriffe verwendet. Ubrigend wird auch in den Initia Baumgartens das Gewissen kurz behandelt (§§ 200-205), wozu einige Reflexionen Kants erhalten sind. Von den Handschriften sind diejenigen Herders zu fragmentarisch, ihr Standpunkt ist auch noch die sogenannte „Gefühlsmoral" damaliger Zeit, den Kant II 311 dahin präzisiert, daß Gut und Böse und das „Urtheil über die sittliche Rechtmäßigkeit . . . ohne den Umschweif der Beweise von dem menschlichen Herzen durch dasjenige, was man Sentiment nennt, leicht und 24
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VI 437ff. Auch die Religionsphilosophie (1793) bestimmt das Gewissen als „Bewußtsein, das für sich selbst Pflicht ist." (VI 185). Zur Orientierung in der Literatur siehe H. Reiner, Pflicht und Neigung, Meisenheim/Glan, 1951, S. 112-125; H. Reiner, Die Funktionen des Gewissens, Kant-Studien 62, 4 1971, S.467—488, zur Dogmengeschichte besonders W. Gass, Die Lehre vom Gewissen, Berlin 1869. „Phänomenologie" hier nicht im Sinne Husserls, sondern etwa E. v. Hartmanns (Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins 3 , Berlin 1924 - das Gewissen gehört allerdings für ihn zur „heteronomen Pseudomoral" und ist eine Art mythologischer Personifikation, S. 103) oder N. Hartmanns (Ethik 3 Berlin 1949, S.740ff.). Zu Heidegger weiter unten. In der deutschen Ethik (Vernünftige Gedanken von der Menschen Thun und Lassen, Halle 1720, I.Teil, Kap. 2, S. 4 5 - 7 6 : Von dem Gewissen) definiert Wolff das Gewissen (S.45) als „Urtheil von unseren Handlungen, ob sie gut oder böse sind", was ihn nicht hindert, das Gewissen als besonderen Tatbestand in den §§ 14-138 ausführlich zu beschreiben. - Für Crusius (Anweisung vernünftig zu leben . . . , Leipzig 1744) meint Gewissen nicht conscientia, sondern religio, und wird ähnlich wie bei Wolff als Urtheil über die „Moralität seiner Thaten" bestimmt, aber nicht als bloß theoretisches Urteil (S. 158f.).
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richtig erkannt | werden kann . . . " . Diesen Standpunkt hat Kant später zwar aufgegeben27; in gewisser Hinsicht, und gerade im Hinblick auf die Lehre vom Gewissen, mußte er ihn aber beibehalten. Mithin ist auf die Herdervorlesungen zurückzukommen; ebenso auf die, der Stammurschrift Menzer/Collins 28 zeitlich vorausgehende Handschrift von Powalski 29 , die wesentlich inhaltsärmer und weniger ergiebig ist. Am ausführlichsten ist die Darstellung des Gewissens und seiner Merkmale bei Vigilantius, die in den §§ 60-63 und 78-85 30 die Initia und Ethica getrennt behandelt und den Vorarbeiten zur Metaphysik der Sitten unmittelbar vorhergeht. Der Behandlung einzelner Gewissensmerkmale sollten die Fragen vorausgehen: was ist eigentlich Gewissen? Und: gibt es überhaupt ein Gewissen? Indessen sind diese Fragen, auch wenn sie vorläufig beantwortet werden, damit noch nicht beantwortet. Es könnte sein, daß der Begriff des Gewissens nicht eindeutig ist, daß Gewissen und moralisches Urteil, zunächst untrennbar verbunden, doch wieder getrennt werden müssen, und daß das Gewissen im eigentlichen Sinne als besonderes Erlebnis zu qualifizieren ist - ganz abgesehen von der Frage nach der Möglichkeit des Gewissens und seiner Erkennbarkeit. Wie skeptisch Kant selber später hierüber gedacht hat, zeigt eine Stelle bei Vigilantius: das moralische Gefühl - wozu eben auch das Gewissen gehört - sei Zweck, nicht Grund der Pflicht, bestehe in der Empfänglichkeit der Lust und Unlust aus der Handlung und ist „überhaupt ein fictum" 31 . Also tun wir gut, zunächst nur die für die Entwicklung dieser Fragen bei Kant entscheidenden Momente hervorzuheben. Allererst in der Powalski-Vorlesung, noch nicht bei Herder, definiert Kant das Gewissen als Instinkt: „Das Gewissen ist ein Instinkt, sich selbst moralisch zu richten 32 ." Ebenso heißt es bei Menzer: „Das Gewissen ist ein Instinkt, sich selbst nach moralischen Gesetzen zu richten. Es ist kein bloßes Vermögen, sondern Instinkt, nicht aber sich zu beurteilen, sondern sich zu richten . . ." 33 . Oder in der aus gleicher Zeit stammenden Refi. 7181 : „Das Gewissen aber muß ein instinct seyn und also seinen actus nicht der willkühr | 27
