Poetik des Privatraums: Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit [1. Aufl.] 9783839414989

Es sind nicht mehr einzig und allein die Kaufhäuser, Straßenschluchten und all die anderen öffentlichen Räume der Großst

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German Pages 356 Year 2014

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Table of contents :
INHALT
Danksagung
Vorwort
I Einleitung
Der Verlust des Subjekts und die Lust am Innenraum
Subjekt- und Wohnentwürfe
Schreibverfahren der Nähe
Urbanität in der literarischen Moderne
Wohnen in der Neuen Sachlichkeit
Sachlichkeitsdebatte und Wohndiskurs
Methodische Überlegungen
Die Bedeutung des spatial turn für eine Poetik des Privatraums (Raum und Literatur in der Postmoderne; Der literarische Raum; Die Raum-Zeit bei Bachtin, Giedion und in der Postmoderne)
Die Bedeutung des cultural turn für eine Poetik des Privatraums
Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman
II ‚The Significance of Facts‘: Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten – Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931)
Das Medienereignis Käsebier
Wohnen in der Fiktion
Faktizität und Fiktionalität: Grenzauflösungen
‚Beinahe zu Hause‘ – Siegfried Kracauers Ginster. Von ihm selbst geschrieben (1928)
Raum- und Sprachkonstruktionen eines Architekten
Architekt und Historiker: Raum- und Zeitkünstler
Raum- und Identitätskonzepte (Historie und Autobiographie; Wohndiskurs der 20er Jahre; Besitz und Eigentum)
Raumfiguren des Krieges (Otto; Ginster)
Wohnen im Hotel – Joseph Roths Hotel Savoy (1924) und die Koinzidenz von Fremde und Heimat
Wohnen im Hotel (Gabriel Dans Entwurf von Heimat und Identität; Das Unheimliche im Heimlichen)
Leerräume und Hohlformen: Dan und der Liftschacht
Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper. Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) zwischen Berührungseuphorie und Ekel
Topographische Orientierung (Räume der Kindheit – Architektur als Erzieher und Identitätsstifter; Der Ekel: die Funktionalisierung einer starken Empfindung)
Grenzziehungen und Grenzverluste (Die Grenze des Mansardenzimmers; Die gemeinsame Wohnung als Ort der Grenzaufhebung und des Selbstverlusts)
Der textuelle Raum
Von labilen Verortungen und transitorischen Identitäten – Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko (1932)
Die Dynamisierung von Identität: die weiblichen Angestellten (Die äußere Beschleunigung und ein halbes Zimmer; Die innere Beschleunigung und ein Atelier)
Max Brechers Fiasko: Vom Vagabundieren und Zirkulieren
Zwischen Exhibitionismus und Hermetik: moderne Schreibverfahren und Identitätsentwürfe
Der Traum vom Wohnen – Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932) und die traditionalistische Moderne
Die Rettung des Kleinen Mannes aus seiner ökonomischen Bedingtheit
Die traditionalistische Moderne und die neuen Zonen der Intimität
Erzählweisen der Nähe und Distanzlosigkeit: Die Signatur der Moderne
Nachwort
Abbildungsnachweise
Literatur
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Poetik des Privatraums: Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit [1. Aufl.]
 9783839414989

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Ines Lauffer Poetik des Privatraums

Ines Lauffer (Dr. phil.) arbeitet als freie Lektorin in Frankfurt a.M.

Ines Lauffer Poetik des Privatraums. Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit

Die Dissertation wurde gefördert durch ein Promotionsstipendium nach dem Landesgraduiertenförderungsgesetz Baden-Württemberg und einem Kontaktstipendium der Eberhard Karls Universität Tübingen. Die Promotion wurde angenommen von der Neuphilologischen Fakultät und der Druck genehmigt von der Philosophischen Fakultät der Eberhard Karls Universität Tübingen. Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld, unter Verwendung eines Fotos von INTER/AKTION GmbH Lektorat & Satz: Ines Lauffer Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1498-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Danksagung 9 Vorwort 13 I Einleitung 15 Der Verlust des Subjekts und die Lust am Innenraum 17 Subjekt- und Wohnentwürfe 20 Schreibverfahren der Nähe 23 Urbanität in der literarischen Moderne 26 Wohnen in der Neuen Sachlichkeit 36 Sachlichkeitsdebatte und Wohndiskurs 42 Methodische Überlegungen 47 Die Bedeutung des spatial turn für eine Poetik des Privatraums (Raum und Literatur in der Postmoderne; Der literarische Raum; Die Raum-Zeit bei Bachtin, Giedion und in der Postmoderne)

49 Die Bedeutung des cultural turn für eine Poetik des Privatraums 62 Poetik des Privatraums Privatraums im neusachlichen Roman 71

II ‚The Significance of Facts‘ Facts‘: Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten – Gabriele Tergits Käsebier erobert Kurfürsten ndamm (1931) den Kurfürste 83 Das Medienereignis Käsebier 85 Wohnen in der Fiktion 95 Faktizität und Fiktionalität: Grenzauflösungen 112 ‚Beinahe zu Hause‘ – Siegfried Kracauers Ginster. ge eschrieben (1928) Von ihm selbst g 119 Raum- und Sprachkonstruktionen eines Architekten 123 Architekt und Historiker: Raum- und Zeitkünstler 130 Raum- und Identitätskonzepte (Historie und Autobiographie; Wohndiskurs der 20er Jahre; Besitz und Eigentum)

133 Raumfiguren des Krieges (Otto; Ginster)

144 Wohnen im Hotel – Joseph Roths Hotel S Savoy avoy (1924) und die Koinzi Koinzidenz von Fremde und Heimat 165 Wohnen im Hotel (Gabriel Dans Entwurf von Heimat und Identität; Das Unheimliche im Heimlichen)

168 Leerräume und Hohlformen: Dan und der Liftschacht 181 Öffnungen und Verschließungen der (Wohn(Wohn-)Körper )Körper. rper. Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) zwischen Berührungseuphorie und Ekel 201 Topographische Orientierung (Räume der Kindheit – Architektur als Erzieher und Identitätsstifter; Der Ekel: die Funktionalisierung einer starken Empfindung)

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Grenzziehungen und Grenzverluste (Die Grenze des Mansardenzimmers; Die gemeinsame Wohnung als Ort der Grenzaufhebung und des Selbstverlusts)

215 Der textuelle Raum 241 Von labilen Verortungen und transitorischen Identitäten – Martin Kessels Herrn Bre Brechers chers Fiasko (1932) 247 Die Dynamisierung von Identität: die weiblichen Angestellten (Die äußere Beschleunigung und ein halbes Zimmer; Die innere Beschleunigung und ein Atelier)

251 Max Brechers Fiasko: Vom Vagabundieren und Zirkulieren 266 Zwischen Exhibitionismus und Hermetik: moderne Schreibverfahren und Identitätsentwürfe 273 Der Traum vom Wohnen – Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? (1932) und die traditionalistische Moderne 277 Die Rettung des Kleinen Mannes aus seiner ökonomischen Bedingtheit 279 Die traditionalistische Moderne und die neuen Zonen der Intimität 287 Erzählweisen der Nähe und Distanzlosigkeit: Die Signatur der Moderne 308 Nachwort 315 Abbildungsnachweise Abbildungsnachweise 319 Literatur 323

DANKSAGUNG Meine Dissertation wurde von vielen Menschen begleitet, betreut und mitgetragen, ihnen allen gilt mein herzlicher Dank, zuvorderst Prof. Dr. Blasberg, meiner Hauptbetreuerin, dann Prof. Dr. Elisabeth Kieven, die die Anfänge begleitete, und Prof. Dr. Dorothee Kimmich, die das Ende unterstützte, v.a. aber Prof. Dr. Gotthart Wunberg und seinem wunderbaren Oberseminar, dem ich wertvolle Anregungen verdanke (namentlich erwähnt seien: Dr. Stephan Dietrich und Anke Kramer). Ich danke meinen Lesern, die mir für das Promotionskolloquium zahlreiche Hinweise gegeben haben (Dr. Christian Metz) oder die notwendigen Korrekturen vermerkt haben (Gisela Fischer). Und mein tiefster Dank gilt meiner Familie, meinen Kindern (Mia, Carlo und Lenn Drügh), meinen Eltern und meinem Bruder (Danica, Hartmut und Ikar Lauffer) sowie meinem Mann (Heinz Drügh).

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WIR WOLLEN BEFREIT SEIN: vom Haus mit dem Ewigkeitswert und seiner Folge vom Haus mit den teuren Mieten vom Haus mit den dicken Mauern und seiner Folge vom Haus als Monument vom Haus, das uns durch seinen Unterhalt versklavt vom Haus, das die Arbeitskraft der Frau verschlingt. […] SCHÖNHEIT? SCHÖN ist ein Haus, das unserem Lebensgefühl entspricht. Dieses verlangt: LICHT, LUFT, BEWEGUNG, ÖFFNUNG. […] SCHÖN ist ein Haus, das gestattet, in Berührung mit Himmel und Baumkronen zu leben. SCHÖN ist ein Haus, das an Stelle von Schatten […] Licht […] hat. SCHÖN ist ein Haus, dessen Räume kein Gefühl von EINGESPERRTSEIN aufkommen lassen. […] Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, 1929

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VORWORT Das Haus ist eine Maschine zum Wohnen. Bäder, Sonne, heißes und kaltes Wasser, Temperatur, die man nach Belieben einstellen kann, Aufbewahrung der Speisen, Hygiene, Schönheit durch gute Proportionen. Ein Sessel ist eine Maschine zum Sitzen usw.: Maple hat den Weg gezeigt. Die Waschbecken sind Maschinen zum Waschen: Twyford hat sie erfunden. Unser modernes Leben, die Welt unseres Tuns, mit Ausnahme der Stunde des Lindenblütenoder Kamillentees, hat sich seine Dinge geschaffen: die Kleidung, den Füller, die Rasierklinge, die Schreibmaschine, das Telefon, die wundervollen Büromöbel, die Spiegelgläser von Saint-Gobain und die „Innovation“-Koffer, den Gillette-Rasierapparat und die englische Pfeife, den Melonenhut und die Limousine, den Ozeandampfer und das Flugzeug.1

Als sich die neusachlichen Autoren in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts dem Alltag zuwandten – denn erzählenswert erschien auf einmal das Hier und Jetzt –, war dieser Alltag nicht mehr alleine von Schaufenstern, Straßenschluchten und Schlachthöfen geprägt, bevölkert von Menschenmassen und Huren; die Autoren entdeckten auch Grammophon und Radio, Druckknopf, Schalter und Klosett, Nivea-Creme und Feldbett, kurz: Gegenstände des modernen, großstädtischen Alltags, die – wenn auch noch nicht alltäglich – ihren genuinen Ort nicht mehr draußen auf der Straße, sondern drinnen im Privatraum, im Wohnzimmer oder gar intimen Badezimmer hatten. Die Entstehung der Großstadt und der Wandel des städtischen Zusammenlebens führte zu radikalen Veränderungen des Privatraums und des unmittelbaren Wohnumfelds, das von den Architekten der zwanziger Jahre als Bauaufgabe entdeckt und gestaltet wurde. Unzählige Publikationen, Mustersiedlungen und 1

Le Corbusier, Ausblick auf eine Architektur, 4. Aufl. Gütersloh u.a. 2001 (1922), S. 80 (nach der dt. Erstausgabe von 1926: ‚Kommende Baukunst‘).

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Poetik des Privatraums Ausstellungen widmeten sich dem Privatraum, generierten einen Wohndiskurs, dessen Aktualität und Bedeutsamkeit von den neusachlichen Autoren sehr wohl, von den Interpreten ihrer Romane jedoch kaum beachtet wurde. Ist es die Stärke der Architekten gewesen, neue Räume zu entwerfen, so ist es diejenige der Autoren, die in diesen Räumen beheimateten Subjekte – keine in ihr Interieur verliebten Décadence-Individualisten und -künstler, sondern die Angestellten und den Kleinen Mann von der Straße – in den Romanen zu imaginieren, neue Subjektkonstruktionen zu erproben und Protagonisten zu entwerfen, die mit den Räumen in einen Dialog treten und auf diese Weise am Wohndiskurs partizipieren. Das Zimmer für sich allein wird als Forderung zwar erst formuliert, die Einraumwohnung als Manifest der Moderne noch entworfen, die Studie aber will aufzeigen, dass der Privatraum zur conditio sine qua non der Protagonisten und des mit ihnen zur Debatte gestellten modernen Menschen wird: „Privatheit wird zur Bedingung der Selbstdefintion [und] Selbsterfindung.“2

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Rössler; Beate: Der Wert des Privaten, Frankfurt am Main 2001, S. 265.

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EINLEITUNG Der Neuen Sachlichkeit haftete lange Zeit das Image einer gescheiterten,1 ideologisch verdächtigen, wenn nicht gar präfaschistischen Strömung an,2 deren Romane selten als literarisch hochstehend genug erachtet wurden, um im Kontext der literarischen Moderne3 rezipiert bzw. analysiert zu werden. Zu bedingungslos schien der Schnitt, den die neusachlichen Autoren zum Expressionismus zogen,4 zu verdächtig die Hinwendung zum Alltag der Masse und ihren Lebensumständen,5 scheinbar zu gering die Abgrenzung zum 1

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So z.B. Karl Prümm, Die Litertaur des Soldatischen Nationalismus der 20er Jahre (1918-1933), Gruppenideologie und Epochenproblematik, 2 Bde. Kronberg/Taunus 1974, S. 272ff. Helmut Lethen, Neue Sachlichkeit 1924-1932, Studien zur Literatur des ‚Weißen Sozialismus‘, Stuttgart 1970, S. 52: „Die emphatische Bejahung des ‚Amerikanismus‘ begriff sich zwar als Widerspruch zur obsoleten Kulturkritik und zu den mittelständischen Ideologien der ‚Ungleichzeitigkeit‘ [...], stand aber in keinem Widerspruch zur Tendenz des realen Herrschaftsprozesses, der im Faschismus mündete.“ Den Begriff der Moderne verwende ich zur Bezeichnung der künstlerischen und literarischen Strömungen, die mit dem bürgerlichen Realismus und dem epigonalen Historismus gebrochen haben (ca. 1880 – ca. 1933); vgl. Günter Blamberger, Moderne, in: Harald Fricke (Hg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. II, 3., neub. Aufl. Berlin, New York 2000, S. 620-624. So wurde die Neue Sachlichkeit beispielsweise in der Dokumentation von Anton Kaes nicht in ihren ästhetischen Dimensionen wahrgenommen, sondern einzig als historisch-politische Erscheinung (Anton Kaes (Hg.), Weimarer Republik, Manifeste und Dokumente zur deutschen Literatur 1918-1933, Stuttgart 1983); vgl. dazu Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 1: Die Ästhetik der neusachlichen Literatur (1920-1933), Köln, Weimar, Wien 2000, S. 46. Horst Denkler, Die Literaturtheorie der Zwanziger Jahre, zum Selbstverständnis des literarischen Nachexpressionismus, in: Monatshefte für den Deutschunterricht 4 (1967), S. 305-319; Prümm 1974. In ihrer radikalen Hinwendung zum Alltag verweigert die Neue Sachlichkeit den transzendenten Aspekt eines idealistischen Kunstverständnisses. Eine der idealistischen Ästhetik verpflichtete Literaturwissenschaft sieht damit den Kunststatus schwinden; so schon Joseph Roth in seinem Abgesang auf die Neue Sachlichkeit, Joseph Roth, Schluß mit der Neuen Sachlichkeit! (Die Literarische Welt, 17. und 24.1.1930), in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 1929-1939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 153-164;

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Poetik des Privatraums Kapitalismus, offenbar zu leise die Kritik an der Unterdrückung des Menschen durch die modernen Arbeitsbedingungen.6 Unbeachtet blieb dabei, dass neusachliche Romane genuin moderne Schreibweisen weiterführen, um eines der zentralen Motive moderner Literatur aufzunehmen und umzuwandeln: die Stadt. Übersehen wurde, dass sich die Autoren für das urbane Gebilde nicht mehr vornehmlich und ausschließlich in seiner Funktion als Außenraum interessieren, in dem Flaneure den städtischen Impressionen erliegen, sondern als Ort des Wohnens, als Innenraum, in dem das Konzept moderner Subjektivität nicht unterminiert – so das expressionistische Stereotyp –, sondern überhaupt erst maßgeblich modelliert wird. Ein ähnlicher Prozess ist in der Baukunst der 20er Jahre zu beobachten: Unter den Architekten wird eine intensive Debatte über das ‚richtige Wohnen‘ geführt, in der es immer auch um die Bildung eines neuen Bewohners geht: Publikationen, Mustersiedlungen und Ausstellungen, neue Bodennutzungspläne und Gesetze prägen die Wohnlandschaft der Weimarer Republik. Die kulturwissenschaftlich angelegte Studie setzt sich daher zum Ziel, die neusachlichen Romane in ihrem architekturhistorischen Kontext zu untersuchen und auf diese Weise eine in der literaturwissenschaftlichen Moderne-Forschung vernachlässigt gebliebene städtische Funktion7 für die Analyse spezifisch literarischer Strukturen nutzbar zu machen: den Privatraum. Darüber hinaus markiert das sowohl in der Literatur als auch in den Entwürfen des Neuen Bauens reflektierte System des Wohnraums eine überaus aussagekräftige Schnittstelle zwischen Gesellschaft und Subjektivität. Solchermaßen wird das Forschungsprojekt eine Revision der

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ähnlich Georg Lukács, Reportage oder Gestaltung? Kritische Bemerkungen anläßlich des Romans von Ottwalt, in: Die Linkskurve, 4, (1932), Nr. 7, S. 23-30; Nr. 8, S. 26-31, in: Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, Bd. 2, Quellen und Dokumente, Köln, Weimar, Wien 2000, S. 364-369; vgl. Becker 2000, 1, S. 25f. Die Sachlichkeit „ist die Ästhetik des laufenden Bandes. Sie ist die letzte Etappe jener „Verdinglichung“, die Karl Marx als den größten Fluch des bürgerlichen Kapitalismus bezeichnet.“ Béla Balázs, Ideologische Bemerkungen, in: ders., Der Geist des Films, Halle (Saale), 1930, S. 186-217, in: Becker 2000, 2, S. 323-327, hier S. 325. Einen sehr guten Überblick zur Rezeption der Neuen Sachlichkeit bietet Sabina Becker, Einleitung, in: dies. 2000, 1, S. 13-65. Auf dem vierten Kongress des Congrès Internationaux d’Architecture Moderne (CIAM) zur ‚Funktionellen Stadt‘ werden vier Funktionen der Stadt definiert: Wohnen, Arbeiten, Verkehr und Freizeit; vgl. dazu Thilo Hilpert (Hg.), Le Corbusiers „Charta von Athen“, Texte und Dokumente, Kritische Neuausgabe, Braunschweig 1984, und: Hanno-Walter Kruft, Geschichte der Architekturtheorie: von der Antike bis zur Gegenwart, 4. Aufl., München 1995 (1985), S. 462.

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Einleitung Neuen Sachlichkeit betreiben und sie in den Diskurs über die Urbanität der Moderne einbinden. Die Neue Sachlichkeit wird damit nicht nur als literarische Modernebewegung ernst genommen, wie das schon Sabina Becker gefordert hat, sie wird zugleich als Strömung rezipiert, welche die Schaffung eines in die Postmoderne weisenden Neuen Menschen betrieben hat. Die Aufgabe meines Projekts besteht also darin, unter kulturwissenschaftlich-architekturhistorischer Perspektive die in der neusachlichen Literatur gezeichneten Subjektentwürfe herauszuarbeiten und in einer Poetik des Privatraums als Beitrag der Neuen Sachlichkeit zum Großstadtdiskurs der Moderne zu synthetisieren – damit wird der vor allem in der Sozialgeschichte und der Architekturhistorie gewürdigte Wohndiskurs der 20er Jahre um den spezifisch literarischen bereichert. Dass die dabei zutage tretenden Erzählverfahren, die als ‚Schreibformen der Nähe‘ bezeichnet werden, in einer Zeit nochmals virulent werden, in der das Individuum entweder unterminiert erscheint oder in Anbetracht des kollektiven Nutzens am Pranger steht – „Ekelhaft, wie wichtig du dich nimmst!“, wird man Irmgard Keuns Protagonistin Gilgi vorwerfen8 – deutet auf eine Ebene der Texte, die ‚neben dem eigentlichen Thema‘ liegt, deutet auf eine Gegenüberstellung von discours als einer Poetik des privaten Raums und der histoire moderner heimatloser Subjekte, deutet auf eine performative Neukonstitution des Subjekts im Wohnen und Schreiben.

Der Verlust des Subjekts und die Lust am Innenraum Die Fragestellung nach den Subjektkonstruktionen im Schreiben und Wohnen mag in Anbetracht des neusachlichen Literaturprogramms von Antipsychologismus und Entindividualisierung, Gebrauchswert und Tatsachenpoetik inadäquat und fruchtlos erscheinen, deuten die Beschreibungsversuche von Verhaltenslehren der Kälte,9 die Analysen von Gleisdreieck, Tank und Motor,10 von Bubikopf, Boxkämpfen und schnellen Autos11 doch auf den immanent 8 9

Irmgard Keun, Gilgi – eine von uns, Roman, Düsseldorf 1979 (1931), S. 59. Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte, Lebensversuche zwischen den Kriegen, Frankfurt am Main 1994. 10 Carl Wege, Gleisdreieck, Tank und Motor, Figuren und Denkfiguren aus der Technosphäre der Neuen Sachlichkeit, in: DVjs 68 (1994), Nr. 2, S. 306332. 11 Waltraud Berle, Bubikopf, Boxkämpfe und schnelle Autos, die Republik der Sachlichkeit, in: dies., Heinrich Mann und die Weimarer Republik, Bonn 1983.

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Poetik des Privatraums wichtigen Stellenwert des großstädtischen Alltags in der neusachlichen Literatur, mithin von der neuen Relevanz der Objekte und des Objektiven, von dem Verlust der Individuen. Das gesamte neusachliche Jahrzehnt wird als Kultur der Distanz wahrgenommen, in der die Subjekte hinter Masken verschwinden. Nicht mehr der Mensch, sondern seine Umwelt steht im Zentrum des Interesses. In diesem Sinne empfiehlt Bernard von Brentano dem Schriftsteller, an „Stelle der Charaktereigenschaften“ die „Zustände“ zu schildern,12 Erik Reger merkt an, dass die Menschen nicht nur in den Zuständen leben, sondern dass sie gar „von den Zuständen gelebt“ werden,13 und in der Literarischen Welt ist 1928 zu lesen: der Einzelne [...] interessiert [...] nicht, seitdem man ihn millionenfach vermehrt in Feldgrau gesehen hat. Manhattan Transfer hat eine City zum Helden. Vrings Suhren hat eine Korporalschaft zum Helden, Roths Zipper und sein Vater hat eine Generation zum Helden. Romane werden Berichte; Afrika, Asien, Tiere, Hunde, Städte werden Helden.14

Bericht anstelle von Roman, Objekt anstelle von Subjekt, Masse anstelle von Einzelwesen – das Ideal distanzierter Reportage scheint das Interesse am Subjekt, am Privaten, an Formen der Nähe aufgegeben zu haben. Die wissenschaftliche Literatur zur Neuen Sachlichkeit kennt dieser Rhetorik zum Trotz den Kampf um Subjekte und Identitäten, sucht diesen in Verhaltens- oder auch Liebeslehren der Kälte15 nahe zu kommen, in Konstruktionen wie der Frau als Single16 oder der bürgerlichen Biographie,17 immer aber erscheinen die Protagonisten und die sie umgebenden Dinge des Alltags wie selbstverständlich an den großstädtischen Außenraum gebunden, 12 Bernard von Brentano, Über die Darstellung von Zuständen, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 19, 12.5.1929, in: Becker 2000, 2, S. 156-159, hier S. 158, 159. 13 Erik Reger, Das wachsame Hähnchen, Polemischer Roman, Berlin 1932, S. 7. 14 Arno Schirokauer, Garde-Ulanen – abgebaut! in: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 21/22, S. 1f, in: Becker 2000, 2, S. 235-237, hier S. 235. 15 So in leichter Variation zu Lethen der Titel von: Elke Reinhard-Becker, Liebeslehren der Kälte, Frauen und Männer im Versuchslabor von Irmgard Keuns Gilgi-Roman, in: Petra Josting, Walter Fähnders (Hg.), „Laboratorium Vielseitigkeit“, Zur Literatur der Weimarer Republik (Festschrift für Helga Karrenbrock zum 60. Geburtstag), Bielefeld 2005, S. 295-311. 16 Steffen Wedepohl, Die Frau als Single, Irmgard Keuns Roman Gilgi – eine von uns, in: Juni, Magazin für Literatur und Politik, Nr. 27, April 1998, S. 114-129. 17 Dirk Niefanger, Gilgi und Ginster, Irmgard Keuns Roman mit Kracauer gelesen, in: Stefanie Arend, Ariane Martin (Hg.), Irmgard Keun 1905/2005, Deutungen und Dokumente, Bielefeld 2005, S. 29-45.

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Einleitung beinahe so, als gäbe es nur draußen auf der Straße die Objekte und das Objektive, beinahe so, als wären die Protagonisten der 20er Jahre noch immer jene von der modernen Metropole wahlweise überforderten oder entzückten Flaneure der Jahrhundertwende. Was sie aber von diesen trennt, und teilweise schon zu postmodernen Nomaden werden lässt, ist der Ausgangs- und Endpunkt der Spaziergänge, ist der Raum der Spaziergänge selbst: während der Flaneuer noch an seinen gesicherten Wohnort zurückkehren konnte, ist dieser für die Protagonisten der neusachlichen Romane nunmehr labil, während der Flaneur den städtischen Außenraum durchstreift, erhält der Innenraum in den 20er Jahren eine neue Dominanz. In der Konzentration auf die Urbanität der modernen Literatur blieb demnach ein Teilbereich der Stadt unterbelichtet, der in der vorliegenden Studie im Mittelpunkt des Interesses steht: das Wohnen. In der Konzentration auf die Kälterhetorik der Neuen Sachlichkeit, die den Dichter als „Seelenarzt“ verabschiedet und den Beobachter an seine Stelle setzt,18 blieb der Innenraum des neusachlichen Körpers, des neusachlichen Subjekts unbeachtet, mit der „Annullierung des Individuums“ und seiner „privaten Begebenheiten“19 schien auch das Innere ad acta gelegt. Die neusachlichen Romane aber legen Zeugnis davon ab, dass dem ‚Auszug aus der Innerlichkeit‘ ein neuerlicher Einzug folgt, eine Art „Rückbettung“, wie Giddens solche Phänomene bezeichnet.20 Die Vivisektion des Inneren erfolgt aus einer neuen Perspektive, die „Stirn ist aufgemeißelt“, das „Gehirn ist umgestülpt, das Innerste nach außen gekehrt.“21 Diesen Innenraum, der zugleich ein Außenraum ist, gilt es genauer zu analysieren, denn er beherbergt jene Subjekte, welche die Architekten zu entwerfen trachten. Wenn sich diese Studie daher zum Ziel setzt, die neusachlichen Romane in ihrem architekturhistorischen Kontext zu untersuchen und den Wohndiskurs für die spezifisch literarischen Strukturen nutzbar zu machen, dann darf der Blick nicht auf den präsentierten Oberflächen haften bleiben, an Bubiköpfen und Boxbällen, sondern 18 So Bernard von Brentano über Arnolt Bronnens Barbara la Marr: „Bronnens Mittel sind nicht [...] psychologische; war der Dichter bisher ein Seelenarzt, so erweist sich Bronnen als ein Mann, der die Möglichkeiten eines Geschöpfes [...] beobachtet.“ Bernard von Brentano, Leben einer Schauspielerin, in: Die Weltbühne 24 (1928), II, Nr. 5, S. 170-174, in: Becker 2000, 2, S. 154-155, hier S. 155. 19 Heinz Lamprecht (Erik Reger), Ernst Glaeser: Jahrgang 1902, in: Der Scheinwerfer 2 (1928), Nr. 3, S. 28f, in: Becker 2000, 2, S. 237-238. 20 Anthony Giddens, Konsequenzen der Moderne, Frankfurt am Main 1996 (1990), S. 176. 21 Reger 1932, S. 8.

