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German Pages 216 [212] Year 2014
Ramón Reichert Die Macht der Vielen
Edition Medienwissenschaft
Für Maki
Ramón Reichert (Dr. phil.) ist Professor für Neue Medien am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Universität Wien. Seine Forschungsschwerpunkte sind Internetkultur, Digitale Ästhetik und Datenkritik. Bei transcript erschienen u.a.: »Amateure im Netz« (2008), »Das Wissen der Börse« (2009) sowie »Theorien des Comics« (2011, hg. zus. mit Barbara Eder und Elisabeth Klar).
Ramón Reichert
Die Macht der Vielen Über den neuen Kult der digitalen Vernetzung
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Inhalt
I.
Einführung | 7
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Machtverschiebungen in der Gegenwartskultur | 7 Kollektivität 2.0 | 8 Critical Code Studies | 10 Anonyme Kollektivität | 11 Politische Topologien | 14 Vernetzungstechnologien und Gesellschaftsstruktur | 19
II. Soziale Medien und digitale Kollektive | 21 1. 2. 3. 4. 5. 6.
Netzwerke, Protokolle, Schichten | 21 Vernetzungstechnologien und Datenkollektive | 25 Modularisierung des Sozialen | 38 Big Data | 45 Algorithmen im Back-End: Das »Facebook Data Team« | 56 Das Zukunftswissen digitaler Kollektivität | 70
III. Performative Vernetzungskulturen | 79 1. 2. 3.
Make-up-Tutorials auf YouTube | 82 Machinima Culture | 94 Webcomics und kollaborative Medienkultur | 110
IV. Repräsentationspolitik | 127 1. 2. 3. 4.
Bilder von Gemeinschaften im Social Net | 127 YouTube als politisches Phänomen | 144 Pornblogs | 159 Trauerkultur im Social Net | 168
V. Zusammenfassung und Ausblick | 179 VI. Literatur | 189 Internetquellen | 206 Webcomics | 209
I. Einführung »Heute scheint es jedoch keinen einzigen Augenblick im Leben der Individuen zu geben, der nicht von irgendeinem Dispositiv geformt, kontaminiert, oder kontrolliert wäre.« G IORGIO A GAMBEN, WAS IST EIN D ISPOSITIV ? »Freundschaft ohne Gemeinschaft der Freunde der Einsamkeit. Keinerlei Zugehörigkeit. Keine Ähnlichkeit und keine Nähe. Ende des okeiotes? Vielleicht. Wir haben es jedenfalls mit Freunden zu tun, die einander anzuerkennen suchen, ohne einander zu kennen.« JACQUES D ERRIDA , P OLITIK DER FREUNDSCHAF T
1. M ACHT VERSCHIEBUNGEN IN DER G EGENWARTSKULTUR Die Pluralität von Machtverhältnissen besitzt für die maßgeblichen Kulturund Medientheorien eine unbestreitbare Gültigkeit bei der Beschreibung der Gegenwartskultur. Diese Macht der Vielen wird insbesondere aus dem Medienumbruch der digitalen Vernetzung hergeleitet. Konkret wird sie als Effekt der Verfahren, Möglichkeiten und Modalitäten der digitalen Vernetzungsmedien angesehen. In diesem Sinne spielen die Vernetzungsmedien eine konstituierende Rolle bei der Bildung von Macht und treten als eine Ermöglichungsmacht auf. Sie haben eine Ermöglichungsmacht in dem Sinne, dass sie den Kollektivitäten im Social Web die Fähigkeit verleihen, sich auf eine bestimmte Weise plural, anonym, widerständig und produktiv zu verhalten. Vor diesem Hintergrund verstehen zahlreiche Gesellschaftsdiagnosen das Netz als einen richtungsweisenden Indikator zur Bestimmung des gesellschaftlichen Wandels (Castells 1996; Hardt/Negri 2000; Galloway 2004; Mozorov 2012; Dijck 2012a). In diesem Zusammenhang wird die Vernetzung abwechselnd als diagnostisches Merkmal von gesellschaftlichen Transformationsprozessen (Varnelis 2008; Groshek 2012: 750-768), politischen Machtverschiebungen (Best/Wade 2009: 255-271), ökonomischen Produktionsverhältnissen (Andrejevic 2011: 278-287), Subjektivierung (Turkle 2011), digitaler
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Arbeit (Scholz 2013), Überwachung und Kontrolle (Fuchs 2011), interaktiver Wertschöpfung (Lessig 2004; Benkler 2011) oder medienkulturellen Konvergenzen (Jenkins 2008) beschrieben. Die unterschiedlichen Verwendungsweisen der Netzwerkmetapher zeigen auf, dass die Begriffsbildung der Netztheorien selbst von strategischen Machteffekten durchwirkt ist und bisher kein übereinstimmender und einheitlicher Netzbegriff existiert. Dennoch wird der sozialen Netzbeziehung, verstanden als eine Menge von Akteuren und den zwischen ihnen bestehenden Beziehungen, eine machtkonstituierende Rolle bei der Formierung von Kollektivitäten zugewiesen (Lim/Kann 2008: 77-108). Demgemäß wird Kollektivität im Netz häufig mit Denkfiguren der Repräsentativität aufgeladen, ohne jedoch die Rolle der digitalen Kommunikationstechnologien zu berücksichtigen.
2. K OLLEK TIVITÄT 2.0 In diesem Zusammenhang haben sich drei grundlegende Strategien der identitären Vereinnahmung der digitalen Kollektivität herausgebildet: (1) Identifizierungs-, Registrierungs- und bildliche Darstellungstechniken zählen zu den herkömmlichen Verfahren bei der Herstellung von identitären Positionen kollektiver Subjektivitäten (Nosko/Wood/Molema 2010: 406-418). Der unternehmenszentrierte Ansatz der »Mass Customization« nimmt eine Gleichsetzung von »Vielheit« und »Masse« vor und geht von einer kollektiv geteilten Identität und Repräsentabilität aus (Flynn/Flynn-Vencat 2012). Durch die Entwicklung von Informations- und Kommunikationssystemen sollen möglichst viele Kunden in den Produktionsprozess und in die Wertschöpfung integriert werden, um einen »kognitiven Mehrwert« (Shirky 2010) oder eine effizientere Marktbearbeitung durch ein Customer-Co-Design zu ermöglichen. Die Produktionskonzepte der Mass-Customization-Modelle entfalten mit Redefiguren des ›autonomen Kunden‹ ein Image von Kollektivität, das vor allem auf die Maximierung der Vielen durch Crowdsourcing abzielt (Howe 2008: 71-97). Unter Crowdsourcing versteht man das Auslagern (Outsourcing) von Arbeiten und Leistungen an eine große Anzahl von Internetnutzern. Es setzt auf die Kraft der Vielen innerhalb der virtuellen Wertschöpfungskette und bedeutet die Weitergabe eigener Einschätzungen und Erfahrungen – ein bewährtes Anwendungsfeld ist Social Commerce oder auch Social Shopping, womit jeweils Systeme gemeint sind, die Kaufentscheidungen durch Bewertungen und Empfehlungen durch die kulturellen Backgrounds, beruflichen Qualifikationen und Erfahrungen anderer Nutzer unterstützen. Da moderne Machine Clouds die algorithmische Text- und Bilderkennung von Webinhalten nicht ausreichend vollziehen können, versuchen neuartige Dienste und Anwendungen, die Internetnutzung verstärkt in die Wertschöpfungskette einzubinden. Die in den So-
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zialen Medien und den Portalen der Human Clouds vorherrschende Verwertungslogik der kollektiven Intelligenz folgt dem der Spieltheorie entlehnten Axiom der kollektiven Rationalität, die davon ausgeht, dass kollektiv rationale Lösungen die Summe der Einzelnutzen aller vorhandenen Spieler maximiert. Diese Sichtweise der Ökonomisierung der Kollektive folgt dann letztlich der Einsicht, dass die massenhafte Erstellung von Profilen für das Target Marketing der subjektiven Wertschätzung der Nachfrager entgegen kommt.1 (2) Die zweite Spielart der identitären Kollektivität ist jene der Vertretung. Die Setzung eines gemeinsam geteilten Kollektivsubjekts (»We«2) verfährt normativ, indem ein noch zu formendes Kollektiv in Aussicht gestellt wird. Dieser in zahlreichen Manifesten, Gegenwartsdiagnosen und futurologischen Netzdiskursen anzutreffende Entwurf einer identitären Kollektivität versucht, den Autor als »Sprachrohr« und »Stellvertreter« eines abwesenden Kollektivs aufzuwerten. Autoren wie Clay Shirky oder Jeff Jarvis stehen aber in keinem Bezug zu einer empirisch vorhandenen Kollektivität. Wenn sie von einem kollektiven Subjekt oder von einem kollektiven Handeln sprechen, dann erzeugen sie eine Konstruktion, die sowohl normative als auch performative Bestandteile aufweist (Jarvis 2010). Die Strategie der intellektuellen Einhegung kollektiver Interessen lässt sich exemplarisch an der »Bill of Rights in Cyberspace« aufzeigen. Jeff Jarvis konstruiert im fünften Absatz seiner Deklaration: »We have the right to act« eine Einstimmigkeit der kollektiven Willensbildung und postuliert: »We connect to speak and speak to assemble and assemble to act and that is how we can and will change the world, not just putting forth grievances but creating the means to fix them. That is what threatens the institutions that would stop us.« (Jarvis 2010) Er ermächtigt Kollektivität im Netz zum Subjekt der Geschichte, indem er in Aussicht stellt, dass das Kollektivsubjekt (»We«) durch seine Emanzipiertheit Macht über sich selbst ausüben würde. Jarvis sieht sich als ein intellektueller Übersetzer einer unorganisierten und unübersichtlichen Massenbewegung, deren Intention in den Regelkanon eines sozial anerkannten Diskurses überführt werden muss. Wie kann aber ein Kollektiv sich selbst ermächtigen, wenn der Ort der Macht für seine Konstitution eigentlich leer bleiben muss? Da sich das Kollektiv nicht ohne weiteres selbst ermächtigen 1 | »In the midst of the optimism around the autonomous consumer, however, a counter narrative emerges that suggests a more complicated power dynamic. As consumers engage with group buying sites in the hopes of uncovering generous savings, they create a data trail that includes personal information alongside information about their lifestyles, buying habits and interests. This information is often used to create consumer profiles that allow marketers to carefully target deals and advertisements in the hopes of generating sales.« (Draper 2012: 394-407, hier: 395) 2 | http://buzzmachine.com/2010/03/27/a-bill-of-rights-in-cyberspace/ (letzter Zugriff: 20. Juli 2013)
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kann, verleiht ihm Jarvis seine Stimme und konstituiert es als machtvolles Kollektiv. Die Aporie dieser Redeposition liegt auf der Hand, denn das kollektive Wir, in dessen Namen Jarvis spricht, hat ihm keinen Auftrag und keine Macht verliehen, es selbst zu konstituieren. In seiner Studie »Das Grabmal des Intellektuellen« untersucht Jean-François Lyotard die Selbstinszenierungen von Intellektuellen, die stellvertretend für andere sprechen. Intellektuelle begreift er als »Geister, die vom Standpunkt des Menschen, der Menschheit, der Nation, des Volks, des Proletariats, der Kreatur oder einer ähnlichen Entität aus denken und handeln. Sie identifizieren sich mit einem Subjekt, das einen universellen Wert verkörpert; sie beschreiben und analysieren von dieser Position aus eine Situation oder Lage und folgern, was getan werden muss, damit dieses Subjekt sich verwirkliche oder wenigstens seine Verwirklichung voranschreite.« (Lyotard 1985: 10) Diesen discursus am Laufen zu erhalten, ist in den normativen Theorien der Kollektivität der Eingeweihte oder der Experte, der sich aufgrund seiner monopolisierten Vermögen der Einsicht, der Zugehörigkeit und des Überblicks ermächtigt sieht, problemlösende Diskurse zu Fragen kollektiver Willensbildung durchzusetzen.
3. C RITICAL C ODE S TUDIES Die beiden oben angeführten Ausprägungen der identitären Kollektivität vertreten die Annahme einer simplen Übertragbarkeit sozialer Strukturen auf die Technologien der digitalen Vernetzung und lassen dabei die handlungsstrategische Beschränkung des Sozialen durch die technischen Standards und Normvorgaben der Internetkommunikation mehr oder weniger außer Acht. (3) Eine dem Technikdeterminismus nahestehende Diskursfigur betont hingegen die Vorherrschaft der Software und der digitalen Medientechnologien. In den Critical Code Studies3 (Hayles 2004: 67-90; Kirschenbaum 2004, 2008; Berry 2011; Chun 2011; Wardrip-Fruin 2011) wird der Vernetzungstechnologie selbst eine strukturbildende Macht zugestanden, die ihre wertneutrale Rolle abstreift und als sozial formierende Wirkungsmacht Kollektivität generiert. Die Critical Code Studies interpretieren die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien als eine rechner- und softwarebasierte Ermöglichungsmacht kollektiver Praktiken, die weite Bereiche unseres Alltagslebens dominieren. In der theoretischen Einfassung kollektiver Prozesse im Internet können die algorithmischen Standards, Normen und Protokolle als eine vermittelnde Instanz zwischen den kulturellen Praktiken und der technischen Infrastruktur angesehen werden. Die Critical Code Studies thematisieren diese Verwendung von informatischen Konzepten bei der Herausbildung sozialer Formationen 3 | Siehe: http://criticalcodestudies.com (letzter Zugriff: 20. Juli 2013)
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und Figuren des Wissens. In der Tradition medienmaterialistischer Ansätze und vor dem Theoriehintergrund der Science and Technology Studies fragen sie nach dem Stellenwert von kollektiven Schrift-, Sprach-, Bild- und Gedächtnissystemen, die von Programmen, Datenverarbeitungen und Datenbanken kooperativ produziert, prozessiert und analysiert werden und ununterbrochen neue Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten hervorbringen, die mit Hilfe unterschiedlicher Algorithmen berechnet und statistisch vermittelt werden. Dabei wird Software immer als ein historischer Wissensbestand verstanden, der seine eigene Geschichte aufweist und somit nicht nur technologischen Normen und Standards unterliegt, sondern ebenso durch soziale, institutionelle und kulturelle Rahmenbedingungen bedingt ist (Fuller 2008). Die Prädikatisierung der Software als sozial konstituierende Macht bleibt aber begrenzt von der Umsicht, dass Geschichte nicht lückenlos geplant, sondern in unterschiedlichen sozialen Räumen und Kontexten nur als ein offener Prozess verstanden werden kann (Arora 2012: 599-618).4
4. A NONYME K OLLEK TIVITÄT In Abgrenzung zu den oben skizzierten Positionierungen identitärer Kollektivität hat sich mit der »Anonymous Collectivity« im Social Net ein Konzept etablieren können, das Identität und Repräsentation strikt ablehnt. Die Idee der offenen Kollektivität hat mit den Debatten um die Widerstandsplattform »Anonymous« öffentliche Aufmerksamkeit erreicht und war 2012 in aller Munde (Abb. 1). Sie grenzt sich von der Verwertungslogik des kommerziellen Crowdsourcing ebenso strikt ab wie von der Repräsentationspolitik des Community-Building, das auf Zusammenhalt und Sichtbarkeit angelegt ist (Pinard 2012: 94f.). Damit grenzt sie sich von vergleichbaren Konzeptionen von Kollektivität ab, die Minichbauer in folgende empirische Formen von kollektiven Praktiken zergliedert, die in der Theoriediskussion des Begriffs der ›kollektiven Intelligenz‹ verhandelt werden: »Online Community, Kleingruppe (Arbeitsteam), Organisation/Unternehmen und die gleichsam ›anonyme Menge‹ von Usern/ Userinnen im Internet« (Minichbauer 2012).
4 | Arora entwickelt eine fünfteilige Typologie der kulturellen Räume von Sozialen Medien im Web 2.0: »Hence, this article proposes a framework that reveals dominant cultural dimensions of Web 2.0 spaces through a five-fold typology: [1] utilitarian-driven, [2] aesthetic-driven, [3] context-driven, [4] play-driven and [5] value-driven. This effort capitalizes and transfers mappings of actors and networks from real to virtual space to capture and organize diverse cultural [re]productions.« (2012: 599)
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Abbildung 1: We are Anonymous
Wallpaper, http://wallpaperzet.com
Im Unterschied zu diesen Praktiken der Kollektivbildung versucht man im Modell der ›Anonymous Collectivity‹ die verteilte Dezentralität des Netzes für eine Selbstbeschreibung zu nutzen. In Anlehnung an große verteilte Systeme und die von der Neuroinformatik entwickelten wachsenden Netze hat man anonyme Kollektivitäten oft als inkohärent bezeichnet, weil sich diese konstitutiv auf ein abwesendes Außen beziehen (Galloway/Thacker 2007: 11f.). Dieser Außenbezug ergibt sich allein schon mittels der konnektiven Dynamik der Verbindungen, die auf dem schwankenden Fundament einer permanenten Uneindeutigkeit für inkommensurable Verhältnisse sorgen. In diesem Sinne steht die offene Kollektivität für eine omnipräsente, auf viele Knotenpunkte verteilte Macht, die keinen Ort der großen Weigerung besetzt. Sie steht daher in keinem oppositionellen Verhältnis zur hegemonialen Macht und bildet keine »Gegenöffentlichkeit« oder identifizierbare »Anti-Haltung«, sondern wird als eine klassen- und grenzenlose Menge beschrieben, die durch Netzwerke über Kontinente und ehemalige Nationalstaatsgrenzen miteinander verbunden ist (Gerard/Guillet 2011: 18f.) und von daher nur »im strategischen Feld der Machtbeziehungen« (Foucault 1977: 94) interagiert. Der Entwurf einer »undarstellbaren Gemeinschaft« (Nancy 1986) hat innerhalb der neomarxistischen Theorie die Hoffnung genährt, die Informations- und Kommunikationstechnologien für eine »Befreiung durch die Menge« (vgl. im Überblick Ludlow 2001; Negri/Hardt 2002: 198) nutzen zu können.
Einführung
In Analogie zur Offenheit und Dynamik verteilter Netze wurde eine Denkfigur der Kollektivität entworfen, die sich konstitutiv der Identifizierung und der Repräsentation entzieht (Virno 2005: 51f.). Dieses Fehlen an Bestimmbarkeit wurde von zahlreichen Autoren/Autorinnen nicht zwingend als Mangel aufgefasst, der sich positiv aufheben ließe, sondern als kritisches Potenzial, das zur Destrukturierung der Struktur der Zugehörigkeit selbst verwendet werden könne: »Zwischen den Aktivisten/Aktivistinnen von Anonymous gibt es keine Verbindung außer diesem Konzept, Anonymous. Es gibt also keinerlei Interesse daran herauszubekommen, wer sich hinter den Masken von V wie Vendetta verbirgt; denn schlussendlich kann jede oder jeder Teil von Anonymous sein.« (Bardeau/Danet 2011: 149) Die Denkfiguren der Repräsentations- und Identitätskritik haben dazu geführt, dass »Anonymous« nicht für eine bestimmte Art und Weise, Macht zu verkörpern, auszuüben oder zu besetzen, einsteht, sondern als eine leere Stelle der Macht firmiert: »Es erscheint als vergebliche Mühe, nach Chefs zu suchen, die es in dieser Organisation – die keine ist – nicht gibt.« (Ebd.) Die im Rahmen der Anonymous-Bewegung entstandenen Debatten um den politischen Stellenwert anonymer Kollektivität zeigt eine beträchtliche Anzahl von Berührungspunkten mit historischen Netzwerkutopien einer weltumspannenden Mobilisierung mit Hilfe der digitalen Kommunikationstechnologien (vgl. im Überblick Morozov/Shirky 2010). Diese hochgradige Affinität zwischen der Topologie der verteilten Netze und der Machtfrage legt den Schluss nahe, dass die Machtanalyse der neuen Kollektivitäten der Gegenwartsgesellschaft immer auch eine Beschäftigung mit den Technologien der Vernetzung nahe legt: »Die neue Form der Mobilisierung, welche Anonymous verkörpert, ist ein vom Internet und von der Cyberkultur nicht trennbares Phänomen.« (Ebd.: 150) Wenn technische Netzwerke und Medientechniken als konstitutive Bauteile der Figurationen von Machtbeziehungen geltend gemacht werden können, dann kann genuin von einer topologischen Verfasstheit von Kollektivität ausgegangen werden (Chen 2011; Auerbach 2012). Kollektivität kann in dieser Sichtweise als Machtnetz angesehen werden, das immer zugleich sozial und technisch verfasst ist: »Der freie Verkehr der Informationen verleiht den Möglichkeiten, sich von der Basis ausgehend zu organisieren, ohne hierarchische Strukturen zu durchlaufen, neue Dimensionen.« (Ebd.) Mit dieser Denkfigur wird der freie und ungehemmte Fluss von Informationen mit der Zirkulation von freien und ungebundenen Inhalten und Diskursen überlagert und eine Strukturähnlichkeit zwischen dem Technologischen und dem Politischen in den Raum gestellt: »And the final thing that really makes Anonymous a challenge and what makes it almost impossible to distinguish between hacktivism, vigilantism and collective action is that on the internet, the information flows are indistinct.« (Forno 2011) Vor diesem Hintergrund kann anonyme Kollektivität im Sinne eines erweiterten Praxisbegriffs als Resultat medialer Dispositive und sozialer
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Prozesse beschrieben werden. Dabei kann von der Auflösung der Unterscheidung von Subjekten und Objekten ausgegangen werden und »Handlungen«, »Praktiken« und »Interaktionen« als Austausch zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren verstanden werden. In dieser Sichtweise sind menschliche und nicht-menschliche Akteure weder ontologisch noch methodologisch unterscheidbar: beide sind Produkte von Relationen und Effekte von Netzwerkverbindungen (Reichert 2008). Mit dieser Perspektive kann die vorschnelle Hypothesenbildung, wonach Technologien soziale Praktiken einfach so ›konstituieren‹ würden, vermieden werden. Die Sichtbarmachung der Wissensprozesse und -prozeduren der Sozialen Medien steht also vor der Herausforderung, das Verhältnis von Wissen, Technologie und Kollektivbildung nicht nur methodologisch, sondern auch methodisch näher zu bestimmen, ohne es dabei als deterministisches Zwangsverhältnis festzulegen.
5. P OLITISCHE TOPOLOGIEN In Claude Leforts und Marcel Gauchets Demokratietheorie wird der »Ort«, der die Spaltung von »Macht« und »Zivilgesellschaft« strukturiert, als »leere Stelle« ausgewiesen, an dem es konstitutiv unmöglich sein soll, sich als absoluter Beobachter über das Gemeinwesen einzurichten: »Dieser Ort gehört nicht zu unserem Handlungsfeld, doch gerade aufgrund dieser Abwesenheit zählt er in diesem Feld und organisiert es zugleich. Und gerade weil dieser Ort abwesend ist, umschreibt sich der gesellschaftliche Raum von ihm aus. Die den Menschen gegebene symbolische Versicherung, sich auf ein und demselben Felde zu begegnen, verleiht ihren Handlungen eine gewisse Wirksamkeit, ohne dass die Ebene, auf der sich ihre gemeinsame Zugehörigkeit bewahrheitet, jemals Gestalt annehmen müsste.«5 (Lefort/Gauchet 1990: 101) Der von Lefort und Gauchet entwickelte Begriff der »leeren Stelle« (nicht »Leerstelle«), der von zahlreichen Autoren als geeignetes Analyseinstrument für die Demokratietheorie übernommen wurde (Rödel 1990), ist mit dem, der Kategorie adiectum zugehörigen, Attribut »leer« verknüpft, das »die« charakteristische Eigenschaft der »Stelle« bezeichnet, nämlich die, »leer« zu sein.
5 | Lefort und Gauchet postulieren eine »leere Stelle« der Vergesellschaftung und weisen diese als »abwesenden Ort« aus, der nicht zum »gesellschaftlichen Handlungsfeld« gehört, dieses aber insgesamt strukturiert. Auf welche Weise diese »symbolische Versicherung« den »Menschen« gegeben ist, wird von den Autoren jedoch nicht einsichtig gemacht, sondern fraglos behauptet. Die räumliche Umsetzung dieser »symbolischen Versicherung« kann aber erst möglich werden, indem Lefort und Gauchet diese in einen immer schon vorausgesetzten Raum projizieren.
Einführung
Die medientechnische Anordnung der dezentralen und netzwerkartigen Computernetze ermöglicht durch ihre räumliche Strukturierung ein spezifisches Prozessieren von Machtrelationen. Wird die »leere Stelle« in einem verteilten Netzwerk gleichberechtigter Beziehungen als für jeden erreichbar und besetzbar ausgewiesen, dann figuriert die Stelle nicht als uneinholbare, unbesetzbare Differenz der durchgängigen Schematisierung des Raums, sondern ist in einer als »durchlässig« normierten Räumlichkeit, welche bereits vollkommen orientiert und erschlossen sein soll, fixiert. Diese Imagination einer vollkommenen Erschließbarkeit des vernetzten Raums ist in das territorialisierte Problem der Techniken der »Besetzung« verwickelt. Entscheidend ist, dass mit stets möglichen Usurpation der »leeren Stelle« nur noch kriegslogistische Fragen der rechtzeitigen Erschließung und Grenzziehung oder marktlogische Fragen des agenda setting verhandelt werden können. Um der Aporie totaler Demokratisierung zu entgehen, sollen Begriffe wie »Zugang« oder »Grenze« wieder stillschweigend einen grundsätzlichen Mangel an Stellen, Orten oder Gegenden einführen, d.h. eine Knappheit von Handlungs- oder Lebensraum. Wenn aber die »leere« Stelle der Macht nicht von jedem gleichermaßen besetzbar sein kann, dann impliziert dies, dass der »soziale Raum« an der »Überfülle« seiner Akteure leidet. Radikaldemokratische Entwürfe wie »Anonymous« richten ihre kritische Aufmerksamkeit unter anderem auf marxistische Gesellschaftstheorien, die sie der Metaphysik der Substanz oder der Essenz entlang der Begriffsbestimmungen der »Identität«, der »Ideologie«, der »Klasse«, der »Gesellschaft« oder des »Geschlechts« überführen (vgl. Kyrou 2012: 165173). Doch die ausschließlich am Substantialismus oder Essentialismus interessierte Kritik übersieht indes, dass der Substanzvorstellung die Vorstellung räumlicher Determination vorausgeht und diese bedingt. So emergiert zwar die Verwendung des bestimmten Artikels für die Subjektkonstitution »der« Zivilgesellschaft als »Träger« der Handlung und als »Subjekt« der Geschichte eine Substanzvorstellung, kann aber erst unter der Voraussetzung ihrer räumlichen Determination konstituiert werden. Auch die politische Netzwerkidee einer »grenzenlosen Vernetzung« 6 durch Anonymous führt zu problematischen Ansprüchen an ein »Jenseits der Repräsentation« von politischer Kollektivität, wenn die Möglichkeit einer grundsätzlichen Übertragbarkeit von »Freiheit« und »Gleichheit« in Netzbeziehungen 6 | »Doch auch wenn Anonymous die Erwartungen an dezentrale und grenzenlose Vernetzung nicht erfüllen kann, offenbart jene Erscheinung die Herausforderungen an neue Formen von Kollektivität. Die Frage nach dem ›Jenseits der Repräsentation‹ stellt sich in doppelter Hinsicht: als eine der Darstellung und eine der Politik. Wie kann Kollektivität identitätslos gedacht, wie das Besondere im Gemeinsamen berücksichtigt werden? Wie kann Individualität unterschieden, aber nicht hierarchisiert werden?« (Wiedemann in analyse & kritik vom 17.2.2012, www.akweb.de/ak_s/ak569/13.htm)
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auf die Sphäre der Zivilgesellschaft eingeräumt wird. Dies impliziert die Annahme einer Totalität räumlicher Verhältnisse, insofern alle räumlichen Verhältnisse in der Form eines gleichzeitigen Nebeneinanders figurieren sollen. Es kann aber keine widerspruchsfreie Ordnung aller Ortsbestimmungen geben, weil der Ort nicht fixierbar sein kann, von dem ausgehend der gesamte Raum in seiner Totalität überschaubar oder objektivierbar wäre. Demnach kann weder die Spekulation einer omnipräsenten Kommunikation, die überall zugleich möglich sein soll, aufrechterhalten werden, noch die Schematisierung des Raumes vom Standpunkt eines per se unerreichbaren Ortes. Die Vorstellung eines ›grenzenlosen‹ Raums des Politischen hält das Soziale in seiner Gesamtheit im Räumlichen für abbildbar, darin sich alle sozialen Subjekte wiedererkennen können, was schlechthin auf eine totalitäre Usurpation hinausläuft, da sich in diesem Raum alles ereignen soll, was als »demokratisch« verstanden und anerkannt wird. Daher erscheint es nicht verwunderlich, dass zwar in den programmatischen Texten zur Anonymous-Bewegung die substantialistische oder essentialistische Konzeption von (politischer) Kollektivität scharf kritisiert wird, die eigene Argumentation jedoch erneut entlang substanztheoretischer Begriffsbestimmungen verläuft, die man zuvor noch als überwundene Metaphysik der politischen Theorie bezeichnet hat. Die offene Kollektivität in einer zivilgesellschaftlichen Sphäre stößt spätestens hier an die Grenzen ihrer Theorie: »Öffentlichkeit ist also von einem inneren Widerspruch und dessen Dialektik durchzogen. Im Namen von Öffentlichkeit wird für die immer weitere Realisierung von Kommunikationsfreiheiten gestritten; und im Namen von Öffentlichkeit wird für die Selbstbegrenzung der Kommunikationsfreiheiten […] gesprochen. Damit Öffentlichkeit nicht in Totalitarismus umschlägt, muss sie sich bescheiden und Regeln der […] ständigen Einschränkung ausbilden.« (Demirovic 1997: 156) Die mit dem Raumattribut »grenzenlos« verknüpfte Idee der verstärkten Demokratie durch Vernetzung zielt darauf ab, dass ein offenes und gleichberechtigtes Netzwerk durch keine auktoriale oder autoritäre Instanz – auch nicht durch die Prinzipien der Kommunikation (Habermas 1992) – beschränkt werden soll. Dieser Gedanke findet sich auch schon vor den Studien zur zivilgesellschaftlichen Mobilisierung durch neue Kommunikationstechnologien, etwa im Aufsatz »Radical Democracy: Modern or Postmodern?« (1988) von Chantal Mouffe. In diesem vielbeachteten Text vertritt Mouffe die Position eines kommunikationstheoretisch formulierten Universalismus rationaler Argumentation. Sie ist der Ansicht, dass die Teilnahme an der Öffentlichkeit kommunikativ gerechtfertigt werden soll. Sind Subjekte nicht kommunikationsfähig, sollen sie von der Kommunikation ausgeschlossen werden. Darüber hinaus formuliert Mouffe in ihrem Aufsatz die erste Fassung ihres Projekts einer »Radikalen Demokratie«, die sich unmittelbar im Gründungshandeln der »Aktivbürger« (Mouffe 1988: 13) aktualisiert. Hiebei behält Mouffe die alten
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Dichotomien bei, versetzt sie jedoch nur in ihrer asymmetrischen Bezüglichkeit: »Der Universalismus wird nicht verworfen, sondern partikularisiert; es bedarf einer neuen Art und Weise der Artikulation zwischen dem Universalen und dem Partikularen.« (Mouffe 1988: 13) Die Spekulation, dass Kategorien wie »Universalismus« und »Partikularismus« Subjekte sind, die Sprechweisen entwickeln könnten, nimmt an, dass diese so etwas wie Lebewesen wären, was nicht einsichtig ist. Die Annahme eines pluralen und partikularen Universalismus zieht eine klassische demokratietheoretische Aporie nach sich, da mit der universellen Inanspruchnahme von Gleichheit und Freiheit jeder Standpunkt und folglich jede Orientierbarkeit der Demokratie entfallen würde (Demirovic 1997: 156). Um diese Drohung eines grenzenlosen Horizonts zu bewältigen, wird eine Verzeitlichung durch Prozeduralisierung und der damit verknüpfte Mangel an räumlicher Ausdehnung als das kriegslogistische Problem der rechtzeitigen Besetzung von Orten eingeführt. Die sogenannte »prozedurale demokratische Revolution« (Rödel et al. 1989: 63) ist allerdings durch eine vorgängige Subreption an den durch die Verfassung instituierten öffentlichen Raum verbunden, »innerhalb dessen das Projekt demokratischer Selbstregierung des Volkes sich entfalten soll« (Rödel et al. 1989: 17). So geht die Behauptung, dass es eine »leere« Stelle der »Macht« gäbe, bereits von der Selbstverständlichkeit aus, dass es eine bereits bestehende Auszeichnung der »Stelle« gäbe. Auf eine kurze Formel gebracht, definiert die Theorie der zivilgesellschaftlichen Netzwerkbildung entgegen substanztheoretischer Konzepte das Soziale als Inbegriff relationaler Bestimmbarkeit. Anstelle der Setzung von Eigenschaften, die den Dingen als Substanz inhärieren, soll die Setzung von Beziehungen treten. Mit dieser Setzung soll sich ein sozialer Raum konstituieren, wobei allerdings die Bedingung der Möglichkeit der Setzung selbst sowie die damit einhergehende Bestimmung der Stellen, Elemente, Beziehungen, Beziehungsfelder und Strukturen, d.h. der Akt der Distinktion des Politischen selbst nicht einsichtig gemacht wird, sondern bedingungslos vorausgesetzt wird, nämlich der schöpferischen creatio ex nihilo unterstellt wird. So geht die ursprüngliche Setzung aus der mystifizierten Kraft der setzenden Behauptung selbst hervor, bleibt also unvermittelt und entzieht sich primordial jeglicher nachvollziehbaren Begründung. Insofern wird ein Raum vorausgesetzt, dem ein Sein für die Setzung unterstellt ist, das er neben und vor der Projektion des Symbolischen haben soll. Der Raum bietet demnach eine fraglos angenommene Dimension für einen Bestand symbolischer Ordnung, die sich produktiv schöpferisch einfach in diesen als Behältnis einzuschreiben vermöge. Angenommen wird also ein leerer Raum, der vom Symbolischen erfüllt werden könne, um das Soziale hinsichtlich seiner Unterschiede räumlich zu gliedern. Mit der Annahme eines relationalen Distanzverhältnisses verknüpft sich die Vorstellung, dass damit gleichermaßen die Vielfalt die Einfalt ablösen kön-
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ne, dass die verschiedenartigsten Beziehungen gebildet werden können, dass sich also ein pluraler Raum der Möglichkeiten etablieren könne, der als Bedingung des Regierens schlechthin gelten soll. Dieses Denken des Politischen geht von einem Möglichkeitsraum aus, der letztlich per se integrativ wirken soll. Damit nicht nur ein kontinuierliches Werden im demokratischen Raum vorherrscht, wird im Kraftakt einer ursprünglichen Setzung eine prinzipiell besetzbare Stelle eingeführt, die als diskontinuierliche Taktierung das Werden skandiert und deren funktionale Bestimmung darin liegt, den Fluss mannigfaltigen Werdens zur diskreten Form herunterzubrechen. Die Substantialität der Macht soll sich also inhaltlich als Eigenschaft auflösen, aber dennoch formal bestimmbar werden als Stelle. Macht soll als regulative Größe kontrollierbar werden, indem ihr ein Ort zugewiesen wird, eine ursprüngliche Einhegung des Ortes. Die Anbindung des Hegemonialen an den eingehegten Ort entspricht dem klassischen Problem der Technik des Wissens, nämlich die Gliederung des Mannigfaltigen der Erscheinung und ihre Verknüpfung »an die Form des begrifflichen Zusammenfassens und des begrifflichen Trennens, an eine Synopsis« (Cassirer 1985: 100). Voraussetzung der Orientierung ist das Wissen um den eigenen Standort, von dem ausgehend überhaupt erst Handeln als Positionsbestimmung für eine Orientierung möglich ist. Solche Definitionsversuche dienen dem Ziel, demokratische Pluralität als Räumlichkeit (Orte, Positionen, Stellen) aus etwas der subjektiven Raumerfahrung (Bedürfnis, Stimmung, Intention) zugrunde Liegendem abzuleiten. Damit ist der Weg frei zur Bestimmung des demokratischen Raumes als Lebensraum einer Konkurrenzdemokratie, darin ein grundsätzlicher Mangel an Ausdehnung und folglich an Orte, Positionen und Stellen vorherrscht. Mit der Annahme »vorherrschende Sprachspiele« ist der »Aktivbürger« immer schon einer vorausgehenden Subreption unterworfen. Wenn der Raum der radikalen Demokratie als permanenter sozialer Konflikt definiert ist, dann kann er nicht zugleich »offen« und »grenzenlos« sein, denn wo jeder unter Maßgabe einer grundsätzlichen Not räumlicher Ausdehnung seinen Weg geht, ist die »Erweiterung« des Raums an die »Herausdrängung« aus dem Raum gebunden. Nach der Logik des Wettbewerbs der Konkurrenzdemokratie herrscht ein Kampf um die Plätze – vorausgesetzt ist also eine primordiale Knappheit an sozialem Raum. Unter diesem Aspekt spielt die Raummetaphysik für die Letztbegründung der Gewissheit der Demokratie eine entscheidende Rolle: »Rückgriffe auf quasi-transzendentale Rechtfertigungen und totalitäre Usurpationen ergeben sich als nicht auszuschließende Möglichkeit aus der Logik des öffentlichen Raumes der Zivilgesellschaft.« (Demirovic 1997: 156) Auf eine kurze Formel gebracht, wurde, obwohl der Raum für den Auf bau der angesprochenen politischen Demokratietheorien einen großen Stellenwert
Einführung
darstellt, der Relevanz des Raumproblems keine Aufmerksamkeit zuteil. Insofern der Raum nicht als Problem der Erkenntnisbedingung oder als ein Mittel der Erkenntnis reflektiert wird (vgl. Kant KrV B 81), sondern fraglos – allen möglichen politischen Orientierungen und Lagebestimmungen zugrunde liegend – als gegeben vorausgesetzt ist, bleiben die hier besprochenen Theorien der Demokratie dem Reich der Mannigfaltigkeit der Metaphernbildung verhaftet. Verlässt man sich allerdings auf diese Seinsgewissheiten, dann kann es nur noch um Grenzziehungen, Entfernungen, Orientierungen, Besetzungen, Öffnungen und Schließungen gehen, Techniken der Erschließung der physikalischen Räumlichkeit, die dem Raum wiederum nur als rätselhaftem Gegenstand gegenüberstehen.
6. V ERNE T ZUNGSTECHNOLOGIEN UND G ESELLSCHAF TSSTRUK TUR Die an das Modell der anonymen Kollektivität geknüpfte Erwartung, mit Hilfe der digitalen Vernetzungstechnologien und der Sozialen Medien Umwälzungen der bestehenden Gesellschaftsstrukturen herbeizuführen, muss allerdings differenziert betrachtet und auf mögliche blinde Flecken innerhalb der eigenen Theoriebildung hin untersucht werden. Das Grundproblem des anonymen Online-Aktivismus besteht darin, dass sich die Agency und damit das politische Handlungsfeld auf die Anwendungsschichten und Benutzeroberflächen beschränkt und sich selbst nicht aus den digitalen Kontrollpraktiken im Back-End-Bereich befreien kann. So fordert zwar Anonymous in Anlehnung an poststrukturalistische Theoretiker (Deleuze/Guattari 1992: 380, Agamben 2003: 15) das Unwahrnehmbar-Werden von Gruppenidentitäten, um die Grenzen der Gruppen und ihre Diskurse der Zugehörigkeit zu durchbrechen, um eine offene Kollektivität ohne Zentrum zu postulieren, in der alle Herrschaftsverhältnisse aufgehoben sind (Bardeau/Danet 2011: 150f.), verdrängt in diesem Zusammenhang jedoch das Argument, dass anonyme Kollektivität ohne machtasymmetrische Anwendungstechnologien und kommerziell ausgerichtete Netzwerkseiten nicht hätte entstehen können. Sie partizipiert also in erster Linie an der technischen Infrastruktur, von der sie spezifische kulturelle Praktiken im Kommunikationsprozess übernimmt. Alles, was über ihre anonyme Vernetzungskultur geschrieben worden ist, findet sich auch im Zusammenwirken der kollaborativen Algorithmen und Netzwerkprotokolle wieder, mit denen die technologischen Steuerungsmechanismen in die postmodernen Widerstandsformen einsickern: »Wir treten ein in Kontrollgesellschaften, die nicht mehr durch Internierung funktionieren, sondern durch unablässige Kontrolle und unmittelbare Kommunikation.« (Deleuze 1993: 250) Wie können sich Möglichkeiten des Nicht-so-regiert-Werdens ergeben, wenn proprietä-
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re Standards, Normen und Protokolle offene und flexibilisierte Kollektivitäten überhaupt erst ermöglichen? Eine kritische Sondierung der politischen Modellierung der offenen und flexibilisierten Kollektivitäten muss also einräumen, dass die vielzitierte »Macht der Vielen« von der Mitgestaltung der zentralen Elemente der Netzwerkarchitektur, der Netzwerktopologie (logische/physische Materialkultur des Netzes) und der Kommunikationsarchitektur (Software) weitestgehend ausgeschlossen ist. Wenn der politische Stellenwert von sozialer Kollektivität heute im Machtraum zwischen der Oberfläche (Front-End) und der machstrategischen Tiefenstruktur der »algorithmic culture« (Galloway 2006) verortet werden kann, dann bedeutet dies eine folgenschwere Verschiebung machttheoretischer Fragestellungen. Welche kollektiven Formen der politischen Subjektivität sind denkbar, wenn diese unter der Voraussetzung ihrer technischen Organisation und Koordination gedacht werden müssen?
II. Soziale Medien und digitale Kollektive 1. N E T Z WERKE , P ROTOKOLLE , S CHICHTEN Geht man von der Annahme aus, dass die kollektive Datenkommunikation in Rechnernetzen durch die Netzwerkinfrastruktur der Netzwerkprotokolle organisiert wird und in funktionale Internetschichten zergliedert ist, dann können die Netzwerkprotokolle als Kulturtechniken der sozialen Regulierung angesehen werden, mit denen kollektive Prozesse als technisch bedingte Effekte von Netzwerktechnologien angeschrieben werden können (Wagner 2006: 26f.). In verteilten Netzwerken können Protokolle eine flexibilisierte und nicht-hierarchische Interaktion zwischen Knotenpunkten herstellen: »Protocol is a universal description language for objects. Protocol does not produce or causally effect objects, but rather is a structuring agent that appears as the result of a set of object dispositions.« (Galloway 2004: 74) Die Anwendungsarchitektur der TCP/IP-Protokolle kann je nach Umgebung hochgradig personalisiert oder anonymisiert aufgebaut sein. Der Umstand, dass Protokolle grundsätzlich als Medien einer Informationsübertragung der anonymen Kollektivitäten geltend gemacht werden können, hat dazu geführt, die Internetkommunikation als eine gemeinsam geteilte Freiheitstechnologie zu interpretieren. Die bloße Einrichtung einer medialen Infrastruktur, die eine anonyme Informationsübertragung ermöglicht, bedeutet aber nicht notwendigerweise die Förderung von demokratischen Tendenzen (Chopra/Dexter 2008). Es wurde immer wieder angenommen, dass die Benutzung der dezentralen und nicht-hierarchischen Netzstrukturen der TCP/IP-Protokolle das Verhalten der User/Userinnen demokratisieren würde (Groshek 2009: 115-136). Die radikal verteilte Topologie der autonomen Knotenpunkte in einem verteilten Netzwerk wurde als Ermöglichung einer Kommunikation ohne Zensur und soziale und politische Bevormundung angesehen. Dabei wurde der mediale Aspekt der technologischen Infrastruktur oft in den Hintergrund gedrängt. Der Begriff der ›freien‹ Kommunikation muss jedoch als irreführend eingestuft werden, wenn die Kommunizierenden nicht die Wahl haben, das klar definierte Steuerungssystem der Protokolle und ihrer Regeln und Verfahren zu suspendieren, um alternative Vernetzungskulturen zu etablieren. In diesem Sinne sind es die
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Internetprotokolle, die den kollektiven Informationsaustausch und Datenverkehr überhaupt erst ermöglichen und befähigen: »I suggest that to live in the age of protocol requires political tactics drawn from within the protocological sphere.« (Galloway 2004: 151) Mit der von Alexander Galloway projektierten Medien- und Machttheorie der ›protokolllogischen‹ Kontrolltechniken kann der liberale Machttypus der verteilten Kontrollgesellschaft treffend als nichtstatische Kräfterelation beschrieben werden. Die Protokolle stehen folglich für eine liberale Regierungstechnologie, die hochgradige Spielräume an unregulierter Kommunikation und flexibilisierter Distribution von Inhalten für einen taktischen Mediengebrauch ermöglicht. Protokolle operieren unterhalb der sichtbaren Anwendungsschichten im Verborgenen und werden daher nicht als mediale Beschränkung von Informationsflüssen wahrgenommen, sondern als herrschafts- und machtneutrales Tool (Abb. 2). Abbildung 2: Das Internet-Schichtenmodell
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Diese Interpretation der Protokolle wird jedoch auf der Wahrnehmungsgrundlage der Anwendungsschicht entworfen und fällt daher relativ einseitig aus. Tatsächlich stehen Agententechnologien wie das Transmission Control Program oder das Internet Protocol nicht einfach als machtneutrale Anwendungen zur freien Verfügung, sondern konstituieren vielmehr in ihrer Rolle als technologische Ermöglichungsmacht ein neuartiges Prinzip sozialer Organisation nach dem Modell der Datenbankbewirtschaftung: »Viewed as a whole, protocol is a distributed management system that allows control to exist within a heterogenous material
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milieu.« (Ebd.: 8) Indem die Protokolle aber zumindest vordergründig nicht restriktiv auf die Kommunikation einwirken, schaffen sie eine Lebensform der uneingeschränkten »Ekstase der Kommunikation« (Baudrillard 1987: 18). Die lebensformative Ausrichtung der symbolischen Infrastruktur des Netzmediums strukturiert und ordnet soziotechnische Machtbeziehungen, die nicht als bloße Ausführung überindividueller Normen oder als passive Anpassung an Anwendungsarchitekturen zu verstehen sind, sondern als generative Ermöglichung von Rollen sozialer Beziehungen in pluralen und offenen Beziehungen: »Protocol is a language that regulates flow, directs net space, codes relationships, and connects life-forms.« (Galloway 2004: 75) Insofern handelt es sich tatsächlich um eine Freiheitstechnologie, die Anreize zur permanenten Kommunikation schafft und gleichzeitig Rechen- und Steuerungstechniken zur Durchdringung sozialer Kommunikation verwendet, um mit Hilfe modularer Softwarearchitekturen statistische Durchschnittswerte digitaler Datenkollektive zu berechnen. In dieser Sichtweise ist die Analyse von rechnerbasierten Codes, normalisierenden Regeln und standardisierten Algorithmen eine zentrale Kulturtechnik medienkritischer Distanzierung und taktischer Politik, da sie einen Zugang zum tieferen Verständnis der Organisation und Koordination von digitalen Kollektivitäten ermöglicht, die als emergentes Phänomen der Technologien der Vernetzung aufgefasst werden können. Die technisch hergestellte Emergenz von Kollektivität darf aber nicht ausschließlich auf den Vollzug einer reinen Koordinationsleistung digitaler Medientechnologien reduziert werden, weil diese Position des Technikdezisionismus ein statisches Bild der Anwendungskultur im Internet provoziert. Die theoretische Auseinandersetzung mit sozialen Dynamiken kann freilich nur dann eröffnet werden, wenn die Nutzer aus der theoretisch zementierten Froschperspektive herausgelöst werden. Denn in ihren Praktiken der Vernetzung interpretieren kollektive Akteure Netzwerkstrukturen auf ihre Weise und nehmen in konkreten Handlungsräumen die technische Infrastruktur weniger als Restriktion, sondern vielmehr als eine handlungsoffene Ressource wahr. Kollektive Verhandlungen und dynamische Positionierungen entwickeln sich im Wechselspiel mit technischen Infrastrukturen und bilden im Mediengebrauch gemeinsam geteilte Handlungsorientierungen aus, die bestimmte Standards und Normen der digitalen Datenverarbeitung auf eine bestimmte Weise bereits verinnerlicht haben müssen. Bezieht man die mannigfaltigen Wechselwirkungen zwischen Software und Kultur auf eine immer schon technisch verfasste Disposition des Menschen (Hayles 1999; Manovich 2001), dann kann damit die scheinbare Gegensätzlichkeit zwischen der Logik von Programmiersprachen und der alltäglichen Kommunikation (Kittler 1998) überwunden werden. Im Zentrum dieser kulturalistischen ›Überwindung‹ des technologischen Dezisionismus muss aber eine theoretische Problematisierung der technischen Wiedererfindung des Menschlichen stehen, um der Versuchung zu widerstehen, Kollektivität mit einer anthropologischen Konstante zu mar-
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kieren, welche die soziale und historische Differenzierung nivellieren würde. Die im Posthumanismus reflektierten stereotypen Vorstellungen der MenschMaschine-Dichotomie können für die Dekonstruktion der anthropologischen Werturteile bei der theoretischen Einfassung von Kollektivität im Netz produktiv weitergeführt werden (Hayles 1999). In diesem Sinne kann eine zunehmende Relevanz der technischen Vernetzung für den Aufbau und die Erhaltung sozialer Netze eingeräumt werden, die dazu führt, dass die konstitutiven Wechselwirkungen und Verschränkungen zwischen den Datenerhebungsprozessen und den Datenverarbeitungsprozessen und ihrer Beeinflussung der alltäglichen Lebensumgebung in den Blick der medienwissenschaftlichen Zeitdiagnose einrücken können. Digitale Infrastrukturen wie die ubiquitäre Informationsverarbeitung, rechnerbasierte Mobilität im Sinne selbstorganisierender Ad-hoc-Netze und kontextorientierte Softwaresysteme zeigen auf, dass Mediengebrauch nicht länger als »Unterwerfung« und »Anpassungsleistung« einer ursprünglichen Subjektivität angesehen werden muss, weil Subjektivität selbst schon hergestellt ist und das Netz bereits zu den gängigen Metaphern zählt, mit denen Subjekte und ihr Verhalten als zeitgemäß beschrieben wird. In diesem Sinne teilen netzwerktheoretische Ansätze eine konstruktivistische Grundeinstellung und gehen davon aus, dass die neuen »Verstehensformen von Subjektivität« (Paulitz 2005: 40) maßgeblich von den Technologien der Vernetzung und dem Internet als technisches Artefakt geprägt sind. Die Integration einer kulturalistischen Kritik am technizistischen Medienparadigma, das ein deterministisches Zwangsverhältnis zwischen den Technologien der Vernetzung und ihren Anwendungen behauptet, soll aber nicht im Gegenzug die Denkfigur einer dissidenten und subversiven »Macht der Vielen« heraufbeschwören. Denn im Unterschied zur Beweisführung der humanistischen Computerkritik (Weizenbaum 1976), die den Menschen vor dem Rechner zu schützen versucht und damit ein Gegensatzverhältnis zwischen dem Anthropologischen und dem Technischen postuliert, suchen kulturalistische Theorieansätze der digitalen Medien nach den performativen, kulturellen und imaginären Anschlüssen und Schnittstellen der Computertechnologie. Die politische Wirksamkeit einer Theoriebildung der digitalen Kultur wird dann erhöht, wenn der Zusammenhang zwischen Subjektivität, Kollektivität und den Vernetzungstechnologien in das Feld der Herstellung des Netzes und seiner Dienstes verlagert wird. Somit kann die Frage nach den gesellschaftlichen Vorstellungen von sozialer Vernetzung die soziotechnischen Normen und Regularien der kollaborativen Softwarearchitekturen reflektieren und einen kritischen Blick auf den politischen Anspruch von Internettechnologien, Kollektivität zu formen und regierbar zu machen, eröffnen. Mit der Integration von mediendiskursiven Aussageordnungen kann schließlich auf die politische Ökonomie des Netzes aufmerksam gemacht werden. Wie wird in den Sozialen Medien des Web 2.0 z.B. Arbeit organisiert, verteilt und
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kontrolliert (Scholz 2013)? Sie ermöglicht ein Denken, das die Frage nach dem Stellenwert der Strukturbildung des Gesellschaftlichen mit epistemischen und technologischen Netzmodellierungen überlagert (Gendolla 2006: 105-118): »Wie konnten neue Subjektpositionen, neue techniknahe Individuations- und Selbsttechnologien, post-kybernetische Objektklassen, quasiautonome und zugleich hybride Objekte, ganze kybernetische Ontologien überhaupt entstehen und sozial vertraut werden? Welche wirkungsmächtigen, diskurspragmatischen Bedingungsgeflechte waren hierzu nötig und wie sind sie entstanden?« (Becker 2012: 20) Pierre Lévy machte bereits 1997 die Entstehung von »kollektiver Intelligenz« durch wechselseitigen Informationsaustausch von der sozialen Durchdringung verteilter Netze abhängig. »Kollektive Intelligenz« definiert er als »eine Intelligenz, die überall verteilt ist, sich ununterbrochen ihren Wert schafft, in Echtzeit koordiniert wird und Kompetenzen effektiv mobilisieren kann« (Lévy 1997: 28f.). Damit macht Lévy den wechselseitigen Austausch von Wissen zur Konstante von Kollektivität und erklärt die Konnektivität zur Grundvoraussetzung von Kollektivität. Mit der Behauptung, dass Konnektivität eine Grundvoraussetzung beim Verständnis von Kollektivität bildet, kann den digitalen Netztechnologien in ihren Oberflächen und Prozessen eine zentrale Bedeutung bei der Formierung kollektiver Prozesse nachgewiesen werden. Kollektivität wird in der Erforschung kollektiver Online-Praktiken aber unterschiedlich bewertet und differenziert betrachtet. Vor dem Fragehorizont der technologischen Neuerfindung sozialer und politischer Kollektivität zielt eine historische Perspektivierung der kollektiven Praxis digital gestützter Kommunikation weniger auf eine gelegenheitsbedingte Bestandsaufnahme technischer Gegebenheiten ab, sondern fragt nach den machstrategischen Verhältnissen und Verschiebungen innerhalb der Mediendiskurse, welche die »Macht der Vielen« als (technisch lösbares) Problem erst konstituieren. Damit die »Macht der Vielen« aber nicht als ein reiner Diskurseffekt abgetan werden kann, ist es darüber hinausgehend wichtig, die Medienanalyse der technischen Infrastruktur mit der Cui-bono-Forschung zu verknüpfen, welche die mit Hilfe von technologischen Normen, Protokollen und Regularien gefestigte Proprietärität der Sozialen Medien sicht- und sagbar macht (Albrechtslund 2008; Fuchs 2011).
2. V ERNE T ZUNGSTECHNOLOGIEN UND D ATENKOLLEK TIVE Die »Macht der Vielen« entspringt in ihrer medialen Vermittlung den machtinduzierenden Verfahren der Informations- und Kommunikationstechnologien. Sieht man die »Macht der Vielen« als ein Produkt der medialen Anordnungen und Dispositive, dann kann sie nicht mehr eindeutig lokalisierbar werden. Sie
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ist – fern von selbstbestimmter Kollektivität – in Strategien und in Kämpfe eingelagert, die in den Machtkomplexen der Infrastruktur und der Programme zu finden ist. Folglich kann ein relationales Verhältnis von Macht angenommen werden, das sich als »Apparat«, »Dispositiv« und »Technologie« dem Feld der Sichtbarkeit entzieht und sich in technologische Anleitungen, Anordnungen, Einrichtungen und Anreizungen verschoben hat. Technisch gesehen entspringt die »Macht der Vielen« einem spezifischen Verfahren der Anwendungsverteilung (Peer-to-Peer, Client-Server). Dementsprechend haben die Technologien der verteilten Netze, die als komplex und mehr-dimensional aufgefasst werden können, einen maßgeblichen Anteil am Aufstieg der Sozialen Medien und ihres »Participatory Turn«:1 »There are many decentralized networks in the world today – in fact, decentralized networks are the most common diagram of the modern era.« (Galloway 2004: 31) Die Grundlage für die soziale Kommunikation mittels verteilter Netze hat die militärische Entwicklung von flexiblen Kommunikationsnetzwerken auf der Grundlage digitaler Informationsübertragung geschaffen (Baran 1964, siehe Abb. 3). Abbildung 3: Kommunikationsnetzwerke
1964, Paul Baran, On Distributed Communication
1 | »We argue that new media opens up opportunities for the greater visibility and community-building potential of cultural citizenship’s previously ›ephemeral‹ practices. This is especially true in the context of new convergences between social networks and consumer-created content, and the consequent formation of communities of interest and practice, focused around hobbies, entertainment, and everyday creative practice, at both local and global levels.« (Burgess/Foth/Klaebe 2006: 1)
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Im Unterschied zu hierarchischen (die hierarchische Relation von Sender/ Empfänger im Fernsehdispositiv) und zentralisierten Netzwerken, die sich auf einen singulären Knotenpunkt ausrichten (z.B. die Telegrafennetze monarchischer Gesellschaften), hat die Webtechnologie der verteilten Netze nicht nur auf funktionale, sondern auch auf topologische Weise eine Transformation von Machtbeziehungen ausgelöst, indem sie unter anderem die Dezentralität von Daten ermöglicht, die Trennung in Zentrum und Peripherie aufhebt, Peerto-Peer-Strukturen anbietet und Medien-Infrastrukturen substituieren kann (Sicherstellung alternativer Übertragungswege mittels TCP/IP-basierter Parallelarchitekturen). Luc Boltanski und Eve Chiapello haben in ihrem 2003 veröffentlichten Buch »Der neue Geist des Kapitalismus« die historische Umbruchsituation von nicht-hierarchischen Netzwerken untersucht und haben aufgezeigt, dass seit den frühen 1970er Jahren eine neue Spielart der sozioökonomischen Organisation aufgetaucht ist, die das hierarchische, an Henry Ford orientierte Produktionsregime verwarf und eine neue Organisationsform entwickelte, die auf flexiblen Netzwerken und der Eigeninitiative der Beteiligten beruhte. Diese transversal organisierten Netze sind grundsätzlich instabil und erfordern von ihren Mitgliedern eine aktive und permanente Teilnahme, die zur unumgänglichen Bedingung bei der Schaffung von Aufmerksamkeitsmärkten und Netzwerkkapital heranwächst. Demzufolge kann die verteilte Netzwerkarchitektur als ein neues soziales Ordnungssystem aufgefasst werden, das sich an Werten wie Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung orientiert und für das neuartige Steuerungsdispositiv von netzförmig organisierter Projektarbeit, egalitärer Verteilungs- und Machtstrukturen und effektiver Kontrollprozeduren einsteht. In der Welt der Wiki-Netzwerke gibt es nur noch wenige fixe Ordnungen und Strukturen; diese liegen vielmehr jeweils in der Verantwortung der beteiligten Akteure, die unter den gegebenen Bedingungen entscheiden und gestalten müssen (Broughton 2008). Mit dem historisch verortbaren Aufstieg des partizipatorischen Managements und seiner progressiven Steuerungstechnologien können verteilte Computernetze seither als medientechnische Architekturen verstanden werden, die durch ihre räumliche Strukturierung spezifische Möglichkeiten, Macht zu generieren und zu prozessieren, vorgeben. In einer verallgemeinernden Annäherung kann man verteilte Netzwerke als eine Ermöglichung einer n:nKommunikation verstehen. Eine n:n-Kommunikation liegt vor, wenn mehrere Nutzer/Nutzerinnen viele andere Nutzer/Nutzerinnen mit einer Information adressieren können. Wenn eine n:n-Gruppenkommunikation in Peer-to-PeerStrukturen über ein offenes, globales Übertragungsmedium mit einer persistenten Speicherung aller Inhalte erfolgt und alle Kommunikation zwischen Nutzer/Nutzerinnen mehr oder weniger unbegrenzt für alle anderen Nutzer/ Nutzerinnen weltweit einsehbar sind, dann entwickelt sich durch die Kom-
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bination von Echtzeit-Kommunikation, verteilter Datenübertragung, SharingFunktionen und maschinell beschleunigter Nachrichtenverarbeitung eine globale Kommunikation ungekannter Verbreitungsgeschwindigkeit, welche den gesamten Prozess von Produktion und Rezeption von Online-Inhalten zeitlich verkürzt, wenn Daten und Informationen in einer synchronen Online-Kommunikation kommentiert, bewertet und vernetzt werden. So gesehen kann die »Macht der Vielen« immer auch als ein Effekt der technischen Infrastruktur verteilter Netze verstanden werden. Mit der seit der Mitte der 1990er Jahre einsetzenden Entwicklung von WebBrowsern für grafische Benutzeroberflächen war das Internet grafisch geworden und es entstanden emanzipatorische Diskurse zur Vernetzungskultur, die eine egalitäre und herrschaftsfreie Vernetzung im Cyberspace in Aussicht stellten (Barlow 1996). Mit der umbruchartigen Ablösung der zentralen Netze durch die verteilten Netze haben sich aber nur oberflächlich die kollektiven Formen der politischen Repräsentation transformiert. Verteilte Netzwerkgesellschaften sind weder herrschafts- noch machtfrei, da sich mit ihnen die Art und Weise der Machtverhältnisse und der Machtausübung nicht aufgehoben, sondern bloß verschoben hat. In ihnen haben sich spezifische Steuerungsoder Machtstrategien herausgebildet, die einen flexibilisierten Machttypus und folglich eine dezentralisierte soziale Kontrolle herausgebildet haben. Diese in den distribuierten Peer-to-Peer-Netzwerken ermöglichte Freiheit und Beweglichkeit der Kommunikation suggeriert eine sich gleichsam ohne Zeitverluste in alle möglichen Richtungen ausweitende Lebenswirklichkeit der Individuen, stellt aber gleichermaßen eine sich transformierende Regierungstechnik dar, die auf ein produktives Machtverhältnis abzielt und ein hohes Maß an Kontingenz toleriert (Galloway 2004). In Anlehnung an Michel Foucaults Konzept der »Gouvernementalität« (2000: 41-67) nennen Hardt und Negri (2000) den verflüssigten Machttypus auch »governance without government« und machen damit auf den strategischen Zusammenhang von Beschleunigungsbefähigung, Flexibilisierung und Selbsttechnologien aufmerksam, der die personalisierte Form der personalen Herrschaft ablöst. Die These von der Produktivität der Macht behauptet, dass Macht erst im Hervorbringen wirksam wird und dass Macht genuin als ein Akt der Ermöglichung zu verstehen ist. Wenn man unter Macht die Gesamtheit aller Beziehungen in einem dynamischen Kraftfeld versteht, dann wird Macht mehrdeutig und kann als ein Modus angesehen werden, der für das Zustandekommen, die Potenzialität der Macht einsteht – für das Zustandekommen von Veränderungen in der sozialen Welt, die möglich, aber nicht notwendig sind. Die neuen Kollektivitäten im Netz können folglich als Transformation der Macht im Sinne der Restrukturierung und Umorganisation von Regierungstechniken geltend gemacht werden. Vor dem Hintergrund dieser Machtverschiebungen kann die digitale Vernetzungskultur als eine Versuchsanordnung neuer Ausverhandlungsdiskurse,
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selbstunternehmerischer Empowerment-Strategien und sozialer Organisation begriffen werden. Sie bezieht ihre Mächtigkeit nicht mehr aus der vermeintlich stabilen Entität, sondern aus ihrer permanenten Formveränderung ihrer Mitglieder, die sie in prozedurale Verfahren der Bedeutungsstiftung und Bewertungspraxis verwickelt. Wenn davon ausgegangen wird, dass die durch die digitalen Kommunikationsmedien zur Verfügung gestellten Infrastrukturen Kollektivität erfahrbar machen, formieren und vernetzen, dann kann die Frage nach den digitalen Techniken, Verfahren und Praktiken der Herstellung von Kollektivität aufgeworfen werden. Die Annahme einer derart medialisierten Kollektivität erwartet sich somit keinen sozialontologisch motivierten Einblick in die »soziale Welt« kollektiver Identitätsbildungen als einer eigenständigen sozialen Sphäre. Der Begriff der »digitalen Kollektivität« verweist also darauf, dass Kollektivität vermittels der Sozialen Medien im Web 2.0 konstituiert wird und dadurch überhaupt erst wahrnehmbar gemacht wird. Die technische Konstitution der Ein- und Ausschlussprozeduren digitaler Kollektivität findet sich sowohl grundlegend in den Anwendungsschichten als auch in der Schichtenarchitektur des Internets. Die für die nicht-hierarchische und dezentrale Anwendungsarchitekturen verantwortlichen TCP/IP-Protokolle basieren aber durchaus auf hierarchischen Ordnungsstrukturen, welche die Nutzung eindimensional machen und sich von daher immer auch im Spannungsfeld von flexibler Distribution und hierarchischer Restrukturierung verorten lassen können. Aber auch visuelle Navigationsräume sind nur vordergründig herrschaftsfrei und schaffen eine Struktur der performativen Wirkmächtigkeit und der indirekten Kontrolle, wenn sie Nutzer/Nutzerinnen »anrufen« und für eine kollektivierende »Interpellation« sorgen. Die grafischen Navigationsräume der sozialen Netzwerke bilden Merkmale der Orientierung und der Zugehörigkeit aus, welche die Mitglieder der Communities miteinander teilen. Als gemeinsam geteilte Kommunikationsformen migrieren die Anwendungen in das kollektive Gedächtnis und werden schließlich zum wiedererkennbaren Bilder- und Symbolvorrat, auf welche sich die Mitglieder von virtuellen Gemeinschaften im Kommunikationsalltag beziehen, um sich untereinander auszutauschen. Diese Struktur der doppelten Adressierung, mit der die Subjekte zugleich als Individuen und Unterworfene einer Kollektivität angesprochen werden können, hat Louis Althusser mit dem Begriff der »Anrufung« umschrieben (vgl. Althussers Theorie der »Interpellation«, der den ideologischen Moment des Angerufen-Seins durch eine autoritäre Instanz untersucht, Althusser 1977: 109-153). Für ihn stellt die Anrufung ein zentrales ideologisches Moment dar, das die Subjekte erstens in ihrer »freien Subjektivität« adressiert und sie als Urheber und Verantwortliche ihrer eigenen Handlungen identifizieren kann. Zweitens müssen sich die Subjekte in ihrem ›Unterworfen-Sein‹ anrufen las-
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sen: Das Subjekt soll im Grunde gar keine andere Wahl haben, wenn es sich als ›freies‹ Subjekt dem Vernetzungsimperativ unterwirft. Althussers Theorie der ideologischen Adressierung erlaubt es nicht nur, das Interface der Sozialen Medien als technologische Interpellation zu begreifen, sondern Fragen nach den ästhetischen Inszenierungsformen der Anrufung zu stellen, die sich in einem mehr oder weniger offenen Feld von Freiheiten zu bewegen haben, um die Techniken des Selbst effektiv und nachhaltig mit den Techniken der Unterwerfung verschalten zu können. Die doppelte Adressierung der Kollektive transformiert die wörtliche Bedeutung des Kollektiven (lat.: colligere, »zusammensuchen«, »zusammenlesen«) in Rechenoperationen, die für die Kollektive zugleich ihre Ermöglichung und ihre Figuren des Versammelns offerieren. Kollektive im Netz sind in mehrfacher Hinsicht verfügbar und manipulierbar – als Datenkollektive können sie beliebig oft rekombinierbar werden und werden somit zum Gegenstand von Spezialistendiskursen. Datenkollektive haben informationellen Warencharakter und können als Wissensobjekte permanent evaluiert werden. Als Bildobjekte dienen sie der Datenvisualisierung als Materialgrundlage und sind in diskursive Vermittlungsstrategien eingebunden. Digitale Kollektive sind also eingebunden in Bildpraktiken, mit welchen versucht wird, den fluiden Aggregatzustand von Kollektivität im Netz in ein visuell vermittelte Darstellung überzuführen – mit dem Ziel, den anonymen Kollektivpraktiken ein gemeinsames Erscheinungsbild, einen visuellen Bildkörper des Gemeinschaftlichen, zu verleihen. Schließlich zeichnen sich digitale Kollektive dadurch aus, dass sie immer wieder aufs Neue Gegenstand bei der Erstellung neuer Medieninhalte durch die Rekombination bereits bestehender Inhalte (z.B. Mashups) mittels kollektiver Techniken und Praktiken werden können. Die Macht der Vielen kann auf vielfältige Art und Weise dargestellt werden. Sie kann z.B. in Ranking Captures der Abstimmung und Meinungsbildung (Internet Voting), der topografischen Verteilung und statistischen Streuung (Internet Mapping) oder der Zusammensetzung von Fähigkeiten und Eigenschaften (Real User Monitoring) visualisieren – ohne dass den einzelnen Beiträger/Beiträgerinnen aber die Möglichkeit eingeräumt wird, die repräsentativen Verfahren ihrer Teilhabe zu gestalten. Die »Neo-Geography« der kollektiven Mapping- und Monitoring-Praktiken erlebt im Social Net einen großen Aufschwung. An ihrer Ausdifferenzierung kann die kulturelle Transformation von sozialer Kontrolle abgelesen werden. Sie bezieht sich auf die neue Allgegenwart von Geodaten, die es den Nutzer/ Nutzerinnen in niedrigschwelligen Anwendungen ermöglichen, mit räumlichen und raumbezogenen Informationen ihre Alltagswahrnehmungen in hypermedialen Repräsentations- und Wahrnehmungsräumen anschaulich darzustellen und analytisch zu nutzen. Die digitale Kartografie und die mit ihr verbundenen interaktiven Praktiken des »Geobrowsings« (Peuquet/Kraak
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2002: 80ff.) haben kollaborative Kartierungspraktiken und interaktive Kommunikationsräume sozialer Kontrolle und Regulation etabliert. Mit Hilfe dieser technischen Infrastruktur konnten Netzkollektive Datensammlungen, -anreicherungen und -visualisierungen in ihren »Map Mashups« (Crampton 2010) erstellen. Die auf Navigationsplattformen kollaborativ erstellten Geovisualisierungen sorgen dafür, dass die Bedeutungskonstruktionen des Sozialen dynamisch, unabgeschlossen und veränderlich werden und dass permanent ein neues Kartenhandeln in sozialen Ausverhandlungsprozessen entsteht, das nicht mehr so einfach differenziert werden kann. Damit einhergehend etablieren sich Topografien einer multiplizierten sozialen Kontrolle. Sie baut sich in Peer-to-Peer-Netzwerken auf und tradiert Mythologien eines allwissenden und lückenlosen Sehens. Eines dieser Projekte zur Schaffung eines kollektiv codierten Kontrollraums stellt das Crime Mapping dar, das einschlägige Beobachtungen von Bürgern/Bürgerinnen interaktiv sammelt und auf einer Verbrechenskarte zusammenführt (Abb. 4). Abbildung 4: Crime Mapping
http://www.crimemapping.com
Es handelt sich dabei um ein polizeiliches Crowdsourcing-Projekt, das zunehmend im Polizeialltag angewendet wird und auf die enge Verknüpfung von Kontrolle, Wissen und Macht abzielt: Waren Stecknadeln in Karten seit langem Hilfsmittel bei polizeilichen Ermittlungen und der Lagevisualisierung, haben die Möglichkeiten der Datenverarbeitung durch Computer das Feld in den letzten Jahrzehnten revolutioniert: Sogenannte Geoinformationssysteme [GIS] ermöglichen das Speichern, Verknüpfen, Analysieren und Visualisieren
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von beliebigen Datenbeständen, solange diese georeferenzierbar sind, sich die Daten also z.B. über eine Adresse oder einen Verwaltungsbezirk geographisch verorten lassen. (Töpfer 2008)
Die rechnergestützte Auswertung und statistische Visualisierung von Kriminalfällen hat eine institutionelle Vorgeschichte, die in den 1960er Jahren ihren ersten Kulminationspunkt erreicht: Bereits 1967 experimentierte das St. Louis Police Department in den USA mit Unterstützung von Forschern der Harvard University, um aufwändig mit Lochkarten und Mainframe-Computern Kriminalitätskarten zu erstellen, die helfen sollten, die Effizienz der Streifenfahrten zu erhöhen. Ihren eigentlichen Durchbruch erlebte das Computer gestützte ›Crime Mapping‹ allerdings erst in den 1990er Jahren, als die Technisierung der Polizei in den USA im Gefolge des ›Violent Crime Control and Law Enforcement Act‹ von 1994 massiv durch die Bundesregierung gefördert wurde. (Ebd.)