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Hierzu jetzt besonders die ausführliche Arbeit von J. Schmucker, Die Ursprünge der Ethik Kants, Meisenheim a. Glan, 1961. Da die von Menzer benutzten Handschriften nicht mehr erhalten sind, wird in XXVII die gleichlautende Abschrift von Collins (1784-85) zugrundegelegt; wir zitieren hier jedoch nach Menzers Druck. Uber Powalski (Powalska), mit dessen Namen auch eine Handschrift zur Physischen Geographie erhalten ist, siehe Adickes, Untersuchungen zu Kants physischer Geographie, Tübingen 1911, S.89, sowie die Einleitung zu XXVII. Die Paragraphenzählung bei Vigilantius ist durchgehend, bezieht sich nicht auf Baumgarten und stammt vielleicht von Kant. Vigilantius § 121; factum statt fictum zu lesen ist wohl nicht möglich. Powalski, Opg. 254. Menzer, S. 161.
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negativ unterwerfen, weil es sonst keinen Zwang über uns ausüben könnte . . . " 3 4 . Daß ein moralischer Instinkt kein moralischer Beweggrund ist, wird schon bei Powalski hervorgehoben: was aus stimulis und Instinkten herrührt, ist blind. Die Bezeichnung Instinkt für Gewissen ist zwar in der Schulphilosophie geläufig: so spricht Crusius von instinctus religiosus bzw. Gewissenstrieb 35 ; bei dem nachhaltigen Eindruck, den Rousseaus „Emile" auf Kant machte, wird man aber wohl doch an das Bekenntnis des savoyischen Vikars denken: „Conscience! Conscience! instinct divin, immortelle et céleste voix; . . . juge infaillible du bien et du mal, qui rends l'homme semblable à Dieu!" 3 6 Damit verbindet sich bei Kant zugleich der aus der Tradition stammende Begriff des Gewissens als forum internum divinum. Das Gewissen, heißt es dazu bei Powalski, sei als forum anzusehen „und zwar forum internum nicht humanum sondern divinum. Dieses . . . kann betrachtet werden α als etwas wo wir vor unsere Handlungen dereinst können gezogen werden und β es übt dieses forum divinum schon in uns alle die Kräfte eines fori aus und dieses ist eigentlich die conscientia" 37 . Entsprechend formuliert die Stammurschrift: „Das Gewissen ist ein Instinkt nach moralischen Gesetzen rechtskräftig zu urteilen, es fällt einen richterlichen Ausspruch, und so wie ein Richter nur strafen und lossprechen, aber nicht belohnen kann, so spricht das Gewissen entweder los oder erklärt der Strafe schuldig . . . " 3 8 . Es stellt den göttlichen Gerichtshof in uns vor: „Es ist also . . . der Stellvertreter des göttlichen Gerichtes in uns, es muß folglich gar nicht lädiert werden . . . " 3 9 . Diese Stellvertreter-Rolle ist für die Problematik des Gewissens bei Kant entscheidend 40 . Zunächst die andre Frage: ob es denn überhaupt ein dem forum divinum analoges forum internum „ g i b t " ? D . h . nicht, ob und inwieweit das Bild vom inneren Gerichtshof „richtig" ist, sondern ob das Gewissen vielleicht ein bloßes Erziehungsprodukt, Einwirkung der Gesellschaft, erworben, nicht ursprünglich bzw. angeboren ist. Bringt das 19. Jahrhundert unter dem Einfluß des Darwinismus eine Flut von „Erklärungen" des Gewissens im „naturalistischen" Sinne - wobei es ζ. B. bei Spencer zu der grotesken Umkehrung kommt, zu fragen, wie es möglich ist, daß bestimmte Tiere zu erwarten 34 35