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Poetik des Privatraums er folgt den ‚Schreibweisen der Nähe‘, die dem Protagonisten auf den Leib rücken, folgt den Verschränkungen von Innenraum und Außenraum, der neuen Sichtbarkeit, der Öffnung und Befreiung des (Wohn)Körpers, wie die Schlagworte des Neuen Bauens lauten. Der metallische Körper der neusachlichen Protagonisten, die kalte persona, wie sie Helmut Lethen nennt, ist nicht nur das objektiv Distanzierbare mit seinen eindeutigen Grenzen, es ist zugleich der völlig entblößte Leib der zu einer ‚Tyrannei der Intimität‘22 verführen kann.

SubjektSubjekt - und Wohnentwürfe Wohnent würfe Während die Expressionisten und Futuristen von der pulsierenden Dynamik der Metropolen fasziniert gewesen sind, rücken neusachliche Autoren den weit weniger spektakulären privaten Raum in den Mittelpunkt ihres Interesses – einen Raum, der in der Moderne nicht weniger revolutionären Veränderungen unterlag wie der Außenraum der Städte. Wie wichtig der Innenraum in den 20er Jahren wird – sei er nun modern oder traditionell konnotiert – lässt sich in Joseph Roths Flucht ohne Ende (1927) nachlesen, einem Schlüsseltext der Neuen Sachlichkeit: „‚Es ist überflüssig, die Stadt zu sehen‘“,23 notiert der Erzähler und über den Protagonisten heißt es: „Er blieb den größten Teil des Tages zu Hause.“24 In diesem Sinne träumen die Helden von einer eigenen Wohnung: „vielleicht werd’ ich in eine paar Jahren eine eigene Wohnung haben“,25 und konstatieren resigniert das Fehlen funktionalistischer Architektur:„was wir brauchen, kriegen wir überhaupt nicht, nämlich eine Drei- bis Vierzimmerwohnung“.26 Dennoch ist dieser Privatraum kaum ein gesichertes Refugium mehr, nur vorübergehend kann es noch „heimisch, wie in einer Stube“27 werden, man ist eher „beinahe zu Hau-

22 So lautet der Untertitel zu Richard Sennetts berühmter Studie von 1974: Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens, Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt am Main 2002 (1974). 23 Joseph Roth, Die Flucht ohne Ende, in: ders., Werke 4: Romane und Erzählungen 1916-1929, hrsg. und mit einem Nachwort von Fritz Hackert, Köln 1989 (1927), S. 386-497, hier S. 448. 24 Ebd. 25 Keun 1979 (1931), S. 70. 26 Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Roman, Berlin 2004 (1931), S. 94. 27 Joseph Roth, Hotel Savoy, Ein Roman, in: ders.: Werke 4, 1989 (1924), S. 147-243, hier S. 151.

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Einleitung se“28 als tatsächlich sesshaft. In Auseinandersetzung mit den vor allem von den Architekten zur Disposition gestellten Wohnungen werden in den Romanen neue Konstruktionen des städtischen Bewohners durchgespielt, keine festen Identitäten, sondern Subjektentwürfe29. Die neusachlichen Texte verhandeln Wohnraum und Identität, Wohnkörper und menschlichen Körper parallel und damit in einer Weise, wie das bereits die antike Architekturtheorie betrieben hat. In Vitruvs De architectura libri decem stehen die architektonischen Proportionen in Analogie zu den Proportionen des menschlichen Körpers, wird der menschliche Körper dem Baukörper eingeschrieben.30 Damit begründet Vitruv in dem einzig erhaltenen antiken Architekturtraktat eine Relation, die bis in die Moderne tradiert, sowohl für Architekten wie Literaten virulent bleibt. So folgt in Le Corbusiers Ferienhaus auf Cap Martin „jede Abmessung, jedes Objekt [den] Körpermaßen“ des Modulors31, das Haus wird „fast zum körperlichen Abguß. Der Entwurfs-Inhalt dieser Hütte ist in der Tat die menschliche Gestalt“32 (Thilo Hilpert bezeichnet das Gebäude als den intimstem Privatraum des Architekten), und in Paul Valérys Architektur-Dialog Eupalinos aus dem Jahre 1923 bekennt Phaidros: Dieser zarte Tempel, niemand ahnt es, ist das mathematische Bildnis eines Mädchens von Korinth, das ich glücklich geliebt habe. Er wiederholt getreu die besonderen Verhältnisse ihres Körpers. Er lebt für mich!33

Was hier als Abbild des Menschen gedacht wird, soll genau entgegengesetzt analysiert werden: die Wohnentwürfe der 20er Jahre in28 Siegfried Kracauer, Ginster, Von ihm selbst geschrieben, in: ders.: Schriften, hrsg. von Karsten Witte, Bd. 7, Frankfurt am Main 1973 (1928), S. 7243, hier S. 237f. 29 Vgl. dazu die Einleitung in: Aleida Assmann und Heidrun Friese (Hg.), Erinnerung, Geschichte, Identität, 3: Identitäten, Frankfurt am Main 1998, S. 23. 30 Vgl. dazu ausführlich Kruft 1995 (1985), S. 28f. 31 Mit der Erfindung des Modulors, einer schematisch vereinfachten menschlichen Figur, versucht Le Corbusier der Architektur eine am Maß des Menschen orientierte metrisch ablesbare Ordnung zu geben. 32 Thilo Hilpert, Geometrie der Architekturzeichnung, Einführung in Axonometrie und Perspektive, nach Leonardo da Vinci, Gerrit Rietveld, Friedrich Weinbrenner, Albrecht Dürer, Le Corbusier, El Lissitzky, Braunschweig, Wiesbaden 1988, S. 130. 33 Paul Valéry, Eupalinos oder Der Architekt, in: ders., Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 2: Dialoge und Theater, hrsg. von Alfred Blüher, Frankfurt am Main 1990 (1923), S. 7-85, hier S. 56; auf diese Zusammenhänge verweist Kruft 1995 (1985), S. 463f.

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Poetik des Privatraums teressieren in ihren Möglichkeiten, neue Identitäten zu entwerfen, nicht in ihrer Fähigkeit, einen realen Körper zu abstrahieren. Nicht die Abbildfunktion, sondern allein die Potentiale der Identitätsbildung stehen zur Debatte, denn Subjektivität und Identität sind historisch-kulturellen Determinierungsprozessen ausgesetzt, sind nicht ‚natürlich‘ gegeben, sondern stellen diskursive, historisch veränderbare Formationen dar.34 Die Frage nach Art und Weise der wechselseitigen Beeinflussung von Wohnraum und Identität soll in diesem Projekt demnach durch eine ‚Diskursarchäologie‘ um 1920 beantwortet werden. Dabei gilt es einerseits, die Traktate und Entwürfe der Architekten des Neuen Bauens zu rezipieren, mit denen in den 20er Jahren eine Revolutionierung des Wohnens eingeleitet und zugleich ein neuer Mensch, ein neuer moderner Bewohner imaginiert wurde. Andererseits wird in dieser Studie erstmals danach gefragt, mit welchen Mitteln die neusachlichen Autoren sich an diesem Umschwung beteiligen und in ihren Texten neue WohnSubjekte zu konstruieren beginnen, denn die Diskursivierung einer bestimmten Lebensform wie derjenigen des Wohnens verweist keineswegs nur auf eine Domestizierung des menschlichen Körpers, sie ermöglicht zugleich neue Subjektentwürfe. Nicht was der Wohndiskurs verbietet und unterdrückt, sondern was er erzeugt und produziert steht im Mittelpunkt der Analysen,35 die von der These getragen werden, dass die in den 20er Jahren virulente Debatte um das richtige Wohnen einen dominanten gesellschaftlichen Kode36 darstellt, der vernetzt mit anderen Kodes, hier insbesondere mit dem literarischen, zu betrachten ist. In diesem Sinne wird auch die Literatur zum Ort der Reflexion des architektonischen Diskurses, und die neusachlichen Romane verhandeln die zahlreichen Wohnformen der 20er Jahre, loten ihre Möglichkeiten und Grenzen aus: sei es in Hans Falladas Kleinem Mann, in dem die Familie Pinneberg parallel zu den wechselhaften Arbeitsbedingun-

34 Unter Identität sei keine vornehmlich durch Selbstbeherrschung garantierte Ich-Identität gemeint, sondern hauptsächlich ein Diskurseffekt, genauso wenig wie das Subjekt als gänzlich rational-autonom betrachtet werden kann, sondern u.a. als eine Funktion des Diskurses. Der Körper des Subjekts steht in meiner Studie nur bedingt zur Debatte, insofern das Wohnen als eine Verlängerung des menschlichen Körpers zu betrachten ist. 35 Insofern ist die Zielsetzung eine völlig andere als die in der Tradition von Michel Foucault stehende Diskursanalyse aufweisen möchte; zur methodischen Ausrichtung der Arbeit vgl. das Kapitel Methodische Überlegungen. 36 Zu diesem semiotischen Modell vgl. Roland Posner, Kultur als Zeichensystem, zur semiotischen Explikation kulturwissenschaftlicher Grundbegriffe. in: Aleida Assmann und Dietrich Harth (Hg.), Kultur als Lebenswelt und Monument, Frankfurt am Main 1991, S. 60f.

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Einleitung gen die unterschiedlichsten Wohnräume durchwandert, sei es in Irmgard Keuns Roman Gilgi, in dem die gleichnamige Protagonistin ein eigenes Zimmer anmietet, das weit ab von der Wohnung ihrer Stiefeltern, aber auch ihres Geliebten liegt. Unbeachtet blieb bisher der Umstand, dass die im Mittelpunkt der Romane stehende junge Generation der 20- bis 30-Jährigen auf der Suche nach ihrem ‚Zuhause‘ und ihrer ‚Identität‘ die Innenräume zum Ausgangspunkt dieser Bewegung wählt.

Schreibverfahren der Nähe Von besonderem Interesse erscheinen die neusachlichen Schreibverfahren, denn das semiotische Modell eines gesellschaftlich dominanten Kodes verweist zugleich darauf, dass dieser die Struktur anderer Kodes – also auch der Literatur – maßgeblich beeinflusst.37 Die Struktur der Wohnräume mag also Hinweise geben und bestimmte Techniken verdeutlichen, die innerliterarisch bedeutungslos bleiben müssen oder über den architekturhistorischen Kontext eine neue Dimension zugewiesen bekommen. So ist beispielsweise die Erzählperspektive parallel zum Entwurfsvorgehen der Architekten zu erörtern, die den Innenraum, das Wohnen, ähnlich wie die literarischen Texte das Innenleben der Protagonisten zentral setzen: sei es durch innere Monologe oder Tagebuchberichte, autobiographische Formen oder den dramatischen Modus oder schließlich den Einsatz von erlebter Rede, die in ihrer Zweideutigkeit unentschieden lässt, wer redet bzw. berichtet, der Protagonist oder der Erzähler. Damit fließen auch Außen- und Innenraum ineinander, Grenzen beginnen sich aufzulösen; ein Merkmal, das aber gerade für die Architektur des Neuen Bauens als eines der wichtigsten Neuerungen reklamiert wird.38 Obwohl die neusachlichen Autoren unentwegt von der Entsubjektivierung ihre Romane ‚reden‘, von ‚Nüchternheit‘, ‚Sachlichkeit‘ und ‚Objektivität‘ ihres journalistischen Berichtstils, wird zu verdeutlichen sein, dass die Texte in hohem Maße subjektive Erzählverfahren einsetzen. Vereint mit dem schlichten Schreibstil (genus subtile) – der von der Illusion der Autoren genährt ist, möglichst nah an und von der Sache erzählen zu können, um auf diese 37 Posner 1991, S. 60f. 38 Vgl. dazu auch Müller, der auf Karl-Heinz Bohrers Studie zur Plötzlichkeit (Frankfurt am Main 1981) verweist, in der Bohrer als zentrales Charakteristikum moderner Ästhetik überhaupt die sich ständig verschiebende Relevanz der Verbindung von Außen und Innen betrachtet, die keine feste Identität der Protagonisten mehr zulasse; Klaus Peter Müller, Moderne, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansätze-Personen-Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 1998, S. 380.

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Poetik des Privatraums Weise Kunst und Leben wieder zusammenzuführen – sollen diese Techniken als ‚Schreibverfahren der Nähe‘ bezeichnet werden, die ähnlich wie in der Architektur eine Verschiebung von Grenzen und Distanz zwischen privatem und öffentlichem Raum zwischen Leser und dem beschriebenen Gegenstand betreiben. Dabei ist die schnörkellose Sprache neusachlicher Romane mit der ‚Einfachheit‘, der utilitas und dem ornamentlosen funktionalistischen Stil des Neuen Bauens zu vergleichen. Diese Verbindung von sprachlicher und architektonischer Konstruktion betont auch der Protagonist Ginster aus Siegfried Kracauers gleichnamigen Roman, als er der Rede seines Arbeitgebers lauschen muss: ‚In Anbetracht dessen stelle ich einem Generalkommando ergebenst anheim, in die Erwägung einzutreten ... ‘, las er [der Arbeitgeber Valentin, I.L.] vor, ohne je das Satzende zu erreichen, ein selbsterzeugtes Altstadtlabyrinth, in dem er sich schnaufend verlief.39

Was den neusachlichen Autoren die Satzungeheuer, sind den funktionalistischen Architekten die Altstadtgassen: pittoreske Nutzlosigkeiten. Die neusachlichen Texte gehen dabei nicht nur wie in der Entwurfspraxis der Architekten vom Innenleben der Häuser bzw. der Protagonisten aus, die Protagonisten werden auch ähnlich zur Schau gestellt wie der menschliche Körper im gläsernen Gehäuse des Neuen Bauens. In Siegfried Kracauers Roman über den Architekten Ginster wird diese Tendenz explizit thematisiert, wenn es heißt: „immer wurde Ginster von allen Leuten gekannt, wie zwischen Glaswänden; während ihm selbst die Gesichter entfielen“40; und in Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko räsoniert der Erzähler am Beginn des zweiten Buches, das den Titel Private Späße trägt: „Vieles in der Welt liegt hell und offen zutage, lädt zur Kritik und Betrachtung ein, das Privatleben nicht.“41 Als Widerspruch zur eigenen Aussage dringt der Roman auf den kommenden 180 Seiten in das Privatleben seiner Protagonisten ein. Auf der Suche nach neuen Wohnformen und Subjektkonstruktionen rücken Autoren und Architekten dem Menschen buchstäblich auf den Leib, der, ähnlich wie der ornamentlose Baukörper ohne jegliche Spuren einer vergangenen Epoche, ohne Bezug zur Vergangenheit bleibt: Ginster entfallen die Gesichter. Die Eingebundenheit in seine eigene Geschichte geht ihm verloren und damit die Basis jeglicher Zeiterfahrung. Noch in seiner Erinnerung an eine Pariser Straße (1930) wird Kracauer notieren: 39 Kracauer, Schriften, Bd. 7, 1973 (1928), S. 86. 40 Ebd. S. 92. 41 Martin Kessel, Herrn Brechers Fiasko, Roman, Frankfurt am Main 2001 (1932), S. 185.

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Einleitung Von der Begierde erfüllt, endlich an den Ort zu gelangen, an dem mir das Vergessene wieder einfiele, konnte ich nicht die kleinste Nebengasse streifen, ohne sie zu betreten [...]. Am liebsten hätte ich sämtliche Höfe ergründet und Zimmer für Zimmer durchforscht. 42

Das ‚neusachliche Programm‘ von der objektiven Vivisektion der Zeit bewirkt demnach keine souveräne Überschau, keinen panoptischen Überblick, sondern liefert vielmehr Naheinstellungen und führt zu einem unmittelbaren Heranrücken an die Subjekte der Erzählung. Das wurde für die einzelnen Autoren zwar gelegentlich erkannt und konzise dargelegt,43 dass diese Schreibverfahren einerseits aber mit dem Wohndiskurs eng verwoben, andererseits nicht Phänomen einzelner Autoren, sondern eher Signum einer Epoche sind, ist stets zu kurz gekommen. Das heißt, dass ein journalistischer Berichtstil, der die ‚objektiven Fakten‘ der empirischen Welt zur Basis seiner Erzählung macht, nicht notwendigerweise das Subjekt, das Individuelle und Private ausschaltet. Der Blick in die antike Rhetorik legt sogar das Gegenteil nahe. So ist die Verbindung zwischen ‚sachlicher Schreibweise‘ und ‚privatem Raum‘ bzw. ‚Privatangelegenheit‘ schon von Quintilian für das genus subtile festgehalten worden, das nur dann einzusetzen sei, wenn es sich um einen alltäglichen Redegegenstand handle: „Bei unbedeutenden Gegenständen, wie sie in der Regel die Privatprozesse bieten, herrsche die knappe und gleichsam der Sache eng angepaßte Kunst der Behandlung, dabei in der Wortwahl höchste Sorgfalt.“44 Allerdings werden bei Quintilian jene Themen von privatem Interesse nicht gleichgeschaltet mit einem niederen sozialen Status und dem damit einhergehenden niederen sozialen Wert, sie sind schlicht Gegenstand des genus subtile. Demgegenüber ist die Hinwendung der 20er Jahre-Autoren zum Alltag der 42 Siegfried Kracauer, Erinnerung an eine Pariser Straße, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2, Aufsätze: 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 243-248. 43 So erscheinen beispielsweise Peter Suhrkamp die „Menschen und ihre Welten“ im Kleinen Mann mit „fast völliger Distanzlosigkeit“ gezeichnet (Peter Suhrkamp, Der Erzähler Fallada, in: Neue Rundschau 45, Dez. 1934, S. 751, in: Jürgen Manthey, Hans Fallada, mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Reinbek 2002 (1963), S. 181f.) und über Irmgard Keuns Kunstseidenes Mädchen ist zu lesen, dass die intensive Anwendung des dramatischen Modus „die Illusion der unmittelbaren Nähe“ erzeuge (Hugues Gérard Dandjinou, Modernistische Erzähltechniken im Roman der Weimarer Republik, Aachen 2007, S. 140). 44 Quintilianus, Marcus Fabius, Ausbildung des Redners, lat./dt., hrsg. und übersetzt von Helmut Rahn, 2 Bde. Darmstadt 1972 u. 1975. IV, 2. S. 117-118, zitiert in: Gert Ueding und Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik: Geschichte, Technik, Methode, 3., überarb. Aufl., Stuttgart, Weimar 1994, S. 228.

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Poetik des Privatraums Masse auch und vornehmlich als soziale Revolution innerhalb der literarischen Praxis zu werten, als Hinwendung der ‚Kunst‘ zum ‚Leben‘ und zugleich scheint die Neue Sachlichkeit damit ein antikes poetologisches Problem des angemessenen Erzählens über Privatgegenstände zu verhandeln.

Urbanität in der literarischen Moderne Zahlreiche literaturwissenschaftliche Untersuchungen zur Literatur der Moderne widmen sich dem städtischen Raum bzw. dem Stellenwert der Stadt, die dabei in der Regel auf doppelte Weise in den Blick geraten: nicht nur als Thema, sondern auch als Ausgangspunkt eines neuen literarischen Verfahrens, das sich von dem sinnlichen Spektakel des urbanen Lebens leiten lässt. So konzentrieren sich die Analysen einerseits auf die Themen- bzw. Motivforschung, andererseits auf die spezifische Poetik und Semantik der Metropole. Dabei wird die „Theorie der Moderne [mit] dem Bild der Großstadt“ überblendet,45 und die gesamten „Kunst- und ‚Literatur-Revolutionen‘ des 20. Jahrhunderts“ erscheinen ohne die „‚Revolution der Städte‘“ nicht denkbar.46 Die Großstadt, so wird argumentiert, erweise sich als ein „die Wahrnehmungskapazität des Subjekts überwältigendes Objekt [...], als eine dynamisierte Bilderwelt“47, die einerseits das moderne Subjekt herausfordere und möglicherweise erst konstituiere, die sich andererseits aber auch den traditionellen Erzähltechniken entziehe. Georg Simmels Physiologie des Großstädters, der sich nur durch eine ‚sachliche Haltung‘ vor der Überreizung seiner Nerven retten könne,48 liefert die Basis für eine solchermaßen ausgerichtete Interpretation der literarischen Moderne49 sowie der in ihren Texten ‚handelnden‘ Protagonisten.50

45 Lothar Müller, Die Großstadt als Ort der Moderne, über Georg Simmel, in: Klaus Scherpe (Hg.), Die Unwirklichkeit der Städte, Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek 1988, S. 14. 46 Sabina Becker, Urbanität und Moderne, Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900-1930, St. Ingbert 1993, S. 9. 47 Ebd. S. 23. 48 Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, S. 116-132. Wörtlich ist von der „Steigerung des Nervenlebens“ die Rede. 49 Vgl. dazu: Susanne Hauser, Der Blick auf die Stadt: Semiotische Untersuchungen zur literarischen Wahrnehmung um 1910, Berlin 1990; vgl. dazu auch Becker 1993. 50 So meint Volker Klotz, bei nahezu allen von ihm betrachteten Romanen „im Verhalten [des] Personals, [...] Georg Simmel[s Ausführungen] über Akti-

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Einleitung Damit setzen die bisherigen Forschungsansätze eine sozialhistorische Revolution des Zusammenlebens als zentrales Movens der literarischen Neuerungen ein, und das großstädtische Labyrinth wird zur Chiffre für die ‚Wanderungen‘ des modernen Individuums,51 für die ‚Unrettbarkeit des Ich‘. Wenn es gerechtfertigt ist, die Verfahrensweisen der literarischen Moderne und die Charaktere der Romane von den vorgängigen städtischen Erfahrungen abhängig zu machen, dann müsste für die 20er Jahre festgehalten werden, dass „die Phase der dynamischen Urbanisierung abgeschlossen“52 ist. Infolgedessen kommt es auch in den städtebaulichen Programmen zu einschneidenden Verlagerungen. Während die Sozialgeschichte dokumentiert, dass erstmals staatliche Wohnbauprogramme zur Minderung der Misere in den Städten initiiert werden und das Recht auf Wohnraum in der Weimarer Verfassung fixiert wird (§ 155),53 hängt die signifikante Wende in der Architekturgeschichte vor allem auch damit zusammen, dass sich die Architekten dem Entwurf der Wohnhäuser für die Masse der Bevölkerung zuwenden54 und dem Wohnen zugleich eine Sonderstellung

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ons- und Reaktionsweisen der Großstadtbevölkerung [...] bestätigt“ zu sehen; Volker Klotz, Die erzählte Stadt, Ein Sujet als Herausforderung des Romans von Lesage bis Döblin, München 1969, S. 436. Vgl. Müller 1988, S. 21. Jürgen Reulecke, Der Wandel der Lebensverhältnisse im Gefolge von Industrialisierung und Verstädterung, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3, 1997, S. 141. Vgl. auch ders.: Geschichte der Urbanisierung in Deutschland, Frankfurt am Main 1985, und Adelheid von Saldern, Gesellschaft und Lebensgestaltung. Soziokulturelle Streiflichter, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 4, 1996, S. 45-183, hier S. 53. „Artikel 155, Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet und dem Ziele zustrebt, jedem Deutschen eine gesunde Wohnung und allen deutschen Familien besonders den kinderreichen, eine ihren Bedürfnissen entsprechenden Wohn- und Wirtschaftsheimstätte zu schaffen.“ Zitiert in: Kai Artinger (Hg.), Die Grundrechte im Spiegel des Plakats: 1919 bis 1999, Berlin, Deutsches Historisches Museum 2000, S. 38; vgl. auch Hartmut Häußermann und Walter Siebel, Soziologie des Wohnens, eine Einführung in Wandel und Ausdifferenzierung des Wohnens, 2. korr. Aufl. Weinheim, München 2000, S. 103; vgl. auch Geschichte des Wohnens, Bd. 4, 2000, S. 10, 307. „Der Wohnungsbau [wurde] zur Aufgabe von Architekten. Der Maurermeister mit dem Bauvorlagenbuch in der Hand, der das Ornament eines gründerzeitlichen Wohnhauses nachzeichnete, genügte nicht mehr, weil die Massenwohnung nicht mehr als bloße Verkleinerung der bürgerlichen gesehen wurde.“ Gert Kähler, Nicht nur Neues Bauen!, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 4 2000 (1996), S. 303-453, hier S. 398; während „die dringlichen Probleme des Städtebaus und des Massenwohnungsbaus“ im 19. Jahrhundert noch keinen Platz „im Schaffen der Architekten finden“, ändert

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Poetik des Privatraums im städtischen Gefüge zuweisen: Zugespitzt könnte man sagen, das Wohnen erscheine nicht nur als eine der später in der Charta von Athen festgelegten vier Funktionen, sondern gar als die Hauptfunktion der Stadt, das Wohnen ist die Basis des gesamten urbanen Gebildes. „Der Wohnbereich, in dem die Menschen den größten Teil des Tages verbringen, wird zum wichtigsten Element der Stadt“55, „die Wohnung“ wird zum „Ausgangspunkt“ ihrer „Neugestaltung“.56 Die Konzeption eines Gebäudes ist nunmehr vom Kontext losgelöst von innen heraus zu erklären, das „Bauwerk ist wie eine Seifenblase“57, der Außenraum dagegen das „Resultat des Inneren“58, ein aus der Planung resultierender „Restbereich“59, „nur ein lebendiges Innen hat ein lebendiges Außen.“60 In Vers une architecture mahnt Le Corbusier: „Das Problem des Hauses ist noch nicht gestellt worden“61, „eine klare Vorstellung vom Wohnungsbau ist bis heute nicht definiert worden!“,62 und wartet ebenda mit einem Ratgeber zur Wohnungsfrage63 auf: „Es ist also an der Zeit, das Problem des Hauses, der Straße und der Stadt neu aufzuwerfen“.64 Ja, im Zentrum seines Ausblicks auf eine Architektur steht letztlich immer wieder das Wohnen. Ähnlich formuliert auch Adolf Rading 1928, dass „die Wohnzelle für das Gesicht der Stadt bestimmend“ sei, damit falle auch die Straßenwand im früheren Sinne fort, also wie sie etwa das Barock gebildet hat [...]. Jede Wohnzelle muß zur räumlichen Wirkung der Stadt beitragen [...]. Es wird natürlich sein, daß damit auch ihre Bewohner entsprechend positiv an dem gemeinschaftlichen Leben der Stadt teilnehmen.65

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sich das bereits kurz vor dem ersten Weltkrieg: „Gesunde Volkswohnungen [...] waren für den Architekten zu einer neuen Aufgabe geworden“, Herbert Ricken, Der Architekt, Geschichte eines Berufs, Berlin 1977, S. 102, 109. Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, 8. Aufl., Frankfurt am Main, New York 2000 (1975), S. 909. Ebd. S. 919/920. Le Corbusier 2001 (1922), S. 136. Ebd. Steffen Krämer, Die postmoderne Architekturlandschaft: Museumprojekte von James Stirling und Hans Hollein, Hildesheim, Zürich, New York 1998, S. 278. Ludwig Mies van der Rohe, Über die Form in der Architektur, in: Ulrich Conrads (Hg.), Programme und Manifeste zur Architektur des 20. Jahrhunderts, Braunschweig, Wiesbaden 1981, S. 96. Le Corbusier 2001 (1922), S. 88, 89. Ebd. S. 92. Ebd. S. 99ff. Ebd. S. 32, S. 22. Adolf Rading, Die Typenbildung und ihre städtebaulichen Folgerungen, in: Fritz Block (Hg.), Probleme des Bauens, Potsdam 1928, S. 55-87, hier S. 68.