Im Prozess der kollaborativen Verbrechenskartierung wird heute von den meisten Polizeidirektionen US-amerikanischer Großstädte CompStat verwendet, um nicht nur polizeilich registrierte Vorfälle auszuwerten und auf Karten zu visualisieren, »sondern es wird proaktives Profiling betrieben, das der Lokalisierung vermeintlicher Risikoareale und ›at-risk communities‹ dient« (ebd.). Ein vergleichbares Beispiel ist die Website Bribespot, die Bürger/Bürgerinnen weltweit befähigt, auf Korruption hinzuweisen. Sie können über ihre androidfähigen Handys Bestechungsfälle melden. Im Anschluss werden die Korruptionsmeldungen auf eine Google-Karte lokalisiert, wo sie von anderen Nutzer/ Nutzerinnen per Mausklick gelesen werden können. Neue Formen der kollektiven Dateneinsicht und steuerung des Privaten eröffnet auch das Biomapping, das die Durchdringung leiblicher Messdaten für die öffentliche Biokontrolle aufzeigt. Mit den kollektiven Netztechnologien wird der kontrollierende Blick auf das Individuum multipliziert und einer offenen und unabgeschlossenen Vielheit an möglichen Beobachtern überantwortet (Carneiro/Mylonakis 2009). Diese Blickanordnung ist dynamisch, fluide und setzt sich immer wieder aufs Neue zusammen. Die Medienanordnung dieser Blickkonstellation sorgt dafür, dass dieser makroskopische Blick der sich permanent vervielfältigenden Mikro-Blicke Kontrolle in die Selbstwahrnehmung und Alltagspraktiken der Nutzer/Nutzerinnen implementiert. Das kollektive Online-Mapping raumbezogener Daten verändert das traditionelle Bezugsverhältnis von ›Ort‹ und ›Raum‹. In seiner Theorie der »Kunst des Handelns« definiert Michel de Certeau den Ort als eine momentane Konstellation von festen Punkten: »Ein Ort ist die Ordnung, nach der Elemente in Koexistenzbeziehungen aufgeteilt werden. Damit wird also die Möglichkeit ausgeschlossen, dass sich zwei Dinge an derselben Stelle befinden.« (1988:
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217) Seinen Raumbegriff entwickelt er in Opposition zum Ortsbegriff und beschreibt den Raum als einen Zustand, der weder eine Eindeutigkeit noch die Stabilität von etwas ›Eigenem‹ gewährleiste: Der Raum ist ein Geflecht von beweglichen Elementen. Er ist gewissermaßen von der Gesamtheit der Bewegung erfüllt, die sich in ihm entfalten. Er ist also ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünfte zu funktionieren. (1988: 218)
Diese von de Certeau getroffene Differenzierung zwischen Ort und Raum beschreibt auf anschauliche Weise den Unterschied zwischen einer gezeichneten oder gedruckten Karte und der digitalen Karte, die elektronisch im Navigationsprogramm errechnet wird. Im Gegensatz zur Karte, die eine starre Konstellation abbildet, liegt die entscheidende Medienspezifik des digitalen Navigierens in der Fähigkeit, den Raum auf neue Weise zu organisieren und zugänglich zu machen. Aus der Beweglichkeit des Raumes können kontinuierlich neue Konstellationen gebildet werden. Die technische Infrastruktur dieser neuen Beweglichkeit beim Navigieren in Datenbanken bildet die Zoom-in-Technologie, die es den Usern/Userinnen ermöglicht, permanent zwischen einer lokalen und globalen Perspektive hin- und her zu wechseln: Sie scheinen selbst zu bedeutungsproduzierenden Agenten zu werden, indem sie sich weltweite Netze erschließen, lokale Kommunikationsstrukturen aufdecken und ›tiefer‹ in persönliche Profile und Messages ›eindringen‹. Interaktive Crime Maps bestehen aus einem intermedialen Geflecht von textuellen, grafischen, diskursiven und metaphorischen Verfahren und überlagern damit unterschiedliche Repräsentationsordnungen. Ihre interaktiven Werkzeuge vermengen zwei Blickweisen, die sich bisher diametral gegenüberstanden: erstens die gottähnliche Totalansicht und zweitens die partizipatorische Tiefenperspektive, die sich mit Hilfe der Zoom-in-Technologie das Feld der narrativen Mikrodramaturgien erschließt. Die gottähnliche Totalansicht ist das visuelle Produkt der Repräsentation des Raums, wie ihn bereits in früheren Medienkulturen Planer, Gelehrte und Technokraten im Akt des Zerlegens und Zurechtlegens entwerfen. Die partizipatorische Tiefenperspektive hingegen eröffnet sozial dynamische Räume der kollektiven Wissens- und Bedeutungsproduktion. Beide Sichtachsen der kartografischen Repräsentation weisen eine entscheidende Gemeinsamkeit auf: Sie bestimmen den Raum der Netzgemeinschaft und den simulierten urbanen Repräsentationsraum als transparent und kontrollierbar. Durch ihre permanente Veränderlichkeit verlieren die interaktiven Karten jedoch auch ihre Beständigkeit und verlangen von ihren Benutzern/Benutzerinnen die Bereitschaft einer ununterbrochenen Relektüre. So greifen kollektive Netzpraktiken in eine Vielzahl kultureller Prozesse ein und verändern auf diese Weise
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die statischen Wissensordnungen und Repräsentationskulturen. Die kollektive Vernetzung endet nicht beim Bereitstellen von Content, sondern schließt bei populären Web-2.0-Diensten auch die inhaltliche Erschließung des angebotenen Wissens mit ein. Die freie Verschlagwortung von Inhalten im Internet (»Folksonomy«) stellt eines der eindringlichsten Verfahren der anonymen Kollaboration dar (Furnas et al.: 2006), die Merholz als »metadata for the masses« (2004) und Surowiecki als »the wisdom of crowds« (2004) bezeichnet. Surowiecki definiert drei Merkmale zur Stabilisierung einer kollektiven Intelligenz: Diversität, Autonomie und dezentrale Vernetzung (ebd.: 13). Mit dieser Merkmalsbestimmung bezeichnet er auch eine Multiplizierung einer kollektiven Mediennutzung von digitalen Speichern und Netzwerken, welche die Archive und Sammlungen des Wissens in dynamische Aggregatzustände verwandelt, die sich mit jeder neuen Benutzung verändern und anders anordnen: »Die Ordnung eines Speichers steht nicht mehr fest, wie in einem Lexikon oder einem Papierarchiv, sondern jeder Suchvorgang gibt die Daten vollkommen neu sortiert wieder. Suchfunktionen stellen damit eine ganz andere Form von Vergleichbarkeit her.« (Heidenreich 2004: 132) Eine anonyme und dynamische Kollaboration bei der Erstellung von Inhalten sorgt dafür, dass sich die Anzahl der Einträge kontinuierlich vervielfältigt und die Vergleichbarkeit der verschiedenen Einträge permanent erhöht. Diese kollektive Inhaltserschließung eines Dokumentinhalts nennt Vander Wal (2005) »Broad Folksonomy« und bezeichnet damit die Praxis vieler verschiedener Nutzer/Nutzerinnen, ein Dokument mit Tags zu versehen. Folgendermaßen wird der Dokumentinhalt aus verschiedenen Gesichtspunkten mit ähnlichen oder andersartigen Schlagworten beschrieben. Folksonomies können folglich als Speicherort kollektiver und kollaborativer Bedeutungsproduktion angesehen werden. Sie stellen für die Informationswissenschaft die »einzige Möglichkeit dar, Masseninformation im Web zu erschließen und tragen dazu bei, Communities zu identifizieren« (Peters/Stock 2008: 83). Im Unterschied zu kontrollierten Wortnetzen und paradigmatischen Klassifikationssystemen speichern die Folksonomies die Vielsprachigkeit (»merging of languages«, Gordon-Murnane 2006) ihrer Beiträger/Beiträgerinnen und werden von der Informationswissenschaft als digitale Ressource eines kollektivsprachlichen Alltagsjargons betrachtet. In diesem Sinne firmieren die kollektiven Praktiken im Netz immer auch als epistemisches Objekt, das der kollektiven Auswertung zur Herstellung wissenschaftlichen Wissens zugänglich gemacht wird. Kollektive Aktivitäten in Online-Netzwerken firmieren auch als epistemische Objekte und werden in der Soziologie vernetzter Medien als messbare Datenaggregate erfasst. Vor dem Hintergrund einer sich veränderten Flexibilisierung von sozialer Regulation und Kontrolle durch die Ausdehnung Sozialer Medien auf mobile und ubiquitäre Umgebungen, beispielsweise auf Smartphones und in Sensornetzwerken, kann die Soziale Netzwerkanalyse als
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eine Regierungstechnologie des Back-End-Bereichs als auch als eine sich im Individuum festsetzende Selbsttechnologie (erweiterte Personalisierung durch Data Mining2), die alltägliche Sensordaten im Bereich des Front-End realisiert, gefasst werden. Die Soziale Netzwerkanalyse visualisiert das komplexe Beziehungsgeflecht der Netzstrukturen in räumlichen Übersichtsdarstellungen und benennt spezifische Charakteristika, nach denen die Netzwerkfähigkeiten von Kollektiven beurteilt und bewertet werden können3 (Freeman 2004). Spätestens hier kann deutlich werden, dass die Auswertung der Datenaggregate von sozialen Netzwerken mit den Mitteln von dynamischem Targeting und Profiling immer auch auf das Konstrukt ihrer Filterung verweist und Kollektive in ihrer sozialen Entität nicht erfassen kann. Aber auch die Annahme von Kollektiven, die den Netzwerken empirisch vorgeschaltet (vorgängig) wären, bleibt bloße Spekulation. Als Produkt der Vernetzungstechnologien haben sie keine feststehende Identität, sondern verorten sich im Raum der statistischen Verteilungen und Relationen als modulare Anordnungen, die von technischen Netzwerken generiert werden. Gleichwohl können sie nicht »restlos« ausgerechnet werden, weil die Wissensbestände über ihre sozialen Beziehungen notorisch schwankend und improvisierend sind und daher nicht in eindeutigen Planungs- und Steuerungsverfahren aufgehen können. Berücksichtigt man dementsprechend das Netz als selektierende Beobachtungsanordnung, dann überbordet das evaluierbar Kollektive konstitutiv jene medialen Anordnungen, die zu seiner Verfertigung und Kontrolle entworfen worden sind. Dieses Verfehlen des Kollektiven durch die medialen Dispositive 2 | Im kommerziellen Bereich etablierte sich der Begriff Data Mining für den gesamten Prozess des Knowledge Discovery in Databases. Data Mining meint die Anwendung von explorativen Methoden auf einen Datenbestand mit dem Ziel der Mustererkennung. Ziel der explorativen Datenanalyse ist über die Darstellung der Daten hinaus die Suche nach Strukturen und Besonderheiten. Sie wird daher typischerweise eingesetzt, wenn die Fragestellung nicht genau definiert ist oder auch die Wahl eines geeigneten statistischen Modells unklar ist. Ihre Suche umfasst, ausgehend von der Datenselektion, alle Aktivitäten, die zur Kommunikation von in Datenbeständen entdeckten Mustern notwendig sind: Aufgabendefinition, Selektion und Extraktion, Vorbereitung und Transformation, Mustererkennung, Evaluation und Präsentation. 3 | Mit der Messgröße der Netzwerkdichte definiert sie das Verhältnis der vorhandenen Beziehungen zur Anzahl maximal möglicher Beziehungen. Die Netzwerkdichte ist eine mathematische Formel, mit der kollektive Beziehungen sowohl für das Gesamtnetzwerk als auch für einzelne Teile eines Netzwerkes berechnet werden können. Mit den Begriffen der Abgrenzung und der Ausschließbarkeit weist man etwa die Offenheit respektive die Segregation von computervermittelter Kommunikation nach. Mit den Analysemethoden der Auswertung der sozialen Kontrolle und Bindungsqualität (strong tie/weak tie) beurteilt die Netzwerkanalyse die Vernetzungsqualität von sozialen Beziehungen.
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darf aber nicht dazu verführen, erneut die metaphysischen Bestände der Massentheorien der Human- und Sozialwissenschaften zu bemühen, um digitale Kollektivphänomene mit Gemeinsinn-Begriffen wie »Affekt«, »Kraft«, »Wille« aufzuladen, um eine den Vernetzungstechnologien vorgelagerte Kollektivität in ihrer empirischen Fülle spekulativ zu setzen. Da sich die digitalen Kollektive als heterogene und instabile Bewegungsströme den Aufzeichnungssystemen der technischen Netzwerke entziehen, eignen sie sich folglich auch nicht zur Aufschreibefläche einer spontaneistischen Demagogie, die ihnen postheroische Eigenschaften zugesteht, um der in die wissenschaftlich-technischen eingebundenen Gruppenanordnung ein vermeintlich »wildes« Kollektiverleben gegenüberzustellen. Denn sowohl die Vernetzungstechnologien als auch die Sozialen Netzwerkanalysen vermitteln uns nicht nur ein Deutungsangebot über die Welt der Kollektive, sondern machen aus dem Beschriften und dem Berechnen der sozialen Welt der digitalen Kollektive immer auch eine Art der Vorschrift und reproduzieren damit mehr oder weniger normalisierte und standardisierte Wahrnehmungskonventionen kollektiver Sozialtechniken, die das Mediensystem selbst hervorbringt. Die Netzwerke der Sozialen Medien stehen andererseits inmitten kollektiver Beobachtung und Erfahrung. Hier erweist sich, dass die funktionalistische Auffassung von den Sozialen Medien als Versammlungsort der digitalen Masse und als Datensammler statistischer Kollektive viel zu kurz greift. Denn die kollektive Wahrnehmung der sozialen Netzwerke geht über Fragen einfacher und effektiver Bedienbarkeit hinaus und modifiziert die Medienangebote für einen mikrobenhaften Kollektivgebrauch, der die Lücken der medialen Dispositive reflektiert und oft zum Ausgangspunkt andersartiger Medienpraktiken nimmt. Die konstitutive Rolle der Sozialen Medien bei der heterogenen und kontingenten Hervorbringung der Kollektive darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass Kollektivität immer auch in zweifacher Weise in Ordnungen des Wissens und der Repräsentation verflochten ist. Kollektivität im Social Web zählt heute zum wegweisenden Forschungsgegenstand zahlreicher Diskurse des wissenschaftlichen Wissens. Die Wirtschafts- und Sozialpsychologie, die Organisations- und Managementtheorie sowie die Kommunikations- und die Wirtschaftswissenschaften (Abadi et. al. 2008) erforschen mittels evaluativer sowie adressierender Verfahren wie der »Click Popularity«, der »Crowdmaps« oder des »Crowd Sensing« kollektive Interaktivität in sozialen Online-Netzen (Abb. 5). In allen diesen Verfahren geht es darum, die Macht der Vielen spezifischen Verfahren der Identifizierung zu unterwerfen. Die »Click Popularity« entspricht einem Ranking-System zur Bestimmung der Ergebnisrangfolge und wertet das kollektive Klickverhalten von suchenden Nutzern/Nutzerinnen aus. Vor diesem Hintergrund können zwei Modelle der Instrumentalisierung von Kollektivität unterschieden werden. Im spezifischen Falle des User Ge-
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nerated Content wird »das langfristige Engagement, die Identifizierung der Mitglieder mit der gemeinsamen Zielsetzung, die sich verstärkenden Beziehungen zwischen den Mitgliedern« (Minichbauer 2012) hervorgehoben. Geht es hingegen um den Fokus der Prozesse von Wissens- und Informationsaggregation mittels der kollektiven Intelligenz, dann wird ein »als gegenteilig deklariertes Modell« bevorzugt, nämlich »die Absolutsetzung nur eines der Aspekte von Kollektivität, der Diversität« (ebd.). Abbildung 5: Website Bribespot
http://bribespot.com
Kollektivität ist daher erstens immer auch ein Wissensobjekt zur Herstellung einer instrumentellen Datenanalyse. Zweitens ist sie ein Bildobjekt, wenn es darum geht, aus den technisch verarbeiteten Informationen und Daten der Kollektive einen repräsentativen Bildkörper zu modellieren. Meine Argumentation zielt darauf aufzuzeigen, dass das Bildprogramm der Vernetzungskultur den technologischen Ermächtigungsversprechen weit hinterher hinkt. In diesem Sinn gibt es noch keine eigenständige Bildkultur vom kollektiven Körper, sondern vielmehr eine Bildtradition, die sich mit ihren visuellen Beständen einer übergeordneten kollektiven Identität in die Bildersuche des digitalen Kollektivkörpers einschreibt. Die Repräsentationskultur des Kollektiven und Gemeinschaftlichen ist also eingerahmt in Diskurse und durch Bilder, Figuren und Erzählungen strukturiert, deren epistemische, politische, ethische und anthropologische Implikationen es freizulegen gilt.
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3. M ODUL ARISIERUNG DES S OZIALEN Modularität zählt zu den Grundvoraussetzungen der digitalen Medien und beschreibt deren modularen Auf bau (Manovich 2001: 43). Digitale Medien setzen sich aus autonomen einzelnen Modulen zusammen, die alle auf eine identische Bauart zurückgehen. Die Einzelteile können immer wieder neu kombiniert werden, ohne dass ein Einzelteil seine Autonomie verlieren würde. Die permanent mögliche Neukombination von modularen Konstellationen ist kennzeichnend für die digitale Medienkultur, deren Inhalte permanent veränderlich bleiben. Damit einhergehend löst sich der Werkbegriff auf, da im Internet – im Unterschied zur Ära der analogen Medienkultur – die Inhalte nicht mehr mit einem spezifischen Trägermedium verbunden sind. Im neuen Modus der Modulation befinden sich die Kollektive in einer flexibilisierten Testsituation der kontinuierlichen Feedbacks, die dafür sorgen, dass Kollektivität in der Theoriediskussion oft einem gasförmigen Aggregatzustand (Stichwort: die permanente Requalifikation des Individuums in der Kollektivität der Human Cloud) gleichgesetzt wird: »Diese Veralltäglichung von Testverfahren […] zielt angesichts einer verschärften Konkurrenzsituation und vervielfältigter Unsicherheiten darauf ab, die eigene Position in den verschiedenen Normalitätsfeldern zu überprüfen, um persönliche Schwächen besser erkennen, mögliche Schäden abwenden, vorhandene Potenziale realisieren und zusätzliche Kompetenzen auf bauen zu können.« (Lemke 2004: 123) Kollektive werden in den Dienst gesetzt, um Qualitäts- und Leistungsmerkmale zu verifizieren und zu objektivieren. Diese werden mittels kollektiver Bewertungssysteme immer wieder neu verglichen, gereiht, abgestuft und aufgewertet: »Besteht die Bestimmung der Modulation einerseits darin, Module zu formen, verlangt sie andererseits eine konstante Selbst-[De-]Formierung, eine Tendenz zur ständigen Modifizierung der Form, zur Transformation, ja zur Formlosigkeit.« (Raunig 2009: 13) Kollektive werden für die permanente Optimierung von leistungsorientierten Inhalten eingesetzt und produzieren ein Klima der kontinuierlichen Leistungssteigerung, der panoptischen Überwachung und der Selbstkontrolle durch Massenfeedbacktechnologien (Andrejevic 2002: 230-248). Übertragen auf den Kontext der digitalen Kollektivität bedeutet dies, dass sich Kollektivität als digitaler Datenbestand beliebig variieren lässt und sich mit Hilfe der digitalen Visualisierungstechniken auf unterschiedliche Art und Weise – den individuellen Bedürfnissen angepasst – darstellen lässt. Ich möchte die »Macht der Vielen« entlang der Frage nach den »Wirkungsweisen von Infrastrukturen als affektive Technologien« (Stäheli 2012: 114) weiterentwickeln und begreife dabei Infrastrukturen als dispositive An-
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ordnungen, welche Vielheiten als heterogene Elemente zusammenbringen.4 Diese Idee kann weiterentwickelt werden, wenn die »Macht der Vielen« als modalisierender Effekt der Vernetzungsmedien verstanden wird. In Bezug auf die Machtdebatten kann festgehalten werden, dass die Vernetzungsmedien das herkömmliche Machtverständnis aufsprengen. Denn sie dienen weder der instrumentellen Durchsetzung sozialer Zwecke und Mittel, noch sind sie ausschließlich als machtneutrale Medienkanäle zum Prozessieren von Information zu verstehen. Begreift man sie hingegen in ihrer Rolle als »modale Relation« (Röttgers 1990: 63), dann können sie als strukturbildende Medien zur Ermöglichung bestimmter Handlungen aufgefasst werden. Als Medien der Wahrnehmung stellen sie die Unterstützung und Ausweitung der sozialen Beziehungen dar, als Medien der Speicherung und Bearbeitung machen sie Daten und Informationen haltbar und ermöglichen ein kollektives Gedächtnis, als Medien der Übertragung verteilen sie Informationsinhalte in unterschiedlichen Gruppenkommunikationen (»many-to-one«, »many-to-many«) und als Medien der Kommunikation ermöglichen sie kollaborative Arbeitsprozesse mit offenen Inhalten (WikiWeb). In diesem Sinne erfüllt das Interface soziale und kulturelle Funktionen. Es speichert bestimmte Möglichkeiten von Handlungen. Die Möglichkeiten stellen keine substantiellen Eigenschaften dar, die als Ursachen wirken. Denn diese Möglichkeiten können erst in ihrem Gebrauch, das heißt im relationalen Vollzug als bestimmte Handlungsoptionen aktualisiert werden. Indem das Interface Handlungsmöglichkeiten als Relationen entlang der Mensch-Maschine-Schnittstelle versammelt, ordnet und regelt, übt es eine bestimmte Form der Macht aus, die als modale und modularisierte Macht umschrieben werden kann. In diesem Sinne wird Macht nicht nur in einer Akkumulation von Möglichkeiten linear, »sondern auch modal steigerbar, indem die Möglichkeit eines Spiels mit Möglichkeiten eingeführt wird. Durch rekursive Anwendung von Modalisierung auf Möglichkeiten wird Macht auch in einer ganz anderen als der Wirkungs- und Äußerungsdimension steigerbar.« (Röttgers 1990: 55) In diesem Sinne entspricht die »Macht der Vielen« einer modularen Vervielfältigung von Machtbeziehungen. Sie löst die Uniformität des monolithischen 4 | »Es bedarf Vorrichtungen, welche diese heterogenen Elemente zusammenbringen [auch wenn diese Formulierung, wie sich gleich zeigen wird, noch viel zu statisch formuliert ist]. Dies ist der Einsatz von ganz unterschiedlichen Infrastrukturen des Kollektiven, seien dies städtische Plätze, auf denen das ziellose Schlendern der Masse möglich wird, seien es Kinosäle und Filme, welche die Aufmerksamkeit des Publikums an sich binden, seien es Fähren, auf denen die Massen sich und ihre Umwelt in Bewegung erleben oder virtuelle Netze. Diese Infrastrukturen werden in der Begriffsgeschichte des Kollektiven häufig übersehen. Sie tauchen meist nur als Hintergrund oder Bühne für das Sich-Ereignen des Kollektiven auf.« (Stäheli 2012: 113)
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Blocks zugunsten einer höheren Anpassungsfähigkeit der verschiedenen kompatiblen Module auf, die anders gruppiert werden können, um die Machtfrage (z.B. die Situationswahrnehmung qua Suchabfrage) an neue Relevanzen im Handlungsfeld anzupassen. Der strategische Anspruch der modularisierten Macht besteht nicht darin, totale Ähnlichkeitsbeziehungen und möglichst präzise Korrespondenzen mit der Wirklichkeit aufzubauen, sondern eine wandelbare und verformbare Informatisierung des Sozialen mittels modularisierter Medien herzustellen. Im Unterschied zu einseitigen Medienkanälen und ihrer Trennung zwischen Produktion und Konsumtion bilden modularisierte Medien ein flexibleres und ein ungleich produktiveres Netz, das bis zu vereinbarten Toleranzschwellen auch Kontingenzen zulässt. Dieses Verfahren der Kontrolle durch Modulationen fasst Deleuze als eine äußerst filigrane und integrale Machttechnologie auf, welche die Subjekte vor allem durch Inklusion in einen unabgeschlossenen und dynamischen Prozess involviert. Die Kontrolltechniken sind »eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gussform« (Deleuze 1993: 256). In einer flexibilisierten Ökonomisierung des alltäglichen Lebens durchqueren die Medien der digitalen Netzwerke den Alltag und die Lebenswelt bis in ihre Mikrologien. Sie bilden eine Welt der instabilen Modulationen und machen die Einzelnen zu Schnittstellen von Mikroprozessoren, Informationsströmen und Signalverarbeitungen. Kommerzielle Suchmaschinen analysieren mittels »Behavioural Targeting« die Profile ihrer Klientel. Diese Suchtechnologie evaluiert kollektive Nutzungsgewohnheiten und demografische Merkmalsprofile und erstellt damit ein statistisches Relief pluraler und flexibler Subjektivität. Das wesentliche Merkmal des digitalen Targeting ist der Sachverhalt, dass das Individuum nur noch als ein multiples und dividuelles Selbst, das zwischen Orten, Situationen, Teilsystemen und Gruppen oszilliert, erscheint – ein Rekurs auf eine personale Identität oder ein Kernselbst ist unter dividuellen Modulationsbedingungen nicht mehr vorgesehen. Digitales Targeting ist Bestandteil umfassenderer Such- und Überwachungstechnologien im Netz: Das Data Mining ist eine Anwendung von statistisch-mathematischen Methoden auf einen spezifischen Datenbestand mit dem Ziel der Mustererkennung und beschränkt sich nicht auf die in der Vergangenheit erhobenen Daten, sondern erfasst und aktualisiert die Daten bei jedem Besuch im Netzwerk erneut in Echtzeit. Die im Internet geläufigen Surveillance-Tools ermöglichen es dem E-Commerce-Business, die jeweiligen Zielgruppen im Internet spezifischer zu identifizieren und gezielter zu adressieren. Die »Informatik der Herrschaft« (Haraway 1995: 51) wächst im Internet zu einer entscheidenden Größe sozialer Regulation und die neuen Kontrollformen bedienen sich des Consumer Profiling. Mit dem digitalen Regime hat sich die computergestützte Rasterfahndung auf die Allgemeinheit ausgeweitet. Professionelle und kommerziell orientierte Consumer Profiler, die sowohl für das Marketing als auch für das E-Recruiting arbeiten, vollziehen eine Transfor-
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mation des polizeilichen Wissens und sammeln ihr Wissen über die privaten Gewohnheiten der Bürger/Bürgerinnen mit der Akribie geheimdienstlicher Methoden. Die neue Sprache der Kontrolle besteht aus Nummernkombinationen, Passwörtern oder Chiffren und organisiert den Zugang zu oder den Ausschluss von Informationen und Transaktionen. Soziale Organisationen werden wie Unternehmen geführt und werden nach der numerischen Sprache der Kontrolle codiert: vom Bildungscontrolling bis zur Rankingliste. Im Unterschied zur klassisch analogen Rasterfahndung geht es beim digitalen Data Mining nicht mehr um die möglichst vollständige Ausbreitung der Daten, sondern um eine möglichst vereinfachte und niedrigschwellig zugängliche Operationalisierung der Datenmassen, die auf Knopfdruck in Beziehung zueinander gesetzt werden. Diese Logik der kontinuierlichen und flexiblen Modulation steht für die Neuerfindung sozialer Prozesse, die sich schließlich auch auf die Netzkultur als paradigmatisches Ausdrucksverhältnis einer Neuordnung des Sozialen beziehen lässt. Modulation kann in dieser Engführung als ein integraler Bestandteil der Logik der verteilten Netze angesehen werden. In diesem Zusammenhang gilt formelhaft, dass durch beständige Modulationen die Prozeduren der umfassenden Vernetzungen nie zu Ende kommen sollen. Gleichzeitig sollen die Strukturen der wechselseitigen Kontrolle anschlussfähig bleiben, damit die Modulationen das Netz dichter flechten können. Umgelegt auf die soziale Netzwerkseite Facebook wirken die in ihre Softwarearchitektur implementierten Kontrolltechniken subtiler, da sie den Nutzern/Nutzerinnen eine bestimmte Eigenständigkeit und Handlungsfreiheit bei der Bedienung einräumen, aber gleichzeitig umfassender angelegt sind, da sie die Bedingungen dieser Eigenständigkeit präzise festlegen können. Insofern fällt es immer schwerer, zwischen den unternehmerischen Diskursen und den Prozessen der Selbstkonstitution eindeutige und klare Grenzen zu ziehen. Eine modularisierte Machtkonzeption kollektiver Vernetzung orientiert sich an den Relationen und nicht an den bleibenden Eigenschaften als kausale Ursachen eines befähigten Handelns und vertritt damit eine fundamentalpluralistische Position. So gesehen orientiert sich das Konzept der modalen Macht an dem von Michel Foucault entwickelten modalrelationalen Machtkonzept, das er mit seinem Modell der »Dispositive der Macht« ausgearbeitet hat. Im übertragenen Sinn verfügen dann Netzkollektive über keine ontologischen Eigenschaften, sondern sind als modale Einstellungen der Macht aufzufassen, mit denen mögliche Positionen und Verhältnisse markiert werden können. Vor diesem Hintergrund kann Vernetzungskultur nur als temporäre Befähigung in einem Raum von Möglichkeiten betrachtet werden. Diese Sichtweise hat zur Folge, dass die Macht der Vielen als etwas etabliert wird, das dem Spiel mit vorhandenen Möglichkeiten entspricht. Dieser Ausblick auf die Macht digitaler Kollektive kann angesichts der technischen Schichtung, Regelung
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und Schaltung der Zugänge zu den Tiefenstrukturen des Internets selbst nur einen Ausschnitt der Macht thematisieren und operiert damit mit klar definierten Einschränkungen. Wenn daher die Vernetzung immer auch als eine Art der technologischen Indienstnahme kultureller Praktiken angesehen werden kann, dann ändern sich die Anforderungen der Macht. In einer kollektiv vernetzten Kultur firmiert Macht als eine mögliche Auslegung und meint damit ein sozial instabiles Vermögen, das andererseits aber auch »Möglichkeiten neuer Subjektivierungsweisen und Widerstandsformen« (Raunig 2009) enthält. Für unsere Perspektive heißt das, dass sich die Fähigkeit zur Macht nicht aus den genuinen Fähigkeiten seiner Subjekte zusammensetzt, sondern dass die Subjektivierungsweisen und Widerstandsformen aus dem modalen Spannungsverhältnis zwischen den Technologien der Vernetzung und den durch sie ermöglichten ästhetischen Praktiken entspringt. Die Idee einer technologisch modularisierten und permanent modifizierbaren Machtkonstellation charakterisiert Zygmunt Bauman treffend als Diskursfigur der vorherrschenden »Liquid Modernity« und beschreibt dieses veränderte Raum-Zeit-Regime als neuen sozialen Aggregatzustand: »Fluids, so to speak, neither fix space nor bind time. While solids have clear spatial dimensions but neutralize the impact, and thus downgrade the signifiance of time, fluids do not keep to any shape for long and are constantly ready to change it; and so for them it is the flow of time that counts, more than the space they happen to occupy: that space, after all, they fill but ›for a moment‹.« (Bauman 2000: 2) Diese Vorstellung einer ununterbrochenen Akzelerationsdynamik behauptet auch Manuel Castells in seiner Netzwerkanalyse, wenn er davon ausgeht, das die webbasierten Netzwerke einen »space of flows« (»Raum der Ströme«, Castells 2004: 83) erzeugen, der diversifizierte Lokalitäten in einem interaktiven Netzwerk von Aktivitäten und Akteuren miteinander verbindet. Es sieht den »Raum der Ströme« durch ein nicht hierarchisch stabilisiertes Netzwerk gekennzeichnet, das sich mittels temporärer Verdichtungen und dezentraler Verzweigungen organisiere: »Our societies are constructed around flows: flows of capital, flows of information, flows of technology, flows of organizational interactions, flows of images, sounds and symbols. Flows are not just one element of social organization: they are the expression of the processes dominating our economic, political, and symbolic life.« (Castells 1996: 412) Castells unterteilt den space of flows in eine materielle Ebene der technischen Infrastruktur für globale Kommunikation in annähernder Echtzeit, in eine hierarchische Ebene von Knoten, die nach ihrem Gewicht im Netzwerk organisiert sind und schließlich in eine machttechnologische Ebene der räumlichen Organisation, in der bestimmte Eliten den Raum der Ströme steuern. Sicherlich fördert das durch die digitalen Kommunikationsmedien angeheizte Echtzeitregime die Vorstellung eines sozial und kulturell vollkommen durchlässigen Kommunikationsraums, der mit den Begriffen der »Adhocracy« und der »Liquid Democracy« umschrie-
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ben wird. Webbasierte Echtzeittechnologien der reibungslosen kollektiven Kommunikation erzeugen neue Konjunkturen der Flussmetapher, indem sie immer auch Visionen einer lückenlosen Verfügbarkeit von Datenstrukturen produzieren: »Als ›Streaming‹ taucht die Metapher des Stroms ein weiteres Mal auf. Man spricht davon, seit es möglich ist, Video- und Tonsignale, die selbst zeitlich definiert sind, so schnell über Datennetze zu senden, dass sie in Echtzeit gehört oder gesehen werden können.« (Heidenreich 2004: 28f.) Allerdings ist der Begriff der ›Echtzeit‹ nicht unproblematisch, da er die Zeitvorstellung eines Hier und Jetzt suggeriert und in Aussicht stellt, dass wir alle im gleichen Augenblick an der Kommunikation teilnehmen können und damit an einem einzigen unendlichen Bewusstsein im Internet angeschlossen sind. Diese kulturalistische Perspektivierung darf also nicht darüber hinwegtäuschen, dass den Technologien der Vernetzung ein operatives Zeitkonzept zugrunde liegt, das eine Transformation der Zeit in ein »knappes, unter Effizienzgesichtspunkten zu bewirtschaftendes Gut [hervorgebracht hat], welche dafür verantwortlich ist, dass Zeit als eine lineare, qualitätslose und abstrakte Größe erfahren wird« (Rosa 2005: 258). Im Anwendungsbereich des Front-End entstehen heute vor diesem Hintergrund in hypermedialen Repräsentations- und Wahrnehmungsräumen neuartige digitale Machtverhältnisse (Becker/Stalder 2009), die auf die kulturellen und gesellschaftlichen Wahrnehmungsprozesse Einfluss ausüben (Benkler 2005) und zu einer neuen Disziplinierung der Wahrnehmung und Medienrezeption führen. In diesem Sinne speichert die Interfaceanordnung der digitalen Medien und die Softwarearchitektur der Sozialen Netzwerkseiten die alltagskulturelle Thematisierung von Lebensentwürfen sowie deren statistische Erfassung in Durchschnittsdaten und Vorhersagemodellen im BackEnd-Bereich. Die derart gedoppelte Entstehung von neuen Formen digitaler Kollektivität in den verteilten Netzwerken hat zur Herausbildung von technologisch, soziologisch und ästhetisch motivierten Modellbildungen in den Mediendiskursen geführt (Gold 2012). Digitale Kollektivität wird zum begrifflichen Dreh- und Angelpunkt einer sich verschiebenden Tektonik der Gegenwartskultur und hat Einfluss auf das kulturelle Gedächtnis der Gegenwart, sie restrukturiert klassische Formen der Arbeitsorganisation und verankert das Cultural Citizenship in der Parapolitik des Online-Aktivismus (Sassen 2005). Die kollektive Nutzung der Social Media für die alternative Verteilung und Produktion von Wissen (von »Eyewitness«-Berichterstattungsverfahren bis zum investigativen »Korrektiv« gegenüber den »Mainstream«-Medien) für parapolitische Zwecke umschreiben die Online-Politics mit Schlagwörtern wie »Citizen Journalism« (Allan/Thorsen 2009), »Online Anti-War Movement« (Kahn/Kellner 2005: 88), »Communication Power« (Matheson/Allan 2007) und der medienkritischen Veröffentlichungspraxis der »Watchblogs« (Lovink/Riemens 2010). In
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diesem Zusammenhang kommt es oft auch zu kollektiven Umnutzungen von sozialen Netzwerkseiten und »weak tie networks« (Rasmussen 2007) wie etwa Online-Datingbörsen, die zur Umgehung der staatlichen Zensur gebraucht werden, um ein »civic forum« (ebd.) für politische Kommunikations- und Mobilisierungszwecke aufzubauen. Die zivilgesellschaftliche Mediennutzung der Vernetzungstechnologien hat nicht nur alltagskulturelle, sondern auch medientheoretische Erwartungen geschürt, dass der Auf bau von Internetanschlüssen und die gesellschaftliche Durchdringung der Internetkommunikation zur Förderung demokratischer Tendenzen und zur Etablierung einer stabilen Zivilgesellschaft führen müsse (Kahn/Kellner 2005: 75-100; Best/Wade 2009): »Diese Erwartung stützt sich zunächst auf Einschätzungen, die mit den technischen Eigenschaften des Internets zu tun haben: Wegen seines dezentralen Auf baus könnten die Datenströme im Internet nicht mehr zensiert werden.« (Schaffar 2011: 49) Dieser technik-dezisionistische Theorieansatz sieht einen kausalen und teleologischen Zusammenhang zwischen der frei verfügbaren Internettechnologie, seiner nichthierarchischen und partizipativen Kommunikationskultur und einer deshalb ermöglichten Förderung von Demokratie und Meinungsfreiheit. Diese Sichtweise reduziert Demokratie auf die »Geltung einiger formaler Anforderungen wie [Rede-]Freiheit, Wahlen und Rechtsstaatlichkeit« (ebd.: 53) und sieht in der Anonymität im Netz eine Begünstigung zur freien und ungehinderten Meinungsäußerung. Am Beispiel der Entwicklung der Internetregulierung in Singapur hat Wolfram Schaffar aufgezeigt, dass sich die Blogosphäre nicht als eine autarke und emanzipatorische Gegenöffentlichkeit von staatlichen Einflüssen abspalten kann, sondern immer auch zugleich ein Objekt von sozialer Kontrolle, wissenschaftlicher Bewertung und ökonomischer Kalkulierung ist. Der Fall Singapur zeigt, dass die Kontrolle der staatlichen Administration über den Cyperspace nicht nur als zensurbestimmter Infowar geführt werden muss, wie ihn andere autoritäre Staaten wie China, Vietnam, Thailand oder Malaysia ausüben, sondern dass die staatliche Kontrolle der Blogosphäre gelingen kann, indem die Blogosphäre als zusätzlicher Medienkanal staatlicher Informations- und Repräsentationspolitik zum Auf bau von Pro-Establishment-Blogs genutzt wurde (verknüpft mit Selbstzensur und Selbstkontrolle der oppositionellen Blogger). Durch diese ›tolerante‹ Medienpolitik der Machthaber in Singapur »änderte sich die Wahrnehmung von Blogs in der öffentlichen Meinung grundlegend« und es wurde die Frage diskutiert, »welchen Stellenwert die Anonymität im Netz hat, wenn auch die Regierungspartei dort unter Pseudonymen bloggt und systematisch in die Meinungsbildung eingreift« (ebd.: 65). Die digitalen Kollektive sorgen daher auch in der Theoriebildung für eine Neuorientierung,5 wenn tra5 | Vgl. die mathematisch-naturwissenschaftlich fundierten Theorieentwürfe zur »Network Science« (Barabási 2003, 2011, 2012) und die kultur- und sozialwissenschaft-
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ditionelle Konzepte der Gemeinschaftstheorie und ihrer Identitäts- und Subjektkategorien den kulturellen Strukturwandel der »Network Society« (Dijck 1999) nicht mehr hinreichend erklären können. Die sozialen Praktiken und die ästhetischen Formen der neuen Kollektivität im Web 2.0 leiten die maßgeblichen Repräsentanten des technik-dezisionistischen Theorieansatzes und der Internet Democracy aus den Technosciences ab (Margolis/Moreno-Riano 2009). Sie sind einerseits in den Technologien und Medien fundiert, andererseits firmieren sie gleichermaßen als objektiv vermessene Gegenstände innerhalb der wissenschaftlichen Verfahren und Technologien der Netzwerkanalyse (Papacharissi 2010). Da es an diesen Schnittstellen zu wechselseitigen Übergängen und Hybridbildungen kommt, kann Kollektivität im Internet als Interdependenz oder gegenseitige Durchdringung zwischen den Technologien und den ästhetischen Praktiken der Vernetzung angesehen werden. Wenn die sogenannte ›Macht der Vielen‹ als ein technikund medieninduziertes Geflecht von Praktiken angenommen wird, dann kann folglich nicht mehr länger von einem einheitlichen Internet gesprochen werden, das sich der Forschung als ein kohärentes epistemologisches Gegenstandsfeld darbieten würde. Insofern möchte ich die Art und Weise der eng mit der Vernetzungskultur und den Vernetzungstechnologien verschalteten kollektiven Praktiken kontextbezogen untersuchen. Die entscheidende Frage nach dem gegenwartskulturellen Stellenwert der Machtverschiebungen durch die digitalen Technologien der Vernetzung geht aber weit über die Anwendungs- und Nutzungsaspekte des Internets hinaus. Diese Perspektivierung führt mich schließlich zur Frage nach dem Stellenwert des Kollektiven in der Gegenwartsgesellschaft. Vor diesem Hintergrund lautet meine These, dass die informationstechnische Vernetzung eine Art und Weise der digitalen Kulturtechnik darstellt, die dazu führt, dass Kollektive im Zeitalter der Sozialen Medien ohne eine genaue Erforschung der technischen und sozialen Dimensionen der Vernetzung nicht mehr hinreichend ausgedeutet werden können.
4. B IG D ATA In allen Bereichen der digitalen Internetkommunikation werden heute große Datenmengen (Big Data) generiert: »More business and government agencies are discovering the strategic uses of large databases. And as all these systems begin to interconnect with each other and as powerful new software tools and techniques are invented to analyze the data for valuable inferences, a radically new kind of ›knowledge infrastructure‹ is materializing.« (Bollier 2010: 3) lichen Versuche, die Sozialen Netzwerke zu objektivieren (einen Überblick bietet Dijcks Analyse der »Culture of Connection«, 2013).
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Das E-Commerce-Versandhaus Amazon wickelt mit den drei weltweit größten Linux-Datenbanken jeden Tag mehrere Millionen Bestellungen im Datenvolumen von 50 Terabyte ab, der Einzelhandelskonzern Walmart verarbeitet eine Million Kundendaten pro Stunde und die Social Networking Site Facebook speichert mehr als 50 Milliarden Fotos pro Jahr (Webster 2011). In der Ära der Big Data hat sich der Stellenwert von sozialen Netzwerken radikal geändert, denn sie figurieren zunehmend als gigantische Datensammler für die Beobachtungsanordnungen sozialstatistischen Wissens und als Leitbild normalisierender Praktiken: »A new era of Big Data is emerging, and the implications for business, government, democracy and culture are enormous.« (Bollier 2010: 3) Als Schlagwort steht Big Data für die Überlagerung eines statistisch fundierten Kontrollwissens mit einer medientechnologisch fundierten Makroorientierung an der ökonomischen Verwertbarkeit von Daten und Informationen (vgl. die Studien zur »Governmentality 2.0« von Henman 2012). Abbildung 6: Crowd Sensing
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Die großen Datenmengen werden in verschiedenartigen Wissensfeldern gesammelt: Biotechnologie, Genomforschung, Arbeits- und Finanzwissenschaften, Risiko- und Trendforschung berufen sich in ihren Arbeiten und Studien auf die Ergebnisse der Informationsverarbeitung der Big Data und formulieren auf dieser Grundlage aussagekräftige Modelle über den gegenwärtigen Status und die künftige Entwicklung von sozialen Gruppen und Gesellschaf-
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ten (Abb. 6): »Social media data is one of the most important areas of the rapidly growing data market. Massive valuations are attached to companies that directly collect and profit from social media data, such as Facebook and Twitter, as well as to resellers and analytics companies like Gnip and DataSift.« (Burgess/Puschmann 2013: 4) In diesem Zusammenhang häufen sich Studien, die prognostische Verknüpfungen zwischen der Häufigkeit textueller Schlüsselbegriffe auf Twitter und der Entwicklung von Finanzmärkten herstellen (Bollen/Mao/Zeng 2011: 1-8). Im Forschungsfeld der Social Media Data hat sich mit der Gesundheitsprognostik eine evidenzbasierte Praxis der Prävention herausgebildet, die auf die institutionelle Entwicklung der staatlich-administrativen Gesundheitsvorsorge und auf die Kulturtechniken der Lebensführung Einfluss nehmen. Die Gesundheitsvorsorge beobachtet mit großem Interesse, dass weltweit Millionen von Nutzern/Nutzerinnen täglich mit der Internet-Suchmaschine Google Informationen zum Thema Gesundheit suchen. In Grippezeiten häufen sich die Suchanfragen zur Grippe und die Häufigkeit bestimmter Suchbegriffe kann Anhaltspunkte für die Häufigkeit von Grippeerkrankungen liefern. Studien zum Suchvolumenmuster haben herausgefunden, dass ein signifikanter Zusammenhang zwischen der Anzahl von grippebezogenen Suchanfragen und der Anzahl von Personen mit tatsächlichen Grippesymptomen besteht (FreyerDugas et al. 2012: 463-469). Dieses epidemiologische Beziehungsgefüge kann zur Frühwarnung vor Epidemien auf Städte, Regionen, Länder und Kontinente ausgedehnt und differenziert dargestellt werden. Mit der epidemiologischen Auswertung von textuellen Clustern und semantischen Feldern erhält das Social Web den Status einer großen Datenbank, die das soziale Leben in seiner Gesamtheit widerspiegelt und damit eine repräsentative Datenquelle für die präventive Gesundheitspolitik darstellt (Lampos/Cristianini 2010: 1-6). Die Kommunikationsprozesse in Online-Netzwerken stehen im Fokus staatlicher Biopolitik, die um die Gesundheit der Bevölkerung besorgt ist und spezifische Wissenstechniken und -modelle zur Erforschung der Big Data entwickelt hat, um die Wahrscheinlichkeit der Verbreitung von Krankheiten in absehbarer Zukunft statistisch zu schätzen (Eysenbach 2009: 11-17; Lippold 2011: 164-181). In ihrer Studie »You Are What You Tweet: Analyzing Twitter for Public Health« argumentieren Mark Dredze und Michael Paul, dass Twitter genauere Vorhersagen über spezifische Krankheitsverläufe und den kollektiven Gesundheitszustand liefern würde als die Suchmaschine Google, die bisher dafür bekannt war, verlässliche Voraussagen über bevorstehende Grippewellen zu ermöglichen. Sie haben aus den Datenwolken von Millionen Tweets Zeitdiagramme und Topografien bestimmter Krankheiten extrahiert, um demografische Profile von Allergien, Impotenz, Schlaflosigkeit und Depressionen zu modellieren. In diesem Zusammenhang konnten die Forscher auch den Einsatz von Medikamenten nachweisen, die bei bestimmten Krankheiten eingenom-
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men wurden. Mit ihrer Interpretation der Tweets haben sie den Nachrichtendienst Twitter als Prognosetool für das Monitoring kollektiver Lebensführungspraktiken nachhaltig umgedeutet: »Syndromic surveillance, the monitoring of clinical syndromes that have significant impact on public health, impacts medical resource allocation, health policy and education. Many common diseases are continuously monitored by collecting data from health care facilities, a process known as sentinel surveillance. Resources limit surveillance, most especially for real time feedback. For this reason, the Web has become a source of syndromic surveillance, operating on a wider scale for a fraction of the cost.« (Paul/Dredze 2011: 3) In dieser Sichtweise ändert sich die mediale Rolle von Twitter. Mit den generativen Potenzialen seiner Infrastruktur ist Twitter mehr als nur ein Kurznachrichtendienst, der Nachrichten als Distributionsmedium befördert: Twitter nimmt zunehmend die Rolle eines Kontrolldispositivs ein und steht für die Implementierung neuer Kontrolltechniken (Hawn 2009: 361-368; Weller et.al. 2013). Auf diesen Zusammenhang zwischen technischer Infrastruktur und sich transformierenden Machtstrategien verweist Scott Lash und verortet an dieser strategischen Machtverschiebung seinen Diagnosebegriff der ›posthegemonialen Ordnung‹: »In the post-hegemonic order, power comes to act from below: it no longer stays outside that which it ›effects‹. It becomes instead immanent in its object and its processes.« (Lash 2007: 61) In diesem Konnex spielen die algorithmischen Infrastrukturen eine tragende Rolle bei der Normalisierung und Standardisierung von Kommunikation. Lash unterstreicht den dominanten Stellenwert der algorithmischen Steuerung des Datenverkehrs: »[…] in a society of pervasive media and ubiquitous coding, at stake is a third type of rule, algorithmic, generative rules.« (Lash 2007: 71) Mit seinen Kontrollfunktionen des Social Monitoring kann Twitter als ein posthegemoniales Medium angesehen werden, das seine technische Infrastruktur zur generativen Ermöglichung von Kommunikationsprozessen und zur Aufzeichnung, Speicherung und Verarbeitung von sozialem Wissen einsetzt (Dijck 2011). Das Social Net tritt hier als ein medialer Apparat in Erscheinung, der seine Machtstrategie in die technische Infrastruktur verlagert hat und mit Hilfe algorithmischer Rechentechniken ein biopolitisches Regierungswissen über den Gesellschaftskörper generiert. Die Grundlage für diese Regierungstechnik liefert eine Softwarearchitektur, die es erlaubt, die Datenzirkulation im Anwendungsbereich niedrigschwellig in die technischen Prozeduren zu verlagern. Wie ist die Verflechtung von Technologie und Ökonomie konkret umgesetzt? Twitter erlaubt Drittanbietern den Zugriff auf Tweets (Steele 2011). Die Käufer der Tweets erhalten nicht nur Zugang zu textuellen Inhalten, sondern können darüber hinaus auch auf ein paar Dutzend weitere Parameter (Benutzernamen, Zeitpunkt, Ort u.a.) zugreifen, die Twitter mit Hilfe der Tracking-Cookies erstellt. Die Tracking-Cookies und der Twitter-Button übernehmen die Funktion von Protokolldateien, um mehr über die Nutzer/Nut-
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zerinnen zu erfahren (Burgess/Bruns 2012). Die technologische Erweiterung des Datenzugriffs führt zu einem permanenten Umbau der Datenschutzrichtlinie und der Nutzungsbedingungen von Twitter. Wer Plug-ins des sozialen Netzwerks Twitter verwendet, übergibt automatisch die Nutzungsrechte an das Unternehmen Twitter Inc., 795 Folsom St., Suite 600 San Francisco, CA 94107, USA: »By submitting, posting or displaying Content on or through the Services, you grant us a worldwide, non-exclusive, royalty-free license [with the right to sublicense] to use, copy, reproduce, process, adapt, modify, publish, transmit, display and distribute such Content in any and all media or distribution methods [now known or later developed].« (Twitter 2012: Paragraf 5-1,2) Mit dem Plug-in wird eine direkte Verbindung zwischen dem Browser und dem Twitter-Server hergestellt und dem Twitter-Server wird automatisch an die IP-Adresse übermittelt. Wer sich bei seinem Twitter-Benutzerkonto einloggt und einen Kommentar hinterlässt, sendet diese Informationen direkt an Twitter und überlässt die übermittelten Daten sowie deren Nutzung dem datenzentrierten Unternehmen: »You agree that this license includes the right for Twitter to make such Content available to other companies, organizations or individuals who partner with Twitter for the syndication, broadcast, distribution or publication of such Content on other media and services, subject to our terms and conditions for such Content use.« (Ebd.) Ihre datengeleitete Erforschung von Millionen von Nachrichten erschließen sich Dredze und Paul mit den sprachtechnologischen Methoden der Computerlinguistik und des Data Mining. Dabei müssen sie immer wieder Doppeldeutigkeiten ausräumen und alltagssprachliche Begriffe wie etwa ›fever‹ aus der interpretativen Erschließung ausgliedern, da der englischsprachige Begriff damit auch ›Begeisterung‹ zum Ausdruck bringt. Das Ziel des sozialen Monitoring der Tweets ist es, kollektive Deutungsmuster an den Veränderungen in der semantischen Matrix (text-driven forecasting) in Zeitreihen nachzuweisen. Die aus den Sozialen Netzwerken gewonnenen Daten werden dazu benutzt, um die lebensstilspezifischen Besonderheiten und Konventionen von sozialen Kollektiven auf der Grundlage der datengeleiteten Forschung auszuwerten. Die Mehrzahl der Monitoring-Projekte, die große Datenmengen im Social Web untersuchen, wird von Computerlinguisten und Informatikern durchgeführt. Generell interpretieren sie die Kommunikation als kollektiv geteilte und kulturspezifische Wissensstrukturen, mit denen Individuen versuchen, ihre Erfahrungen zu interpretieren (Abb. 7). Die Erhebung dieser Wissensstrukturen verfolgt den Anspruch, einen sozial differenzierten Einblick in öffentliche Debatten und sozial geteilte Diskursnetze zu erhalten. Die Wissensstrukturen werden hierbei mit Hilfe eines korpuslinguistischen Ansatzes erschlossen. Am Beginn der Forschung steht die Erstellung eines digitalen Korpus, der sich aus begrifflichen Entitäten zusammensetzt, die in der Regel als ›kanonisch‹ eingestuft werden. Die Korpus wird datengeleitet
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verwendet, d.h. er dient nicht zwingend zur Überprüfung einer Hypothese oder vorher festgelegter Analysekriterien. So ergeben sich einige Hypothesen erst aus der empirischen Widerständigkeit der Big Data und entwickeln sich im Fortgang ihrer Beschreibung. Die Kategorienkataloge suggerieren damit zwar auf den ersten Blick wissenschaftliche Objektivität, andererseits bleibt angesichts der riesigen Datenmengen eine genaue Validierung der Begriffsauswahl, d.h. der interpretativen Selektion der Big Data, oft unklar und vage. Abbildung 7: Big Data, Infografik
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Diese Unsicherheit bei der Hypothesenbildung liegt darin begründet, dass das umfangreiche Datenmaterial in keiner Gesamtschau mehr überblickt werden und daher auch nicht mehr linguistisch codiert werden kann. Oft ist die erhobene Datenmenge so umfangreich, dass nach einer ersten Sondierung des Materials weitere Gewichtungen und Einschränkungen zur Komplexitätsreduktion gesetzt werden müssen. An dieser methodischen Einschränkung des Big-Data-Monitoring wurde kritisiert, dass die erarbeiteten Erkenntnisse nur ein atomistisches Bild der Daten liefern können und daher auf eine Kontextualisierung des Textmaterials und damit auf eine kontextsensitive Interpretation des Zeichengebrauchs weitgehend verzichten müssen. Der Vorteil der Dekontextualisierung bei der nach Worthäufigkeiten fahndenden Big-Data-Analyse besteht darin, dass die einzelnen Worteinheiten auf eine enthierarchisierte und dezentrale Repräsentation des Wissens hinauslaufen und damit die Möglichkeit alternativer kollektiver Äußerungsgefüge anbieten. Die Auswertung der Daten der Google-Suche kann auf andere Trendentwicklungen erweitert werden. Mittlerweile gibt es zahlreiche Studien, welche die textuellen Daten der Sozialen Medien untersuchen, um Wahlentscheidungen (Gayo-Avello 2012), politische Einstellungen (Conover et al. 2012), Finanztrends und Wirtschaftskrisen (Gilbert/Karahalios 2010; Zhang 2010), Psychopathologien (Wald et al. 2012) und Aufstände und Protestbewegungen (Yogatama 2012) frühzeitig vorherzusagen: »Analysts and consultants argue that advanced statistical techniques will allow the detection of on-going communicative events [natural disasters, political uprisings] and the reliable prediction of future ones [electoral choices, consumption].« (Burgess/Puschmann 2013: 4) Von einer systematischen Auswertung der Big Data erwarten sich die Prognostiker eine effizientere Unternehmensführung bei der statistischen Vermessung der Nachfrage- und Absatzmärkte, individualisierte Serviceangebote und eine bessere gesellschaftliche Steuerung. Einen großen politischen Stellenwert hat vor allem die algorithmische Prognostik kollektiver Prozesse. In diesem Konnex ist das Social Web zur wichtigsten Datenquelle zur Herstellung von Regierungs- und Kontrollwissen geworden. Die politische Kontrolle sozialer Bewegungen verschiebt sich hiermit in das Netz, wenn Soziologen und Informatiker gemeinsam etwa an der Erstellung eines Riot Forecasting mitwirken und dabei auf die gesammelten Textdaten von Twitter-Streams zugreifen: »Due to the availability of the dataset, we focused on riots in Brazil. Our datasets consist of two news streams, five blog streams, two Twitter streams [one for politicians in Brazil and one for general public in Brazil], and one stream of 34 macroeconomic variables related to Brazil and Latin America.« (Yogatama 2012: 3) Die dezentrale Bereitstellung von IT-Dienstleistungen durch das Cloud Computing, die mobile Nutzung des Internets und der kollaborative Mediengebrauch (File Sharing) sind die wichtigsten Treiber für das globale Datenwachstum (BT Germany 2012). Die wachsende Popularität der interaktiven
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Anwendungen des Social Web hat dazu geführt, dass extrem große und vielschichtige Datenströme von textuellen Daten generiert werden, die sich für Big-Data-Analysen eignen. Die textuellen Daten der Sozialen Medien sind die am schnellsten wachsenden Datenquellen der Gegenwart (Manyika et al. 2011). Die verfügbaren Daten in Textform (Blogs, Chats, Tweets, Reviews, Query Logs u.a.) enthalten eine Vielzahl von Informationen, die von Datenauswertungssystemen genutzt werden, um Zukunftswissen in Echtzeitanalysen zu modellieren: »Twitter, Facebook and other social media encourage frequent user expressions of their thoughts, opinions and random details of their lives. Tweets and status updates range from important events to inane comments. Most messages contain little informational value but the aggregation of millions of messages can generate important knowledge« (Paul/Dredze 2011: 1). Die maßgebliche Ausrichtung des Big-Data-Ansatzes besteht darin, polystrukturierte Datenmengen großer Kollektivitäten mittels hochskalierbarer Methoden und Technologien zu erfassen (LaValle et al. 2011: 30). Diese großen Datenmengen werden mittels intelligenter Systeme in komplexen Aufzeichnungs- und Speicherungsverfahren erfasst und automatisiert in Relationierungstechniken verknüpft und schließlich in Echtzeit in Informationsvisualisierungen weiterverarbeitet (Abb. 8). Abbildung 8: Visualisierung der globalen Datenproduktion
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Seit dem späten 20. Jahrhundert zählen große Datenbanken zu den zentralen Bausteinen der wissenschaftlichen Wissensproduktion. Damit einherge-
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hend sind mediale Technologien der Datenerfassung und -verarbeitung und Medien, die ein Wissen in Möglichkeitsräumen entwerfen, in die Mitte der Wissensproduktion und der sozialen Kontrolle eingerückt (Lyon 2002: 242257). In ihrer Einleitung in das »Routledge Handbook of Surveillance Studies« knüpfen die Herausgeber David Lyon, Kirstie Ball und Kevin Haggerty einen Zusammenhang zwischen technologischer und sozialer Kontrolle auf der Grundlage der Verfügbarkeit großer Datenmengen: »Computers with the Power to handle huge datasets, or ›big data‹, detailed satellite imaging and biometrics are just some of the technologies that now allow us to watch others in greater depth, breadth and immediacy.« (2012: 2) In diesem Sinne kann man sowohl von datenbasierten als auch von datengesteuerten Wissenschaften sprechen, da die wissenschaftliche Erkenntnisproduktion von der Verfügbarkeit computertechnologischer Infrastrukturen abhängig geworden ist. Big Data bietet eine spezifische Methode und Technologie zur statistischen Datenauswertung, die aus der epistemischen Schnittstelle von Wirtschaftsinformatik und kommerzieller Datenbewirtschaftung hervorgeht und die Bereiche der Business Intelligence, des Data Warehouse6 und des Data Mining in sich vereint. Mit der durchgängigen Informatisierung der betrieblichen und unternehmerischen Organisationen Anfang der 1990er Jahre wurde der Begriff Business Intelligence populär. Doch die Genealogie des Konzepts der Big Data kann noch weiter, nämlich bis in die 1950er Jahre, zurückverfolgt werden. In der Oktober-Ausgabe des Jahre 1958 veröffentlichte der deutsche Informatiker Hans Peter Luhn eine Studie mit dem Titel »A Business Intelligence System«, die sich mit der Frage der Herstellung von automatisierten Methoden der integrierten Datenverarbeitung und analyse für die operative und strategische Optimierung von Unternehmenszielen auseinandersetzte (Effizienzsteigerung von Geschäftsabläufen, Kostensenkung, Risikominimierung). Der Wirtschaftsinformatiker Hummeltenberg sieht im BI-Ansatz von Luhn einen Vorläufer des heutigen Dokumentenmanagements mit Text-Mining-Komponenten: »In dem von Luhn entwickelten BI-System werden Dokumente aufgrund von Arbeitsplatzprofilen selektiert, analysiert und im Hinblick auf ihre Relevanz für bestimmte Mitarbeiter bewertet. Je nach Relevanz wird das gesamte Dokument, ein Abstract oder lediglich ein Hinweis darüber per Monitoring am Arbeitsplatz angezeigt.« (Hummeltenberg 2008: 10) Mit seinem IT-System modellierte Luhn damit die Grundidee der Big Data, in deren Zentrum bekanntlich das systematische Sammeln, Auswerten und Darstellen von großen Datenmengen in elektronischer Form für eine informationstechnologische Entscheidungsunterstützung steht. In diesem Zusammenhang modellierte er maschinelle Verfahren, die mittels Basisdaten6 | Das Data Warehousing ist eine infrastrukturelle Technologie, die zur Auswertung großer Datenbestände dient.