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X I X 266. Vgl. Crusius, a.a.O. S. 167 (§ 137). Vorher (S. 158) wird der „Grundtrieb, ein göttliches, moralisches Gesetz zu erkennen, . . . " G e w i s s e n s t r i e b genannt (§ 132). Rousseau, Emile, Livre IV, Profession de foi du vicaire savoyard. - Zur Auseinandersetzung Kants mit R. besonders X X 3-192, sowie die ausführliche Darstellung bei Schmucker, a.a.O., 143 ff. Powalski, 113. Menzer, S.163f. Menzer, S. 166. Siehe dazu schon hier die, aus dem Anfang der 80er Jahre stammende Refi. 7312 (XIX 309), wobei sich Kant allerdings unmittelbar auf das „christliche Ideal" (der Heiligkeit) bezieht.
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scheinen, daß | ihre Moralität auch beim Menschen vorhanden sein müsse 41 - , so gab es derartiges doch auch schon früher: bei Montaigne, Helvetius, Mandeville 42 und vielen anderen. Kant war mit diesen Autoren nicht nur wohlvertraut - für Montaigne hatte er eine besondere Vorliebe - , sondern verschaffte sich auch das nötige ethnologische Material, das er ohnedies für die Physische Geographie brauchte. Das Problem der Gewissenserziehung mußte sich ihm von der Pädagogik - insbesondere als Thema der Philanthropinisten - aus stellen. Zu Baumgartens Ausführungen über das natürliche Gewissen 43 bemerkt Kant in der Herdervorlesung: es sei vom erworbenen schwer zu unterscheiden: „Vieles erworbene wird vor natürlich gehalten. Der Fluch der Eltern den wir bei einer Heirath uns zuziehen möchten . . . ist ein erworbenes Gewissen." 4 4 Bei Powalski wird die Herkunft des Gewissens aus der Erziehung abgelehnt; das Gewissen sei von Natur schon in uns 45 . Ebenso heißt es, nur ausführlicher, bei Menzer/Collins: „Es haben viele behauptet, das Gewissen sei ein Werk der Kunst und Erziehung und es urteile und spreche los nach Gewohnheit. Allein wäre dieses, so könnte der, der solche Erziehung und Übung des Gewissens nicht hätte, sich der Gewissensbisse entschlagen, welches aber nicht ist." Vieles können wir kultivieren, aber nicht das Gewissen. „Das Gewissen ist also lediglich nur ein natürliches Gewissen." 4 In der Einleitung zur Tugendlehre von 1797 wird dann gesagt: das Gewissen sei nichts Erwerbliches, es gebe keine Pflicht, sich eines anzuschaffen; jeder Mensch habe - als sittliches Wesen - ein solches ursprünglich in sich. Pflicht sei es jedoch, das Gewissen zu kultivieren, die Aufmerksamkeit auf die Stimme des inneren Richters zu schärfen 47 . Genau genommen bedeutet jedoch diese ,, Kultur" des Gewissens, daß wir unseren Verstand kultivieren, wenn wir die Aufmerksamkeit auf das Gewissen schärfen 48 , nicht eine Kultur des Gewissens selbst. Das meint Kant auch, wenn er bei Vigilantius sagt, ein Gewissen müsse „instruiert" sein, d . h . der Mensch „ m u ß Kenntniß von der Moralität
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Vgl. H. Spencer, Principien der Ethik (Vetter) Stuttgart 1892, S.318ff.: Gewissen bei Tieren, besonders S. 331 f. Auf Rees Entstehung des Gewissens 1885 und Nietzsches Genealogie der Moral 1887) sei wenigstens hingewiesen. Die Aussagen Montaignes sind allerdings nicht eindeutig; im 1. Buch (der Essais) ist das Gewissen ein Produkt der Gewohnheit; im 3. Buch vergleicht er forum externum und internum und meint, daß das Gewissen viel fester zupacke als der Richter. Zu Helvetius und Mandeville siehe XIX 122 (Refi. 6637). conscientia naturalis, § 180. Irmscher, S. 131. Opg. 181. Menzer, S. 167. VI 400 f. Menzer, S. 167.