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Einleitung Und Ludwig Hilberseimer erläutert 1927: Nicht nur als soziales, auch als architektonisches Problem wurde der Wohnungsbau bisher vernachlässigt. Als eine Arbeit betrachtet, die nebenbei erledigt werden kann. Höchstens als Fassadenangelegenheit erregte er Interesse. Seine eigentliche Bedeutung wurde nicht erkannt. Aber der Wohnungsbau ist das Bauproblem der Gegenwart. Das eigentliche großstädtische Architekturproblem.66

Das heißt, dass parallel zu den staatlichen Wohnbauprogrammen unter den Architekten eine Auseinandersetzung um das ‚richtige Wohnen‘ stattfindet, eine Debatte, die in ihrer Intensität als völlig neu beschrieben werden kann; die Liste der Publikationen reicht von eben genannter Vers une architecture67 über Bruno Tauts Das Neue Wohnen: Die Frau als Schöpferin68 bis hin zu Sigfried Giedions Taschenbuch Befreites Wohnen69 und manifestiert sich in zahlreichen Mustersiedlungen und Wohnausstellungen. „Modern zu wohnen, wurde zu einer verpflichtenden Aufgabe, derer man sich nicht ohne theoretische Studien und moralische Vorsätze entledigen konnte“,70 schreibt der Architekturtheoretiker Peter Meyer, und Gert Kähler ergänzt: „Das aber galt nicht nur für die „modernen“ Wohnungen und Architekten. Grundsätzlich galt es für alle, nur daß die konservativen Wohnungsformen auf Bekanntes zurückgreifen konnten und so weniger des erhobenen Zeigefingers bedurften.“71 Zu den wichtigsten und aufsehenerregenden baulichen Zeugnissen der architektonischen Moderne zählen die Meistersiedlung in Dessau und die 1927 erbaute, vom Werkbund initiierte und städtisch geförderte Werkbundausstellung Die Wohnung auf dem Weißenhof in Stuttgart. Sie hat die Architekturwelt des 20. Jahrhunderts [...] erschüttert wie kein zweites Ereignis [...]. Die Zielsetzungen des „Neuen Bauens“ [...] wurden hier zum ersten Mal [...] unübersehbar der Öffentlichkeit präsentiert. Das sollte die Wohnform, die Architektur der Zukunft sein. Was vorher allenfalls in Zeitschriften diskutiert oder in kleinen Kreisen mehr theoretisch als praktisch behandelt wurde, stand unvermittelt im Rampenlicht der Weltöffentlichkeit. Die vorausgegangenen Ar66 Ludwig Hilberseimer, Großstadtarchitektur, Reprint Stuttgart 1978 (1927), S. 21. 67 Le Corbusier 2001 (1922), S. 136. 68 Bruno Taut, Die neue Wohnung, die Frau als Schöpferin, Berlin 2001 (1924, 5. erw. Aufl. 1928). 69 Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, hrsg. und eingeleitet von Dorothee Huber, Frankfurt am Main 1985 (1929). 70 Peter Meyer, Situation der Architektur 1940, in: Das Werk, 9, 1940, S. 243, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 4, 2000 (1996), S. 398. 71 Kähler 2000 (1996), S. 398.

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Poetik des Privatraums beiten in der Sowjetunion wurden nicht wahrgenommen, das Bauhaus in Weimar als elitäre Einrichtung war „unerheblich“ [Abb. 1]. Jetzt berichtete die inund ausländische Presse ausführlich über das Ereignis und die „Neue Form“.72

Abb. 1: Zeitungskarikatur aus den zwanziger Jahren.

Und die Kritik lässt nicht auf sich warten, die Weißenhofsiedlung erinnere an „italienische Bergnester“,73 an eine ‚Vorstadt Jerusalems‘74 und sie wird als ‚Araberdorf‘75 photomontiert, solchermaßen

72 Johannes Cramer, Niels Gutschow, Bauausstellungen, eine Architekturgeschichte des 20. Jahrhunderts, Stuttgart u.a. 1984, S. 127. 73 Paul Schmitthenner, Süddeutsche Zeitung, 13. Jg., Nr. 205, Abendausgabe vom 5.5.1926, in: Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ - Stuttgart 1927, Stuttgart 1999 (1987), S. 48. 74 Paul Bonatz, Schwäbischer Merkur, Stuttgart, 5.5.1926, und nochmals in: Felix Schuster, Heimatschutz und neues Bauen, Schwäbisches Heimatbuch, Esslingen 1928, zitiert nach: Jürgen Joedicke und Christian Plath, Die Weißenhofsiedlung. Stuttgarter Beiträge, Heft 4, Stuttgart 1968, S. 50. Paul Bonatz’ Einschätzung bezieht sich allerdings auf den ersten Bebauungsplan, der so nicht zur Ausführung kam, und Bonatz wird sich bereits 1927 nach eingehendem Besuch der Siedlung positiv äußern („Wenn man sich vorstellt, daß ganz Stuttgart über Nacht in diesem Sinne umgestaltet wäre, anstelle verkrüppelter und häßlicher Dächer, anstelle sinnloser Verzierungen und trüber Backsteine nur gegliederte Kuben in sauberen Farben, so wäre das ein phantastisch schönes Stadtbild.“ Paul Bonatz 1927, in: Kirsch 1999 (1987), S. 206). Bonatz’ erstes Urteil dient den Gegnern der Weißen-

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Einleitung sorgt sie für eine gesteigerte Aufmerksamkeit gegenüber den Diskussionen um das ‚richtige Wohnen‘, an denen spätestens seit diesem Zeitpunkt auch die Schriftsteller teilnehmen. Zum einen explizit wie Siegfried Kracauer mit mehreren Berichten für die Frankfurter Zeitung76 oder Kurt Schwitters in einem satirischen Kommentar für I 10: internationale revue,77 zum anderen aber implizit wie Bertolt Brecht in seinem kurzen Prosastück Nordseekrabben oder Die moderne Bauhauswohnung (bereits 1926 erschienen), in dem sich der Kriegsheimkehrer Kampert eine am Neuen Bauen geschulte Wohnung einrichtet. Kampert ist „Ingenieur bei der A.E.G.“ (die Monatgehalle der AEG-Turbinenfabrik in Berlin (1908-1909) von Peter Behrens zählt zu den Initationsbauten der Moderne) und stellt ganz im Sinne des Wohndiskurses fest: „wir sind nicht für die Wohnung, sondern die Wohnung ist für uns“78 da. Schließlich findet der Wohndiskurs auch in Robert Musils79 Mann ohne Eigenschaften (1930) Eingang, wenn Ulrich vor der schwierigen Aufgabe steht, sein Haus einzurichten: Der moderne Mensch wird in der Klinik geboren und stirbt in der Klinik: also soll er auch wie in einer Klinik wohnen! – Diese Forderung hatte soeben ein führender Baukünstler aufgestellt, und ein anderer Reformer der Inneneinrichtung verlangte verschiebbare Wände der Wohnungen, mit der Begründung, daß der Mensch dem Menschen zusammenlebend vertrauen lernen müsse und nicht

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hofsiedlung nichtsdestotrotz zur Denunziation der Architekten bis weit in die 30/40er Jahre hinein. Im Schwäbischen Heimatbuch von 1934 ist eine Photomontage der Weißenhofsiedlung als Araberdorf mit Kamelen erstmals zu sehen, wieder abgedruckt in demselben Organ 1941: Felix Schuster (Hg.), Schwäbisches Heimatbuch, Stuttgart 1941, in: Kirsch 1999 (1987), S. 207; Johannes Cramer und Niels Gutschow berichten, die Photomontage eines Araberdorfes auf einer Postkarte sei schon 1927 zu sehen gewesen, Cramer, Gutschow 1984, S. 128. Kracauer schreibt für die Frankfurter Zeitung drei Artikel zur Weißenhofsiedlung, am 23.7.1927, am 24.7.1927 sowie am 31.7.1927; teilw. abgedruckt in: Kracauer, Schriften, Bd. 5, 1990, S. 68-70. Kurt Schwitters, Stuttgart, Die Wohnung, in: I 10: internationale revue; abgedruckt in: Peter Conradi (Hg.), Lesebuch für Architekten, Stuttgart, Leipzig 2001, S. 184-191. Bertolt Brecht, Nordseekrabben oder Die moderne Bauhauswohnung, in: ders. Prosa, Bd. 1, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1980 (1926), S. 153-163. Zum Wohndiskurs in Musils Werk vgl. Christoph Asendorf, Hinter Glas, Wohnform und Raumerfahrung bei Musil, in: Maria Babias et al. (Hg.): Spiegelungen, Festschrift für Hans Schumacher zum 60. Geburtstag, Frankfurt am Main u.a. 1991, S. 185-196.

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Poetik des Privatraums sich separatistisch abschließen dürfe. Es hatte damals gerade eine neue Zeit begonnen (denn das tut sie in jedem Augenblick), und eine neue Zeit braucht einen neuen Stil. [...] Die Drohung „sage mir, wie du wohnst, und ich sage dir, wer du bist“, die er wiederholt in Kunstzeitschriften gelesen hatte, schwebte über seinem Haupt.80

Es bedurfte allerdings nicht einmal des Studiums von Kunstzeitschriften, um die Wohndebatten zu verfolgen. In der Wiener Hausfrauen-Zeitung von 1898 konnte man lesen, dass „die Beschaffenheit [...] einer Wohnung“ manch wertvollen Aufschluss über den Charakter eines Menschen gebe.81 Auch in Musils Erzählung Die Amsel (1928) erscheint das Wohnen als Klammer des plots, der zwischen Berliner Mietskaserne und Kinderzimmer angesiedelt ist: Du wirst zugeben, daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun ist fast immer das gleiche: da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriß von allem gleich macht.82

Bereits 1917 hat der eher traditionalistische Architekt Paul Schmitthenner in Staaken bei Berlin die bis dahin größte genossenschaftliche Siedlung realisiert, bei der für „800 Wohnungen nur noch fünf verschiedene Grundrisse“83 zur Anwendung kamen. Wie dominant der Wohndiskurs in den 20er Jahren geworden ist, zeigt auch Franz Kafkas Werk, im Besonderen die Erzählung Der Bau (1923/1924), in der das Interieur als unsicheres, neu zu eroberndes Terrain thematisiert wird, wie es auch in seinen anderen Romanen insbesondere der Innenraum mit seinen Zugängen, Grenzen und Wegenetzen ist, der die Protagonisten vor neue Herausforderungen stellt. 80 Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften, Roman, in: ders., Gesammelte Werke in neun Bänden, hrsg. von Adolf Frisé, Bd. I, Hamburg 1978, S. 19f. 81 Wohnung und Charakter (gezeichnet R.M.Sch.), in: Wiener HausfrauenZeitung, Organ für hauswirtschaftliche Interessen, Jahgang 24, 1898, Nr. 32, S. 254; zitiert in: Irene Nierhaus, Text & Textil, zur geschlechtlichen Strukturierung von Material in der Architektur von Innenräumen, in: Cordula Bischoff und Christina Threuter (Hg.), Um-Ordnung: angewandte Künste und Geschlecht in der Moderne, Marburg 1999, S. 84-94, hier S. 91. 82 Robert Musil, Die Amsel, in: ders., Nachlaß zu Lebzeiten, 1997 (1936), S. 131- 154, hier S. 135. 83 Wolfgang Voigt, Im Kern modern? Eine Verteidigung Paul Schmitthenners, Stuttgart: Hans und Maiti Kammerer Stiftung 2006, S. 18f. Zu Paul Schmitthenner und zur traditionalistischen Moderne vgl. das Kapitel zu Hans Falladas Kleiner Mann – was nun?

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Einleitung Es sind schließlich nicht allein jene Veränderungen des 19. Jahrhunderts im städtischen Außenraum – wie Passage oder Warenhaus – welche Kulturtheoretiker wie Walter Benjamin oder Ernst Bloch interessieren, auch sie nehmen Teil am Wohndiskurs, der in den 20er Jahren seinen Höhepunkt erreicht hat: „Das neunzehnte Jahrhundert [...] begriff die Wohnung als Futteral des Menschen“, konstatiert Benjamin, das zwanzigste machte mit seiner Porosität, Transparenz [...] dem Wohnen im alten Sinne ein Ende [...] Der Jugendstil erschütterte das Gehäusewesen aufs tiefste. Heute ist es abgestorben und das Wohnen hat sich vermindert: für die Lebenden durch Hotelzimmer, für die Toten durch Krematorien. [...] Wohnen als Transitivum.84

Ähnlich äußert sich Walter Benjamin über das Neue Bauen in einer Rezension zu Franz Hessels Spazieren in Berlin (1929): dem Wohnen im alten Sinne, dem die Geborgenheit an erster Stelle stand, [...] hat die Stunde geschlagen. Giedion, Mendelssohn, Corbusier machen den Aufenhaltsort von Menschen vor allem zum Durchgangsraum aller erdenklichen Kräfte und Wellen von Licht und Luft. Was kommt steht im Zeichen der Transparenz.85

Heinz Brüggemann macht darauf aufmerksam, dass der Prozess von Benjamins Passagen-Werk „ganz wesentlich davon bestimmt ist, daß [...] [er] im Winter 1928/29 Sigried Giedions Bauen in Frankreich rezipiert“, also den Architekturkritiker und -theoretiker des Neuen Bauens, und damit die surrealistisch-dadaistische Moderne um die funktionalistisch-konstruktivistische erweitert. Benjamin betreibe die „literarische Gestaltung halluzinativer, rauschhafter Wahrnehmung des surrealistische Flaneurs in den veraltenden Passagen [...] bei [...] gleichzeitige[r] Zuwendung zu den bewußt ausdrucksarmen, nüchternen funktionalen Räumen des Neuen Bauens“.86 84 Walter Benjamin, Das Interieur, Die Spur, in: ders.: Gesammelte Schriften hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V,1: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1982, S. 281-300, hier S. 292. In diesem Kapitel erwähnt Benjamin auch die Publikation: Adolf Behne, Neues Wohnen, Neues Bauen, Leipzig 1927. 85 Walter Benjamin, Die Wiederkehr des Flaneurs (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main 1991, S. 194-199, hier S. 196f. 86 Heinz Brüggemann, Mobilität und Transparenz, Stadträume der Moderne in theoretischer Optik und literarischer Imagination, in: Gerda Breuer (Hg.), Neue Stadträume, Zwischen Musealisierung und Gestaltlosigkeit, Frankfurt

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Poetik des Privatraums Selbst Ernst Blochs Architekturbeschreibungen sind „durchtränkt von den Sehweisen [des] Neuen Bauens“,87 ohne dass er sich für ein Lager tatsächlich vereinnahmen ließe, und auch er setzt sich mit der Architektur Le Corbusiers, Bruno Tauts und Adolf Loos’ auseinander, auch er kommentiert die neuen Wohnformen, wie sie sich auf der Werkbundausstellung am Weißenhof präsentierten – allerdings bereits aus Kriegs- und Nachkriegsperspektive, er schreibt im Prinzip Hoffnung (1938-1947): Heute sehen die Häuser vielerorts wie reisefertig drein [...] Im Inneren sind sie hell und kahl wie Krankenzimmer, im Äußeren wirken sie wie Schachteln auf bewegbaren Stangen, aber auch wie Schiffe. Haben flaches Deck, Bullaugen, Fallreep, Reling, leuchten weiß und südlich, haben als Schiffe Lust, zu verschwinden. [...] die [...] Architektur [...] witterte [...] den Krieg [...]. Da erscheint selbst die Schiffsform [...] nicht real genug. [...] [Es] erschien der weniger reale, doch dekorative Fluchtplan einer fliegenden Stadt, in Stuttgart, auch in Paris utopisiert: die Häuser erheben sich. […] Seit über einer Generation steht darum dieses Stahlmöbel-, Betonkuben, Flachdach-Wesen geschichtslos da, hochmodern und langweilig.88

Ebenso wie Bloch kommentiert Theodor W. Adorno nicht mehr als Zeitzeuge, sondern vor dem Hintergrund von Krieg und Emigration 1951 in seinen Minima Moralia: Wie es mit dem Privatleben heute bestellt ist, zeigt sein Schauplatz an. Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Die traditionellen Wohnungen, in denen wir groß geworden sind, haben etwas Unerträgliches angenommen [...]. Die neusachlichen, die tabula rasa gemacht haben, sind von Sachverständigen für Banausen angefertigte Etuis, oder Fabrikstätten, die sich in die Konsumsphäre verirrt haben, ohne alle Beziehung zum Bewohner. [...] Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm. [...] es gehört zur Moral, nicht bei sich selber zu Hause zu sein.89 am Main, Basel 1998, S. 55-79, hier S. 71f.; vgl. dazu auch ders.: Architekturen des Augenblicks, Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002, S. 319ff. 87 Dieter Bartezko, Vorausgebaute Heimat – Architektur in Ernst Blochs Das Prinzip Hoffnung, in: Der Architekt 2/1986, S. 66-69, hier S. 67. 88 Ernst Bloch, Die Bebauung des Hohlraums, in: ders., Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1977, S. 858-873, hier S. 858f; 860 (geschrieben in der Emigration 1938-1947). 89 Unter demselben Titel, nämlich Asyl für Obdachlose, unter dem schon Siegfried Kracauer 1929 in seinem Essay Die Angestellten über deren Aufenthaltsort reflektierte (Siegfried Kracauer, Die Angestellten, Aus dem neuesten Deutschland, in: ders., Werke, Bd. 1, hrsg. von Inka Mülder-Bach,

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Einleitung Was hier wie die Abschaffung des Wohnens, des Interieurs und Innenraums in Erscheinung tritt und die Wahrnehmung der funktionalistischen Moderne über Jahrzehnte geprägt hat, ist es aber mitnichten, vielmehr findet eine folgenreiche Umkodierung statt, die sowohl den städtischen Innen- wie auch den Außenraum betrifft. So hält Wolf Lepenies für das 20. Jahrhundert fest, dass sich weniger das Interieur (als Fluchtort) auflöse, als dass die Welt selbst zum Interieur werde,90 und in eben diesem Sinne schreibt auch Benjamin: „Wir Berliner müssen unsere Stadt noch viel mehr – bewohnen“, beschreibt den Außenraum der Stadt nunmehr als Innenraum: Denn sie [die Straßen] sind ja die Wohnung des ewig unruhigen, ewig bewegten Wesens, das zwischen Hausmauern soviel erlebt, erfährt, erkennt und ersinnt, wie das Individuum im Schutze seiner vier Wände. Der Masse [...] sind die glänzenden, emaillierten Firmenschilder so gut [...] ein Wandschmuck wie im Salon dem Bürger ein Ölgemälde, Brandmauern ihr Schreibpult, Zeitungskioske ihre Bibliotheken, Briefkästen ihre Bronzen, Bänke ihr Boudoir und die Caféterasse der Erker, von wo sie auf ihr Hauswesen hinabsieht. Wo am Gitter Asphaltarbeiter ihren Rock hängen haben, ist ihr Vestibül und die Torfahrt, die aus der Flucht der Höfe ins Freie leitet, der Zugang in die Kammern der Stadt. Schon in der meisterhaften „Vorschule des Journalismus“ war die Erforschung dessen, was Wohnen ist, als unterirdisches Motiv erkennbar. Wie jede [...] Erfahrung ihr Gegenteil mit umfaßt, so hier die vollendete Kunst des Flaneurs das Wissen vom Wohnen.91 (Hvm)

Die Fixierung literaturwissenschaftlicher Moderne-Forschung auf die Außenräume der Stadt, die Subjekt-Status und Identitäten verstören, gilt es, auf der Basis dieser Bestandsaufnahme zu überprüfen, um ausgehend von den Beobachtungen an den neusachlichen Texten eine Revision dieser dominanten literarischen Strömung der 20er Jahre zu ermöglichen und „das Wissen vom Wohnen“ ans Tageslicht zu befördern. Der Wohndiskurs der 20er Jahre ermöglicht damit nicht nur eine ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘, unter diesem Blickwinkel wird der spezifische Beitrag der neusachlichen Literatur zur Urbanität der Moderne überhaupt erst herausgearbeitet. „Die Debatte um Urbanität, Moderne und Postmoderne konzentriert sich [...] erstaunlicherweise auf einige wenige Autoren und rekurriert auf immer wieder dieselben Texte“, bemängelt Inge Stephan schon Mitte der neunziger Jahre, die Auseinandersetzung konzentriere sich Frankfurt am Main 2006 (1929), S. 213-311, darin: Asyl für Obdachlose, S. 288-298), schreibt Adorno über die Lage des Wohnens zwanzig Jahre später: Theodor W. Adorno, Asyl für Obdachlose, in: ders.: Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001 (1951), S. 40-42, hier S. 40f. 90 Wolf Lepenies, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt am Main 1972. 91 Benjamin, 1991 (1929), S. 196.

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Poetik des Privatraums auf Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘, Rilkes ‚Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge‘ oder auf die Gedichte von Stadler, Heym und Trakl. Sie favorisiert damit fast ausschließlich einen literarischen Diskurs, der die Stadt als mythische Größe festschreibt und ästhetisch inszeniert.92

Wenn Inge Stephan den „verengten Diskurs über Großstadtwahrnehmung und Großstadtdarstellung um einen frühen Text erweitern möchte [...] und den weitgehend vergessenen Beitrag der Neuen Sachlichkeit zum Großstadtdiskurs der Moderne“93 einklagt, dann gilt es zu ergänzen, dass dieser Diskurs die Stadt darüber hinaus nur verkürzt wahrgenommen hat.94 Nicht die Straße der Metropole, nicht der öffentliche Raum, sondern der Blick auf das Wohnen, auf den Privatraum wird den spezifischen Beitrag der neusachlichen Literatur zur Urbanität der Moderne aufdecken.

Wohnen in der Neuen Sachlichkeit Übersehen wurden diese Tendenzen in der Literatur der Neuen Sachlichkeit vor allem deshalb, weil sich die Forschung jahrelang daran abarbeitete, die ideologische Position neusachlicher Autoren bzw. der Neuen Sachlichkeit zu klären. Dabei gab Helmut Lethens Studie über die Literatur des Weißen Sozialismus (1970) den Ton an, der noch in Metzlers 1994 in fünfter Auflage erschienenen Deutschen Literaturgeschichte nachklingt: Der Neuen Sachlichkeit wird eine affirmative Haltung gegenüber der kapitalistischen Gesellschaft nahegelegt, die sich in der „Fetischisierung der Technik“ und der Produktion „freischwebender Intellektueller“ manifestiere.95 In ihrer negativen Rezeptionshaltung wiederholte die Literaturwissenschaft damit jene schon in den 20er/30er Jahren gefällten Urteile von Roth, Lukács und Balázs, die formalästhetische Untersuchungen an einer ideologisch verdächtigen Literatur beinahe gänzlich verhinder-

92 Inge Stephan, Stadt ohne Mythos, Gabriele Tergits Berlin-Roman ‚Käsebier erobert den Kurfürstendamm‘, in: Sabina Becker und Christoph Weiss (Hg.), Neue Sachlichkeit im Roman: Neue Interpretationen zum Roman der Weimarer Republik. Stuttgart, Weimar 1995, S. 291-313, hier S. 291. 93 Ebd. S. 291/292. 94 Auch für Inge Stephan wird das Wohnen zu keinem analyserelevanten Motiv. 95 Wolfgang Beutin et al., Deutsche Literaturgeschichte: von den Anfängen bis zur Gegenwart, 5., überarb. Aufl. Stuttgart, Weimar 1994, S. 370f; bereits in der 6., verb. u. erw. Aufl. von 2001 wird der Neuen Sachlichkeit nunmehr nicht nur ein eigenes Kapitel gewidmet, sie erfährt zudem eine differenzierte Einschätzung.

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Einleitung te.96 Die verstärkt in den letzen Jahren erschienenen Beiträge zu einzelnen Autoren der 20er Jahre liefern indes Bausteine einer neusachlichen Ästhetik, die allerdings erst von Sabina Becker systematisch und konzise dargelegt wurde. Ihre Publikation stellt einen groß angelegten Rehabilitationsversuch der Neuen Sachlichkeit dar: sie arbeitet den in den 20er Jahren virulenten neusachlichen Diskurs heraus, beschreibt die wichtigsten Kategorien und liefert in einem Quellenband die längst überfällige Basis für die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Neuen Sachlichkeit.97 Becker verweist zwar ausführlich, wenn auch nicht als Erste,98 auf die zentrale Stellung des Architekturdiskurses für die Ausbildung der neusachlichen Ästhetik – die, wenn der Blick aus der Literatur herausführte, bisher eher im Vergleich mit der neusachlichen Malerei betrachtet wurde –99, und erläutert sie in ihren Kapiteln über den „steinernen Stil“ Döblins, die Sachlichkeitskonzepte des Werkbunds und den Zusammenhang zwischen Adolf Loos und dem Sturm-Kreis, aber auch sie klammert den spezifischen Wohndiskurs aus. In der literarischen Sachlichkeitsdebatte scheint er tatsächlich auch keine herausragende Rolle gespielt zu haben: Der wahre Ort des Wohndiskurses finder sich vielmehr in den Romanen selbst, hier erst zeigt sich die ganze Bedeutung des Wohnens nicht nur für die neusachliche Ästhetik, sondern auch für die neusachlichen Subjektentwürfe. Subjektentwürfe, für die sich 24 Jahre nach seiner ersten Publikation auch Helmut Lethen in seinen Verhaltenlehren der Kälte interessiert, einer Arbeit, die keine ideologiekritische Analyse mehr betreibt, sondern vielmehr eine ‚literarische Anthropologie‘ darlegen möchte. Vor der barocken Folie von Baltasar Graciáns Handorakel entwirft er drei neusachliche Typen (die kalte persona, den Radartyp und die Kreatur), die er in den Romanen nachzuweisen bestrebt ist; ein Vorgehen, dass die spezifisch literarische Dimension der neusachlichen Bewegung möglicherweise zu kurz kommen lässt, wie Becker ihm vorwirft,100 zugleich aber die Potentiale neuer Sub96 Becker 2000, 1, S. 27f. 97 Sabina Becker, Neue Sachlichkeit, 2 Bde., Köln, Weimar Wien 2000. 98 Vgl. aber auch Peter Sprengel, Von der Baukunst zur Wortkunst, Sachlichkeit und Expressionismus im Sturm, in: Dvjs 64, 1990, Nr. 4, S. 680-706. 99 Volker Klotz, Forcierte Prosa, Stilbeobachtungen an Bildern und Romanen der Neuen Sachlichkeit, in: Rainer Schönhaar (Hg.), Dialog, Festschrift für Josef Kunz, Berlin 1983, S. 244-270; Jost Hermand, Einheit in der Vielheit? Zur Geschichte des Begriffs Neue Sachlichkeit, in: Keith Bullivant (Hg.), Das literarische Leben in der Weimarer Republik, Königstein/Ts. 1978, S. 7188. 100 Becker 2000, 1, S. 30f., die analysierten Verhaltensweisen seien darüber hinaus weniger spezifisch neusachlich denn typisch modern (vgl. ebd. S.