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verarbeitung sozial geschichtetes Führungswissen generieren sollten. Das Arbeiten mit großen Datenmengen konnte als ein elektronisch generierter Modus, sich einen strategischen Überblick über verborgene kollektive Prozesse anzueignen, verstanden werden. Die Vision von Luhn bestand darin, alle Führungsebenen mit bestimmten Informationen zu versorgen. Die Verteilung der sozialen Informationen wurde hierarchisch und asymmetrisch organisiert. Höheren Führungsschichten stand mehr Wissen über die ihnen untergebenen Mitarbeiter zur Verfügung. Das kollektive Wissen sollte also einseitig und exklusiv verteilt werden. Auch hier finden sich zahlreiche Berührungspunkte im heutigen Umgang mit den Big Data im Back-End-Bereich, die nur einer kleinen Gruppe von Eingeweihten zugänglich ist. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig, den Produktions- und Rezeptionskontext der Big Data differenziert zu reflektieren: »In big data society, people and organizations are divided into three categories: those who create data [both consciously and by leaving digital footprints], those who have the means to collect it, and those who have expertise to analyze it. The first group includes pretty much everybody in the world who is using the web and/or mobile phones; the second group is smaller; and the third group is much smaller still.« (Manovich 2012: 461) Die den Big Data Studies inhärente Machtasymmetrie problematisieren auch Boyd und Crawford, wenn sie die sich zwischen unbezahlter Informationsarbeit und akkumuliertem Wissenskapital eröffnende Wissenskluft monieren: »There are significant questions of truth, control, and power in Big Data studies: researchers have the tools and the access, while social media users as a whole do not. Their data were created in highly context-sensitive spaces, and it is entirely possible that some users would not give permission for their data to be used elsewhere.« (Boyd/Crawford 2012: 12) Das Interesse der kommerziellen Auswertung der Navigationsdaten orientiert sich ausschließlich an der großen Zahl der anonymen Kollektive. An ihrer Berechenbarkeit hat sich die Debatte um den heuristischen Stellenwert der ›Big Data‹ entzündet. In diesem Zusammenhang warnen einflussreiche Theoretiker wie Lev Manovich und Danah Boyd daher vor einem »Digital Divide«, der das kollektive Wissen respektive die Metadaten der Kollektive einseitig verteilt und zu Machtasymmetrien zwischen Forschern innerhalb und außerhalb der Netzwerke führen könnte. Manovich kritisiert den limitierten Zugang zu sozialstatistischen Daten, der von vornherein eine monopolartige Regierung und Verwaltung von Zukunft schafft: »[…] only social media companies have access to really large social data – especially transactional data. An anthropologist working for Facebook or a sociologist working for Google will have access to data that the rest of the scholarly community will not.« (Manovich 2012: 461) Dieses ungleiche Verhältnis festigt die Stellung der sozialen Netzwerke als computerbasierte Kontrollmedien, die sich das kollektive Wissen und das kollektive Gedächtnis entlang einer vertikalen und eindimensionalen Netz-
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kommunikation aneignen: (1) Sie ermöglichen einen kontinuierlichen Fluss von Daten (digitale Fußabdrücke), (2) sie sammeln und ordnen diese Daten und (3) sie etablieren geschlossene Wissens- und Kommunikationsräume für Experten und ihre Expertisen, welche die kollektiven Daten zu Informationen verdichten und interpretieren. Das rechnerbasierte Wissen der kollektiven Gedächtnisräume durchlaufen folglich unterschiedliche mediale, technologische und infrastrukturelle Schichten, die hierarchisch und pyramidal angeordnet sind: »The current ecosystem around Big Data creates a new kind of digital divide: the Big Data rich and the Big Data poor. Some company researchers have even gone so far as to suggest that academics shouldn’t bother studying social media data sets – Jimmy Lin, a professor on industrial sabbatical at Twitter argued that academics should not engage in research that industry ›can do better‹.« (Boyd/Crawford 2011: 1) Hier zeigt sich aber ein Grundwiderspruch. Einerseits werden die Beiträger/Beiträgerinnen in Open-Call-Strukturen zur Teilnahme aufgefordert, andererseits werden sie weitreichend von der entscheidungsrelevanten Teilhabe ausgeschlossen, weil ihnen die technische Infrastruktur eine vertiefende Mitgestaltung versagt. Hier ist also die Mächtigkeit in die technische Struktur und die asymmetrische Anordnung von Front-End und dem Back-End verlagert. Das Big-Data-Phänomen ist folglich in jedem Fall technisch und medial bedingt, da seine Erfassung von der Entwicklung der Storage-Systeme, der Server- und Netzwerkinfrastruktur sowie der Bandbreitenkapazität beim Prozessieren der Daten abhängt. Auf den ersten Blick scheint Big Data wie ein engmaschiges Netzwerk zur lückenlosen Herstellung von Datengewissheit zu funktionieren. Denn der Hunger, Big Data permanent mit anderen Datensätzen zu korrelieren, scheint grenzenlos, wenn auf Bestandsdaten rekurriert wird, die ursprünglich in anderen Gebrauchskontexten (Search Query, GPSTracking u.a.) erhoben wurden. Nach derzeitigen Berechnungen verzehnfacht sich alle fünf Jahre das weltweite Datenvolumen (Zacher 2012), was dazu führt, dass zur Verarbeitung dieser gigantischen Datenmengen permanent neue Supercomputer (High Performance Computing) mit leistungsstarken Softwarearchitekturen und mit verkürzten Bearbeitungszeiten entwickelt werden müssen, um mit der rasanten Produktion der Datenmengen Schritt zu halten. Die im Rahmen der Big-Data-Verarbeitung auftretende Medienspezifik der automatisierten Echtzeitanalyse (Realtime-Processing) und der rasante Import großer Datenmengen veranschaulichen auf den ersten Blick nur Häufigkeiten und Korrelationen zwischen Parametern. Diese Engführung wirft die Problematik auf, dass die Korrelationsanalyse zum Maßstab aller Dinge geworden ist und damit andere heuristische Ansätze wie etwa das kausale Erklärungsmodell in den Hintergrund drängt. Im Unterschied zum korrelativen Auf bau von Daten und Informationen hat die kausale Interpretation den Vorteil, dass sie sich verifizieren oder falsifizieren lässt. Auch hier zeigt sich die Unzuverlässig-
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keit der Echtzeitanalyse, die bei der Analyse der Suchverfahren das Boolsche Retrieval nutzt und für die Abwicklung komplexer Suchen nur wenige logische Operatoren zur Verfügung hat. Der immense Zuwachs an Big Data zeigt, dass die Aufzeichnung, Speicherung, Analyse und bildliche Repräsentation der großen Datenmengen mit Hilfe der verfügbaren Computertechnologie und des klassischen Datenbankmanagements an ihre Grenzen stoßen, was dazu führt, dass Big Data auf kein festes Datenbankschema (vgl. den Datenbank-Typus NoSQL) mehr festgelegt werden kann und daher zwischen Wissen und Wissensentzug oszilliert. Um den drohenden Wahrnehmungsverlust des drastischen Daten- und Informationswachstums rechnerisch abzuwenden, müssen die Datenanalysemethoden, -prozesse und -verfahren sowie die technische Infrastruktur kontinuierlich erweitert werden. Das Schwanken zwischen Wissen und Nicht-Wissen hat nicht nur technologisch-infrastrukturelle Gründe, sondern entsteht auch grundsätzlich bei der Erhebung der Big Data, da große Datenmengen qualitativ unschärfer werden und die verfügbaren Daten aus uneinheitlichen Erhebungsmethoden zusammengesetzt werden.
5. A LGORITHMEN IM B ACK -E ND : D AS »F ACEBOOK D ATA TE AM « »Every day, people are breaking up and entering into relationships on Facebook. When they do, they play songs that personify their mood. With Valentine’s Day just around the corner, we looked at the songs most played by people in the U.S. on Spotify as they make their relationships and breakups ›Facebook official‹.« FACEBOOK D ATA TEAM 2012
In öffentlichen Debatten ist bereits viel spekuliert worden, auf welche Weise soziale Netzwerke die Zukunft ihrer Mitglieder vorhersehen und planen können (Abb. 9). Diese Frage kann jedoch ohne Rekurs auf die Dominanz der angewandten Mathematik und der Medieninformatik nicht ausreichend beantwortet werden. Denn beide Praxis- und Wissensfelder haben mit ihren stochastischen Analysetechniken von Nutzeraktivitäten die digitale Vorhersagekultur der Sozialen Medien im Web 2.0 erst ermöglicht, die es früher in diesem Ausmaß und mit diesem Machtanspruch noch nicht gegeben hat.
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Abbildung 9: Social Media Research, Twitter’s Big Data
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In der medialen Öffentlichkeit firmieren soziale Netzmedien wie Facebook, Twitter und Google+ als Spiegel der allgemeinen Wirtschaftslage (Bollen/ Mao/Zeng 2011: 1-8), als prognostischer Indikator von nationalen Gefühlsschwankungen (Bollen et.al. 2011: 237-251) und künftiger Multiplikator von kollektiven Sinnstiftungen (Dillon-Scott 2012). In diesem Sinn bilden sie selbst Schauplätze einer populären Aufmerksamkeit und popularisierender Diskurse, die ihnen bestimmte Außenwirkungen – etwa als ein Gradmesser der konjunkturellen Entwicklung der Wirtschaft und der sozialen Wohlfahrt – zuschreiben (Driscoll 2012). Welche Musik werden eine Milliarde Menschen in Zukunft hören, wenn sie frisch verliebt sind und welche Musik werden sie hören, wenn sie gerade ihre Beziehung beendet haben? Diese Fragestellungen hat das »Facebook Data Team« im Jahr 2012 zum Anlass genommen, um die Daten von über einer Milliarde Nutzerprofilen (mehr als zehn Prozent der Weltbevölkerung) und sechs Milliarden Songs des Online-Musikdienstes Spotify mittels einer korrelativen Datenanalyse auszuwerten, die den Grad des gleichgerichteten Zusammenhangs zwischen der Variable »Beziehungsstatus« und der Variable
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»Musikgeschmack« ermittelt (Facebook Data Team 2013). Diese Prognose über das kollektive Konsumverhalten basiert auf Merkmalsvorhersagen, die mittels Data Mining in einer simplen Kausalbeziehung ausgedrückt werden. Unter Leitung des Soziologen Cameron Marlow erforschte die aus Informatikern, Statistikern und Soziologen bestehende Gruppe das statistische Beziehungsverhalten der Facebook-Nutzer und veröffentlichte am 10. Februar des gleichen Jahres zwei Hitlisten von Songs, die Nutzer hörten, als sie ihren Beziehungsstatus änderten und nannte sie lapidar »Facebook Love Mix« und »Facebook Breakup Mix«.7 Die Forschergruppe im Back-End 8 destillierte aus der statistischen Ermittlungsarbeit der »Big Data« (Wolf et.al. 2011: 217-219) nicht nur eine globale Verhaltensdiagnose, sondern transformierte diese auch in eine suggestive Zukunftsaussage.9 Sie lautete: Wir Forscher im Back-End bei Facebook wissen, welche Musik eine Milliarde Facebook-Nutzer am liebsten hören werden, wenn sie sich verlieben oder trennen.10 Unter dem Deckmantel des bloßen Sammelns und Weitergebens von Informationen etabliert die Forschergruppe des »Facebook Data Teams« eine Deutungsmacht gegenüber den Nutzern, indem sie die Nutzer im automatisch generierten Update-Modus »What’s going on?« auffordert, regelmäßig Daten und Informationen zu posten. Die Zukunftsaussagen des »Facebook Data Teams« sind jedoch nur vordergründig mathematisch motiviert und verweisen auf den performativen Ursprung des Zukunftswissens. Trotz fortgeschrittener Mathematisierung, Kalkülisierung und Operationalisierung des Zukünftigen bezieht das Zukunftswissen seine performative Macht immer auch aus Sprechakten und Aussageordnungen, die sich in literarischen, narrativen und fiktionalen Inszenierungsformen ausdifferenzieren können. In diesem Sinne sind die Bedeutungen im Möglichkeitsraum der Zukunft nicht eindeutig determiniert, sondern erweisen sich vielmehr als ein aggregatähnliches Wissen, dessen konsenserzwingende Plausibilität sich nicht in Wahrheitsdiskursen und epistemischen Diskursen erschöpft, sondern auch von kulturellen und ästhetischen Kom7 | Unter dem Titel »Facebook Reveals Most Popular Songs for New Loves and Breakups« äußerte sich »Wired« begeistert über die neuen Möglichkeiten des Data Minings: www. wired.com/underwire/2012/02/facebook-love-songs/ (letzter Zugriff: 10.02.2013). 8 | Das auf dem Server installierte Programm wird bei Client-Server-Anwendungen mit dem Terminus »Back-End« umschrieben. Das im Bereich der Client-Anwendung laufende Programm wird als »Front-End« bezeichnet. 9 | Vgl. Dannah Boyds kritische Kontextualisierung der Datenauswertung: www.ze phoria.org/thoughts/archives/2009/12/29/race_and_social.html (letzter Zugriff: 10.02.2013). 10 | Die kollektive Figur »Wir« meint in diesem Fall die Forscher im Back-End-Bereich und hat futurologische Verschwörungstheorien angeheizt, die das Weltwissen in den Händen weniger Forscher vermuteten.
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munikationsprozessen und Erwartungshaltungen (patterns of expectation) gestützt wird, die Imaginäres, Fiktives und Empirisches in Beziehung setzen. Facebook markiert nicht nur die zeitgemäßen Anforderungen für Subjektivierungsprozesse in der Ära der neuen Vernetzungskultur, sondern eine im Back-End-Bereich angesiedelte Wissenstechnik, die auf der Grundlage der Daten und Informationen der Facebook-Mitglieder bestimmte Registrierungs-, Klassifizierungs-, Taxierungs- und Ratingverfahren entwickelt. In unternehmerischer Hinsicht kann Facebook als eine konzernkontrollierte soziale Medienplattform verstanden werden (Leistert/Röhle 2011: 9). Darunter versteht man ein digitales Anwendungssystem, das seinen Nutzern/ Nutzerinnen Funktionalitäten zum Identitätsmanagement – zur Darstellung der eigenen Person in Form eines Profils zur Verfügung stellt und darüber hinaus die Vernetzung mit anderen Nutzern – und damit die Verwaltung eigener Kontakte – ermöglicht. Das Profiling wird von Facebook zur prognostischen Verhaltensanalyse eingesetzt (Klaasen 2007: 34-39). Beim Profiling handelt es sich um eine Wissenstechnik, bei der die Mitglieder in statistische Kollektiva eingeteilt werden. Grundlage dieser Datenaggregation sind demografische, sozio-ökonomische und geografische Faktoren. Um personenzentriertes Wissen über die User/Userinnen herzustellen, offeriert die Social Software von Facebook standardisierte E-Formulare für Subjekte, die sich in Selbstbeschreibungs-, Selbstverwaltungs-, und Selbstauswertungsprozeduren eigenständig organisieren sollen. Diese elektronischen Formulare sind tabellarisch angeordneten Rastergrafiken, die aus logisch vorstrukturierten Texten mit Slot- und Filler-Funktionen bestehen und die eine einheitliche, standardisierte Inventarisierung und Verwaltung und Repräsentation des Datenmaterials ermöglichen sollen. Die grafische Rasterform und die determinierende Vereinheitlichung der Tabellenfelder etablieren Standards der informationellen Datenverarbeitung: Sie machen aus den personenzentrierten Darstellungs- und Erzählformen des Front-End-Bereichs einheitliche Informationsbausteine, die der formallogischen Verarbeitung der Datenbanksysteme im Back-End-Bereich zugeführt werden. Bereits beim Anlegen eines Accounts haben sich künftige Facebook-Mitglieder einer vielschichtigen Prozedur der Wissenserfassung zu unterwerfen. Bei der Erstanmeldung auf der Internetplattform Facebook werden die Systemnutzer/Systemnutzerinnen aufgefordert, ihre persönlichen Daten in standardmäßig vorgegebene Erfassungsmasken und dokumentspezifische Datenfelder, die gleichzeitig als Orientierungsinstanzen fungieren, einzutragen. Die Darstellung von Profilen in Tabellenform signalisiert Überblick und liefert ein einfaches Raster der Personenbeschreibung, das zum gemeinsamen Referenzpunkt der Betrachtung, Beurteilung und Entscheidung werden kann (vgl. zur Veralltäglichung von Testverfahren Lemke 2004: 119-124). Der kategoriale Ordnungsanspruch der Selbstthematisierung wird im Enduser/Enduserin-
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nen-Interface nicht sprachlich, sondern grafisch vollzogen. Das elektronische Datenblatt wird somit zu einer Instanz, welche die Transparenz des Überblickes herstellt und Entscheidungen standardisiert. Mit seinen vorstrukturierten Applikationen erstellt Facebook spezifische Gestaltungsimperative der Wissenserfassung und -repräsentation persönlicher Daten. Elektronische Formulare stellen Formansprüche, die zunächst die Autoren/Autorinnen betreffen. So können bestimmte Einträge nur auf eine bestimmte Art und Weise vorgenommen werden. Die grafische Autorität setzt sich sowohl aus qualitativen als auch quantitativen Kriterien zusammen und diktiert nicht nur die inhaltlichen Kategorien der Selbstbeschreibung, sondern fordert auch das vollständige Ausfüllen des Formulars, mit welchem erst der Vorgang abgeschlossen werden kann. Um im Raster der E-Formulare verortet werden zu können, muss lineares und narratives Wissen in Informationsbausteine zerlegt werden. Diese formimmanenten Regeln begründen die Autorität des E-Formulars. Es handelt sich jedoch um eine brüchige und instabile Autorität der grafischen und logischen Struktur, die im Formulargebrauch permanent unterwandert werden kann (etwa durch das Erstellen von FakeProfilen). Die kulturelle Einbettung der Kompilatoren/Kompilatorinnen in historisch bedingte und sozial differenzierte Lektüre-, Schreib-, Erzähl- und Wahrnehmungspraktiken relativiert die expliziten Anweisungen, Belehrungen und Direktiven der formimmanenten Regelfassung des E-Formulars. Es gibt also unter allen Umständen eine Vielzahl taktischer Möglichkeiten, ihr formimmanentes Diktat zu unterlaufen. Die Praktiken der Kompilation stellen das Gesamtschema der elektronischen Formulare in Frage und können somit widersprüchliche Dateneinträge produzieren. Es gibt jedoch eine weitere Ausprägung des Formulargebrauchs. Sie bietet die Basis stillschweigender Akzeptanz des Formulars als einer adäquaten Form der Aufzeichnung und Darstellung von Daten und Informationen. Die Autorität der elektronischen Wissenserfassung und -repräsentation hängt folglich auch von der Bereitschaft der Enduser/Enduserinnen ab, die Benutzung der elektronischen Formulare als neutral, evident und selbsterklärend anzuerkennen. Einer solchen Akzeptanz liegen historische Lese- und Schreibgewohnheiten (Buchhaltung, Prüfungs- und Testverfahren) zugrunde, die dazu führen, dass die elektronischen Formulare als gebräuchliche und geläufige Wissensmanuale der empirischen Datenermittlung wiedererkannt werden. Insofern stützt sich die Formautorität elektronischer Formulare weniger auf die individuelle Autorisierung des Dokumentes durch Institutionen, sondern ist von der kulturellen Akzeptanz der Form abhängig. Die fraglose Überzeugungskraft des Formulars basiert wesentlich auf historisch gemachten Erfahrungen mit dieser Form, d.h. dem Wiedererkennen der Form. Mit der Slot- und Filler-Funktion des Status Update und seiner Aufforderung »What’s on your mind?« wird zusätzlich eine restriktive Wirkung auf
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narrativ-literarische Selbstbeschreibungen ausgebildet. Anhäufungen von Namen, Halbsätzen und Daten dominieren die Profilraster und bilden Abbreviaturen, die letztlich stets auf andere Texte und Kontexte verweisen. Die persönlichen Angaben, Statusmeldungen und Kommentare sind denn auch in weiten Teilen enumerativ. Sie referieren Daten, kumulieren Fundstücke und bieten nur selten stringente Narrative. Die Tabellenform der elektronischen Profile trennt die einzelnen Textbausteine durch ein Strichnetz grafisch ab, isoliert die Texte und weist ihnen mittels Zeilen und Spalten spezifische Leitkontexte zu. Die E-Formulare machen mehr als einen bloßen Kontext der Information verfügbar, denn sie setzen ein Raster der Erfassung persönlicher Merkmale ins Werk. Mit diesem Rasterwerk können die Profile miteinander verglichen werden und einzelne Parameter bestimmten Suchanfragen zugeordnet werden. Die Raster biografischer Wissenserfassung erheben also auch einen Anspruch auf universale Geltung. Autorität der Form meint in diesem Zusammenhang, dass das Frageprotokoll und der Auskunftgeber in einem hierarchischen Bezugsrahmen zueinander positioniert sind: Das Dokument soll als solches unveränderlich bleiben und von jedem Einzelnen beliebig oft benutzt werden können. Durch das schriftlich vorformulierte und grafisch strukturierte Frageschema hat sich die Autorität in den Bereich der Form verschoben, d.h. dass die formimmanente Festlegung der Reihenfolge und die Art und Weise der Fragen einen kommunikativen Rahmen absteckt. Das elektronische Formular kann Potenziale formaler Autorität entwickeln, wenn der Umgang mit ihm streng geregelt wird und Verstöße sanktioniert werden. Seine formale Strenge gewährleistet, dass das E-Formular geplante Informationen vorhersehbar übertragen kann. Die immanente Formautorität markiert jedoch keinen feststehenden Status, sondern bleibt anfällig für das Entstehen einer informellen Regelausweitung, die mittels der kulturellen Praktiken im Bereich der Anwendung entsteht. Die Formulare der Wissenserfassung zielen zwar darauf ab, den Zufluss an Daten schon im Vorfeld zu standardisieren und zu kategorisieren, doch je weiter sich das Raster in die Grafik der Formalität zurückzieht, d.h. nicht explizit wird, desto erfolgreicher scheint es bei der Hervorbringung intimer Bekenntnisse zu sein. Es sind die scheinbar ›zwanglosen‹ Datenfelder, die informellen Spielraum zur persönlichen Gestaltung aufweisen und zur Führung individueller Listen und Tabellen einladen und Gelegenheit zu persönlichen Bekenntnissen und intimen Enthüllungen bieten. Vor diesem Hintergrund vermitteln die ›freien‹ und ›ungezwungenen‹ Kommunikationsräume auf Facebook eine äußerst tragfähige Motivation zur eigenständigen Wissensproduktion. Der Rückzug des Rasters in den informellen Bereich bewirkt also nicht per se die Desorganisation der Wissensregistraturen. Im Gegenteil: Die Invididualisierung der Datenkummulation suggeriert eine ›dezentrale‹, ›herrschaftslose‹ und letztlich ›wahrhaftige‹ Praxis der
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Wissensermittlung und ›belebt‹ in vielen Fällen die Bereitschaft des Subjekts zur Selbstauskunft. Im Rezeptionsmodus seiner Mitglieder – aus der Sicht des Front-End – markiert Facebook den Aufstieg einer neuen Subjektkultur, die sich vor allem im Erwerb von kultureller und sozialer Distinktion herstellt: »Entsprechende Definitionen von Zugehörigkeit und Ausschlussstrategien und das Verhandeln der Werte und Normen sowie der davon abgeleiteten Machtrelationen definieren nicht nur die jeweiligen ›Außengrenzen‹ derselben, sondern auch die Auseinandersetzungen um deren Erhalt.« (Lummerding 2011: 209) Selbstredend zählen Distinktionsmechanismen zum Grundbestand sozialer Organisation. Mit dem Aufstieg von konzernkontrollierten sozialen Medien wie etwa Facebook werden Distinktionen aber rechnerbasiert mit Hilfe algorithmischer Verfahren generiert. Die Prozeduren ihrer Bereitstellung, Auswahl, Verteilung und Archivierung bleiben jedoch für die Mitglieder von Facebook nicht nachvollziehbar und werden nicht einsichtig gemacht. Die rechnerbasierte Datenverarbeitung der von den Usern/Userinnen generierten Daten und Informationen vollzieht Facebook im Back-End, das ist ein Rechenraum hinter dem für die User/Userinnen zugänglichen Interface der grafischen Benutzeroberfläche, der ausschließlich der unternehmensinternen Datenerhebung dient. Die Nutzer haben folglich nur eine ganz vage Vorstellung davon, welche Arten von Informationen gesammelt und wie sie verwendet werden. So gehen die Formen der Personalisierung zwar auf Informationen zurück, die zwar von den Mitgliedern selbst ausgehen, aber der Prozess der Vorhersage und des Anbietens von Inhalten, die auf vergangenem Verhalten basieren, ist eine Push-Technologie, welche die Mitglieder von Beteiligung und Einflussnahme konsequent ausschließt. In diesem Zusammenhang möchte ich folgende Fragestellungen verorten: Wie berechnet die Soziale Netzwerkseite Facebook die Zukunft seiner Mitglieder? Welche Verfahren der Registrierung, der Berechnung, der Auswertung, der Adressierung verwendet sie zur Herstellung prognostischen Wissens? Wie werden diese Verfahren eingesetzt, um prognostische Modellierungen über das Verhalten von Usern/Userinnen herzustellen? Facebook nutzte als erste große Social Community eine eigens entwickelte Social Media Targeting Technology und ermöglichte somit das Einblenden von personalisierter Werbung. Diese Technologie kombiniert mehrere Targeting-Strategien und integriert Verfahren der Geolokation, die IP-Adressen ihrer geografischen Herkunft zuordnet, mit Verfahren der prognostischen Verhaltensanalytik. Hier werden Messdaten aus dem Surfverhalten mit Befragungs- oder Registrierungsdaten der eingeloggten Mitglieder kombiniert. Das Geschäftsmodell von Facebook besteht also in einem personalisierenden Übereinstimmungsverfahren, einem Adressierungsverfahren, das Werbeein-
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schaltungen von ähnlichem Surfverhalten kombiniert: elektronische Personalisierung durch Target Marketing: Das Ziel einer Plattform wie Facebook ist es also, die Bedingungen zu schaffen, die der Produktion eines anhaltenden Kommunikationsflusses am dienlichsten sind, der sowohl Verhaltensinformationen wie den Rohstoff für die Sentimentanalyse generiert. Die Sentimentanalyse ist ein Teil des Marketinginstruments der predictive analytics die mit Hilfe vergangenen Verhaltens und komplexer Algorithmen das künftige Verhalten von Kundensegmenten auf eine Weise antizipiert, wie es sich mit Hilfe der menschlichen Intuition nicht exakt vorhersagen lässt. Das Ziel der predictive analytics ist gewissermaßen präventiv wie produktiv: Risiken sollen bewältigt werden, bevor sie auftreten oder ernste Formen annehmen, während gleichzeitig die Verkäufe maximiert werden. (Andrejevic 2011b: 41).
Die von Facebook eingesetzten Analytic-Tools untersuchen den Datenverkehr mit Hilfe von Traffic-Analyse, Clickstream-Analyse und Webtracking. In diesem Zusammenhang untersuchen serverbasierte Dateianalysen mit Hilfe eines fortlaufenden Protokolls alle Aktivitäten der User/Userinnen. Anfänglich wurden Protokolldienste zur Aufzeichnung und Behebung von Fehlern auf Webseiten eingesetzt, später entdeckte man schnell die Möglichkeit, mithilfe dieser Logdatei Ergebnisse zur Beliebtheit der Website, zur Häufigkeit von Seitenabrufen und zur Aktivität der Website-Besucher zu sammeln. Die Logdatei dient Facebook zur Verarbeitung von personenbezogenen Daten zu Marketingzwecken. Diese Verarbeitung geschieht in unterschiedlichen Verarbeitungsschritten, wie z.B. dem Speichern, Ändern, Übermitteln und Nutzen der Daten für andere Zwecke. Um die Nutzungsdaten in Logdateien überhaupt verwenden zu dürfen, muss Facebook darauf achten, dass die Daten anonymisiert vorliegen und keinen Personenbezug aufweisen. Im Marketingbereich ist die Verbindung erhobener Nutzungsdaten mit vorliegenden Bestandsdaten von Kunden von hohem Interesse. Gelingt also die Verbindung von objektiven Verhaltensdaten und demografischen Daten, dann entstehen detaillierte Persönlichkeitsprofile, die es erlauben, Kunden individuell zu adressieren. Ein weiteres digitales Aufzeichnungsverfahren zur Herstellung eines Wissens über das vergangene und künftige Verhalten von Mitgliedern bei Facebook stellt die Cookie-Technologie dar. Angemeldete Nutzer verfügen über aktive Facebook-Cookies, die zur Identifikation ihrer Nutzernummern und Erstellung ihres sozialen Kontexts des Plug-ins benutzt werden. Cookies sind kleine Textdateien, die von Servern auf der Festplatte des Besuchers erzeugt werden können, wenn dessen Browser auf eine Seite zugreift. Jedes Mal, wenn ein Online-Besucher zu Facebook zurückkehrt, kann der Server, der den Cookie erzeugt hat, prüfen und lesen, was zuvor in die Datei geschrieben wurde,
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z.B. welche Seiten bei der letzten Anwendersitzung aufgerufen wurden. Auf der einen Seite versuchen die Algorithmen der Sozialen Netzwerkseiten festzulegen, was in unserem Leben relevant ist und was weniger relevant ist: Sie geben uns Ratschläge und treffen für uns Wahl- und Handlungsentscheidungen, um auf unser Verhalten einzuwirken. Ein Algorithmus ist eine Handlungsanweisung zum Lösen einer Aufgabe. Seine Grundlage sind mathematische Sätze, die aus Zahlen und Formeln bestehen. Diese schaffen nicht nur einen interpretatorischen Rahmen der Ausdeutung eines bestimmten Verhaltens, sondern etablieren einen technisch determinierten Referenz- und Präferenzrahmen, in den hinein wir uns mit unserem Leben entwerfen. Heute zählen Algorithmen zur digitalen Kulturtechnik. Mit ihnen finden wir »Freunde« und soziale Beziehungen (vgl. Walther et al. 2008: 531-549). Sie scheinen unsere Bedürfnisse zu kennen und haben sich mit unserer Wunschstruktur verlinkt. In diesem Sinne haben sich heute Algorithmen für alle möglichen Bedürfnisse ausdifferenziert: Auf Facebook gibt es einen Freundschafts-Algorithmus, einen Beziehungs-Algorithmus, einen EinkaufsAlgorithmus und natürlich einen umfassenden Lifestyle-Algorithmus. Algorithmen entscheiden auch über unsere Kreditwürdigkeit und entwerfen eine Topografie der Ausgrenzung. Der im Jahr 2009 von den Facebook-Entwicklern eingeführte Like-Button ermöglicht es Facebook-Usern/Userinnen mit einem One-Click-Befehl ein positives Feedback zu den Aktivitäten anderer User/ Userinnen (Links, Statusmeldungen, Kommentare) zu signalisieren. Der Like-Button ist ein zentrales Social Plug-in der Kommunikation auf Facebook und steht für nicht nur soziale, sondern auch für eine effektive Kommunikation. Denn keine andere Funktion ermöglicht den Usern/Userinnen eine derart einfache Möglichkeit zur niedrigschwelligen und zeitsparenden Zustimmung. In der Perspektive der Back-End-Strategie fungiert der Like-Button aber in erster Linie als ein sehr effektiver Datensammler und funktioniert wie ein kleines Tracking Tool. So ordnet der Like-Button die durch ihn generierten Daten dem personalisierten Profil zu und legt sie dort als individuelle Präferenz ab. Seit 2010 ist es möglich, den Like-Button nicht nur als »Share-Icon« zu benutzen, sondern er wurde auch auf externen Websiten implementiert, um bestimmte Inhalte zu liken (vgl. Gerlitz 2011: 102). Für Facebook-Nutzer/ Nutzerinnen, die mit dem Like-Button verlinkte Webseiten besuchen und zugleich bei Facebook eingeloggt sind, wird ein zusätzliches Protokoll mit Hilfe der oben beschriebenen Logdatei erstellt. Mit dem externen Like-Button konnte sich eine neue »Like Economy« (Carter 2011) etablieren, die folgende Prozeduren der Datenerfassung und -verarbeitung versammelt. Alle von den Usern/Userinnen getätigten Aktivitäten in Bezug auf diesen Link können auf die jeweilige URL zurückverfolgt werden. Die Facebook-User/Userinnen sind nur Mittel zum Zweck, um sich den Datenverkehr von Usern/Userinnen, die selbst kein eigenes Facebook-Profil besitzen, erschließen zu können. Denn mit
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Hilfe von Cookies der Like-Buttons auf den externen Websites kann auch das gesamte Web-Nutzungsverhalten von Nicht-Mitgliedern erfasst werden. Der externe Like-Button kann folglich als eine transversale Wissenstechnik verstanden werden, welche die Datenverkehrsanalyse auf endlich erweiterbare Websites erweitert. Somit generieren digitale Aufzeichnungs-, Speicher- und Kontrolltechnologien wie Protokolldateien, Cookies und Like-Buttons personalisierte und kollektive Datenarchive für Facebook. Zur kommerziellen Bewirtschaftung von Online-Profilen und Online-Datenkollektiva müssen diese verstreuten Datensammlungen schließlich nur noch zusammengesetzt werden. Als Medien der digitalen Spurensicherung können die erwähnten Aufzeichnungs-, Speicher- und Verarbeitungsverfahren als Fahndungstechnologien verstanden werden, die sowohl zur personalisierten als auch zur kollektiven Datenaggregation eingesetzt werden. Das Social Media Marketing bedient sich aller genannten Technologien und instrumentalisiert die personalisierenden Verfahren für das Marketing im Endverbraucherbereich. Die kollektive Datenverarbeitung kann aber auch zur Erstellung von längerfristigen Trendanalysen genutzt werden. Die oben erwähnten Studien des »Facebook Data Team« über kollektive Gewohnheiten und zukünftiges Verhalten von großen Gruppen versucht, durch Vereinfachung komplexe Sachverhalte auf einen Blick (Hitlisten, Weltkarten u.ä.) darstellbar zu machen. Es handelt sich um popularisierende Zukunftsnarrative, die eine verhaltensmoderierende, repräsentationale und rhetorische Funktion übernehmen und die Zukunftsforschung als unterhaltsame und harmlose Tätigkeit herausstreichen sollen. Um in diesem Sinn glaubwürdig zu sein, muss die futurische Epistemologie immer auch auf eine gewisse Weise überzeugend in Szene gesetzt werden, sie muss theatralisch überhöht und werbewirksam inszeniert und erzählt werden, damit sie Aufmerksamkeit generieren kann. Insofern ist den futurischen Aussageweisen immer auch ein Moment der prophetischen Selbst- und Wissensinszenierung inhärent, mit dem die wissenschaftlichen Repräsentanten den gesellschaftsdiagnostischen Mehrwert der Sozialen Netzwerke unter Beweis stellen wollen (vgl. Dorn 2010: 583-602). Soziale Netzmedien agieren heute als Global Player der Meinungsforschung und der Trendanalyse und spielen eine entscheidende Rolle bei der Modellierung von Zukunftsaussagen und futurologischer Wissensinszenierung. Die Glücksforschung nutzt heute vermehrt die Sozialen Netzwerke zur Auswertung ihrer Massendaten. Innerhalb der Big-Data-Prognostik stellt die sogenannte »Happiness Research« eine zentrale Forschungsrichtung dar. Doch die sozioökonomische Beschäftigung mit dem Glück wird überwiegend unter Ausschluss der akademischen Öffentlichkeit durchgeführt. In diesem Zusammenhang warnen einflussreiche Theoretiker wie Lev Manovich und Danah Boyd daher vor einem »Digital Divide«, der das Zukunftswissen ein-
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seitig verteilt und zu Machtasymmetrien zwischen Forschern innerhalb und außerhalb der Netzwerke führen könnte. Manovich kritisiert den limitierten Zugang zu sozialstatistischen Daten, der von vornherein eine monopolartige Regierung und Verwaltung von Zukunft schafft: »[…] only social media companies have access to really large social data – especially transactional data. An anthropologist working for Facebook or a sociologist working for Google will have access to data that the rest of the scholarly community will not.« (Manovich 2012: 464) Dieses ungleiche Verhältnis festigt die Stellung der Sozialen Netzwerke als computerbasierte Kontrollmedien, die sich Zukunftswissen entlang einer vertikalen und eindimensionalen Netzkommunikation aneignen: (1) Sie ermöglichen einen kontinuierlichen Fluss von Daten (digitale Fußabdrücke), (2) sie sammeln und ordnen diese Daten und (3) sie etablieren geschlossene Wissens- und Kommunikationsräume für Experten und ihre Expertisen, welche die kollektiven Daten zu Informationen verdichten und interpretieren. Das Zukunftswissen durchläuft folglich unterschiedliche mediale, technologische und infrastrukturelle Schichten, die hierarchisch und pyramidal angeordnet sind: »The current ecosystem around Big Data creates a new kind of digital divide: the Big Data rich and the Big Data poor. Some company researchers have even gone so far as to suggest that academics shouldn’t bother studying social media data sets – Jimmy Lin, a professor on industrial sabbatical at Twitter argued that academics should not engage in research that industry ›can do better‹.« (Boyd/Crawford 2011: 9) Diese Aussagen verdeutlichen – neben der faktisch gegebenen technologisch-infrastrukturellen Abschottung des Zukunftswissens, dass das strategische Entscheidungshandeln im Back-End-Bereich und nicht in der Peer-to-Peer-Kommunikation11 angelegt ist. Die Peers können zwar in ihrer eingeschränkten Agency die Ergebnisse verfälschen, Fake-Profile anlegen und Nonsens kommunizieren, besitzen aber keine Möglichkeiten der aktiven Zukunftsgestaltung, die über taktische Aktivitäten hinausgehen. Warum ist eigentlich die Erforschung des Glücks für die Gestaltung des Zukunftswissens so relevant geworden? Die Dominanz der Glücksforschung hat zwei historische Gründe (vgl. Frey/Stutzer 2002: 402). Seit der griechischen Antike wird dem Glück eine zentrale Stelle im menschlichen Leben eingeräumt und nach Aristoteles besteht das Ziel allen menschlichen Tuns darin, den Zustand der Glückseligkeit zu erlangen.12 Ein weiterer maßgeblicher Diskursstrang ist der seit Jeremy Bentham einflussreich gewordene Utili11 | In der Anwendungsverteilung der Peer-to-peer-Netzwerke sind alle angeschlossenen Computer gleichberechtigt und die Peers können Dateien direkt von Peer zu Peer übertragen. 12 | Dieses unveräußerliche Recht des Menschen auf Glück (the pursuit of happiness) nahmen die Vereinigten Staaten von Amerika in die Eröffnungspassage ihrer Unabhängigkeitserklärung auf.
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tarismus der Glücksdiskurse. Mit dem Greatest Happiness Principle entwickelte Bentham die Vorstellung, dass das größte zu erreichende Gut das Streben nach dem größtmöglichen Glück für die größtmögliche Anzahl von Menschen bedinge. An diese sozioökonomische Konzeption des Glücks knüpft die »Happiness Research« an, die Glück nach rationalem Kalkül als individuellen Nutzen interpretiert und in der Hochrechnung von aggregierten Glücksbekundungen das soziale Wohlbefinden berechnet. Eine maßgebliche Spielart der futurologischen Prophetie stellt der seit 2007 eingeführte »Facebook Happiness Index« dar, der anhand einer Wortindexanalyse in den Statusmeldungen die Stimmung der Nutzer sozialempirisch auswertet (Chou/Edge 2012: 117-121). Die Prognosefähigkeit der Sozialen Netzwerke ist davon abhängig, ob es gelingt, die biografisch und demografisch relevanten Daten und Informationen in distinkte und segregierte Bausteine der weiteren Datenverarbeitungen aufzugliedern. Als ein gemischtes Medium muss sich das Profiling zwangsläufig aus heterogenen Repräsentationen zusammensetzen. Es übernimmt das Modell der Prüfung von Persönlichkeitsmerkmalen der älteren Eignungsdiagnostik und macht es zur Sache kollektiver Approbationsleistungen, um seine Wirkungsweisen zu vervielfältigen und zu verstärken. Die Profilbildung enthält Wissenstechniken, die auf binären Unterscheidungen beruhen (z.B. die Geschlechtszugehörigkeit), mit quantitativen Skalierungen operieren (z.B. hierarchische Ranking-Techniken) oder die auf die Erstellung qualitativer Profile abzielen (z.B. das Aufzeigen kreativer Fähigkeiten und Begabungen in ›freien‹ Datenfeldern). Profile reproduzieren einerseits soziale Normen und bringen andererseits auch neue Formen von Individualität hervor. Sie verkörpern den Imperativ zur permanenten Selbstentzifferung auf der Grundlage bestimmter Auswahlmenüs, vorgegebener Datenfelder und eines Vokabulars, das es den Individuen erlauben soll, sich selbst in einer boomenden Bekenntniskultur zu verorten. Auf der Datengrundlage der Status-Updates errechnen die Netzwerkforscher in ihrem ›Gross National Happiness Index‹ (GNH) das sogenannte ›Bruttonationalglück‹ von Gesellschaften. Der Soziologe Adam Kramer arbeitete von 2008 bis 2009 bei Facebook und errechnete gemeinsam mit den Mitarbeitern des Facebook Data Team, der Sozialpsychologin Moira Burke, dem Informatiker Danny Ferrante und dem Leiter der Data Science Research Cameron Marlow, den Happiness Index. Kramer konnte dabei das intern verfügbare Datenvolumen des Netzwerks nutzen. Er evaluierte die Häufigkeit von positiven und negativen Wörtern im selbstdokumentarischen Format der Statusmeldungen und kontextualisierte diese Selbstaufzeichnungen mit der individuellen Lebenszufriedenheit der Nutzer (convergent validity) und mit signifikanten Datenkurven an Tagen, an denen unterschiedliche Ereignisse die Medienöffentlichkeit bewegten (face validity): »›Gross national happiness‹ is operationalized as a standardized difference between the use of positive and negative words, aggregated across days,
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and present a graph of this metric.« (Kramer 2010: 287) Diese von den Soziologen analysierten individuellen Praktiken der Selbstsorge werden mit Hilfe von semantischen Wortnetzen letztlich auf die Oppositionspaare »Glück«/»Unglück« und »Zufriedenheit«/»Unzufriedenheit« reduziert. Eine binär strukturierte Stimmungslage wird schließlich als Indikator einer kollektiven Mentalität veranschlagt, die auf bestimmte kollektiv geteilte Erfahrungen rekurriert und spezifische Stimmungen ausprägt. Die soziologische Massenerhebung der Selbstdokumentationen (self reports) in Sozialen Netzwerken hat bisher die Stimmungslage von 22 Nationalstaaten ermittelt. Mit der wissenschaftlichen Korrelation von subjektiven Befindlichkeiten und bevölkerungsstatistischem Wissen kann der »Happy Index« nicht nur als Indikator eines ›guten‹ oder ›schlechten‹ Regierens gewertet werden, sondern als Kriterium einer möglichen Anpassungsleistung des Politischen an die Wahrnehmungsverarbeitung der Sozialen Netzwerke. In diesem Sinne stellt der »Happy Index« ein erweitertes Instrumentarium wirtschaftlicher Expansion und staatlicher-administrativer Entscheidungsvorbereitung dar. Digitales Targeting ist Bestandteil umfassender Such- und Überwachungstechnologien im Netz: Das Data Mining ist eine Anwendung von statistischmathematischen Methoden auf einen spezifischen Datenbestand mit dem Ziel der Mustererkennung und beschränkt sich nicht auf die in der Vergangenheit erhobenen Daten, sondern erfasst und aktualisiert die Daten bei jedem Besuch im Netzwerk erneut in Echtzeit. Die im Internet geläufigen Surveillance-Tools ermöglichen es dem E-Commerce-Business, die computergestützte Rasterfahndung auf die Allgemeinheit auszuweiten und große Kollektive prognostisch zu modellieren und gezielter zu adressieren. Professionelle und kommerziell orientierte Profiler, die sowohl für das Marketing als auch für die Erstellung von Regierungswissen von »big collectives« (Leadbeater 2010: 31) arbeiten, vollziehen eine Transformation des polizeilichen Wissens und sammeln ihr Wissen über die privaten Gewohnheiten der Bürger/Bürgerinnen mit der Akribie sozialstatistischer Methoden. Soziale Netzwerke sind zu gewichtigen Quellensammlungen für die statistische Massenerhebung aufgestiegen. Ihre gigantischen Datenbanken dienen der systematischen Informationsgewinnung und werden für das Sammeln, Auswerten und Interpretieren von sozialstatistischen Daten und Informationen eingesetzt. In ihrer Funktion als Speicher-, Verarbeitungs- und Verbreitungsmedium von Massendaten haben Soziale Netzwerke umfangreiche Datenaggregate hervorgebracht, die zur Prognose von gesellschaftlichen Entwicklungen herangezogen werden. Das Zukunftswissen der Sozialen Netzwerke steht aber nicht allen Beteiligten gleichermaßen zur Verfügung. Dieses asymmetrische Verhältnis zwischen gewöhnlichen Nutzern und exklusiven Experten wurde in der einschlägigen Literatur als »Participatory Gap« (Taewoo/Stromer-Galley 2012: 133-149)
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diskutiert. Obwohl es eine neue Form des Regierens und Verwaltens nahe legt, wird das von den Sozialen Netzwerken ermittelte Zukunftswissen von der öffentlichen Diskussion ausgeschlossen. Soziale Netzwerke haben der empirischen Sozialforschung neue Möglichkeiten der Quellenerschließung eröffnet. Das Zukunftswissen der Sozialen Netzwerke überlagert zwei Wissensfelder. Die empirische Sozialwissenschaft und die Medieninformatik sind für die Auswertung der medienvermittelten Kommunikation in interaktiven Netzmedien zuständig. Die Sozialforschung sieht in den Kommunikationsmedien der Sozialen Netzwerke eine maßgebliche Kraft für die gesellschaftliche Entwicklung. Ihre Forschungsperspektive auf die informationstechnische Vergesellschaftung in multimedial vernetzten Medien hat ein Koordinatennetz unterschiedlicher Wissensquellen und Wissenstechniken entwickelt, um prognostisches Wissen herzustellen. So wird etwa die Wissensbeschaffung an Suchroboter delegiert, die auf die öffentlichen Informationen zugreifen können. Das Zukunftswissen kann aber auch zur Inszenierung von künftig zu erwartenden Konstellationen der statistischen Datenaggregate verwendet werden, wenn etwa das »Facebook Data Team« bestimmte Ausschnitte seiner Tätigkeiten auf seiner Webseite popularisiert. In diesem Sinne werden statistische Daten und Informationen in die Außenrepräsentation der Sozialen Netzwerke eingebaut und erhalten eine zusätzliche performative Komponente. Das Zukunftswissen durchläuft unterschiedliche Felder der Herstellung, Aneignung und Vermittlung und kann als Verfahren, Argumentation und Integration eingesetzt werden. Vor diesem Hintergrund kann das Zukunftswissen als ein heterogenes Wissensfeld angesehen werden, das empirisches, formal-mathematisches, semantisches, psychologisches und visuelles Wissens in sich aufnimmt. Dementsprechend hat sich eine futurische Episteme an die Sozialen Netzwerke angelagert und eine Vielzahl von Planungs- und Beratungspraktiken hervorgebracht, die als Multiplikatoren eines rechnerbasierten Machtgefälles und einer zeitbasierten Herrschaftsordnung auftreten. Vor diesem Hintergrund müssen Prognosetechniken immer auch als Machttechniken angesehen werden, die sich in medialen Anordnungen und infrastrukturellen Strukturen manifestieren. Das gestiegene Interesse der Markt- und Meinungsforschung an den Trendanalysen und Prognosen der Sozialen Netzwerke verdeutlicht, dass soziale, politische und ökonomische Entscheidungsprozesse hochgradig von der Verfügbarkeit prognostischen Wissens abhängig gemacht werden. Insofern berührt die Plan- und Machbarkeit des Zukunftswissens in unterschiedlichen Gesellschafts-, Lebens- und Selbstentwürfen immer auch die Frage: »Wie ist es möglich, nicht regiert zu werden?«
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6. D AS Z UKUNF TSWISSEN DIGITALER K OLLEK TIVITÄT Nummerische Bestimmungen dienen im Front-End-Bereich auf unterschiedliche Weise der Inszenierung von Gewichtungen, Verhältnissen und Entwicklungen von kollektiver Dynamik. Hier erscheint Kollektivität als analytisch exakte Darstellung ökonomischer Objektivierung und als Grundlage von handlungsund entscheidungsrelevanten Parametern. Harte Faktoren wie die Zahlensumme kollektiver Äußerungen (z.B. mittels Clicks) dienen der Mess-, Erfass- und Steuerbarkeit von Kollektivereignissen: Hier verwandelt sich die Vielfältigkeit von Macht in die Einfältigkeit von Elementarteilchen, die sich in ihrem Massenverhalten als eine messbare Größe darstellen lassen können. Die erfolgreiche Implementierung des Like-Button als Datensammler bei Facebook demonstriert, dass die Sozialen Medien vielschichtige Prozesse der Subjektivierung in Gang setzen und versuchen, auf die Subjekte sozialen Druck auszuüben. Dijck spricht in diesem Zusammenhang von einem »Imperative of Sharing« (2012b: 45). Facebook verkoppelt die Praktiken der Subjektivierung mit dem Erwerb von sozialen Distinktionen, die der Like-Button für alle Freunde sichtbar macht. Die Aktivitäten des »Likens« wirken aber weniger subjektversichernd, sondern verlagern in das Interface ein strukturelles Moment der Desubjektivierung, das den Subjekten permanent Wissen entzieht und an den Back-End-Bereich delegiert. Abbildung 10: Big Data Landscape
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Im Back-End wird das Individuum in Datenaggregate dividiert und in eine kollektive Datenmasse modulierender Auswertungen und Datenbankabfragen eingegliedert (Abb. 10). Hier geht die Macht der Vielen von der Macht der Zahl aus, die als Merkmal von Repräsentativität genommen wird. Die Macht der Zahl ist jedoch mehr als ein hartes Faktum, sondern geht aus der performativen Dynamik ihrer medialen Inszenierungen hervor. Einer der einflussreichsten Versuche, die Macht der Vielen als einen kollektiv geteilten Erfahrungsraum in Szene zu setzen und dramatisch zu überhöhen, stellen simulierte Abstimmungen durch das Click-Voting dar. Sie können automatisch erfolgen oder auch als Wahlentscheidung in Szene gesetzt werden. Diese Abstimmungen werden vordergründig in Ermächtigungsdiskurse eingebettet, indem die Unwiderstehlichkeit der öffentlichen Meinung ausgestellt wird. Ihre häufigste Verwendung finden sie in simulierten Abstimmungen, die eine binäre Wahlmöglichkeit anbieten: »Mag ich«/»Mag ich nicht« lautet die geläufigste Verortung kollektiver Entscheidungen. Hier geht es aber nicht um die Vielfältigkeit der unterschiedlichen Stimmen, sondern darum, eine Wahlentscheidung zu simulieren, die nach dem Modell von pro/kontra und der einfachen Mehrheit aufgebaut ist. Diese Form der Online-Abstimmung, die in den meisten Sozialen Netzwerkseiten zur Sichtbarmachung der sozialen Dynamik implementiert ist, versucht die Verworrenheit der vielen unterschiedlichen Stimmen in Ordnung zu bringen, um die Vielschichtigkeit und Vieldeutigkeit von sozialen Konflikten und Kämpfen in eindeutig lesbare Oppositionsverhältnisse zu übersetzen. Diese gliedern sich stets in zwei Möglichkeiten und werden meist mit »Zustimmung« oder »Ablehnung«, »Sieg« oder »Niederlage« plausibilisiert. Abstimmungen in Voting Enviroments inszenieren zwar ein positives Involvement der Nutzer/ Nutzerinnen, aber meistens wird ihr »Beitrag« in den Massenfeedbacktechnologien oft nur auf ihre Click-Aktivität reduziert. Die Zweiteilung in »pro« und »kontra« ordnet das Feld des Kollektiven und besitzt eine strukturierende Funktion. Die dabei entstehende Dissoziation teilt nicht eine bereits vorhandene Masse an Meinungen in »pro« und »kontra«, sondern setzt diesen Gegensatz als strukturierendes Moment bereits stillschweigend voraus. Im Grunde handelt es sich bei den »Pro«/»kontra«Abstimmungen um eine Verortung des Politischen im Sinne der klassischen »Freund«/»Feind«-Bestimmung wie sie von Carl Schmitt im politischen Denken verortet wurde (vgl. kritisch Derrida 2002: 119). In seiner kritischen Relektüre des »Freund«/»Feind«-Schematismus nach Carl Schmitt verweist Derrida darauf, dass mit diesem nicht (endlich) eine spezifische Gegensätzlichkeit aufgezeigt werden kann, sondern dass dieses Oppositionsverhältnis vor allem das Denken in unüberwindlichen Gegensätzen festhalten soll. Es sind also folglich nicht die dem »Freund«/»Feind«-Schematismus subsumierten Inhalte, die diese Differenz an sich erklären und begründen sollen, sondern es ist in erster
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Linie der Gegensatz selbst, der das Feld strukturiert und ordnet. Die im Social Web geläufigen Oppositionspaare von »Like«/»Dislike« oder »Fan«/»Hate« folgen im Grunde der gleichen Logik der »Freund«/»Feind«-Bestimmung. Es geht darum, Angehörigkeiten und Zugehörigkeiten zu schaffen, Fans und Hater zu identifizieren, Einstellungen zu positionieren, also insgesamt Identitäten herzustellen. Es bleibt aber nach wie vor die Frage offen, wie sich die Vielen auf ihre Macht einigen und inwiefern sich die Vielen überhaupt als Mächtige wahrnehmen. In zahlreichen Kommentaren zur sozialen, kulturellen und politischen Wirkmächtigkeit der Vernetzungskultur 2.0 wird dieses Problem nicht wahrgenommen. Vielmehr geht man in der Argumentation dazu über, die Macht der Vielen als einen Ort der Konstitution von Macht im vorauseilenden Gehorsam anzuerkennen. Bevor also überhaupt gefragt werden kann, in welchem Verhältnis sich die Vielen zur Macht befinden, attestiert man den Vielen auf der Grundlage der großen Zahl eine Mächtigkeit. In dieser Logik firmiert die Macht der Vielen als intrinsischer Effekt der Sozialen Medien. Ihrer Repräsentabilität liegt immer ein technologischer Verarbeitungsschritt zugrunde. In diesem Sinne ist die Macht der Vielen abhängig von den technisch-prozessierenden Möglichkeiten der Vernetzungsmedien des Web 2.0 (vgl. hierzu »Reassembling Society«, Dijck 2012b: 41-44). Damit einhergehend sind Fragen der sozialen Beteiligung, der kreativen Anwendung, der politischen Teilhabe, der kommunikativen Verhandlungen und der ökonomischen Verhältnisse und Verteilungen immer auch in die Operativität der technischen Medien eingelagert. Es ist vor allem die Figur der anonymen Kollektivität im Internet und ihr neuer machtstrategischer Stellenwert, den sie mit Hilfe der Technologien der Vernetzung lukrieren, mit welcher die Grundannahmen der soziologischen Gruppentheorie revidiert werden müssen. Denn die digitale Vernetzungskultur hat die bisher anerkannte Logik kollektiven Handelns radikal in Frage gestellt. Erstens hat das Internet die Kosten für den Zugang und die Bereitstellung von kollektiven Gütern signifikant gesenkt, zweitens haben seine Infrastrukturen anonym, kollaborativ und dezentral vernetzten Projekte ermöglicht – z.B. die Online-Enzyklopädie Wikipedia – und damit relevante Erklärungsversuche der Gruppentheorien erschüttert. Denn bisher ging man in den prominenten Theorien zur Erforschung des Kollektivverhaltens davon aus, dass kleine Gruppen mit hoher wechselseitiger Abhängigkeit jedem Mitglied der Gruppe mehr Motivation liefern, Kollektivgut bereit zu stellen. In seinem soziologischen Klassiker »Die Logik des kollektiven Handelns« von 1964 attestiert Mancur Olson großen Gruppen, die ein gemeinsames Interesse haben, eine strukturelle Trägheit und Unbeweglichkeit beim Erreichen politischer Ziele und stellt die Behauptung auf: »Je größer die Gruppe ist, um so weniger wird sie in der Lage sein, die optimale Menge eines Kollektivgutes bereitzustellen.« (Olson 2004: 33ff.) Im Unterschied zu großen Gruppen, die nur schwach
II. Soziale Medien und digitale Kollektive
organisiert sind und hohe Kosten für Absprachen und Organisation aufwenden müssen, würden seines Erachtens kleine Gruppen politisch einflussreicher und durchsetzungsfähiger agieren können: »Ob es einer Gruppe möglich sein wird, sich ohne Zwang oder äußere Anreize mit einem Kollektivgut zu versorgen, hängt deshalb entscheidend von der Anzahl der Mitglieder in der Gruppe ab; denn je größer die Gruppe, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass der Beitrag des Einzelnen ins Gewicht fallen wird.« (Ebd.) Diese Sichtweise muss vor dem Hintergrund umfassender Studien zu kollaborativen OnlineProjekten revidiert und differenzierter betrachtet werden. Sie zeigen, dass der Erfolg einer Gruppe bei der Produktion von Kollektivgütern nicht alleine von der Größendimension der Gruppe abhängt. Wie die Diskussion um die Wertschöpfung der Internet-Crowds gezeigt hat, dominieren im Internet die großen Gruppen die maßgeblichen Kommunikationsräume. Die Usability der meisten webbasierten Anwendungen (Gratiszugang, Gratissoftware) hat dazu geführt, dass die Beteiligungskosten für die einzelnen User/Userinnen sehr gering sind. Soziale Netzwerke generieren große Gruppen, wenn von ihrer Nutzung prinzipiell niemand ausgeschlossen werden kann, ihre Nutzer/Nutzerinnen untereinander kein rivalisierendes Verhältnis auf bauen und wenn schließlich allen Nutzern/Nutzerinnen unabhängig von der Anzahl der anderen Nutzer/ Nutzerinnen das Kollektivgut in seiner Gesamtheit zur Verfügung stehen kann. Der Einsatz selektiver Anreize durch Gratifikation und Reputation durchdringt heute die internetvermittelte Interaktion großflächig und ermöglicht es auch großen Gruppen, ein gemeinsam angestrebtes Kollektivgüter herzustellen. Die Kollektivitätsforschung von Olson drehte sich hauptsächlich um die Frage der Gruppengröße und versuchte den Nachweis zu führen, dass sich »große Gruppen« nicht effektiv organisieren können. Seine verallgemeinernde Sichtweise muss angesichts der politischen Mobilisierung heterogener Akteure mittels informeller sozialer Netze im Internet relativiert werden (Moy et al. 2005; Malin 2010; Arslan/Tantawi/Sahn 2012). Die Diskussion um den sozialen Stellenwert von »großen Gruppen« ist heute von der Figur der Anonymität in informellen und lose geknüpften Netzwerken abgelöst worden (Boenisch 2012). Die Thematisierung der anonymen Kollektivität und ihrer heterogenen Zusammensetzung wird auch nicht mehr länger mit der Frage der Gruppengröße überlagert respektive synonym gesetzt. Bereits 2002 machte Howard Rheingold in seinem Buch »Smart Mobs: The Next Social Revolution« auf die zu erwartende Logik kollektiven Handelns und die damit zusammenhängende Transformation der gesellschaftlichen Konstituierung von Wissen aufmerksam: »The ›Killer-Apps‹ of tomorrow’s mobile infocom industry won’t be hardware devices or software programs but social practices.« (Rheingold 2002: xii) In seiner Sichtweise kann das Social Net als ein Hyper-Tool aufgefasst werden, das auf einfache Weise dezentral verstreutes Wissen vernetzt und das ›bestmögliche‹ Medium zur Wissensakkumulation kollektiver Praktiken darstellt.