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seiner Handlung haben, damit er wisse, worauf es ankomme, wenn er seine eigenen Handlungen richtig imputieren solle" 4 9 . I Bevor wir auf die doppelte Wurzel der Kantischen Gewissenslehre: Legalismus und Moraltheologie, eingehen, ist das Bild vom Gewissensgericht (forum internum) noch etwas zu verdeutlichen. Der Vorwurf Schopenhauers u.a., Kant habe übersehen, daß auch eine Form der Selbstprüfung die gar nicht ethisch, eher das Gegenteil ist, in Form eines solchen „Gerichtes" auftreten kann 50 , ist gegenstandslos. Kant selbst hat darauf verwiesen: „Ein jeder hat seinen Trieb, sich über seine guten Handlungen nach Regeln der Klugheit Lob zu erteilen. Hingegen macht er sich auch Vorwürfe, daß er unklug gehandelt habe. Jeder hat also einen Trieb, sich selbst zu schmeicheln und zu tadeln nach Regeln der Klugheit. Dieses ist aber noch kein Gewissen, sondern nur ein Analogon des Gewissens, nach welchem der Mensch sich Lob und Tadel erteilt. Dieses Analogon pflegen die Menschen oft mit dem Gewissen zu verwechseln . . . " S 1 . Für Kant lag diese parallelisierende Abgrenzung um so näher, als er ja den Unterschied von Sittlichkeit und Klugheit in den ethischen Druckschriften scharf hervorgehoben und ihn (in der „Kritik der Urteilskraft") bis zur Unterscheidung technisch-praktischer und moralisch-praktischer Urteilskraft bzw. Vernunft durchgeführt hatte. Zudem war es damals üblich, der Moralphilosophie als praktischer Philosophie nützliche Klugheitslehren einzubauen 52 . Wenn es freilich an der zitierten Stelle heißt: „Viele Menschen haben nur ein Analogon des Gewissens, welches sie für das Gewissen selbst halten" 53 , so scheint das zwar den Tatsachen zu entsprechen, nicht aber der Voraussetzung, das Gewissen sei ein angeborener Instinkt. Selbst bei einer Unterscheidung von moralischem Gefühl und Gewissen als Instinkt würde es der Unmittelbarkeit des Gewissens widerstreiten, zu sagen: „Wer kein moralisches Gefühl, d.h. keinen unmittelbaren Abscheu wider das moralische Böse und keinen Gefallen an dem moralischen Guten hat, der hat kein Gewissen 5 4 ." Es wird sich zeigen, daß die Problematik des Verhältnisses von Gewissen und moralischem Gefühl auch in der Spätschrift wiederkehrt; bei Vigilantius heißt es jedenfalls vorsichtig: Bei einem Menschen, der „moralische Grundsätze" hat, lasse sich ein Gewissen a n n e h m e n 5 5 , d. h. es wird die Frage Vigilantius, § 63. Siehe die bekannte Stelle (Grundlage der Moral: Kants Lehre vom Gewissen, Grisebach III, S. 5 5 3 ) , , . . .wenn ich für einen Freund . . . mich verbürgt habe . . . da tritt ebenfalls in meinem Innern der Ankläger auf und auch ihm gegenüber der Advokat . . . und zuletzt auch der Richter, der unerbittlich das Urteil „dummer Streich" fällt, unter welchem ich zusammensinke." 51 Menzer, "S. 161 f. 5 2 Siehe Crusius, a. a. O., § 666 (S. 777): „Die K l u g h e i t ist eine Fertigkeit eines vernünftigen Geistes, zu seinen Endzwecken tüchtige Mittel so wohl zu erwehlen, als anzuwenden." 53 Menzer, S. 162. 5 4 Ebd. 55 Vigilantius, § 62, in der Handschrift nicht gesperrt. 49