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Poetik des Privatraums jektkonstruktionen herausarbeitet, die auch für die vorliegende Studie relevant sind. Obwohl Lethen in diesem Zusammenhang nicht nur den Architektenroman Ginster, sondern auch Brechts kurzes Prosastück Nordseekrabben oder Die moderne Bauhauswohnung analysiert und feststellt: „Unter den Verhaltenslehren, die in der Weimarer Republik kursieren, beansprucht die Architektur des ‚Neuen Bauens‘ einen prominenten Platz“,101 werden das Neue Bauen und der Wohndiskurs nur peripher behandelt. Die Verzahnung von Wohn- und Subjektentwürfen oder auch die Sonderstellung des Wohndiskurses innerhalb der neusachlichen Romane wird nicht beschrieben. Eine Ausnahme in dieser Hinsicht stellt Carola Köhlers Beitrag Zwischen Gründerzeit und Bauhaus, Wohnverhältnisse in Berlin in Romanen der Neuen Sachlichkeit102 dar. Köhler geht von der Beobachtung aus, dass der „Wandel der Wohnverhältnisse [...] auch in den literarischen Diskurs der Zeit Eingang“ gefunden habe, besonders in die „Literatur der Neuen Sachlichkeit“,103 und so erweitert ihre Arbeit zwar erfreulicherweise die Texte zum Wohndiskurs um literarische Beispiele, den spezifisch literarischen Beitrag aber arbeitet sie ebenso wenig heraus, wie sie die Einbettung in die Urbanität der Moderne betreibt oder gar den systemischen Zusammenhang zwischen Wohn- und Subjektkonstruktionen analysiert. Vielmehr schlussfolgert sie der vorliegenden Arbeit entgegengesetzt, dass sich eine literarische Auseinandersetzung mit der Ideologie des Neuen Bauens in den Romanen nicht finden lasse, ja dass das Neue Bauen als ideologisches und ästhetisches System für die in den Romanen dargestellten Wohnverhältnisse nur geringe Bedeutung habe.104 Genau das Gegenteil zu beweisen treten die Protagonisten der hier analysierte Romane an, zeugen von der Relevanz des Wohndiskurses für die Konstruktion ihrer Identitäten. Die ideologische Debatte um die Neue Sachlichkeit und die literaturwissenschaftliche Konzentration auf einen Stadtdiskurs, der sich auf die Außenräume spezialisierte, ließ eine ‚Poetik des Privatraums‘ aber auch deshalb unberücksichtigt, weil er als gesellschaftlich irrelevant bezeichnet oder mit dem Ergebnis analysiert wurde, das Private sei durch die modernen Bürokratisierungsmechanismen ausgehöhlt, die Autonomie des Individuums zerstört. So stellt Detlev Schöttker fest: „für die Philosophie der Bundesrepublik war das

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33) und der Begriff ‚Kälte‘ im neusachlichen Diskurs unbedeutend (ebd. S. 34). Lethen 1994, S. 163. Carola Köhler, Zwischen Gründerzeit und Bauhaus, Wohnverhältnisse in Berlin in Romanen der Neuen Sachlichkeit, Münster 2003. Ebd. S. 8. Ebd. S. 95, 97.

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Einleitung Haus kein Gegenstand des Nachdenkens“.105 Bereits die bloße Thematisierung des privaten Raumes und des sich in ihn eingelassenen Subjekts wirkt gesellschaftlich bedenklich. Marianne Streisand weist in ihrer Studie über die Begriffsgeschichte und Entdeckung der Intimität zwischen 1890 und 1910 auf diese Problematik hin: Intimität erscheint „politisch suspekt“ und wird als „Signal [des] Rückzugs aus öffentlichem Engagement verdächtigt.“106 Während Streisand die Konzepte des Dramas und der Theaterpraxis um 1900 untersucht, dabei eine „Promotion des Begriffs ‚Intimität‘ zu einer überaus positiv bewerteten Kunstkategorie“107 feststellt und diese als Gegenkategorie zur ‚urbanen Vermassung‘ etablieren möchte, soll in meiner Studie der Blick in die Architekturhistorie deutlich machen, dass der Privatraum und mit ihm eine Poetik des Privaten keine Gegenkategorie zum Urbanen darstellen, sondern in dieses integriert sind und für kurze Zeit sogar dominant werden. Claudia Beckers literaturwissenschaftliche Studie über Zimmer– Kopf–Welten: zur Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert108 leistet in diesem Punkt keine wirkliche Vorarbeit, obwohl sie eine Tradition nachzeichnen möchte, die das „Motiv des Intérieurs in einen direkten Zusammenhang mit der ‚Verinnerlichung des Erzählens‘ [...] stellt“, die wiederum mit den Rückzugstendenzen der Intelligenz verbunden sei. Eine solche Perspektive nimmt weder den Wohndiskurs noch die neusachlichen Romane in den Blick, sondern sieht die Schreibformen der Nähe in einer avantgardistischen Moderne, im nouveau roman gipfeln. Jene Studien schließlich, die sich dem Wohnen, dem Interieur oder dem Haus in der Literatur widmen, seien es phänomenologische oder Motivstudien, begreifen den Privatraum offenbar einzig als Gegenkategorie, nicht als Teil oder gar ‚Grundriss der Stadt‘, die neusachlichen Beiträge bleiben darüber hinaus größtenteils unberücksichtigt.109 Gerade die Roma-

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Detlev Schöttker, Auge und Gedächtnis, Für eine Ästhetik der Architektur, in: Merkur, Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken, Heft 6, 56. Jahrgang, Juni 2002, S. 494-508, hier S. 499. Marianne Streisand, Intimität: Begriffsgeschichte und Entdeckung der Intimität auf dem Theater um 1900, München 2001, S. 11. Ebd. Claudia Becker, Zimmer – Kopf – Welten: Zur Motivgeschichte des Intérieurs im 19. und 20. Jahrhundert, München 1990. Vgl. neben der oben besprochenen Literatur auch: Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, München 1960; Susanne Hochreiter, Franz Kafka: Raum und Geschlecht, Würzburg 2007; Carsten Lange, Architekturen der Psyche: Raumdarstellung in der Literatur der Romantik, Würzburg 2007; Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht: Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, Katalog anlässlich der Ausstellung im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne, Salz-

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Poetik des Privatraums ne der Neuen Sachlichkeit werden in ihrer Lust an den städtischen Erscheinungen, in ihrer Bejahung der Metropole aber deutlich machen, dass der Privatraum Teil dieser Metropolenbegeisterung wird. Nicht unerwähnt bleiben sollten auch die Untersuchungen aus dem Bereich der gender studies, denn spätestens seit Friedrich Schillers Lied von der Glocke (1799) ist der private Raum jener, der mit der Ausbildung des bürgerlichen Subjekts der Frau zugewiesen wurde. Neben vielen anderen Elementen der „bürgerlichen Kultur“, die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Konturen gewannen, war eine „Erfindung“ für den Lebensalltag der Menschen von besonders entscheidender Bedeutung: die sich durchsetzende Vorstellung, daß ein „trautes Heim“ die emotionale Lebensmitte der Familie sein solle – eine Insel vollständiger Privatheit und intimer Geborgenheit. Das heißt selbstverständlich nicht, daß die große Mehrheit oder auch nur ein beträchtlicher Teil der Menschen im Laufe des 19. Jahrhunderts ein solches Refugium gehabt hätte, aber als Projekt, als Vorstellung eines Ideals, als erstrebenswertes Ziel begann dieses Leitbild immer mehr Zeitgenossen zu beherrschen, und zwar ausdrücklich schichten- und klassenübergreifend! Die in diesem Zusammenhang entstehende Trennung der täglichen Handlungsfelder in eine öffentliche und eine private Sphäre mit deutlich geschlechtsspezifischer Rollenverteilung, hatte einen solch durchschlagenden Erfolg, daß sie auch heute noch [...] in mancherlei Resten unser tägliches Leben und Denken bestimmt.110

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burg, München 2006; Katja Hachenberg, Literarische Raumsynästhesien um 1900: methodische und theoretische Aspekte einer Aisthetik der Subjektivität, Bielefeld 2005; Sigrid Lange (Hg.), Raumkonstruktionen in der Moderne: Kultur-Literatur-Film, Bielefeld 2001; Heinz Brüggemann, Architekturen des Augenblicks: Raum-Bilder und Bild-Räume einer urbanen Moderne in Literatur, Kunst und Architektur des 20. Jahrhunderts, Hannover 2002; Heinz Brüggemann, Das andere Fenster: Einblicke in Häuser und Menschen, zur Literaturgeschichte einer urbanen Wahrnehmungsform, Frankfurt am Main 1989; Christian W. Thomsen, Literarchitektur: Wechselwirkungen zwischen Architektur, Literatur und Kunst im 20. Jahrhundert, Köln 1989; Brigitte Stuhlmacher, Berliner Häuser in modernen Dramen, Exempel: Hermann Sudermann und Gerhart Hauptmann, in: Peter Wruck (Hg.), Literarisches Leben in Berlin 1871-1933, Bd. 1, Berlin 1987, S. 204-254; Hans Bänziger, Schloß – Haus – Bau, Studien zu einem literarischem Motivkomplex von der deutschen Klassik bis zur Moderne, Bern, München 1983; Michael Andermatt, Haus und Zimmer im Roman, die Genese des erzählten Raumes bei E. Martlitt, Th. Fontane, F. Kafka, Berlin 1987; Naomi Ritter, House and Individual, The House Motif in German Literature of the 19th Century, Stuttgart 1977. Reulecke 1997, S. 21; vgl. dazu auch: Clemens Wischermann, Mythen, Macht und Mängel: Der deutsche Wohnungsmarkt im Urbanisierungsprozeß, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3, 1997, S. 333-503, hier S. 355.

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Einleitung Solchermaßen hinterlässt Die Topographie der Geschlechter 111 auch ihre Spuren in den Traktaten und Zeichnungen der Architekten wie in den Romanen der 20er Jahre, und dennoch soll in der vorliegenden Studie das Augenmerk stärker darauf gelenkt werden, dass der Privatraum, das eigene Zimmer zu einer conditio sine qua non des Lebens beider Geschlechter avanciert: wie an der Schwelle um 1800 scheint sich ein neues Ideal herauszubilden, dabei geht es aber nicht mehr um das traute Heim der Familie, um einen familiären Rückzugsort, sondern um den individuellen Ort für Einzelpersonen, um eine Identitätszelle. Während der Privatraum in der Literaturwissenschaft häufig als Gegenstand der gender-studies verhandelt wird,112 findet sich eine solchermaßen ausgerichtete Einschränkung in der Kunstwissenschaft eher weniger. Selbstverständlich ist auch hier der Privatraum unter dem Aspekt von gender analysiert worden,113 daneben aber wird der Wohndiskurs auch für sich und als neues Phänomen der 20er Jahre diskutiert, sei es in Andreas K. Vetters Monographie über Die Befreiung des Wohnens114 oder in J. Christoph Bürkles Wohnhäuser der klassischen Moderne,115 sei es in Beatriz Colominas Studie über Privacy and Publicity, Modern Architecture as Mass Media116 und Gert Kählers Wohnung und Stadt117

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Sigrid Weigel, Topographien der Geschlechter: Kulturgeschichtliche Studien zur Literatur, Reinbek 1990. Susanne Hochreiter, Franz Kafka: Raum und Geschlecht, Würzburg 2007; Michaela Krug, Auf der Suche nach dem eigenen Raum: Topographie des Weiblichen im Roman von Autorinnen um 1800, Würzburg 2004. Regine Prange, Das Interieur als „Frauenzimmer“: zur modernen Bildgeschichte des weiblichen Aktes im Innenraum, in: Kritische Berichte, 23, 1995, 3, S. 43-70; Anne-Katrin Rossberg, Zur Kennzeichnung von Weiblichkeit und Männlichkeit im Interieur, in: Bischoff/Threuter 1999, S. 5868; Beate Söntgen, Frauenräume – Männerträume: Interieur und Weiblichkeit im 19. Jahrhundert, in: Sabine Schulze (Hg.), Innenleben: Die Kunst des Interieurs, Ostfildern 1998, S. 203-211. Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000. J. Christoph Bürkle, Wohnhäuser der klassischen Moderne, Stuttgart 1994. Beatriz Colomina, Privacy and publicity: modern architecture as mass media, Cambridge, Massachusetts u.a. 1996 (1994). Gert Kähler, Wohnung und Stadt, Modelle sozialen Wohnens der zwanziger Jahre Hamburg Frankfurt Wien, Braunschweig, Wiesbaden 1985. Vgl. auch: K. Michael Hays, Modernism and the posthumanist subject: the architecture of Hannes Meyer and Ludwig Hilberseimer, Massachusetts 1992.

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Poetik des Privatraums oder Doris Weigels Die Einraumwohnung als räumliches Manifest der Moderne: Untersuchungen zum Innenraum der dreißiger Jahre.118

Sachlichkeitsdebatte und Wohndiskurs In Alfred Döblins Bekenntnis zum Naturalismus (1920), Egon Erwin Kischs Vorwort zum Rasenden Reporter (1924) oder Erik Regers Aufsatz über Die Erneuerung des Menschen durch den technischen Geist (1928) werden in scharfer Abgrenzung zum Expressionismus119 neue Schreibweisen diskutiert, die, wenn sie auch kein einheitliches Programm formieren, so doch als gemeinsames Ziel versuchen, sich der empirischen Wirklichkeit der Weimarer Republik zuzuwenden und den Alltag der Masse möglichst realitätsnah widerzugeben. Die Schreibweisen, die dafür eingesetzt werden, bedienen sich einer journalistischen Praxis, insbesondere der sachlichen Berichterstattung und Montage von Dokumentarmaterial, streben eine ‚Vivisektion der Zeit‘120 und die präzise Detailanalyse an. Ein Verfahren, dem Walter Benjamin einen „rüden Fakten- und Reportierkram“121 vorwerfen wird. Die literarische Sachlichkeitsdebatte verweist, wie Sabina Becker dargelegt hat, auf Debatten im Deutschen Werkbund, auf Adolf Loos und den Sturm-Kreis, dagegen lassen sich implizite oder explizite Bezüge zum speziellen Wohndiskurs der 20er Jahre kaum nachweisen. Wenn Reger zur Verdeutlichung des ‚präzisen Verfahrens‘ der neuen Literaten auf Argumente der aktuellen Architekturdebatte zurückgreift und den neuen Kunstansatz mit folgenden Worten verteidigt: Präzision ist nicht ‚schön‘. Wir wollen diese Tatsache nicht verschleiern. Wir wollen dem alten Menschen, der einstmals daranging, die Maschinen mit goti-

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Doris Weigel, Die Einraumwohnung als räumliches Manifest der Moderne: Untersuchungen zum Innenraum der dreißiger Jahre, Schliengen 1996. Zu den Verbindungslinien zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit vgl. Becker 2000, 1, S. 99f; Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Expressionismus und Neue Sachlichkeit (anlässlich der Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt am Main, 15. April bis 7. August 1994), Stuttgart 1994. Reger 1932, S.7. In seinem dem Roman vorangestellten Wegweiser stellt Reger dem Leser anheim, „das Wort ‚Roman‘ [...] durch ‚Vivisektion der Zeit‘ zu ersetzen.“ Walter Benjamin, Politisierung der Intelligenz, zu S. Kracauers ‚Die Angestellten‘, in: Die Gesellschaft 7 (1930), Bd. 1, S. 473-477, in: Becker 2000, 2, S. 347-349, hier S. 348.

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Einleitung schen Architektur- und Ornamentformen zu ‚verschönern‘ [...] keine Eselsbrücken bauen,122

und fortfährt, dass es die Aufgabe der Literaten sei, den Menschen zu erneuern: Die Versklavung des Menschen durch die Maschine, die seelische Verkümmerung durch die modernen technischen Arbeitsmethoden – Phrasen, Phrasen, Phrasen. Entsprungen aus der oberflächlichen Anschauung [...] von Schwätzern, die [...] diese Kunst als ‚Automatisierung‘ des Menschen verdächtig machen möchten,123

dann erinnert das Argumentationsmuster zwar an Le Corbusiers Worte in Vers une architecture, hier spricht er von der ‚Wohnmaschine‘ in eben demselben Sinn: sie sei nicht zur Beherrschung des Menschen da, sondern diene diesem als Werkzeug.124 Fruchtbar aber werden diese Parallelen erst bei der Analyse der Romane selbst. Offensichtlich aber sind die Autoren sensibel für den Wohndiskurs der 20er Jahre und beteiligen sich an einer gemeinsamen, funktionalistischen Ästhetik: der Wohnmaschine auf der einen Seite steht die Gebrauchsliteratur auf der anderen Seite gegenüber. Beiden Erscheinungen erklärt Joseph Roth in seinem prominenten Abgesang auf die Literatur der Neuen Sachlichkeit, der zugleich auch eine Bankrotterklärung des Neuen Wohnens ist, das Ende: wie das moderne, hygienische Haus, in dem er [der Leser] wohnt [...] vor lauter Licht, Luft, Sonne und Gesundheit und blendender Weiße eher ein Luftbad ist, eine Schießstätte, ein Tummelplatz, ein Rekonvaleszentenheim – alles, nur kein Wohnhaus –, so ist das, was er für Literatur hält: Memoirenwerk, Dokument, Zeugnis, privates Gedächtnis, Leitfaden für ‚moderne Probleme‘ – alles, alles, nur keine Kunst.125

Aber auch umgekehrt bedienen sich die Architekten zur Verdeutlichung ihrer Position literarischer Beschreibungen, so beispielsweise Paul Schmitthenner, der in Abgrenzung zum Neuen Bauen seine Vorbilder in der Literatur des 19. Jahrhunderts sucht. In der Erläuterung eines Innenhofs an seinem Haus mit den gemauerten Gärten ist zu lesen:

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Erik Reger, Die Erneuerung des Menschen durch den technischen Geist oder: Das genau gebohrte Loch, in: Der Scheinwerfer 2 (1928), Nr.2, S.911, in: Becker 2000, 2, S. 87-89, hier S. 87. Ebd. S. 88. Le Corbusier 2001 (1922), S. 99: „Der Entwurf“ der alten „Häuser läßt den Menschen unberücksichtigt und entspricht einem Möbellager.“ Roth, Werke 3, 1991 (1930), S. 164.

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Poetik des Privatraums Aus roten Sandsteinplatten mit breiten Grasfugen ist der Boden gemacht, eine spinnendünne Decke aus Kupferdraht ist über den Raum gespannt, in zwei oder drei Jahren ist ein Rebdach daraus geworden und zum Überfluß springt ein kleiner dünner Wasserstrahl in ein Steinbecken, das eben mit dem Plattenboden liegt. Dem Rationalisten läuft es kalt über den Rücken. Das erinnert ihn denn doch zu sehr an Eichendorff oder gar an Gottfried Keller, falls er den Anfang des Grünen Heinrich kennen sollte: ‚das Höfchen, das die Heimat umschließt‘.126

Auch wenn Le Corbusier selbst nicht auf Stifters Nachsommer angespielt hat, so ist davon auszugehen, dass zumindest sein Übersetzter von 1926, der Kunsthistoriker Hans Hildebrandt, von der Lust der traditionalistischen Moderne an dem darin geschilderten Rosenhaus127 wusste. Die Übertragung eines „poème de l’été de la Saint-Martin“128 in „Nachsommergedicht“ als Metapher für das endlich errichtete Eigenheim erscheint als geradezu kongenial: Wenn dann die Stunde gekommen ist, in der damit begonnen wird, dieses Märchenhaus zu bauen, dann ist das jedenfalls nicht die Stunde des Maurers oder Bauführers, es ist die Stunde, in der jeder Mensch zumindest ein Gedicht in seinem Leben macht. Deshalb haben wir seit nunmehr vierzig Jahren in unseren Städten und Vorstädten keine Häuser, sondern Gedichte, Nachsommergedichte; denn ein Haus ist ja die Krönung des Lebens ... Es entsteht in genau dem Augenblick, in dem man alt genug ist und vom Leben zermürbt, um das Opfer von Rheumatismus und Tod zu werden ... und das Opfer aller alberner Ideen.129

Um die Vorstellungen der Architekten vom Privatraum und dessen Bewohnern zu konkretisieren, stehen im Zentrum der vorliegenden Studie Le Corbusiers Vers une architecture (1922, dt. 1926), Bruno Tauts Publikation von 1924 (5., erw. Aufl. 1928) Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin und Sigfried Giedions Taschenbuch Befreites Wohnen (1929). Ähnlich wie Reger – so ist zu zeigen – versteht sich nämlich gerade der Architekt als Konstrukteur einer neuen Gesellschaft: „Baukunst oder Revolution. Die Revolution lässt sich vermeiden“,130 formuliert Le Corbusier am Ende seine Traktats. Unausgesprochen bleibt freilich in dieser exclamatio – die implizit die sogenannte ‚traditionsverbundene‘, ‚heimelige‘, ‚gemütliche‘ und 126

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Paul Schmitthenner, Baugestaltung, Folge 1, Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932, S. 33; vgl. zu dieser Strömung und ihren Vorbildern das Kapitel zu Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? Zum Verhältnis der traditionalistischen Moderne zu Adalbert Stifters Rosenhaus siehe ausführlich das Kapitel zu Hans Falladas Kleiner Mann – was nun? sowie: Nerdinger 2006, S. 242-246. Le Corbusier, Vers une architecture, Paris 1923, S. 197. Le Corbusier 2001 (1922), S. 174. Le Corbusier 2001 (1922), S. 215.

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Einleitung ‚heimatverbundene‘ Architektur als gesellschaftlich gefährlich brandmarkt – die eigene Traditionsverbundenheit, denn mit dieser Verknüpfung von Wohnraum und Revolution schreiben auch die Architekten des Neuen Bauens weiter an den Idealen zahlreicher reformerischer und philanthropischer Wohnprojekte ebenso wie an der Utopie der Gartenstädte des 19. Jahrhunderts. Immer wieder wird es also auch um die verschwiegenen Momente der modernen Architektur gehen, um die Traditionsverbundenheit des Wohndiskurses der 20er Jahre: sei es, dass die Geschlechterrollen und damit auch die familiären Strukturen unangetastet bleiben, sei es, dass die Ästhetik der Wohnkörper auf Klassik oder Biedermeier verweisen. Der Wohndiskurs wird in den 20er Jahren aber nicht allein auf textueller Ebene geführt, im Sinne der diskursiven Praxis bestimmt der Entwurf und die Errichtung von Musterwohnungen und -siedlungen die Debatte um das richtige Wohnen gleichermaßen. So werden die Zeichnungen und Entwürfe als ergänzende Quellen immer wieder einbezogen. Besonderes Augenmerk wird dabei auf eine neue Entwurfsmethode gelegt, die ihren Ausgangspunkt im englischen Cottagebau hat und das Innenleben der Häuser, die innerhäuslichen Funktionen zum Ausgangspunkt der Planung macht.131 Bis zu diesem Zeitpunkt muss die Bewegung von außen nach innen unter Berücksichtigung der städtebaulichen Anlage bzw. der gesellschaftlichen Funktionen als dominantes Vorgehen bei der Wohnhausplanung angesehen werden: „Ein übergreifendes Merkmal der Wohnbebauung [...] war die Dominanz des Öffentlichen über das Private“, hält Gert Kähler fest.132 Dagegen zeitigt die Entwurfspraxis der 20er Jahre den Versuch, die Bewohner von den öffentlichgesellschaftlichen Aufgaben in ihren eigenen vier Wänden zu befreien, die Bedeutung des Privatraums zu erhöhen. Auch wenn die Obdachlosigkeit der Moderne ihre metaphysische Bedeutung nicht einbüßt, sollen in der vorliegenden Studie die Aspekte des Wohnens und des Privatraums im Zentrum stehen – diese werden parallel zum Gedanken einer geistigen Obdachlosigkeit, diesen differenzierend und vor schlagwortartiger Routine bewahrend, an Bedeutung gewinnen.

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Vgl. dazu Hermann Muthesius’ Publikationen zur englischen Baukunst: Hermann Muthesius, Das englische Haus: Entwicklung, Bedingungen, Anlage, Aufbau, Einrichtungen und Innenraum, Berlin 1999 (1908/1910/ 1911); vgl. auch Gerhard Bott (Hg.), Von Morris zum Bauhaus, eine Kunst gegründet auf Einfachheit, Hanau 1977. Kähler 2000 (1996), S. 312.

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METHODISCHE ÜBERLEGUNGEN Die Disposition meines Projekts, die Romane der Neuen Sachlichkeit aus ihrer literarästhetischen Isolation zu lösen und in ihrem architekturhistorischen Kontext zu betrachten, verfolgt eine kulturwissenschaftliche Absicht, reiht sich in eine Tradition, die Stephen Greenblatt als Poetik der Kultur beschrieben hat.1 In diesem Sinne soll auch der Titel – Poetik des Privatraums – als Hinweis auf das Anliegen verstanden werden, die neusachlichen Texte als gesellschaftlich-kulturelle Artefakte zu begreifen, deren Poetik immer auch als eingebunden in ein umfassendes, hier architekturhistorisches Verweisungsgefüge zu verstehen ist. Ansätze der Kultursemiotik bzw. des New Historicism und der darin zur Anwendung kommenden semiotischen und strukturalen Verfahrensanalyse dienen mir als methodische Basis.2 Sei es, dass in dem kontextorientierten New Historicism der Einzeltext als vernetztes Gebilde untersucht wird, sei es, dass mithilfe des close reading Brüche und Ausgrenzungen in den Textstrukturen aufgedeckt werden: immer interessieren die literarischen Texte in ihren Interaktionen mit anderen Texten und kulturellen Praktiken, immer gilt es, danach zu fragen, wie das „Verhalten der Mitglieder einer Gesellschaft durch ihre Kultur“ bestimmt ist und wie umgekehrt „eine Gesellschaft ihre Kultur bestimmt.“3 In diesem Sinne wird zu untersuchen sein, wie die Subjektentwürfe der Romane durch ihr Wohnumfeld und den Wohndiskurs determiniert sind und wie dieser Diskurs durch literarische Bilder vom Wohnen und den Konstruktionen des Subjekts geprägt ist. Für die neusachliche Literatur gilt es, den architektonischen Wohndiskurs aber nicht nur im Hinblick auf die Subjektkonstruktionen fruchtbar zu machen, sondern auch in Bezug auf das Schreibverfahren.

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Stephen Greenblatt, Towards a Poetics of Culture, in: Harold Aram Veeser (Hg.), The New Historicism, New York 1989, S. 1-14. Eine Verbindung beider Ansätze liegt nahe, da sich ihre Erkenntnisinteressen überschneiden, so Moritz Baßler, New Historicism, in: Ralf Schnell (Hg.), Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, Stuttgart, Weimar 2000, S. 388. Posner 1991, S. 55.

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Poetik des Privatraums Während Harold Bloom dem kulturwissenschaftlichen Verfahren generell eine „Balkanization of literary studies“4 vorwirft und den Sonderstatus der Literatur schwinden sieht, wird meine Studie aufzeigen, dass in einem solchen Ansatz das spezifisch Literarische nicht vernachlässigt werden muss, die eigenen Strukturregeln möglicherweise umso prägnanter zum Vorschein treten, wenn sie parallel bzw. kontrastierend betrachtet werden.5 Der kulturwissenschaftliche Blick des Forschungsprojekts soll den spezifisch literarischen Beitrag zum Wohndiskurs der 20er Jahre klären, ohne eine Abhängigkeit des einen vom anderen Diskurs bzw. der einen von der anderen ‚Kunst‘ zu proklamieren oder gar einen späten paragone auszurufen. Vielmehr geht es im Sinne Oskar Walzels noch immer um eine ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘. Dennoch stellt sich vor jeder kulturwissenschaftlichen Untersuchung die Frage, inwiefern es für die Literaturwissenschaft interessant sein kann, sich mit dem Kontext zu befassen, in diesem Fall sich mit der Architektur bzw. allgemeiner ausgedrückt mit dem Raum auseinanderzusetzen. Die Proklamation eines topographical bzw. eines spatial turn 6 lässt das ‚Warum‘ häufig vergessen.

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Harold Bloom, The Western Canon: the books and the schools of the ages. New York u.a. 1994, S. 517.; vgl. dazu auch: Laurenz Volkmann, New Historicism, in: Ansgar Nünning (Hg.), Metzler Lexikon Literatur- und Kulturtheorie, Ansätze-Personen-Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 1998, S. 403. In diesem Sinne erläutert Alan Liu das Verfahren des New Historicism als analog zu der von Wölfflin in der Kunstgeschichte eingeführten doppelten Diaprojektion; Alan Liu, Die Macht des Formalismus: Der New Historicism, in: Moritz Baßler (Hg.), New Historicism, Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt am Main 1995, S. 107. So beispielsweise Sigrid Weigel, Zum ‚topographical turn‘, Kartographie, Topographie und Raumkonzepte in den Kulturwissenschaften, in: KulturPoetik, Bd. 2, Heft 2, 2002, S. 151-166; vgl. auch: Texte zur Kunst, September 2002, 12. Jahrgang, Heft 47: Raum; Stephan Günzel und Jörg Dünne (Hg.), Raumtheorie, Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2006; Doris Bachmann-Medick, Spatial Turn, in: dies.: Cultural Turns, Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284-329.