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Als infrastrukturell wirksame Vernetzungstechnologie fungiert es nicht als passives Empfängermedium, sondern als aktives Medium zur Unterstützung von sozialem Kontext, der sich am Sichtbar-Machen sozialer Beziehungen mittels Informationsaustausch, Beziehungsauf bau und Kommunikation orientiert. So modelliert die Public Choice Theory in ihrer netzsoziologischen Erschließung von Kollektiven die Klickströme im Netz als kollektives Handeln und konstruiert mit dem Begriff des Kollektivverhaltens einen zielgerichteten Handlungszusammenhang, der gemeinsam geteilt wird: »With content derived primarily by community contribution, popular and influential services like Flickr and Wikipedia represent the emergence of ›collective intelligence‹ as the new driving force behind the evolution of the Internet.« (Weiss 2005: 16) In diesem Sinne treten die Anwendungsoberflächen des Social Net als Agent Provocateur der Wissensgenerierung auf, dessen technisch-infrastrukturelle Macht sich auf die Datenmaximierung als Rohstoff gründet. Die netzökonomische Erschließung der Sozialen Medien baut überall Kollektive und Kollektivsubjekte auf, um ein soziotechnisches System von gemeinsam geteilten Normen und Werten in den Raum zu stellen. Die kollektiven Praxisformen der Partizipation und der Kooperation sind in den gegenwärtigen Debatten damit weitgehend einer instrumentellen Logik unterworfen. So hat etwa die rezente Governance-Forschung die Online-Enzyklopädie Wikipedia als Studienobjekt entdeckt. Das Hauptinteresse der GovernanceDebatten liegt aber nicht an den nutzergenerierten Inhalten, sondern konzentriert sich auf die entscheidende Frage, ob und inwiefern private Organisationen wie Unternehmen oder politisch-gesellschaftliche Einheiten wie Staat und Verwaltung von den Regelungssystemen und den Peer-Production-Strukturen der Wikipedia lernen können. Die populäre Online-Enzyklopädie ist im Fokus unterschiedlichster Ausverhandlungsdiskurse. Dabei firmiert sie als Studienobjekt oder Versuchsanordnung und ihre Wissensproduzenten/Wissensproduzentinnen werden als Objekt von Industriesoziologie, Verhaltensforschung und Motivationspsychologie wahrgenommen. Wirtschaftsnahe Diskursfelder der Industriesoziologie, der Arbeitswissenschaften, der Betriebswirtschaftslehre, der Organisationstheorie, und der Personalwirtschaft tragen maßgeblich dazu bei, Wikipedia als neues Organisationsmodell zu interpretieren. Zahlreiche Publikationen im Kontext der Governance-Forschung gehen von einem Wandel von hierarchischen Governance-Formen hin zur Governance durch Netzwerke aus. Im Internet gibt es eine Vielzahl von kollaborativen Projekten, die auf die kollektive Produktion und Weiterentwicklung von Wissens und Informationsprodukten ausgerichtet sind. Die populäre Online-Enzyklopädie Wikipedia gilt in unterschiedlichen Bereichen der Governance-Literatur als ein Prestigeprojekt netzförmig organisierter Projektarbeit, egalitärer Verteilungs- und Machtstrukturen und effektiver Kontrollprozeduren. Hierbei firmiert Wikipedia als klassisches Beispiel der peer production, deren Teil-
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nehmer/Teilnehmerinnen selbst sowohl neue Beiträge in das Gesamtsystem integrieren als auch Ergänzungen und Verbesserungen bestehender Beiträge vornehmen. Dabei entscheiden alle Akteure selbst, warum und bei welchen Aufgaben sie mit welcher Intensität mitwirken. Während in der Wirtschaft lange Zeit ein formalistisches, bürokratisches Organisationsideal mit klaren Hierarchien und Rollenzuweisungen präferiert wurde, steht das kollaborative Open-Content-System des Wiki-Prinzips aus arbeitswissenschaftlicher Sicht für die Offenheit des Produktions- und Kommunikationsprozesses, der sich vermeintlich ›barrierelos‹ und jenseits sozialer Asymmetrien vollzieht. Im Rahmen der allgemeinen Reformulierung von Organisationskonzepten wird das Wiki-System und die Wikipedia als ein – in weite Bereiche der Produktion übertragbares – Musterbeispiel einer neuen betrieblichen Organisationsform neuer Arbeitsteilungsprozesse und einer verteilten Wissensproduktion gesehen, die auf flexiblen Netzwerken und der Eigeninitiative der Beteiligten beruht. Yochai Benkler charakterisiert die Wikipedia explizit als alternative Produktionsformen jenseits von Wertschöpfungsprozessen (Benkler 2002) und hebt hervor, dass der Erzeugungsprozess der Wissensprodukte nicht auf kommerzielle Wertschöpfung abzielt, sondern auf die Erzeugung öffentlicher Güter. Benkler betont, dass es sich hierbei um eine neue Stufe der Erzeugung öffentlicher Güter handelt (»commons based«); und dass Produktion und Koordination eigenen Regeln und Normen organisierter Communities folgen (»peer production«) (Benkler 2006: 13f.). In dieser breiten Diskussion über Wikipedia werden die besonderen Merkmale der Koordination und Steuerung bei der Entwicklung dieser Produkte in Abgrenzung zu herkömmlichen Formen der Koordination wirtschaftlichen Handelns herausgearbeitet. Aus der Sichtweise der Industriesoziologie, der Arbeitswissenschaften und der Betriebswirtschaftslehre bieten Interaktionsplattformen wie die Wikipedia eine einzigartige Gelegenheit, neue Formen der Arbeitsteilung zu studieren. Das in diesem Zusammenhang entwickelte Konzept der interaktiven Wertschöpfung setzt voraus, dass die alternative Ökonomie der kollaborativen Wissensproduktion von der Umsetzung der folgenden Rahmenbedingungen abhängig gemacht werden kann: Erstens muss sich der Prozess der Wissensgenerierung in viele kleine Teilschritte gliedern und einfach über eine Interaktionsplattform wie die Wikipedia verteilen lassen. Denn nur so kann der Aufwand für einzelne Nutzer/ Nutzerinnen gesenkt werden. Ziel der interaktiven Wissensgenerierung ist es, dass komplexe Aufgaben durch die verteilten Fähigkeiten vieler Teilnehmer/ Teilnehmerinnen gelöst werden können, indem einzelne Nutzer/Nutzerinnen ihr vorhandenes Wissen effektiv einbringen können. Im Unterschied zu anderen Open-Source-Projekten können Anwender bei Wikipedia Verbesserungen unmittelbar selbst im Text vornehmen, anstatt erst den Fehler zu melden, damit andere die Korrektur vornehmen. Allerdings sind die Feedback-Schleifen
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hier kleinteiliger (geprüft wird auch explizit Unfertiges), transparent und im Unterschied zum »peer review« auf die Beteiligung vieler Anwender (statt ausgewählter Gutachter) ausgerichtet. Bei Wikipedia können sie in der Regel sogar sehen, wer daran arbeitet und direkten Kontakt aufnehmen. Zweitens müssen ausreichend viele motivierte Teilnehmer gewonnen werden können. Die Motivation der teilnehmenden Nutzerinnen und Nutzer ist einer der zentralen Aspekte der interaktiven Wertschöpfung. Denn die Ökonomie geht von rational Handelnden aus, die nur dann etwas beitragen, wenn sie dafür auch einen Gegenwert bekommen. Materielle Anreize fehlen bei den genannten Beispielen aber teilweise völlig – intrinsische Motive müssen daher die Basis der Wissensarbeit bilden. Intrinsischer Nutzen bezieht sich auf die Ausführung einer Tätigkeit selbst. Eine Aktivität wird um ihrer selbst willen geschätzt und auch ohne unmittelbare Gegenleistung ausgeführt. So ist oft das Interaktionserlebnis selbst positiv und nutzenstiftend, wenn es das Gefühl von Spaß, Kompetenz, Exploration und Kreativität vermittelt. Ebenso wird die Mitwirkung mit der Erfüllung sozialer Normen erklärt. Beispiele für eine solche Norm sind z.B. Reziprozität, Gemeinnützigkeit oder Fairness. In diesem Sinne wird die Wikipedia für die Unternehmensdiskurse interessant, weil sie Möglichkeiten für die Übertragung von interaktiver Wertschöpfung in die Hand gibt. Die zentrale Frage bei der Wertschöpfungsanalyse von Wikipedia ist: Wie kann ein Unternehmen heute diese kollaborativen Prozesse gewinnbringend anwenden? Man kennt dieses Prinzip heute auch unter den populären Begriffsprägungen wie »Kundenarbeit« oder »Crowdsourcing«: »Open Innovation«, »Mass Customization« und »virales Marketing«. Sie markieren aktuelle Strategien, bei denen die Kunden eine neue Rolle bekommen sollen: So vergibt etwa ein Unternehmen in Form einer offenen Ausschreibung eine Aufgabe, die bislang intern bearbeitet wurde, an ein offenes Netzwerk von Kunden und Nutzer. Die Bearbeitung dieser Aufgabe erfolgt dabei oft kollaborativ zwischen mehreren Nutzerinnen und Nutzer. Diese sind nicht mehr nur passive Konsumenten, sondern sogenannte aktive Wertschöpfungspartner (Bruns 2010). Von Kunden wird heute gefordert, dass sie ihre Produkte oder Dienstleistungen aktiv mitgestalten und teilweise sogar deren gesamte Entwicklung oder Herstellung übernehmen. Die Diskussion um den technologisch-infrastrukturellen und machtstrategischen Stellenwert der Big Data zeigt auf, dass die nummerische Repräsentation von Kollektivitäten zu den grundlegenden Operationen digitaler Medien gehört und eine rechnerbasierte Wissenstechnik bezeichnet, mit welcher kollektive Praktiken mathematisch beschreibbar und auf diese Weise quantifizierbar werden. Die Bestimmung der Vielheiten mit Hilfe von nummerisch gegliederten Mengenangaben dient in erster Linie der Orientierung und kann als eine Strategie verstanden werden, die kollektiven Datenströme in lesbare Datenkollektive zu übersetzen. Für Deleuze ist die Ausdrucksform der Kon-
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trolle »numerisch« (Deleuze 1993: 256), da sie nicht mehr an spezifische Milieus gebunden ist. Diese universelle numerische Repräsentation von Kollektiven schafft die Möglichkeit ihrer mathematischen Berechnung. In diesem Sinne kommt es zur Verwandlung der Kollektivitäten in kontextgebundene Informationsgrößen, die schließlich im Back-End-Bereich der Sozialen Medien des Web 2.0 mit Hilfe von statistischen Verfahren ausgewertet werden können. In ihrer Analyse des »data-behaviorism« verweist die Netzforscherin Antoinette Rouvroy auf die virale Nutzung und Verbreitung der Big Data für individuelle Suchabfragen: »It will then be argued that what makes critique so difficult to practice vis-à-vis the computational turn we are now experiencing with the gradual and almost viral generalization of data-mining and profiling, is the vanishing of the transversal dimension – essential in the scientific, the judicial and even the existential domains.« (2012) Eine derart populäre Verbreitung des Big-Data-Ansatzes und des wechselseitigen Data Minings setzt voraus, dass Big Data als eine Wissensallmende, als ein Gemeingut der Informationsgesellschaft, verstanden wird. Mit dieser Sichtweise kann vermieden werden, das Phänomen der Big Data in einer vertikal verlaufenden Machtachse zu verorten. Das virale Data Mining verläuft folglich nicht nur in einer Topdown-Relation, sondern vielmehr in transversalen Netzen, die dafür sorgen, dass sich die Praktiken der digitalen Kontrolle im Internet letztlich reproduzieren und multiplizieren. In dieser Zuspitzung darf die populäre Verbreitung des Data Minings aber nicht als zusätzliche Fiktionalisierung aufgefasst werden. Die zentralen Fragestellungen des Big-Data-Ansatzes kreisen zwar um mathematische Optimierungsprobleme in Modellen für stochastische und hochskalierbare Datenaggregate. Doch die statistischen Berechnungen zur Bewertung hochkomplexer Datenmengen und beschleunigter Kommunikationsgeschwindigkeiten bringen kein perfektes und in sich abgeschlossenes Wissen hervor, da die digitale Kommunikation der Sozialen Medien stets wandelbar, unvorhersehbar und unzyklisch in ihrem Verhalten erscheint. Sie verweisen auf die Löschung stabiler Demarkationen und konfrontieren uns mit der dynamischen Auflösung statischer Ordnungskonzepte. Daher erscheinen sie als schlecht definierte Systeme, die sich durch schwach strukturierte Datenmengen und eine dementsprechend unscharfe Logik auszeichnen. Demnach erweist sich das auf die großen Datenmengen stützende Wissen als ein extrem volatiles und aggregatähnliches Wissen, das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht. Die Volatilität der Internetkommunikation verweist darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig auch das Terrain der empirischen Auswertung der Big Data geworden ist und dass diese Unschärfe auch zur Volatilität des wissenschaftlichen Wissens führt, dem es nicht mehr gelingt, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, der die globalen Kommunikationsströme der anonymen, mikrobenhaften Kollektivität in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen zu
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repräsentieren vermag. Daher entsteht die spezifische Fiktionalität des Wissens von der Zukunft nicht erst mit der Popularisierung der Big Data, sondern findet sich bereits im Herzstück der Diskurse des wissenschaftlichen Wissens selbst. Hier finden sich eine Vielzahl von suggestiven Hypothesen, eschatologischen Visionen und technokratischen Gegenwartsdiagnosen, mit denen die Kalkülisierung und Optimierbarkeit des futurologischen Wissens mit den Vermittlungstechniken wissenschaftlicher Kommunikation verwoben wird. Eine kultur- und medienwissenschaftliche Perspektivierung der Big Data vermag aufzuzeigen, dass auch die vermeintlich harten Fakten und Tatsachen der Big Data in kulturelle und mediale Praktiken der Dateninterpretation und Wissenskommunikation eingebunden sind, die keine letztbegründenden Gewissheiten, sondern bloß veränderliche Momentaufnahmen digitaler Wissenskulturen aufzeigen.
III. Performative Vernetzungskulturen
In der Theorie- und Methodenbildung der rezenten Internetforschung spielt die theoretische Aufwertung performativer Frage- und Problemstellungen eine zunehmende Rolle, wenn es darum geht, sich über den grundlegenden Bruch, den internetbasierte Gesellschaften mit der Medienkultur der Massenkommunikation vollziehen, zu verständigen (Sporton 2009: 61-72). In Anknüpfung an die performative Handlungstheorie von Erika Fischer-Lichte (2002, 2004) wird hier der Begriff des Performativen verwendet, um die prozessuale Aufführungs-, Vollzugs- und Transformationspraxis von populären Kulturen zu kennzeichnen. In Anlehnung an das Forschungskonzept des Sonderforschungsbereiches »Kulturen des Performativen« können die vermittels der Sozialen Medien des Web 2.0 generierten performativen Prozesse als »Transformationsprozesse« bestimmt werden, die »Spiel- und Freiräume« eröffnen: »[…] immer wieder taucht in ihnen Ungeplantes, Nicht-Vorhersagbares auf, das den Prozess der Transformation wesentlich mitbestimmt. Intention und Kontingenz, Planung und Emergenz sind in ihnen untrennbar miteinander verbunden.« (Sonderforschungsbereich, Kulturen des Performativen, 2009) Die performativen Praktiken auf Sozialen Netzwerkseiten und Internetportalen sind hochgradig von Produktions- und Rezeptionskontingenz geprägt und formieren einen diffusen Aggregatzustand kultureller Deutungsspielräume innerhalb dynamischer Bedeutungs- und Ausverhandlungsprozesse. In dieser Hinsicht können die von den kollektiven Netzmedien forcierten performativen Prozesse als historische Weiterentwicklung der Rezeptionsfreiheit angesehen werden, die ein charakteristisches Merkmal der populären Kultur darstellt: »Ohne Rezeptionsfreiheit, verstanden als Freiheit, das zu Rezipierende auszuwählen, als auch den Bedeutungs- und Anwendungsprozess mitzubestimmen – also ohne ein bestimmtes Maß an bürgerlichen Freiheiten –, gibt es keine populäre Kultur.« (Hügel 2003: 6) In diesem Sinne firmieren die digitalen Medien und Technologien, die es Usern/Userinnen ermöglichen, sich in Peer-to-Peer-Netzwerken auszutauschen, als Kommunikationsmedien der populären Kultur, insofern sie ihnen spezifische Möglichkeiten zur inhaltlichen Mitbestimmung einräumen.
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Die Theoriekonzepte des Performativen eignen sich also in mehrfacher Hinsicht zur Untersuchung der Sozialen Medien des Web 2.0. In ihren Selbstverständigungsdiskursen thematisieren sich die Sozialen Medien als offene Medienkanäle heterogener Bedeutungsproduktion, die durch die aktive Beteiligung von Usern/Userinnen ermöglicht wird. Folglich erweitern sie ihre Mitbestimmungsmöglichkeiten auch im Bereich des Produktionskontextes, indem sie ihre Inhalte eigenständig ohne Vermittlung einer redaktionellen Instanz im Internet publizieren können. Der Analysebegriff der Performativität markiert den Handlungsspielraum, der aus der situativen Kontingenz von Bedeutungs- und Ausverhandlungsprozessen entsteht. Demgegenüber kann mit der Frage nach dem methodologischen Stellenwert von Medialität der technische Medienbegriff und strukturelle Forschungsaspekte der Materialkultur von Technologie, Hardware, Code und Programm berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund müssen performative Prozesse also immer auch als medienspezifische Praktiken verortet werden, da sie einerseits als ein Resultat der technologischen Bedingungen der Möglichkeit (Dezentralisierung, NonLinearität und Kontingenz) gefasst werden können; andererseits muss der performative Ermächtigungshaushalt immer auch im Verhältnis zu seiner Medialität gesetzt werden und folglich die Frage nach den sozialen und kulturellen Reproduktionsmechanismen im Medium der Netzwerkkommunikation berücksichtigt werden. In den vernetzten digitalen Kommunikationsräumen haben sich interaktive Mediensysteme und damit einhergehend kollektive und kollaborative Medienpraktiken herausgebildet, die sämtliche Bereiche der Herstellung, Verbreitung, Nutzung und Bewertung von Medieninhalten umfassen. Entlang dieser Verschiebung haben sich populärkulturelle Praktiken herausgebildet, die sich an den anonymen, flexiblen und veränderlichen Strukturen und Konstellationen der Sozialen Medien im Web 2.0 ansiedeln und eine radikale Alternative zu den traditionellen Formen des Publizierens von Medieninhalten eröffnen. Diese im Werden begriffene kollaborative Kommunikationskultur lässt sich zwar nicht auf ein Werk als Eigentum oder ein homogenes Autorensubjekt und seine Intentionalität zurückführen und lässt sich auch nur bedingt und eingeschränkt als ein distinktes und stabiles Wissensobjekt demonstrieren – andererseits ist sie immer auch eingebettet in performative Rahmungsstrategien (Wirth 2002: 403-433), mit denen versucht wird, zumindest eine geschwächte Autorenfunktion zu etablieren. In diesem Sinne können kollaborative Autorschaftskonzepte, in denen Medieninhalte durch die Kollaboration von mehreren Autoren geschaffen werden, mit dem Begriff der »schwachen Autorschaft« (Hartling 2009: 286) auf produktive Weise verknüpft werden, um die in den kulturellen Praktiken marginalisierten Autorenfunktionen aufzuwerten. Aus performativer Perspektive kann folglich eine dynamische und sich provisorisch gebende Bedeutungsproduktion der Sozialen Medien des Web 2.0
III. Per formative Vernet zungskulturen
freigelegt werden, mit welcher die Produktivität und die Prozessualität kollaborativer Praktiken in den Analysefokus einrückt. In ihrer medientheoretischen Problemstellung rekurrieren die performativen Rahmungsprozesse im Netz jedoch nicht auf einen spontaneistischen Voluntarismus, der den Aspekt des Performativen genuin von der kreativen Leistung eines Individualsubjektes ableiten würde, da die dynamischen Rahmungsprozesse performativer Praktiken immer zugleich ein Resultat der technischen Potenziale der digitalen Kommunikationsräume darstellen. Infolgedessen müssen die rahmenkonstitutiven Beiträge der User/Userinnen, die sie im Namen von realen Autoren/ Autorinnen, fiktiven Figuren oder anonymen Nicknames vollziehen, immer auch als ein technisches Artefakt der Ermöglichung von Rede- und Verhandlungspositionen in Betracht gezogen werden. Dieser im Ansatz gegebene Technikdeterminismus muss aber unter anderem dahingehend relativiert werden, insofern die hier untersuchten Praktiken zur Informations- und Kommunikationsgestaltung immer auch auf eine grundlegende populärkulturelle Reorganisation der netzbasierten Wissensproduktion und -rezeption abzielen und damit das Netzwissen einer performativen Aneignungsrhetorik – vom assoziativen Indexing der Fans bis zum editorialen Framing der sogenannten Webmaster – überantworten (Klein 2010: 192-212). So gesehen inhäriert der kollektiven Bedeutungsproduktion immer auch ein kontextgebundener ›AntiEssentialismus‹ wie ihn richtungsweisende Theoretiker der Cultural Studies für die Theorie der Populärkultur veranschlagt haben (Winter 1997: 52; Hepp 2010: 227). Vor dem Hintergrund der methodologischen Verortung der Cultural Studies als »Disziplin der Kontextualität« (Grossberg 2000: 264) untersuche ich populärkulturelle Praktiken von Web-2.0-Usern/Userinnen, welche die Effektivität hegemonialer Objekte, Symbole und Images durch die Herstellung veränderter Kontexte radikal erschüttern. Im folgenden soll es nun darum gehen, die hier angesprochenen Verfahrensweisen der Peer-to-Peer-Kommunikation von Online-Plattformen und Social-Media-Formaten entlang von drei unterschiedlichen Performativitätsstrategien zu thematisieren. (1) In der Auseinandersetzung mit den von Usern/Userinnen generierten Bewegtbildinhalten auf dem Videoportal YouTube geht es um die Frage, welche performative Rolle die Initiatoren von Videouploads einnehmen (Reichert 2012). Welcher netzdiskursiven Rahmungspraktiken bedienen sie sich, wenn sie für sich eine diskursmoderierende Rolle reklamieren wollen? Welchen Stellenwert haben kollektive und kollaborative Rahmungsprozesse in Bezug auf die Bedeutungsproduktion, Ausverhandlung und Distribution von Bewegtbildern in Online-Portalen und Social-Media-Formaten? (2) Die in der Internetkultur ausgeprägte Tendenz zur Resignifizierung und Reiteration von bereits bestehenden Inhalten (Mashup, Remix) verweist auf einen Aspekt des Performativen, der nahtlos an die kollektiven und kolla-
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borativen Rahmungsprozesse anschließt. Auch hier zeigt sich die performative Praxis in erster Linie als etwas, das einen Überschuss erzeugt, der sich keinem intersubjektiv kontrollierbaren Diskursfeld mehr zuordnen lässt. In diesem Sinne erweist sich »die produktive Kraft des Performativen nicht einfach darin, etwas zu erschaffen, sondern darin, mit dem, was wir nicht selbst hervorgebracht haben, umzugehen« (Krämer 1998: 48). So gesehen kann der performative Vollzug als Überschuss von Bedeutung verstanden werden, der nicht nur eine neue performative Rahmung realisiert, sondern rückwirkend auch den bereits bestehenden Inhalt modifiziert. (3) Performative Prozesse im Internet sind das Resultat technischer Ermöglichung. Speziell sind es die computergestützten Informations- und Kommunikationstechnologien, welche die Modi, die Geltung und die Verbreitung der von Usern/Userinnen generierten Inhalte regulieren. Folglich sind die Netzmedien und ihr technisch generierter Handlungsvollzug an der Produktion von Sinn und Bedeutung maßgeblich beteiligt und müssen in die Methodologie der Untersuchung performativer Prozesse miteinbezogen werden. Diese Fragestellung hat nicht nur eine heuristische Bedeutung in der wissenschaftlichen Diskurspraktik, sondern eröffnet auch jenseits der Dichotomie von Technikdeterminismus versus Technikeuphorie kritische Fragen nach dem Handlungsspielraum performativer Ermöglichung in technischen Umgebungen.
1. M AKE - UP -TUTORIALS AUF YOUTUBE Mit dem Aufstieg der Sozialen Medien im Web 2.0 hat sich der Stellenwert des Bewegtbildes im Web auf umfassende Weise verändert. Es ist zum Schauplatz offener Bedeutungsproduktion und permanenter Ausverhandlung geworden. Geregelte Kommentarfunktionen, Hypertextsysteme, Ranking- und Votingverfahren durch kollektive und kollaborative Rahmungsprozesse verorten audiovisuelle Inhalte in multimedialen und diskursiven Umgebungen. Da in den neuen subjektzentrierten Internetmedien Schminken als ein wichtiger Bestandteil der visuellen Selbstinszenierung gilt, hat sich mit dem Genre der Make-up-Tutorials ein außerordentlich beliebtes Online-Videoformat herausgebildet, das wesentlichen Einfluss auf die Identitätskonstruktion und die Partizipationskultur seiner Userinnen und User ausübt. Die Online-Videoplattform YouTube archiviert derzeit mehr als 130.000 Make-up-Tutorials (Stand: September 2010). Diese Schminkanleitungen vermitteln – zusammen mit elektronischen Verweisen (Hyperlinks) auf einschlägige Fashion- und Beautyblogs – spezifische Techniken und Prozeduren des Schminkens. Make-up-Tutorials sind für den Gebrauch bestimmt und können daher als ›Gebrauchsfilme‹ gesehen werden. Sie werden überwiegend von weiblichen Jugendlichen in Selbstinszenierungen produziert und vermitteln in erster Linie persönliches
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Erfahrungswissen im Feld des Lifestyles und der Körpertechnik, das im Unterschied zu einem Handbuch oder einem Nachschlagewerk ein show how in Peerto-Peer-Netzwerken anbietet. Die Kernthese ist, dass Schminkvideos weniger darauf abzielen, als ›Werk‹ wahrgenommen zu werden, sondern entlang einer taktisch ›schwachen‹ Autorschaft vielmehr als ›Ermöglichung‹ von kulturellen und sozialen Aushandlungsprozessen firmieren. Wenn davon ausgehend Schminkvideos als »Ensembles diskursiver Ereignisse« (Foucault 1998: 33-38, hier: 37) verstanden werden, dann orientiert sich diese Untersuchung an der Performativität des Medialen und ermöglicht eine Sichtweise, die Schminkvideos in zweierlei Hinsicht als Beitrag zu Aushandlungsprozessen zu denken versucht. Erstens treten sie als ein improvisierendes Wissen in Erscheinung, das Umordnungen explizit einfordert1: »Mein aller erstes Schmink Video, ich hoffe ihr seid nicht zu streng mit mir. Nützliche Kritik oder Tipps nehme ich gerne an.« (Carpediem1201, 29.10.2009) Zweitens versuchen die diversen Zeichenregister der Schminkvideos, das interaktive Potenzial Sozialer Netzwerkseiten zu motivieren. Ein signifikantes Muster der Make-up-Tutorials ist die mediale Herstellung von kommunikativer Nähe. Nähe ist vielschichtig und nicht immer im Videobild selbst zu finden. Jenseits der Mise en Scène wird im schriftlichen Kommentar oft eine entscheidende Geste gesetzt: Sie deklariert das Video als Work-in-Progress, das ohne Absicht auf Vollendung gedreht wurde: »This is all to say that this is more like a ›work in progress‹ kind of look.« (temptalia ad YouTube-Video Makeup Tutorial and Tips: Stream of Consciousness: www.youtube.com/watch?v=dhGSSbecXbQ) Im Hinblick auf die Geschichte von Mediendiskursen kann man die Lektürehinweise, die Produzentinnen ihren Make-up-Tutorials beifügen, auch als Fortsetzung der Debatten um den Paradigmenwechsel der Interaktivität (Intermedia, Happening, Fluxus) und das »offene Kunstwerk« (Eco 1977), die seit den 1960er Jahren intensiv geführt werden, verstehen. In diesem Zusammenhang können strukturelle Homologien zwischen den Bestrebungen, das Autorensubjekt als begründende Instanz und das Werk als abgeschlossene Entität in Frage zu stellen, und die in den Sozialen Medien des Web 2.0 geäußerte Aufforderung zu Interaktion und Kollaboration hergestellt werden. Wenn in diesem Sinne Make-up-Tutorials zu Schauplätzen kultureller Zirkulation und ästhetischer Konflikte werden, dann eröffnet sich die Möglichkeit, diese nicht nur als ein Genre der Film- und Medienwissenschaft einzugrenzen, sondern sie in einem weitsichtigeren Blick als kulturelle und mediale Praxis zu thematisieren (Reichert 2008).
1 | In allen Zitaten aus Kommentaren zu YouTube-Beiträgen wurden orthografische Abweichungen und Umgangssprache wörtlich übernommen.
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Beobachtungsanordnungen im Closed Circuit Galt früher die private Sphäre als ein von der Außenwelt abgetrennter Raum, in dem sich die Individuen auf ihre öffentliche Selbstdarstellung vorbereiteten (Goffman 1996: 104), so verschieben die Schminkvideos die herkömmlichen Grenzen zwischen dem privaten und öffentlichen Raum. Sie machen die häusliche Sphäre, die traditionell dem Weiblichen zugeordnet wurde, zu einem medialisierten Schauplatz des öffentlichen Räsonnements und kollektiver Bedeutungsproduktion. Obwohl Make-up-Tutorials sowohl durch ihre Protagonisten als auch vermittels weiterer Diskursivierungen weiblich konnotiert werden, haben sich mit ihnen die visuellen Strategien weiblicher Repräsentation verschoben. So eignen sich weibliche Jugendliche in ihren Schminkvideos die Produktionsmittel der medialen Aufzeichnung, Speicherung und Verbreitung an und dezentrieren somit die Privilegien männlich dominierter Produktionsverhältnisse. Der Medienhype der Schminkvideos auf YouTube steht folglich für eine neue Praxis des Mediengebrauchs und der Verwertung von Medien und Selbstbildern. Bei den Schminkvideos auf YouTube handelt es sich um Formate, die in eine Netzkultur zirkulierender Repräsentationen, Technologien und Praktiken eingebunden sind. Die Medienspezifik dieser Online-Videoformate zeigt auf, dass sich die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption permanent verschieben und sich damit einhergehend deterministische Subjektpositionen auflösen. Die Schminkkultur auf YouTube zielt insgesamt auf die Aufhebung des Unterschieds zwischen Produktion und Rezeption und erzeugt eine Sensibilisierung für eine Ästhetik, die mit den etablierten Wahrnehmungskonventionen von Kino und Fernsehen, die der Partizipation des Publikums nur einen niedrigen Stellenwert einräumt, bricht. Die Erweiterung der Subjektpositionen setzt aber bereits am filmischen Set ein und beschreibt eine spezifische Medienästhetik von Make-up-Tutorials. So erfordert die Aufnahme von Schminkvideos den Auf bau einer bestimmten Versuchs- und Selbstbeobachtungsanordnung. Da sich die überwiegend weiblichen Jugendlichen eigenständig vor ›laufender Kamera‹ schminken und innerhalb der Community ›ungeschnittenes‹ Material als besonders lebensnah und glaubwürdig wahrgenommen wird, muss das Filmmotiv und die Ausstattung des Sets, an dem die Dreharbeiten durchgeführt werden, dementsprechend vorbereitet und geplant werden. In der Community herrscht eine große Nachfrage nach Videos, die mit den Codes dialogischer Unmittelbarkeit und Live-Atmosphäre operieren: »Montage und Zwischentexte wollen die Leute gar nicht. Die wollen, dass ich live bin und rede«, verlautbart CaroLaPrincesse auf ihrem YouTubeChannel (CaroLaPrincesse, 21.09. 2012). Das filmische Set besteht in der Regel aus einer Webcam, die an einem PC-Standgerät oder einem Laptop befestigt ist. Oft platzieren die Darstellerinnen ihren Computer mit Webcam vor oder neben einem Spiegel, um eine zusätzliche Ansicht auf ihr eigenes Gesicht
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zu ermöglichen. Die sich schminkenden Frauen vervielfältigen sich selbst in ihrer Rolle als Beobachterinnen. Die ungewohnte Beobachtungsanordnung in diesem medialen Setting wird in den Foren als Know-how debattiert: »War es voll schwer sich vor der Webcam zu schminken, da es spiegelverkehrt ist und ich deswegen ständig mehr als verwirrt war!« (PODxLadyAga, 30.07.2010) Gemeinsam mit dem Video hinterlassen viele Make-up-Artistinnen Kommentare, die Anweisungen, Empfehlungen, Bekenntnisse, aber auch Selbstzweifel, Unsicherheiten und Fragen enthalten. Die Frageadressierungen zielen darauf, ein Beteiligungsforum zu etablieren und eine Fancommunity aufzubauen. In diesem Sinne kann die partizipatorische Kontextualisierung der Videos als ein Versuch verstanden werden, den Publikumszuspruch längerfristig zu sichern. Neben dem Schminkspiegel sehen die Darstellerinnen in der Regel ihr von der Webcam übertragenes Selbstbild synchron auf dem Computerbildschirm und können damit die Videoaufnahme überwachen und bei Bedarf verändern, anhalten oder beenden. Die sofortige Verfügbarkeit der Videobilder war immer schon eine besondere Eigenschaft von Video. Die Make-up-Tutorials machen sich diese Technik zunutze, indem sie Situationsanordnungen schaffen, in denen sich die Betrachterinnen selbst in die Darstellungssituation einbinden. Die grundsätzlichste Beobachtungsanordnung in Schminkvideos folgt also dem Prinzip des Closed Circuit. Die Anordnung des Closed Circuit beschreibt ein Aufzeichnungsverfahren, bei der das ›Aufnahmemedium‹ direkt mit dem ›Abbildungsmedium‹ verbunden ist. Bei der Beobachtungsanordnung im Closed Circuit machen die Betrachterinnen die Erfahrung der Synchronität ihrer Handlungen, die sie mit dem digitalen Bild abgleichen – ähnlich wie im Spiegelbild, jedoch nicht wie gewohnt seitenverkehrt. Die Betrachterinnen befinden sich also in einer medial erweiterten Realität. Diese mediale Erweiterung sorgt dafür, dass sich die schminkenden Mädchen und Frauen nicht mehr innerhalb einer aktuellen Situation erleben, die sie als Gegenwart empfinden, sondern in einer zeitversetzten Wiedergabe, die eher Erinnerungs- oder dokumentarischen Charakter aufweist. In diesem Zusammenhang wird das Videobild in der Funktion als Spiegel wie auch als Überwachungsinstrument eingesetzt. Im Unterschied zum Schminkspiegel ist das Videobild aber von der Position der aufzeichnenden Kamera abhängig, nicht von der Position zum Abbild. Viele Filmemacherinnen von Schminkvideos nutzen das von der Webcam auf den Monitor übertragene Videobild, um den direkten Blick in die Kamera zu simulieren und somit die unmittelbare Kommunikation mit dem Publikum aufrecht zu erhalten. Die Beobachtungsanordnung des Closed Circuit dient einerseits zur kameratechnisch vermittelten Selbstwahrnehmung, andererseits in filmästhetischer Absicht zur direkten Adressierung der Community. Bereits vor der eigentlichen Aufnahme müssen alle Schminkutensilien am Filmset vorbereitet sein. Es muss also eine Art Drehbuch geben, in dem festgelegt ist, welche Gegenstände in welcher Abfolge zur Verwendung kommen und in wel-
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cher Reihenfolge die unterschiedlichen Prozeduren erfolgen. Das Set-Design am Schminktisch kann einfach, aber auch sehr komplex aufgebaut sein und inkludiert ein variantenreiches Repertoire, das Wimpern aufkleben, das Färben der Haare, das Auftragen von Nagelpolitur oder komplette Looks für das Gesicht umfassen kann. Die Medialisierung des Selbst beim Schminken verläuft nach spezifischen Inszenierungsmustern und basiert auf unterschiedlichen Techniken und Praktiken. Es erfordert das Zusammenspiel von Gegebenheiten (z.B. die Verfügbarkeit von Consumer Hardware), Möglichkeiten (z.B. die Kombinatorik der Stile) und Zufällen (z.B. Versprechern während der Aufnahme). Insofern muss den Schminkvideos kein genuin ›begründendes Subjekt‹ vorausgesetzt werden, das dem Gezeigten eine tiefere Bedeutung zu verleihen hätte, da es immer auch von den historischen und sozialen Beschränkungen medialer Bedingungen bestimmt ist. Dementsprechend ist auch die mittels der Schminkvideos evozierte Nähe nicht mehr das Zugrundeliegende, sondern ein mediales Konstrukt, das aus bestimmten Wahrnehmungskonventionen hervorgeht, ohne selbst in letzter Konsequenz determiniert zu sein.
Ästhetik des Authentischen Die Schminkvideos von Lauren Luke, einer 27-jährigen alleinerziehenden Mutter aus Newcastle, haben mehr als 100 Millionen Zuseherinnen weltweit gesehen. Am 22. Juli 2007 lud sie ihre ersten Aufnahmen auf YouTube hoch, die in ihrem pinkfarbenen Schlafzimmer gedreht wurden. Im Hintergrund ist einer ihrer drei Hunde zu sehen; als Beleuchtung verwendete sie ihre Nachttischlampe. Binnen kürzester Zeit klickten tausende Userinnen auf ihre Tutorials und hinterließen begeisterte Kommentare. Luke verdankt ihre Popularität der Lowtech-Ästhetik, die typisch für das Online-Videoportal YouTube ist: Ihre Videos stehen für fehlende Perfektion, Improvisation und Spontaneität. Die Videos sind in der Regel ungeschnitten, grobkörnig und ohne geplante Dramaturgie. Und Luke verkörpert das Bottom-up-Rollenmodell unzensurierter und autarker Videoproduktion. In ihren Schminkvideos tritt sie zunächst als eine ungeschminkte Frau vor die Kamera – wie jede andere Frau, die morgens ungeschminkt vor dem Spiegel steht. Diese Dramaturgie verleiht ihr eine innerdiegetische und extradiegetische Glaubwürdigkeit. Innerdiegetisch plausibilisiert sie die Verwandlung in eine begehrenswerte Frau, extradiegetisch platziert sie geschickt Authentizitätsskripts für ihre Werbelinie. Durch ihre Make-up-Tutorials auf YouTube ist Luke zu einer Berühmtheit aufgestiegen und wird mittlerweile als YouTube-Celebrity verehrt. Heute vermarktet sie auf ihrer Webseite www.laurenluke.co.uk ihre eigene Kosmetiklinie, schreibt regelmäßig eine Kolumne für die Wochenendbeilage des Guardian und hat zuletzt einen Bestseller mit dem Titel Lauren Luke Looks: 25 Celebrity and Everyday Makeup Tutorials geschrieben.
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Trotz Professionalisierungstendenzen gilt Authentizität bei YouTubern immer noch als ein zentrales Merkmal zur Herstellung von Aufmerksamkeit (Simanowksi 2008: 55-74). In diesem instrumentellen Gebrauchskontext dienen spezifische Authentizitätsmarker zur visuellen Evidenzkonstruktion. »Evidenz« bezeichnet in diesem Zusammenhang das dem ersten Augenschein nach Unbezweifelbare, das durch unmittelbare Anschauung einleuchtend sein soll. Sie sollen nicht nur den voyeuristischen Schauwert erhöhen, sondern in erster Linie dem Community-Building und Community-Branding auf selbstverwalteten YouTube-Channels dienlich sein. Es werden auf YouTube unterschiedliche Authentizitätsmarker eingesetzt, die der Beglaubigung von bestimmten Inhalten dienen. Dazu gehören der Lowtech-Dokumentationsstil, eine private Aufnahmesituation, der Verzicht auf ein Fotostudio und die Verwendung handelsüblicher Consumer Hardware. Insgesamt sollen die Videobilder eine ungezwungene Visualität, die auf eine amateurhafte Unmittelbarkeit abzielt, erzeugen. In ihrer Rückbesinnung auf ästhetische Verfahren, wie sie bereits in der Ära des Frühen Films um 1900 verwendet wurden, versuchen Make-up-Tutorials die Konzentration des Blicks mit Hilfe von Bildausschnitten auf die ästhetischen Merkmale der Bewegung vor der Kamera zu ermöglichen (zur Analyse narrativer Praktiken vgl. Elsaesser 2009: 155ff.). Zur Plausibilisierung von Evidenz werden Make-up-Tutorials in einer Einstellung gedreht und verzichten auf Schnitt und Montage. Sie operieren mit einer Stativkamera, die feste und starre Einstellungen herstellt. Die Einstellungen der eigentlichen Schminkszenen sind also im Single-Shot-Verfahren gedreht, das einen unbeweglichen Hintergrund und eine starre Kadrage erzeugt. Innerhalb dieses feststehenden Rahmens findet die eigentliche Handlungskontinuität des Schminkvorgangs statt. In Anlehnung an die Verfahren im Frühen Film nutzen Make-up-Tutorials das Fehlen von Montage und Kamerabewegung für die Ästhetisierung des weiblichen Erfahrungsraumes, für welchen die Kadrage die Funktion eines Fensters zur Welt übernimmt. Zur »Zeit der feststehenden Kamera«2, schreibt Gilles Deleuze in seinem Kinobuch zum ›Bewegungs-Bild‹, »ist das Bildfeld durch einen einzigen, frontalen Blickpunkt definiert, den des Zuschauers gegenüber einer unveränderlichen Totalen.« (Deleuze 1996: 43) Indem das Tutorial in die Zeit der feststehenden Kamera zurückkehrt und nur den Blick in den Raum ermöglicht, gibt es die Bewegung wieder an die Personen und an die Dinge zurück: »Die Bewegung ist also nicht für sich freigesetzt und bleibt an die Elemente – Personen und Dinge – gebunden, die ihr als Vehikel dienen.« (Ebd.) Auf szenische Techniken des Näherkommens/Entfernens (Zoom) oder der Kamerabewegungen (Schwenk, Fahrt) verzichtend, muss die Protagonistin alle möglichen Bewegungsformen verkörpern und selbst die Schminkutensilien in die Kamera halten. Diese Aufwertung des in Echtzeit 2 | Hier synonym für den frühen Film.
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aufgenommenen Bildfeldes ist ästhetisches Programm und suggeriert, dass es das Leben selbst sei, das sich in das Medium einschreibe. Diese Rückgabe der Bewegung an die Darstellerin vor der Kamera, versucht die Kameraästhetik zugunsten des Realitätseindrucks aufzuwerten, wodurch die statischen Einstellungen der Tradition der fotografischen Aufnahme nahe rücken. Zu den weiteren Techniken der Authentifizierung zählt die schriftsprachliche Kontextualisierung: Mit Hilfe der Titel, des Taggings und der Kommentierungen versuchen die Filmemacherinnen, die Intention ihrer Make-up-Tutorials offen zu legen und die Rezeption ihrer Videos zu lenken. Mit der taktischen Schwächung der Position ihrer Autorschaft versuchen sie Aushandlungsprozesse auf das Video zu lenken und damit Aufmerksamkeit zu gewinnen. Dieses taktische Manöver der Selbstkritik als Nähebeweis hat dazu geführt, dass der Titel My First Makeup Tutorial bei YouTube gegenwärtig über 6.000 Treffer erzielt und eine Kultur konspirativer Amateurpraktiken in Gang gesetzt hat, die improvisierten Lowtech-Formaten grundsätzlich positiv gegenübersteht. In ihrem Modeblog Kosmetik & Beauty Blog. Alles rund ums Thema Beauty, Make-Up und Kosmetik bekennt sich die Verfasserin explizit zur Lowtech-Ästhetik: »Wir ›Schminkmädels‹ von YouTube tun unser Bestes, unser Möglichstes unsere Videos zu einer angenehmen und zu gewissen Teilen auch wertvollen und bereichernden Erfahrung zu machen. Im Gegensatz zur Meinung vieler machen wir uns ausführliche Gedanken zu technischen Problemen, Atmosphäre und Beleuchtung in den Videos. Klar haben es die mit 1000-2000 € Kameraausrüstung und Software über 500 € besser gemacht mit ihren Videos. Nur ist das etwas, was man voraussetzen darf? Das bei dem Motto ›Broadcast Yourself‹? War nicht wackeliges Webcambild, zischelnder Ton und Zeitverzögerung mal der Inbegriff von YouTube? Darf man es sich anmaßen private Kanalbesitzer wegen mangelnder technischer Ausrüstung nieder zu machen?« (Cuddlecow, 24.06.2011) Der überwiegende Anteil der Selbstpräsentationen verweist auf den improvisatorischen Charakter der Videos und inszeniert Nähe als kollektiven und kollaborativen Kommunikationsprozess: »Ich weiß es ist nicht perfekt und ich weiß ich bin kein Profi im Schminken ich hoffe ihr habt trotzdem Spaß beim anschauen falls ihr Anmerkungen oder Verbesserungsvorschläge habt einfach unten hin posten.« (Gabrielbur, 2013) Zahlreiche Selbstbeschreibungen verdeutlichen, dass die Adressatinnen der Tutorials Freunde und Bekannte aus dem bereits bestehenden sozialen Umfeld der Videoproduzentinnen sind: Zu ihrem SchminkTutorial für Amy xD schreibt die Userin PODxLadyAga: »Das Video hab ich nur ma schnell für Amy gemacht, um ihr zu zeigen wie man ein Lidstrich zieht bzw wie ICH ihn ziehe! Ich mach das nich professionell & hab es nich vor. Wollt nur zeigen, dass wir in der POD-Community uns wirklich gegenseitig helfen – bei ALLEM!« (PODxLadyAga, 30.07.2010) Obwohl das Schminkvideo nur als eine vorläufige Momentaufnahme performativer und diskursiver Verfahren erscheint, bleibt es immer auch eingebunden in hegemonia-
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le Bild- und Blickkulturen sowie in mediale Kanonisierungen. Im Genrebezug weist es (1) eine Vielzahl von Referenzbildern auf und tradiert (2) formale und inhaltliche Vermittlungskonventionen des Kinos und des Fernsehens. Obwohl sich die Schminkstyles zahlreicher Tutorials an den Medienbildern weiblicher Stars orientieren und auch das Weibliche im Kontext von Film und Fernsehen als Objekt des Blicks in Szene gesetzt wird, finden sich in den Videos zahlreiche Verfahren, mit denen Weiblichkeit als Blickobjekt unterlaufen wird. Bei Schminkvideos handelt es sich um ein häuslich orientiertes Genre, das einen Erfahrungsraum mit weiblichen Alltagsaktivitäten zeigt. Dieses stereotype Image der im häuslichen Bereich verwahrten Frau wird jedoch filmisch und inszenatorisch aufgebrochen, indem das gesamte Blickfeld durch den frontal in die Kamera gerichteten Blick der weiblichen Darstellerinnen konnotiert wird und mit vielfältigen Adressierungsmodi als Erfahrungsraum weiblicher Subjektivität genutzt wird (Abb. 11). So durchbrechen die Strategien des frontalen Blicks in die Kamera die Sichtbarmachung der Kamera während der Aufnahme oder die diskursive Thematisierung des Mediums und des medialen Settings die Unterstellungen, die in die Nähe gerückte Frau sei (vor allem in der Großaufnahme) per se in der ideologischen Falle des Narzissmus gefangen, wie es etwa Mary Ann Doane für das Filmbild konstatiert: »Für die Zuschauerin besteht eine gewisse Übergegenwärtigkeit des Bildes, denn sie ist das Bild. Abbildung 11: Zeigegestus
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Vor dem Hintergrund dieser engen Beziehung kann das Begehren des weiblichen Zuschauers nur als eine Art Narzißmus beschrieben werden – der weibliche Blick verlangt, dieses Bild zu werden.« (Doane 1994: 72) In der Beobachtungsanordnung der Schminktutorials gibt es diese imaginäre Fülle der Selbstpräsenz nicht, da die dargestellte Frau unaufhörlich zwischen ›Präsentation‹ (Verkörperung im Bild), ›Beobachtung‹ (Bildbetrachtung am Monitor) und ›Selbstthematisierung‹ (Kommentar zum eigenen Handeln) oszilliert. Die Wirksamkeit dieser Praktiken der Verstellung ermöglicht es, eine Distanz ›im Bild‹ herzustellen: Sie erzeugen eine ›Ungewissheit‹ in der gezeigten Weiblichkeit. Aber auch die Adressierung mittels Gesten, Mimik und Rede verleiht der Darstellerin keine stabile Machtposition, da auch die audiovisuellen Strategien auf der Ebene der Repräsentation dem fortgesetzten Prozess dialogischer Konflikte und Aushandlungen unterliegen. Dementsprechend ist das Schminken als kollektiv geteilte und verhandelte Erfahrung in den Sozialen Medien keine neutrale, sondern immer eine ›situierte‹ Praxis, die auf unterschiedlichste Sichtweisen und Interessen hinweist.
Von der Selbstadressierung zur Subjektwerdung Dem ersten Anschein nach vermitteln Make-up-Tutorials nichts anderes als ein praktisches Gebrauchswissen, das darauf abzielt, dem äußeren Erscheinungsbild mehr Ausdruck zu verleihen. In einem größeren Zusammenhang entfalten sie jedoch eine Tiefenwirkung, die individuelle und kollektive Identitäten generiert und auf den Körper und das Leben ausgreift. Da Schminkvideos auf die Transformation von Verhalten und Lebensstilen abzielen, können sie als eine Machttechnik verstanden werden, mit der vitale Werte wie körperliche Schönheit und Fitness als soziales Kapital in Szene gesetzt werden. In diesem Sinne treten Make-up-Tutorials nicht bloß zur individuellen Belehrung, sondern immer auch als Medien in Erscheinung, welche auf die praktische Bearbeitung von Subjekten an der Schnittstelle körperlicher Praktiken und medialer Techniken abzielen. Die vorherrschende Anzahl und die größte inhaltliche Kategorie der bei YouTube hochgeladenen Clips bezeichnet Birgit Richard als »Ego-Clips« und meint damit eine Clipsorte der »exzessiven narzißtischen Selbstdarstellung«, in der eine »große Bandbreite von schüchternen Talks bis hin zur visuellen Prostitution zu beobachten« (Richard 2008: 227) ist. Es handelt sich um Mainstream-Formate, die mit dem charakteristischen Erscheinungsbild von YouTube identifiziert werden. Die auf dem Aufmerksamkeitsmarkt von YouTube dominierende Stellung der Ego-Clips hat dazu geführt, dass personalisierende Kommunikationsstile der Sozialen Medien im Web 2.0 vorherrschend sind.
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Abbildung 12: Frontale Selbstadressierung
Makeup Tutorial (catw69)
Insofern können Make-up-Tutorials dem Genre der dominanten Ego-Clips zugeordnet werden: Die nahe Einstellung, das Brustbild der Darstellerin und der frontale Blick in die Kamera sind typische Merkmale von Make-up-Tutorials (Abb. 12). Mit diesen Stilmitteln der direkten Adressierung bringen Schminkvideos ihre visuellen Strategien auf den Punkt und versuchen damit, Identifikation, Empathie und Sympathie herzustellen. Beinahe alle Make-up-Tutorials operieren mit dem Stilmittel der direkten Adressierung und mit einer Reihe von Darstellungskonventionen, mit denen sich das bekennende Selbst in den Diskursritualen der spontanen Natürlichkeit und Ungezwungenheit als möglichst authentisch präsentiert. Nach Michel Foucault ist das Geständnis, der produktive Zwang des ›Sprechen-Machens‹, die höchstbewertete Technik bei der Produktion von Wahrhaftigkeit (Foucault 1983: 22f.). Der spezifische Zusammenhang von Macht, Wahrheit und Subjektwerdung ist hier also weniger das Ergebnis repressiver Unterdrückung, sondern vielmehr in einer immer intensiver werdenden Diskursivierung begründet. Im ›unabhängigen‹ und ›selbstverwalteten‹ Schminktipp wirkt das Engagement für einen bestimmten Schminkstil umso ›unvermittelter‹ und ›unverfälschter‹, desto amateurhafter es die beteiligten Subjekte über sich selbst preiszugeben scheinen. Selbstadressierung meint in diesem Zusammenhang eine
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sprachlich3, gestisch oder mimisch kommunizierte Selbstbezüglichkeit, die konstitutiv auf die Adressantinnen zurückwirkt. Die Selbstadressierung adressiert zwar offensichtlich ihre Adressanten, eröffnet aber darüber hinausgehend eine sekundäre Adressierung, die sich an ein imaginiertes Publikum richtet und Möglichkeitsspielräume für künftige Betrachterinnen ermöglicht. Konventionelle Formen der Selbstadressierung enthalten etwa partielle Selbstkritik oder Ironiesignale und schwächen insgesamt den narzisstischen Gestus der Selbstdarstellung ab. Diese demonstrativen Manöver, die Bereitschaft zur Kritikfähigkeit signalisieren, zielen auf die Herstellung konspirativer Nähe. In diesem Sinne positionieren sich Schminkvideos weniger als fertige Werke, sondern vielmehr als improvisierende Entwürfe. Diese Strategie der Abschwächung und Relativierung der eigenen Position im Selbstentwurf erfreut sich innerhalb der unterschiedlichen Communities größter Beliebtheit, weil sie die anderen Userinnen zur Beteiligung einlädt. Die Formen der expliziten Selbstadressierung dienen also der Abschwächung der eigenen Subjektposition und versuchen damit, partizipatives Engagement an das Video zu binden. Diese Technik der Selbstthematisierung hat sich als sehr erfolgreiche Strategie erwiesen, um innerhalb der Sozialen Medien im Web 2.0 Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Andererseits übernehmen die Tutorials auch bestimmte Format und Genrekategorien, um die eigene Wahrnehmbarkeit zu steigern. So lässt sich die Nähe des Make-up-Tutorials zu Fernsehformaten am eindringlichsten an seinen serialisierten Strukturen und Erzählformen aufzeigen. Um das Interesse und die Identifikation der Zuschauerinnen und das Sammeln von Serienwissen, das Zuschauerinnen auf spätere Folgen anwenden können, zu fördern, gliedern sich die Schminkvideos in aufeinander auf bauende Folgen und archivieren diese in eigenen YouTube-Channels. Die Kanäle können zudem abonniert werden, was die Zuschauerinnen-Bindung zusätzlich verstärkt. Der serialisierte und chronologisch geordnete Auf bau der Videos in den YouTube-Channels gibt den weiblichen Fans das Versprechen der persönlichen Teilhabe an den aktuellen Schminktipps und sorgt für eine bestimmte Kontinuität der Schminkstorys mit derselben Figur (aufgebaut als ›Freundin‹) in denselben Handlungsräumen (die ewig gleiche Bedroom-Kulisse). In der Zwischenzeit hat sich in der Blogosphäre im Web 2.0 und in der sekundären Medienberichterstattung (Printmedien, TV, Radio) eine Genealogie der Make-up-Tutorials herausgebildet, mit welcher versucht wird, traditionelle Diskurse von Urheberschaft, Originalität und Werkcharakter zu etablieren. Diese personalisierenden Diskurse prägen die Ebene der Repräsentation als 3 | Sprachlich meint hier im weitesten Sinne verbal- und schriftsprachliche Aussagen oder Äußerungen, die in Form von Monologen, Inserts, Zwischentiteln oder Tagging kommuniziert werden.
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auch die der Rezeption und sind maßgeblich dafür verantwortlich, dass sich im Umfeld der Online-Schminkvideos sogenannte YouTube-Celebrities und Starikonen herausgebildet haben, die zugleich mit Unternehmensprädikaten wie etwa der ›Business Woman‹, die ihre Videos erfolgreich zu vermarkten weiß, aufgeladen werden (vgl. zu Unternehmensdiskursen bei YouTube auch: Burgess/Green 2009: 89-107). Diese hegemonialen Diskurse über sogenannte ›YouTube-Phänomene‹ machen deutlich, dass der Stellenwert des Videos im Netz nicht mehr vermittels seiner filmischen Ästhetik erschlossen werden kann. Die Zentralität des filmischen Textes weicht einer offenen und nichtlinearen Heteromedialität, welche die Videobilder in flüchtige und instabile Bedeutungsnetze einschreibt. Der Stellenwert von Make-up-Tutorials zur Verhandlung von Geschlechterrollen und weiblicher Handlungsfähigkeit zeigt sich folglich nicht nur alleine auf der Ebene der ›Repräsentation‹ (die eine filmwissenschaftliche Analyse nahe legen würde), sondern auch darin, wie in der Zirkulation der Videos durch Feedback, explizite Empfehlungen und Hyperlinks Bedeutungsproduktionen von Weiblichkeit hervorgebracht werden, die maßgeblich dafür verantwortlich sind, welchen Stellenwert ein spezifisches Video innerhalb der Rezeptionskontexte einnehmen kann. Als Online-Formate sind Make-up-Tutorials einer permanenten, nonlinearen und heterogenen Wahrnehmungskultur unterworfen. In diesem Sinne verändert sich der Rezeptionskontext der Videos andauernd und bleibt offen und unabgeschlossen. Die Bedeutung der Make-up-Tutorials für die Konstruktion weiblicher Subjektivität entsteht aus einem vielschichtigen Geflecht von historisch spezifischen und kulturell heterogenen Diskursen und Praktiken. Somit befinden sich die Produzentinnen und Konsumentinnen von Schminkvideos grundsätzlich in einer offenen und unabgeschlossenen Austauschbeziehung der gegen- und wechselseitigen Konstitution. Innerhalb dieser Beziehungen können sie von einer Reihe externer Techniken ergriffen, geformt und kontrolliert werden; sie sind jedoch auch imstande, sich diesem institutionellen Zugriff zu entziehen und neue Formen, Affekte und Intensitäten zu erfinden. Die vermittels der Schminkvideos praktizierte Subjektkonstitution oszilliert zwischen einer schwachen Subjektposition der Selbstadressierung und einer Beziehungsdynamik der Subjektwerdung. Die Selbstadressierung schwächt das Autorensubjekt und stärkt dadurch die partizipative Anerkennung. Obwohl Make-up-Tutorials auf eine bestimmte Weise Darstellungs- und Wahrnehmungskonventionen verfestigen, die zur kulturellen und medialen Konstruktion von individuellen und kollektiven Identitäten beitragen (Hilderbrand 2007: 48-57), ermöglichen sie den beteiligten Subjekten immer auch Spielräume abweichender Bedeutungsproduktionen (diese Ansicht vertritt auch Hoskins 2009: 15-17). Der Aufführungscharakter von Schminkvideos muss folglich weiter gefasst werden. Schminkvideos sind nicht nur eine Bühne für Selbstdarstellungen, sondern vor allem ein Ort ›produktiver Feedback-Schleifen‹ zwischen Produktion und
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Rezeption. In diesem Sinne bleiben Schminkvideos im Aggregatzustand unterschiedlicher Verhandlungsprozesse und Mitbestimmungsmöglichkeiten uneindeutig, ephemer und umkämpft.
2. M ACHINIMA C ULTURE Performative Praktiken im Netz haben neue Perspektiven auf oppositionelle Lesarten entwickelt. Ihr produktives Potenzial entfalten sie im Feld der subkulturellen Medienpraktiken. Die Destabilisierung hegemonialer Bedeutungsarchitekturen und Sinnzuweisungen im Modus der performativen Modifikation soll hier am Beispiel der User/Userinnen-generierten Aneignungspraktiken des Computerspiels Sims 2 thematisiert werden. Performative Modifikation meint in diesem Zusammenhang, dass User/Userinnen Computerspiele als iterierbare Aussagesysteme verstehen, deren Bedeutungen sich grundsätzlich modifizieren lassen (vgl. Derrida 1988: 309). Die Modifikation macht aus den programmierten Games Schauplätze einer allgemeinen Zitathaftigkeit und Iterierbarkeit und sorgt dafür, dass die Games von einer ihnen ›ursprünglich‹ anhaftenden Spieleintention enthoben werden können (Reichert 2010). Abbildung 13: Bedürfnisbalken
Sims 2
Die Sims ist die bisher meistverkaufte PC-Spielserie. Sie hat in über 100 Millionen Exemplaren dazu beigetragen, Managementwissen, Normalitätskonstruk-
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tionen und Lebensführungstechniken (lifestyle treats) weltweit zu verbreiten. Die Sims-Computerspiele sind als Rollenspielsimulation konzipiert und fordern von ihren Gamerinnen und Gamern, das Leben simulierter Spielfiguren, genannt Sims, erfolgreich zu managen: »Erstelle eine Familie und bau ihr ein Haus. Dann hilf Deinen Sims, Karriere zu machen, Geld zu verdienen, Freunde zu finden und sich zu verlieben.«4 Um die levelbasierten Spielmodi erfolgreich abzuwickeln, müssen die Spielenden bestimmte Mapping- und Monitoring-Fähigkeiten entwickeln. Dabei kontrollieren sie das gesamte soziale Leben der Spielfiguren und überwachen mittels der für die Sims typischen Motivations- und Bedürfnisbalken den Zustand ihrer körperlichen und mentalen Bedürfnisbefriedigung, ihre emotionale Kompetenz sowie ihre Fähigkeiten im Bereich des Alltags- und Beziehungsmanagements (Abb. 13). Vor diesem organisationstheoretischen Hintergrund ist die Spielarchitektur der Sims angelegt. Sie basiert auf protokollierenden Wissenstechniken, die der systematischen Überwachung von körperlichen Funktionen und sozialen Beziehungen vermittels technischer Medien und rechnergestützter Beobachtungssysteme dienen. Das Game-Monitoring suggeriert eine Kalkulier- und Regulierbarkeit simulierter Lebensbedürfnisse, die der spezifischen Regulationsverfahren unterworfen werden, wenn festgelegte Schwellenwerte unteroder überschritten werden (Hayes 2013: 101-108). Das Screendesign der Sims setzt sich dementsprechend aus Kernaspekten des Social Monitoring zusammen. Soziale Kontrolle, verstanden als Monitoring, umfasst eine Vielzahl von Wissenstechniken, die Sicherheits-, Risiko-, Fürsorge- und Überwachungsdiskurse zum Mapping der Lebensführungsdiskurse miteinander verbindet. Die als statistische ›Tatsachen‹ und ›Gegebenheiten‹ behaupteten sozialen Bedürfnisse und deren ›notwendige‹ Befriedigungen repräsentieren die Toolbars durchgehend als statistische Regulative, die eine lückenlose Steuerung sämtlicher Lebensäußerungen suggerieren. Zusätzlich stehen grafische Wissensrepräsentationen wie das Cognitive Mapping zur Verfügung, das die einzelnen Daten über die Sims-Charaktere in einer übersichtlichen Totalität anbietet. Die Mapping- und Monitoring-Tools camouflieren aber bloß Kontrolle und durchlässige Planbarkeit. In erster Linie sollen sie strukturellen Druck ausüben und ein bestimmtes Spielverhalten evozieren. In diesem Sinne ist die Sims-Spielserie als Gelegenheitsspiel (Casual Game) aufgebaut. Intuitive Eingabemethoden, kurze Anlernzeiten, Komplexitätsreduktion, schnelle Erfolgserlebnisse und die Steigerung der Erlebnisqualität (Immersion, Flow, Realitätseindruck) sollen die Spielenden ohne langwierige Lernphase kurzweilig 4 | Hersteller-Text, Maxis (Will Wright): The Sims, Emeryville Kalifornien (EA Games) 2000.
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unterhalten. Das Soziallabor der Sims-Spielreihe beschränkt sich folglich nicht auf die virtuelle Spielumgebung, sondern ist auf die Miteinbeziehung der Gamerinnen und Gamer ausgerichtet, die wie ihre Spielfiguren Teil der experimentellen Anordnung werden sollen, indem sie lernen sollen, die Referenzrahmen der Spielefiguren als Indikatoren für eine erfolgreiche Lebensgestaltung zu rezipieren.