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nach der Subjektivität eingeklammert bzw. auf das anthropologische Gleis ge|schoben Sft , während Kant bei Herder Gewissen noch dadurch definiert, daß ich Bewußtsein (conscientia) „mit meinem moralischen Gefühl zusammenhalte" 57 . Wie das Gewissen als Gerichtshof aussieht, hat Kant in der Stammurschrift genauer beschrieben: wir finden in uns einen Ankläger, „welcher aber nicht sein könnte, wenn nicht ein Gesetz wäre . . . " Dieses „Gesetz" gehört nicht zum (moralischen) Gefühl, sondern liegt in der Vernunft; es liegt als „heiliges und unanzutastendes" dem Menschen zum Grunde. „Ferner ist auch zugleich ein Advokat in dem Menschen, nämlich die Eigenliebe, die entschuldigt ihn und wendet vieles wider die Anklage ein, da dann wieder der Ankläger die Einwürfe zu benennen sucht. Zuletzt finden wir in uns einen Richter, der uns entweder losspricht oder verurteilt . . ." S 8 . Dieser Richter ist unbestechlich: „eher ist es möglich, daß der Mensch keine Gewissensuntersuchung anstellt, tut er es aber, so urteilt der Richter unparteiisch und sein Anspruch fällt ordentlich der Seite der Wahrheit zu . . , " 5 9 . Allerdings folgt sogleich die Einschränkung: „es sei denn, daß er (sc. der Mensch) falsche Prinzipien der Moralität habe'' 0 ." Daß der innere Gerichtshof forum divinum sein muß, hatte Kant schon beim Abschluß der allgemeinen praktischen Philosophie ausgeführt; auch hier freilich mit der Einschränkung, es sei der R e p r ä s e n t a n t desfori divini'' '. Doch bevor wir auf diese eigentliche Problematik des Gewissens in moraltheologischer Hinsicht eingehen, noch ein Hinweis auf die drei Gewissenspersonen. Sie als V e r s t a n d , U r t e i l s k r a f t und V e r n u n f t , d.h. als die drei oberen Erkenntnisvermögen,zu verstehen, liegt Kant besonders nahe, obwohl über das Gewissen sensu proprio damit gar nichts ausgesagt ist (auch der dem forum internum zugedachte Schlußprozeß - syllogismus practicus - würde hierher gehören). In der Reflexion der gleichen Zeit 62 bringt er ' Kant ist auf diese Problematik eingegangen. Er hat in der Einleitung zur Rechtslehre (VI 217) als Gegenstück zur Metaphysik der Sitten eine m o r a l i s c h e A n t h r o p o l o g i e , in der Einleitung zur Tugendlehre (VI 406) als Gegenstück zur Anthropologie eine A n t h r o p o n o m i e aufgestellt, welche von der „unbedingt gesetzgebenden Vernunft" - doch wohl: gefordert werde. Zu einer wirklichen Lösung dieser Grundschwierigkeit konnte er dabei nicht gelangen. - Vgl. H. Cohen, Kants Begründung der Ethik, 2. Auflage Berlin 1910, S. 148 ff., Anderson, Kants Metaphysik der Sitten (Kantstudien XXVIII), S. 46; jetzt: Chr. Ritter, Der Rechtsgedanke Kants nach den frühen Quellen, Frankfurt a. M. 1971, S.213ff. (Rechtsanthropologie). 57 Irmscher, S. 131. 58 Menzer, S.164f. 59 Menzer, S. 165. 60 Menzer, ebd. ''' Menzer, S.84. " 2 6815, X I X 170. 5