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Methodische Überlegungen

Die Bedeutung des spatial turn für eine Poetik des Privatraums Privatraum s RAUM UND LITERATUR IN DER POSTMODERNE Seit den späten sechziger, frühen siebziger Jahren ist mit den Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten eine Abwendung von der Kategorie der Zeit zu verzeichnen, ein Wechsel, der zugleich die damit zusammenhängenden idealistisch-aufklärerischen Konzepte von „grand recit“ (Lyotard) und Subjekt problematisiert.7 An die Stelle der Zeit scheint dabei die Kategorie des Raumes gerückt zu sein, Frederic Jameson spricht von ihr als dem Schlüssel zur Postmoderne8 und Michel Foucault bezeichnet gar das 20. Jahrhundert als „Epoche des Raumes. Wir sind in der Epoche des Simultanen, wir sind in der Epoche der Juxtaposition, in der Epoche des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander.“9 Die Promotion des Raumes speziell in den Literaturwissenschaften mag dabei nicht sonderlich verwundern, wenn man Lessings Laokoon-Schrift als Meilenstein der zeichentheoretischen Analyse von Literatur betrachtet, einen Meilenstein, der die Literatur als Zeitkunst zu definieren versucht und sie der Malerei als Raumkunst gegenüberstellt. Die Kategorie des Raumes galt damit als literaturfremd und eine Analyse des literarischen Raumes per definitionem als fruchtlos. Lessings Determination hat spätestens im vergangenen Jahrhundert zu Gegenpositionen herausgefordert, der extensiven Beschäftigung mit der zeitlichen Dimension von Texten folgt nun deren räumliche Analyse. Aus diesem Grund kommt auch kein Literaturwissenschaftler, der sich mit dem literarischen Raum auseinandersetzt, umhin, Lessing zumindest zu erwähnen – auch Joseph Frank, der als einer der ersten gilt, die sich dem Raum in der modernen Literatur gewidmet haben, wählt ihn als Ausgangspunkt und Gegenpart.10 7

Erika Fischer-Lichte, The Shift of the Paradigm: From Time to Space? Introduction, in: Roger Bauer und Douwe Fokkema, Proceedings of the XIIth Congress of the International Comparative Literature Association (München 1988), München 1990, S. 15. 8 Fredric Jameson, Postmodernism or The Cultural Logic of Late Capitalism, Durham 1991, S. xvi. 9 Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute, Leipzig 1993 (1967), 34-46 (erstmals deutsch in: H.-W. Krämer und J.P. Kleihues (Hg.), Idee-Prozeß-Ergebnis, Berlin 1987, S. 337-340.). 10 Joseph Frank, Spatial Form in Modern Literature. In: Sewanee Review 53, Spring, Summer, Autumn 1945 (Nachdruck in: ders., The Idea of Spatial Form, New Brunswick, London 1991, S. 31-67).

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Poetik des Privatraums Dass der Raum aber auch außerhalb der Literaturwissenschaft immer mehr Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, mag unter anderem daran liegen, dass die Postmoderne besonders augenscheinlich in der Architektur – der Raumkunst schlechthin, auch wenn Lessing sie unbeachtet ließ11 – ausgerufen wurde: „Die moderne Architektur starb in St. Louis/Missouri am 15. Juli 1972 um 15.32, als die berüchtigte Siedlung Pruitt-Igoe oder vielmehr einige ihrer Hochhäuser den endgültigen Gnadenstoß durch Dynamit erhielten“12, so leitet Charles Jencks seine Überlegungen zur Sprache der postmodernen Architektur ein. So konkret wie in keiner anderen Disziplin stand hier die Neukonzeption des Raumes zur Debatte. Schließlich mag die Konjunktur des Raumbegriffs aber auch deshalb nicht verwundern, weil die räumliche Orientierung eine Grundkonstante menschlicher Kultur bildet. Mit Juri Lotman könnte man sagen: „Every culture begins by deviding the world into ‚its own‘ internal space and ‚their‘ external space.“13 Das heißt, dass der Mensch bei der Semiotisierung (also der Bezeichnung, bei der Benennung) der Welt stets Grenzen zieht und damit zugleich räumliche Einheiten generiert. In Anbetracht der Omnipräsenz des Raumes gilt es klarzustellen, was mit dem Begriff literarischer Raum bzw. Privatraum überhaupt bezeichnet werden soll, denn obwohl zahlreiche Studien zur Kategorie des Raumes von Philosophen14,

11 Interessanterweise verliert Lessing in seiner Laokoon-Schrift kein Wort über die Architektur, sondern betrachtet die Malerei als vorbildliche Raumkunst. Darauf verweist u.a. Schöttker 2002, S. 494-508. In Lessings theologischen Schriften findet sich allerdings eine Parabel, die sich mit der Architektur zumindest metaphorisch auseinandersetzt, Gotthold Ephraim Lessing, Eine Parabel, in: ders., Werke, Bd. 8: Theologiekritische und philosophische Schriften III, hrsg. von Herbert G. Göpfert, München 1979 (1778), S. 117-128. 12 Charles Jencks, Die Sprache der postmodernen Architektur, Stuttgart 1978 (1977), S. 9. Das Versagen der modernen Architektur begreift Jencks als Versagen ihrer theoretischen Basis: Aufklärung und Rationalismus (ebd. S. 10). 13 Juri M. Lotman, Universe of the Mind, a Semiotic Theory of Culture, London, New York 1990, S. 131. 14 Henri Lefebvre, Production de l’espace, Paris 1974. Michel Foucault, Andere Räume, in: Karlheinz Barck et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute, Leipzig 1993 (1967), 34-46 (erstmals deutsch in: H.-W. Krämer und J.P. Kleihues (Hg.), Idee-Prozeß-Ergebnis, Berlin 1987, S. 337-340). Michel de Certeau, Praktiken im Raum, in: ders.: Kunst des Handelns, Berlin 1988 (1980), S. 179-241; Martin Heidegger, Die Kunst und der Raum, St. Gallen 1969; Theodor W. Adorno, Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt am Main 1974 (1933).

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Methodische Überlegungen Phänomenologen15, Ethnologen16 und Soziologen, Literatur-17 und Kunstwissenschaftlern18 veröffentlicht wurden, ist der Mehrzahl dieser Publikationen gemein, weder über einen einheitlichen Raumbegriff zu verfügen, noch ein regelrechtes Instrumentarium zur Analyse des literarischen Raumes bereitzustellen.

DER LITERARISCHE RAUM Mindestens drei Formen literarischer Raumtypen lassen sich unterscheiden: Auf außerliterarischer Ebene kann die Materialität des Textes als spezielle Form der Gestaltung von Räumlichkeit bezeichnet werden, das heißt, das Buch ist als Objekt räumlich (er)fassbar (materieller Raum (1))– ein Aspekt (schriftlicher) Literatur, der sicherlich in der visuellen Poesie am stärksten betont wurde für die vorliegende Untersuchung aber keine Rolle spielen wird, da er in der Neuen Sachlichkeit keine nennenswerte Ausprägung erhalten hat. Daneben finden sich als Analysegegenstand zwei (inner)literarische Raumtypen, die parallel zur erzähltheoretischen Differenzierung zwischen histoire und discours zu verstehen sind: nämlich der auf der Ebene der histoire angesiedelte erzählte Raum (2) und der auf der Ebene des discours vorkommende textuelle Raum (3). Eine Analyse zum literarischen Raum kann demnach zum einen eine reine Motivstudie sein, zum anderen eine Strukturuntersuchung anstreben oder schließlich eine Kombination darstellen.

15 Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1974; ders. Das Sichtbare und das Unsichtbare. München 1986; Gaston Bachelard, Poetik des Raumes, Frankfurt am Main 1987 (1957). 16 Marc Augé, Vorüberlegungen zu einer Ethnologie der Einsamkeit, Frankfurt am Main 1994 (1992). 17 Frank 1991 (1945). S. 31-67; Jeffrey R. Smitten und Ann Daghistany, Spatial Form in Narrative, Ithaca, London 1981; W. J. Mitchell, Spatial Form in Literature, toward an general Theory, in: Critical Inquiry 7, 1980, S. 539567; Gérard Genette, La littérature et l’espace, in: ders., Figures II, Paris 1969; Bruno Hillebrand, Poetischer, philosophischer, mathematischer Raum, in: Alexander Ritter (Hg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975 (1971); Bauer/Fokkema 1990; Elisabeth Bronfen, Der literarische Raum: eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage, Tübingen 1986; Ursula Reidel-Schrewe, Die Raumstruktur des narrativen Textes: Thomas Mann, Der Zauberberg, Würzburg 1992. 18 Texte zur Kunst, September 2002, 12. Jahrgang, Heft 47: Raum; Das Abenteuer der Ideen: Architektur und Philosophie seit der Industriellen Revolution, eine Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie der Internationalen Bauausstellung, Berlin 1987.

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Poetik des Privatraums In Anlehnung an Elisabeth Bronfens Definition möchte ich den erzählten Raum als einerseits den physisch begehbaren Raum bezeichnen19 – damit meine ich den natürlichen Raum (die Landschaft) oder den künstlichen Raum (die Architektur) –, andererseits als den mentalen Raum begreifen, der nicht als Schauplatz der Handlung fungiert, sondern als Idee, Vorstellung oder Traum der Figuren inszeniert ist. Beide sind als erzählte Räume in den neusachlichen Texten beschrieben und theoretisch zu unterscheiden. Da mich aber vor allem die neuen Konstruktionen und insofern auch die Utopien interessieren, wird diese Unterscheidung des erzählten Raumes in einerseits physischen andererseits mentalen Raum für die konkrete Analyse irrelevant bleiben, ihre Ununterscheidbarkeit im neusachlichen Roman wird vielmehr zu untersuchen sein. Neben dem erzählten Raum auf der Ebene der histoire kann auch von einem textuellen Raum die Rede sein: jene verfahrenstechnischen Auffälligkeiten, die eine von narrativer Chronologie unabhängige Bedeutungsdimension stiften können, wie Bronfen zu verstehen gibt,20 sind als textueller Raum zu bezeichnen. Anders ausgedrückt: Auf der Ebene des discours lassen sich für das Verständnis der Literatur Strukturen aufdecken, die mithilfe der zeitlichen Kategorie möglicherweise nicht ausreichend beschreibbar sind. Im Zentrum einer solchen Analyse können Fragen nach dem Modus oder der Fokalisierung des Erzählten stehen, ja selbst die sogenannte „zeitliche Ordnung“21 eines Textes könnte man als räumlich begreifen, denn die Frage danach, in welcher Reihenfolge, wie lange und wie oft etwas erzählt wird (also die Frage nach Analepsen und Prolepsen, zeitdeckendem oder zeitraffendem, singulativem oder repetitivem Erzählen), ist letztlich auch eine Frage nach der räumlichen Ordnung, nach räumlichen Mustern: nach Wiederholungen und seriellen Prinzipien. Joseph Frank betonte vor allem diesen repetitiven Aspekt, als er das Leitmotiv als Ausweis für eine räumliche Textualität von Literatur interpretierte.22 Zu guter Letzt geben selbst die Analysen über extra- und intradiegetisches, homound heterodiegetisches Erzählen Aufschluss über räumliche Struk-

19 Elisabeth Bronfen, Der literarische Raum: eine Untersuchung am Beispiel von Dorothy M. Richardsons Romanzyklus Pilgrimage, Tübingen 1986, S. 26/27. 20 Abgesehen von dieser allgemeinen Definition des textuellen Raumes verstehe ich unter diesem (wie auch unter dem erzählten Raum) anderes als Elisabeth Bronfen, vgl. dazu die folgenden Ausführungen. 21 So die Einteilung bei: Matias Martinez, Michael Scheffel, Einführung in die Erzähltheorie, München 1999. 22 Frank, 1991 (1945).

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Methodische Überlegungen turen innerhalb des Textes: über den Ort des Erzählens und über die Stellung des Erzählers zum Erzählten. Offenbar lassen sich die Mehrzahl der allgemein auf der Ebene des discours untersuchten Aspekte zugleich als Beschreibungen der räumlichen Struktur von Texten begreifen. Das würde bedeuten, dass zur Untersuchung des literarischen Raumes keine neuen Analyseinstrumente notwendig wären. Dass mit einer neuen Perspektive auf die Texte bei der konkreten literarischen Analyse tatsächlich aber auch neue Erkenntnisse über die Romane der Neuen Sachlichkeit zutage gefördert werden, gilt es in der vorliegenden Studie vorzuführen. Erzähltheoretisch jedoch ist festzuhalten, dass man selbst auf der Ebene des discours von einer Omnipräsenz des Raumes reden könnte, weshalb sich die Frage stellt, ob mit dem Wechsel von der Kategorie der Zeit zu jener des Raumes für die Erzähltheorie überhaupt Neues zu gewinnen, ja ob die Gegenüberstellung von Raum und Zeit, wie sie schon Lessing betrieben hat, überhaupt fruchtbar sei. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird in den Naturwissenschaften ein anderer Weg eingeschlagen: Raum und Zeit spielen als voneinander unabhängige Größen keine Rolle mehr. 1908 schreibt der Mathematiker Hermann Minkowski: „Von nun an sind Raum allein und Zeit allein verdammt, in Schattengebilden zu verblassen, und nur eine Union beider wird ihre eigene Existenz bewahren.“23 Die Analyse der neusachlichen Texte unterstreicht, dass die Separation von Raum und Zeit auch für die literarische Moderne nicht mehr aufrechtzuerhalten ist und deshalb genau genommen nicht von literarischen Räumen die Rede sein sollte, sondern von raum-zeitlichen Konstruktionen. In dem von Erika Fischer-Lichte sogenannten „shift of the paradigm: from time to space?“24 – dem ich mich hier anschließen möchte – soll also weniger einer Ästhetik des Raumes (im Kontrast zu einer Ästhetik der Zeit) das Wort geredet, sondern vielmehr eine Ästhetik der Unteilbarkeit von Raum und Zeit etabliert werden.25 Es geht um ein neues Verhältnis von Raum und Zeit. Erst die Idee der Raumzeit führt die Literaturtheorie in eine terra incognita26 und könnte der Erzähltheorie neue Aspekte hinzufügen. Im Folgenden soll diese Kategorie in ihrem historischen Kontext betrachtet werden. Eine detaillierte Konkretisierung erfährt sie jedoch erst in den Analysen der literarischen Texte, die die Relevanz der Raumzeit für die Neue Sachlichkeit und damit auch für die literarische Moderne vorführen. 23 Zitiert nach: Sigfried Giedion, Raum, Zeit, Architektur: Die Entstehung einer neuen Tradition, Zürich, München 1989 (1941) (geschr. 1938/39), S. 284. 24 Erika Fischer-Lichte, The Shift of the Paradigm: From Time to Space? Introduction, in: Bauer/Fokkema, 1990, S. 15. 25 Ebd. 26 Ebd. S. 18.

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Poetik des Privatraums

DIE RAUM-ZEIT BEI MICHAIL BACHTIN, SIGFRIED GIEDION UND IN DER POSTMODERNE Ausgangspunkt der Erkundung der Raumzeit sollen zwei Texte aus den späten 30er/frühen 40er Jahren des 20. Jahrhunderts sein, die diese Kategorie für die Literatur- sowie die Architekturwissenschaft etablierten: Michail Bachtins Studie über Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman27 und Sigfried Giedions Abhandlung zu Raum, Zeit, Architektur. Die Entstehung einer neuen Tradition.28 Während Erstgenannter die Kategorie unter dem Begriff des Chronotopos fasst und diesen als eine Konstante der Literaturgeschichte beschreibt, entwickelt Letzterer die Raumzeit anhand der Architektur der 20er Jahre. Beide Autoren beziehen sich explizit auf Mathematik und Physik, denen sie Begriff und Idee entlehnen: Den grundlegenden wechselseitigen Zusammenhang der in der Literatur künstlerisch erfaßten Zeit-und-Raum-Beziehungen wollen wir als Chronotopos („Raumzeit“ müßte die wörtliche Übersetzung lauten) bezeichnen. Dieser Terminus wird in der mathematischen Naturwissenschaft verwendet; als man ihn einführte und begründete, stützte man sich dabei auf die Einsteinsche Relativitätstheorie. Der spezielle Sinn, den dieser Terminus innerhalb der Relativitätstheorie hat, ist für uns hier jedoch nicht von Relevanz; wir übertragen ihn auf die Literaturwissenschaft fast (wenn auch nicht ganz) wie eine Metapher. Für uns ist wichtig, daß sich in ihm der untrennbare Zusammenhang von Zeit und Raum (die Zeit als vierte Dimension des Raumes) ausdrückt. Wir verstehen den Chronotopos als Form-Inhalt-Katgeorie der Literatur (den Chronotopos in andern Bereichen der Kultur werden wir hier nicht behandeln).29

Bachtin betont vor allem die „gestalterische Bedeutung“ der Raumzeit30 für die Literatur, nur über diese Kategorie sei die notwendige „Materialisierung der Zeit im Raum“ begreifbar.31 Dabei versteht er unter literarischen Chronotopoi sowohl Motive32 als auch Genres –

27 Michail Bachtin, Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, (= Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik), Frankfurt am Main 1989 (1937/38). 28 Giedion 1989, (1941). 29 Bachtin 1989 (1937/38), S.7. 30 Ebd. S. 200. 31 Ebd. S. 201. 32 Laurenz Volkmann begreift Bachtins Konzept deshalb vor allem als motivgeschichtlich ausgerichtet, wenn er erläutert: „Anhand von ‚Chronotopen‘ (das heißt dem raumzeitlichen Arrangement des Romangeschehens und typischen Motiven wie Narr, Schelm, Schurke oder Idylle) zeigt B[achtin] auf, wie überzeitliche literarische Topoi jeweils spezifische historische Ausprägungen erfahren und in die Episteme einer Epoche eingebettet

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Methodische Überlegungen beide unterliegen bzw. bauen sich aus chronotopischen Strukturen auf. So spricht er von dem „chronotopischen Motiv der Begegnung“33 und dem „bukolischen (Hirtenidyllen-)Chronotopos“34, dem „Chronotopos des Weges“35 oder „Lebenswegs“36, dem „folkloristischen Chronotopos“37 und dem Chronotopos des Ritterromans38, dem „Chronotopos des abenteuerlichen Alltagsromans“39 oder dem „Chronotopos der Krise“40. In seinen 1973 beigefügten Schlussbemerkungen fasst Bachtin diese historisch aufgerollten Chronotopoi nochmals zusammen. Er ist sich dabei bewusst, dass sich „[d]as abstrakte Denken [...] Zeit und Raum jeweils separat vergegenwärtigen kann“, da aber „[i]n der Kunst und Literatur [...] alle Zeit- und Raumbestimmungen untrennbar miteinander verbunden [...]“ sind,41 gilt es dieser Tatsache Rechnung zu tragen: [D]ie Erforschung der zeitlichen und räumlichen Beziehungen in den Werken der Literatur [hat] gerade erst begonnen, wobei zumeist die zeitlichen Beziehungen losgelöst von den notwendigerweise mit ihnen verbundenen räumlichen Beziehungen untersucht wurden, so daß von einem konsequenten chronotopischen Herangehen bisher noch keine Rede sein konnte.42

Es ist deshalb ein wenig inkonsequent, wenn Bachtin nur wenige Seiten vorher Lessing als Gewährsmann herbeizitiert und zu verstehen gibt, dieser habe das „Prinzip der Chronotopie [...] in seinem ‚Laokoon‘ zum erstenmal mit aller Deutlichkeit erschlossen.“43 Tatsächlich bezieht sich Bachtin damit auf eine besondere Form des Chronotopos, die Lessing als literarisch adäquat einstuft, selbst aber nicht als raumzeitliche Gestaltung begreift, sondern als Kunstgriff, der ‚statisches Nebeneinander‘ literarisch überhaupt darstellbar macht und in ein zeitliches Nacheinander auflöst. Bachtin hat an dieser Stelle das Prinzip im Blick, mit der in Homers Ilias die Schönheit Helenas beschrieben wird. Helenas Attraktivität wird literarisch in ihrer Wirkung auf die Mitmenschen geschildert und damit

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sind.“ Laurenz Volkmann, Michail M. Bachtin, in: Metzler Literatur- und Kulturtheorie, 1998, S. 33. Bachtin 1989 (1937/38), S. 24. Ebd. S. 29. Ebd. S. 49. Ebd. S. 61. Ebd. S. 78. Ebd. S. 84ff. Ebd. S. 99. Ebd. S. 198. Ebd. S. 192. Ebd. S. 209. Ebd. S. 201.

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Poetik des Privatraums übersetzt in eine „Anzahl von Bewegungen, in Handlungen“.44 Auf diese Weise vermeidet Homer die Darstellung eines statischen (räumlichen) Gegenstandes bzw. Faktums (Helenas Schönheit) und überführt ihn bzw. es in eine (zeitliche) Handlung (Reaktionen auf die Schönheit). Für die raumzeitlichen Aspekte der Literatur, um die es Bachtin geht, interessiert sich Lessing freilich nicht.45 Bachtins Untersuchungen zur historischen Poetik stellen dergestalt einen literaturgeschichtlichen Überblick mit einer Schatzkammer voller Anregungen dar,46 eine systematische Methode allerdings bieten sie nicht an47 ebenso wenig wie eine Anleitung zur Analyse chronotopischer textueller Strukturen. Das heißt für die vorliegende Studie, dass insbesondere Bachtins allgemeine Beobachtungen und konkrete Analysen zur raumzeitlichen Konzeption Anstoß für eigene Untersuchungen geben können. So etwa der Chronotopos des Schlosses: „Das Schloß ist angefüllt mit [...] historischer Zeit [...], [es] ist der Ort [...] an dem sich in sichtbarer Form die Spuren der Jahrhunderte und der Geschlechter abgelagert haben – in den verschiedenen Teilen seines Baues, im Mobiliar, in den Waffen, in der Ahnengalerie, in den Familienarchiven [...].“48 Gemeinsam mit dem Chronotopos des Empfangssalons – in dem die „Verflechtung des Historischen und Gesellschaftlich-Öffentlichen mit dem Privaten und sogar höchst Privaten, Intimen“49 betrieben wird – fungieren eben solche Orte als Kontrastfolie und Gegenbild im neusachlichen Roman, als Chronotopoi, von denen man sich dezidiert abwendet. Inwiefern Bachtins Überlegungen für die Analyse moderner literarischer Texte fruchtbar gemacht werden können, zeigt auch Uwe Betz anhand des Chronotopos der Schwelle. Bei Bachtin ist dieser Chronotopos verbunden mit anderen Chronotopoi, wie jenem der Treppe, des Vorzimmers oder des Korridors. Betz interpretiert diese

44 Ebd. 45 Nur eine Seite später ist deshalb auch bei Bachtin zu lesen: „Doch obwohl Lessing das Problem der Zeit in der Literatur auf sehr grundsätzliche und produktive Weise aufwirft, ist sein Gesichtspunkt dabei im Grunde ein technisch-formaler (natürlich nicht im formalistischen Sinne). Das Problem der Aneignung der realen Zeit, das heißt das Problem der Aneigung der historischen Wirklichkeit im poetischen Bild, wirft er nicht direkt und unmittelbar auf, obwohl er es in seiner Arbeit berührt“ (Ebd. S. 202). 46 „Inwieweit der von mir vorgeschlagenen Zugang als fundiert und nützlich anzusehen ist, muß die weitere Entwicklung der Literaturwissenschaft erweisen“ (Ebd. S. 209). 47 Uwe Betz, Polyphone Räume und karnevalistisches Erbe: Analysen des Werks Thomas Bernhards auf der Basis Bachtinscher Theoreme, Würzburg 1997. 48 Bachtin 1989 (1937/38), S. 165. 49 Ebd. S. 166.

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Methodische Überlegungen Chronotopoi im Zusammenhang mit dem modernen Subjekt, den er in eben diesem Sinne als Schwellenbewohner begreift. Der Chronotopos der Schwelle wird so zum Ort für bestimmte Diskurskonstellationen, der Aufenthaltsort des Helden der Moderne formuliert dessen Kontur.50 Ein Chronotopos bezeichnet nach Bachtin also den Umstand, dass sich einerseits die Zeit im Raum verdichtet und dadurch überhaupt erst sichtbar wird, andererseits der Raum an Intensität gewinnt und in die Bewegung der Zeit hineingezogen wird: Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert. Bachtin formuliert also bereits, was Karl Schlögel 2003 für die Historie nochmals festhalten möchte:51 Räume und Häuser werden zu materialisierter Geschichte, zu Objekten, an denen sich die Kontur und Konstruktion ihrer Bewohner ablesen lässt. Auf diese Weise bietet Bachtins Konzept des Chronotopos Anknüpfungspunkte für eine Untersuchung literarischer Räume, auch wenn kein einheitliches Konzept zur chronotopischen Analyse von Romanen erarbeitet wurde. Für die vorliegende Studie ist es der Chronotopos des Privatraums, der für die neusachlichen Romane und der darin verhandelten Subjekte als historisch aussagekräftig betrachtet wird. Wenn also von einer terra incognita der Raumzeit die Rede ist, dann muss festgehalten werden, dass diese schon in den 20er Jahren sukzessive betreten und in ersten Ansätzen erforscht wurde. Während Bachtin die Idee des Chronotopos für die Literaturgeschichte fruchtbar machte, diente Sigfried Giedion die Betrachtung des Verhältnisses von Raum und Zeit in der Architektur insbesondere dazu, die Innovationen der modernen Architektur zu beschreiben. Während bei Bachtin die Moderne gar nicht mehr in den Blick gerät, ist es bei Giedion gerade diese, die eine besondere Form der Raumzeit zum Ausdruck bringt. Giedions Ausgangspunkt für seine Betrachtung der Architektur sind die neuen Raumkonzeptionen in der Malerei, die sich von der – seit der Renaissance gültigen – euklidischen Geometrie verabschiedet haben. „Um die wahre Natur des Raums zu erfassen, muss der Beschauer sich selbst in ihm bewegen.“52 Vorbildlich meint Giedion (wie zahlreiche Wissenschaftler vor und nach ihm) diesen Aspekt in der Malerei des Kubismus dargestellt zu sehen:

50 Betz 1997. 51 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit, Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 52 Giedion 1989, (1941), S. 280.