Dissidente Praktiken Die dissidenten Praktiken der ersten Generation der Machinimas markieren eine Übergangsphase, die Sherry Turkle in Bezugnahme auf die Ära des Web 1.0 mit dem Begriff der »Liminalität« (1998: 19) umschrieben hat. Liminalität meint in diesem Zusammenhang, dass sich Medien in einem bestimmten Zeitraum in einer deutungsoffenen Entwicklungsphase befinden und daher nur technokulturelle Praktiken ausprägen können, die sich in einem andauernden Übergang immer wieder aufs Neue gruppieren. In diesem volatilen Raum der Umwandlungen und Umänderungen wurde die Machinima Culture anfänglich als ein Experimentierfeld für eine oppositionelle Lektüre der herkömmlichen Logik des Spielens angesehen. Damit wurde klargestellt, dass die Produzenten von Machinimas nicht auf die Interaktivität abzielten, die man generell als das herausragende Alleinstellungsmerkmal des Mediums Computer lobte. Im Gegenteil: Sie nutzten den Computer als Medium algorithmisch berechneter Bilder, um eine sich ausschließlich in der Technik selbst verortete Imagination zu entwickeln. Heute hat sich die Gaming Community sehr stark ausdifferenziert und Machinima wird von zahlreichen Subgruppen als Vehikel des Erzählens verstanden. Machinimas stehen heute nicht einfach als eine kulturelle Repräsentation ›für‹ eine homogene Subkultur (down), die sich gegen die Gamedesigner auflehnt (top). Sie sind selbst einer Aneignungsdynamik unterworfen und können daher nicht als eine abgegrenzte kulturelle Form gefasst werden. Werfen wir aber zunächst einen Blick in die Zeit der »Liminalität«. Entgegen der autoritären Regelstruktur der Sims kultivierte die Fancommunity eine Vielzahl von dissidenten Praktiken, um sich dem permanenten Steuerungszwang zur Bedürfnisbefriedigung der Spielfiguren entziehen zu können. Entgegen der autoritären Regelstruktur der Sims kultivierte die Fancommunity eine Vielzahl von dissidenten Praktiken, um sich dem permanenten Steuerungszwang zur Bedürfnisbefriedigung der Spielfiguren entziehen zu können. Dabei ging es nicht bloß darum, ein von der Regelvorgabe abweichendes Spiel zu eröffnen, sondern die Logik des Spiels grundlegend in Frage zu stellen. Der Game-Theoretiker Gonzalo Frasca verweist in diesem Zusammenhang auf den dissidenten Gebrauch des Familienalbums, das ursprünglich zur Herstellung von Schnappschüssen der Sims-Figuren vorgesehen war, bald
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aber als Tool zur Herstellung von Graphic Novels genutzt wurde, die der SimsSpiellogik diametral gegenüberstanden: »Suddenly, the family album became a comic book. […] Unlike other action videogames, where players record their performances on video in order to analyze or show off their skills, the family album storytellers‹ do not focus on the game itself but use the feature as a narrative tool.« (Frasca 2001) Die Graphic Novels bedeuteten einen grundlegenden Bruch mit dem Dispositiv des Computerspiels. Die Gamedesigner Katie Salen und Eric Zimmermann bezeichnen diese Form des freien Spielens (play), das sich über die rigide Regelstruktur des game hinwegsetzt, als »transformatorisches Spielen« (Salen/Zimmermann 2003: 27) und beschreiben darin den Stellenwert des Erzählens: »Other times players created narratives informed by their own life experiences [a story of a lesbian love affair or alcoholic father]. Still other stories were used to parody the game world itself. In any case, players transformed the play of the system as they sought out avenues for creative expression, making adjustments to the way they played the game. Players began to play The Sims in very unusual ways, in order to compose the exact ›shots‹ they wanted for their storyboard-like narratives. Strategies for successful gameplay, such as keeping game characters happy, were superceded by strategies for positioning objects and characters in a scene.« (Ebd.: 27) Die mit Hilfe des Sims-Familienalbums hergestellten Graphic Novels wurden innerhalb der Fancommunity begeistert aufgenommen und haben maßgeblich zur populärkulturellen Verbreitung der Sims beigetragen.
Performative Modifikation Später sorgte die Erfindung der spielimmanenten Kamerafunktion für eine weitere Modifikation des Sims-Gamings. Im September 2004 bot die im Handel erhältliche Folge »The Sims 2« die Möglichkeit, digitale Animationen mit Hilfe des Computerspiels, d.h. in Echtzeit und ohne zusätzliche Animationstools, herzustellen. Die mit dem spielimmanenten Story-Modus verschalteten In-Game-Technologien der Bildaufzeichnung (Kameraoptionen für die Spielkamera, Kamera-Schnappschüsse und Videoaufnahmen) haben Medienpraktiken ermöglicht, die an die Stelle des levelbasierten und zielgerichteten Spielens ein offenes Netz von Erzählformen rücken konnten. Vor diesem Hintergrund ist eine kleine Form des digitalen Storytellings entstanden: das Machinima. Die damit gegebene Möglichkeit, Animationsfilme ohne finanziellen und technischen Aufwand produzieren zu können, hat das Gaming nachhaltig und grundlegend verändert. Heute hat sich der Begriff »Machinima«, der gleichzeitig auf »machine«, »cinema« und »animation« anspielt, zur Bezeichnung von Animationsfilmen, die mit Hilfe der Game Engine von Consumer-Hard-
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ware hergestellt werden, durchgesetzt (McFedries, www.wordspy.com/words/ machinima.asp). Eine Game Engine ist eine Software, welche sowohl die Physik der virtuellen Welt als auch die der möglichen Aktivitäten der Gamerinnen und Gamer darin steuert. Machinimas sind in einem Computerspiel in Echtzeit erstellte Animationsfilme, die keine interaktive Komponente mehr aufweisen (Lowood 2005: 10-17). Sie bedienen sich der technischen Gegebenheiten einer definierten virtuellen Spielumgebung, die als Handlungsrahmen für die Spielhandlung benutzt wird (Kelland/Morris/Hartas 2005: 17f.). Ein weiteres Merkmal der Machinima-Filme ist, dass sie gänzlich ohne filmische Aufnahme einer äußeren Wirklichkeit auskommen. Mit Hilfe einer ScreenCapture-Software, die die Spielhandlungen als Videodatei aufzeichnet, können Einstellungen und Szenen mit einem Videoschnittprogramm weiterbearbeitet werden. Machinimas sind in diesem Sinn kokreative Produkte und fungieren als ein Medienhybrid zwischen Computerspiel und Film. Machinima steht »für die Produktion von Animationsfilmen ohne Budget und niedriger Technologieschwelle und dennoch unbegrenzten kreativen Möglichkeiten, unterstützt und mitgetragen von einer großen Zahl Menschen und Firmen« (Schmitt 2006: 30). Medienrezeption folgt also nicht zwangsläufig einem autoritären und manipulierenden Top-down-Mechanismus. Im Gegenteil: Die Fans der Machinima-Szene ›hacken‹ vorhandene Programme von Computerspielen, benutzen ihre Engines für ihre Zwecke, dekonstruieren dabei Spielelemente und -inhalte gemäß ihren Alltagsinteressen und bilden dabei spezielle Medienkompetenzen aus. Machinimas sind heute fixer Bestandteil der Fankulturen im Internet (Lowood/Nitsche 2011). Mit ihnen werden Mischformen und Mischgenres im Feld der Computerspiele, Videos, Filme und Comics bezeichnet. Machinimas können als Filmformate gesehen werden, die mit der Game Engine von Consumer-Hardware, In-Game-Technologien und Animationstools hergestellt werden. Das herausragende Charaktermerkmal der Machinimas liegt in ihrer Mashup-Ästhetik (Frølunde 2012: 491-507): Die User experimentieren mit den Gegebenheiten einer indisponiblen Spielewelt, indem sie diegetische, fiktionale oder narrative Bedeutungen des Spiels mehr oder weniger modifizieren und dabei alternative Strategien eines Mediengebrauchs aufzeigen. In diesem Zusammenhang nutzen sie nicht nur die im Gamedesign festgeschrieben kreativen Freiräume, sondern erschaffen in ihren Mashup-Praktiken GegenNarrative, die nicht nur eine andersartige Bedeutungsproduktion in Gang setzen, sondern auch einen medienreflexiven Beitrag zur theoretischen Situierung von hegemonialen Narrativen und Gegen-Narrativen leisten (Kraus 2011: 100-112). Der Aufsatz versucht, die medialen und kulturellen Techniken, die den Machinimas zugrunde liegen, in Bezug auf die fankulturellen Gebrauchsweisen medialer Angebote theoretisch zu verorten. In diesem Zusammenhang können die ästhetischen Möglichkeiten der Modifikation durch die User im-
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mer auch im Wechselverhältnis zu den verfügbaren Medien und Technologien reflektiert werden. In methodologischer Hinsicht geht die Popkulturforschung der Mashups als kulturelles und soziales Phänomen von einer performativen Logik der Medien aus, die nicht an sich, sondern immer nur für sich, d.h. in konkreten alltäglichen, sozialen Zusammenhängen existiert. Die Grundannahme, dass kulturelle Praktiken immer vieldeutig und veränderlich sind und ihre theoretische Reflexion immer auch ein aktiver Konstruktionsprozess ist, kann als Ausgangspunkt für die Thematisierung der prozessualen Komponente von Mashup-Praktiken genommen werden, die transitorische Räume ästhetischer Sinnverschiebungen, Neuorientierungen und Verhandlungen generieren. Machinimas haben ein eigenes Praxisfeld im Digital Storytelling etabliert, in dem sich Gamedesign, Clipästhetik und industrialisierte Genrekonventionen im populären Spielfilm (Actionplots, charakterdominierte Stoffe) hybridisieren. Machinimas, die mit Hilfe der Sims 2 oder der Sims 3 produziert werden, bilden eine extreme Form der Mods5, die in der Community als Total Conversion bezeichnet wird. Die Total Conversion eröffnet ein neues Spiel, das die ursprünglichen Spielaussagen gegen den Strich liest. Ein weiteres Charakteristikum der Sims-Machinimas ist im Bereich des Bild-Ton-Verhältnisses angesiedelt. Die Soundengine des Computerspiels ist in der Regel vollkommen ausgeschaltet und durch eine eigene Soundspur ersetzt, die den Machinima-Produktionen einen zusätzlichen Gestaltungsspielraum für parodierende und/oder immersive Stilmittel eröffnet. Im Unterschied zu Gamemovies, die ausschließlich mit Gameassets gedreht werden und dadurch nahe am programmierten Spielinhalt bleiben, generieren Machinimas sowohl neue Spielinhalte als auch neue Spielfiguren und erzählen mit Hilfe eigenproduzierter Assets Geschichten, die dem Imagedesign und den Brandingstrategien der Games oft diametral gegenüberstehen. Die sich seit 2004 formierende Machinima-Szene distanzierte sich vom Computerspiel-Leistungsdispositiv der heroischen Idealkörper und versuchte vielmehr, die Kontrollverluste innerhalb der sozialen virtuellen Versuchsanordnungen sicht- und sagbar zu machen. Sie begab sich daher auf die Suche nach dem imperfekten, schwachen Alltagskörper und entwickelte eine Vielzahl von erzählerischen Stilen und Konstellationen, um in die erfolgsorientierten und sozial normalisierten Spielwelten biografisch erlebter Gewalt, Macht, Herrschaft sowie simulierte Unfälle, Katastrophen und Störungen einzuführen. Die SimsMachinimas stellen damit das Computerspiel als kulturellen Apparatus zur Popularisierung von Managementwissen in Frage und rücken an seine Stelle narrative Verfahrenstechniken, die versuchen, die ambivalenten Strukturen der 5 | Mod ist die Abkürzung für Modification und bedeutet die Veränderung eines ursprünglichen Spielinhaltes.
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familiären Ordnung bloßzulegen. Der ironisierende Blick auf den ursprünglichen Plot des Sims-Game macht verständlich, warum in der Machinima-Community eine ausgeprägte Tendenz zu dramatischen Erzählformen an der rezeptionsästhetischen Schnittstelle von Gothic und Splatter Movie vorherrscht.
Das Einschließungsmilieu Familie Das Computerspiel Sims 2 hat ein neues Subgenre von Machinima-Filmen hervorgebracht. Obwohl dieses Subgenre über keinen einheitlichen Eigennamen verfügt, weist es eine Reihe von spezifischen Eigenschaften aus, die es wiedererkennbar machen. In allen Versionen und Varianten ist die Erzählhandlung der von Teens und Twenty-Teens produzierten Sims-Machinimas im Einschließungsmilieu kleinfamiliärer Strukturen angesiedelt.6 (Abb. 14) Abbildung 14: Family Life
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Im Zentrum der innerdiegetischen Organisation ihrer Erzählungen steht eine kindliche oder jugendliche Identifikationsfigur, die mehr oder weniger dem Schauspiel eines innerfamiliären Konfliktes ausgesetzt ist. Der Plot ist wenig abwechslungsreich und verläuft nach dem Prinzip der dramatischen Steigerung. Er kreist um die Kernfamilie und entwirft einen Spannungsbogen zwi6 | Das 2007 produzierte Sims-Machinima »The Sims 2 Karma Police Machinima« wurde von einem 22-jährigen Gamer aus den USA hergestellt. Das Machinima »Sims 2 – Bring me to life« produzierte eine 15-jährige Gamerin aus den Niederlanden.
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schen der kindlichen Sehnsucht nach der Familienidylle und dem unwiederbringlichen Zerfall der Familie. Auf den ersten Blick erscheint diese Gruppe von Sims-Machinimas als stereotype Erzählhandlung, die zwischen kindlicher Naivität und väterlicher Gewalt oszilliert und damit versucht, erlebten Familienalltag selbsttherapeutisch durchzuarbeiten. Die Sims-Machinimas als Abbildung familiärer Biografien zu lesen, würde sie aber auf den Status eines bloßen Erfahrungs- und Erlebnisberichtes reduzieren. Diese Sichtweise geht immer auch von einer gewissen lebensweltlichen Spekulation aus, die nicht gänzlich abgestreift werden kann. Verallgemeinernd können Sims Machinimas als kulturelle Praxis der Umgestaltung familiärer Erinnerung verstanden werden. Ihre Narrative sind mehr als spielerische Fußnoten innerhalb der Spielkultur der jeweiligen SimsSequels, denn sie markieren ein soziales Begehren, die traditionelle Medialisierung der Familie aufzubrechen. Andererseits muss eingeräumt werden, dass die Sims-Machinimas über die Melodramen familiärer Ödipalisierung oft reödipalisierend verfahren: Ihr Storyspace ist mit ödipaler Nostalgie gesättigt. Schließlich entwickeln sie auch Fluchtlinien, welche zumindest die familiäre Organisation dezentrieren. Die Erinnerungskultur des Familiären ist immer auch das Ergebnis von medialen Anordnungen und Verfügbarkeiten. Betrachten wir die letzten 150 Jahre Familiengeschichte, dann kann diese auch als eine Abfolge medialer Aufzeichnungs- und Übertragungstechniken beschrieben werden. Fotografie, Film und Video sind die maßgeblichen Bildmedien, mit denen bis in die Gegenwart überwiegend männliche Amateure die Geschichte ihrer Familien dokumentieren. Die Überlieferung von Familiengeschichten und -bildern verweist immer auch auf spezifische Herrschafts- und Machttechnologien, welche die Familien selbst generieren (King 2003: 173-214). Jenseits des väterlichen Aufzeichnungs-, Speicherungs- und Übertragungsmonopols familiärer Geschichte eröffnen Sims-Machinimas überwiegend in weiblichen Fankulturen neue Nutzungsperspektiven. Mit den Sims-Machinimas verändert sich das Register der Überlieferung. Die bisherige Amateurkultur hat vor allem das Außeralltägliche der Familien dokumentiert: Geburten, Hochzeiten, Weihnachtsfeiern, Osterspaziergänge und Urlaubsbilder prägen bis heute die audiovisuellen Archive der Amateure. Im Unterschied zum Euphemismus der bürgerlichen Fotoalben und zur inszenierten Familienidylle der Home Movies erzählen die von – überwiegend weiblichen – Jugendlichen produzierten Sims-Machinimas von familiärer Repression und von körperlicher Gewalt. Die Thematisierung der Familie als personengebundenes Autoritätsverhältnis bringt charakteristische Filmstile hervor, die genrebildend sind und eine Typologie der affektiven In-Game-Kommunikation begründen (expressive Gesten, subjektive Kamera, Täter-Untersicht, Spiegelszenen als Gewissenserforschung etc.).
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Machinima-Filme zirkulieren heute in allen maßgeblichen Sozialen Netzwerkseiten des Web 2.0. Neben einschlägigen Communityseiten (www.machinima.com) dominiert der Videoupload auf YouTube die Medienpräsenz der Machinimas im Netz. Das Videoportal YouTube sorgt für ihre globale Vernetzung und schafft vermittels des Taggings semantische Felder und Knotenpunkte, die eine zusätzliche Kontextualisierung der Machinimas etablieren. Mit ihrer Vernetzung im Feld der Online-Portale und der Social Media sind die Sims-Machinimas zu einem umkämpften Schauplatz heterogener Identitätsdiskurse und gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen aufgestiegen. Vor diesem Hintergrund streiten Feedback-Kommentare der Sozialen Netzwerkseiten um Distinktionen der Zugehörigkeit und führen unermüdlich Zertifizierungskämpfe, die entlang der Suchbegriffe »Emo«, »Goth« oder »Punk« geführt werden. Machinimas sind kleine Formen, also Formate, die innerhalb weniger Minuten Erzählhandlungen fokussieren und Figurenkonstellationen verdichten, um den Rezeptionsgewohnheiten der Internetnutzung entgegenzukommen. Die Häufigkeit von halbnahen und nahen Einstellungen ist ein Indiz dafür, dass Machinimas Erzählformen als zeitkritisch interpretieren und daher versuchen, möglichst rasch die Aufmerksamkeit des betrachtenden Publikums zu wecken. Zur zusätzlichen Steigerung des Aufmerksamkeitswertes werden oft Bezüge zu wiedererkennbaren Filmszenen und Filmfiguren des Hollywood-Kinos gesucht. Insgesamt verdichten sich intermediale und intertextuelle Bezüge, die aus der zwingenden Rahmenbedingung zeitlicher Begrenztheit hervorgehen.
Pathosformeln im Computerprogramm Der Kunsthistoriker Aby Warburg entwickelte in den 1920er Jahren sein Konzept der »Pathosformel«, um die kulturhistorische Überlieferung von Ausdrucksgebärden nach antikem Muster in der Renaissancekunst aufzuzeigen. Diese interpretiert er in seiner 1893 verfassten Dissertation zu Sandro Botticelli als kulturelle Symbole, die Affekte und Leidenschaften nicht unvermittelt abbilden, sondern vielmehr auf einen historisch bedingten, semantisch aufgeladenen und sozial konstruierten Bedeutungsprozess verweisen (Warburg 1992: 11-64). In diesem Sinne begreift Warburg den Gefühlsausdruck nicht als individuell-ursprünglich erlebte Leiberfahrung, sondern als eine Verortung innerhalb einer kulturell bedingten Repräsentationsordnung, »in der man sich passiv leidend und nicht aktiv wirkend vorfindet« (Luhmann 1982: 73). Die Sims-Machinimas nehmen in dreifacher Hinsicht Bezug auf Warburgs Konzeption der Pathosformel. 1) Sie reproduzieren ohne Modifikation das formelhafte Inventar der kinästhetischen Scripts. Sie übernehmen damit die im Gamedesign fixierten Nota-
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tionen elementarer Gesten und einfacher Körperbewegungen. Dies führt zu einer einförmigen Bewegungsanimation. So verbleibt etwa das Affektvokabular der Trauergesten hochgradig repetitiv und folgt der Logik ergonomischer Bewegungsmuster und standardisierter Arbeitsroutinen (Abb. 15). Abbildung 15: Bewegungsskript »Trauergeste«
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2) Darauf auf bauend produzieren sie transformatische Referenzrahmen, welche die Zielgerichtetheit des Spielens unterbrechen und die kinästhetischen Scripts mit abweichenden Bedeutungskontexten assoziieren. Damit überwinden sie das Computerspiel als Dispositiv der Abrichtung von Wahrnehmungen und Reaktionen. Machinimas wechseln den Modus der körperlichen Performanz: Sie machen aus der ursprünglich geplanten Effizienz der Bewegung eine kommunizierende Geste. Sie nutzen Computerkultur zur Kommunikation und vermischen sie mit populärkulturellen Zitaten der Werbung, der Blockbuster oder der Videoclips. 3) Schließlich etablieren sie ein zusammengesetztes Repertoire von gestischen und mimischen Bewegungsgrafiken, das mittels der Ranking-Tools einschlägiger Portale wiederum kanonbildend wirkt. Für die Entwicklung der Sims-Machinimas stellt die restringierte Programmatik der Körperbewegungen und des Gesichtsausdrucks keinen Mangel dar, sondern – im Gegenteil – eine wesentliche Voraussetzung ihrer genuinen Medienästhetik: »Machinima ersetzt die Gesten des Spiels und kompensiert damit einen Verlust an Theater- und Filmgesten, die in Computerspielen schwierig oder unmöglich erscheinen.« (Krapp 2008: 299) Sie interpretieren die technologischen Beschränkungen des Computerspiels als künstlerische Produktivkraft und machen darauf aufmerksam, dass gestische und mimische Ordnungen nicht einer natürlichen Spontaneität entspringen, sondern
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im Umgang mit Spieltechnologie immer als erworbene Eigenschaften und zitierbare Größen angenommen werden müssen. In diesem Sinne forcieren die Sims-Machinimas das Spiel mit ihrer eigenen Beschränkung und reflektieren die computerbasierte Medialisierung emotionaler Scripts, die das Produkt von digitalen Rechenoperationen sind. Sie machen darauf aufmerksam, dass wir im Zeigen unserer Gefühle auf ein kulturelles Repertoire von Gesten zurückgreifen müssen, um uns vermittels spezifischer Körpertechniken verständlich zu machen. Im Möglichkeitsraum der Machinimas verschiebt sich allerdings das Gaming zur effizienzsteigernden Ertüchtigung motorischer Fähigkeiten zugunsten von kleinen Erzählformen, die den Wahrnehmungs- und Kontrollverlust der virtuellen Spielfiguren zum Ausgangspunkt perzeptiver Selbstwahrnehmung nimmt.
Im Möglichkeitsraum der Machinimas Obwohl die Games Produkte der sogenannten ›Kulturindustrie‹ sind, bedeutet dies nicht, dass ihre Userinnen und User zwangsläufig zu passiven Organen der ausführenden Anwendungen werden müssen. So ist etwa der parodistische Counter Discourse der Machinimas in der Lage, die neoliberale rechte Diskursposition des konsumistischen Subjekts, das den besten Gebrauch von den ihm angebotenen Konsumgütern machen soll, zu durchkreuzen. Machinimas zeigen die Möglichkeiten subversiver Aktivitäten in der Konsumkultur auf: Sie können in der Nachfolge anderweitiger populärkultureller Aneignungspraktiken als »ein aktiver, kreativer und produktiver Prozess, bei dem es um Lust, Identität und Bedeutungsproduktion geht« (Storey 1993) verstanden werden. Müssen die Sims-Machinimas aufgrund des in ihnen sichtbar gemachten Vergnügens am dissidenten Gebrauch der Games generell als ›Aufstand‹ gegen die restriktiven Spielvorschriften verstanden werden? Diese rein affirmative Aufwertung der Medienreflexion erscheint mir in zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens lässt sie den Kanon populärer Spiele als Rahmenbedingung, innerhalb dessen die dissidenten Praktiken möglich sind, unberücksichtigt und zweitens begründet sie mit der Aufwertung reflexiver Medienpraktiken (Formalität, Intertextualität, Kontextunabhängigkeit) die Verachtung gegenüber lebensbezüglichen Formen und Praktiken. Um die theoretische Bevorzugung eines medienreflexiven Elitismus abzuwenden, darf die Machinima-Bewegung nicht auf emanzipatorische Vorzeigebeispiele subkultureller Ermächtigungsstrategien eingeschränkt werden. In diesem Sinne nimmt die kritische politische Handlungsmöglichkeit konkrete Formen an und wird »zu der Frage, wie die Signifikation und die Resignifikation funktionieren« (Butler 1991: 212). Dieses Angewiesensein der Macht auf die Macht der Wiederholung ist zugleich der Grund ihrer fundamentalen Instabilität, da für Butler die identische Wiederholung immer pre-
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kär, ja unwahrscheinlich ist. In ihrer Untersuchung »Psyche der Macht« (2001) führt Butler den Begriff »Subjektivation« ein, der sowohl den Vorgang einer Subjektwerdung als auch das Unterworfensein des Subjekts unter die Machtstrukturen, durch die aus poststrukturalistischer Perspektive das Subjekt erst ermöglicht und hervorgebracht wird, kennzeichnet (16-22). Der Terminus bezeichnet weder nur ›Unterordnung‹, noch nur ›Konstitution‹ eines Subjekts, sondern vielmehr eine gewisse Beschränkung in der Konstitution, ohne die das Subjekt überhaupt nicht hervorgebracht werden kann, eine Beschränkung also, mit und durch die sich diese Erzeugung überhaupt erst vollzieht. Obwohl das Subjekt immer schon durch die Macht konstituiert, vorgeformt und durch diese inszeniert ist, sollte man daneben nicht das Schöpferische bei der Subjektivation außer Acht lassen, nämlich die vom Subjekt »selbst inszenierte, handelnd hervorgebrachte Macht« (ebd.). Innerhalb einer sozial anerkannten Bekenntniskultur geschieht die Bindung des Subjekts an seine eigene Identität mittels legitimer Wahrheitsdiskurse, die es dazu zwingen, seine eigene Wahrheit anzuerkennen. Aber können wir – fragt Butler – nicht auch etwas anderes werden als das, was die Macht für uns vorgesehen hat? Gibt es Möglichkeiten für eine ›Umlenkung der Macht‹? Wie kann eine oppositionelle Beziehung zur Macht aussehen, da diese innerhalb einer Machtformation angelegt ist, gegen die sie sich wenden ›soll‹? Die Behauptung einer ›Garantie‹ von Widerstand und Opposition scheint Butler allzu euphorisch und wird von ihr sogleich dahingehend relativiert, dass sie das Subjekt als »Effekt einer vorgängigen Macht« verortet und Macht als »Möglichkeitsbedingung für eine radikal bedingte Form der Handlungsfähigkeit« begreift (ebd.: 21). Diese Handlungsfähigkeit des Subjekts übersteige jedoch die subjektkonstituierende Macht: »Wenn das Subjekt weder durch die Macht voll determiniert ist noch seinerseits vollständig die Macht determiniert [sondern immer beides zum Teil], dann geht das Subjekt über die Logik der Widerspruchsfreiheit hinaus, es ist gleichsam ein Auswuchs, ein Überschuss der Logik.« (Ebd.: 22) So ist zwar die Möglichkeit des Subjekts zum oppositionellen Handeln immer schon im Bestehenden befangen, doch dieses treibt notwendigerweise jene hervor und über sich hinaus. Im Anschluss an Derrida betont Butler, dass Wiederholungen niemals Ausfertigungen desselben seien. Die performative Herstellung von Mashups ist in diesem Sinne kein geschlossenes System, sondern birgt auch die Möglichkeit von Veränderung und Subversion. In Bezug auf das untersuchte Beispiel der Sims-Machinimas bedeutet Iteration konkret die Infragestellung der traditionellen, väterlichen Machtkonstellation in der Darstellung des familiären Lebens und die Aufladung des Gegen-Narrativs mit (auto-)biografischen Inhalten und Verweisen. Die modulierenden Möglichkeiten der Sims-Mashups gehen aber über die biografische Singularisierung hinaus und eröffnen zahlreiche Möglichkeiten, sich dem allgemeinen Spielauftrag zu entziehen, die Sims auf
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eine bestimmte Art und Weise »erfolgreich« zu spielen, um soziale Kompetenz u.ä. aufzubauen. Die Rolle der erörterten Sims-Mashups besteht folglich darin, mit der im Gaming implementierten sozialen Regel zu brechen und von diesem »Tabubruch« ausgehend widerspenstige Narrative zu generieren. Mit diesem Konzept einer performativen Subjektwerdung, in deren Unvollkommenheit und latenter Variabilität zugleich die Chance des Neuen angelegt ist, kann unter dem Gesichtspunkt der Mashup-Praktiken eine deterministische Auffassung der Spielregel vermieden werden, so dass ›Performanz‹ nun Wiederholung und zugleich Chance zur Resignifikation ist. Mashups vermögen aufzuzeigen, dass Games immer auch in historisch und kulturell spezifische Normierungs- und Herrschaftsverhältnisse eingebunden sind. Damit wird aber auch klargestellt, dass Games in institutionelle Rollen und soziale Strukturen eingebunden sind. Die Hervorhebung des subversiven Potenzials der resignifikativen Praktiken bedeutet nicht zwangsläufig, dass Konsumation per se widerspenstig sein muss. So muss andererseits eingeräumt werden, dass sich nicht jede mediale Aneignung der Sims-Games ohne weiteres durch Widerspenstigkeit oder Oppositionalität auszeichnet und darf daher nicht als eine ›typische‹ Rezeptionsweise missverstanden werden. Die Rezeption und Aneignung der Sims als globale Medienprodukte ist ein aktiver sozialer Prozess, der sich nicht auf marginalisierte und subordinierte Gruppen beschränken lässt, die ›immer und überall‹ kulturelle Ressourcen zur Identitätsbildung oder Bedeutungsverschiebung nutzen. Folglich erscheint es aus der Sicht einer politischen Kritik der Produktionsbedingungen und Strategien der semiotischen Macht der Gamedesigner problematisch, den Aneignungspraktiken per se ein kritisches Potenzial zu unterstellen. Die kulturellen Aneignungspraktiken von Computerspielen können nur Optionen benennen, die unter den Bedingungen der Situation, der Singularität und der Kontingenz entstehen können: Sie sind den Games als unkontrollierbare Möglichkeiten inhärent, die augenblicksartig auf blitzen und wieder verschwinden können. Bekommen die Gamerinnen und Gamer Zugriff auf die Programmcodes, um in die Abläufe des Spieles einzugreifen, können sie sich die Produktionsbedingungen der semiotischen Macht aneignen. Diese Möglichkeit, ›hinter‹ die Spieloberflächen zu gelangen, steht ihnen jedoch nur in Ausnahmefällen zur Verfügung. Demzufolge firmieren Machinimas weniger als frei und ungezwungen produzierte Artefakte, sondern eher als Formate eines taktischen Mediengebrauchs, der die Bedingungen seiner Möglichkeiten zwar selbst nicht hervorgebracht hat, aber dazu neigt, seine Beschränkung als etwas zu anzunehmen, mit dem sich spielen und erzählen lässt. Aus den vorangegangenen Fragestellungen ergeben sich in der Folge eine Reihe weiterer Fragen bezüglich der theoretischen und methodologischen Konzeptualisierung der Mashup-Praktiken, die bislang nur am Rande ange-
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sprochen wurden und die in den nachfolgenden Ausführungen thematisiert werden müssen. Zunächst ist zu klären, welchen Stellenwert die Aneignungspraktiken in den jeweiligen Bezugsverhältnissen aufweisen. Werden die Machinimas und ihre Ästhetik erst durch ihren Mashup-Charakter zugänglich, erfahrbar und als Form gelenkter Partizipation begreif bar? Wie können allgemeine Schlussfolgerungen für Mashups in diesem Zusammenhang formuliert werden? Es ist für die Ausbildung einer kulturwissenschaftlichen Perspektive im Bereich der neueren Rezeptions- und Wirkungsforschung zu »interaktiven« Kommunikationsmedien von entscheidendem Vorteil, einen erweiterten Begriff von produktiver Medienaneignung zu gebrauchen, denn intermediale Formate, Appropriationen, Evidenzstrategien, Fakes und Wahrheitsdiskurse haben im Netz eine hybride Wahrnehmungskultur und soziale Spielregeln einer neuen Repräsentationspolitik entstehen lassen, die einen modulierenden Gebrauch des Gamings nahe legen: »Many Games companies are releasing their design tools and games engines alongside their games.« (Jenkins 2006: 166) Im Rahmen einer Theorie der institutionellen Mechanismen (die Spielehersteller offerieren experimentelle Leerstellen, die von den Usern kreativ ausgefüllt werden können) ging man bisher jedoch davon aus, dass deutungskulturelle Aneignungspraktiken den symbolischen Repräsentationen eine institutionelle Relevanz verleihen. Nach diesem Ansatz stabilisiert das aneignende Handeln die Bedingungen der herrschenden Repräsentationspolitik. Konzediert man hingegen – wie oben am Beispiel der Sims-Machinimas aufgezeigt – den Usern eine aktive, kontingente und produktive Handlungsfähigkeit zu, dann erscheinen ihre diskursiven Praktiken befähigt, den Weg für die Verschiebung und Umkehr der kulturellen Hegemonie und der ihr korrespondierenden politischen Institutionalisierungen zu bahnen. Ihre Praktiken bezeichnen eine spezifische Art und Weise der Aneignung möglicher Bedeutungen, welche ihre grundsätzliche Wiederholbarkeit (Iterierbarkeit) aufzeigt, denn jede »Iteration kann mit dem gegebenen Kontext brechen und auf absolut nicht sättigbare Weise unendlich viele neue Kontexte zeugen« (Derrida 1988: 302). Die Modi der Vervielfältigung neuer Kontexte sind jedoch davon abhängig, inwiefern es den Usern gelingt, zu Medienpraktikern zu werden und mediale Darstellungsräume zu generieren, in welchen Medialität und Wissen in einem ständigen Gleiten einer Repräsentation unter die andere unentscheidbar werden. Die damit in Gang gesetzte Iterierbarkeit der Bedeutungen hat schließlich zur Folge, dass die medialen Repräsentationsräume und Darstellungstechniken ihre »ursprüngliche« Referenz verlieren und ihren Sinn als anwendungsorientierten Vollzug der Spielregel unterlaufen. Die Grundannahme, dass die fanbasierte Kulturtechnik der Mashups als ein mediales Aggregat diskursiver, medialer, visueller und technischer Verfahrensweisen firmiert, kann schließlich als Ausgangspunkt für die Thematisierung kultureller Praktiken und
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ihrer Bedeutungen genommen werden, vereinfachende oder vereinheitlichende Interpretationen von Kultur zu vermeiden. Wenn die Mashups als ein technik- und medieninduziertes Geflecht von Praktiken angenommen wird, dann kann aber auch nicht mehr länger von einem einheitlichen Feld gesprochen werden, das sich der Forschung als ein kohärentes epistemologisches Gegenstandsfeld darbieten würde. Daraus kann gefolgert werden, dass kulturelle Formationen von den sich im veränderlichen Feld von Beziehungen verortenden Praktiken immer wieder aufs Neue transformiert werden. Infolgedessen berücksichtigt eine Kartografie der kulturellen Formationen das komplexe Gewebe der möglichen Bedeutungen von Kultur und ihren Kontexten. Sie verfolgt weniger die Absicht, repräsentative Karten der kulturellen Praktiken zu entwerfen, sondern versucht vielmehr, die strategischen und taktischen Möglichkeiten der Aneignungspraktiken sicht- und sagbar zu machen. Somit kann den kulturellen Formationen dieselbe handlungsermöglichende Wirkung zugesprochen werden wie den sozialen Beziehungen. Vor diesem Hintergrund distanziert sich die Erforschung der kulturellen Formationen vom Ideal der autonomen und neutralen Wissenschaft und positioniert sich als ein Politik durchkreuzendes Projekt. Medien operieren in bestimmten diskursiven Räumen, die ihre kulturellen Formen und Funktionen festlegen. Es ist also keineswegs so, dass Medien stets von sich aus ein – angemessenes oder wirksames – Wissen über das erzeugen, was sie sind und können. Das, was Medien können, entsteht und entwickelt sich folglich erst aus ihrem Gebrauch heraus. Die vielfältigen Nutzungsprozesse im Netz sind jedoch immer auch Gegenstand forschungsstrategischer Exemplifizierungen und entziehen sich trotz versuchter Etikettierungen der festen Rahmensetzung und somit der theoretischen ›Sichtbarmachung‹ der Unübersichtlichkeit des Alltags. Eine nichtstatische/temporalisierte Konzeption der kulturellen Formation geht einer teleologischen Indoktrination der Medienkanäle aus dem Weg und verändert die Perspektive der Medien: Sie verändern sich von Anfang an und sind permanenten Aneignungsprozessen unterworfen. Gemeinsam ist diesen Selektions- und Bemächtigungsprozessen, dass die User/Userinnen die Relevanz der Produkte für ihre persönliche und soziale Lebenssituation selbst herausfinden wollen. In einem Feld fortwährender Differenzierungen und Transformationen fungieren komplexe mediale Konstellationen, die sich aus Normen, Dispositiven, Freiheitstechnologien, Adressierungen, Evidenzstrategien zusammensetzen, als basale Strategien für die Prozessierung kulturellen Sinns. Sie firmieren als bedeutungsgenerierende Effekte, die aus der Wechselbeziehung differenter und miteinander verschalteter Medien sowie der rekursiven Rückwendung eines Mediums auf sich selbst entstehen. Ihre spezifische Wirksamkeit entfalten die kulturellen Formationen als eine nicht im Staat verkörperte Handlungsmacht, sondern mittels der Erzeugung und Transformation von Subjekt- oder Äußerungs-
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positionen. Eine Beschreibung und Entzifferung bestimmter kultureller Markierungen vermag in diesem Zusammenhang aufzuzeigen, inwiefern sich politische Ordnung mit ihren quer laufenden Performanzen, Friktionen und Unterbrechungen mittels kultureller Repräsentationssysteme reproduziert. So gesehen, findet in der Kombination konsumtorischer, medialer und körperorientierter Praktiken des Selbst eine populistische, mit Metaphern des Marktes durchsetzte Rhetorik einen Eingang in die Web-2.0-Diskurse. Kulturelle Formationen markieren epistemische und ästhetische Politiken, die sich nicht dahingehend einschränken lassen, auf der Ebene der Selbstpraktiken der Individuen die allgemeine Form eines Gesetzes, das sich ihnen verwirklichen soll, wiederzufinden. Im Gegenteil: Ihre Thematisierung lotet die Möglichkeiten des transformierenden Eingriffs in Mediensysteme aus und macht damit die Widersprüche, Unvereinbarkeiten und Paradoxien innerhalb der medial generierten Macht/Wissens-Komplexe sichtbar. In dieser Sichtweise weisen kulturelle Formationen eine dynamische Entwicklung auf, in der sich Stabilisierungs- und Transformationsphasen abwechseln oder wechselseitig durchdringen. Auf habitualisierte Formationen folgen stets labile Phasen und synkretistische kulturelle Formationen, aus denen neue kulturelle Formationen hervorgehen, die eine eigene Strukturierung mit anderen Elementen entwickeln, so dass sie nicht mehr das ›alte‹ System stabilisieren helfen, sondern den Ausgangspunkt für ein neues System bilden. Diese prozessuale Komponente, welche die Konsensbildung als andauernden Prozess ansieht, in dem permanent Neubildungen, Anpassungen und verhandelte Konstruktionen stattfinden, scheint geeignet, sowohl Raum für einen subversiven Mediengebrauch als auch dominante Strukturen durch die faktische Macht der Institutionen und Produktionsverhältnisse einzuräumen. Die kulturellen Formationen, die im Ablauf der Geschichte einander ablösen, bilden keine festen Blöcke von Subjektordnungen, sondern vielmehr transitorische Räume, die Sinnverschiebungen, Neuorientierungen und eine Hybridität der Subjektformen zulassen. Hybridität entsteht nicht durch eine Intervention von außen, die unterbricht, denaturalisiert und die ›hegemoniale‹ kulturelle Formationen dekonstruiert, sondern ist ein alltäglicher, unvermeidbarer und gewöhnlicher Bestandteil aller kulturellen Formationen, die auftauchen, sich verändern und durch Zeit und Raum fortbewegen. Dieser Umstand soll jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Politiken der Hybridität hart umkämpft sind. Kulturelle Formationen sind jedoch keine supplementären Phänomene, die zu dem, was Medien ›von sich aus‹ sind, hinzukommen. Mediendiskurse wie die Diskurse über das Web 2.0 sind nicht bloße Reflexionstheorien, sondern versuchen, den soziokulturellen Normalfall ihrer Interpretation und Anwendung zu definieren. Diese These führt dazu, das Web 2.0 als ein diskursiv konstruiertes Objekt zu begreifen, mit welchem bestimmte Strategien der Regulierung, die dieses Wissen ›begründen‹ soll,
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verknüpft sind. Web-2.0-Mediendiskurse zielen im Regelfall darauf ab, eine legitime Perspektive für das Beobachtersubjekt festzulegen, um es auf diese Weise in normalisierende Praktiken zu integrieren. Entlang dieser Sichtweise kann eine vorschnelle Ableitung einer neuen medienkulturellen Konstellation wie dem Web 2.0 aus einer bestimmten technischen Innovation und einer damit einhergehenden Infrastruktur vermieden werden. Denn der sogenannte ›spektakuläre‹ Medienumbruch des Web 2.0 ist immer auch als ein diskursiver Effekt aufzufassen und von daher ein integraler Bestandteil eines über die technischen Apparate weit hinausreichenden Netzwerkes, das die spezifische mediale Agency konstruiert. Die bei der Untersuchung der Amateurpraktiken geltend gemachte Grundannahme geht also davon aus, dass kulturelle Praktiken eine größere Reichweite haben als das in Medien investierte technische Wissen der Ingenieure, die nur einen kleinen, wenn auch unverzichtbaren Teil der Aktivitäten im Netz planen und kontrollieren können.
3. W EBCOMICS UND KOLL ABOR ATIVE M EDIENKULTUR Webcomics bezeichnen ein Comicformat, das ausschließlich oder zumindest an erster Stelle im Internet veröffentlicht wird. Sie sind das Produkt technischer Medienumbrüche von analogen zu digitalen Medien und kultureller Praktiken im Feld der Internetkommunikation. Digitale Bildgebungsverfahren, Computernetze und Soziale Medien im Web 2.0 haben nicht nur die technischen Rahmenbedingungen der Verbreitung von Comics verändert, sondern beeinflussen maßgeblich die Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsästhetik von Comics. Computer- und netzbasierte Comics können als Mischformate verstanden werden, da sie sich an der Schnittstelle unterschiedlicher Medien, Technologien und Praktiken situieren und gleichermaßen an der analogen und der digitalen Medienkultur partizipieren. Insofern bilden sie weder ein einheitliches noch ein radikal neues Genre. Daher können Webcomics eher als eine Hybridbildung aus bereits bekannten Genres, Formaten und Medien gesehen werden. Comics, die primär für den Druck produziert und erst im Nachhinein im Internet publiziert werden, nutzen das Internet bloß als einen zusätzlichen Vertriebsweg und schaffen keinen ästhetischen Mehrwert, der über das Druckmedium hinausgehen würde. Da aber die Übergänge zwischen den unterschiedlichen Medienkulturen ohnehin fließend sind, sind Comics im Netz immer auch Medien der Umformung. Demgemäß nutzen sie spezifische Darstellungsformen, die sie den Traditionslinien der Druckmedien und deren Repräsentationen und Praktiken entnehmen. Sie vernetzen und transformieren Nutzungsformen und Inhalte wie sie aus den Bereichen der klassischen Informationsmedien, also der Zeitungen, Bücher, Karten, Plakate oder Flug-
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blätter bekannt sind. Mit ihrer Anknüpfung an die Konventionen der Buchkultur und der Druckgrafik etablieren sie eine Migration der Erzählstile und ihrer visuellen Kommunikation. Webcomics entwickeln aber auch einen ästhetischen Eigensinn, die sie als spezifisch computerbasierte Kunstform ausweist. In diesem Sinne nutzen sie die neuen Möglichkeiten des intermedialen Erzählens und erkunden die gestalterischen Möglichkeiten bei der Verwendung von multimedialem Hypertext. Hypertext-Comics zielen auf die Überwindung der Linearität in der Bilderfolge und der Narration. Die avancierten Comics im Netz nutzen die elektronischen Hypertextmedien, um Lesern/Leserinnen eine kreativere Rolle im Rezeptionsprozess zu ermöglichen und erschließen sich damit eines der wesentlichen Ziele der künstlerischen Moderne (Buckingham 2008). In diesem Sinne generieren die digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien im Netz sowohl die inhaltlichen als auch die formalen Aspekte der performativen Bildinszenierungen von Online-Comics. So unterliegen die kollektiven und kollaborativen Praktiken zur Erstellung von WebPanels zwar bestimmten technischen Rahmenbedingungen – diese können aber auch auf einer Metaebene als Ausgangspunkt einer medienreflexiven Überwindung der Technikdetermination verstanden werden. Dennoch kann konstatiert werden, dass die im kollaborativen Prozess entstandenen Webcomics in Bezug zu künstlerischen Praktiken wie der Performance Art, der es um eine situationsbezogene und handlungsbetonte Kunstpraxis geht und damit das Kunstwerk als Endprodukt und Warenform in Frage stellt (Causey 2006: 17f.). Schließlich entstehen im Produktions- und Rezeptionskontext von Computer- und netzbasierten Comics auch medienreflexive Praktiken, die den multimedialen Oberflächen der Bedienungssoftware kritisch gegenüberstehen. Sie machen die hinter den grafischen Benutzerschnittstellen versteckten Programmcodes und -texte explizit sichtbar und benutzen sie als künstlerisches Gestaltungsmaterial für performative Prozesse. Im Unterschied zu den Printcomics stehen bei diesen experimentell angelegten Comics nicht unbedingt das Werk oder das Endprodukt im Zentrum, sondern Ausverhandlungsprozesse, die von den Webprojekten explizit angeregt werden. Um die Bandbreite der Webcomics als Schauplätze kultureller Zirkulation und ästhetischer Konflikte zu erfassen, soll hier auf ihre medienspezifischen Ausprägungen näher eingegangen werden: (1) Interaktive Webcomics verändern das Erscheinungsbild der Comics und verfügen über Merkmale ästhetischer Eigenständigkeit. Mit ihrer Interaktion und Vernetzung auf multimedialen Plattformen verändern sie das theoretische Paradigma von Comics als Medium und stellen dessen sequentielle Ästhetik und seine visuelle Kommunikation auf neue Grundlagen. Dabei nutzen sie Stilmittel, welche die computerbasierten Medien zur Verfügung stellen und
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bedienen sich der hypermedialen7 oder hypertextuellen8 Gestaltungsverfahren wie sie auch in der Netzliteratur zum Einsatz kommen und dort stilprägend geworden sind. (2) Kollaborative Webcomics entstehen aus gemeinschaftlicher Beteiligung und nutzen die Strukturen vernetzter Medien. Sie können aber nicht alleine aus den technologischen Interaktionsmöglichkeiten abgeleitet werden. Denn die im kollaborativen Schaffensprozess entstandenen Comics erzählen ihre Geschichten nicht nur anders, sondern stellen die traditionellen Strukturen und Funktionen der Comicproduktion weitgehend in Frage. Kollaborative Comicprojekte kritisieren traditionelle Konzepte der Autorschaft und grenzen sich auch von der Arbeitsteilung industrieller Comicproduktionen ab. (3) Medienreflexive Webcomics ermöglichen eine Reflexion von Software. In Anlehnung an die Projekte der Generative Art und der Software Art machen medienreflexive Comics die aus der Bildschirmästhetik ausgeblendete Softwarearchitektur zur Struktur und Form narrativer Beteiligungsprozesse. Sie betrachten Software nicht als etwas, das hinter die Bild- und Textoberflächen der Comicgeschichte zurücktreten soll, sondern lenken die Aufmerksamkeit auf den Programmcode und rücken ihn in den Vordergrund.
Multimediale Rezeptionsästhetik Comics sind in den Multimedia-Anwendungen9 des World Wide Web auf vielfältige Weise präsent (Schuiten/Peeters 1998). Der Computer und das Internet stellen technologische Interaktionsmöglichkeiten zur Verfügung, die von multimedial orientierten Comicprojekten zur Realisierung von interaktions7 | Das Hypermedium Internet subsumiert alle bisherigen Kommunikationsmedien und -wege unter ein- und derselben Medienoberfläche in multimedialen Darstellungsformen. Dabei vernetzt es Hypertexte, die sich aus schriftlichen, auditiven, visuell-dynamischen, fotografischen und grafischen Dokumenten zusammensetzen und auf technischen Plattformen bearbeitet werden können. 8 | Verbindungen sind das Hauptmerkmal von Hypertextualität und vergleichbar mit räumlicher Kontiguität in anderen Medien. Hypertextuelle Instruktionen verweisen auf andere Texte oder Knoten, die in kausaler oder temporaler Weise miteinander verknüpft sind. Hypertexte beziehen sich auf Modelle nicht-sequentieller, nicht-linearer Organisationen von Wissen und der Erarbeitung von Information. Die Realisierung des Hypertext-Konzeptes wurde erst mit der Entstehung einer grafischen Benutzeroberfläche (englisch: Graphical User Interface) möglich, die mit Hilfe der Tastatur und der Computer-Maus aktiviert werden kann. 9 | Unabhängig von der medialen Realisierung bezeichnet der Begriff ›Multimedia‹ das verteilte Vorkommen mehrerer medialer Repräsentationen, wobei meistens als Kriterium angegeben wird, dass zumindest ein zeitbasiertes Medium dabei sein muss.
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intensiven und synästhetischen Projekten genutzt werden (Ryan 2004: 329f.). Multimediale Comics bestehen aus mehrdimensionalen digitalen Medien wie Text, Grafik, Fotografie, Audio, Video, Animation oder auch Virtual-RealityModellen. Die Webcomics setzen sich aus Teilanimationen und mitunter auch aus Toncollagen zusammen. Damit einhergehend verändert sich auch die medienspezifische Ästhetik der Comics, aus der sich Besonderheiten neuer digitaler Erzählformen entwickeln können. Kooperative Organisationsformen, inter- und hypermediale Erzählformen sowie die interaktive Einbindung des Publikums etablieren produktive Strukturen von virtuellen Gemeinschaften. Mit ihrer multimedialen und interaktiven Anreicherung stellen Webcomics z.B. die starren Prinzipien der Panelaufteilung in Frage. Da im Unterschied zu westlichen Comics die japanischen Mangas offenere Panelstrukturen aufweisen, besteht zwischen interaktiven Comics und Mangas ein bestimmtes Naheverhältnis. Auch in dieser Hinsicht können bisher feststehende Definitionen des Comics auf neue Weise problematisiert werden. In der Einführung zu ihrem Buch »Webcomics« vertreten Steven Withrow und John Barber die Ansicht, dass Comics in ihrer Webpräsenz immer auch die klassischen grafischen Grundsätze der Printcomics tradieren würden und fassen zusammen: Our theory of webcomics is that there exists a continuum of artistic, communicative, and/or narrative works that are bonded [though by no means bounded] by the following two properties: 1. Delivery and presentation through a digital medium or a network of digital electronic media. 2. Incorporation of the graphic design principles of spatial and/or sequential juxtaposition, word-picture interdependence, and/or closure (Withrow/Barber 2005: 10).
Dieser Versuch einer Genredefinition reduziert die Phänomenologie der Comics im Netz auf den traditionalistischen Ansatz und kann folglich keine Theorie des Webcomics als eigenständige Kunstform entwickeln. In seinem Essay Defining Comics? entwickelt Aaron Meskin eine differenziertere Sichtweise und untersucht den Hyperlink als strukturelles und ästhetisches Gestaltungsmittel von Comics im Internet. Er kommt zum Schluss, dass die interaktiven Erzählformen der Webcomics den definitorischen Rahmen von Comics künftig sprengen werden: Since it is not at all obvious that all comics must be essentially ordered, the sequence condition is questionable. Various imagined cases and the example of some webcomics suggest that the sequence condition might be jettisoned. Finally, we may raise a question about the juxtaposition condition. Must comics be spatially juxtaposed? What about comics with hyperlinked frames? McCloud explicitly wants to exclude these from the category of comics, but this move seems to be largely driven by his prior commitment to the spatial juxtaposition condition (Meskin 2007: 375).
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Hier anknüpfend kann die Frage gestellt werden, ob und inwiefern die interaktiven Prozeduren zur Herausbildung einer ästhetischen Neuordnung des Genres führen. Mittlerweile manifestieren sich erste Versuche, die Webcomics in eine Richtung weiterzuentwickeln, die man im Sinne der informatischen Hypertextforschung als Spatial Hypertext bezeichnen könnte. Dabei handelt es sich um eine digitale Visualisierungstechnologie, die es ermöglicht, nach festgelegten Kriterien die fundamentalen Zeichenregister der digitalen Comicerzählung auf unterschiedlichste Art und Weise anzuordnen und miteinander eigenständig zu verknüpfen. Bevor auf diese Fragestellung näher eingegangen wird, soll zunächst die technologische Infrastruktur beschrieben werden, welche die Grundvoraussetzung für den Prozess der Herstellung und der Nutzung von Comics im Internet bildet. Das Internet ermöglicht auf der technischen Grundlage gesteigerter Rechnerkapazitäten und proprietär integrierter Entwicklungsumgebungen wie dem Softwareprogramm Flash (Adobe Flash, ehemals Macromedia Flash) die Erstellung von multimedialen Comics. Die resultierenden Dateien liegen im SWF-Format (Shockwave Flash) vor, einem auf Vektorgrafiken basierenden Grafik- und Animationsformat. Um die Videos oder Sounddateien der Comics über das Internet zu streamen, wird bei Flash-Anwendungen RTMP (Real Time Messaging Protocol) benutzt. Neu sind nicht nur Flash-Animationen und Interaktivität, neu ist in diesem Zusammenhang auch, dass die technologischen Interaktionsmöglichkeiten eine neuartige Schnittstelle von Multimedia-Applikationen und Geschichtenerzählen eröffnet. Diese interaktive Komponente macht Leser/Leserinnen zu Erzählern/Erzählerinnen und überlagert Produktion und Rezeption. Damit urgieren multimedial ausgerichtete Comics den Unterschied zwischen den klassischen Erzählformen der auktorialen und experimentellen Comics, die dem Publikum z.B. die Wahlmöglichkeit über den Fort- und Ausgang einer Geschichte überlassen. Multimediale Comics bestehen aber nicht nur aus einer Summation von Bild, Ton und Text, sondern implementieren expliziten Prozeduren der NonLinearität, die aus den technologischen Interaktionsmöglichkeiten resultieren. Zum Abrufen der Geschichten braucht das Webpublikum, im Gegensatz zum Comic als Druckmedium, technische Geräte. Deswegen zählen Webcomics zu den Tertiärmedien, da bei der Produktion und Rezeption ein Einsatz von technischen Geräten erfolgen muss. Von diesem technischen Setup ausgehend hybridisieren Webcomics bestimmte Grenzen und Aspekte der Rezeptionsästhetik. Die interaktive Einflussnahme und Auswahl ermöglicht dem Webpublikum eine vielschichtige Rezeption. So kann man computer- und netzbasierte Comics sowohl als statuarisches Medium als auch als transitorisches Medium konsumieren. Denn streckenweise ist die Nutzung der Webcomics zeitlich begrenzt, da die Dauer und die Geschwindigkeit des Lesevorgangs teilweise vom Medium vorgegeben werden.
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Erzählungen, die das prozedurale Moment rechnergestützter Benutzeroberflächen nutzen, nennt die Medientheoretikerin Janet Murray »Interactive Fiction«. Sie lassen im Rezeptionsprozess den Eindruck der Navigation durch einen Datenraum entstehen und bieten ihnen einen Spannungsbogen zwischen Erzählung und Handlungsfreiheit. Die interaktive Navigation durch den digitalen Storyspace erfolgt vermittels standardisierter Tastatureingaben oder Mausklicks. Die Möglichkeit des Navigierens lässt diese Räume wirklicher erscheinen als in jeder anderen medialen Form, weil das Navigieren im Raum der Erzählung eine Wirklichkeit verleiht. Navigation durch grafische oder textuelle Räume wird somit in der digitalen Comicerzählung ein sinn- und bedeutungstragendes Element. Das Navigieren durch den erzählerischen Raum des Webcomics erhöht die Fähigkeiten (Agency), den Verlauf der Handlung zu beeinflussen. Agency wird durch Prozeduralität und Partizipation ermöglicht und bezeichnet im Allgemeinen den Grad der Möglichkeit, die Erzählhandlung selbständig zu gestalten. Ein Comic als Druckmedium hat praktisch keine Agency, da die Leser/Leserinnen kaum oder gar nicht in die Anordnung oder Abfolge der Panels intervenieren können. Durch die »Interactive Fiction« der digitalen Comicformate wird es hingegen möglich, die einzelnen Erzählsituationen und den Plot mit Agency aufzuladen. Der interaktive Comic NAWLZ wurde vom australischen Künstler Stu Campbell konzipiert (Campbell 2008ff.) und kann als ein Musterbeispiel für das interaktive Erzählen im Hyperlinksystem gesehen werden (Abb. 16). Abbildung 16: Stu Campbell, NAWLZ
www.nawlz.com
Um die Geschichte des Protagonisten Harley Chambers, der in einer futuristischen Stadt namens Nawlz lebt, ›lesen‹ zu können, müssen die User/Userin-
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nen sich Panel für Panel vorarbeiten, indem sie einen Hyperlink am Ende jeder Sprechblase anklicken. Dieser an der grafischen Benutzeroberfläche angesiedelte Interaktivismus legt es nahe, das vorherrschende Referenzmedium von multimedialen Comics im Bereich der Computerspiele zu suchen (Darley 2000). Im Web 2.0 boomen heute sogenannte Spritecomics, die aus Hintergründen von Computerspielen hergestellt sind (Books LLC 2010a/b). Die den Spritecomics zugrunde liegenden Grafiken werden Screenshots entnommen, die im laufenden Computerspiel angefertigt werden. Diese Screenshots bilden in der Folge den Hintergrund von Comicerzählungen, werden zu neuen Szenerien arrangiert und mit Sprechblasen und Animationen verknüpft. Die populären Adventure Games haben die Entwicklung von Multimedia-Anwendung entscheidend forciert und können als eine Frühform des Digital Storytelling gesehen werden (Woletz 2007: 159-169). Frühe Text-Adventures (Adventure, 1972, von William Crowther und Don Woods) und Grafik-Adventures (Mystery House, 1980, von Ken und Roberta Williams) stellen einen archetypischen Prototyp der Multimedia-Applikationen dar und haben die Interaktionsmöglichkeiten auf den Heimcomputern stil- und genreprägend vorweggenommen. In Anlehnung an das Adventure-Genre haben die Rezipienten/Rezipientinnen von interaktiven Graphic Novels unterschiedliche Rätselaufgaben zu lösen, Gegenstände oder Hinweise aufzufinden, mit anderen Figuren Kontakt aufzunehmen und damit die im Vordergrund stehende Handlung zu entwickeln. Diese Form der interaktiven Beteiligung charakterisiert multimediale Comics, bei denen wie im Adventure Game nicht das Spielen, sondern die zu erzählende Geschichte im Vordergrund steht. Damit einhergehend ändert sich die Rollenverteilung von Autoren/Autorinnen und Rezipienten/Rezipientinnen, da die Intention in den Bereich der Interaktionsmöglichkeiten (Wiederholung, Kombinatorik etc.) überführt wird. Allerdings stellt der Grad an Interaktivität alleine noch keinen Qualitätsfaktor her. Daher muss eine Abwägung zwischen einer zu großen Freiheit durch nonlineare Strukturen und einer zu starren Struktur bei der Entscheidung über die Anzahl der variierenden Elemente getroffen werden. Im interaktiven Modus können User/Userinnen bei der Lektüre von Webcomics auf die Egoperspektive (subjektive Kamera) zurückgreifen und durch die Erzählwelten navigieren. In diesem Zusammenhang wird nicht Vergangenes erzählt, sondern eine Geschichte in der Gegenwart erlebt. Damit scheinen Erzähltes und Erzählakt zusammenzufallen: Das Geschehen entwickelt sich mimetisch-dramatisch und suspendiert damit intermediäre Erzählinstanzen. Mit der Aufwertung der personalen Erzählweise wird die Comicfigur zur Persona, das heißt zu einer Rollenmaske, die sich die Leser/Leserinnen selbst auferlegen. Mit der Aufwertung der Egoperspektive hybridisiert sich das Webcomic mit den Genres Adventure Game und Rollenspiel und die Leser/
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Leserinnen erleben das Comic eher auf der Grundlage von »showing« als von »telling«: Sie erleben die Erzählhandlung in der Rolle der handelnden Figuren und teilen damit den limitierten Blickwinkel des Avatars, was bedeutet, dass damit auch ihr Wissensstand dementsprechend eingeschränkt ist. Die visuelle Repräsentation des Interface-Designs steuert den Fokus der Rezeption, sie strukturiert das Wissen über die fiktionale Welt und generiert ein komplexes Zeichensystem der Deutung von möglichen Ereignissen und Figuren. Der unterschiedlich medienspezifische Einsatz von erzählerischer Perspektivierung ist also entscheidend für die ästhetische Wirkung der Comics im Netz. Das Wahrnehmungsbild der Webcomics ist das Produkt technologisch aufbereiteter Rechenoperationen, die eng mit der auf dem Screen eingeblendeten Informationen und Leseanweisungen verknüpft sind, die Medienkompetenz einfordern und mehr oder weniger korrekt interpretiert werden müssen. So liegt den oft ikonisch dargestellten Gegenständen ein symbolischer Bedienungswert zugrunde, dessen konventionelle Bedeutung erst im Verlauf des Spielens erschlossen werden muss. Zur Entschlüsselung dieser Zeichensysteme sind neben der bloßen Lektüre auch multimediale Rezeptionsfähigkeiten zur narrativen Perspektivierung und Auflösung der fiktionalen Welt der Webcomics vonnöten. Im virtuellen Raum des Webcomics müssen die oft ikonisch dargestellten Gegenstände der erzählerischen Welt erst als bindend in Bezug auf die Ordnung des erzählerischen Raumes erkannt und dementsprechend einbezogen werden (z.B. vermittels der optionalen Steuerung der unterschiedlichen Mauszeiger). Diese interaktive Ausstattung von Panels mit Rätselaufgaben erweitert die Erzählmechanik um narrative Wahlmöglichkeiten und soll an einem konkreten Beispiel veranschaulicht werden. Eine der ersten Serien, welche das von Bruno Felix und Femke Wolting gegründete Internetportal SubmarineChannel präsentierte, war das interaktive Online-Comic The Killer. Die im Jahr 2001 animierte Version basierte auf der französischen Graphic Novel Le Tueur von Luc Jacomon und Matz und wurde im 14-Tage-Turnus forterzählt und ähnlich der Printvorlage episodenweise fortgesetzt (Abb. 17). The Killer ist ein Medienhybrid aus digitalisierten Zeichnungen und filmischen Elementen, die oft innerhalb eines Panels eine Koexistenz führen. So ist es etwa den Betrachtern/Betrachterinnen möglich, das Einzelbild mit Hilfe der Zoomtechnologie zu verkleinern oder zu vergrößern, um auf diese Weise spezielle Bereiche und Punkte zu untersuchen, die für den Fortgang der Geschichte von Interesse sein können.