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Poetik des Privatraums Indem er Objekte zerlegte, transparent sah, erfaßte er sie gleichzeitig von allen Seiten, von oben und unten, von innen und außen. Er ging um die Objekte herum und drang in sie ein; so wurden den drei Dimensionen, die den Raum der Renaissance umschrieben und die durch so viele Jahrhunderte das konstituierende Element bildeten, eine vierte angefügt: die Zeit. [...] Die Darstellung von Objekten, die gleichzeitig von verschiedenen Gesichtswinkeln gesehen werden, ist ein Prinzip, das aufs engste mit dem heutigen Leben verwachsen ist: Simultaneität. Es war nicht zufälliges zeitliches Zusammentreffen, daß Einstein seine berühmte ‚Elektrodynamik bewegter Körper‘, 1905, mit einer sorgfältigen Definition der Simultaneität begann.53

Im Hinblick auf Walter Gropius’ Bauhausgebäude in Dessau verdeutlicht Giedion im Folgenden die Konsequenzen dieses neuen Raumverständnisses für die Architektur: Manifestartig erschien hier zum erstenmal in einem großen Komplex die Durchdringung von Innen- und Außenraum, wie in Picassos ‚L’Arlésienne‘ von 1911 bis 1912 [...] mit seiner simultanen Darstellung von Profil und en face eines Gesichtes, wie sie hier in die Architektur übersetzt wurde und gleichfalls mit dem einzigen Blickpunkt brach. Es existierte beim Bauhauskomplex keine bestimmte Frontalansicht. Das Spiel von Transparenz, von Perforation durch Raumbrücken, von verschiedenen, von einzelnen Punkten aus gesehen oft unkontrollierbar sich durchdringenden horizontalen und vertikalen Ebenen, führte zu einer bis dahin ungewohnten Simultaneität, die der raumzeitlichen Konzeption entsprach.54

Für die vorliegende Untersuchung interessant ist der Umstand, dass Giedion die modernen Formen der Architektur kulturgeschichtlich über den Begriff der Raumzeit einzuordnen bemüht ist: die Räume in der Architektur der Moderne erhalten demgemäß eine vierte Dimension, nämlich die der Zeit. Wie auch auf anderen Gebieten der Kultur und des Lebens drücke sich dieser Umstand vor allem im Phänomen der Transparenz, der Durchdringung und Simultaneität aus. Sowohl Bachtin als auch Giedion beziehen sich in ihren Studien nicht nur explizit auf Einstein, sie nehmen für ihr Kunstverständnis auch beide in Anspruch, dass weder Literatur noch Architektur aus dem (kultur)historischen Kontext zu lösen sind – dieser Umstand verbindet die vorliegende Arbeit mit diesen Abhandlungen, denn ungeklärt ist bisher noch die zu Beginn aufgeworfenen Frage, warum es für einen Literaturwissenschaftler interessant sein könnte, sich mit einer anderen Disziplin, konkret der Architektur, zu befassen. Ein solcher Blick kann nur unter einer Prämisse sinnvoll erscheinen, die mein Literaturverständnis betrifft. Ich betrachte Lite53 Ebd. S. 281. 54 Giedion 1989, (1941), S. 311.

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Methodische Überlegungen ratur nicht als gänzlich autonomes Gebilde, sondern als eingebunden in die Kultur ihrer Zeit, das heißt, dass auch die in einer Zeit dominanten Diskurse Spuren in der Literatur hinterlassen. Literatur verarbeitet bestimmte Aspekte der Kultur und Gesellschaft, und da in den 20er Jahren der Wohndiskurs zu den dominanten Diskursen zählte, wurde auch dieser literarisch verwertet. Konkret bedeutet das, dass auf der Ebene der histoire von Wohnräumen die Rede ist. Aber nicht nur solche Parallelisierungen lassen sich aufdecken, auch auf struktureller Ebene – und das ist der entscheidende, weil meist übersehene Aspekt – interagieren literarische Texte und die Entwürfe neuer Wohnungen. Strukturanalogien zeigen uns aber zugleich in einer Gesellschaft dominante Strömungen an, können also das Verständnis einer Epoche vertiefen helfen und neue Aspekte literarischer Texte ans Tageslicht fördern, die mit einer anderen Perspektive auf die Epoche bisher verdeckt geblieben sind. Die hier gewählte Perspektive ist jene der chronotopischen Struktur, und zwar sowohl im Hinblick auf die von den Architekten als auch von den Literaten entworfenen Privat-Räume. Dass es sich dabei nicht um eine beliebige, sondern für die Moderne zentrale Kategorie handelt, verdeutlichen nicht nur Giedion und Bachtin, sondern auch aktuellere Studien, wie jene von Götz Großklaus über Medien-Zeit, Medien-Raum: Zum Wandel der neuzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne aus den Jahren 1975 bis 1995. Seine Untersuchungen beleuchten, was Wissenschaftler und Künstler bereits in den 20er Jahren als ausschlaggebende Impulse für den formalen Wandel der Werke bezeichnet haben: die Begründungen stammen aus der Technik- und Mediengeschichte und beziehen sich auf den Wechsel der Beziehung zwischen Raum und Zeit. Raum und Zeit standen zwar schon immer in einem spezifischen Verhältnis zueinander – und auf der Ebene der Literatur wagte Bachtin einen eben solchermaßen ausgerichteten historischen Überblick – aber die raumzeitliche Wahrnehmung hat sich in der Moderne grundlegend gewandelt. All jene technischen Innovationen des 19. Jahrhunderts wie Zug, Dampfschiff, Auto und Flugzeug sind zugleich Fortbewegungsmittel, die unsere raumzeitliche Wahrnehmung entscheidend verändert haben, ebenso alle medialen Neuerungen: Photographie, Film (später dann Fernsehen und Computer). Während sich Architekten wie Le Corbusier vor allem den verkehrstechnischen Neuerungen zuwandten und diese als vorbildlich für eine moderne Formensprache priesen, sahen sich die Literaten vor allem durch das neue Medium Film herausgefordert. Ingenieursästhetik und filmische Schreibweisen sind die Schlagwörter, mit denen sich diese Tendenzen zusammenfassen lassen und unter denen sie zahlreich analysiert wurden.

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Poetik des Privatraums Die für die vorliegende Untersuchung wichtige und zentrale These von Goßklaus’ Analyse ist jene, die Giedion geltend gemacht hat, dass nämlich im 20. Jahrhundert die Grenzziehung zwischen Raum und Zeit sowohl für die Künste wie auch die Wissenschaften fragwürdig bis irrelevant geworden ist. Großklaus konstatiert eine Verzeitlichung des Raumes, welche die abendländisch so folgenreiche Verräumlichung der Zeit in der Moderne abgelöst habe – die Parallelen zu Giedions Beschreibung des modernen Raumverständnisses im Kubismus sind nicht zu übersehen. Im Gegensatz zu Giedion versteht Großklaus allerdings als Auslöser bzw. Basis dieser Revolution die „Sucht nach Nähe“55, die er vor allem im Hinblick auf die modernen Medien vorzuführen bestrebt ist. Angefangen von den verkehrstechnischen Erfindungen im 19. Jahrhundert bis hin zum Cyberspace: der Effekt all dieser Neuerungen zeige sich darin, Distanzen schwinden zu lassen, Räume zu überbrücken und das Entfernte in ein Nahes zu verwandeln. Großklaus erwähnt treffend, dass sich dadurch auch die Nahräume verändern. Es kommt demnach nicht zu einer einseitigen Aufzehrung des Fernen und Fremden, vielmehr zielen die neuen Medien zugleich auf Intimität und Öffentlichkeit, Nähe und Ferne. Eben diese Gleichzeitigkeit gilt es in den Romanen herauszuarbeiten. Die Schreibverfahren der Nähe sollen das raumzeitliche Konglomerat, das Fernes und Nahes in ein neues Verhältnis zueinander setzt, deutlich machen. Auch Anthony Giddens verweist in seiner Studie Konsequenzen der Moderne darauf, dass das Private und Intime in viel zu großen Zügen gefasst werde, Intimität verschwindet nicht – so ließe sich ergänzen – in den sachlichen Verhaltensweisen des Großstädters, sondern geht vielmehr eine neue Verbindung mit dem Fernen, dem Nicht-Intimen ein. Die oft als narzisstisch und hedonistisch kritisierte Wendung des modernen Subjekts zu sich erweitert Giddens, indem er zu bedenken gibt, dass Nähe und Ferne auf neue Weise legiert werden: die Sorge ums Ich bezieht somit immer auch die Außenwelt mit ein. In eben diesem Sinne begreift Giddens den Prozess der Moderne nicht als kulturelle Fragmentierung oder [...] Auflösung des Subjekts in eine ‚Welt der Zeichen’ ohne Zentrum, sondern [...] der gleichzeitigen Umgestaltung der Subjektivität und der globalen Gesellschaftsorganisation.56

55 Götz Großklaus, Medien-Zeit. Medien-Raum: zum Wandel der raumzeitlichen Wahrnehmung in der Moderne, 2. Aufl., Frankfurt am Main 1997 (1995), S. 62/69/84. 56 Giddens 1996 (1990), S. 218.

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Methodische Überlegungen In seiner soziologischen Studie über die Modernisierungsmechanismen kommt Giddens damit für das hier zu untersuchende Feld des Privatraums und des sich darin konstituierenden Subjekts zu einem ähnlichen Ergebnis wie Großklaus, und für beide ist die bereits bei Giedion und Bachtin genannte Durchdringung von Raum und Zeit, der neue Zwischenbereich von größter Relevanz. In diesem Zwischenbereich wird das moderne Subjekt verortet, wie in den literarischen Analysen nachzuweisen gilt; eine Lokalisierung, die nicht als statische zu begreifen ist. Vielleicht sollte man mit Giddens anstelle von Verortung auch von einer Rückbettung sprechen, die er der modernen Dislozierung gegenüberstellt. Die Entbettungsmechanismen heben soziale Beziehungen [...] aus spezifischen raumzeitlichen Kontexten heraus, doch zur gleichen Zeit geben sie neue Gelegenheiten für die Wiedereingliederung. Das ist ein weiterer Grund, weshalb es verfehlt ist, die moderne Welt als eine [...] aufzufassen, in der der größte Teil des persönlichen Lebens in immer größerem Maße von unpersönlichen Großsystemen verschlungen wird.

Und an dieser Stelle verdeutlicht Giddens diese Ansicht mit einem Bespiel aus der Architektur: Genau dieselben Prozesse, die zur Zerstörung älterer Stadtviertel und ihrer Ersetzung durch [...] Bürohäuser und Wolkenkratzer führen, gestatten [...] die Neuschaffung der örtlichen Umgebung. Oft wird [...] das Bild hoher, unpersönlicher Zusammenballungen von Innenstadtgebäuden als Inbegriff der Moderne hingestellt, doch das ist ein Fehler. Ebenso charakteristisch ist die Schaffung von relativ kleinen und frei gestalteten Örtlichkeiten. Dieselben Verkehrsmittel, die dazu beitragen, die Verbindung zwischen Ort und Verwandtschaft zu lösen, liefern die Möglichkeit zur Rückbettung, indem sie es leicht machen, ‚nahe‘ Verwandte zu besuchen, die weit entfernt wohnen.57

Mit dem Begriff der Rückbettung sucht Giddens demnach die unterbelichteten Aspekte der Moderne in den Blick zu bekommen. Mit einer Wendung zur Praxis, zur poiesis der Bewohner versucht das auch der französische Soziologe und Kulturphilosoph Michel de Certeau in seiner Arts de faire anhand des Gehens in städtischen Räumen: Im Akt des Gehens werde nicht der vom Architekten vorgegebene Plan wiederholt, sondern ein individueller Raum geschaffen. In eben diesem Sinne sind auch die in den neusachlichen Texten realisierten Räume nicht als Wiederholungen der gebauten oder entworfenen Architektur der 20er Jahre zu sehen, sondern als deren Redefinition, als eine Schaffung von Räumen durch BeHandlung (im Wohnen bzw. Schreiben) der statischen Pläne der Ar-

57 Giddens 1996 (1990), S. 176-177.

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Poetik des Privatraums chitekten. Solchermaßen unterscheidet de Certeau zwischen Ort und Raum, dem Ort als dem entworfenen Plan und dem Raum als dem vom Menschen durch Handlung geschaffenen Lebensraum. Insgesamt ist der Raum ein Ort, mit dem man etwas macht. So wird zum Beispiel die Straße, die der Urbanismus geometrisch festlegt, durch die Gehenden in einen Raum verwandelt. Ebenso ist die Lektüre ein Raum, der durch den praktischen Umgang mit einem Ort entsteht, den ein Zeichensystem – etwas Geschriebenes – bildet. 58

Und ebenso verwandelt sich die für den Neuen Menschen entworfene Wohnung in den neusachlichen Romanen zu Räumen, in denen neue Identitäten erprobt werden, ein neues Selbstverständnis praktiziert wird. Den Architekten und Autoren gemeinsam ist dabei der Versuch der Rückbettung des Individuums in einen neuen raumzeitlichen Zwischenbereich der Moderne.

Die Bedeutung des cultural turn für eine Poetik des Privatraums Eine Arbeit zur Literatur der Neuen Sachlichkeit unter dem Aspekt des Wohnens reiht sich nicht nur ein in den spatial oder topographical turn, sondern auch in den übergeordneten cultural turn. Die neusachlichen Romane aus ihrer literarischen Isolation zu lösen und in ihrem Kontext, hier dem architekturhistorischen, zu betrachten, verfolgt eine Intention, die Stephen Greenblatt als ‚Poetik der Kultur‘59 beschrieben hat. Das vorliegende Projekt nimmt also teil am sogenannten cultural turn der Geisteswissenschaften, einem turn, der sich auf ganz unterschiedliche Weise manifestiert hat, denn es existieren wie auch beim spatial turn weder eine allgemeingültige Theorie noch eine Methode.60 In ihrem Versuch, Ordnung zu schaffen, zieht Siegrid Weigel eine Trennlinie zwischen den anglo-amerikanischen cultural studies und den europäisch geprägten Kulturwissenschaften. Während die cultural studies die Macht kultureller symbolischer Konstruktionen betonten – und z.B. die Pläne für Kolonialstädte als Ursache für gesellschaftliche Unruhen betrachteten –, gehe es in den europäisch geprägten Kulturwissenschaften vielmehr um die Konstruktionen

58 de Certeau 1988 (1980), S. 218. 59 Greenblatt 1989, S. 1-14. 60 Zur Genese des cultural turn siehe: Moritz Baßler, Die kulturpoetische Funktion und das Archiv: Eine literaturwissenschaftliche Text-KontextTheorie, Tübingen 2005; Bachmann-Medick 2006.

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Methodische Überlegungen selbst und darum, diese wie einen Text zu entziffern.61 Der Blick in die Geschichte zeigt, dass es bereits vor über hundert Jahren eine kulturwissenschaftliche Debatte gegeben hat, bei Heinrich Rickert ebenso wie bei Ernst Cassirer. Der neuerliche turn leitet sich aber weniger aus dieser Frühgeschichte ab, impulsgebend war vielmehr die amerikanische Ethnologie bzw. Anthropologie von Clifford Geertz aus den späten 1960er und frühen 1970er Jahren, wie Baßler konzise darlegt.62 In seinen Untersuchungen formulierte Geertz eine vor allem für die Philologen folgenreiche Prämisse: er konstatiert eine Analogie zwischen seinem genuinen Untersuchungsgegenstand und Texten, stellte fest, dass kulturelle und textuelle Strukturen nach vergleichbaren Regeln zu beschreiben sind. „Ethnographie betreiben gleicht dem Versuch, ein Manuskript zu lesen“63, „die Kultur eines Volkes besteht aus einem Ensemble von Texten“,64 „kulturelle Formen [können] als Texte behandelt werden“;65 die Wirklichkeit wurde damit selbst zum Text. Geertz, der „von Berufs wegen doch für das ‚wirkliche Leben‘ zuständig ist, entdeckt dessen unhintergehbare Textualität“,66 fasst Baßler die Überlegungen Geertz’ zusammen. Der Schlüsselbegriff in Geertz’ anthropologischen Analysen ist also der Text bzw. der Kon-Text, denn Kultur versteht er als ein Bedeutungsnetz, innerhalb dessen sich Kommunikationen und Handlungen vollziehen und auf diese Weise überhaupt erst verständlich werden. In Opposition zu diesem Denken in Formen der Vernetzung und des Kontextes steht der Autonomiegedanke. Kultur und kulturelle Praktiken bzw. Gegenstände werden also nicht mehr autonom, sondern abhängig und reziprok gedacht: vom Kontext gestaltet und diesen mitgestaltend, und das bedeutet für die Literaturwissenschaft, dass die Künste nicht mehr nur abbilden, sondern ebenso

61 Sigrid Weigel, Literatur als Voraussetzung der Kulturgeschichte: Schauplätze von Shakespeare bis Benjamin, Paderborn 2004, hier S. 233ff (Kapitel: Zum „topographical turn“, Raumkonzepte in den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften). 62 Baßler 2005; meine Überlegungen zu Clifford Geertz und dem New Historicism folgen Baßler. 63 Clifford Geertz, Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur (1973), in: ders.: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, dt. v. B. Luchesi u. R. Lindemann, Frankfurt am Main, 4. Aufl., 1995, S. 7-43, hier S. 9. 64 Clifford Geertz, „Deep Play“: Bemerkungen zum balinesischen Hahnenkampf (1972), in: ders., Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, dt. v. B. Luchesi u. R. Lindemann, Frankfurt am Main, 4. Aufl., 1995, S. 202-260, hier S. 259. 65 Ebd. S. 254. 66 Baßler 2005, S. 32.

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Poetik des Privatraums Vehikel des sozialen Wandels sind; Mimesis findet in beide Richtungen statt.67 Die Funktion der Kunst erschöpft sich demnach weder in einer Abspiegelung der Welt (Marxismus) noch in ihrer Autonomie (Formalismus), und der Kontext wird also nicht wie in einer hermeneutischen, sozialgeschichtlichen oder marxistischen Studie als Voraussetzung begriffen, als Basis, über der sich das Kunstwerk, der kulturelle Überbau erhebt, Kontext und Artefakt werden nicht im Sinne einer Hierarchisierung gedacht: erst kommt die Wirklichkeit, dann die Kunst, Text und Kontext bilden vielmehr eine Einheit. Die kulturwissenschaftliche Praxis muss also zweierlei leisten: auf der einen Seite die Strukturanalyse des Artefakts, die auf der anderen Seite ohne das Kontextwissen gar nicht zu betreiben ist ebenso wie auch andersherum die Kultur ohne Semiotik gar nicht analysiert werden kann. Solchermaßen sind die Kulturwissenschaften dazu angetan, die Lücke zu schließen, die sich zwischen sozialwissenschaftlich orientierten Literaturanalysen und solchen immanenter Ausrichtung aufgetan hat, wie Voßkamp treffend bemerkt, 68 sie bieten „gleichsam einen dritten Weg [...] zwischen Marxismus und formalistischer Semiotik.“69 So anregend Geertz’ Gedanken für 67 Ansgar Nünning, Towards a Cultural and Historical Narratology: A Survey of Diachron Approaches, Concepts, and Research Projects, in: Porceedings, Anglistentag 1999 Mainz, hrsg. von Bernhard Reitz, Sigrid Rieuwerts, Trier 2000, S. 345-374, hier S. 360. Nünning zitiert an dieser Stelle John Bender mit den Worten: „I consider literature and the visual arts as advanced forms of knowledge, as cognitive instruments that anticipate and contribute to institutional formation. Novels as I describe them are primary historical and ideological documents; the vehicles, not the reflections, of social change.“ (John Bender, Imaginig the Penitentiary: Fiction and the Architecture of Mind in Eightennth-Century-England, Chicago, London, 1987, S.1.) Und Nünning fährt fort: „Such an approach implies, of course, that formal techniques are not just analysed as structural features of a text but as narrative modes which are highly semantized and engaged in the process of cultural construction.“ 68 Wilhelm Voßkamp, Die Gegenstände der Literaturwissenschaft und ihre Einbindung in die Kulturwissenschaften, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 42/ 1998, Stuttgart 1998, S. 503-508, hier S. 506: „Eine gegenüber den Kulturwissenschaften offene Literaturwissenschaft müßte ihren Platz genau in jener ‚Lücke‘ finden, die zwischen poststrukturalistischen Texttheorien und deren Distanz zur Geschichte einerseits und der Sozial- und Funktionsgeschichte und ihren Schwierigkeiten, die Literarizität der Texte als geschichtliche Realität herauszuarbeiten, andererseits liegt.“ 69 Baßler 2005, S. 37, allerdings bezieht sich diese Aussage bei Baßler nicht auf die Kulturwissenschaften allgemein, sondern auf den New Historicsm im Besonderen.

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Methodische Überlegungen die Literaturwissenschaften auch sind, so muss man doch festhalten, dass Textualität hier zunächst nicht schärfer gefaßt ist, nichts weiter bedeutet als eine semiotische Vielschichtigkeit der Bedeutung, die im Gegenstand selbst – im balinesischen Hahnenkampf so gut wie im Shakespeare-Drama – vorhanden ist und methodisch eine dichte, d.h. kontextualisierende Beschreibung dieses Gegenstandes verlangt.70

Die zentralen Begriffe der Geertzschen ‚Theorie‘ erfahren keine allzu genaue Definition, und der inflationäre Gebrauch der Begriffe Kultur und Text hat sein Übriges dazu getan, Fragen wie diejenige Eagletons zu provozieren, was Kultur überhaupt sei, wenn sie mit einem Male schlechterdings alles umfasse.71 Die Analogsetzung von Text und Kultur führte schließlich dazu, dass die Begriffe austauschbar wurden. So vermerkt das Metzler-Lexikon zur Kultur der Gegenwart: „jeder zeichenhafte Komplex von Elementen, die zu einem Sinnzusammenhang verflochten sind, [kann] als Text aufgefasst werden“72. Text bedeutet also wesentlich mehr als nur eine schriftliche oder mündliche Äußerung, wie man im ersten Augenblick vermuten könnte, sondern bezieht sich auf ein Bild ebenso wie auf ein Musikstück oder eine multimediale Installation.73 Ein solchermaßen eingesetzter Textbegriff besinnt sich auf seine etymologischen Ursprünge, auf Gewebe, Geflecht, Zusammenhang. In diesem Sinn werden nicht nur Filme, Gemälde, Comics, Strukturen der Mode oder des urbanen Lebensraums, sondern auch unfixierte Gebilde wie Happenings oder Theater-Aufführungen, im Grenzfall das ganze sozial-semiotische Universum als Text bezeichnet. Leitend für diese Begriffsverwendung ist dabei immer der [...] Aspekt, dass es sich um sprachanalog hervorgebrachte Gebilde handelt, die Gegenstand einer entsprechenden Decodierungs-, Interpretations- oder Kommentierungstätigkeit werden können.74

Diese auf Geertz zurückgehende Analogschaltung von Text und Kultur führte bei den Literaturwissenschaftlern aus nachvollziehbaren 70 Ebd. S. 33. 71 Vgl. Terry Eagleton, Was ist Kultur? Eine Einführung, München 2001 (2000), S. 45. 72 Werner Köster, Text, in: Metzler-Lexikon Kultur der Gegenwart: Themen und Theorien, Formen und Institutionen seit 1945, hrsg. von Ralf Schnell, Stuttgart, Weimar 2000, S. 504-507, hier S. 504. 73 Roland Posner und Dagmar Schmauks, Kultursemiotik, in: Metzler-Lexikon Literatur- und Kulturtheorie: Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hrsg. von Ansgar Nünning, Stuttgart, Weimar 1998, S. 296-298, hier S. 297. 74 Köster, 2000, S. 504.

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Poetik des Privatraums Gründen sowohl zu Euphorie als auch zu Skepsis, denn wenn sich „frei nach Clifford Geertz [...] die Gesamtheit der Kultur als Text begreifen läßt“75, wären wir als Wissenschaftler des Wortes nicht prädestiniert dafür, auch jene Kultur-Texte zu analysieren? Folgt dem linguistic turn ein textual turn, wie man den cultural turn dann folgerichtig nennen müsste?76 Oder ist eher Misstrauen angesagt, wie die Frage des Schillerjahrbuchs 1998 nahelegt: Kommt der Literaturwissenschaft ihr Gegenstand abhanden?77 Geht es also neuerdings gar nicht mehr um Literatur, sondern um Kultur und lässt sich als Kultur nach Eagleton tatsächlich alles definieren? Was ist unter der angekündigten kulturwissenschaftlichen Analyse der Literatur überhaupt zu verstehen? Die betreffende Debatte im Schillerjahrbuch macht deutlich, dass nicht nur eine durchformulierte kulturwissenschaftliche Theorie fehlt, sondern auch auf methodischer Ebene keine Eindeutigkeit herrscht. Geertz’ sympathische und einflußreiche Ideen zu einer Lesbarkeit von Kultur bewegen sich recht frei und [...] von jeglicher systematischen Fundierung weit entfernt irgendwo zwischen Ricoeurscher Hermeneutik und Kultursemiotik,78

75 Manfred Engel, Kulturwissenschaft/en – Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft – kulturgeschichtliche Literaturwissenschaft, in: KulturPoetik 1.1, 2001, S. 8-36, hier S. 33. 76 Monika Gerber (Ein dritter Weg?, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 44/2000, Stuttgart 2000, S. 336-343, hier S. 337) spricht von einer literaturwissenschaftlichen Wende in der Anthropologie und ebenso Doris BachmannMedick (Weltsprache der Literatur, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 42,1998, Stuttgart 1998, S. 463-470, hier S. 466) von einem ‚literary turn‘ in den Sozial- und Kulturwissenschaften, während sie 1996 noch einen Sammelband mit dem Titel: Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, herausgibt (Doris Bachmann-Medick (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt am Main 1996). 77 Am deutlichsten wird Schlaffer, der bemängelt, dass die Literatur aus den Augen verloren werde und der Kontext zum Endzweck aufsteige. Polemisch diagnostiziert er den kulturwissenschaftlichen Boom als Symptom dafür, dass an den Universitäten zu viele Wissenschaftler Untersuchungsgegenstände brauchen. Heinz Schlaffer, Unwissenschaftliche Bedingungen der Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 42, 1998, Stuttgart 1998, S. 486-491, hier S. 488,489. 78 Baßler 2005, S. 7.

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Methodische Überlegungen erläutert Baßler den anthropologischen Ansatz, und Hartmut Böhme gibt zu bedenken, dass eine kulturwissenschaftliche Methode erst entwickelt werden müsse, dass dies genau das Unterfangen der Zukunft sei.79 Böhme entwirft tatsächlich weniger eine Methode als ein Panorama der zu analysierenden Gegenstände und ist dabei derjenige in der Debatte, der am deutlichsten einer neuen Disziplin das Wort redet, den cultural turn als Ausgangspunkt für eine Wissenschaft macht, die sich nicht nur auf Texte, nur auf Bilder, nur auf symbolische Formen, nur auf materielle Aggregate der Kultur, nur auf Geschichte, nur auf Gegenwart bezieh[t], [...] [und die] zudem nicht nur auf eine, sondern auf viele Kulturen gerichtet ist; [die] ihr Wissen nicht nur selbsterzeugt, sondern auch von anderen Wissenschaften [bezieht] und weiterverarbeitet.80

Böhmes Ansatz erinnert an Cassirer und die großen Kultursoziologen des beginnenden 20. Jahrhunderts und begründet jenseits der gängigen Disziplinen eine neue Wissenschaft, ohne die etablierte Literatur- oder Kunstwissenschaft in Frage zu stellen. Kulturwissenschaft soll einerseits eine Lücke im Hinblick auf Gegenstände schließen, die bisher keiner Disziplin zugewiesen waren, andererseits nimmt sie eine Vermittlerrolle zwischen den einzelnen Fächern ein. Einen anderen Weg geht Moritz Baßler, der den turn nicht im Sinne einer neuen Disziplin interpretiert oder gar einen Gegenstandsverlust darin erkennt. Ganz im Gegenteil spricht er davon, dass sich die Germanistik nun erst ihres eigentlichen Gegenstandes besinnt: eben des Textes.81 Während Böhme weder die Kultur noch den Text in ihren Semantiken einschränkt, sondern vielmehr alle Kulturen betrachten möchte und alle symbolischen Formen als Texte auffasst, beschränkt Baßler das zu untersuchende Feld auf ein Zeichensystem, was den großen Vorzug seines Ansatzes ausmacht. Kultur ist bei Baßler tatsächlich nur als Kon-Text gedacht.

79 Hartmut Böhme (Zur Gegenstandsfrage der Germanistik und Kulturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 42, 1998, Stuttgart 1998, S. 476- 486, hier S. 481): „Vielleicht sollte man die Kulturwissenschaften eine Weile in Ruhe lassen, bis an Hand hinreichend vieler Arbeiten [...] man in einer Meta-Studie untersuchen kann, wie diese Arbeiten eigentlich funktionieren, wie sie ihre Fragen gewinnen, welche Methoden sie mobilisieren [...], wie ihre Gegenstände profiliert werden.“ 80 Ebd. S. 485. 81 Moritz Baßler, Stichwort Text. Die Literaturwissenschaft unterwegs zu ihrem Gegenstand, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 42/1998, Stuttgart 1998, S. 470-475, hier S. 470.