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Abbildung 17: Bruno Felix/ Femke Wolting, The Killer
www.submarinechannel.com/content/killer
Interaktivität ist wie hier und in den meisten Webcomics auf die Bedienaktion von Zeigen-und-Klicken (Point-and-Click) beschränkt, bei der die User/ Userinnen ihren Mauszeiger zu einem bestimmten Punkt auf der grafischen Bedienoberfläche (die zugleich die Zeichnung darstellt) bewegen (Zeigen) und dann durch das Drücken einer Taste die in der Skripsequenz programmierte Aktion auslösen (Klicken). In diesem Zusammenhang firmiert die erzählerische Entwicklung (z.B. Innensicht der Charaktere qua erlebte Rede/innerer Monolog) als kombinatorisches Resultat von visuellen/ästhetisch vermittelten Erzählsituationen, die ein Feld der Multiperspektivität eröffnen können. Neben dem interaktiven Modus des Point-and-Click gehört die Verwendung von Videosequenzen zum Standardrepertoire rechnergestützter Comics. Mit sogenannten Cutscenes kann eine Rahmengeschichte, eine Figurenrede erzählt oder eine zusätzliche Kontextualisierung durch eine auktoriale Erzählsituation etabliert werden. Cutscenes sind Zwischensequenzen, die ursprünglich in Computerspielen verwendet wurden und nun in den interaktiven Comics dazu dienen, ohne Beteiligung der Leser/Leserinnen zusätzliche Erzählhandlungen zu vermitteln. Cutscenes können in der Regel durch den Mauszeiger aktiviert werden und setzen dabei gängige Kameratechniken wie etwa Kameraschwenks, Kamerafahrten und Zooms ein, um die immersive Wahrnehmung des Comics zu steigern. In diesem Zusammenhang findet ein turn taking, das ist ein Wechsel der sprechenden Figurenrede, höchst selten statt. In der Regel stärken Cutscenes
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mit Figurenrede die Innenperspektive des innerdiegetischen Erzählaktes. Sie dienen der Verlebendigung dramatischer Monologe und stärken die IchErzählsituation der Rede. Die Cutscenes werden mit Hilfe standardisierter Tastatureingaben oder Mausklicks aktiviert und verlangen in der Regel kein Feedback für ihre Fortsetzung. In diesem Sinne übernimmt die interaktive Aktivierung eine ideologische Funktion, da sie die Personalisierung der Erzählsituation stärken und damit auch die Komplizenschaft der User/Userinnen zu gewinnen trachten. So tragen Cutscenes in Webcomics deutliche Anzeichen erzählerischer Vermittlung und Rezeptionslenkung. Sie sind daher als traditionell zu bezeichnen, da sie sich bereits bestehender Erzählweisen bedienen, um die Kohärenz der Erzählung zu gewährleisten. Cutscenes etablieren also in der Regel eine Erzählsituation im Präteritum, sie generieren eine Erzählrede, die der aktuellen Erzählsituation zeitlich vorausliegt, und die von dem innerdiegetischen Erzählakt zeitlich geschieden werden kann. Aus dieser vermittelten Animation ergibt sich ein medienspezifisches Vergnügen an der Lektüre des Webcomics, das eine neue Wahrnehmungsqualität erreichen kann. Digitale Comicerzählungen zeichnen sich generell durch einen hohen Grad an multimedialer Präsentationstechnik aus, wie sie bereits von Computerspielen bekannt sind. Sie ermöglichen im Unterschied zur Printversion einen hohen Grad an Wahrnehmungsimmersion. In diesem Zusammenhang bezeichnet Immersion den Grad, in dem eine Erzählung, ein Objekt, die Konzentration und Aufmerksamkeit im Rezeptionsprozess erfordert und ergreift. Die Multimedialität der digitalen Graphic Novels umfasst alle Zeichenregister und erstreckt sich auch auf die Tonebene. Mit Hilfe der Soundengine und zur Verfügung stehenden Soundfiles kann der Text im digitalen Comic zusätzlich dramaturgisch in Szene gesetzt werden, indem dieser etwa laut vorgetragen wird. Die verbalsprachliche Intonation wird damit aus der diegetischen, erzählenden Situation auf der Ebene des Bildes in ein szenisches Off verlagert. Damit kann etwa ein erzählendes Ich das innerdiegetische Geschehen zusätzlich kommentieren. Dadurch entsteht aber eine gleichzeitige Doppelung des Protagonisten in ein erzählendes (Off-Screen) und in ein erlebendes Ich (OnScreen). Die Soundengine ermöglicht also eine zusätzliche Erzählstrategie, die für die Innenperspektivierung der Figur und damit zusammenhängend zur Steigerung der Wahrnehmungsimmersion eingesetzt werden kann. Die mit dem Ton eröffnete Voice-over-Zeichenebene ermöglicht die Etablierung eines anonymen auktorialen Erzählens im visuellen Off-Bereich. Die filmischen Techniken der Animation und der Vertonung haben schließlich dazu geführt, dass Webcomics charakteristische Elemente der Comicsprache übertreiben (z.B. die plakative Verwendung von Sprechblasen), um noch als Comic wahrgenommen zu werden. Das unverwechselbare Kennzeichen der multimedialen Comics ist ihr Bekenntnis zur Vermischung von unter-
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schiedlichen Genres, Stilen und Formaten. In diesem Sinne können sie auch als Hypermedien verstanden werden, da ihnen die Verknüpfung und Überlagerung von traditionellen Kunstformen und digitalen Medien zugrunde liegt.
Kollaborative Bedeutungsproduktion Die Medien der elektronischen Kommunikationsnetze der Comicproduktion bieten neue Gelegenheitsstrukturen für kollaborative Projekte in räumlich entgrenzten Netzwerken. In diesem Zusammenhang sind neue Möglichkeiten computervermittelter Partizipation und kollektiver Interaktion entstanden, die auf die Präsentationstechniken und Erzählformen von Comicproduktionen starken Einfluss ausüben. Das Internet hat sich innerhalb weniger Jahre zum zentralen Konvergenzraum der Comicproduktion entwickelt. In offenen und kollaborativen Produktionsprozessen erzeugen Online-Communities gemeinsam und unentgeltlich Comicprojekte in diskursiven Aushandlungsprozessen. Damit kann ein weiteres Merkmal, über das die digitalen Umgebungen der Webcomics verfügen, kenntlich gemacht werden: die Transformation. Diese bezeichnet die permanente Weiterentwicklung des Comics auf allen Ebenen der Produktions-, Darstellungs- und Rezeptionsästhetik – von der erzählerischen Rahmenstruktur bis zur Reorganisation der Arbeitsprozesse. So ermöglicht beispielsweise das Online-Comicprojekt Comicsconvergence (Sticka/Wooley 2006ff.) eine Vielzahl von kollaborativen Interaktionen mit anderen Usern/ Userinnen, die sich während der gemeinsamen Arbeit an einem Comicprojekt wechselseitig vernetzen und mit ihren Umgestaltungen dazu beitragen, dass sich einzelne Panels oder Sequenzen auf ungeplante Art und Weise weiterentwickeln und mit oft divergierenden Erzählperspektiven und -versionen vernetzt werden können. Die kontinuierliche Transformation der Ästhetik und Narrativität von kollaborativen Online-Comicprojekten verweist auf eine Rezeptionskultur, die dem klassischen Modell von Autorschaft ablehnend gegenübersteht und demgegenüber versucht, kollektive Praktiken zu fördern. Die Bedingungen der permanenten Variabilität eröffnet den Usern/Userinnen die Möglichkeit, den Verlauf der Erzählung endlos umzuschreiben. Die aggregatähnlich organisierten Erzählräume der digitalen Graphic Novels verleihen dieser kollaborativen Haltung einen angemessenen Ausdruck. Damit verändern sich nicht nur die Rezeptionskontexte, sondern auch die Handlungsrollen im Produktionsprozess. An der Stelle der klar und eindeutig definierten Aufgabenbereiche und Kompetenzen lösen sich die klassischen arbeitsteiligen Ordnungen der Comicproduktion auf und neue Ausverhandlungsprozesse treten auf. So geht etwa das Comiczine Reihenhaus weit über die übliche Zusammenarbeit in der Comicproduktion hinaus. Es gibt keine Arbeitsspezialisierung im klassischen Sinne: »Bei unseren Comics haben alle getextet, Figuren erfunden, skizziert und ins Reine gezeichnet. Mithilfe der schreibgestützten Er-
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zählwerkstatt entwickeln wir Handlungsstränge und Figuren. Erst nach einem intensiven gemeinsamen Prozess entsteht das fertige Comic-Heft.« (Schmidt/ Backes/Möhring 2006ff.) In Hamlet on the Holodeck, ihrem Buch über die Narrativität in elektronischen Medien, führt die US-amerikanische Medientheoretikerin Janet Murray den Begriff der »procedural authorship« ein, um den Aspekt veränderter Handelsrollen in Bezug auf interaktive Medien herauszustellen: »Procedural authorship means writing the rules by which the text appears as well as writing the texts themselves. It means writing the rules for the interactor’s involvement, that is, the conditions under which things will happen in response to the participant’s actions. […] The procedural author creates not just a set of scenes but a world of narrative possibilities.« (Murray 2000: 152) In diesem Zusammenhang begreift sie die interaktive Einflussnahme als choreografisches Rezeptionsmodell: »In electronic narrative the procedural author is like a choreographer who supplies the rhythms, the context, and the set of steps that will be performed. The interactor, whether as navigator, protagonist, explorer, or builder, makes use of this repertoire of possible steps and rhythms to improvise a particular dance among the many, many possible dances the author has enabled.« (Murray 2000: 152) Partizipatorische Comics verlangen von ihren prozeduralen Autoren/Autorinnen eine grundsätzliche Bereitschaft zur Verhandlung, die alle Bereiche des Storytellings umfassen kann. Sie leisten damit eine doppelte Rahmung des Geschichtenerzählens. Erstens formulieren sie vermittels ihrer Interaktionen neue Konventionen des Erzählens, indem sie ihre Erfahrungen, Kommentare und Bewertungen in die digitale Umgebung der Webcomics einfließen lassen (vermittels Ranking-, Voting- und Response-Tools). Damit wird eine editoriale Rahmung bevorzugter Figurenkonstellationen und Erzählformen hergestellt. Zweitens etablieren sie eine stochastische Komponente, indem sie Möglichkeiten für programmierte Zufallsprozesse oder aber für Eingriffe durch User/ Userinnen schaffen. Vor dem Hintergrund dieser hyperfiktionalen Struktur erschließen sich User/Userinnen ihren eigenen Lektüreweg und haben dabei – wie im Computerspiel – immer wieder abduktive Entscheidungen zu treffen. Die Aufwertung der aktiven Rolle der Leser/Leserinnen bei der Lektüre eines Textes zählt heute zum fixen Forderungskatalog der Rezeptionsästhetik. Die Anerkennung der interaktiven Einflussnahme darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freiheit der multimedialen Rezeption durch die technischen Möglichkeiten des Computers beschränkt bleibt. Im Webcomic sind die Regeln, nach denen der Leseprozess abzulaufen hat, Bestandteil von Skriptsequenzen, die im Rahmen der interaktiven Beteiligung nicht modifiziert werden können. Insofern beschränkt sich die vielbeschworene Freiheit der Interaktivität mehr oder weniger auf den Beteiligungsmodus des Pointand-Click und reduziert damit die kognitive Aktivität im Rezeptionsprozess
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auf wenige Bedienbefehle. Die überwiegende Mehrzahl der traditionellen Webcomic-Hyperfictions zeigt, dass die User/Userinnen den Linkstrukturen, die vorgegeben sind, ausgeliefert bleiben. Murray fordert daher zu Recht »a distinction between playing a creative role within an authored environment and having authorship of the environment itself« (Murray 2000: 157). Genau an diesem Punkt setzen die medienreflexiven Comics an, die sich nicht mit der bloßen Steigerung von Interaktivität und Partizipation zufrieden geben, wenn nicht auch die Rolle des Mediums und die medialen Bedingungen reflektiert werden, welche die Inhalte und ihre symbolischen Repräsentationen, die Kommunikationskultur und unsere Medienerfahrungen prägen.
Medienreflexives Erzählen Webcomics werden oft mit der Immaterialisierung und der Virtualität der Neuen Medien in Verbindung gebracht. Dabei wird jedoch meist eine andere Seite vergessen. Denn das Immaterielle und Virtuelle beruht auf einer spezifischen Struktur von materiellen Bedingungen, die aber meist ausgeblendet bleiben. Wenn Webcomics über die Gegebenheiten ihrer eigenen Medialisierung reflektieren, dann ist ihr unhintergehbarer Ausgangspunkt die Frage nach dem Stellenwert von technischen Medien. Eines ihrer zentralen Anliegen fokussiert daher den Prozess hinter den grafischen Benutzeroberflächen, den sie sichtbar und zugänglich machen wollen, um zu verdeutlichen, dass ein Computer weniger ein Bild-, sondern vielmehr ein Schriftmedium ist, das seine multimedialen Oberflächen mit Programmiercodes und texten generiert. Ihre Frage nach der Materialität von Bildsystemen lenkt die Aufmerksamkeit also auf die Träger, Orte und Kontexte der Bedeutungsgenese von Bildsystemen. Mit der Frage nach den Materialitäten soll ihres Erachtens die Aufmerksamkeit für die Tatsache geschärft werden, dass die von den Webcomics genutzten Kommunikationssysteme wie Sprache, Schrift, Bild, Ton, Film, Video oder Computernetze eines spezifisch materiellen Trägers bedürfen sowie eines spezifischen Ortes und einer spezifischen Zeitstruktur. Da der Computer nicht nur als ein Speicher-, sondern auch als ein Rechenmedium wirksam ist, ist er selbst als ein erzählerisches Medium wirksam, indem er spezifische Regeln, Strukturen und Möglichkeiten der teilnehmenden Interaktion und der sinnstiftenden Interpretation vorgibt. Dies tut er in seiner Funktion als Hardware. In diesem Sinne tritt der Computer als prozedurales Medium in Erscheinung, indem er Eingaben unterschiedlich berechnet und auf diese Weise unterschiedliche Aktionen generiert. Christiane Heibach problematisiert in ihrer Studie zur elektronischen Literatur im Internet den künftigen Reflexionsbedarf digitaler Medienkultur:
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Die Visualisierung der Strukturen [die Vollversion von Storyspace bietet diese Möglichkeit in Form einer ›Landkarte‹ an] ist ein wesentliches Element zum Verständnis von Hypertexten, wird aber von den Autoren oft nicht bewusst eingesetzt. Die vielgelobte ›Interaktivität‹ des Lesers bei der Rezeption elektronischer Literatur wird schnell auf die rein zufallsgesteuerte Klicktätigkeit mit der Maus reduziert. Der Leser ist doppelt ausgeliefert: den Vorgaben des Autors sowie den unterschwellig ablaufenden elektronischen Prozessen. Denn die elektronische Leseumgebung – die graphische Benutzeroberfläche mit den Funktionsicons – führt schon zu einem gewissen Entfremdungseffekt vom Text, der durch die Auslösung der textperformierenden Abläufe noch verstärkt wird, meist aber von der Erscheinungsform der Texte nicht reflektiert, geschweige denn ästhetisch produktiv gemacht wird (Heibach 2003: 220).
Vor diesem Hintergrund postuliert Anja Rau eine stärkere Einbeziehung der grafischen und symbolischen Software-Tools in die ästhetische Gestaltung der Netzliteratur (Rau 1999: 119). Medienreflexive Comics greifen diese MetaDiskurse zu elektronischen Texten auf und erinnern uns daran, dass digitale Comicerzählungen immer auch Prozesse von Datenverarbeitung sind. Mit ihren Projekten versuchen sie, die User/Userinnen, die in den für sie undurchschaubaren Simulationen mittels Maus, Cursor und grafischer Oberfläche für dumm gehalten werden, zu emanzipieren. Auf welche Weise geschieht dies nun? Abbildung 18: Hannes Niepold/Hans Wastlhuber, The Church of Cointel
www.cointel.de
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Das im Jahr 2001 an der Bauhaus-Universität Weimar entwickelte Comicprojekt The Church of Cointel (Niepold/Wastlhuber 2001ff.) versucht, die üblicherweise verborgenen Strukturen der Softwarearchitektur für die User/Userinnen sichtbar und benutzbar zu machen (Abb. 18). Die User/Userinnen sehen die gesamte narrative Struktur und Organisation des Comics und können an einem beliebigen Punkt einsteigen und einen Strip in jede mögliche Richtung weiterentwickeln: So entstehen immer wieder neue Comic-Zweige. Allerdings muss man sich mit jedem neuen Bild erst einmal der Abstimmung der anderen Nutzer stellen. Die Interaktivität wird gepaart mit Basisdemokratie. Fällt die Abstimmung knapp aus, wird das Bild schlicht der Anfang eines neuen Comic-Astes. Es ist in erster Linie ein Assoziationsspiel und ein Test für neue Kooperationsformen. Daher kann jeder, der die offenen Enden der Geschichten besucht, über alternative Verläufe abstimmen. Die Möglichkeiten Cointels sind unendlich. Völlige Brüche in den Geschichten sind daher die Regel, Personen wechseln Aussehen und Charakter, tauschen mit anderen die Rollen und wecken so entweder die Lust, weiterzusurfen oder ganz im Gegenteil selbst einzugreifen. (Heckmann 2001)
Die meisten multimedialen Webcomics beschränken die Beteiligung von User/ Userinnen auf Point-and-Click-Aktivitäten. Die User/Userinnen können ihren eigenen Lese- und Entscheidungsweg nicht antizipieren. Das Comicprojekt Cointel stülpt demgegenüber die im Softwareskript verborgenen Datenpräsentationen an die Oberfläche und macht diese Strukturen zum Spielmaterial ästhetischer Interventionen. Es verdeutlicht, dass Interaktivität kein neutraler Vollzug sein kann, sondern immer auf Herrschafts- und Machtverhältnisse verweist, auch wenn diese nicht sichtbar sind. Denn üblicherweise verläuft Interaktion zwischen zwei asymmetrischen Seiten. Auf der einen Seite steht ein Softwareprogramm, dessen Rechenschritte in einer geordneten und berechenbaren Weise durchgeführt werden. Eingaben können zwar diesen Prozess unterbrechen, aber die Entscheidung, ob eine Interaktion nach der Eingabe stattfindet, ist letztlich doch im Programm festgeschrieben. Folglich kann Interaktion weniger als ein verteilter Prozess verstanden werden, bei dem sich zwei Akteure miteinander verständigen würden, sondern als ein asymmetrisches Verhältnis, bei dem die Programmschrift Situationen determiniert, die den Usern/Userinnen die Gelegenheit geben, zwischen vorab festgelegten Eingaben auszuwählen. Medienreflexive Webcomics wie das Projekt The Church of Cointel machen die Programmcodes also in zweierlei Weise sichtbar. Erstens, sie machen ihn als pragmatisch-funktionales Werkzeug zur Bedienung der Comics verfügbar; und zweitens stellen sie Programmcodes als künstlerisches Gestaltungsmaterial zur Disposition. In ihren Projekten thematisieren die medienreflexiven Webcomics ihre eigenen medialen Bedingungen, integrieren
III. Per formative Vernet zungskulturen
diese in den eigenen ästhetischen Entstehungsprozess und beziehen sich dabei auf die kulturelle und soziale Bedeutung von Software. An der zuletzt erörterten Schnittstelle von rechnergestützter Technologie, Medialität und Performativität kann populäre Kultur verortet werden: Informations- und Kommunikationstechnologien konstituieren zwar spezifische Beteiligungs- und Ausverhandlungsprozesse, deren performative Rahmungen im Rezeptionskontext wirken jedoch wieder auf die Technologien zurück und verändern diese nachhaltig. In diesem Zusammenhang inhäriert den populärkulturellen Praktiken eine interventionistische Orientierung, die sowohl die Medieninhalte als auch die Medientechnologien umfasst und mit einer Medienreflexion konfrontiert, die in letzter Konsequenz das Selbstverständnis der kulturellen Vergesellschaftung in Frage stellt, soziokulturelle Differenzen sicht- und sagbar macht und damit deren politische Veränderbarkeit ermöglicht.
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IV. Repräsentationspolitik 1. B ILDER VON G EMEINSCHAF TEN IM S OCIAL N E T Die Technologien der Vernetzung der Informations- und Kommunikationstechnologien im Internet und ihre unterschiedlichen Formen der formellen und informellen Partizipationsverfahren haben zur Entstehung einer neuen Beteiligungskultur geführt. Im Zentrum dieser sich formierenden Beteiligungskultur hat sich eine tiefgreifende Neuorientierung bildhafter Strategien herausgebildet, die sich im Verhältnis von historischem Bildgedächtnis und sozialen Bildpraktiken erschließen lassen. Die Gemeinschaftsidee ist heute zum Angelpunkt der Legitimation der Sozialen Medien im Web 2.0 aufgestiegen (Dijck 2012b). Mit einer historisch und sozial gesättigten Figur der Gemeinschaft können Kollektivdarstellungen von Netzgemeinschaften im Kontext spezifischer technologischer Entwicklungen und kultureller Verschiebungen verortet werden. Kollektivbilder haben in der informationellen Gesellschaft eine ungebrochene Konjunktur und liefern einen entscheidenden Beitrag zur sozialen und kulturellen Akzeptanz oder Ablehnung von Vernetzungsformen.
Kollektivität als visuelle Technologie Im Rahmen der Aufwertung der sozialen Beteiligungsprozesse bei der Konstruktion und Transformation von Netzinhalten werden visuelle Repräsentationen zur Eruierung kollektiver Prozesse herangezogen, die als Orte der Ausverhandlung von kultureller Identität und sozialer Bedeutung firmieren. Neben den neuen Technologien zur Herstellung digitaler Kommunikationsgemeinschaften haben sich in den Peer-to-Peer-Netzwerken und Online-Portalen auch traditionelle Leitbilder des gemeinschaftlichen Zusammenlebens und -arbeitens erhalten, die zur Konstruktion sozialer, kultureller und politischer Identität eingesetzt werden. Die mit traditionellen Sinnbeständen operierende Reinszenierung kollektiver Gruppenidentitäten zielt zwar auf die Herstellung neuer Entitäten des guten gemeinschaftlichen Lebens im Netz, blendet aber strukturelle Widersprüche und Aporien des Gemeinschaftlichen im Netz vollkommen aus. Denn die Vernetzungstechnologie und die
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Vernetzungsästhetik bilden eine gemeinsame Schnittstelle: Die Grundlage der bildkulturellen Inszenierung von kollektiven Netzpraktiken schafft die Verrechnung, Bearbeitung und Archivierung kollektiver Daten (Weiss 2005: 16-23; Sullivan 2012: 860-865). Die daraus entstehenden Ungereimtheiten ergeben sich aus dem Umstand, dass die Beteiligung von den Projektebetreibern oft nur oberflächlich am Front-End der Benutzeroberflächen angesiedelt wird und somit eine tiefere Integration in Entscheidungs- und Gestaltungsmöglichkeit grundsätzlich und systematisch verhindert. Zu dieser technologischen Asymmetrie gesellt sich noch eine weitere Ambivalenz hinzu, die auf der Repräsentationsebene des Gemeinschaftlichen angesiedelt ist: Die mit symbolischen Traditionsbeständen operierenden Identitätsstiftungen des Kollektiven überliefern Gemeinschaftsbilder, die in erster Linie auf die Anschlusskommunikation bereits bestehender und sozial anerkannter Bildkulturen ausgerichtet ist und damit die Beteiligungsstrukturen und Machtverhältnisse im Social Net aus dem Blick verlieren. Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die medialen Apparate der Sichtbarmachung, die überlieferten Bildfiguren und Blickordnungen bei den technischen Herstellungsverfahren und den unterschiedlichen Bedeutungsproduktionen von Gruppenidentität? Wie können die bildkulturellen Präsuppositionen, welche die Darstellung von Kollektivität dominieren, aufgezeigt werden? Welches Wechselspiel zwischen den konkreten Praktiken der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung in den verschiedenen Bildmedien liegt den Politiken der Herstellung kollektiver Bilderkörper zugrunde? Zur Frage steht hier also, auf welche Art und Weise bildgebende Verfahren und visuelle Kulturen kollektive Daten und Informationen verwenden, um letztlich Austragungsorte von Identitätsdiskursen zu schaffen. Die hier an unterschiedlichen Beispielen aufgezeigte Kollektivästhetik speist sich zwar aus der sozialen Energie fankultureller Beteiligung, eröffnet aber zugleich eine über den engeren Bedeutungskontext hinausgehende politische Dimension. So kann der affirmative Selbstbezug, mit denen sich User/Userinnen in kooperativen, partizipatorischen und kollaborativen Peerto-Peer-Netzwerken und Beteiligungsprojekten verorten, auch als Figur einer plebiszitären Ermächtigung und kollektiven Selbstbegründung verstanden werden. Zwischen den Technologien des Gemeinsamen und ihrer ästhetischen Vermittlung kann daher eine politische Aporie vermutet werden. Denn die sozialen Technologien im Web 2.0 ermöglichen kollektive Prozesse, die es ohne sie nicht geben würde. Diese kollektiven Prozesse sind fluide, anonym, verstreut und entziehen sich einer klaren und eindeutigen Soziologisierung der Vernetzungskultur. In der ästhetischen Vermittlung wird die mikrobenhafte Performanz der Online-Vernetzung aber aufgehoben: »Die Gemeinschaft verliert sich gerade dort, wo sie auf eine Repräsentation zur Herstellung und Wahrung ihrer Einheit nicht verzichten kann, und sie erhält sich selbst nur im Rekurs auf jene Grenze, die die Grenze ihrer eigenen Auflösung ist.«
IV. Repräsentationspolitik
(Vogl 1994: 9) Kollektivdarstellungen, die folglich den Anspruch verfolgen, die unterschiedlichen Aktivitäten im Social Net einer repräsentierbaren Gemeinschaft im Sinne einer ästhetischen Gemeinschaft zuzuordnen, schaffen einen imaginären Bildraum von gemeinsam geteilten Werten und Normen und etablieren damit Bilddiskurse von Gruppenzugehörigkeit und Gruppenidentität. Ein identitärer Bilddiskurs der Kollektivdarstellungen liegt dann vor, wenn aus den audiovisuellen Inhalten der Beiträger/Beiträgerinnen ein kollektiver Bildkörper erstellt wird, mit dem versucht wird, den mikrobenhaften Praktiken im Netz einen gemeinsam geteilten Subjektbezug und eine integrative und identitätsbildende Substanz zu verleihen. In diesem Sinne erhält die visuelle Repräsentation eine einseitige identitätsstiftende Ausrichtung, da die Kollektive zwar vermittels klassischer Sender-Empfänger-Modelle (Informationsfilterung und -reduktion, redaktionelle Linie, organisatorische und technische Rahmenbedingungen, Bearbeitung und Modifikation durch Gatekeeping) dargestellt werden, selbst aber von ihrer Mitautorschaft ausgeschlossen werden. Die repräsentativen Technologien zur Herstellung von sozialen Körpern machen aus den einzelnen Beiträgen der Fans eine soziale Komposition, die dem klassischen Redaktionsprinzip folgt: Das Material wird von einer Redaktion unter Ausschluss der Mitsprache der Fans ausgewählt, bearbeitet und zusammengestellt. Die Fans bilden folglich keine spontane, ursprüngliche und unverstellte Gemeinschaft, in welcher Inauguration und Vermittlung verschmelzen würden, sondern werden erst von vermittelnden Instanzen zur ästhetischen Gemeinschaft geformt. Vereinzelung und Gruppenbildung erweisen sich folglich als eine zentrale Spannung der Gemeinschaftsbilder. Populäre Visualisierungen fanbasierter Beteiligung verarbeiten personenbezogene Profilbilder zu Tableaubildern, welche die einzelnen Porträtaufnahmen in eine serielle Anordnung bringen. Diese im Tableau angeordneten Kollektivbilder heben jedoch die Vereinzelung der einzelnen Bilder nicht auf und schaffen mit der nachbarschaftlichen Versammlung der Bilder keine Vernetzung der Beiträger. Im Gegenteil. Die räumliche Anordnung der Tableaus lässt Container-Subjekte entstehen, die von ihren Peer-Gruppen segregiert werden. Die einzelnen Beiträge werden durch redaktionelle Entscheidungsprozesse oft abstrahiert und als Branding-Elemente der Bildkommunikation diverser Beteiligungsprojekte zugeordnet. Diese Bildpraxis der nachbarschaftlichen Versammlung der Online-Crowd ist von einer widersprüchlichen Spannung und grundsätzlichen Ambivalenz durchdrungen, denn einerseits beschwört sie das Gemeinschaftliche und die Gruppenzugehörigkeit, andererseits vereinnahmt sie digitale Kollektivitäten für weiterführende Wissensverarbeitungen ohne diese in Zustimmungs- und Mitwirkungsverfahren einzubinden und ignoriert damit die bedeutungsprozessierende Instanz von kollektiven Gestaltungsprozessen bei der Verfertigung von Endprodukten. So kommt es zum Paradox, dass Gemeinschaftsbilder zwar einen bestimmten Idealtypus des Gemeinschaftlichen ad-
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ressieren, sich aber grundsätzlich der Vielstimmigkeit und Heterogenität kollektiver Prozessualitäten gegenüber in einem feindlichen und misstrauischen Verhältnis befinden. Die bildhaften Strategien zur Herstellung von Kollektivrepräsentationen rekurrieren auf Technologien der Gemeinschaftskonstruktion, die auf spezifische Register des Wissens zurückgreifen, um Gemeinschaften repräsentierbar zu machen. In seiner Schrift zur politischen Philosophie »Das Unvernehmen« (2002) hat Jacques Rancière ein brauchbares Modell entwickelt, um die diskursiven und dispositiven Modi, die bei der Herstellung von Kollektivrepräsentationen beteiligt sind, kenntlich zu machen. Er entwickelt seine Logik des Politischen aus einem Ensemble unterschiedlicher Strategien, die er in den dispositiven Ordnungen der Verwaltung, der Polizei und der institutionellen Reglementierung verortet (vgl. Rancière 2002: 105ff.). Verwaltung nennt er die logische »Ordnung des Diskurses« und versteht darunter die Strukturlogik diskursiver Ordnungen. In der Weiterführung dieser Begriffsbestimmung kann die strukturelle Ordnung der Kollektivität im Netz als Zusammensetzung algorithmischer Regularien verstanden werden, welche die Gegebenheiten und Möglichkeiten der Vernetzung technologisch determinieren. Erst im Rahmenbezug der computerbasierten Programme, der rechnerbasierten Techniken der Datenübertragung, der Datenbanken und der Informationsfilterung im Kontext der verteilten Datenhaltung kann das partizipative Internet entstehen. Seine auf Beteiligung ausgerichteten Oberflächen können mit Rancière als polizeiliche Wissenverarbeitungstechniken begriffen werden. Die polizeiliche Wissenspraxis beschreibt Rancière als »eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren«, die für bestimmte Zuteilungen und Anordnungen sorgt und dabei die legitimen Sprecherpositionen auswählt. Übertragen auf die digitale Praxis, Technologie und Ästhetik kollektiver Visualität bedeutet dies folgendes: Ein Anbieter generiert die administrativen Strukturen kollektiver Praktiken, die er polizeilich anordnet, verarbeitet, filtert und hierarchisiert. Mit diesem Schaltplan der Diskurse kann Kollektivität sowohl als Produkt administrativer als auch polizeilicher Praktiken verstanden werden. Die grafischen Bedienoberflächen und Navigationsräume können folglich auch als Wissensmanuale polizeilicher Identifizierungs- und Registrierungstechniken angesehen werden. Die im Internet geläufigen Surveillance-Tools ermöglichen es nicht nur dem E-Commerce-Business, die jeweiligen Zielgruppen im Internet spezifischer zu identifizieren und gezielter zu adressieren. Mit dem kollektiv verfügbaren Data Mining hat sich die computergestützte Rasterfahndung auf die Allgemeinheit ausgeweitet. Im Unterschied zur klassisch analogen Rasterfahndung geht es beim digitalen Data Mining nicht mehr um die möglichst vollständige Ausbreitung der Daten, sondern um eine Operationalisierung der Datenmassen, die auf Knopfdruck in Beziehung zueinander gesetzt werden können. Das Data Mining zählt zu den alltäglichen Suchvorgängen im Social
IV. Repräsentationspolitik
Net und meint die Anwendung von (statistisch-mathematischen) Methoden auf einen Datenbestand (z.B. die Suchabfrage von Kriminalitätsraten beim Crime Mapping) mit dem Ziel der Mustererkennung. Data-Mining-Techniken sind Techniken, die der explorativen Datenanalyse (z.B. von potenziellen Flirtpartnern in Datingbörsen) zugeordnet werden können. Sie wird daher typischerweise eingesetzt, wenn die Fragestellung nicht genau definiert ist oder auch die Wahl eines geeigneten statistischen Modells unklar ist. Genau dies ist der Fall, wenn User/Userinnen in Kontaktbörsen mit ihren Suchanfragen und Profilportfolios experimentieren. Ihre Suche nach geeigneten Partnern/ Partnerinnen umfasst, ausgehend von der Datenselektion, alle Aktivitäten, die zur Kommunikation von in Datenbeständen entdeckten Mustern notwendig sind: Aufgabendefinition, Selektion und Extraktion, Vorbereitung und Transformation, Mustererkennung, Evaluation und Präsentation. In diesem Kräftefeld der administrativen und polizeilichen Praktiken kann aber Kollektivität noch nicht als ein politisches Ereignis verbucht werden. Denn Kollektivität kann erst dann politisch werden, wenn sie auch in der Lage ist, Konflikte zu repolitisieren, d.h. die technologische Dominanz der Programme und die polizeiliche Logik der Regularien zu unterbrechen, »so that they can be adressed, restore names to the people and give politics back its former visibility in the handling of problems and resources« (Rancière 1995: 106). Folglich kann ein politisches Spannungsfeld erst vermittels der »ungezählten Namenlosen« (Rancière 1997: 108) entstehen, für die in der »symbolischen Ordnung der Gemeinschaft der sprechenden Wesen« (Rancière 2002: 49) keine Stimme vorgesehen ist. Sie verschaffen sich politisch wirksames Gehör, indem sie die Logik der Codes, Standards und Normen des Back-End-Bereiches überborden und die polizeiliche Logik der informatischen Wissensverarbeitung hinter sich lassen und sich folglich nicht mit den hegemonialen Formen des Diskurses arrangieren, sondern sich auf die nicht auf einen gemeinsamen Nenner zu bringende Vielheit der Stimmen einlassen. Das Politische entsteht nicht mit einer neuen Identifizierung, die das Wahre und Wirkliche aufzeigen und benennen würde, sondern mit einer Annullierung der polizeilichen Wissensarbeit, »die die Aufteilungen des Sinnlichen polizeilicher Ordnung durch die Inszenierung einer Voraussetzung zersetzt, die ihr grundsätzlich fremd ist, diejenige eines Anteils der Anteillosen, die selbst letztendlich die reine Zufälligkeit der Ordnung, die Gleichheit jedes beliebigen sprechenden Wesens mit jedem anderen beliebigen sprechenden Wesen kundtut« (Rancière 2002: 41). Gegenüber dieser angedeuteten Subkultur des Mediengebrauchs situiert sich eine Repräsentationsordnung, die versucht, die ungezähmte Vielstimmigkeit und die lose Ansammlung der Anonymen in eine ästhetische Gemeinschaft überzuführen, die aus Subjekten besteht, die sich auf eine geregelte und geordnete Weise miteinander vernetzen. In diesem Zusammenhang interpretiere ich die im Rahmen der partizipatorischen Netzprojekte entstandene Bilder-
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produktion als einen Versuch, die kollektiven Praktiken einem Visibilitätsregime zu unterwerfen. Visibilität folgt in dieser Hinsicht einer Strategie des Verfügbarmachens, nach der alles seinen festen Platz und seine Ordnung hat und dem entspricht, was Rancière mit anderen Worten als eine ›polizeiliche Logik‹ umschreibt (Rancière 2002: 41), die auf die Herstellung einer Ordnung des Sicht- und Sagbaren abzielt, mit der Subjekten und ihren Tätigkeiten ein bestimmter Ort zugewiesen werden soll.
Bildrepertoires der Gruppenidentität Im Folgenden möchte ich einige Kernpunkte der visuellen Konstruktion von ›Zusammen-Sein‹, von einem ›Sein-in-der-Gemeinschaft‹ und von ›Zugehörigkeit‹ herausgreifen und in diesem Zusammenhang die Rolle und den Stellenwert von Bildern bei der Konstruktion von Gemeinschaften, Gemeinschaftsproduktion und gemeinschaftlichem Handeln in den Blick nehmen. So unterschiedlich Bilder an der Produktion von Kollektivität aktiv beteiligt sind, sie verweisen stets auf eine spezifische Identifikation mit einer Gemeinschaft von Menschen, in welcher unterschiedliche Mitglieder koexistierende Singularitäten eines imaginären ›Wir‹ werden sollen. Vor dem Hintergrund des Aufstiegs und der breiten Durchsetzung der Sozialen Medien im Web 2.0 haben sich eine Vielzahl internetbasierter Partizipationsprojekte herausgebildet, die Gemeinschaftsbilder verwenden, um in einem Akt der Symbolisierung ein Gemeinsames einer bestimmten Gemeinschaft sichtbar zu machen. In diesem Sinne muss eine bildliche Darstellung von Gemeinschaften und ihren Repräsentanten, ihren Fans, Anhängern, Sympathisanten und ihren idealtypischen Besonderheiten immer erst ein kollektives Subjekt, ein ›Wir‹ schaffen, damit ein Projekt im Social Net als ein partizipatorisches Projekt kommuniziert werden kann. Gemeinschaftsbilder haben in diesem Zusammenhang die Aufgabe, kollektive Identitäten herzustellen. Partizipatorische Kollektivbilder entstehen in spezifischen Produktionskontexten. Sie dienen zur Legitimation und Plausibilisierung von Beteiligungsprojekten und werden überwiegend in den Bereichen der Fankommunikation, der politischen Kommunikation und der administrativen Kommunikation eingesetzt. Bildagenturen wie Shutterstock, Depositphotos, Stockfresh, Bigstockphoto u.v.a.m. verbreiten im Internet grafische Darstellungen internetbasierter Kollektivität, die mit positiven Konnotationen aufgeladen werden (vgl. zur historischen Semantik der Netzmetapher Boltanski/Chiapello 2003: 149f.) und als normatives Modell sozialer Beziehungen in Szene gesetzt werden. Die Netzmetapher zählt zu den hegemonialen Metaphern der Gegenwartsgesellschaft (Vattimo 1990: 3-5) und steht heute für eine soziale Entgrenzungsdynamik gesellschaftlicher Zugehörigkeit und kennzeichnet die Verflüssigung von Institutionen und die Entstehung von hybriden Strukturen. Dynamische
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Netzwerke mit flexiblen Strukturen bilden die neue soziale Morphologie der gegenwärtigen Gesellschaftsordnung und akzentuieren die technologische Beweglichkeit von sozialen Beziehungen. Die von den Bildagenturen hergestellten Kollektivdarstellungen betonen die enge Wechselbeziehung zwischen den Sozialen Medien und der kollektiven Vernetzung, die immer auch in Aspekte der Vermarktlichung (Netzwerkarbeit) und der populärkulturellen Distinktionsarbeit (Lifestyle) verflochten ist. Die piktoriale Codierung von Kollektivität im Netz kann als Ware und als Währung definiert werden, da die Stock Photography der großen Bildagenturen visuelle »Katalogwelten« (Bruhn 2003: 155) erzeugt haben.1 (Abb. 19) Abbildung 19: Netzwerkmetapher, Social Media Marketing
box5mobile.com
Die visuelle Monopolstellung der von wenigen Bildformen beherrschten ›Social Network Communities‹ ist ein Resultat der Bildwirtschaft kommerzieller 1 | Heute ist die Bildagentur-Branche von einer massiven Marktkonzentration gekennzeichnet. In den 1990er Jahren wurden die Newcomer Bill Gates mit Corbis (1989) und Mark Getty mit Getty Images (1995) zu Marktführern im Geschäft mit den Bildern. Beide Bildagenturen verfolgen ein nachfrageorientiertes Marktkonzept und bieten nur Bilder an, die möglichst oft, lange und weltweit abgesetzt werden können. Die Vermarktung über das Internet garantiert nicht nur eine weltweite Präsenz der betreffenden Bildagenturen, sondern ist auch die Voraussetzung dafür, dass sich ein bestimmtes Foto auf dem weltweiten Bildermarkt durchsetzt.
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Bildagenturen, die Bildlichkeit zunehmend marktförmig strukturieren. Im allgemeinen handelt es sich bei den partizipatorischen Kollektivbildern also um ein Bilderhandeln (vgl. Scholz 1991: 137-197; Sachs-Hombach 2003: 157-190; Jongmanns 2003: 61-93; Bredekamp 2010: 25-56), das seinen Einfluss auf die kulturellen Orientierungs- und Sinnangebote geltend zu machen versucht und mit einem ikonografisch stabilisierten Deutungsrepertoire operiert, um kollektive Wiedererkennung zu garantieren. Im Prozess der Ikonisierung kommt es immer auch zu medialen Übertragungen von einem Zeichensystem in andere, die mit Latour und Woolgar als »Inskriptionen« beschrieben werden können (Latour/Woolgar 1990: 19-68). Damit sind Umwandlungen disparater Zeichen in ein überzeugendes Bedeutungsfeld gemeint. In seiner späteren Veröffentlichung »Die Büchse der Pandora« greift Latour diese Problematik des Übersetzens auf und begibt sich auf die Suche nach einer angemessenen Beschreibungssprache wissenschaftlicher Praxis, die er mit Hilfe einer neuen Begriffsprägung umzusetzen versucht: »Die alte Übereinkunft ging aus von einer Kluft zwischen Worten und Welt und versuchte dann einen dünnen Steg über diesen Abgrund zu zimmern. Zwischen zwei völlig verschiedenen ontologischen Bereichen, zwischen Sprache und Natur, sollte eine riskante Korrespondenz hergestellt werden. Ich will zeigen, daß es hier weder Korrespondenz gibt noch eine Kluft, ja noch nicht einmal zwei völlig verschiedene ontologische Bereiche, sondern ein ganz anderes Phänomen: zirkulierende Referenz.« (Latour 2000: 36) Der Begriff der »zirkulierenden Referenz« dient dazu, die Alltagspraxis wissenschaftlicher Produktion angemessener zu beschreiben. Allgemein definiert »zirkulierende Referenz« eine Struktur (ebd.: 379). Diese Struktur besteht aus Elementen und Relationen. Die Elemente müssen selbst »unveränderlich«, aber mobil sein (ebd.: 380). Die Elemente sind mobil, weil ihnen die Eigenschaft zukommen soll, kombinierbar zu sein. Während Latour von den Relationen behauptet, sie seien auch unverändert, nämlich als bestimmte Typen von Relationen, bestimmt er die Elemente als notwendig mobil. »Referenz« begreift Latour folgerichtig als »Transport« (ebd.: 38). »Referenz« ist nicht als ein externer Referent (die »Welt«, die »Wirklichkeit«) zu verstehen, sondern bezeichnet die »Qualität der Kette der Transformationen« und die »Lebensfähigkeit ihrer Zirkulation« (ebd.: 380). Notwendige Bedingung der Zirkulation ist die Geschicklichkeit der Montage: »Werden unveränderliche mobile Elemente geschickt angeordnet, so bringen sie ›zirkulierende Referenz‹ hervor.« (Ebd.) Die Zirkularität der Referenz kann aber nicht bloß theoretisch erfasst werden. Daher soll die Fragestellung des Anthropologen, der die alltägliche »Wirklichkeit« der Wissensarbeiter untersucht, von der »Theorie der Wissenschaft auf ihre Praxis verschoben« (ebd.: 360) werden. Vor diesem Hintergrund kann die Herstellung von Gemeinschaftsbildern als eine sich ausdifferenzierende Praxis des Bildhandelns untersucht werden, die sich immer auch mit einer strategischen
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Verortung von Kollektivität im Bild überlagert. So rücken die nummerischen Bildgrafiken (1) die Kollektivität in die Nähe quantitativer Abbildbarkeit, die auf der Fanwall (2) aufgespannten Kollektivbilder betonen die Aspekte der Anordnung und der Versammlung, während es sich bei den kollektiven Körperbildern (3) um eine visuelle Spielart handelt, die das Gemeinschaftliche mit Hilfe von symbolischen oder allegorischen Verkörperungen darzustellen versucht.
Nummerische Bildgrafiken In Anlehnung an die Denkfigur der ›zirkulierenden Referenz‹ können die von den Bilderagenturen im Umlauf gebrachten Bilder von Vernetzungskulturen als kollektive Bildkörper verstanden werden, die nicht nur Kollektive repräsentieren, sondern auch als kommunikativer Bestandteil innerhalb von kollektiven Bildpraktiken zirkulieren. Die immer wiederkehrenden Elemente dieser kollektiven Bildkommunikation können in diesem Gebrauchszusammenhang als visuelle Konstante bezeichnet werden, da sich der überwiegende Teil der Kollektivbilder aus den Relationsbestimmungen der Sozialen Netzwerkanalyse, bestehend aus Knoten und Kanten, zusammensetzt. Dieser visuelle Schematismus wird oft mit einem narrativen Mehrwert konnotiert, der eine abstrakte Egalisierung aller Figuren (›Knoten‹) in Netzwerkbeziehungen (›Kanten‹) in Aussicht stellt. Abbildung 20: Social Networking
buildonlinewealth.com
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Mit Bildfiguren der Gleichheit, Beliebigkeit und Austauschbarkeit in einem statischen Tableau der Egalisierung wird das Ideal einer herrschaftsfreien und egalitären Kommunikationsgemeinschaft popularisiert, deren Macht- und Herrschaftsfreiheit durch kreis- oder netzförmige Verkettungen (Hände, Köpfe, Füße, Sprechblasen u.ä.) angezeigt wird (Abb. 20). Eine macht- und herrschaftsfrei vereinigte Gemeinschaft wird in diesem Portfolio von Kollektivdarstellungen idealiter als Kreis- und Tanzform angeordnet. Mit der Resignifizierung von sozialen Bildmetaphern, die einem etablierten Bilderkanon angehörig sind, soll die Rezeption von ›Zusammen-Sein‹ und ›Zugehörigkeit‹ visuell und symbolisch stabilisiert werden: So reproduzieren zahlreiche Darstellungen der Social Net Community das Bildmotiv vom sozialen Band als Kreisform (Abb. 21). Abbildung 21: Social Networking
8pmwarrior.com
Die gemeinschaftliche Orientierung wird in diesem Zusammenhang oft durch Figuren angezeigt, die sich an der Hand halten und einen geschlossenen Kreis bilden. Diese Bildfigur schafft historische Anschlüsse an den kreisförmigen Reigentanz (das ist eine der ältesten weltlichen Tanzformen Europas) und an das Soziale als festliches Ereignis. Solcherart Gemeinschaftsbilder sichern ihren kulturellen Einfluss aber nicht nur mit Hilfe ihrer inhaltlichen Verweise und ihrer Zitathaftigkeit, sondern auch auf der Grundlage ihrer infrastrukturellen Einbettung. Für die Herstellung kollektiv geteilter Bilder und kollektiver
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Ikonizität ist es wichtig, dass die einschlägigen Fotos kontextoffen sind und nichts zeigen, was genau datierbar ist und dementsprechend nur eine kurze Halbwertszeit der Verwertung aufweist. So vermitteln die grafisch modellierten Bildmetaphern und Kollektivsymbole oft auch einen zeitlosen und sozial indifferenten Eindruck, um die Bandbreite der Rezeptionskontexte auszuweiten. Den visuellen Gegenpol zur Personalisierung kollektiver Prozesse (Musterbeispiel: Fanwall) verkörpern nummerische Bildgrafiken, die auf eine Anonymisierung von großen Gruppen abzielen. So versucht etwa das »7 Billion Project« die Gesamtheit aller Bewohner der Erde auf einer Webseite darzustellen. Das bildkulturelle Vorbild liefert die von Otto Neurath in den 1920er Jahren entwickelte Bildstatistik. Die in Neuraths »Wiener Bildstatistik« ausgearbeiteten »sprechenden Signaturen« (Neurath 1991a/b) dienten zur ikonischen Vermittlung soziologischer Daten und sollten dabei die Anschaulichkeit der visuellen Argumentation steigern. Im Unterschied zur bildpädagogischen Symbolisierung von Größen, Gewichtungen und Hierarchien visualisiert das »7 Billion Project« Gemeinschaft als nummerische Gesamtheit aller Einzelnen und nivelliert mit der stereotypen Wiederholung der visuellen Entität ›Mensch‹ alle individuellen Differenzen. Um alle Menschen der Erde in eine statistische Größe umzuwandeln, werden alle Figuren einer natürlichen Zahl gleichgesetzt. Mit seiner nummerischen und uniformen Bildauslegung versucht das »7 Billion Project« unmittelbare Evidenz zu schaffen und die Suggestivität des Gezeigten zu steigern. Die im Bildkontext vermutete Plausibilität ist weniger in empirische Plausibilisierungsstrategien eingebunden und muss daher als eine rhetorische Anschlusskommunikation an eine historische Wahrnehmungskultur angesehen werden. Insofern setzt sich die Glaubwürdigkeit der bildstatistischen Argumentation aus den Elementen der visuellen Gedächtniskulturen und ihrer Bildzitate zusammen, die es zu rekonstruieren gilt. In seiner Anschlusskommunikation an das visuelle Repertoire der Bildstatistik verweist das »7 Billion Project« folglich weniger auf die faktische Gegebenheit der Weltbevölkerung, sondern vielmehr auf symbolische und allegorische Bedeutungsfelder kollektivstatistischer Darstellungen, die ihrerseits in bestimmte historische und kulturelle Kontexte verwoben sind.
Die Fanwall Beispiele für partizipatorische Projekte gibt es viele, von der Fanfiction, der Open-Source-Bewegung bis zu Community-Projekten des Web 2.0. Fanbasierte Social-Net-Projekte operieren mit dem Konzept des Crowdsourcing, das Fans zur Mitgestaltung von Inhalten aufruft. Im Frühjahr 2011 wurden die Fans des King of Pop in einem sogenannten ›Open Call‹ dazu aufgerufen, im Videoclip der bevorstehenden Single »Behind The Mask« mitzuwirken. In einem On-
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line-Casting bewarben sich daraufhin Fans aus aller Welt – insgesamt wurden Videoclips aus 103 Ländern eingereicht. Den Michael-Jackson-Fans wurden die Möglichkeit eingeräumt, auf der Webseite http://behindthemask.michael jackson.com auf bereitgestellte Tools zuzugreifen, welche die verschiedenen Rollen festlegten, die sie in dem Clip übernehmen konnten. Sie konnten auswählen, ob sie ein Instrument spielen, eine Textpassage singen, als Publikum agieren oder einen typischen Dancemove von Michael Jackson nachstellen wollten. Die Fans wurden also detailliert instruiert, bestimmte Rollenangebote zu übernehmen und arbeitsteilig organisierte Aufgaben in ihrem Reeanactement umzusetzen. Nachdem alle Uploads eingetroffen waren, wählte das Redaktionsteam des Projekts 1600 Clips aus und arrangierte sie in Eigenregie zu einem Musikvideo. Die letztlich im Musikvideo realisierte Fanwall zeigt Subjekte, die sich als Repräsentanten von freien und gleichen Subjekten zu einer Gemeinschaft assoziiert haben. Zur formalen Modellierung der Gleichheit enthält die Fanwall auch ein visuelles Grundelement der Nivellierung, das sich durch die Zellenstruktur der räumlichen Anordnung der Subjektdarstellungen anzeigt. Mit der Zellenstruktur wird jedem Subjekt eine bestimmte Lage und Position in einer metrisch verfassten Bilderreihe zugeordnet, das es selbst nicht eigens gewählt hat – eine Positionsbestimmung, die es weder beeinflussen noch verändern kann. Die Bilderreihe zeigt folglich voneinander abgesonderte Individuen, deren Gemeinsamkeit sich vor allem durch Nicht-Kommunikation auszeichnet. Die auf der Fanwall versammelten Subjekte können miteinander nicht kommunizieren, können sich miteinander nicht austauschen und aufeinander reagieren. Die Fanwall ist eine räumliche Organisation von Content und basiert auf der Verräumlichung seiner numerischen Mannigfaltigkeit, die eine feste und starre Ordnung erhält, die unter dem Aspekt der Zählbarkeit als homogen erscheint. Da auf der visuellen Ebene keine Peer-to-Peer-Kommunikation stattfindet, hinken die Visualisierungen kollektiver Bedeutungsproduktion den Technologien zur Herstellung von gleichberechtigter Netzwerkkommunikation signifikant hinterher. Dementsprechend ist die fankulturelle Repräsentation immer auch einer visuellen Ökonomie untergeordnet. Sie zeigt nicht die Gesamtheit aller Fans, sondern nur eine erwählte Gruppe, die dem Projekt nützlich sind. Die Auswahl selbst steht aber nicht für die selektive Praxis der unterschiedlichen Prozeduren des Wahlaktes und der Auslese, sondern für die übergreifende Idee der Vielen. Die Auswahl wird als die Vielfalt, Buntheit und Reichtum des Fandoms in Szene gesetzt. Demnach kann im Bild nicht das Mannigfaltige der Vielen aufgezeigt werden, sondern immer nur eine repräsentative Auswahl der Wenigen, die für die Gesamtheit und Diversität der Vielen als typische Stellvertreter fungieren. In diesem Sinne zeigt die Fanwall nicht einfach die empirische Vielfalt von Fanaktivitäten, sondern nachbarlich versammelte Individuen, die sich auf unterschiedliche Weise zur Idee gemein-
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schaftlicher Zugehörigkeit verhalten. Die soziale Energie scheint hier von den Fans selbst auszugehen, die sich als ermächtigende Instanz in Szene setzen. Es scheint, dass die sich kollektiv versammelnden Fans das Beteiligungsprojekt für ihre eigene Selbstdarstellung nutzen, für sich selbst sprechen, ihre eigene Sache vertreten und damit eigentlich jede Vertretung, jede Fürsprache auflösen und annullieren. Gegenüber dieser inszenierten Selbstermächtigung muss aber ins Treffen geführt werden, dass die repräsentativen Techniken zur Herstellung des Gemeinschaftskörpers nicht von den Fans selbst hervorgebracht werden und von den Fans auch selbst nicht mitgestaltet werden können. So demonstriert das partizipatorische Projekt »Beyond the Mask« das Bild einer gut organisierten Gemeinschaft, die sich als eine in aller Welt verstreute Fangemeinde auf ein Ziel eingeschworen hat, das der Hommage an Michael Jackson unterworfen ist. Die Fanwall suggeriert eine soziale Transparenz und Übersichtlichkeit sozialer Kollektive, indem sie die Selbstporträts nebeneinander und übereinander in eine große angelegte Bilderreihe einfügt, die mit Hilfe spezifischer Kameratechniken verlängert werden kann (Kamerafahrt, Kamerazoom). Die scheinbare Übersichtlichkeit droht jedoch bald in ihr Gegenteil – ihre Unübersichtlichkeit – zu kippen, wenn die Fanwall zu viele Gesichter in einer Übersichtsdarstellung abzubilden versucht. In diesem Fall drohen die Gesichter ihre Individualität zu verlieren und werden zum Ornament einer Gemeinschaftsidee, die den Einzelnen jedoch aus dem Blick verliert. Im Unterschied zum Beteiligungsprojekt »Behind The Mask« dominieren im kollaborativen Musikvideo für die japanische Band Hibi no Neiro, an dem sich Fans aus der ganzen Welt beteiligt haben, halbnahe und nahe Einstellungen. Die Fans firmieren bei diesem Projekt in erster Linie als Content-Lieferanten ihrer individuellen Gestik und Mimik, deren ästhetische Zusammensetzung sie den Initiatoren der Webseite überlassen (Abb. 22-25). In diesem Video machen die Fans ihr Gesicht als ästhetische Manövriermasse verfügbar. Sein Gesicht zeigen ist eine zentrale Kulturtechnik im Zeitalter der Sozialen Medien im Web 2.0. Es wird zu einem zentralen Medium der bildkulturellen Kommunikation im Social Net und vollbringt Adapationsleistungen für die vorherrschenden Identifizierungs- und Registrationstechniken der Benutzeroberflächen. Die Facialisierung des Social Net stellt eine neue Etappe in der Sekurisierung des Internet dar. Diese bricht mit der ersten Phase des Internet, in der das multiple Subjekt der Anonymisierungskultur vorherrschte und steht für die neue Ära des authentischen Selbst und die damit einhergehende polizeiliche Logik der Gesichtserkennung. Die Konjunktur der Gesichtsdarstellung in den virtuellen Kommunikationsräumen verweist auf den Umbau des Internet, das zunehmend von einer technologischen Infrastruktur personaler Identifizierungsund Registrationstechniken durchdrungen wird.
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Abbildungen 22-25: Kollektivrepräsentation Sour
Hibi no Neiro (2009)
Die kollektiven Musikvideos sind als Statement zur Beteiligungskultur zu verstehen und verarbeiten unterschiedliche intermediale Bezüge in ihren Videos. So erlebt die Kinotechnik des Split Screen eine Wiederentdeckung, aufgespannt als Wall integriert sie visuelle Elemente der digitalen Medienkultur und grenzt sich von der visuellen Ästhetik des Morphing ab, das von der Idee der Verschmelzung, der Vereinheitlichung getragen war. Das Morphing temporalisiert die Gesichter, ihre Verschmelzung findet an einem Schauplatz statt, es ist immer der gleiche Rahmen, eine Art Kontur, die alle Individuen zu einer Einheit verschweißt, und dieser Rahmen ist ein begrifflicher Rahmen, man könnte ihn nennen: Mensch. Das im Morphing kommunizierte Verschmelzungsideal des Menschen versucht, eine Bildsprache für eine universell gültige Menschheitsidee zu entwickeln. Im Unterschied zur ästhetischen Verschmelzung des Menschen im Morphing reterritorialisieren die rezenten Online-Beteiligungsprojekte das Individuum. Seine ›Rettung‹ findet im Rahmen einer polizeilichen Logik statt, die versucht, das Individuum an Ort und Stelle zu verorten, um es als Adressat einer spezifischen Bildorganisation zu erhalten: Das arbeitsteilig gekennzeichnete Individuum soll folglich als Adressat einer bestimmten Unterweisung und als ästhetischer Effekt einer bestimmten Anordnung (z.B. als Element eines übergeordneten Kollektiv-Ornaments) ver-
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fügbar werden. In diesem Sinne wird das dem Kollektivkörper eingegliederte Individuum einem ihm übergeordneten sozialen Zusammenhalt subsumiert. Die räumliche Anordnung der Individuen auf der Fanwall verdeutlicht, dass sich die Bildkultur der Sozialen Medien im Web 2.0 von den Asymmetrien herkömmlicher Machtrepräsentation nicht lösen konnte. Denn den Fans bleibt weiterhin die Möglichkeit verwehrt, die Repräsentation von Gemeinschaftlichkeit als Entscheidungsträger mitzugestalten. Die Fans können zwar ihren individuellen Beitrag abliefern und zur Verfügung stellen, bleiben aber von der letztgültigen Bildgestaltung gemeinschaftlicher Versinnlichung und kollektiver Verkörperung ausgeschlossen.
Kollektive Körperbilder In ihrem Buch Der fiktive Staat untersuchen Albrecht Koschorke, Thomas Frank, Ethel Matala de Mazza und Susanne Lüdemann unterschiedlich ausgeprägte Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas und ziehen das Resümee, dass Metaphern für die Einheit und für die Gesamtheit eines Gemeinwesens immer auf bestimmte Versinnlichungen hinauslaufen. Diese zentrale Rolle der körperlichen Versinnlichung bei der Herstellung imaginärer Bildkörper gemeinschaftlicher Zugehörigkeit ist auch bei den kollaborativen Beteiligungsprojekten des Web 2.0 festzustellen. Auch sie bedienen sich bei traditionsreichen Bildmetaphern kollektiver Körper, deren Wirkungsgeschichte sich von Platon und Paulus bis hin zur Biopolitik des 20. Jahrhunderts erstreckt, um Kollektivität mit auf das Kollektiv angewandten Körperbildern darzustellen. In der Fortführung und Weiterentwicklung der monarchischen Darstellung des Gemeinwesens durch eine privilegierte Herrscherpersönlichkeit wie sie in den Gemeinschaftsbildern von Kant 2 und Hobbes3 entwickelt wurde, finden sich in der visuellen Kultur des Social Net zahlreiche Hinweise auf die Ästhetik und Semantik historischer Körperbilder 2 | In seiner 1790 veröffentlichten »Kritik der Urteilskraft« schreibt Kant zur ästhetischen Symbolisierung der Sittlichkeit (§59): »So wird ein monarchischer Staat durch einen beseelten Körper, wenn er nach inneren Volksgesetzen, durch eine bloße Maschine aber (wie etwa eine Handmühle), wenn er durch einen einzelnen absoluten Willen beherrscht wird, in beiden Fällen aber nur symbolisch vorgestellt.« (Kant 1974: 212) 3 | In »Der große Leviathan« beschreibt Thomas Hobbes 1651 das Wesen des modernen Staates: »Ist dies geschehen, so nennt man dieser zu einer Person vereinte Menge Staat, auf Lateinisch civitas. Dies ist die Erzeugung jenes großen Leviathan oder besser, um es ehrerbietiger auszudrücken, jenes sterblichen Gottes, dem wir unter dem unsterblichen Gott unseren Frieden und Schutz verdanken. Denn durch diese ihm von jedem einzelnen im Staate verliehene Autorität steht ihm so viel Macht und Stärke zur Verfügung, die auf ihn übertragen worden sind, dass er durch den dadurch erzeugten
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des Politischen (vgl. Anderson 2006; Benkler 2011). Diese Wiederbelebung der kollektiven Repräsentationskultur veranschaulicht besonders nachdrücklich die Projektserie »Virtual Choir« von Eric Whitacre, der wie kein anderer zeitgenössischer Komponist die Möglichkeiten der Sozialen Netzwerke derart publikumswirksam nutzt und mittlerweile zu einem richtungsweisenden Initiator der globalen Chormusik-Szene aufgestiegen ist. Unter dem Label »Virtual Choir« initiierte er 2009 erstmals ein kollektives Chorsingen im Internet und präsentierte das von ihm fertig gestellte Gesangsstück mit dem Titel »Lux Aurumque« mit Stimmen aus dem Netz auf der Videoplattform YouTube. In diesem Video fungierte er als virtueller Dirigent und spielte zusätzlich in der Postproduktion das Klavier ein. Videoproduzent und Musiker Scott Haines übernahm den Schnitt. Auch für sein Fortsetzungsprojekt »Virtual Choir 2.0«, das er 2010 etablierte, forderte er seine Fans auf, Beiträge einzusenden. Im Oktober 2010 veröffentlichte er mit dem 2.052 Stimmen aus 58 Nationen umfassenden »Virtual Choir 2.0« eine Neuauflage seines Erstlingswerkes »Lux Aurumque«, das Erfolge auf YouTube feierte. Das Ergebnis wurde am 21. März 2010 unter dem Titel »Sleep« veröffentlicht (Abb. 26, 27). Abbildungen 26, 27: Kollektivrepräsentation, Sleep
Virtual Choir, Eric Whitacre (2010)
In »Sleep« sind die Sängerinnen und Sänger aus fünf Kontinenten kreisförmig angeordnet. Das Video kreist in entfesselten Kameraeinstellungen um das Kreis- und Kugelmodell als ideale Form der Gemeinschaft und rekontextualisiert damit die Idealvorstellung einer kreisförmigen Organisation des Gemeinwesens. Die kreisförmige Anordnung des virtuellen Chors suggeriert eine unauflösliche Einheit des arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Seine Vereinheitlichung ist aber nicht bereits schon gegeben und vollendet, sondern muss erst hergestellt werden. Mit seiner kreisförmigen Repräsentation erscheint der Chor im Raum als Mannigfaltigkeit und stellt ein Nebeneinander vieler zählbarer Menschen dar. Dieses kollektive Nebeneinander folgt der visuellen Schrecken in die Lage versetzt wird, den Willen aller auf den innerstaatlichen Frieden und auf gegenseitige Hilfe gegen auswärtige Feinde hinzulenken.« (Hobbes 1966: 42f.)