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Poetik des Privatraums Textwissenschaft, und insbesondere jeder Versuch, Kulturwissenschaft als Textwissenschaft zu betreiben, kann und muss sich auf Vorliegendes, auf ‚festgehaltene Vergangenheit‘ mit einem Wort: auf Texte stützen.82

Baßlers Ansatz ist eine zur Textwissenschaft erweiterte Literaturwissenschaft, vergleichbar der zur Bildwissenschaft erweiterten Kunstwissenschaft. Der cultural turn hat dann vor allem den Einbezug sämtlicher Textsorten in das Analysekorpus zur Konsequenz. Der Ausgangspunkt für eine solche Wissenschaft ist aber weniger Cassirer, sondern der New Historicism mit seinem Modell der Intertextualität. Der New Historicism weigert sich, so Baßler über diese Tradition, den historisch-kulturellen Kontext eines literarischen Textes anders zu fassen denn in Form weiterer, je partikularer Texte. Genau aus diesem Grund gelingt es ihm, seine Lektüre trotz kulturwissenschaftlicher Ausweitung des Gegenstandsbereiches close zu halten, so mikrologisch genau, wie es eben nur der textanalytische Werkzeugkasten hergibt. Literaturgeschichte kann hier zwar durchaus die Geschichte von allem und jedem sein, aber nur, sofern es Text ist.83

Die Ausklammerung anderer Zeichensysteme ist es, was den Ansatz Baßlers einerseits für den Literaturwissenschaftler, den Handwerker des Wortes, so charmant macht, den Kontext aber zugleich amputiert, denn der für die neusachliche Literatur relevante architektonische Kontext lässt sich nicht beschränken auf Zeitungsartikel, Selbstkommentare, Interviews, Briefe etc. Neben diesen Texten zur Architektur gilt es, die Bauten selbst, die Entwürfe zu rezipieren, in eben jenem Sinne, wie auch die Literatur nicht ausreichend interpretiert wäre, würde man etwa nur Falladas Selbstkommentare zum Kleinen Mann, seine Beiträge zur Sachlichkeitsdebatte und die zeitgenössischen Kritiken auswerten, das Buch selbst aber gar nicht mehr lesen. Die in der Literatur beschriebene Kultur soll also nicht nur vermittelt über Texte, sondern auch ‚unvermittelt‘ in den Blick genommen werden.84 Unproblematisch ist der Wechsel des Zeichensystems im vorliegenden Fall vor allem deshalb, weil die Architektur disziplinär gebunden ist, auf die kunstwissenschaftlichen Methoden und Studien zum Neuen Bauen zurückgegriffen werden kann.85

82 Baßler 2005, S. 470. 83 Ebd. S. 20. 84 Dass diese historischen Rückblicke immer auch textuell „verstellt“ sind, also beeinflusst von den bereits produzierten Texten, macht Bildanalysen deshalb nicht überflüssig. 85 Vgl. dazu auch: Gustav Frank, Textparadigmen kontra visueller Imperativ, 20 Jahre visual culture studies als Herausforderung der Literaturwissen-

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Methodische Überlegungen Kulturwissenschaftliche Arbeiten können sich also mit ganz verschiedenen Gegenständen auseinandersetzen und unter Bezug auf einen Gewährsmann wie Geertz Text, Kontext und Kultur unterschiedlich definieren. Für die vorliegende Studie gilt indes, dass der literarische Text immer im Mittelpunkt steht: Die Rückbindung an den Ausgangstext und die Frage danach, wie die Literatur den Wohndiskurs beeinflusst, deformiert, unterhöhlt86 oder affirmiert, ihn bearbeitet und für die eigenen Belange nutzbar macht, das steht jeglicher Angst eines Gegenstandsverlustes entgegen – auch wenn die Literatur dabei nicht mehr als ‚autonom‘ betrachtet wird. Die Kohärenz der literarischen Struktur wird nicht im literarischen Text selbst [wie eine hermeneutische Lektüre bestrebt wäre], sondern erst in den außer[literarischen] Diskursen gestiftet, die er einlagert, mobilisiert und im Modus des Literarischen verändert.87

Die in dieser Arbeit gewählte Analysemethode ist als strukturalsemiotische Kulturwissenschaft zu charakterisieren,88 und zwar aus folgenden Gründen: zum einen werden weder Literatur noch Architektur als autonome Gebilde betrachtet, sondern als eingebunden in ein Netz von Bezügen und negotiations, die wiederum nur durch eine genaue Detailanalyse, eine dichte Beschreibung, aufzudecken sind. Mein Ansatz ist dabei insofern interdisziplinär, als ich auf Studien der Architekturgeschichte zurückgreife, er ist als struktural-semiotisch zu bezeichnen, da ich mithilfe des close reading dominante Strukturen analysiere und danach frage, welchen Effekt die Zeichen/Codes auf die Bildung des modernen Menschen ha-

schaft, ein Forschungsbericht, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte (IASL), Bd. 31, Heft 2, Dez. 2006, S. 26-89. 86 Vgl. dazu Klaus Müller-Richter, Kann man Kleiderschränke kulturwissenschaftlich lesen? Thomas Mann, die Eisenbahnmedizin und die Nervenklinik, in: Roland S. Kamzelak (Hg.), „Historische Gedächtnisse sind Palimpseste“, Hermeneutik – Historismus – New Historicm – Cultural Studies, Festschrift zum 70. Geburtstag von Gotthart Wunberg, Paderborn 2001, S. 157-177, hier S. 176. 87 Ebd. S. 175. 88 Vgl. dazu Ansgar Nünning, der Semiotik und Narratologie als die methodische Basis für eine im Zuge des cultural turn erweiterte Literaturwissenschaft beschreibt (Nünning 2000, S. 359, sowie ders.: Anglistische Anmerkungen zu den Gegenstandsgewinnen einer kulturwissenschaftlich orientierten Literaturwissenschaft, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft: internationales Organ für neuere deutsche Literatur, 44, 2000, Stuttgart 2000, S. 350- 356; vgl. dazu auch Gerber, 2000, S. 340, die ebenfalls von einer methodischen Ausrichtung an der Kultursemiotik spricht.

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Poetik des Privatraums ben.89 Schließlich handelt es sich um eine kulturwissenschaftliche Arbeit, da die Literatur als eingebunden in ihren kulturellen Kontext betrachtet wird und in diesem Sinne auch um eine diskursanalytische Studie, weil eine Abwendung von den Schwerpunkten Autor, Werk und Rezeption zu verzeichnen ist, die einhergeht mit einer Analyse der sich über die herrschenden Diskurse produzierenden Subjekte.90 Eine kulturwissenschaftlich orientierte Literaturwissenschaft wartet also weniger mit einer neuen Methode auf, sie versucht vielmehr ihre neue Fragestellung, wie nämlich die unterschiedlichen kulturellen Systeme aufeinander reagieren und voneinander profitieren, mit den Werkzeugen des Strukturalismus und der Semiotik zu beantworten. High and low, Autor oder Werk, Selbst- und Fremdaussage spielen dabei an sich keine Rolle, sondern sind von derselben Wertigkeit für den Austausch, für die Etablierung eines neuen Codes von Privatheit, Wohnen und Identität.

89 Zum Vorgehen einer kultursemiotischen Analyse vgl. Michael Danesi, Paul Perron: Analyzing Cultures: An Introduction and Handbook, Bloomington, Indiana 1999, Kap. 12: Semiotic Analysis, S. 290-313. 90 Mein Aspekt ist dabei nicht wie in einer Foucaultstudie üblich auf den Diskurs als Macht gerichtet, innerhalb dessen die Subjekte den Diskurs nur reproduzieren können. Man könnte also sagen: während Foucault eher danach sucht, was von den Diskursen unterdrückt wird, suche ich eher danach, was der Diskurs zu bilden ermöglicht, welche Subjektkonstruktionen beschreibbar werden. Vgl. dazu auch Michel de Certeau, der seinen Ansatz beschreibt als „eine Fortsetzung oder auch als ein Gegenstück zu Foucaults Analyse der Machtstrukturen“, de Certeau möchte „Umgangsweisen mit dem Raum“ verfolgen, „die der Disziplin entkommen, ohne jedoch ihren Einflußbereich zu verlassen, und die zu einer Theorie der Alltagspraktiken, des Erfahrungsraumes und der unheimlichen Vertrautheit mit der Stadt führen müßten“, de Certeau 1988 (1980), S. 186/187 (Hvm).

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POETIK DES PRIVATRAUMS RIVATRAUMS IM NEUSACHLICHEN ROMAN Im Mittelpunkt der Studie stehen sechs Romane, die beinahe ausnahmslos der Spätphase der Neuen Sachlichkeit angehören.1 Kriterium für die Auswahl der zu untersuchenden Texte war neben einer sinnvollen Beschränkung nicht nur die Thematisierung des Wohnens in den Romanen von Irmgard Keun (Gilgi – eine von uns, 1931), Hans Fallada (Kleiner Mann – was nun?, 1932), Martin Kessel (Herrn Brechers Fiasko, 1932) und Gabriele Tergit (Käsebier erobert den Kurfürstendamm, 1931) – die sämtlich dem Angestelltengenre zuzurechnen sind – sowie von Siegfried Kracauer (Ginster. Von ihm selbst geschrieben, 1928) und Joseph Roth (Hotel Savoy, 1924), deren Romanhandlung während und kurz nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Kriterium der Auswahl war darüber hinaus, nur solche Romane in den Textkorpus aufzunehmen, die das Problem der ‚Behausung‘ auf der Ebene des discours weiterführen (worunter die genannten ‚Schreibverfahren der Nähe‘ zu verstehen sind) und damit eine Poetik des Privatraums in der neusachlichen Literatur begründen. Mit Blick auf die zahlreichen Debatten um das Wohnen verwundert es kaum, dass die Romane der 20er Jahre thematisch wie strukturell an diesem Diskurs partizipieren und zu Subjektkonstruktionen gelangen, deren Bezugsgröße nicht mehr die überforderte Wahrnehmung im städtischen Raum (und damit eine Diffusion des Subjekts), sondern der Wohn-Körper (und damit der Entwurf eines neuen Bewohners) ist. Die folgenden Analysen der Romane, die beispielhaft für die neusachliche Strömung einstehen, verdeutlichen die Relevanz der städtischen Funktion des Wohnens zur Zeit der Weimarer Republik. Als die Architekten ihre Modelle entwarfen, bauten sie für einen Neuen Menschen, der in ihren Traktaten und Zeichnungen stummer Bewohner geblieben ist. Es bedurfte der Autoren der Neuen Sachlichkeit, um diesen Neuen Menschen zum Leben zu erwecken. Sie vollziehen damit eine poiesis des Bewohners, wie Michel de Cer1

Joseph Roths Abgesang auf die Neue Sachlichkeit im Jahre 1930, die häufig als Endpunkt dieser Strömung angesehen wird, betrachte ich mit Sabina Becker als persönliche Abrechnung mit einer ‚Epoche‘, die, gesamtliterarisch gesehen, aber noch nicht abgeschlossen ist.

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Poetik des Privatraums teau in seiner Kunst des Handelns den kreativen Umgang mit der gebauten Stadt bezeichnet, eines Bewohners, der sich nicht an die eingezeichneten Linien und vorgezeichneten Wegenetze hält, sondern die Möglichkeiten eines Identitätsentwurfs in diesen Räumen auslotet. Ich glaube eben nicht [...], daß die Menschen bloße Einrichtungsgegenstände sind, die von den Architekten mitentworfen werden wie Schränke und Tische ... Die Menschen müssen sich selber entwerfen,2

lässt Kracauers Georg im gleichnamigen Roman wissen und macht damit auf genau jene Leerstelle der Entwürfe aufmerksam, die literarisch aufzufüllen ist. Wenn alle kulturellen Zeichen der Interpretation unterliegen und in dieser menschlichen Interpretationsleistung der Selbstentwurf der Subjekte offensichtlich wird, dann vollzieht sich diese in den neusachlichen Texten vor allem in der Auseinandersetzung mit den architektonischen Zeichen, den Wohnentwürfen. Es bedurfte der Autoren, um diesen Neuen Menschen auszubuchstabieren, sie zeigen die Möglichkeiten und Schwierigkeiten, mit denen das moderne Subjekt zu kämpfen hat, wenn es in den neuen Formen zu leben und vielleicht auch heimisch zu werden sucht – denn aller neusachlichen Entpsychologisierung zum Trotz kreisen die Romane um Identitäten und Subjektivitäten, seien sie noch so labil und prozesshaft, seien sie noch so neuartig wie diejenigen der Angestellten. Selbst in einem Roman wie Gabriele Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm, dessen Personal kaum zu überschauen ist, und der mehr Medienroman denn Identitätsroman ist, selbst hier existiert noch ein ‚persönliches Zentrum‘ im Volkssänger Käsebier. Seine Vermitteltheit, sein Medienstatus macht das neusachliche Schwanken zwischen Faktizität und Fiktionalität deutlich, das Verwischen von Grenzen, das für die Romane und die Wohnungen der 20er Jahre so paradigmatisch ist (der physisch begehbare Raum und der mentale Raum sind ununterscheidbar). Die Analyse von Tergits Käsebier steht deshalb am Anfang der folgenden Kapitel: ‚The Significance of Facts‘: Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten. Die Antiindividualisierung neusachlicher Literatur bedeutet genauso wenig die konsequente Auflösung der Subjekte, wie die Entpsychologisierung und Entsentimentalisierung einen Abschied von der Innenwelt der Protagonisten mit sich bringt. Ganz im Gegenteil lassen sich Schreibverfahren der Nähe, ja der Intimität an allen Romanen beobachten. So wie der Wohndiskurs für die Texte die 2

Siegfried Kracauer, Georg, in: ders., Schriften, Bd. 7, 1973 (1934), S. 243491, hier S. 358.

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Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman Möglichkeit bietet, neusachliche Subjektkonstruktionen auszuloten, so erhält auch der Leser Einblick in die innere Disposition der neuen Subjektentwürfe, Einblick in Privat- und Intimräume. Dem ‚Auszug aus der Innerlichkeit‘ folgt ein erneuter Einzug. Die zur Disposition gestellten Entwürfe dieser Innerlichkeit sind freilich neu. Es sind Innenwelten, die sich auch in den Architekturzeichnungen der 20er Jahre zu visualisieren beginnen, denn gemeinsam mit dem Bedeutungszuwachs der städtischen Funktion des Wohnens wird auch das Interieur der Häuser neu präsentiert. Nicht mehr der Aufriss, die Fassadenzeichnung, sondern der Grundriss und die Axonometrie sind die markanten Darstellungsweisen der Architekturzeichnung geworden. Sie bieten den Vorteil, ganz nah an der Sache und zugleich distanziert zu sein, wie das Kapitel zu Gabriele Tergit darlegen wird. Die Axonometrie zeigt eine in Bewegung geratene Architektur und verlangt zugleich die Dynamik des Betrachters. 3 Um diese Momente der Architekturzeichnung kreisen die neusachlichen Identitätsentwürfe, die dem Leser schon programmatisch nahe stehen: sei es Ginster, dessen Text von ihm selbst geschrieben wird, sei es Gilgi, die eine von uns ist, sei es Herrn Brechers Fiasko, der uns teilhaben lässt an Potenzproblemen und Notdurft,4 oder der Kleine Mann, dessen Alltäglichkeit geradezu sprichwörtlich geworden ist. Beim Versuch der Autoren und Architekten, sich in die Realität einzuordnen und streng funktionalistisch der utilitas zu gehorchen, entstehen erneut Erfindungen, die bis heute ihren Status kaschieren, denn die vom Neuen Bauen beherrschten 20er Jahre sind es eben nur in der Fiktion, als gebautes Manifest ist die funktionalistische Moderne vor dem zweiten Weltkrieg mitnichten erfolgreich gewesen: „tatsächlich spielten die großen Architekten der Moderne [...] keineswegs eine dominierende Rolle“.5 Während die Autoren ein Verwechslungsspiel mit ihren Pseudonymen initiierten, als Journalisten und Literaten unter verschiedenen Namen tätig waren, Reportagen und andere Versatzstücke der Realität in ihre Romane zum Zwecke der Authentizität montierten und auf diese Weise Realität und Fiktion verschwimmen ließen, so agierten die Architekten der 20er Jahre auf bisher ungekannte Weise selbst als Autoren, publi3

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Die Axonometrie macht mithin eine Architektur anschaulich, die „nicht mehr nur den perspektivischen Aspekt der einen Fassade kennt, sondern die vielen komplexen Standpunkte einer ‚Rundum-Fassade‘.“ Es geht zugleich um eine neue Auffassung von einer plastischen Architektur wie auch vom dynamischen Betrachter; der architektonische Körper wird nicht mehr als eine „Summe von Einzelbildern, sondern als ein komplexes, dreidimensionales Gebilde in der Bewegung“ verstanden, Hilpert 1988, S. 128/S. 116. Kessel 2001 (1932), S. 385/547. Kähler 2000 (1996), S. 314.

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Poetik des Privatraums zierten Bücher und Essays in eigener Sache. In ihren Veröffentlichungen zum Neuen Bauen aber stehen realisierte Projekte in unmittelbarer Nachbarschaft zu Vision gebliebenen Entwürfen, werden Versatzstücke aus der Realität in die Zeichungen montiert, und führen auf diese Weise das Verwechslungsspiel weiter. Es sind diese Verwischungen und Verschiebungen, diese Mehrdeutigkeiten des ‚Realen‘, die nicht nur in Tergits Roman, sondern auch in Kracauers Ginster zur Sprache kommen und hier für die Konstitution des Subjekts relevant werden. Mit Kracauers Roman beginnt denn auch die Analyse der neusachlichen Identitätsentwürfe innerhalb der Neuen Wohnungen: ‚Beinahe zu Hause‘ – Siegfried Kracauers ‚Ginster: Von ihm selbst geschrieben‘. Zwar ist Ginster wie die Mehrzahl des neusachlichen Personals keineswegs ein Protagonist, der in einem funktionalistischen Interieur wohnt, dennoch prägen die architektonischen Leidideen seine Vorstellung vom Selbst. Mit Ginster kommt auch der einzige Protagonist in den Blick, der sich qua Profession mit den Raumkonzepten der Moderne beschäftigt, als Baukünstler, genauer: als Ingenieur, wie er zu betonen nicht müde wird, ist er jener an der Vergangenheit desinteressierte Architekt der 20er Jahre, der sich gegen jegliche Verwurzelung, gegen jeglichen Besitzkult wehrt. Ihm eignet zwar nicht jener holzschnitthafte Drang zur Vereinfachung, wie ihn das Plakat für die Weißenhofsiedlung zur Darstellung bringt (Abb. 2), er teilt aber die Ansichten zum Interieur der architektonischen Moderne, wie sie auch Irmgard Keuns Gilgi, Martin Kessels Herrn Brecher und Hans Falladas Kleinem Mann zueigen sind. Weit radikaler als die anderen Protagonisten vermag sich Ginster indes in einem Zwischenraum niederzulassen, in einem ‚beinahe zu Hause‘ einzurichten: „Nur nicht fest an einem Ort bleiben und in einem Zweizimmerberuf wohnen“,6 lässt er wissen. Dem Architekten Ginster, dem Raumkünstler, wird zur Verdeutlichung seines Identitätsentwurfs sowohl ein Zeitkünstler, der Onkel als Historiker, an die Seite gestellt als auch ein Freund, dessen Raumkenntnisse als dermaßen desaströs geschildert werden, dass er untergehen muss: Während sich Otto in die Statik bürgerlicher Gehäuse einschreibt, befindet sich Ginsters Konzept in einer unendlichen Verschiebung. Was bei Ginster die Verschiebung, ist bei Gabriel Dan, dem Protagonisten aus Joseph Roths Hotel Savoy, die Dezentralisation (Wohnen im Hotel – Joseph Roths ‚Hotel Savoy‘ und die Koinzidenz von Fremde und Heimat). Das Hotel ist dabei nicht als Chiffre für die transzendentale Obdachlosigkeit der Moderne zu verstehen, sondern genau entgegengesetzt als einzige Möglichkeit eines Identitätsentwurfs, als Flucht vor dem Kriegsheimkehrerdasein ins Private. Wenn

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Kracauer 1973 (1928), S. 226.

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Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman das Hotel zum Vorbild für die Wohnhausentwürfe der Moderne wird, dann impliziert das also keineswegs das Ausschalten von Privatheit, das Hotel ist nicht so sehr als Reisehotel, denn als Wohnhotel von Interesse, evoziert mitunter radikale Visionen des Privaten, die den Außenraum beinahe vergessen machen: der Außenraum wird nicht mehr realiter betreten, sondern nur noch durch die Fensterscheiben des Wohnkörpers, eines Autos, einer sogenannten ‚Reisezelle‘ oder eben eines Fahrstuhls beobachtet. Im Hotel Savoy kann sich für Gabriel Dan genau dieser Aspekt realisieren. Abb. 2: Plakat „wie wohnen?“ nach einem Entwurf von Willi Baumeister unter Verwendung eines historistischen Interieurs, 1927.

Sein Selbstentwurf lotet die Momente modernen Wohnens und Schreibens aus: Dan konzipiert sich von seinem Hotelzimmer aus als Schriftsteller. Mithilfe des Fahrstuhls wird er zum Registrator des Lebens im Hotel. An die Stelle des Flaneurs durch die Außenräume der Gesellschaft tritt der Voyeur und Chronist des häuslichen Innenlebens: Dan entwirft sich als blanke Fläche, als Hohlform, in der das Leben der Bewohner nachhallt, als leergeräumter Wohnraum der Moderne, in dem „eine unheimliche Sauberkeit“ herrscht. „Man fühlt sich nicht mehr heimisch.“7 Freuds Definition des Unheimlichen im Heimatlichen bricht durch.8 Den ausgespar7 8

Roth, Werke 4, 1989 (1931), S. 212. Sigmund Freud, Das Unheimliche, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1972 (1919), S. 227-269.

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Poetik des Privatraums ten und weggesperrten Territorien des Neuen Bauens wird der Roman somit ebenfalls zum Sprachrohr. Territorien, die in Irmgrad Keuns Gilgi eine verstörende Kraft entfalten werden und ihren Selbstentwurf ins Wanken bringen: Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper – Irmgard Keuns ‚Gilgi‘ zwischen Berührungseuphorie und Ekel. Gilgi, die als Adoptivkind auf keine stabile Kindheit und Heimat mehr blicken kann und damit die bei Roth angedeutete Dezentralisation potenziert, Gilgi tritt an, die Irritationen des Nahraums im Alltag der Weimarer Republik zu schildern. Anders als Ginster, der mitten im Krieg, und anders als Gabriel Dan, der beinahe noch im Krieg die Möglichkeiten eines Identitätsentwurfs in den modernen Räumen erforscht, befindet sich Gilgi in der zumindest äußerlich befriedeten Heimat. Deutlich wird hier, welch kriegerische Auseinandersetzung eigentlich auch schon bei Kracauer und Roth geführt wurde, keine, die sich um das Staatsgebilde, sondern um das Individuum dreht: Gilgi befindet sich in unentwegten Grenzstreitigkeiten, das „ganze[...] Innere ist zum Kriegsschauplatz [...] geworden“,9 und was es hier zu bekämpfen und auszusperren gilt, ist nichts Geringeres als die Hure Babylon, die in der Verdreifachung der mütterlichen Figur als vetula, als hässliche Alte, als Personifikation des Ekels, erscheint. Mit den mütterlichen Körpern werden in Anlehnung an die klassische Ästhetik zugleich Wohn- und Identitätskonzepte in den Bereich ästhetischer Unmöglichkeit verwiesen. Aber Gilgis dem Neuen Wohnen so ideal angenäherter Körper, der die harten Oberflächen und scharfen Kanten, das männliche Kältepotential der Moderne betont, verändert sich im Laufe des Romans selbst zur vetula, erhält Öffnungen und Schwellungen, die so von den Architekten nicht vorgesehen waren. Aus dem künstlichen Raum entlassen, muss auch Gilgi die poiesis des Wohnens erlernen, geraten die Wohnentwürfe der Moderne an ihre Grenze. Es sind die Körper, die von der Unmöglichkeit einer radikalen Befreiung des Menschen künden, während Gilgi selbst weiter daran glaubt, in den Parametern des Neuen Bauens, im Planquadrat der Neuen Sachlichkeit, ihr Leben entwerfen zu können. Nicht nur die Einschreibung in die alten bürgerlichen Raumvorstellungen erscheinen nunmehr als tödlich, wie das bei Ginsters Freund Otto deutlich wurde, auch die Überhöhung des Privaten, die zur conditio sine qua non des Lebens wird, kann letal enden. Was im 19. Jahrhundert noch unproblematisch erschien, das Fehlen eines Privatraums für das Individuum, wird nun lebensnotwendig, und zwar nicht aus hygienischen oder gesundheitlichen Gründen, sondern weil es das neue Subjektverständnis fordert. Identitätszellen mit eindeutigen Gren-

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Keun 1979 (1931), S. 112.

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Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman zen, ohne die der Mensch nicht mehr überlebensfähig erscheint, werden entworfen, der „Wunsch nach einem eigenen Raum“10 beginnt sich durchzusetzen, „die private Abgeschlossenheit der Wohnung wird gefördert“,11 „der eigene Raum für jede Person [...] als Zielvorstellung“ wird ausgegeben.12 Irmgard Keuns Roman macht damit auf eine Komponente des modernen Wohnens aufmerksam, die in der Rede von der Befreiung des Wohnens13 unsichtbar geblieben ist: die Grenze und Vereinzelung des Individuums. Während sich Ginster und Gabriel Dan in der unendlichen Verschiebung eingerichtet haben – zum Raum geworden in den Bildern von Kaleidoskop und Regenbogen –, kann der am Ende des Romans bestiegene Zug für Gilgi nur vorübergehend und nur deshalb zur Heimat werden, weil er an einen festen Fahrplan, an ein festes Wegenetz gebunden ist. Nähe erscheint in diesem Identitätsentwurf nur noch distanziert, wie hinter Glasscheiben lebbar. In ähnlicher Weise changiert auch Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko zwischen Exhibitionismus und Hermetik, zwischen Tagebuch, Bürotratsch und ironischer Distanznahme. Aber während Keuns Gilgi den Nahraum der Weimarer Republik auslotet und diesen abzuschotten versucht und sich wie zuvor schon Ginster 10 Johann Friedrich Geist und Klaus Kürvers, Das Berliner Mietshaus, Bd. 2: 1862-1945, München 1984, S. 276. 11 Ebd. S. 268. 12 Jonas Geist (Hg.), Die Grundrissarbeit im Wohnungsbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland, Berlin, Hochschule der Künste, 2. Aufl. 2001 (1999), S. 28. 13 Bruno Taut: „Das Haus selbst verliert auch als Ganzes, ebenso wie seine Einzelteile, die Abgrenzung und Isolierung. Wie seine Einzelteile untereinander vom Zusammenspiel leben, so das Haus mit seinen Kameraden. Es ist ein Erzeugnis kollektiver und sozialer Gesinnung. Wiederholung ist also nicht unerwünscht, sondern im Gegenteil das wichtigste Kunstmittel.“ in: Bruno Taut, Die neue Baukunst in Europa und Amerika, Stuttgart 1929, S. 6; Sigfried Giedion: „Ihrer Gestaltung nach öffnen sich heute alle Bauten [...]. Sie verwischen ihre selbstherrliche Grenze. Suchen Beziehung und Durchdringung. In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stößt man auf das Grunderlebnis des heutigen Bauens: Durch das dünne Eisennetz [...] strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Maste, Landschaft, Hafen. Verlieren ihre abgegrenzte Gestalt: kreisen im Abwärtsschreiten ineinander, vermischen sich simultan. Man wird dieses absolute Erlebnis, das keine Zeit vorher gekannt hat, nicht auf Häuser übertragen wollen (es ist der Reiz der Häuser Corbusiers, daß in ihnen dies am weitesten versucht wurde). Keimhaft aber liegt in jeder Gestaltung des Neuen Bauens: Es gibt nur einen großen, unteilbaren Raum, indem Beziehungen und Durchdringungen herrschen, anstelle von Abgrenzungen.“ in: Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich – Bauen in Eisen – Bauen in Eisenbeton, Berlin, Leipzig 1928, S. 8f.