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Zellenstruktur der Fanwall (siehe oben): Die Sängerinnen und Sänger sind füreinander undurchdringlich und schließen sich gegenseitig aus. Sie kommunizieren nicht miteinander und werden von einer zentralen Instanz regiert und gelenkt. Auch wenn sie in ihrer Mannigfaltigkeit gesammelt werden, so wird einfach jedes Mitglied des kollektiven Körpers isoliert für sich gesetzt und in eine Reihe versetzt. In ihrer Zellenstruktur erhalten die einzelnen Mitglieder eine feste Ordnung und können ihrer quantitativen Erfassung zugeführt werden, da sie als Vielzahl im Raum bewegungslos verharren: Sie werden auf den einen Aspekt ihrer Zählbarkeit nivelliert und auf diese Weise homogenisiert. Diese Synthesis ist in der Figur des Chor- und Projektleiters verkörpert. Der kollektive Körper könnte also als Ganzes nicht existieren, wenn er nicht ein Zentrum hätte, das mit dem Chorleiter Eric Whitacre assoziiert wird, der den kollektiven Gesang selbstbezüglich bespiegelt. Damit erhält das kollektive Ereignis des gemeinsamen Singens einen narrativen Bogen, dessen Anfang und Ende der Intention des Dirigenten entspringt. Die Gemeinschaft ist nach dem Vorbild des Ego-Netzwerkes räumlich angeordnet: Im Zentrum der kollektiven Bemühungen wird der Komponist und Dirigent Whitacre situiert, der die Chorstimmen organisiert (im Einsatz, im Ablauf) und nach ihrer nationalen Herkunft zusammenfasst und gliedert. Das Video sorgt auch für eine pathetische Aufwertung der Stimmen, die mit Hilfe einer spirituellen Lichtdramaturgie (von oben nach unten) religiös konnotiert wird und somit die globale Chormusik in einem kosmologischen Bildraum mit Ewigkeitsanspruch verortet. Die Bildung der Gemeinschaft wird durchgehend monokausal von der zentralen Stellung des Komponisten Whitacre abgeleitet, welche eine horizontal verlaufende Vergemeinschaftung konstitutiv ausschließt. Im Video wird aufgezeigt, dass die einzelnen Chorstimmen bereits in die Körperschaft eingetreten sind und sich mit einer Menge anderer Einzelner zu einer überindividuellen Einheit zusammenfügen. Mit dem Projekt »Virtual Choir« formieren sie sich wie im Bild vom Hobbesschen Leviathan (1651) zu einem Gebilde höherer Ordnung. Auch in der asymmetrischen Konstellation zwischen Chorleiter und Chor zeigt sich der widersprüchliche Charakter demonstrativer Kollektivität. Der kollektive Chorkörper ist widersprüchlich und ambivalent, da er einerseits ein Produkt der Sängerinnen und Sänger ist, andererseits entsteht er im Video erst in einem doppelten Akt der Unterwerfung: Der Chor unterwirft sich dem kollektiven Körper, wenn er in ihm aufgeht; und er unterwirft sich seiner personifizierten Verkörperung, dessen Ort mit Whitacre besetzt und ausgefüllt ist. Es wäre aber zu kurz gegriffen, wenn dieses Video bloß als ein singuläres Produkt eines von prekärem Eigeninteresse angetriebenen Komponisten interpretiert werden würde. Denn das Video »Virtual Choir 2.0« erfüllt noch eine andere Funktion. Mit seiner repräsentativen Dimensionierung beansprucht es, ein handlungsrelevantes Bild zu sein. Es beansprucht die Entwicklung einer kollektiven Wirkung entfalten oder verstärken zu können und wird folglich als
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kollektives Gedächtniszeichen in Umlauf gebracht. Vor diesem Hintergrund soll es als ein Gemeingut Vieler, das heißt möglichst Aller in Gebrauch stehen. Die Vielen 2.0 versammeln sich nicht physisch als empirische Masse, sondern können nur in ihrer Vermittlung in Erscheinung treten (Abb. 28, 29). Abbildungen 28, 29: Kollektivrepräsentation, Water Night
Virtual Choir 3, Eric Whitacre (2012)
In diesem Sinne handelt es sich bei der »Macht der Vielen« immer um einen Prozess der Medialisierung. Kollektivität im Netz muss technisch gefiltert, medial befähigt und symbolisch kontextualisiert werden, um ihre Wahrnehmbarkeit überhaupt herzustellen. An diesem Punkt eröffnen sich zahlreiche Möglichkeiten, um die »Macht der Vielen« in bildkulturellen Inszenierungen und Erzählformen zu repräsentieren. Wer also versucht, die »Macht der Vielen« zu thematisieren, muss ihre Repräsentation an der Schnittstelle technischer Infrastrukturen und bildkulturellem Handeln aufsuchen.
2. YOUTUBE ALS POLITISCHES P HÄNOMEN Das im Februar 2005 gegründete Internet-Videoportal YouTube mit Firmensitz in San Bruno, Kalifornien, ist innerhalb weniger Jahre zu einem der einflussreichsten Medienphänomene der Gegenwart aufgestiegen.4 Dieses neue Medienparadigma prägt das kulturelle Erinnern (vgl. Hilderbrand 2007: 4857), ist ein Welt-Archiv der Film- und Fernsehgeschichte, bildet einen Schauplatz sozialer Transformationsprozesse, dient dem Bürgerjournalismus als Waffe und verändert die Politik. Die hohe Popularität von YouTube verdankt sich dem Umstand, dass Userinnen und User kostenlos und mehr oder weniger uneingeschränkt Filmund Fernsehaufzeichnungen, Musikclips und selbstgedrehte Videos ansehen,
4 | Vgl. zur Unternehmensgeschichte: www.youtube.com/t/company_history (letzter Zugriff: 01.03.2013).
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hochladen, bewerten und kommentieren können.5 Bereits wenige Monate nach seiner Gründung entwickelte sich youtube.com zum Marktführer bei Internetvideos (vgl. Gill/Arlitt/Li/Mahanti 2007: 15-28), bis schließlich am 16. Mai 2010 der offizielle YouTube-Blog zwei Milliarden Aufrufe pro Tag bejubeln durfte (vgl. http://youtube-global.blogspot.com/2010/05/at-five-years-two-billion-views-per-day.html). In technischer Hinsicht stellt das Online-Videoportal bloß eine Webseite mit zugehöriger Serverinfrastruktur dar, das als Host (Datenbankanbieter) Videodateien im Format Flash-Video6 der Firma Adobe per Stream sendet und unterschiedliche Suchvorgänge im Videoarchiv mittels Schlagworten ermöglicht. Da auf YouTube grundsätzlich alle Nutzerinnen und Nutzer ihre Inhalte publizieren können, steht das Online-Videoportal stellvertretend für eine neue Partizipationskultur und für eine Ausweitung und Steigerung von Beteiligungschancen (vgl. Burgess/Green: 2009).
Dynamiken einer zivilgesellschaftlichen Medienkultur YouTube ist mehr als eine gigantische Datenbank, mehr als ein zusätzlicher Vertriebskanal für politisches Agenda Setting oder virales Marketing, und steht für mehr als konsumorientierte Bedienerfreundlichkeit. Im Unterschied zum Web 1.0, das von statischen Websites und einer begrenzten Anzahl von Providern dominiert wurde, sind mit dem Auftauchen Sozialer Netzwerkseiten wie YouTube, MySpace, Facebook oder Twitter User/Userinnen-generierte Medienpraktiken entstanden, die neue Formen (medien-)politischer Kommunikation eröffnet haben. In diesem Sinne stellen Videosharing-Seiten politische Kommunikation in einen veränderten prozessualen und kommunikativen Rahmen und haben eine zivile Mediengesellschaft – oder anders: eine medialisierte Zivilgesellschaft – herausgebildet, die maßgeblich dafür verantwortlich ist, dass sich auch die klassischen Medienkanäle (Fernsehen, Zeitung) immer stärker an den Strukturen und Inhalten der Netzanbieter orientieren. Bereits der Name »YouTube« signalisiert den Anspruch auf die partizipatorische Maximierung von Usern/Userinnen generierten Content. So enthält der erste Begriffsteil einen allgemeinen Beteiligungsimperativ (»You«) und der zweite Teil des Wortkompositums »Tube« (dt.: »Röhre«) stellt einen umgangssprachlichen Bezug zum Fernseher her und referiert auf die veraltete »cathode ray tube« (dt.: »Kathodenstrahlröhre«). Damit versucht dieser Verweis auf das veraltete Fernsehgerät zwar einerseits Bekanntheit mit einem bereits vertrauten 5 | Mit der Übernahme von Google am 9. Oktober 2006 konnte sich YouTube endgültig als weltweiter Marktführer publizierter Videodateien im Internet etablieren. 6 | Aufgrund des Erfolgs von YouTube hat sich inzwischen das Videoformat Flash bei der Videonutzung im Internet als ein Standardformat etablieren können.
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Medium herzustellen, andererseits wird damit auch ein ironisches Verhältnis zu einem antiquierten Medium wie dem Fernsehen aufgebaut. Die etymologische Spitzfindigkeit soll jedoch keineswegs darüber hinwegtäuschen, dass sich mit YouTube eine neue Medienpraxis der Produktion, Distribution und Rezeption der Bewegtbildübertragung etabliert hat, die mit den traditionellen Formen des Kinos und des Fernsehens kaum noch Berührungspunkte aufweist (vgl. Machill/Zenker 2007). YouTube unterscheidet sich in einem entscheidenden Punkt von den klassischen Medienkanälen der Vermittlung von Bewegtbildern. Im Unterschied zu eindimensionalen Medienkanälen, die das klassische Sender-Empfänger-Modell darstellen und vom Empfänger als einer passiv-gestaltbaren Größe ausgehen, lädt YouTube seine Nutzerinnen und Nutzer zur aktiven Mitarbeit explizit ein. In diesem Sinne greift sein Slogan »Broadcast Yourself« (»Sende dich selbst«) das Prinzip des nutzergenerierten Webinhalts auf und weitet es auf das Medium des Bewegtbildes aus. Indem die Nutzerinnen und Nutzer ihre eigenen Videos auf dem Videoportal online und somit allen anderen Internetnutzern zur Verfügung stellen können, beteiligen sie sich selbst an der Speicherung, Übertragung und Verbreitung von Videoinhalten und nehmen nun auch die Rolle von aktiven Produzenten der Inhalte ein. Vor diesem Hintergrund kann YouTube als einer der einflussreichsten Medienphänomene der Gegenwart angesehen werden, da mit seiner weltweiten Nutzung eine neue Partizipationskultur entstanden ist. Die politische Dimension von YouTube zeigt sich aber nicht erst im Content einzelner Videos, die z.B. ›unterdrückte‹ Bilder an die Öffentlichkeit bringen und damit eine ›Gegenöffentlichkeit‹ zu den ›eindimensionalen‹ Massenmedien schaffen. Im Gegenteil: Das Politische des YouTube-Hypes ist zunächst in grundlegender Hinsicht zu erörtern. Meine These ist, dass die primäre politische Dimension von YouTube in der infrastrukturellen Ermächtigung seiner Nutzerinnen und Nutzer liegt. Die in die Infrastruktur von YouTube implementierten Internetvideos repräsentieren kein abgeschlossenes Werk, sondern gleichen eher einer andauernden Performance, die in hypertextuellen, interaktiven und multimedialen Nutzungsstrukturen beständig weiterentwickelt wird. Zu dieser emanzipatorischen Aufwertung der Rezipientenseite gehört die netzgebundene Interaktivität, welche die Nutzerinnen und Nutzer auffordert, selbst zu Autorinnen und Autoren eines künftigen Videoprojekts zu werden. Zu dieser netzgebundenen kommt die programmierte Interaktivität hinzu, welche die Nutzerinnen und Nutzer adressiert, ihre Videoauswahl durch Navigationsentscheidungen zusammenzustellen. Eine weitere politische Dimension von YouTube entsteht mit den Optionen der niedrigschwelligen Technologienutzung. Die Transformation vom passiven Medienkonsumenten in einen aktiven Akteur, der sich den Bildschirm als
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interaktives Medium aneignet, beruht auf zwei wesentlichen Komponenten: Accessibility (Zugänglichkeit, Erreichbarkeit) und Usability (Benutzerfreundlichkeit). Als Accessibility kann die Fähigkeit verstanden werden, Informationen oder Technologien für alle möglichen Nutzer/Nutzerinnen zugänglich zu machen, unabhängig von technischen Voraussetzungen und Einschränkungen. Usability bezeichnet das Bestreben, Information klar und übersichtlich zu strukturieren, um eine effiziente Nutzung von Informationen und Technologien zu ermöglichen. So unterschiedlich beide Komponenten bei YouTube auch umgesetzt werden, sie bezeichnen nicht nur anwendungsorientierte Verfahrensprozesse, sondern geben als Funktionselemente der Benutzerschnittstelle (Mensch-Maschine-System) immer auch spezifische Gebrauchsweisen vor und können folglich auch als Indikatoren sozialer und politischer Beteiligung betrachtet werden. Andererseits darf nicht außer Acht gelassen werden, dass die infrastrukturelle Ermächtigung auf YouTube auf standardisierten und normativen Vorgaben beruht. Videos, die der strukturellen Ignoranz der »Zero Comments« 7 (Lovink 2007) entgehen und über der Nicht-Wahrnehmbarkeitsschwelle Aufmerksamkeit generieren wollen, müssen auch in den unterschiedlichen Rating-, Voting- und Pollingverfahren bestehen, die YouTube zur Legitimation seiner webbasierten Inhalte anbietet. Internetvideos sind auf YouTube netzförmig organisiert und in dynamische soziale Aushandlungsprozesse eingebunden, die für permanent veränderliche Rahmungen und Kontextualisierungen vermittels dezentraler Feedback- und Kontrollverfahren sorgen. Dementsprechend steht jeder Videoinhalt unter dem Wahrnehmungsdruck, da sich nur der Beitrag durchsetzen kann, der im Rahmen der bei YouTube standardisierten Benotungsspiele als legitim ratifiziert wird. Die bei YouTube eingesetzten Bewertungs- und Beurteilungssysteme simulieren Quasi-Märkte und Konkurrenzsituationen, die für alle Videos gleichermaßen gelten und damit politische Inhalte auf den affektiven Raum des Wahrgenommen-Werdens und der Aufmerksamkeitsökonomie beschränken. Zivilgesellschaftliche Videobilder vermitteln den Anspruch, zur Demokratisierung und Aufklärung des Wissens beizutragen. In diesem Sinne nutzen sie Videoplattformen wie YouTube als digitale Öffentlichkeit, um politische Ansprüche auf eine partizipatorische und pluralistische Organisation der Sozialen Medien im Web 2.0 zu unterstreichen. In dieser Sichtweise zeigen sie sich durchaus auch anschlussfähig an die Ideen der Aufklärung: Vernunft, Humanität und Nützlichkeit bilden historische Ausgangspunkte für zahlreiche Community-Guidelines und sind durchaus strukturbildend für die Wis7 | Mit seinem Buchtitel spielt Lovink auf die ausbleibende Reaktion an, die die meisten Blogs erfahren. »Zero Comments« steht somit für das Scheitern in der Aufmerksamkeitsgesellschaft.
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sensorganisation innerhalb der Sozialen Netzwerke: »Die Gelehrtenrepublik des 18. Jahrhunderts, die sich in eine professionelle Bildungsrepublik verwandelt hatte, öffnet sich heute den wahren Amateuren: den Bildungsfreunden unter den Bürgern dieser Welt.« (Darnton 2009: 13) So unterschiedlich die Videoformate des zivilgesellschaftlichen Engagements auch sind: Sie versuchen in ihrem politischen Anspruch, Soziale Medien wie etwa YouTube, MySpace, Facebook oder Twitter als Medien politischer Ausverhandlungsprozesse zu aktivieren: »Das Internet war als Medium politischen Handelns anerkanntermaßen immer schon relevant, insofern seine dezentralen Kommunikationswege einfacher die Kontrollen autoritärer Regime zu unterlaufen und Zensur zu umgehen und damit kritische Meinungen in kritikfeindlichen Umgebungen zu äußern erlauben. Die Sozialen Medien des Web 2.0 nun stellen, wie wir sehen werden, zusätzliche strategische Mittel gerade auch für genuin politisch sich verstehende und entsprechend agierende Öffentlichkeiten bereit – Mittel, die eben nicht nur Kommunikationsprozesse unter schwierigen Bedingungen erleichtern, sondern im Augenblick des Gebrauchs zugleich unter verschiedensten politischen Umständen gesellschaftlich relevante soziale Interaktionszusammenhänge realisieren.« (Münker 2009: 105)
Virales Marketing und politisches Entertainment YouTube ist Ausdruck eines mediendemokratischen Öffentlichkeitswandels und des vorherrschenden Entertainisierungstrends, der auch die Medialisierung des Politischen erfasst hat. Mit der kulturellen Aufwertung des Entertainments wird die Unterhaltungsöffentlichkeit ein zunehmendes Element der Politikdarstellung. Die mit drei großen Massenmedien Print, Hörfunk und Fernsehen einhergehende Massenkommunikation hat bereits früher dazu geführt, dass Bürgerinnen und Bürger politisches Handeln und politische Entscheidungen fast ausschließlich in Form medialer Vermittlungsprozesse rezipieren. Heute durchdringt die Massenkommunikation politischer Meinungsbildung sämtliche Bereiche der Unterhaltungskultur. Diese Tendenz hat auch vor YouTube nicht Halt gemacht und zeigt, dass sich die Medienpraxis des zivilgesellschaftlichen Dokumentarismus, die auf das unverfälschte Zeigen abzielt, vor den ›gegnerischen‹ Aneignungen nicht schützen kann. Das unverfälschte Zeigen auf politische Korruptionen, Missstände, Lügen und Machtmissbrauch tritt mit dem Anspruch auf, ein Fenster zur Welt und Abbild der politischen Realität zu eröffnen. Dieser dokumentarisierende Wahrheitsanspruch kann aber nicht gegenkulturell verwahrt und beschützt werden, sondern wird im Aneignungsspiel der ›Gegenseite‹ nachgeahmt. Als einer der am schnellsten wachsenden Seiten im Netz verspricht YouTube neue Möglichkeiten im Bereich der politischen Kampagnen. Dementsprechend
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versuchen die Strategen der politischen Public Relations, die Glaubwürdigkeit, Authentizität und Bodenständigkeit des politischen Lowtech-Aktivismus zu reinszenieren, um das Image des politischen Produkts positiv darzustellen. Die erfolgreichsten Videos politischer Kampagnen zeigen einen deutlichen Überhang von Unterhaltungselementen. Tutorial- und Infotainment-Formate besitzen kaum virale Wirkmächtigkeit. Mit dem auch auf YouTube zunehmenden politischen Entertainment verlagert sich die Darstellung von Politik vom Diskursiven auf das Emotionale: »In einem Video mit dem Titel ›Obama Girl‹ tanzt ein New Yorker Model durch die Straßen und trällert: ›I got a crush on Obama‹. Abbildung 30: Obama Girl
Virales Video »Crush on Obama« (2008)
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Mehr als acht Millionen Zuschauer machten das Obama Girl zu einem PopPolitik-Phänomen, das zwei Dinge beweist: Erstens ist Politik im Jahr 2008 wieder sexy, das heißt, interessant; zweitens werden die wirkungsvollen Spots nicht mehr unbedingt von professionellen Werbern mit Millionenbudgets entworfen.« (Moorstedt 2008: 74) Das YouTube-Video »Crush on Obama« demonstriert eine neue strategische Verschiebung der politischen Kommunikation (Abb. 30). Die Wahlwerbung wird nicht mehr von oben nach unten in den Kreativlabors der Kommandozentralen konzipiert, sondern durch die Userinnen und User selbst generiert. Dieses zivilgesellschaftliche Engagement wird durch die flächendeckende Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Internet und Sozialer Online-Medien ermöglicht, die dazu beitragen, dass sich Bürgerinnen und Bürger online engagieren. Im Jahr 2004 waren Internetvideos noch keine politische Einflussgröße in Wahlwerbungen, »da die langsamen Modemverbindungen und Grafikkarten der Heimcomputer mit der Datenmenge überlastet waren. Im Kongresswahlkampf 2006 änderte sich das: Der mächtige Senator George Allen aus Virginia wurde gefilmt, als er einen Amerikaner indischer Abstammung – in Anlehnung an eine in Asien lebende Primatengattung – als ›Macaca‹ bezeichnete. Das Video landete auf YouTube, sorgte für negative PR und kostete Allen wohl seinen Posten im Senat. […] Auch John McCain kämpft noch immer gegen die Folgen eines unvorteilhaften Videos an, das ihn bei einem Wahlkampfevent zeigt, während er zur Melodie des Beach-Boys-Songs ›Barbara Ann‹ ›Bomb, Bomb, Bomb Iran‹ singt.« (Ebd.: 74) Die vorherrschende Anzahl und die größte inhaltliche Kategorie der bei YouTube upgeloadeten Clips bezeichnet Birgit Richard als »Ego-Clips« (Richard 2008: 225-246; vgl. Richard 2010: 55-72). Mit »Ego-Clips« bezeichnet sie eine Clipsorte der »exzessiven narzißtischen Selbstdarstellung«, in der eine »große Bandbreite von schüchternen Talks bis hin zur visuellen Prostitution zu beobachten« (Richard 2008: 225-246) ist. Es handelt sich um Mainstream-Formate, die mit dem charakteristischen Erscheinungsbild von YouTube identifiziert werden. Die auf dem Aufmerksamkeitsmarkt von YouTube dominierende Stellung der Ego-Clips ist für die strategische Planung politischer Kommunikation von höchstem Interesse und hat dazu geführt, dass politische Inhalte überwiegend von Personen in Szene gesetzt werden. Die erste virale Videobotschaft im US-amerikanischen Wahlkampf von 2008 mit dem Titel »Dear Mr. Obama« stammt aus dem Lager von Präsidentschaftskandidat John McCain und zeigt einen Soldaten in halbnaher Einstellung, der frontal in die Kamera blickt und seine Rede in Form einer direkten Adressierung vorträgt. Damit reproduziert das Video die wichtigsten Bestandteile des dominanten Ego-Clips: personalisierendes Affektbild in naher Einstellung, das Publikum soll direkt als Subjekt, d.h. als Adressat des Videos angesprochen werden. Mit der ästhetischen Inszenierung der direkten Adressierung versucht »Dear Mr. Obama«,
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die Aufmerksamkeit des Publikums zu binden und Identifikation, Empathie und Sympathie bei den Zuschauerinnen und Zuschauern zu wecken. In der Nachfolge wurde der »Dear Mr. Obama«-Clip in hundertfachen Reenactements (Nachahmungen) nachgestellt, persifliert, weiterentwickelt. Beinahe alle Videoblogs operieren mit dem Stilmittel der direkten Adressierung mit einem gedoppelten Adressaten: Die Videoansprache der ›einfachen‹ Bürgerinnen und Bürger richtet sich gleichermaßen an den Präsidenten und an die Öffentlichkeit (das Publikum). Videoclips wie das »Dear Mr. President«Genre operieren mit einer Reihe von Darstellungskonventionen, mit denen sich das bekennende Selbst in den Diskursritualen der spontanen Natürlichkeit und Ungezwungenheit als möglichst authentisch präsentiert. Nach Michel Foucault ist das Geständnis, der produktive Zwang des ›Sprechen-Machens‹, die höchstbewertete Technik bei der Produktion von Wahrhaftigkeit (Foucault 1983: 22f.). Der spezifische Zusammenhang von Macht, Wahrheit und Subjektwerdung ist hier also weniger das Ergebnis repressiver Unterdrückung, sondern vielmehr in einer immer intensiver werdenden Diskursivierung (hier: das politische Sprechen, das seinen Ausgangspunkt im Individuum sucht) begründet. Im ›unabhängigen‹ und ›selbstverwalteten‹ Videoblog erweist sich politisches Engagement als Freiheitstechnologie: Die politische Überzeugung wirkt umso ›unvermittelter‹ und ›unverfälschter‹, desto amateurhafter es die beteiligten Subjekte über sich selbst preiszugeben scheinen. Neben den dominierenden Ego-Clips der politischen Selbstdarstellung hat sich auf YouTube ein dokumentarisches Genre herausgebildet, das Videoproduktion in erster Linie im Sinne eines gegenöffentlichen Medienaktivismus versteht. In diesem Polit-Dokumentarismus ist der Zeigegestus, das dokumentarisierende Showing (versus: Telling), vorherrschend. In ihrer Ausgabe vom 5. Mai 2009 bezeichnet die »Süddeutsche Zeitung« die Digitalkameras der Bürgerjournalisten als unbestechliche Aufzeichnungsmedien, denen die Aufgabe zugeschrieben wird, die Mächtigen der Welt zu kontrollieren (Süddeutsche Zeitung 2009). Den Beweggrund für diese Lobeshymne über den Bürgerjournalismus bot ein YouTube-Video, das anlässlich eines Besuches von Condoleezza Rice an ihrer ehemaligen Arbeitsstätte, dem konservativen Hoover Institut an der Stanford Universität, entstand. Während eines Empfangs in der Eingangshalle des Studentenheims befragten am 27. April 2009 die Studenten Jeremy Cohn, Sammy Abusrur und Rayna Garcia die ehemalige US-Außenministerin der Bush-Regierung zur Folter. Anfänglich antwortete Ms. Rice professionell unverbindlich, schließlich verlor sie jedoch die Beherrschung und beschimpfte den Studenten mit den Worten: »Mach erst mal deine Hausaufgaben!«. Dieses siebenminütige Gespräch wurde von Reyna Garcia mit ihrer Digitalkamera aufgenommen und später unter dem lakonischen Titel »Condoleezza Rice meets with some students« ins Internet gestellt. Innerhalb weniger Stunden war es einer der meistgesehenen Filme auf YouTube.
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»Condoleezza Rice meets with some students« wurde aber auch in den traditionellen Medien besprochen und zeigt deutlich die Tendenz auf, dass das zivilgesellschaftliche Agenda Setting mittlerweile nicht nur die neuen, sondern auch die alten Medien erreicht. In der jüngsten Gegenwart generieren YouTube-Videos, die politische Ereignisse dokumentieren, regelmäßig Medienberichterstattungen in den Printmedien und im Fernsehen. Wie das Fallbeispiel des Condoleezza-Rice-Videos zeigt, wird in den sekundären Mediensystemen der Videoinhalt oft mit zusätzlichen Bedeutungsfeldern angereichert, um die tagesaktuellen Ereignisse mit politischen Zeitdiagnosen zu verknüpfen. »Was Obama nicht kann, was Gerichte nicht schaffen werden, das ist Reyna Garcia und YouTube gelungen: Condoleezza Rice steht mitsamt der alten Regierung am Pranger. Mit diesem Video hat Reyna Garcia einen größeren Beitrag zur Demokratie geleistet, als George W. Bush mit seiner ganzen Amtszeit. […] Gegen diese pragmatische Entscheidung hilft nur eins, der moderne Pranger, also das Internet. Das indiskrete Video stellt wenigstens ansatzweise wieder die demokratische Gewaltenteilung her, die bei Bush, Cheney, Rumsfeld und Rice systematisch außer Kraft gesetzt wurde. Condoleezza Rice ist inzwischen ähnlich bloßgestellt wie die Ehebrecherin in dem Roman Der scharlachrote Buchstabe von Nathaniel Hawthorne.« (Ebd.) Die hier ausgiebig zitierte Rezension des YouTube-Clips kann als Versuch gewertet werden, die Deutungshoheit über das Videoereignis wieder an das Printmedium zurückzubinden, macht aber unter dem Strich klar, dass Videoinhalte immer auch in spezifische Mediendiskurse eingebettet sind, die versuchen, das Temporäre und das Singuläre des Medienereignisses in einen ordnenden Deutungszusammenhang zu stellen. In diesem Kontext dient das Videobild zur Wahrheitskontrolle: Historische Begebenheiten, politische Ereignisse, geheime Machenschaften, persönliche Geständnisse werden vermittels einem eigentümlichen Lowtech-Dokumentationsstil (wackelige Handkamera, grobkörnige Bilder) authentifiziert. Auch wenn sogenannte ›Wahrheitsbilder‹ gerne als Fenster zur Welt angesehen werden, weisen sie doch eine bestimmte ästhetische Qualität auf, die sie von inszenierten Bildern unterscheiden sollen. Diese ästhetische Komponente wird oft aus den Wahrheitsdiskursen ausgeblendet, welche die Videos im öffentlichen Räsonieren begleiten. Da aber YouTube im Ruf steht, eine digitale Öffentlichkeit der Gegenwartsgesellschaft abzubilden, die sich mit der Demokratisierung des Wissens und dem Ideal der Aufklärung weitgehend decken soll, ist auf der Videoplattform ein regelrechter Kampf um authentische Bilder entbrannt. Die Authentifizierung der Videobilder wird aber nicht nur von den engagierten Amateuren vorangetrieben, sondern auch zur Orientierungshilfe für die strategische Arbeit am Bild genutzt: »Seit kurzem hat das Pentagon, das sich allerdings hinter den Koalitionstruppen im Irak und der Operation Iraq Freedom versteckt, das Videoportal YouTube für sich entdeckt und versucht
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dort, gewissermaßen unter der Hand und irgendwie viral, Videos zu verbreiten, die man wohl angemessen findet und die der eigenen Sache dienen sollen.« (Rötzer 2007) In diesem instrumentellen Gebrauchskontext werden spezifische Authentizitätsmarker zur visuellen Evidenzkonstruktion eingesetzt (vgl. Christensen 2009: 204-217). Den Soldaten selbst ist es nicht gestattet, mit Hilfe ihrer digitalen Kameras den Krieg selbst zu filmen. Die Medienabteilung des Pentagon benutzt im Gegenzug die Soldaten als Schauspieler, um authentisch und spontan wirkende Aufnahmen von den Kriegsschauplätzen auf YouTube zu verbreiten. Damit sollen kriegerische Handlungen unvermittelter erscheinen. Diese von der Operation Security hergestellten Wirklichkeitsbilder des Krieges sollen nicht nur den voyeuristische Schauwert erhöhen, sondern in erster Linie dem Community-Building und Community-Branding auf selbstverwalteten YouTube-Channels dienlich sein: »Was dem gemeinen Army-Soldaten verboten ist, kann aber die Medienabteilung durchaus in YouTube stellen. Man will zwar Niederlagen und Opfer auf der eigenen Seite nicht zeigen, wohl aber unterhaltsame Einsätze, bei denen der Gegner unterliegt. Vielversprechend heißt es denn auch auf YouTube, dass der geneigte Zuschauer in den kommenden Monaten Folgendes zu sehen bekommt: Kampfszenen, Interessante, die Aufmerksamkeit erregende Aufnahmen, Interaktion zwischen Koalitionstruppen und der irakischen Bevölkerung, Teamarbeit zwischen Koalitionstruppen und irakischen Soldaten im Kampf gegen den Terror.« Mit diesen vier Kategorien sind bereits die einschlägigen Genres der offiziellen YouTube-Videos der US-Army beschrieben. Fraglich bleibt hier, ob die Medienstrategen der US-Militärs die Partizipationskultur auf YouTube verstanden haben, da der televisuelle Medienkrieg nicht einfach auf die Sozialen Netzwerkseiten im Web 2.0 übertragbar ist. Die Army-Channels auf YouTube werden schlichtweg von der YouTubeCommunity ignoriert, da ihre Cross-Promotionsstrategie zu offensichtlich ist und keine organische Partizipation möglich ist. In den Kommentaren wird etwa vermerkt, dass Channels der »Multi-National Force Iraq« (www.youtube. com/MNFIRAQ) bloß Brandingsstrategien in eigener Sache verfolgen würden und sprechen von einer »corporate colonization of authentic Youtube participation«. Dennoch gilt Authentizität als zentrales Merkmal zur Herstellung von Aufmerksamkeit bei YouTube. Zu den auf YouTube beliebten Authentizitätsmarkern gehören der Lowtech-Dokumentationsstil, eine private Aufnahmesituation, der Verzicht auf ein Fotostudio und die Verwendung handelsüblicher Consumer Hardware. Insgesamt sollen die Videobilder eine ungezwungene Visualität, die auf eine amateurhafte Unmittelbarkeit abzielt, erzeugen. Insbesondere auf YouTube firmiert Authentizität als ein relevantes Merkmal zur Stärkung der Wahrnehmungsimmersion – ein Begriff, der das Eintauchen in eine künstliche, fiktionale Welt durch Auflösung der räumlichen Grenzen bezeichnet. Dieses Konzept wurde 1938 von Béla Bálasz in den
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film- und medienwissenschaftlichen Diskurs eingeführt: »Der Film hat dieses Prinzip der alten räumlichen Künste – die Distanz und die abgesonderte Geschlossenheit des Kunstwerkes – zerstört. Die bewegliche Kamera nimmt mein Auge, und damit mein Bewusstsein, mit: mitten in das Bild, mitten in den Spielraum der Handlung hinein. Ich sehe nichts von außen. Ich sehe alles so, wie die handelnden Personen es sehen müssen. Ich bin umzingelt von den Gestalten des Films und dadurch verwickelt in seine Handlung. Ich gehe mit, ich fahre mit, ich stürze mit – obwohl ich körperlich auf demselben Platz sitzen bleibe.« (Balàzs 1995: 215)
Voter Generated Content Im US-Präsidentschaftswahlkampf 2008 nutzten zahlreiche Amerikanerinnen und Amerikaner massenhaft Internetvideos, um sich aktiv am politischen Campaigning zu beteiligen. Während des Obama-Wahlkampfs wurde für das zivilgesellschaftliche Engagement im Web 2.0 der Begriff »Voter Generated Content« geprägt, der Beiträge bezeichnet, die nicht offiziell von den Kampagnen, sondern aus dem zivilgesellschaftlichen Feld kommen. In der Ära des Voter Generated Content stammen Fotos, Slogans, Filme und Poster nicht mehr aus den Kampagnenzentralen, sondern von den Anhängerinnen und Anhängern der politischen Parteien. Die thematische Bandbreite der auf YouTube upgeloadeten Videos zur Unterstützung der wahlwerbenden Parteien war im USWahlkampf 2008 außerordentlich vielschichtig und reichte von Parodien bis Mockumentaries (dokumentarisierende Fake-Formate). Die hohe Beteiligung und das große Interesse an Internetvideos auf den Sozialen Netzwerkseiten hat zahlreiche Analytiker des US-Wahlkampfes dazu veranlasst, von einer neuen Ära der Videokratie zu sprechen, die nicht mehr länger von den Strategen der Parteizentralen, sondern von der Massenpartizipation in Sozialen Medien entschieden wird. Vor diesem Hintergrund vergleichen Analytiker wie Micah Sifry von techpresident.com die wirkmächtige Beeinflussung des Wahlkampfes durch die YouTube-Clips mit den ersten Wahlkampfspots im Fernsehen (vgl. http://techpresident.com/node/6545). Auf YouTube habe es seiner Schätzung zufolge mehr als eine Milliarde Views von Voter Generated Videos gegeben.8 Demgegenüber wären nur zehn Prozent der Views auf die offiziellen Kampagnen-Videos entfallen. Diese Massennachfrage nach Voter Generated Videos hat nicht nur eine soziale Bewegung während des Wahlkampfes von 2008 motiviert, sondern auch eine neue Ära in der Mediengeschichte der USA eingeleitet. In einer offiziellen Presseaussendung der YouTube-Administration vom 7. Dezember 8 | Vgl. Micah Sifry über das erste virale Video im Wahlkampf für Präsidentschaftskandidat Obama: (http://techpresident.com/node/6342)
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2007 wird im Vorfeld der US-Präsidentschaftswahl diesem Videoformat ein emanzipatorisches Potenzial zugesprochen: »[…] voter-generated videos on YouTube will help establish a new precedent for transparent and participatory election coverage.« (YouTube Press Releases 2007) Mit dem sprunghaften Anstieg der Voter Generated Videos verändert sich auch die mediale Darstellung des Politischen schlagartig. Über das High-Speed-Internet können politische Inhalte schneller verbreitet werden als mit Hilfe der klassischen Medienkanäle. Soziale Medien sind nicht nur Kommunikations-, sondern auch Verbreitungsmedien und multiplizieren die Inhalte beinahe in Echtzeit. Die charakteristischen Merkmale dieses Medienumbruchs fassen die folgenden Schlussbemerkungen thesenartig zusammen. Die virale Verbreitung der Voter Generated Videos auf YouTube zeigen, dass politische Partizipation auch als ein Effekt von Brandingstrategien verstanden werden kann. Zivilgesellschaftliche Akteure übernehmen Praktiken und Verfahrensweisen aus dem ökonomischen Feld, um sie in die politische Meinungsbildung überzuführen. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Bürgerinnen und Bürger die Bereitschaft zeigen (sollen), sich selbst in die Gestaltung, den Vertrieb und die Bewerbung der Videos einzubringen. Voter Generated Videos befinden sich in einem unaufhörlichen Prozess der wechselseitigen Kommentierungen, Bewertungen, Remixes und Reinszenierungen und produzieren instabile Bedeutungsnetze, die von politischen Befürwortern und Gegnern gleichermaßen hervorgebracht werden. Diese kulturelle Praxis hat wesentlichen Einfluss auf die Transformationen der politischen Diskurse, die um das Community-Building kreisen und sich auf Fan/Hate-Auseinandersetzungen konzentrieren. Fan/Hate-Diskurse werden von Fans und Anti-Fans getragen, die in ihren Videobotschaften positive oder negative Distinktionsmarker nutzen, um etwa das Image einer wahlwerbenden Persönlichkeit zu affirmieren und zu diffamieren. Beide Extreme weisen allerdings einen gemeinsamen Bezugspunkt auf, um den sie streiten: Das ist die Person der wahlwerbenden Partei. Insofern prägt die Personalisierung des Politischen die inhaltlichen Ausdifferenzierungen der Voter Generated Videos. Der hohe Stellenwert der Internetvideos im Wahlkampf von 2008 zeigt in generalisierender Hinsicht, dass sogenannte Culture Wars politische Mobilisierung maßgeblich beeinflussen können (vgl. Manovich 2009: 319-331). Im vorherrschenden Politainment müssen auch die Akteure des öffentlichen Lebens selbst über schauspielerische Fähigkeiten verfügen. Für YouTube werden z.B. eigene Home Stories gedreht, die versuchen, die auf YouTube vorherrschende Lowtech-Ästhetik zu kopieren, um die Spontaneität des Formats auf die ›natürliche Ungezwungenheit‹ der dargestellten Personen, Situationen und Botschaften zu transferieren. Wenn die politische Prominenz am Aufmerksamkeitsmarkt bestehen will, muss sie Unterhaltungsformate zur zusätzlichen Steigerung von Aufmerksamkeitskapital nutzen. Sie muss be-
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stimmten Ritualen der Erniedrigung zur Verfügung stehen, um ihre Unterhaltungsqualitäten unter Beweis zu stellen – und dies oft bis zur Selbstaufgabe. Wer nicht bereit ist, in den neuen Unterhaltungsformaten des viralen Marketings Ironiebereitschaft zu signalisieren, riskiert vor allem bei jugendlichen Zielgruppen einen massiven Imageverlust. Das Viralmarketing ist eine Marketingpraxis, die Soziale Medien wie YouTube nutzt, um mit einer meist ungewöhnlichen oder hintergründigen Nachricht auf eine Marke, ein Produkt oder eine Kampagne aufmerksam zu machen. Die politische Öffentlichkeitsarbeit nutzt das virale Marketing auf Videosharing-Seiten auf zweierlei Weise. Beim passiven Viralmarketing verbreiten die Nutzerinnen und Nutzer die Nachricht allein durch die Nutzung des Videos (Point-and-Click). Bei dieser Art der Kommunikationspolitik liegt der Schwerpunkt auf einem werbungsorientierten Ansatz, der es vor allem auf einen hohen Verbreitungsgrad der politischen Botschaft anlegt (dient zur Steigerung des Bekanntheitsgrads eines politischen Repräsentanten). Beim aktiven Viralmarketing ist es hingegen erforderlich, dass die Nutzerinnen und Nutzer die Botschaft aktiv verbreiten. Dafür muss die Motivation der Rezipienten vorhanden sein und den Rezipienten muss die Möglichkeit eingeräumt werden, die politische Botschaft zu verbreiten, indem sie ein bestimmtes Video ihren Freunden oder Bekannten empfehlen und ihnen den Link zum Video posten. Ein virales Video ist dann besonders erfolgreich, wenn es nicht nur passiv konsumiert, sondern auch empfohlen, kommentiert, verlinkt oder in einem Blog kontextualisiert wird. Im Unterschied zum passiven Viralmarketing zielt also das aktive Viralmarketing auf die Identifikation der Rezipienten. Geht es nach den Strategien des politischen Marketings auf YouTube, dann sollen die partizipativen Rahmungen der Userinnen und User die Überzeugungskraft des Produkts stärken. Die auf YouTube tätigen Parteistrategen und Marketingexperten zeigen, wie man in einem partizipatorischen Medienraum eine bedeutende Medienpräsenz auf baut. Sie versuchen die Partizipationskultur der Sozialen Medien für ihre Zwecke gewinnbringend zu nutzen; sie haben keine kulturelle Vision, aber sie zeigen uns, wie die Logik der Aufmerksamkeitsmärkte auf YouTube funktioniert.
Kollektiver Medienaktivismus Um die politische Dimension von YouTube als Medium beschreiben zu können, muss die Art und Weise, wie die Videoplattform ihre Produktions- und Rezeptionskontexte mit Hilfe wechselnder Softwarearchitekturen organisiert, erörtert werden. Diese Perspektive beinhaltet eine gewichtige Verschiebung der Problemstellung, indem sie die Frage nach dem Politischen nicht nur auf den jeweiligen nutzergenerierten Content bezieht, sondern versucht, die binnenpolitischen Verhältnisse der Plattform selbst zu thematisieren. Die hiervon
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abgeleitete These geht davon aus, dass ein Verarbeitungs-, Darstellungs- und Kommunikationsmedium wie YouTube immer auch neue macht-, wissensund subjekttechnologische Formationen erstellt. Kurz gesagt: YouTube sendet nicht nur politische Inhalte, sondern sorgt für verfahrenstechnische Rahmungen des Politischen, die sich der Einflussnahme durch die Userinnen und Usern entziehen. In einer ersten Annäherung kann festgehalten werden, dass das Videoportal in seiner Art und Weise der Gestaltung, Organisation und Auf bereitung seiner Daten und Informationen immer auch bestimmte medienästhetische Standards, Normen und technische Vorgaben setzt, die auf ein spezifisches Wahrnehmen, Erinnern und Kommunizieren abzielen. So nimmt etwa das kollaborative Erschließen und Verwalten von unterschiedlichen Webinhalten im Web 2.0 einen großen Raum ein. Eine dieser Verfahrenstechniken, das Video zusätzlich zu signifizieren, stellt das Social Tagging (dt.: »mit einem Etikett versehen«) dar. Hierbei können registrierte Mitglieder ihre Videos hochladen, diese mit Hilfe von »Tags« (Schlagwörter) kennzeichnen und für weitere Nutzerinnen und Nutzer verfügbar machen, die selbst wiederum weitere Tags oder auch Bewertungen vergeben können. Es handelt sich dabei um ein Verfahren der kollaborativen Verschlagwortung, das zu den charakteristischen Anwendungen der sozialen Software zählt und nicht automatisch oder mit Hilfe eines kontrollierten Vokabulars (Schlagwortkatalog), sondern individuell erfolgt. Im Rahmen dieser Verschlagwortung digitaler Ressourcen können die User die von ihnen frei gewählten Tags dem Videomaterial ohne feststehende Regelstruktur zuordnen. Mit dem Social Tagging – aber auch mit Hyperlinks, Plug-ins, Rating- und Votingverfahren entstehen instabile (Bedeutungs-) Netze, mit denen das Video zwar zusätzliche Meta-Informationen erhält, aber dennoch einem offenen und unabgeschlossenen Bedeutungsprozess überantwortet wird. So entstehen fluide und sich permanent erweiternde Taxonomien (Klassifikationsschema), die sich durch Hyperlinks (elektronische Verweise zu einem anderen Dokument) und Social Bookmarking (kollektive Linksammlungen) vernetzen und im relationalen Gefüge der wechselseitigen Bezugnahmen nur eine Momentaufnahme abbilden. Standardisierungen und Normierungen der grafischen Benutzeroberfläche ermöglichen andererseits auch einen konjunkturellen Einfluss auf die Partizipationskultur bei YouTube. Somit ist die interaktive Teilhabe der Beiträgerinnen und Beiträger immer auch eingebunden in Machtverhältnisse und Wissensbeziehungen, innerhalb derer sie von anderen und sich selbst geformt werden und zur Formung ihres Selbst erst befähigt werden. Sie werden zwar von einer Reihe externer Techniken ergriffen, geformt und kontrolliert, sind jedoch auch imstande, sich diesem normalisierenden Zugriff zu entziehen, um widerspenstige Aneignungspraktiken zu generieren. Wenn folglich das Verhältnis von sozialer Software und Selbstpraktiken nicht als determinierte
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Beziehung verstanden werden soll, sondern als strategische Machtbeziehung, die offen bleibt für ihre Abweichungen oder Veränderungen, dann müssen die Beiträge, welche die Beiträgerinnen und Beiträger selbst entwickeln, auch dementsprechend differenziert werden. Besteht der Anspruch, Subjektivierung nicht als bloße Ausführung überindividueller Technologien oder als passive Aneignungspraxis zu verstehen, ist es infolgedessen notwendig, einen differenzierten Begriff sozialer Praxis zu entwickeln, um nach dem Mediengebrauch fragen zu können, der in der Praxis der Userinnen und User gemacht wird. Dieser taktische Gebrauch von Medien, die man selbst nicht hervorgebracht hat, derer man sich aber zu bedienen weiß, soll im Folgenden am Beispiel des Social Tagging aufgezeigt werden. Das kollaborative Erschließen und Verwalten von unterschiedlichen Webinhalten nimmt im Web 2.0 einen großen Raum ein. So beschränkt sich die politische Kommunikation bei YouTube nicht nur auf den Videoinhalt im engeren Sinne, sondern umfasst eine Reihe weiterer Praktiken und Verfahren, mit denen das Video mit zusätzlichen Informationen und Wissensbeständen verknüpft wird. Im Gegensatz zu den streng hierarchisch organisierten Schlagwortkatalogen, besteht das Tagging in der Social-Computing-Ära aus einer dezentralen und unkontrollierten Verschlagwortung ohne einheitliches Regelwerk. Mit der prinzipiellen Unabgeschlossenheit des Social Tagging wechselt das Visuelle sein Zeichenregister und die Tags öffnen das Video für eine interpretative Intervention. Indem die Tags im Videobild selbst sichtbar werden und oft weggeklickt werden müssen, besitzen sie die Fähigkeit, die evidenzstiftende Macht des Videobilds zu unterminieren. Fasst man YouTube als eine soziale Institution auf, die durch eine Geschichte von Praktiken, Ritualen, Gewohnheiten, Fähigkeiten und Techniken konstituiert wird, dann kann das Videoportal nicht mehr länger auf einen indifferenten Informations- und Distributionskanal reduziert werden, der Botschaften ›neutral‹ und ›interesselos‹ übertragen würde. Diese Sichtweise stärkt die theoretische Aufwertung der Handlungsfähigkeit der YouTube-Community. Letztlich geht es hier weniger um die Frage, ob die Videoclips inszeniert oder die Selbstdarsteller nicht doch Schauspieler sind, die gecastet wurden, da sich die genauen Produktionsbedingungen der Selfmade-Videos oft nicht mehr rekonstruieren lassen. Entscheidend ist meines Erachtens vielmehr die Fragestellung, wie es zu dieser Macht des authentischen Bildes in der gegenwärtigen Medienkultur kommen konnte, die alle Medien auf eine gewisse Weise durchdringt. Auf welche Art und Weise affiziert das authentische Bild des Alltäglichen und Gewöhnlichen auch das Politische? Welche historischen, sozialen und politischen Bedingungen können dieser neuen visuellen Kultur
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zugrunde gelegt werden – um diese mediale Transformation des Politischen reflexiv wie pragmatisch durchdringen zu können? Vor dem Hintergrund dieser Fragestellung ging es dieser Analyse der Herausbildung eines zivilgesellschaftlichen Mediengebrauchs von YouTube darum, die Praktiken der subjektiven Aneignungen und Aushandlungen im Konflikt verschiedener Diskurse und Praxen in ihrer relativen Autonomie zu denken, um der Raum der digitalen Öffentlichkeit für widerstreitende Handlungsspielräume, Bruchstellen, Aushandlungspraxen und Regulierungsweisen offen zu halten. Um die Handlungsspielräume im Vermittlungsverhältnis zwischen Sozialität und Subjektivität genauer zu fassen, wurde hier versucht, die befreienden wie auch einschränkenden Möglichkeiten, welche die Subjekte in den Sozialen Medien des Web 2.0 zum Ausgangspunkt ihrer widerspenstigen Praktiken zu nehmen, aufzuzeigen.
3. P ORNBLOGS Porno ist in der Alltagskultur bildwürdig geworden. Pornografische Bilder, Medien und Diskurse haben tendenziell den Status einer vermeintlichen Überschreitung gesellschaftlicher Normen eingebüßt. Dieser allgemeinen Gegenwartstendenz pornografischer Selbstthematisierung kommt das emphatische Individualitätskonzept von Weblogs und Sozialen Netzwerkseiten entgegen. Vor diesem Hintergrund hat sich eine Selfmade-Pornografie zwischen Emanzipation und marktfähiger Verwertbarkeit entwickelt. Die jüngsten Tools der Online-Kommunikation – Weblogs und Soziale Netzwerkseiten – haben diesen Trend beschleunigt und maßgeblich dazu beigetragen, die visuelle Kultur der Sexualität zu verändern (Wakeford 2000: 403-415). Jenseits der klassischen Medienkanäle haben sich die Diskurse der Trans-, Homo- und Intersexualität, des Transgender, des Gender-Crossing, des Drag und der Travestie mit Hilfe der Web-2.0-Vernetzungstechnologien verbreitet, um für die Möglichkeiten einer nicht regulierten Sexualität, die mit geschlechtsspezifischen Identitätsmerkmalen spielt, zu plädieren (Peterson 2004: 104f.). Der politisch-strategische Begriff »queer« hat sich in den USA seit Beginn der 90er Jahre in Abgrenzung zur Hetero/homo-Dichotomie9 sowohl als Bezeichnung einer neuen Art von politischem Aktivismus (Queer Nation, Transgender Nation) als auch als Bezeichnung für eine theoretische Richtung (Queer Theory, Queer Studies) etabliert. Als kulturelle Praxis steht der Begriff »queer«
9 | In diesem Kontext bedeutet Dichotomie, dass nur zwei Kategorien denkbar sein sollen. Innerhalb der dichotomen Ordnung gibt es kein Dazwischen, sondern zwei sich diametral gegenüberstehende Pole, die keine Überschneidung zulassen.
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für die Entwicklung einer Lesart, die herrschende Darstellungen »gegen den Strich« liest und sich diese dabei subversiv aneignet. Queere Lesarten gegen den Strich entlarven die Sehnsucht, sich über ›reinen‹ Sex zu verwirklichen und sich zu einer ›natürlich-triebhaften‹ Identität aufschwingen zu können als eine Illusion, ja sogar als Dystopie. Sie versuchen, Prozesse der Dis/Identifikation einzuleiten und Perspektiven auf die Mehrdeutigkeit der zweigeschlechtlich-heterosexuellen Ordnung über die De/Fragmentierung und De/Zentrierung von Körperbildern und Selbstentwürfen zu eröffnen. Eine queere Pornografie geht von der Grundannahme aus, dass Sexualität keinen privilegierten Zugang zur Wahrheit ermöglicht, sondern vielmehr selbst als ein Produkt von Machtkonstellationen angesehen werden muss, die bestimmte Bilder von Sex als ›natürlich‹ (oder ›unnatürlich‹) erscheinen lassen (Ahmed 2006: 17ff.). Fraglich bleibt allerdings, ob dieser kritisch-transformatorische Anspruch in letzter Konsequenz alle Wahrheitseffekte medialer Vermittlung distanzieren kann. Die Ambition, der Reproduktion heteronormativer Körperbilder zu entkommen, muss widersprüchlich bleiben, wenn der Stellenwert der Medien bei der Herstellung stereotyper Körperbilder keine Berücksichtigung findet. Denn eine Umsetzung queerer Strategien kann erst dann als eine Verweigerung repräsentativer Normen geltend gemacht werden, wenn die den Medien eingeschriebenen Momente eines Widerständigen artikuliert werden können. Die Feststellung, dass die heteronormative Ordnung ihre sexuellen Machtverhältnisse mittels der visuellen Kultur stabilisiert, rückt also eine »reflexive Praxis des Sehens« (Schaffer 2008: 58) in das Zentrum queerer Projekte. Sie verknüpft die kritische Revision des visuellen Feldes stets mit repräsentationspolitischen Fragestellungen. In den queeren Debatten um sexuelle Identitätskonstruktionen und visuelle Praxen ist das Feld der Sichtbarkeit einerseits mit der Normierung von Körper und Subjektivität belastet10; andererseits können sich Herrschaftsund Machtverhältnisse auch im Bereich des Visuellen verändern lassen.11
Die Sozialen Medien der Metapornografie Welche Rolle kann queer Porn bei den Verschiebungen und Unterbrechungen sexueller/pornografischer Identitätskonstruktionen spielen? Queerer Netporn versteht sich nicht nur als ein politisch-strategischer Kampf um Repräsenta10 | Der Höhepunkt der für den männlichen Voyeurismus sichtbar gemachten Lust ist der sogenannte »Cum Shot«, der das Ende einer pornografischen Sequenz markiert und einen außerhalb der Frau ejakulierenden Penis zeigt. Der Cum Shot soll den visuellen Beweis für die ›nackte Wahrheit‹ liefern. Bei erfolgreichem Abschluss werden die männlichen Pornodarsteller für diese auch »Money Shot« genannte Einstellung extra bezahlt. 11 | Vgl. zur kritischen Reflexion der eigenen Wahrnehmungsmuster Kaja Silverman 1996: 184f.
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tionsverhältnisse, sondern ist selbst von einer Politik der Repräsentation gekennzeichnet (Woodland 2000: 416-431). Seine Medienformate im Internet locken vor allem mit der Erinnerung an eine politische Do-it-yourself-Kultur und stellen einen neuen sozialen Aktivismus in Aussicht (vgl. Jacobs 2007; Campbell 2004). Die folgenden Streifzüge thematisieren queere Netzpraktiken im visuellen Feld pornografischer Blogs, Foren und Portalen. Dabei werden unterschiedliche Strategien im Umgang mit der heterosexuellen (Männer-)Pornografie, die die pornografische Bildwelt dominiert, sichtbar. Diese lassen sich vereinfacht in drei Ansätze unterscheiden: (1) Es gibt im Netz zahlreiche Projekte, die versuchen, queere Bilder der Lust zu konzipieren (Reichert 2009). Dabei handelt es sich um eine pornografische Bildproduktion, die erregen soll. In diesem Zusammenhang wird weitgehend die pornografische Authentizitätssuggestion akzeptiert. (2) Ausgehend von einer queer-dekonstruktivistischen Pro-Sex-Intervention experimentiert ein weiterer Ansatz mit der performativen Herstellung von Sexualität (doing sex) jenseits der normalisierenden Zweigeschlechtlichkeit. Geschlechtsspezifische Identitätsmerkmale erscheinen in dieser Perspektive als ein zitathaftes Spiel und als eine durch besondere Darstellungskonventionen erzeugte Fiktion. (3) Eine ironisierende Herangehensweise entwickelt eine Metapornografie und dekontextualisiert die vorgefundene Bildwelt mit den rhetorischen Mitteln der Parodie, der Satire und der Travestie. Da diese rhetorische Figur in der Selbstthematisierung queerer Pornografie weniger als eine politisch-strategische Intervention gehandelt wird und vielmehr als eine taktische Manöverkritik in Gebrauch steht, wird auf sie nicht näher eingegangen.12 Da die unterschiedlichen Ansätze in ihrer strategischen Perspektivierung nicht zwingend miteinander vergleichbar sind, können sie auch nicht gegeneinander ausgespielt werden. Trotz aller Unterschiede gibt es eine Gemeinsamkeit: Bei allen hier aufgeführten Ansätzen queerer Bildproduktion spielen kritisch-distanzierte Auseinandersetzungen mit der sexualitätsnormierenden Mainstream-Pornografie13 (vgl. Sharpe 1999: 1089-1096; Williams: 2004: 271308) eine große Rolle.
12 | Im Internet hat sich eine queere Metapornografie im Feld künstlerischer Produktion herausgebildet. Zu den bekanntesten Blogs dieser Kategorie zählen www.artporn. com, www.fleshboat.com und www.erosblog.com (letzter Zugriff: 20. Juli 2013). 13 | Heterozentrismus, Misogynie und Rassismus charakterisieren den Porno-Mainstream und seine normativen Identitätszuschreibungen (vgl. Sharpe 1999: 1089-1096; Williams 2004: 271-308)
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Independent Pornography: Sehnsucht nach Authentizität Mit der DIY Web Culture ist eine queer-feministische »Independent Pornography« (Indieporn) entstanden, die mittlerweile ein wichtiger Träger der Netzkultur im World Wide Web geworden ist, da die meisten Blogs durch Linkage, Trackbacks und gegenseitiges Posten miteinander vernetzt sind.14 Das Modeln vor der Kamera unter selbstbestimmten Bedingungen ist Bestandteil der sexualitätsbejahenden visuellen Kommunikation einer Vielzahl von Gothic- und Bdsm-Seiten. Die überwiegende Mehrzahl dieser Webseiten verlangen monatliche Mitgliedergebühren und stellen für die Partizipanten/Partizipantinnen, die ihre Photos und Filme auf die Seite stellen wollen, ein Geschäftsmodell bereit. Neben der männlich, weiß und heterosexuellen orientierten Punkkultur hat sich Independent Netporn etabliert, der Sexualität als lebensreformerisches Projekt deklariert (MacKinnon 1992: 295-313; Dworkin 1981): Proclamations of an alternative pornographic culture and imagination still always also mean taking a stand against anti-pornography feminism. And the other origin of Indie porn, besides commercial Gothic porn sites, is the ›sex-positive feminism‹ – founded by Susie Bright, Diana Cage, and others as a counter-movement to the PorNo campaign of Andrea Dworkin, -Catharine -MacKinnon, and, in Germany, Alice Schwarzer – which not only discussed but also put into creative practice a ›different‹ pornography incorporating feminist reflections. Both feminist tendencies, anti-porn and pro-porn, disagree on the therapy but not on the diagnosis that mainstream pornography is sexist and disgusting. (Cramer 2008)
Eines der kommerziellen Erfolgsmodelle der Independent Pornography ist die seit 2001 online befindliche Website www.suicide.girls.com (Abb. 31). Sie hat ihren Hauptsitz in Los Angeles und entstand im Umfeld der subkulturellen Selbstinszenierungen des »Gothic Porn« und des »Dark-Wave-Look«. Das Online-Portal der »Suicide Girls« bietet den Usern/Userinnen eine Vielzahl von überwiegend weißen und weiblichen Amateurmodellen (Gothics, Punks und Emos), die sich im Medienverbund von Foto, Webcam und im Chat präsentieren. Im Unterschied zu kommerziellen Webseiten haben die Modelle eine weitgehendere Kontrolle über die Bilder und Cams und können ihre eigene Online-Seite gestalten.
14 | Hier sind die Grenzen zwischen dem E-Commerce-Business, pornografischer Selbstausbeutung und der genderpolitischen Selbstermächtigung unklar und vage. Scheinbar fließend gehen Pornoindustrie und Kulturkritik ineinander über. In vielen Sexblogs wird inzwischen kommerzielle Werbung zwischen den Einträgen im Lauftext geschaltet.
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Abbildung 31: Suicide Girls
www.suicide.girls.com
Die Profil-Features umfassen u.a. ein ›Tagebuch‹, das persönliche Erlebnisse und Ansichten für sich, die Freunde oder alle Benutzer festhält sowie ein ›Gästebuch‹, in dem sich ›Freunde‹ und ›Besucher‹ des Profils einschreiben können. Schließlich können Fotostrecken integriert werden, welche die pornografischen Sujets in das persönliche Umfeld der Beiträgerinnen einbetten. Mit ihnen entsteht ein sexueller Wahrheitsdiskurs, der sexuelle Neigungen, Zugehörigkeiten und Disparitäten sicht- und sagbar macht. Die Website der Suicide Girls verkündet auf programmatische Weise, dass nicht allein der Körper, sondern die gesamte Persönlichkeit der queeren Girls im Mittelpunkt steht: »These girls are not being paid to play the part in member’s fantasies, they are being paid to be themselves.« Umweht vom Hauch feministischer Selbstbestimmung hat jede Beiträgerin einen persönlichen Bereich zur Profilbildung und zum Bloggen. Die biografische Anreicherung der einzelnen Einträge soll Pornos mit individuellen Persönlichkeiten generieren. Damit soll klargestellt werden, dass die weiblichen Models keine Sexobjekte mehr sein sollen. Andererseits erwarten die Betreiber/Betreiberinnen eine Selbstdarstellung in vollständiger Nacktheit. Allerdings werden Fotos mit weit gespreizten Beinen, Nahaufnahmen auf das Geschlecht und Penetration nicht gezeigt. Die Modelle können aber ihre fotografischen Sets selbst einschicken, für deren Rechteabgeltung jeweils pauschal 300 Dollar gezahlt werden. Ein ähnliches Geschäftsmodell bietet die von der australischen Pornoholding gmbill.com betriebene Internetplattform www.ishotmyself.com an (auch hier sind die meisten Frauen weiß). Diese Social Networking Site ist als ein simuliertes Konzeptkunstprojekt von Frauen entworfen, die sich selbst in pornografischen Posen fotografieren. Die Fotos sind auf unterschiedliche Weise mit spezifischen Authentizitätsmarkern versehen (private Aufnahmesituation,
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natürliche Lichtquelle u.a.). Auch hier wird die pornografische Authentizitätssuggestion der nackten Haut durch rhetorische Register der Personifizierung erweitert. Weitere Abbildungen zeigen die Modelle in ihrer Freizeitkleidung. Eine zusätzliche Steigerung der Authentizität wird durch die Beherrschung medialer Präsentationstechniken angezeigt, die das eigene Selbst im Rahmen seiner Internetpräsenz gut ›aussehen‹ lassen soll. Profil-Features, Tagebuch und Diskussionsforen sorgen für eine immer intensiver werdende Diskursivierung. Beide Indie-Pornblogs operieren sowohl mit persönlichen Ranglisten als auch mit intimen Selbstreflexionen und verknüpfen Pornografie mit kulturellen Prozessen des Unterscheidens und Klassifizierens; ein »Komplex der Realitätskonstruktion« (Lummerding 1994: 14) entsteht. Eine weitere Gemeinsamkeit der Indie-Pornblogs für scheinbar enthierarchisierte Frauen besteht darin, die sexuelle Lust mit der Lust am Wissen über die Lust zu verlinken. Kennzeichen ihrer Ästhetik ist das Konzept von Authentizität und Evidenzstiftung – das auf der Datenbasis von Fotostrecken und Videoclips, der Erreichbarkeit der Modelle über Chats und weitergehende persönliche Weblogs und Homepages, bis hin zu richtigen Webcommunities, wo über den Chat ein reger Meinungs- und Informationsaustausch stattfindet, in Szene gesetzt wird. Dabei agieren die Blogger/Bloggerinnen in der vertrauten Umgebung ihres Internetzugangs und machen ihr persönliches Text- und Bildmaterial der Öffentlichkeit zugänglich. Damit verwischen die Grenzen zwischen der Privatsphäre/Öffentlichkeit und Arbeit/Freizeit. Dadurch setzt sich im Queer-chic-Pornblog ein Trend fort, der sich Anfang der 90er mit der Popularität der TV-Formate der Realityshows abzuzeichnen begann. In dieser Hinsicht überlagert sich die queere Ästhetik der alternativen Netzpornografie tendenziell mit den evidenzstiftenden Darstellungsstilen hegemonialer Medienästhetik. Alternative Porn überlagert pornografische Rollenspiele und Intimgeständnisse von Privatpersonen: »Suicide Girls are not only physically naked; they are also emotionally fleshed out.« (www.suicide.girls.com) Im Bereich der Onlinepornografie hat sich unter dem Titel »Realcore« ein eigenständiges Genre der Amateurproduktionen herausgebildet, das mit den ästhetischen Stilmitteln der Unschärfe, der niedrigen Bildauflösung, der Handkamera und Filmmaterial im Rohschnitt operiert: Realcore is mostly for free: this is the ultimate evidence of the desire to be seen. Because in all types of Realcore, hetero or gay, kinky or vanilla, what matters to users is the truth of what they see. In this respect is very similar to much of Reality TV. And, oddly enough in the age of surgical perfection, neither does beauty: this is the revolution of the normal – me, and perhaps you too.15 15 | Der italienische Online-Aktivist Sergio Messina prägte als einer der ersten den Begriff Realcore, mit dem er die Aktivitäten von Sexgroups im Usenet zusammenfasste
IV. Repräsentationspolitik
Pornblogs wie www.suicide.girls.com und www.ishotmyself.com operieren mit einer Reihe von Darstellungskonventionen, mit denen das pornografische Selbst als möglichst authentisch präsentiert werden kann. Der Verzicht auf ein Fotostudio, die Verwendung einer einfachen Automatikkamera und die unprofessionellen Posen des Modells erzeugen eine ›ungezwungene‹ Visualität, die auf eine amateurhafte Unmittelbarkeit abzielt. Ihre pornografischen Selbstpraktiken im Netz erhalten somit zusätzliche Erzählstrukturen und sind in vielschichtige mediale Strategien eingebunden, die darauf abzielen, das Selbst zum Sprechen zu bringen. In spezifischen Diskursritualen werden die ›Girls‹ aufgefordert, sich Geständnistechniken anzueignen, um Selbstzeugnisse abzulegen und Befragungen und Beratungen über sich ergehen zu lassen. Nach Michel Foucault ist das Geständnis, der produktive Zwang des ›Sprechen-Machens‹, die höchstbewertete Technik bei der Produktion von Sexualität (Foucault 1983: 22f.). Der spezifische Zusammenhang von Macht, Wahrheit und Subjektwerdung ist weniger das Ergebnis repressiver Unterdrückung, sondern vielmehr in einer immer intensiver werdenden Diskursivierung begründet. Im ›unabhängigen‹ und ›selbstverwalteten‹ Pornblog wird Pornografie zur Freiheitstechnologie: Das pornografische Wissen wirkt also umso ›unvermittelter‹ und ›unverfälschter‹, desto amateurhafter es die beteiligten Subjekte – mangels Medienreflexion – über sich selbst preiszugeben scheinen.
Der Dildo als Medium queerer Körpertechnologien Das im Jahr 2000 erschienene »Manifeste Contra-sexuel« der Philosophin Beatriz Preciado hat sich zu einer wichtigen Referenz queerer Medienreflexion, Bildkultur und Diskursproduktion im Netz entwickelt (Preciado 2003). Während die Porno-Feminismen den Dildo als symbolische Repräsentation männlich/dominanter Sexualität innerhalb lesbischer Praktiken zurückweisen, sieht Preciado ihn als »parasitäre Mimesis des Penis« (ebd.: 62) und damit als ein de-kontextualisiertes Zitieren eines sexuellen Signifikanten, der sich über sexuelle Konventionen lustig macht: »Der Dildo ist die parodistische Wahrheit der Heterosexualität.« (Ebd.: 64) Diese Position ist jedoch nicht grundsätzlich neu. Bereits in den Anfangsjahren der Queer Theory plädiert eine dekonstruktivistische Argumentationslinie für die Resignifizierung des Dildo vor dem Hintergrund der queer-feministischen Geschlechterparodie (vgl. Reich 1992: 112-127). Im kontrasexuellen Manifest soll nun aber der sexuelle Kontrakt eine neue Regelung erfahren: Es soll nicht mehr der Penis als Phallus im Mittelpunkt stehen (»Der Penis ist die falsche Pose einer Herrschaftsideologie« [Preciado 2003: 64]), sondern der Dil(vgl. seine Installation »Brave New Porn« [2001] zur Amateurpornografie im Netz und seine Website www.realcore.radiogladio.it, letzter Zugriff: 20. Juli 2013).
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do als ein Lustgenerator für alle möglichen Sexualitäten. Für Preciado ist der Dildo ein synthetisches Element, das in der Lage sein soll, sexuelle Praktiken zu politisieren: Er erinnert uns daran, dass Sexualität nur Performance ist und dass Geschlechtsidentität eine Verinnerlichung einer Konstruktion ist. Kontrasexueller Sex besteht aus Körpern, die sich gegenseitig oder selbst mit Dildos bearbeiten. In ihrer Gesellschaftsutopie werden Operationen der Geschlechtsumwandlung zur Gebrauchschirurgie. Für Preciado steht der Dildo im Zeichen der geschlechtlichen Transgression und wird dementsprechend als emanzipatorisches Tool aufgewertet. Damit einhergehend plädiert sie für die Abschaffung der Familie. In zwölf Artikeln verordnet sie der »kontrasexuellen Gesellschaft« die Grundsätze der neuen Gesellschaft. Sie fordert eine schwul-lesbische Widerstandstechnologie des Dildogebrauchs und plädiert für eine radikale Abtrennung der sexuellen Praktiken von Fortpflanzungsaktivitäten. In diesem Zusammenhang erklärt sie den Anus zum universalen Lustzentrum, der sich jeder geschlechtlichen Zuordnung entziehen solle. Dieser kritisch-experimentelle Blick auf die Möglichkeiten der Repräsentation von Pornografie eröffnet gleichermaßen einen Raum der Medienreflexion: etwa im Kontext der Erzeugung bildrhetorischer Unschärfen, Zweideutigkeiten oder perspektivischen Verschiebungen, die sowohl ihre Textstrategien als auch ihre Bildkomposition kennzeichnen. In ihrem Essay »Multitudes queer«, den sie 2003 im französischen OnlineJournal »Multitudes. Revue politique, artistique, philosophique« publizierte, beschreibt Preciado eine queere Praxis der »Multitude«, die sich weigert, eine feste sexuelle Form anzunehmen (ebd.). Damit skizziert sie eine vielversprechende Möglichkeit, Subjektivität als prozessualstrategisch neu denken zu können. Die an Preciados sexueller Multitude orientierte queere Bildpolitik im Netz stellt nicht nur die Natürlichkeit der Geschlechter in Frage. Sie proklamiert eine polymorph libidinös besetzte Sexualität: Körperorgane mit ›syntaktischen Entsprechungen‹ fungieren als mögliche Fortsetzungen des Dildos: Finger, Zungen, Peitschen, Gürtel oder Kondome bilden ein variables und bewegliches Repertoire an Spielmöglichkeiten jenseits der Grenzziehungen zwischen ›natürlich‹ und ›künstlich‹. Mit Donna Haraway, der Autorin von »Cyborg Manifesto« (1991) (Haraway 1995: 33-72), verbindet Preciado die theoretische Geste, eine neue Zeitepoche ausrufen zu wollen. Haraway führte in die feministischen Debatten die Denkfigur des Cyborg ein, um ihr doing gender zu verhandeln; Preciado versteht den Dildo als Akteur in sexuellen Aneignungspielen, die für alle gleichermaßen frei verfügbar sein sollen. Beide gehen von einem Subjekt aus, das immer wieder neu entworfen und produziert wird und erklären Sexualität zu einer Frage der technischen Performanz und zum »Ort des Widerstands« (Preciado 2003: 126).
IV. Repräsentationspolitik
Eingebunden in eine queere Technologie kann die von Preciado skizzierte »Dildotektonik« die starre und hermetisch wirkende Geschlechterordnung zwischen Norm und Subjekt auf brechen: »Die Dildotektonik ist eine GegenWissenschaft, sie untersucht Erscheinung, Entwicklung und Nutzung des Dildos. Sie macht die Deformationen sichtbar, die der Dildo am Sex/GenderSystem bewirkt. Die Dildotektonik – als zentraler Zweig der Kontra-Sexualität – begreift den Körper als Fläche, als Terrain der Verschiebung und der Anwendung des Dildos.« (Ebd.: 37) Anstelle der Betonung auf Normierung und Disziplinierung kann sich der Dildo als eine flexible und wandlungsfähige Technologie der Sexualität erweisen. Im Anschluss an Michel Foucault begreift Preciado die Geschichte der Sexualität als eine Geschichte der Macht- und Selbsttechnologien (Foucault 1993: 24-62). Vor diesem Hintergrund kann der Dildo als neues Medium queerer Körpertechnologien angesehen werden. So kann der Dildo an verschiedenen Körperteilen befestigt werden und wird auf diese Weise zu einem flexibilisierten Signifikanten, der eine Vielfalt möglicher Lüste generiert. Mit dem Dildo wird weniger die Identifizierung sexueller Praktiken gemeint, sondern vielmehr die Affinität zwischen sexuellen Spielformen »ungleicher und beweglicher Beziehungen« (ebd.: 115) gesucht. Ohne eine feste Form geschlechtlicher Identität anzunehmen ist der Dildo kein abgeschlossenes Identitätsmerkmal, sondern wird in vielgestaltigen Diskursnetzen und Selbstpraktiken ausgehandelt. Preciados Dildosophie hat von daher eine ausgeprägte Affinität zum Bild des Netzes und zum Netzwerk als Denkfigur einer radikalen Durchlässigkeit von Körpern, Lebensformen und Machtbeziehungen: »Vernetzung ist nicht nur eine multinationale Unternehmensstrategie, sondern auch eine feministische Politikform – das Weben von Netzen ist die Praxis oppositioneller Cyborgs« (Haraway 1995: 60).
Eine neue Vielfalt der Sexualitäten? Die neue Vielfalt der Sexualitäten im Netz wird häufig als Chance zur ›sexuellen Gleichberechtigung‹ und als ›demokratisierender Prozess‹ angesehen. In den aktuellen Debatten firmiert queer keineswegs als ›Nischenprogramm‹, das für sich eine eigene Materialität oder Positivität in Anspruch nehmen würde. Seine Abgrenzung zu dem, wovon es sich unterscheidet, begründet queer »notwendigerweise relational und nicht oppositionell« (Jagose 2001: 128). Diese gemäßigte Konzeption subjektiver und politischer Handlungsfähigkeit kann für die strategische Verortung queerer Pornografie geltend gemacht werden. Auch eine minoritäre Selbstpraxis wie etwa die Dildotechnologie kann sich nicht außerhalb von Machtverhältnissen als eine ›autonome‹ und ›unverfälschte‹ Instanz situieren. Das queere Denken distanziert sich aber vom Heroismus des enthierarchisierten Individuum und verortet Selbstpraktiken
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im ambivalenten Spannungsfeld von »Subjektivierung« und »Entsubjektivierung«. Wenn Michel Foucault als ›letzte‹ Möglichkeit widerständiger Praxis die Entsubjektivierung aufruft, dann muss in diesem Zusammenhang gefragt werden, wie das Verweigern von Subjektivität möglich sein kann. Zunächst verfährt Foucault ex negativo und stellt der befreienden Selbstbehauptung die Entsubjektivierung und das Anderswerden als Prozess gegenüber. Wenn wir im Anschluss an Foucault also davon ausgehen, dass Subjektivierungsprozesse in diesem Sinne immer auch ein Effekt bestehender Machtverhältnisse sind, dann hat diese Annahme auch weitreichende Konsequenzen für die pornologische Subjektwerdung, die weder den Status der Abhängigkeit noch den Status der Freiheit erreichen kann und damit ihren immanenten Widerspruch aushalten muss. Queere Pornografie behält zugleich die Möglichkeit von Kritik wie die Unmöglichkeit einer Instanz ein, welches sich als wahres Selbst bestimmen könnte. Als eine »radikale Politik der Sexualität« (Rubin 2003: 3179) oszilliert sie zwischen Freiheit und Regulierung und verweigert, eine feste Form geschlechtlicher Identität anzunehmen – ohne sich jedoch in Selbstauflösung zu verlieren. Mit ihren Gesten des öffentlichen »Zu-Sehen-Gebens« (vgl. Schade/Wenk 2005: 302-342) inszenieren sich queere Pornblogger/Pornbloggerinnen also immer auch als Subjekte, welche die politische Wirksamkeit von Bildern zu erproben versuchen. Ihr Widerstand gegen hegemoniale Machtverhältnisse zielt nicht auf ein einfaches Ersetzungsverhältnis ab, sondern beabsichtigt grundlegend, einen politischen Handlungsraum bereitzustellen.
4. TR AUERKULTUR IM S OCIAL N E T »If I Die« on Facebook »If I Die« ist der Name einer neuen Application Software, die es Facebook-Nutzern ermöglichen soll, nach ihrem Tod eine letzte Nachricht für die Freunde zu veröffentlichen (Abb. 32). Stirbt der Nutzer und wird der Tod von sogenannten Trustees bestätigt, kann ein Abschiedsvideo und eine Textnachricht auf der Facebook-Timeline des Verstorbenen gepostet werden. Gemeinsam mit einem Team aus Investoren, Psychologen und Pädagogen hat die israelische Webentwicklungsfirma Willook mit diesem Programm einen neuen Standard für die digitale Trauerkultur im Social Net gesetzt. In ihrem gleichnamigen Promotionvideo propagieren die Hersteller, den Tod als einmalige Chance zu sehen, um eine Wahrheit auszusprechen, die im Leben stets unausgesprochen blieb. Mit dieser Marketingstrategie versuchen sie, das Video mit einer Wahrheit aufzuladen, für die sich der Verstorbene nie mehr wird rechtfertigen müssen.
IV. Repräsentationspolitik
Abbildung 32: If I Die
Facebook App, http://ifidie.net/
So gesehen partizipiert das von Willook entwickelte Imageprodukt in zweierlei Hinsicht an der kommunikativen Kultur der Sozialen Netzwerkseiten. Erstens ist das Videoformat »If I Die« an die Freunde adressiert, für die sich der Sterbende im Selbstentwurf in Szene setzt; und zweitens ist diese letzte Selbststilisierung in der Trauerbewältigung dem im Web 2.0 geltenden Medienhype um kulturelle Echtheitserfahrungen geschuldet. In der von Geständnis- und Bekenntnisproduktion dominierten Peergroup-Kommunikation der Sozialen Medien überschreitet der Tod nur dann die Wahrnehmungsschwelle, wenn er im Rahmen authentischer Darstellungsästhetik vermittelt wird. Wahrnehmbar wird er, wenn er als ›echt‹, ›unverstellt‹ und ›spontan‹ in Szene gesetzt wird. Auf Freundschaftsnetzwerken, Internetforen und Gedenkseiten ist eine neuartige kollektive Praxis der Trauerkultur entstanden, die dazu geführt hat, dass die im Social Net vorherrschende Aufwertung authentischer Selbstdarstellung das text- und bildbezogene Handeln bei der Thematisierung von Sterbe- und Toderfahrungen überformt. Damit einhergehend verschiebt sich in den Kommunikationsräumen der Peer-toPeer-Netzwerke auch die Repräsentationskultur des Todes.
Virtuelle Grabmäler und Datenbankpflege Am 19. Jänner 2012 ging folgende Eilmeldung um die Welt: »Neun Tage nach ihrem schweren Trainingssturz ist Sarah Burke, die Ikone des Ski-Freestyle, in einer Klinik in Salt Lake City gestorben.« Kurz darauf gingen tausende Kondolenz-Nachrichten auf der Facebook-Seite des kanadischen Sportidols ein. Viele Menschen begrüßen es, dass verstorbene Bekannte nicht einfach aus der Netz-
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welt verschwinden. Darum arbeiten seit längerer Zeit die verschiedenen Community-Webseiten an Verfahren, die Benutzer nach ihrem Tod auf einer eigens für verstorbene Benutzer eingerichteten Internetseite zu verewigen. Facebook bietet mittlerweile an, Nutzerprofile in Gedächtnisseiten umwandeln zu lassen. Neben dem üblichen Kondolenzbuch enthält die Seite die Möglichkeit, Kommentare, Fotos und Videos zu hinterlassen. Dieses Beispiel mag verdeutlichen, dass sich die kulturelle Praxis von Trauer, Tod und Sterben mit dem Internet maßgeblich verändert hat. In ihrem 1999 in der »Zeitschrift für Volkskunde« veröffentlichten Aufsatz »Virtuelle Friedhöfe« arbeiten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker heraus, dass »virtuelle Friedhöfe als Teil eines globalen kommunikativen Netzes die private und die öffentliche Auseinandersetzung mit dem Tod in eine neue Beziehung zueinander setzen und daher einen soziokulturellen Indikator gegenwärtiger Erinnerungs- und Trauerkultur darstellen« (Schwibbe/Spieker 1999: 220). Die digitale Kommunikation im Netz führt mit der Prozessdynamik der Sozialen Medien zu einer neuen Sichtbarmachung des Todes. Mit dieser Gegenwartsdiagnose ist die Frage verbunden, wie sich die kulturellen Vorstellungen über den menschlichen Tod durch die Spezifik der Sozialen Medien verändert haben (vgl. Schwibbe/Spieker 2005: 229-242). Facebook etwa reagierte auf diesen neuen Trend und bietet heute einen Memorial-Service für verstorbene OnlineExistenzen an. Sobald eine Todesmeldung von den Trustees beglaubigt wurde, bekommt der Tote eine Memorial-Page, auf der sich Freunde austauschen können. Mittels der Memorial-Seiten bei Facebook kann die Trauerbewältigung und die Gedenkkultur auch zum Zielpunkt kommerzieller Bewirtschaftung werden. Mit dem Like-Button als Datensammler wird der Erweis der mitmenschlichen Anteilnahme, des Beileides oder des Mit-Trauerns zur Datenquelle für Facebook. Jedes Mal, wenn Nutzer kondolieren, wird Facebook per Cookie und IP-Adresse darüber informiert. In ihrer (kostenlosen) Trauerarbeit leisten die Nutzer Sozialer Netzwerke doppelte Arbeit bei der Produktion von Informationsgütern: Sie produzieren einerseits den Inhalt und generieren damit auch Marktforschungsdaten – über sich selbst und ihre Freunde.
Kollektive Trauerarbeit 2.0 Mit der Investition des E-Commerce-Business in den Bereich der Sozialen Netzwerkseiten wurde die Trauer- und Gedenkkultur zum Gegenstand zahlreicher Dienstleistungsangebote. Die ersten Internet-Friedhöfe entstanden Anfang der 1990er Jahre in den USA. Dort gibt es heute über 100.000 Friedhofsportale und einschlägige Gedenkseiten. In ihrer Trauerarbeit stellen die Nutzer unterschiedlichste Dienstleistungen und Medienformate in Form von Filmen, Nachrichten, Magazinen und Musik-CDs zur Verfügung, die nicht
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mehr mit Geld bezahlt werden müssen: Entlang der Gratisökonomie des Netzes leistet die Nutzerbasis kostenlose Trauerarbeit und generiert kollektiven Trauerwert. Diese im Trauerbekenntnis enthaltene Strategie des Wertgenerierens vermehrt den Unternehmens- und Börsenwert von Communityseiten wie Facebook. So firmieren auch die Narrative des Sterbens und der Todeserfahrung als potenzielle Reklameflächen. Die Trauerarbeit wird zum Reklameträger, die Werbung glaubwürdiger und auch statistisch auswertbar macht. Diese Ökonomisierung des Todes im Netz stiftete weniger eine befreiende Sichtbarmachung eines lange unterdrückten Todeskultes, sondern hat heute neue strukturelle Zwänge entstehen lassen, die um das Erinnern und das Erinnert-Werden des Todes kreisen. Diese strukturellen Zwänge haben sich in das Innere der Software-Tools verlagert. Sie bieten den Trauernden weniger einen guten Abschluss der Trauerverarbeitung an, sondern sind daran interessiert, die Trauer auf den Seiten möglichst lebendig und aktiv aufrecht zu erhalten. Eine aktive Trauer-Community ist entstanden, die sich regelmäßig im Dialog mit den Toten untereinander austauscht und dadurch den Webtraffic der Gedenkportale steigert. In diesem folgt die aktive Trauerbeteiligung der Logik eines Geschäftsmodells. Auf der anderen Seite etabliert die kommerzielle Förderung der kontinuierlichen Trauerarbeit eine neue kulturelle Praxis des kollektiven Gedenkens. Seit den 1990er Jahren haben sich Gedenkseiten, meistens in Form von Online-Friedhöfen, in stets steigender Zahl im Web durchsetzen können. Während das Thema der virtuellen Internetfriedhöfe in Deutschland überwiegend die Medien beschäftigt, boomen in den Vereinigten Staaten die virtuellen Schauplätze des Erinnerns und Gedenkens. Ein virtueller Friedhof bietet einen Ort des Erinnerns für die Toten, und für die Hinterbliebenen stellt er einen Raum für Trauer und Erinnerung zur Verfügung. In seiner Selbstbeschreibung stilisiert er sich als ein immaterieller Ort, der von Raum und Zeit losgelöst ist, ähnelt jedoch in seiner ikonografischen Darstellung oft den Epitaphien mittelalterlicher Bestattungsorte. Das text- und bildbezogene Handeln auf den Gedenkseiten etabliert aber eine vollkommen neue Medialisierung der Trauerkultur (Abb. 33). Die Entstehung virtueller Friedhöfe ist als ein Teil der generellen Entwicklung im Internet anzusehen, wo Menschen das früher der privaten Sphäre Zugehörige jetzt in den Sozialen Medien des Web 2.0 veröffentlichen und dort auch verhandeln. Die digitalen Grabfelder repräsentieren heute umfassende Datenbanken von tausenden Einträgen, die teilweise bis zu mehrere tausend Nachrufe auf verstorbene Personen enthalten. In einem »Gästebuch« können Fremde Gedanken und Eindrücke äußern. Die Online-Gräber können sie sich vermittels unterschiedlicher Suchfunktionen erschließen. Tote können von ihnen nach unterschiedlichen soziodemografischen Daten ausgewählt werden.
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Abbildung 33: Eine Gedenkseite mit VIP-News
www.memorta.com
So können in den Datenräumen der Online-Gedenkseiten auch unangemeldete User/Userinnen zwischen mehreren tausend Einträgen navigieren. In Anlehnung an das Anzünden einer Kerze steht es ihnen frei, virtuelle »Candles« am Cyberfriedhof zu hinterlassen, durch ein Fotoalbum verstorbener OnlineExistenzen zu browsen und sich in das öffentliche Kondolenzbuch einzutragen. Die Verfügbarkeit von persönlichen Daten und Informationen hat aber auch zur Plünderung toter Profilseiten geführt, die als Versatzstücke der Remix und Mashup-Culture einverleibt werden und dann etwa auf YouTube in Videocollagen auftauchen. Abhängig vom Anbieter des virtuellen Friedhofs können »Memorials« über die Verstorbenen, die z.B. aus einer umfassenden Biografie, aus Fotos, Abbildungen, Musik und einem Video bestehen können, erstellt werden. In der Regel fehlt eine Grabsteinschrift und eine Todesanzeige. An ihre Stelle rückt die im Social Net weit verbreitete Bildkultur, das Individuum mit Hilfe eines aussagekräftigen Porträtfotos darzustellen. In diesem Sinne kann ein OnlineMemorial als eine mediale Reinszenierung des Lebens eines Verstorbenen aus der subjektiven Sicht der Hinterbliebenen angesehen werden. Indem die Hinterbliebenen bestimmen, welche Aspekte der Biografie ausgewählt und öffentlich zugänglich gemacht werden, fließen Momente der Selbstdarstellung in die virtuelle Thanatografie ein. In Anlehnung an den bürgerlichen Grabmalkult des 19. Jahrhunderts versuchen die virtuellen Gedenkstätten, den Tod zu überwinden, indem sie ihn in der Feier der diesseitigen Erfolge und der dauerhaften Erinnerung verewigen. Bei allem Wandel der digitalen Gedenkkultur im Web 2.0: Auffallend ist die gesellschaftliche Praxis, dem Tod etwas Dauerhaftes entgegenzusetzen.
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Dieses Dauerhafte wird in der Trauer-Community im Leben des Verstorbenen gesucht. In den von den Hinterbliebenen verfassten Lebensgeschichten erhält der Tote eine biografische Kontextualisierung, mit der ein nachträglicher Distinktionsgewinn erzielt werden kann. Für die Distinktionsarbeit am Tod stehen auf Gedenkseiten bestimmte Slot-Filler-Korrelationen zur Verfügung, die den Verstorbenen in einer Timeline nach Wohnort, Beruf, Hobby, Reisen etc. klassifizieren. Demzufolge bleiben die Unterschiede zwischen den Internet-Gedenkstätten und den traditionellen Orten von Tod und Trauer grundlegend. Auf den Friedhöfen und ihren Grabstätten ist der Tod nach wie vor ein materieller Sachbestand – und sei es als Leichnam in eingeäscherter Form. Bei den InternetGedenkstätten hingegen spielt der tote Körper keinerlei Rolle – es bleibt ohne Bedeutung, wo die eigentliche Bestattung geschah. Das Internet ist somit ein ›entkörperlichter‹ Ort von Trauer und Gedächtnis. Zugleich ist dieser virtuelle Gedächtnisort stets veränderbar. Im Gegensatz zu den steinernen Grabmälern der Friedhöfe kann er den wechselnden Stadien von Trauer, Verlustbewältigung und Erinnerung immer wieder neu angepasst werden. Der entscheidende Punkt ist, dass die digitale Trauerkultur sich am Mediengebrauch des Social Net orientiert. Die in den Favoriten abgelegte Trauerseite ist jederzeit erreichbar und von allen Orten zugänglich (Abb. 34). Abbildung 34: Ein Online-Friedhof, der 24 Stunden geöffnet hat
www.mymemorial24.de
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Diese einfache und rasche Verfügbarkeit eines Ortes, an dem man eines Toten gedenken kann, hat zur Veralltäglichung der Trauerarbeit geführt. Der Ort des Gedenkens ist nicht nur jederzeit zugänglich und erreichbar, er stellt auch keinen Rand und kein Außen mehr dar, das sich in einem bestimmten Distanzverhältnis zur privat-häuslichen Sphäre der Trauernden situieren würde. Die rasche Verfügbarkeit hat zur Etablierung von Trauertagebüchern, Online-Diaries der Trauer geführt, in welchen Trauernde tägliche Emails mit den Toten unterhalten. Hier firmiert der Tote nur noch als ein temporär Abwesender und kann als Dialogpartner jederzeit technisch aufgerufen werden. Tote werden im Social Net adressierbar. Die verbraucherfreundlichen Tools der Social Media simulieren eine kommunikative Beziehung mit den Toten und verwandeln sie in Untote. Indem die Trauer- und Gedenkseiten auch Gedächtnisfunktionen übernehmen, verwandeln sie den Tod in ein praktisches delegierbares Problem. Neben der Datenbankpflege stellt uns die Softwarearchitektur die Newcomer des Tages vor, erinnert uns an die Sterbetage, versorgt uns mit den aktuellen Tipps und Ratschlägen zu Dienstleistungen im Fachbereich der Trauerbewältigung. Seiten wie www.ewiges-leben.de simulieren, dass der Tote unsterblich ist und folglich nicht vergessen werden soll. Sie suggerieren die jederzeit mögliche Kommunikation mit den Toten per Mail-Kontakt. Vor diesem Hintergrund kann nun die durch die digitale Kommunikation ermöglichte Verschiebung der Trauerkultur gefasst werden. Denn das Geschäftsmodell der Online-Gedenkseiten ist ausschließlich an der Aufrechterhaltung der Erinnerungskultur interessiert. »Mit den Internetfriedhöfen stellt man sich dem endgültigen Punkt, dem Tod, nicht, es hat nichts von Vergänglichkeit und Verwesung, weil man durch Tagebücher oder Briefe immer wieder etwas zu den Traueranzeigen hinzufügen kann«, halten Gudrun Schwibbe und Ira Spieker fest (2005: 234f.). Aus der Sicht des E-Commerce-Business schädigt das Vergessen die Besucherfrequenz der Seite, und das Vergessen führt im schlechtesten Fall zur Aufgabe des Online-Grabes. Darum zielt die Bewirtschaftung der Trauerarbeit darauf ab, die Erinnerung an die Toten als ›unverzichtbaren‹ Teil des Lebens der Hinterbliebenen zu deklarieren. Zusammenfassend kann das Internet als ein maßgeblicher Kulturraum betrachtet werden, in welchem sich ein neuer Produktions- und Rezeptionskontext von Sterbe- und Todeserfahrung herausgebildet hat. Heute belebt eine dynamische und aktive Erinnerungskultur das Geschäft der Online-Trauer. Dagegen ist das Vergessen-Können eine Gefahr für die Portale. Deshalb etablieren die Repräsentanten der Trauerarbeit 2.0 eine Mnemotechnik der schlechten Unendlichkeit, denn sie zielen darauf ab, dass die Arbeit am Gedenken nie zu Ende kommen darf. In diesem Sinne produzieren sie den Menschen als Mängelwesen, der mit seiner Trauer nie fertig werden soll. Zur Aufrechterhaltung seiner aktiven Trauerarbeit werden gratis verfügbare Trauer-Tools zur Verfügung gestellt, die dafür sorgen sollen, dass Todeserfahrungen zur Share-
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ware von kollektiv geteilter Alltagskommunikation im Social Net werden kann. Am Fluchtpunkt dieser Entwicklung steht der Like-Button, mit dem Facebook die mitmenschliche Anteilnahme in eine One-Click-Kondolenz transferiert. Die Erfahrbarkeit von Sterben und Tod vermischt sich immer auch mit der Angst der Verbliebenen vor der kommunikativen Leere. An dieser Schnittstelle nistet sich das Geschäftsmodell der Memorial Sites ein, die eine ewige Erinnerung an die Toten in Aussicht stellen und damit die Trauernden im Netz auffordern, ihre Trauerarbeit als offenes und unabgeschlossenes Projekt zu betrachten. Doch trotz Social Net gibt es bis heute keinen Kontakt mit dem Jenseits, mit den Toten. Es kommt keine Antwort zurück. Die Trauernden verfangen sich selbst in den Feedbackschleifen unaufhörlicher Trauerarbeit und fungieren letztlich als Datensammler für das Social Media Marketing.
Memoriale Praktiken in Videoblogs Eine Woche vor seinem Tod nahm der 18-jährige Ben Breedlove im Jahr 2011 ein Abschiedsvideo »This is my story« auf und erzählte darin von seiner lebensbedrohlichen Herzkrankheit (Abb. 35). Abbildung 35: This is my story
Youtube-Video von Ben Breedlove (2011)
Dieser Videoblog und der kurz darauffolgende Tod des jungen Amerikaners lösten bei vielen Zusehern/Zuseherinnen Betroffenheitsgefühle aus und sie reagierten mit memorialen Video-Reenactements, um ihre mitmenschliche Anteilnahme zu bekunden. Verstreut über die ganze Welt bekundeten die You-
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Tuber ihr Mit-Trauern, obwohl sie den Verstorbenen nur aus dem Netz kannten. Die YouTuber nutzten ihre Online-Videoportal zur Beileidsbekundung und erzählten bei dieser Gelegenheit auch von ihren persönlichen Sterbe- und Trauererfahrungen. Warum erfuhr gerade dieses Video eine derart große mediale Aufmerksamkeit und etablierte in der Netzkultur eine viral sich verbreitende Trauerbekundung? In seinem Video berichtet Breedlove über sein Leben mit der Diagnose lebensbedrohlicher Herzfehler. Er erzählte seine Krankheitsgeschichte mit Hilfe von Notizen, die er auf einen Zettel geschrieben hat und schildert seine bisherigen Erfahrungen und künftigen Erwartungen vor dem Hintergrund eines jederzeit möglichen Todeseintritts. Fasst man die im Video kommunizierten Authentizitätssignale und die damit adressierten kulturellen Echtheitserfahrungen als dramaturgische Auf bereitungen der Selbstthematisierung auf, dann können damit einhergehend die dramaturgischen Auf bereitungsprozesse angesprochen werden. Authentische Sterbeinszenierungen, in unserem Fall Videonachrichten, erscheinen als audio/visuell faktisch, wenn sie es verstehen, spezifische Vermutungen und Erwartungen zu nähren. Um audio/visuell faktisch zu werden, rekurriert die authentische Selbstdarstellung auf formatspezifische Vermittlungsstile und eine dem Medienkanal angepasste Bildästhetik: direkte Adressierung, Naheinstellungen in der Lowtech-Ästhetik der Webcam, die in einem unbearbeiteten Single-Shot-Verfahren aufgenommen wurde. Allerdings muss in diesem Zusammenhang eingeräumt werden, dass im Rezeptionskontext die Dimensionen des Authentischen nicht als normativ gesetzt, sondern als sozial und kulturell variable Projektionsflächen wahrgenommen werden. Im Unterschied zum Fernsehen als einseitiger Medienkanal, der Feedback unterdrückt, sind YouTube-Videos in einen permanenten interaktiven Aushandlungsprozess eingebettet, die sich aus folgenden Indikatoren zusammensetzen: die interaktive Bewertungen, der individuell zurechenbare Kommentar, der eine Debatte generieren kann und schließlich der interaktiv hochwertige Videoupload, der sich in unserem Fall mit einem Reenactement auf das Video auf persönliche Weise bezieht. Mit ihren Response-Videos drücken die Fans von Breedlove ihre Betroffenheit gegenüber jemanden aus, den sie selbst nicht persönlich kennen, von dessen Selbstdarstellung sie sich aber betroffen sehen. Mit YouTube ist folglich ein neues Format der Kondolenzbezeugung entstanden, nämlich die Video-Kondolenz. So gesehen entsteht eine glaubwürdige Sterbekommunikation im Raum zwischen Repräsentation und Rezeption und kann als eine »rückbezügliche Kategorie« (Linder 1996: 80) gefasst werden, die immer auch im Auge des Betrachters entsteht. Fassen wir kurz zusammen: Sterbevideos auf YouTube referieren auf kontextabhängige Authentizitätsstrategien des medialen Produkts und seiner Formatierung vermittels der ordnenden Instanz der Webseite. Der Rezipient steht der Seite nicht isoliert gegenüber, sondern ist mit ihr eng verflochten und besitzt die
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Möglichkeit, seine auf das Video bezogene Bedeutungsproduktion interaktiv – im Rückkanal – einfließen zu lassen. Dementsprechend ist die Beziehung zwischen den Authentizitätssignalen und ihrer Aufnahme und Weiterentwicklung im Rezeptionsprozess von einer wechselseitigen Einflussnahme geprägt. Es gibt im Video von Ben Breedlove ein mediales Moment der Selbstthematisierung der Sterbe- und Todeserfahrung, die ich in wenigen abschließenden Sätzen verdichten möchte. Mit der Thematisierung von Trauer- und Sterbeerfahrungen auf YouTube verschieben sich die Grenzen zwischen dem privaten und öffentlichen Raum. Sie machen die häusliche Sphäre zu einem medialisierten Schauplatz des öffentlichen Räsonnements und kollektiver Bedeutungsproduktion. Trauer- und Sterbevideos zielen hier auf die Aufhebung des Unterschieds zwischen Produktion und Rezeption und erzeugen eine Sensibilisierung für eine Ästhetik, die mit den etablierten Wahrnehmungskonventionen von Kino und Fernsehen, die der Partizipation des Publikums nur einen niedrigen Stellenwert einräumt, bricht. Die Erweiterung der Subjektpositionen setzt aber bereits am filmischen Set ein und beschreibt eine spezifische Medienästhetik, die sich in die Selbstbeobachtungsanordnung einschreibt. Da innerhalb der YouTube-Community ungeschnittenes Material als besonders lebensnah und glaubwürdig wahrgenommen wird, muss das Filmmotiv und die Ausstattung des Sets, an dem die Dreharbeiten durchgeführt werden, dementsprechend vorbereitet und geplant werden. Das spezifische mediale Setting der Aufnahmesituation stiftet das berührende Moment im Video. Wir sehen Ben sitzend vor seinem Computerbildschirm. Dieser überträgt das von der Webcam übertragene Selbstbild, das er synchron auf dem Computerbildschirm wahrnehmen kann. Er kann damit die Videoaufnahme überwachen und die Unschärfen der in die Kamera gehaltenen Schrifttafeln ausgleichen. Er sieht auf dem Bildschirm das, was er geschrieben hat. Er hält es also nicht verkehrt in die Kamera, sondern liest aktuell das, was auf den kleinen Karteikärtchen geschrieben steht, was er selbst auf diese als seine Geschichte geschrieben hat. Und er reagiert emotional auf diese Geschichte, ihre dramatischen Wendungen, ihre Ermunterungen, ihren Selbstzuspruch. Und wir können als Beobachter dieser Aufzeichnung die Emotionen, die dieser spezifische Text auf ihn als Autor und Leser ausübt, mit verfolgen und beobachten. Genau dieser Inszenierungsstil ist es, der das Video mit Authentizitätssignalen sättigt und verstärkt. Das Berührende an diesem Video verdankt sich immer auch seiner medialen Ermöglichung und den spezifischen Rahmungen der medialen Aufzeichnung. Bei der Beobachtungsanordnung im Closed Circuit macht Ben die Erfahrung der Synchronität seiner Handlungen, die er mit dem digitalen Bild abgleicht – ähnlich wie im Spiegelbild, jedoch nicht wie gewohnt seitenverkehrt. Ben befindet sich also in einer medial erweiterten Realität. Diese mediale Erweiterung sorgt dafür, dass er sich nicht mehr innerhalb einer aktuellen
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Situation erlebt, die er als Gegenwart empfindet, sondern in einer zeitversetzten Wiedergabe, die eher Erinnerungs- oder dokumentarischen Charakter aufweist. In diesem Zusammenhang wird das Videobild in der Funktion als Spiegel eingesetzt. Dies meint in unserem Zusammenhang eine gestisch und mimisch kommunizierte Selbstbezüglichkeit, die auf die Adressantinnen zurückwirkt. Die Selbstadressierung adressiert zwar offensichtlich ihre Adressanten, eröffnet aber darüber hinausgehend eine sekundäre Adressierung, die sich an ein imaginiertes Publikum richtet und Aneignungsräume offen hält. Die Zentralität des filmischen Textes weicht einer offenen und nichtlinearen Heteromedialität, welche die Videobilder in flüchtige und instabile Bedeutungsnetze einschreibt. Diese im medialen Setting generierte, YouTube-spezifische Trauerkommunikation wurde seither von zahlreichen Videoamateuren weltweit reinszeniert. Es entstanden in der Nachfolge hunderte Videoantworten, die weit über Kondolenzvideos hinausgingen. Es entstanden vor der Kamera aufgeführte und aus der Kamerasituation hervorgehende Traueraffekte, die medial generiert wurden, als die Kamera eingeschaltet wurde und die Dramaturgie der chronologisch in die Kamera gehaltenen Kärtchen nachgestellt wurde. Erst durch die Anwesenheit der Kamera konnte eine Selbsterzählung der Trauer evoziert werden und es bildete sich kurzfristig eine ritualisierte therapeutische Situation heraus, die sich an der Schnittstelle medialisierter Nähe und kollektiv geteilter Trauer- und Sterbeerfahrungen ansiedelte.
V. Zusammenfassung und Ausblick
Im vorliegenden Buch wurden unterschiedliche Ausprägungen digitaler Kollektivität im Social Net auf der Grundlage unterschiedlicher Machttheorien thematisiert. Die folgenden theoretischen Fragestellungen sind der Gegenstandsanalyse voraus gegangen und haben innerhalb der Einzeluntersuchungen eine zentrale Stellung eingenommen: (1) Die Netzwerkwerkgesellschaft kann vor dem Hintergrund eines technologischen Dezisionismus als medieninduziert entworfen werden und firmiert in diesem Kontext als eine diskursive Manövriermasse technizistischer Praktiken. Ausgehend von der Dominanz der Technologien der Vernetzung existiert die kollektive Macht nur als technisches Produkt der Benutzerschnittstelle. Insofern kann die Benutzerschnittstelle als Formationssystem von Wissen und als Produktionsbedingung für die Herstellung von Aussageordnungen und individuellen Äußerungen aufgefasst werden. Mit der Analyse der kollektiven Wissensproduktion mittels digitaler Sozialer Netzwerke beschäftigt sich das Social Information Processing (Sullivan 2012: 860-865), das Phänomene beobachtet, die durch die kollaborative Wissenserfassung von Daten und Information entstehen. Die Sozialen Netzwerke sind heute selbst zum Medienereignis geworden und gelten im öffentlichen Räsonnement als ein Indikator für die Verschiebung von Macht- und Herrschaftsverhältnissen (McNeill 2012: 65-82). Als elementare Bausteine zum Verständnis gesellschaftlicher Ordnung werden sie in unterschiedlichen Mediendiskursen als »Leitmedium« einer neuen Kommunikationskultur gesetzt, das nicht nur das kulturelle Gedächtnis prägt und zu kollektivem Wissen mittels der kooperativen Formen der Wissenskonstitution beiträgt (vgl. das Projekt der Online-Enzyklopädie Wikipedia), sondern auch die soziale Macht von Gesellschaftsformationen verhandelt. An diesem Punkt zeigt sich auch ihr Kardinalproblem. Denn unter den Bedingungen der Ökonomie der Aufmerksamkeit und der endlosen Feedbackschleifen, welche die Kommunikationskultur des Social Net kennzeichnen, ist die Machtakkumulation potenziell unbegrenzt und unabgeschlossen. Die kybernetischen Technologien des Massenfeedbacks und die Performanz- und Effizienzorientierung
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der Sozialen Netzwerkseiten und Online-Portale haben mit der Schaffung eines Kontrolldispositivs der permanenten sozialen Beobachtung wesentlich zur digitalen Modellierung der neuen Kollektivitäten beigetragen (vgl. Lyon 2001, 2003). Der Mehrwert der Technologie von Sozialen Netzwerken und bloggestützter Kommunikation im Web 2.0 besteht in der Einrichtung eines medienimmanenten Rückkanals. Diese Feedbacktechnologien haben nicht nur im engeren Sinne eine neuartige Kommentarkultur ermöglicht, sondern darüber hinaus haben die im Social Net implementierten Technologien des Massenfeedbacks zur sozialen Normalisierung von Beobachtungs- und Kontrolltechnologien beigetragen (Kumar 2012: 244). Soziale Medien bieten mit ihren Peer-to-PeerNetzwerken horizontale Möglichkeiten der Systembeobachtung und etablieren im Front-End-Bereich eine dezentral organisierte Netzwerkdynamik, welche die von den Userinnen und Usern generierten Inhalte einer reziproken Bewertungspraxis der wechselseitigen Beobachtung unterwirft (Lampe/Ellison/ Steinfield 2006: 435-444). Im Modell der radikal reziproken Evaluation im Massenfeedback kann jeder Beobachter alle anderen Beobachter beobachten. Gleichermaßen wird jeder Beobachter auch von allen anderen beobachtet, bewertet und kommentiert. Hier zeigt sich eine weitere Eigenart der kollektiven Vernetzungstechnologien: Das Social Web kann also eine Versuchsanordnung zur Multiplizierung kollektiver Blicke verstanden werden: Christian Fuchs interpretiert die Social Networking Sites als Versuchsanordnung einer künftigen »Surveillance Society« (Fuchs 2009). Die Kollektivierung des Rückkanals erhöht die soziale Kontrolle, wenn sich Subjekte im Zustand der permanenten Beobachtung befinden. Die kontinuierliche kollektive Kontrollkultur ist das Resultat der Bandbreitensteigerung der Übertragungskanäle und der Verkürzung der Schalt- und Rechenzeiten. Mit der technisch forcierten Echtzeitkommunikation kommt es auf der Ebene der sozialen Anwendungen zu einem massiven rezeptionsästhetischen Anpassungsdruck. Soziale Netzwerke schlafen nie und generieren ununterbrochenes Massenfeedback. Wer mittels der Feedbacktechnologien vernetzt ist, kann ununterbrochen und an der Grenze zur Echtzeit bewertet und kommentiert werden. Das E-CommerceBusiness operiert mit »Massenfeedbacktechnologien« (Beniger 1986: 20), die ein eigenes Daten- und Informationsnetz aus Meinungsumfrage, Konsumforschung und werbepsychologischen Testverfahren etablieren. In kollaborativen Netzwerken präsentiert sich die Evaluation als ein komplexes soziales Beobachtungswissen auf der Ebene alltäglicher Praktiken. So fungiert im kollaborativen Open-Content-System der Wikis die Evaluation als eine demokratisierte Kontrolltechnologie, welche die Subjekte unter eine wechselseitige und permanente Dauerbeobachtung und Dauerbewertung stellt. Mit der Verdichtung der Kommunikationsakte im medientechnologisch induzierten und medienästhetisch inszenierten Flow-Erlebnis gerät die Kommunikationskultur unter
V. Zusammenfassung und Ausblick
Beschleunigungsdruck und es kommt zur Herausbildung vereinfachter und repetitiver Mikrodramaturgien mittels Abbreviaturen, Ellipsen und Redundanzen. Die Dienstleistungsbeziehung ist das zentrale Strukturelement in verteilten Systemen. Diese besteht aus einem Server, der eine bestimmte Dienstleistung (Service) für einen Dienstnehmer oder Client erbringt. Das Hauptproblem von gängigen Client-Server-Netzwerken besteht darin, dass der Server, der die Betriebsmittel für die instrumentelle Machtakkumulation der Clients bereitstellt, seine Souveränität daraus bezieht, die »Macht der Vielen« und ihre Interessen, Bedürfnisse und Intentionen zu vertreten. Das Ziel der gewinnorientierten Client-Server-Architektur besteht darin, möglichst viele Kunden zu genieren. Vor diesem Hintergrund kommt es zu einer Machtakkumulation, in welcher die kollektive Macht zum Medium eines einzelnen Servers wird (das sind 1:n-Medien, wenn eine einzelne Website ihre Inhalte an viele Empfänger übermittelt, die darauf nicht direkt reagieren können oder wollen). Im Rahmen dieser One-to-many-Struktur nehmen Server und Clients unterschiedliche Rollen ein. Der Server verschafft den Clients einen Dienst und wartet passiv auf die aktiven Anforderungen der Clients. Im Unterschied zum Peer-to-Peer-Netzwerk, bei dem ein beteiligtes Programm innerhalb des Netzwerkes gleichlaufend Client und Server darstellt, können Akteure in ClientServer-Modellen ihre Rollen nicht tauschen, da die Komponenten Client und Server getrennt und auf verschiedene Programme verteilt sind. In seiner Eigenschaft als einer verteilten und dezentralen Informationstechnologie muss folglich das Internet nicht zwingend als ein Indikator für einen demokratisch verfassten Kommunikationsraum geltend gemacht werden, wenn Online-Praktiken wie der Click-Activism ein kritisches Denken verhindern. So kann etwa in der Weiterführung der Konzeption einer zentralistisch-konsensorientierten Souveränität die digitale Massenbewegung als das Endprodukt einer verschwörerischen Machtpraxis erscheinen, die mit Hilfe strenger Regeln der Geheimhaltung im Back-End-Bereich der Sozialen Medien (z.B. von Facebook) gesteuert wird. In diesem Sinne sind die Kollektive der Ära 2.0 medieninduziert und ein Effekt der von den Sozialen Netzwerkseiten im Front-End-Bereich angeordneten Navigationsräume. Im Unterschied zum einseitigen Kommunikationsprozess der meinungsbildenden Medienkanäle wie etwa den Massenmedien Zeitung und Fernsehen können die medienöffentlichen Themensetzungen, die zu gesellschaftlichen Debatten führen, im Internet der Peer-to-Peer-Netzwerke durch die Mediennutzer selbst generiert und verbreitet werden (vgl. Vegh 2003: 73). Obwohl diese verteilten Kommunikationspraktiken die mediale Autorität der Einwegkommunikation überwunden haben und einen Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit eingeleitet haben, konnten sich in der OnlineKommunikation technologisch vermittelte Standards und Normen sozialer
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Wissenskonstitutionsprozesse etablieren. Die Gegenüberstellung der »Macht der Vielen« mittels feedbackorientierter Peer-to-Peer-Netzwerke gegenüber der Macht des Einen der eindimensionalen Medienkanäle im One-to-manyPrinzip ohne Rückantwort etabliert ein dichotomes Modell der Macht. Die gängigen Client-Server-Netzwerke reproduzieren allerdings wieder mehr oder stillschweigend mediale One-to-many-Strukturen. Ihre Schichtenarchitektur sorgt dafür, dass den Clients der Zugang zu tieferen Schichten verwehrt ist. Am Beispiel der gängigen Drei-Schichten-Architektur kann aufgezeigt werden, dass die »Macht der Vielen« auf die Benutzerschnittstelle der sogenannten Präsentationsschicht reduziert ist. In diesem Front-End-Bereich können die Clients ihre Daten- und Benutzereingaben verwalten. Den Clients ist der Zugang zu den tieferen Schichten verwehrt und sie haben keine Einsicht in die Logikschicht, die alle Verarbeitungsmechanismen und die gesamte Anwendungslogik vereint und auch keine Einsicht in die Datenhaltungsschicht des Back-End-Bereichs, der die Datenbank enthält und verantwortlich ist für das Speichern und Laden von Daten. So postuliert eine bloße Ersetzung der Macht des Einen durch die »Macht der Vielen« weiterhin die Einheit der Macht. Die Idee der Konformität von Macht setzt sich auch im Konzept »der« Macht der Vielen fort, wenn die Macht in diesem Denken weiterhin als etwas verstanden wird, das als ungeteilt und homogen gilt. Vor diesem Hintergrund stellen sich folgende Fragen: Auf welche Art und Weise wird kollektives Wissen mittels der Kommunikation der Sozialen Medien konstituiert? Mit welchen Methoden kann man die Medien als technologische Ermöglichung von kollektivem Wissen, sozialen Praktiken und kulturellem Gedächtnis beschreiben? (2) Im Unterschied zum technikorientierten Konservativismus von Macht als Determination, Regulation oder Zwangsverhältnis gehen performative Netzdiskurse von einem handlungsbasierten Machtbegriff aus. Sie sehen Macht als eine Redeweise an, die eine legitimitätserzeugende Kraft kollektiven Handelns miteinschließt. Performative Netzdiskurse erwarten sich von der in die Übertragungswege der digitalen Vernetzungskultur verlagerten »Macht der Vielen« einen sozialen und politischen Wandel und versuchen, die digitalen Kollektivitäten als alternative Steuerungsalternativen im Unterschied zu herkömmlichen Formen sozialer Regulation aufzuwerten.1
1 | Die Medienformate der Weblogs gelten im repressiven Medienumfeld des Iran als Freiheitstechnologie: »The peer-to-peer architecture of the blogosphere is more resistant to capture or control by the state than the older, hub and spoke architecture of the mass media model.« John Kelly/Etling, Bruce (2008): Mapping Iran’s Online Public. Online: http://cyber.law.harvard.edu/publications/2008/Mapping_Irans_Online_Public (letzter Zugriff: 25.01.2013).
V. Zusammenfassung und Ausblick
Kollaborative und kollektive Praktiken haben in der Theoriebildung der Sozialen Medien eine breit gestreute Konjunktur: Sei es als Hoffnungsträger für die kommende »soziale Revolution« (Shirky 2008) oder als selbstorganisierte »kollektive Intelligenz«, die von James Surowiecki in »The Wisdom of the Crowds« (2004) als eine Organisationsform größerer Freiheitsgrade, als ein innovativeres Denken, oder als ein effizienteres Wirtschaften geltend gemacht wurde. Er argumentiert in seinem vielbeachteten Buch, dass die Kumulation von Informationen in Gruppen zu gemeinsamen Gruppenentscheidungen führen, die oft besser sind als Lösungsansätze einzelner Teilnehmer. Dieser Ansatz markiert nicht nur eine singuläre Positionierung für eine normative Aufladung kollektiver Intelligenz, die als »Weisheit der Vielen« verhandelt wird; nein, diese These steht vielmehr für ein hegemonial werdendes Diskursfeld, das von kollaborativen und kollektiven Praktiken einen entscheidenden Beitrag zur sozialen, politischen und ökonomischen Wertschöpfung erwartet: »Interaktion und Partizipation dienen längst als rhetorische Mittel zur Vermarktung kulturindustrieller Waren und werden zur Wertschöpfung im Rahmen partizipativer Technologieentwicklung und usergenerierter Inhalte genutzt.« (Simanowksi 2012: 20) Aber im Unterschied zu den Versuchsanordnungen der alternativen Gesellschaftsmodelle der 1960er Jahre und ihren strikt organisierten Kommunen, Kooperativen und Arbeitskollektiven, die gemeinsame Ziele verfolgten und in denen der kollektiven Entscheidungsfindung nach dem Prinzip des Konsens ein zentraler Stellenwert eingeräumt wurde, erwartet man sich von den digitalen Kollektiven die Bereitstellung eines wendigen Handlungsrezeptes für ein flexibles Strukturmodell. Für die digitalen Kollektivpraktiken stellt der fehlende organisatorische Zusammenhalt keinen Mangel an Übereinstimmung und Gemeinsamkeit dar, denn gemeinsame Willensentscheidungen und gemeinsame Handlungen kommen nur unter speziellen Voraussetzungen zustande. Die Struktur, der Auf bau und die jeweiligen Verfahren bei der Organisation von digitalen Kollektivitäten müssen also nicht mehr in komplexen Prozeduren der konsensuellen Meinungsfindung hergestellt werden, sondern sind mehr oder weniger in die strukturierten Anordnungen der Social Software eingelagert. Von Globalisierung und dezentraler Medientechnologie vorangetrieben, dringt die mittels der digitalen Vernetzung hergestellte »Macht der Vielen« in immer weitere Lebensbereiche ein. Social Media werden von kollektiven Protestaktionen als Informations-, Kommunikations- und Kooperationswerkzeuge für die Online-/Offline-Vernetzung von oppositionellen Praktiken genutzt (Dahlgren 2009). Besondere Aktualität haben kollektive Mobilisierungsprozesse gegenwärtig vor allem als Modellierung eines neuen, unkonventionellen sozialen Verhaltens: etwa in den Smart Mobs oder Flash Mobs (Rheingold 2002), die sich ohne zentrale Mobilisierungsinstanz als situationsbezogene Protestgruppen
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zu digitalen Kollektivitäten zusammenfinden und als ein aggregatähnliches Kollektiv temporär und taktisch die öffentlichen Räume durchqueren (vgl. zur Mediengeschichte der Flashmobs Jochem 2011). Ihre extreme Flexibilität und unhintergehbare Wandelbarkeit machen die digitalen Mobs zum Grenzfall der Modellierung in repräsentationalen Verfahren der Aufzeichnung und Speicherung. Denn ihre Bewegungsdynamik findet oft am Rande der kontingenten Strukturen statt und erschwert einen epistemologischen Zugang. So kreist etwa die Übertragung von Befragungs- und Nutzerdaten in Kombination mit dem Surfverhalten der User auf die Gesamtheit aller Nutzer statistischen Berechnungen durch das Social Media Targeting und das Predictive Behavioral Targeting um mathematische Optimierungsprobleme und bringt kein in sich abgeschlossenes Wissen hervor, da die sozialen Beziehungsgefüge stets wandelbar, unvorhersehbar und unzyklisch in ihrem Verhalten erscheinen. Sie verweisen auf die Löschung stabiler Demarkationen und konfrontieren uns mit der dynamischen Auflösung statischer Ordnungskonzepte. Daher erscheinen sie als schlecht definierte Systeme, die sich durch schwach strukturierte Datenmengen und eine dementsprechend unscharfe Logik auszeichnen. Dementsprechend erweist sich das soziale Wissen der digitalen Kollektivsubjekte als ein extrem volatiles und aggregatähnliches Wissen, das kein diskursives Zentrum erzeugt und einem empirischen Umherirren gleicht. Die Verbreitung sozialer Netzwerkbeziehungen verweist also darauf, wie unsicher, notorisch schwankend und unzuverlässig das Terrain der Berechenbarkeit geworden ist und dass diese Unschärfe mit der ständigen Bewegung zu tun hat, mit welcher sich die Kollektivströme ihrer medialen Identifizierungs- und Registrierungstechnologien zu entziehen im Stande sind. Die Volatilität der sich viral verbreitenden Inhalte und der sich viral verhaltenden Kollektive (Biyalogorsky et al. 2008) erzeugt gleichermaßen eine Volatilität des Wissens, dem es nicht mehr gelingt, einen analytischen Referenzraum zu konstruieren, der die globalen Kollektivströme in einem System stabiler und diskreter Unterscheidungen zu repräsentieren vermag. Die prekäre Objekthaftigkeit der viralen Kollektive gewinnt eine besondere, symptomatische Bedeutung nicht zuletzt dort, wo sich die Kultur der Gegenwart als eine Kultur der Unschärfe und als eine Ästhetik des Verschwommenen und Unscharfen bestimmen lässt. Sei es die neue Neigung zu schlecht definierten Systemen in der Organisations- und Managementtheorie, sei es eine Kritik von Logik und Mengenlehre durch eine unscharfe (›fuzzy‹) Logik, seien es schwach strukturierte Datenmengen von der Astronomie bis zu Klimaforschung und Computergrafik, seien es theoretische Entwürfe, die sich mit Begriffen wie ›lose Kopplung‹, ›Verstreuung‹, ›Mannigfaltigkeit‹ oder ›molekulares Werden‹ auf konstitutiv unscharfe Objekte beziehen: In all diesen Fällen lässt sich die Figur der viralen Kollektive als Emblem für die Selbstinterpretation zeitgenössischer Kultur begreifen, die sich auf verschiedenen
V. Zusammenfassung und Ausblick
Gebieten mit der Löschung stabiler Demarkationen und der dynamischen Auflösung statischer Ordnungskonzepte konfrontiert. Diese mangelnde Sättigung an wissenschaftlichem Wissen über das kollektive Verhalten im Netz macht dieses wiederum interessant für das politische Denken des Widerspenstigen und Unzähmbaren. Anders als Netze, deren Konnektivität sie definiert, müssen kollektive Bewegungsströme im Social Net die Konnektivität ihrer Einzelindividuen durch Medien der Kommunikation ständig herstellen (van Dijck 2013). Die hiermit avisierte Bandbreite der digitalen Protestformen umfasst auch Praktiken der Advocacy, das ist die Bereitstellung und Verbreitung von Informationen, Praktiken der Netzwerkbildung und der Mobilisierung und Praktiken des aktiven Engagements mittels Cyber-Kampagnen. Diese in Aussicht gestellte emanzipatorische »Macht der Vielen« wird aber durch Software-Features wie den erzwungenen Protected Mode2 , der den Usern/Userinnen den Software-Quellcode und die Möglichkeit zur individuellen Modifikation vorenthält, standardisiert und normalisiert (Franklin 2012: 443-464). Die demokratischen Defizite der neuen Netzöffentlichkeiten bestehen aus einem geringen Involvement durch den sogenannten One-Click-Protest, der an die Stelle der Mobilisierung der Massen die Gewissensberuhigung des Einzelnen freisetzt und aus einer Folklorisierung von politischen Öffentlichkeiten, die einer transnationalen Demokratisierung der Gesellschaft entgegenwirken. Andererseits wird im gleichen Moment im Back Office der Anbieter von Sozialen Netzwerken die digitale Masse als Datenaggregate manövrierbar. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Macht und Ohnmacht entfalten sich die (wieder aufgewärmten) Mediendiskurse zwischen Technologie und Kultur, zwischen dem Ästhetischen und dem Politischen, zwischen den Usern/Userinnen als kulturellen Idioten und den Technologen als den Verwaltern des digitalen Herrschaftswissens. Im Unterschied zur politischen Macht im System, die zentral organisiert ist und zur Usurpation einlädt, haben die Netzwerke neue Kollektivitäten hervorgebracht, die sich weder auf eine Autorität noch auf Recht zurückführen lassen. Obwohl sich die kollektiv gestützten Netzphänomene einer positiven Prädikatisierung entziehen, wird aus der verteilten und heterogenen Kollektivität ein digitaler Massenkörper erschaffen, der über einheitliche Eigenschaften und eine genuin positive Wirkkraft verfügen soll. (3) Entlang der mediendiskursiven Opposition zwischen dem technologisch normalisierten und dem sozial diversifizierten Interface hat sich ein um Anschlusskommunikation bemühter Interdiskurs herausgebildet, mit dem versucht wird, entgegen den Fragmentierungstendenzen der delokalisierten, 2 | Im Unterschied zum offenen Quellcode der Open-Source-Technologie, welche die freie Zugänglichkeit und die gemeinnützige kollektive Nutzung der Software ermöglicht.
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anonymen Massenbewegungen im Netz dort eine konsensuelle Repräsentationskultur von Kollektivität zu etablieren. Kollektivbilder haben in der informationellen Gesellschaft eine ungebrochene Konjunktur und liefern einen entscheidenden Beitrag zur sozialen und kulturellen Akzeptanz respektive Ablehnung von Vernetzungsformen. Kollektivitäten im Netz sind in eine technologische und eine ästhetische Dimension eingebettet. An der Schnittstelle zur Verrechnung, Bearbeitung und Archivierung kollektiver Daten mittels der Technologien der Informationsverarbeitung und ihrer symbolischen Kommunikation in den Modellprojekten der Informatik befasst sich die Ästhetik der Vernetzung mit der Geschichte und Gegenwart der kulturellen Ausgestaltung des Vernetzungsmediums Internet. Zur Frage steht, wie Kollektivität mit visuellen Medien ausgedrückt werden kann. Auf welche spezifische Weise können bildgebende Verfahren und mediale Produktionsbedingungen die Aufmerksamkeit auf kollektive Phänomene lenken? Welche Rolle spielen vor diesem Hintergrund die medialen Apparate der Sichtbarmachung, die überlieferten Bildfiguren und Blickordnungen bei den technischen Herstellungsverfahren und den unterschiedlichen Bedeutungsproduktionen von Gruppenidentität? Wie können die bildkulturellen Präsuppositionen, welche die Darstellung von Kollektivität dominieren, aufgezeigt werden? Welches Wechselspiel zwischen den konkreten Praktiken der Sichtbarkeit und der Sichtbarmachung in den verschiedenen Bildmedien liegt den Politiken der Herstellung kollektiver Bilderkörper zugrunde? Da sich in Netzwerkmedien bildhafte Darstellungs- und Wahrnehmungsweisen als Kommunikationsmittel durchgesetzt haben, versucht auch ein repräsentatives Bildhandeln Kollektivität visuell darzustellen. Zur Sicherung von Wiedererkennbarkeit in der Rezeption versucht es, eine Anschlusskommunikation an stabile Diskurstraditionen und Bildbestände herzustellen. Die Bilder von Netzgemeinschaften sind von einer grundsätzlichen Ambivalenz durchdrungen, denn sie beschwören die Gruppenidentität und betonen das Gemeinschaftliche und die Gruppenzugehörigkeit und fokussieren eine normative Vergegenwärtigung einer Angehörigkeit und Zugehörigkeit. Gemeinschaftsbilder von im Kreis angeordneten Individuen weisen neben ihrer bildkulturellen Überlieferung immer auch ein bildstrategisches Element auf, das zur visuellen Einhegung von Kollektivität dient. So kommt es zum Paradox, dass Kollektivdarstellungen im Namen der Gemeinschaft sprechen und damit in ein Repräsentationsverhältnis eintreten, sich aber gegenüber den prinzipiellen Möglichkeiten kollektiver Prozesse in einem ignoranten Verhältnis befinden. Im Unterschied zur Frontstellung von »Technikdeterminismus« (Christensen 2011: 233-253) und »Sozialkonstruktivismus« (Winkler 1999) und ihren jeweils selektiven und pauschalierenden Einschätzungen der Gegenseite hat das vor-
V. Zusammenfassung und Ausblick
liegende Buch auf methodologischer Ebene versucht, eine gemischte Theorie der Sozialen Medien zu entwickeln. Mit einem transdisziplinären Mixed-MethodAnsatz wurden die technologischen und kulturalistischen Forschungsinstrumente mit einer praxeologischen Perspektive zusammengeführt, um auf die technokulturelle respektive soziokulturelle Bedeutungsproduktion in alltäglichen Praktiken Bezug nehmen zu können (vgl. zur medienwissenschaftlichen Diskurstradition Engell/Gotto 2005: 111). Eine technologische Frageperspektive versteht technische Innovationen wie das universelle digitale Medium Computer als direkten Auslöser sozialer Transformationsprozesse (Beniger 1986: 9). Ihr politisches Alleinstellungsmerkmal besteht darin, die dem technischen Medium inhärenten Machtasymmetrien aufzeigen zu können. Technologische Blockmodelle von oben führen jedoch zu verkürzten Theorieansätzen in der Ausdeutung der Nutzer/Nutzerinnen-Netzwerke als Orte kultureller Erinnerung und sozialer Interaktion. Denn sie verstehen mediale Dispositive und kollektiv generierte Inhalte als zwei voneinander getrennte Sphären, zwischen denen ein einseitiges Determinierungsverhältnis besteht. Auch eine einseitige kulturalistische Perspektivierung geht von einer dualen Gegenüberstellung von Gesellschaft und Technik aus, wenn sie die Entstehung, Ausbreitung und Anwendung der Technik als Resultat kultureller und sozialer Konstruktionsprozesse begreift. Im Kontext einer Cui-bono-Forschung können strategisch handelnde Akteure und ihre Interessen aufgezeigt und thematisiert werden. Im diametralen Gegensatz zur technologischen Argumentationslinie befindet sich die Virtual Ethnography und die ethnomethodologische Netzforschung (Miller 2011), die aber das Problem der Theoriearmut aufweist, wenn sie ihre Beschreibungen zu nahe an die Selbsterfahrungsberichte der Akteure heranrückt. Ein umfassender Entwurf einer Theorie der Sozialen Medien muss also den starren Gegensatz zwischen »Technizismus« und »Kulturalismus« überwinden, da beide Argumentationslinien nur über eine eingeschränkte Reichweite ihrer Fragestellungen verfügen und aufgrund dieser selbstauferlegten Beschränkung epistemologische Ausschlüsse und Verwerfungen reproduzieren müssen. Sherry Turkle hat bereits in der Ära des Web 1.0 eine ähnliche Schwellensituation mit dem Begriff der »Liminalität« (1999) umschrieben. Liminalität meint in diesem Zusammenhang, dass sich Medien in einem bestimmten Zeitraum in einer deutungsoffenen Entwicklungsphase befinden und daher nur technokulturelle Praktiken ausprägen können, die sich in einem andauernden Übergang immer wieder aufs Neue gruppieren. In diesem volatilen Raum der Umwandlungen und Umänderungen befindet sich möglicherweise mein eigener Ansatz in einer Übergangsphase und könnte selbst als ein Träger des Übergangs verstanden werden, da er immer nur von einer möglichen Tragfähigkeit von Theorien ausgeht und versucht, sich von unverrückbaren Letztbegründungen und wissenschaftlichen Evidenzstiftungen entschieden zu distanzieren.
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