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Poetik des Privatraums und Dan erst am Ende des Romans in einem Zug bzw. am Hafen befindet – also an Orten, denen die Bewegung eingeschrieben ist –, ist dieser Ort bei Kessel nicht mehr nur utopisch und damit beinahe schon außerhalb des Romans angesiedelt; im Gegenteil: das Personal erforscht primär die Bewegungsmöglichkeiten modernen Wohnens und moderner Identität im Alltag der Weimarer Republik (Von labilen Verortungen und transitorischen Identitäten – Martin Kessels ‚Herrn Brechers Fiasko‘). Max Brecher und Gudula Öften, das ungleiche Liebespaar, erläutern zwei entgegengesetzte Modelle von in Bewegung geratenen Identitäten und Wohnräumen der Moderne. Während Öften sich in dieser unendlichen Dynamik einzurichten weiß, wird es sich als das eigentliche Fiasko Max Brechers erweisen, dass er sich – Ginsters Bruder im Geiste – in diesen dynamischen Räumen der Moderne nicht mehr zurechtfindet. Während Gabriel Dan als Voyeur in Erscheinung tritt, zeigt sich Brecher als Vagabund. Öften aber, die Büroangestellte, entwirft sich als Künstlerin, als Architektin und Menschenbildnerin, die parallel zu den Bestrebungen neusachlicher Baumeister den Menschen über das Wohnen zu befreien trachtet. Sie ist geprägt vom funktionalistischen Optimismus der 20er Jahre, der Bewegung als unendliche Perfektibilität begreift und an ihren Kollegen zu testen ist. So verortet sie ihr Versuchspersonal in den Privat-Räumen. Ihre Dynamik ist der des eigentlichen Helden entgegengesetzt. Öftens Optimismus begegnet uns wieder en miniature und zur letzten Überlebensstrategie gewendet in der Figur Lämmchens in Hans Falladas Kleinem Mann – was nun? Während die vorangegangenen Romane die Identitätsentwürfe in funktionalistischen Räumen erkundet haben, legt der Kleine Mann einen Identitätsentwurf vor, der sich an einer anderen Moderne entzündet, der ‚traditionalistischen‘ (Der Traum vom Wohnen – Hans Falladas ‚Kleiner Mann – was nun? und die traditionalistische Moderne). Diese Spuren deuten auf ein differentes Verständnis von Wohnen und Subjektivität. Die Grenzen, die hier dicht gemacht werden, beziehen sich nicht mehr nur auf bestimmte Konzepte von Großstadt, sondern auf die Großstadt an und für sich. Und während für Gilgi eine Liebesbeziehung zu Martin ohne Identitätsverlust nicht lebbar war, erscheinen die Pinnebergs erst in der Aufhebung der Vereinzelung Kontur zu gewinnen. Sie entwerfen sich als Paar, als familiäre Keimzelle – diese sucht dann die Vereinzelung in einer weit radikaleren Abschottung als wir es aus den anderen Romanen kennen: in einer Abschottung vor der Stadt, den Mitmenschen und der Herkunftsfamilie. Moderne bedeutet in den 20er Jahren somit nicht nur emphatische Bejahung von Stadt und Straße, sondern auch deren Stillstellung und Ausgrenzung, bedeutet nicht nur radikale Öffnung, sondern auch Grenzziehung. Und gerade hierin lassen sich auch

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Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman Berührungspunkte mit der funktionalistischen Moderne entdecken. Um eine Befreiung des Menschen durch das Wohnen geht es beiden Lagern, und auch wenn die Pinnebergs viel eher wie die befriedeten Arbeiter aus Ginster erscheinen und die Befreiung des Wohnens zur kruden Überlebensstrategie wird, macht die Analyse der vorangegangenen Romane eines deutlich, dass das Wohnen mehr sein möchte als nur Ausdruck ökonomischer Abhängigkeiten. So ist Pits reduzierter Einrichtungsstil in Gilgi – eine von uns keine Frage des Reichtums, sondern der Einstellung, und auch Bertolt Brechts Herr Keuner stellt fest: „Das Schlechte ist auch nicht billig“, und macht damit in aller Ironie deutlich, dass das Wohnen weit mehr ist als die Erfüllung einer Funktion, nämlich Basis bzw. Teil des Selbstverständnisses, Ausdruck und Teil der Identität. Während das Wohnen in den vorangegangenen Epochen aber dieses Potential nur bestimmten Schichten zuerkannte, wird es nunmehr als allgemeingültige Notwendigkeit definiert und zugleich neu gestaltet. Gerade die so armselig wirkende Laube der Pinnebergs wird diesen Aspekt verdeutlichen helfen. Der Parcours durch die Romane der Neuen Sachlichkeit zeigt mithin unterschiedliche Identitätsentwürfe, die sich am Wohndiskurs der 20er Jahre entzünden, Identitäten, die das Potential neuer Grenzziehungen und Öffnungen, das Potential einer neuen Dynamik erforschen. Die Konzentration auf die kalten Körper und Oberflächen ist ein Aspekt der Neuen Sachlichkeit, der aber nur zu oft vergessen ließ, dass die Oberflächen nicht an der Außenhaut der Gebäude und Körper haften blieben, oder anders ausgedrückt: dass dieses Außen immer auch zugleich das Innen tingiert. Dort, wo die psycho-logische Tiefe abgeschafft wird, wird zwar tatsächlich eine bestimmte Auffassung von Identität liquidiert, nicht aber die Vorstellung von Identität an sich. Die Verdrängung der psychologischen Perspektive, welche das menschliche Handeln aus eben dieser einen Perspektive des Helden nachvollziehbar schildert, so dass kein Teil wegfallen kann, ohne dass der ganze Bau durcheinander gerät, auf den hin alles komponiert erscheint, er erinnert an die Zurückdrängung der Fluchpunktperspektive in der Architekturzeichnung der 20er Jahre. An die Stelle der Vorstellung eines von einem Betrachter ausgehenden Raumes (Sehpyramide) tritt mit der Axonometrie ein plastischer, komplexer Raum auf den Plan, der vom Betrachter unabhängig bzw. nur von einem dynamischen Betrachter wahrgenommen werden kann. Es kommt also zu keiner Auslöschung, sondern zu einer grundsätzlichen Veränderung und Neujustierung des Innen wie auch des Betrachtenden. Das in den neusachlichen Romanen konstruierte Subjekt bedarf einer Behausung, eines Zimmers für sich allein, einer Identitätszelle.

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Poetik des Privatraums Ohne diese erscheinen Identitäten gar nicht mehr denkbar. Insofern ist das Subjekt zwar von der Auflösung bedroht, reagiert aber zugleich mit einer Vergrößerung des individuellen Raumes, der Oberfläche des Körpers. Die Poetik des Privatraums zeigt eine Raumfigur, die in Bewegung geraten ist und um Grenzen kämpft. Als Helmuth Plessner über die Wiedergeburt der Form zum 25-jährigen Bestehen des Werkbundes referierte, verwies er auf diese Verschiebungen und Öffnungen als eben jene Formen, die die Moderne bestimmen: Wenn man im Schlagwort sagt ‚Die wachsende Wohnung‘ oder sich irgendwie daran stößt, daß diese Dinge nicht mehr symmetrisch sind; daß das ‚Kisten‘ sind, die scheinbar regellos aufeinander gesetzt werden; daß die Wände sich plötzlich öffnen bei der Überschreitung; daß das Ding keinen richtigen Abschluß hat; daß unendliche Weiten sich öffnen; wenn man sich an dem hohen Dache stößt, weil das flache Dach ja nicht [...] einen eigentlichen Abschluß bildet, sondern gerade einen Nichtabschluß, ein Offenhalten nach oben – dann sagt man, und hat es leicht, das zu sagen: „Das ist doch ein Gegenteil von jeder Form, ist keine Form, ist Formlosigkeit, Anarchie, Chaos, Auflösung, Bolschewismus!“ [...] Es ist eine neue Form, [...] eine Form der unendlichen Möglichkeiten! [...] Wer einmal mit unvoreingenommenem Blick durch neue Städte, durch neue Stadtviertel gegangen ist (ich denke etwa an Dessau, wo diese meisterlichen Siedlungen geschaffen sind, oder ich denke an Rotterdam oder Amsterdam), wer einmal durch diese neue Welt geht, der wird [...] erinnert an [...] utopische Romane von Marsmenschen [...]. Es ist eine Welt, in der sich die Schwerkraft irgendwie zu überwinden beginnt, nicht indem man sich aus dieser schweren Welt herauslügt, nicht indem man irgendwie romantisch nach innen flüchtet [...]; es ist eine Welt der innerweltlichen Bejahung der Welt [...] Und diese utopisch-planetarische Stimmung, wenn ich so sagen darf, liegt schon wie eine ungewollte Weihe auf diesen neuen Formen, ob es sich um ein Haus handelt oder um ein neues Gerät. Diese Leichtigkeit, die Überwindung der Schwerkraft [...] Denn die Märchen dieses Lebens, die bisher nur von den Dichtern formuliert worden sind – diese Märchen werden wir nicht nur in Büchern erleben, sondern wir werden sie selbst tun. Und dabei haben uns die neuen Meister den eigenartigen neuen Raum, die neue Haltung zum Leben ungewollt vorgezeichnet.14

Die folgenden Seiten werden diese „neue Haltung zum Leben“, die von den Architekten vorgezeichnet wurde, nunmehr nachzeichnen und in den neusachlichen Romanen gleichsam mitten im Alltag der Weimarer Republik nach diesen ‚Märchen einer neuen Identität‘

14 Helmuth Plessner, Wiedergeburt der Form im technischen Zeitalter, (Vortrag auf der 25-Jahr-Feier des Deutschen Werkbundes am 14. Okt. 1932), in: ders.: Politik, Anthropologie, Philosophie, Aufsätze und Vorträge, hrsg. von Salvatore Giammusso und Hans-Ulrich Lessing, München 2001, S. 7186, hier. S. 84/85.

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Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman fahnden. Einer Identität, die bei aller Bejahung und Begeisterung für die alltäglichen Erscheinungen der Großstadt – für Niveacreme und Gillette-Rasierapparat, für Plastiktüte und U-Bahn – dazu tendiert, den öffentlichen, den gemeinschaftlichen Raum zu ersetzen oder anders ausgedrückt: die Vorzüge des Privatraums zu entdecken und zu preisen: Grammophon oder ein guter Flügel werden euch musterhafte Wiedergabe der Bachschen Fugen schenken und euch die zugigen Konzertsäle mit Katarrh und Virtuosengetue ersparen.15

15 Le Corbusier 2001 (1922), S. 101.

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‚THE SIGNIFICANCE OF FACTS‘:1 SCHREIBEN UND WOHNEN ZWISCHEN FIKTIONEN UND FAKTEN

– GABRIELE TERGITS

KÄSEBIER EROBERT DEN KURFÜRSTENDAMM (1931)* (1931)* Als Käsebier erobert den Kurfürstendamm, der erste Roman der promovierten Journalistin Elise Reifenberg unter ihrem Pseudonym Gabriele Tergit 1931 erschien, wurde er von der Presse als der beste Zeitroman,2 als ein Spiegelbild des Bürgertums gefeiert – eine Reak-

1

*

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Ich übernehme hier ein Zitat Ludwig Mies van der Rohes, das Neil Levine als Titel seines Aufsatzes verwendet hat: Neil Levine, „The Significance of Facts“: Mies’s Collages up Close and Personal, in: Assemblage, No. 37, Dec. 1998, S. 70-101; er bezieht sich auf: Ludwig Mies van der Rohe, Rede bei der Überreichung der Goldmedaille des American Institut of Architects 1960, zitiert in: William H. Jordy, American Buildings and Their Architects, vol. 4, The Impact of European Modernism in the Mid-Twentieh Century, Garden City, New York 1972, S. 221. Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Roman, Berlin 2004 (1931); die Ausgabe Berlin 1997 bezieht sich auf eine von der Autorin überarbeitete Version von 1976, vgl. dazu Jens Brüning, Nachwort in: Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Roman, Berlin 2004. Die Neuausgabe von Jens Brüning bezieht sich auf die Originalausgabe von 1931, verzichtet aber leider auf eine Kennzeichnung der Überarbeitung aus den 70er Jahren; beide Versionen scheinen nur gering voneinander abzuweichen, so trägt Gabriele Tergit beispielsweise den Veränderungen im Sprachgebrauch Rechnung, wenn sie aus dem ursprünglichen „Vorplatz“ (2004/1931, S. 85) einen „Vorraum“ (1997/1976, S. 93) macht oder Otto Lambeck nicht mehr „am Radio“ (2004/1931, S. 50) über Käsebier spricht, sondern „im Radio“ (1997/1976, S. 55). Im General-Anzeiger erscheint 1931 eine Kritik unter dem Titel: „Literarisches. Der beste Zeitroman“ (General-Anzeiger für Dortmund und das gesamte rheinisch-westfälische Industriegebiet, 12.12.1931, Nr. 342); im Börsenblatt ist zu lesen: „Noch nie ist der Leerlauf des ganzen ‚Betriebes‘ so erschreckend dargestellt worden wie hier. In jeder Zeile ist der Tonfall und Herzschlag unserer Metropole“ (Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 2.11.1931), und die Vossische Zeitung spricht von einer „Gegenwartsskizze“; vgl. dazu Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt: Erinnerungen, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983, S. 80; Liane Schüller, Vom

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Poetik des Privatraums tion, die darauf deutet, dass es der Autorin gelungen ist, ein Stück Berliner Alltag einzufangen: den Alltag von Journalisten, von Geschäftsleuten und Architekten, von Bankiers und Bauunternehmern, die sich alle um den Ruhm des Volkssängers Käsebier verdient machen wollen. Käsebier, der unpolitische, aber den Nerv der Zeit treffende Volkspoet, wird zum Star der Berliner Szene. „Wie soll er schlafen durch die dünne Wand“, „Mensch muß Liebe schön sein“, „In Zelt 2, an der Spree, bei ’ner Tasse Kaffee“ (96) – seine Schlager füllen zwei Sommer lang – von 1929 bis 1931 – die Cafés und Kneipen, bis er wieder in Vergessenheit gerät und in der Provinz mühsam sein Geld verdienen muss: „‚Wer is’n das?‘ fragte der Einkäufer den Kellner [...]. ‚Käsebier, heißt er wohl, aber genau kann ich’s Ihnen nicht sagen‘“ (261). Tergits Roman über Medienrummel und Geschäftemacherei ist eine gelungene Alltagssimulation, welche die Grenze zwischen Fakten und Fiktionen unbemerkt vergessen machen möchte und damit die Verfahrensweise nicht nur des Journalismus, sondern auch neusachlicher Literatur und funktionalistischer Architektur beleuchtet. Architektur wie Literatur suchen durch die Betonung von Gebrauchswert, von Fakten und Funktionen ihren fiktionalen Status vergessen zu machen, hinterlassen aber eine paradoxe Mischung vermittelter Unmittelbarkeit. Es ist aber genau diese Spannbreite, die der Roman thematisch eröffnet, wenn er einerseits ins Milieu der Journalisten eintaucht, andererseits um das Wohnen und die Wohnsituation seiner Figuren kreist, einerseits also die Vermittlung von Öffentlichkeit, andererseits die unmittelbaren Wohnverhältnisse und -wünsche, also das Private, auffächert. Verbunden sind beide Bereiche über den Volkssänger Käsebier und seine Funktion innerhalb des Romans: Er ist nicht nur Medienereignis und Anreiz für den Bau eines Theaters, Wohn- und Geschäftshauses am Kurfürstendamm, sondern auch als eben solches Medienereignis nicht weniger fiktiv als die zahlreichen in den 20er Jahren entworfenen und erzählten Wohnungen des Neuen Bauens. Folgende Analyse wird sich diesen Aspekten in drei Schritten nähern, erstens über den Aufbau von Alltagsillusion und der Vermischung von Literatur und Journalismus, zweitens über die Paradoxie vermittelter Unmittelbarkeit, und schließlich drittens über die Stärkung des Fiktionalen unter der Flagge einer unbedingten Hinwendung zum Hier und Jetzt. Damit widmet sich die erste Romananalyse einem Aspekt, der auch die Struktur der folgenden Romane – von Kracauers Ginster Ernst der Zerstreuung, Schreibende Frauen am Ende der Weimarer Republik: Marieluise Fleißer, Irmgard Keun und Gabriele Tergit, Bielefeld 2005, S. 189f.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten bis zu Falladas Kleinem Mann – prägen wird. Wenn es hier um Grenzen und Grenzüberschreitungen geht, dann betrifft das weniger konkrete Identitätskonstruktionen, sondern vielmehr die Sprache und die Architektur. Während Joseph Roths Hotel Savoy den Eindruck vermittelt, ein Bauwerk zum Protagonisten zu haben, tatsächlich aber Gabriel Dan ins Zentrum stellt, so ist Tergits Roman genau umgekehrt nur prima facie ein Roman über eine veritable Person. Während Gilgi und Ginster sich an Formen der Biographie und Autobiographie anlehnen und bei Martin Kessel das einigermaßen überschaubare Büropersonal in den Blick rückt, besitzt Tergits Großstadtroman kein personales Zentrum mehr. Welche Rolle aber kann der Privatraum in einem Roman spielen, dem zumindest auf den ersten Blick der Bewohner, das Subjekt fehlt? Die ohnehin spärliche Sekundärliteratur zu Gabriele Tergits Käsebier ignoriert aus diesem Grund auch die Spuren des Wohndiskurses, fragt vielmehr nach dem Stellenwert von Historie,3 von Macht und Ohnmacht4 und untersucht die Kritik am Journalismus.5 Die Bedeutung aber, welche die significance of facts, das Vexierspiel zwischen Fiktionen und Fakten einnimmt und von Literatur und Architektur gleichermaßen betrieben werden, bleibt unbeachtet. Erst in diesem Kontext aber wird die Relevanz des Privatraums und seines Bewohners offensichtlich. In einem ersten Schritt werden jene neusachlichen Verfahrensweisen analysiert, die Authentizität und Alltagsnähe vermitteln und den Kunststatus von Literatur vergessen machen wollen, Verfahrensweisen, die in den folgenden Romanen immer wieder zum Einsatz kommen und zu den Schreibverfahren der Nähe zählen: Der Erzähler scheint zu verschwinden, seine gehobene, literarische Sprache weicht einer Alltagssprache, die ephemeren Gegenstände den Alltagsdingen.

Das Medienereignis Käsebier Ähnlich wie Martin Kessel in Herrn Brechers Fiasko, so legt auch Gabriele Tergit keine Individualgeschichte vor. Stattdessen versucht sie sich an der ‚Entindividualisierung‘6 einer Erzählung, wie Sabina 3 4 5

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Alexandra Maria Feith, „Man muß doch der Historie zusehen“: „Geschichte“ im Werk von Gabriele Tergit, Rödermark 2005. Eva-Maria Mockel, Aspekte von Macht und Ohnmacht im literarischen Werk Gabriele Tergits, Aachen 1996. Dieter Wrobel, Mediensatire wider die Entpolitisierung der Zeitung, Journalismuskritik in Romanen von Gabriele Tergit und Erich Kästner, in: Josting/ Fähnders 2005, S. 267-287. Becker 2000, 1, S. 250.

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Poetik des Privatraums Becker das Streben neusachlicher Autoren bezeichnet hat. „Der Roman führt nicht die Schilderung eines bürgerlichen Werdegangs, sondern die ‚Entwicklung‘ einer Sache vor“, erläutert Becker das Programm weiter, und Erik Reger notiert in seinem Artikel über Die publizistische Funktion der Dichtung: Charakterschilderung – ja, aber nicht als Anlaß dafür, die seelische Existenz eines Unbekannten auszusaugen. Vielmehr: Charaktere gewertet als Zustände, Situationen gewertet als Symptome unseres öffentlichen Lebens. Menschen, Gruppen, Schichten, Erscheinungen so dargestellt, daß wir an ihnen die gegenwärtigen Zustände begreifen lernen: Voraussetzungen und Folgen.7

Um eine solche Schilderung geht es in Tergits Roman, der zuvorderst die Voraussetzungen und Folgen von Käsebiers kometenhaftem Aufstieg erzählt, von seiner Eroberung des Kurfürstendamms in Form eines eigenen Theaterbaus. Seinen Erfolg verdankt er den (Massen)Medien und so erscheint er auch einzig als deren Produkt: „Symptom unseres öffentlichen Lebens“. Folgerichtig beginnt der Roman auch nicht mit dem Sänger selbst, sondern mit der geographischen Verortung eben jener Zeitungsredaktion, die den ersten Artikel über ihn lanciert und so zur Basis seines Erfolgs wird. Drüben aber nach der stillen Seite [des Dönhoffplatzes] hin, beinahe schon in der Kommandantenstraße [...], lag die Redaktion der Berliner Rundschau. Ein breites, langgestrecktes altes Haus, vier niedrige Etagen hoch, bekrönt an den Ecken von zwei Henkelvasen in griechischer Form. In der Mitte zwei überlebensgroße Stuckfiguren, Merkur und Minerva, zwischen sich ein römisches Feldzeichen. (5)

Anstelle der Beschreibung des scheinbaren Protagonisten Käsebier rückt die eines historistischen Gebäudes, das nur so strotzt vor bedeutungsschwerem Zierrat aus der Vergangenheit. Minerva reißt als Göttin der Künste und Hauswirtschaft ebenso wie auch Merkur als Götterbote und Schutzgott der Kaufleute die Themen an, um die der Roman kreisen wird: Um Nachrichten und Mediengeschichte, um die Produktion neuer Waren, um das Wohnen. Dennoch wird hier bereits eine für den funktionalistischen Wohndiskurs typische distanzierte Haltung gegenüber einer Architektur eingenommen, die sich der Moderne verweigert. Von Käesbier selbst ist jedoch erst gegen Ende des ersten Kapitels die Rede, er wird noch als unbekannter Chansonsänger beschrieben (10) und namentlich sogar erst auf Seite 16 genannt. Einzig über Telefon, Brief oder eben als Künstler auf der Bühne kommt er zu Wort und damit äußerst vermittelt und

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Erik Reger, Die publizistische Funktion der Dichtung, in: General-Anzeiger, Dortmund, 31.3.1931, in: Becker 2000, 2, S. 190-192, hier S. 191.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten distanziert. Es ist offensichtlich, dass Käsebiers Karriere nicht als Bildungsgeschichte dieses individuellen Menschen von Interesse ist. Erzählenswert erscheinen vielmehr die Strategien der Medien, die ihn zum Star machen, und seine Verwandlung zur bzw. seine alleinige Behandlung als mediale Ware. Ein Zufall, eine veritable Leerstelle sind Auslöser für die Besprechung seiner Aufführung: „Ich habe nichts für die Donnerstagseite“ (7), lamentiert der Redakteur Miermann, und in eben diesem Moment erinnert sich „der Mitarbeiter Emil Gohlisch“ an einen Bekannten, der von einem Volkskabarett erzählt habe: „Sei so ein guter Chansonsänger dort, müßte man mal hingehen, ist in der Hasenheide.“ (10) Mit ein paar Wochen Verzögerung erscheint schließlich im Februar 1929 Gohlischs Artikel Monmartre in Berlin als Aufmacher im Feuilleton der fiktiven Berliner Rundschau.8 Gohlisch spricht von einem ‚unterschätzten Talent‘ und wählt damit eine Formulierung, die nicht nur massenweise kopiert werden wird, sondern auch die Tore zur bürgerlichen Welt öffnet: ein unterschätztes Talent ist fast so gut wie ein ‚verkanntes Genie‘, ein ‚wahrer Künstler‘. Zwei Wochen später druckt auch die Berliner Tageszeitung eine Reportage über Käsebier, verfasst von dem Literaten Otto Lambeck (49), der in der darauffolgenden Woche auch im Radio über den Chansonnier berichten wird, genauer: am 10. März 1929 (50). Danach gibt es „kein Halten mehr“ (50). Zeitungen und Zeitschriften von Köln bis München – insgesamt acht werden namentlich genannt – widmen dem Volkssänger ihre Aufmerksamkeit, der freie Journalist Willi Frächter bietet der „mittleren Provinzpresse“ (52) eine Artikelserie an und veröffentlicht schließlich einen Sammelband über den neuen Stern am Himmel, in dem sogar Käsebier selbst ein paar Zeilen schreiben darf. Käsebiers Erfolg lässt sich daran ablesen, dass er zum Liebling der bürgerlichen Presse avanciert, infolgedessen muss er sich aber auch topographisch verändern, seinen Aufführungsort von der proletarischen Hasenheide in den vom Bürgertum frequentierten Wintergarten verlegen, bis ihm schließlich ein eigenes Theater am Kurfürstendamm gebaut wird. Ein ambitioniertes Projekt des Bauunternehmers Otto Mitte & Co., des Bankiers Muschler, des Geschäftemachers Dr. jur. Reinhold Kaliski und des Architekten Karlweiß. „‚Haben Sie schon mit Käsebier verhandelt?‘, fragte der [Hausarchitekt] Oberndorffer. ‚Nö‘, sagte Muschler, ‚wozu denn, dazu haben wir noch immer Zeit. Erst muß das Finanzielle erledigt sein.‘“ (118) 8

Anders als Liane Schüller (2005, S. 193) behauptet, existierte die Berliner Rundschau in der Weimarer Republik ebenso wenig wie der Chansonnier Käsebier. Eine gleichnamige Zeitung wird erst 1970 von der CDU gegründet; vgl. Walther G. Oschilewski, Zeitungen in Berlin, Im Spiegel der Jahrhunderte, Berlin 1975, S. 281.

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Poetik des Privatraums Auf diese Weise ist Käsebier innerhalb kürzester Zeit zu einem Produkt, zu einem Markennamen geworden, es gibt ihn fortan „in Ton und Bild und als Gedeckte[n] Tisch“ (119), zum besten Artikel aber avanciert „eine Käsebierpuppe, die aufgezogen singen konnte: ‚Wie kann er schlafen durch die dünne Wand?‘“ (149) Unübersehbar ist also der Umstand, dass Käsebier – selbst dann, wenn er an einigen Stellen des Romans realiter in Erscheinung tritt – ein Kunstprodukt ist, dessen vermittelter, fiktiver Status stets zu kaschieren versucht wird, lautet das Credo der neusachlichen Autoren doch: wir erfinden keine phantastischen Kunstwelten, sondern wir dokumentieren und zeichnen auf, registrieren das Leben auf der Straße. „Ich wollte“, schreibt die Autorin 1976 an eine Freundin, „ich wollte, was ich für die Aufgabe eines Romanschriftstellers halte, das Hier und Jetzt so genau, so wahr schildern, als ich kann.“9 Als Siegfried Kracauer für seinen Essay Die Angestellten eine Privatsekretärin bittet, über ihren Büroalltag zu berichten, erklärt ihm diese ablehnend: „Das steht doch schon alles in den Romanen“.10 Schenkt man dieser Passage Glauben, dann scheint der Plan neusachlicher Autoren tatsächlich aufgegangen zu sein, denn die Büroangestellte verweist zur Erläuterung ihres Lebens auf fiktionale Literatur. Eine Literatur, die unter solchen Umständen tatsächlich zum Transportmittel für jene Geschichten wird, die das Leben selbst geschrieben hat, büßt dadurch ihren erhöhten Status ein. Im Gegenzug aber, in einer Art Tauschgeschäft, wird ihr die Aura von Faktizität und Realität zugesprochen, eine Aura, die eigentlich die modernen Alltagsmedien Zeitung, Radio und Film, aber auch Telefon, Telegramm und Brief11 für sich reklamieren. Der Umstand, dass eine solche Nähe zu den Gebrauchsmedien auch sprachlich seinen Niederschlag findet, dass insbesondere journalistische Techniken übernommen werden, ist für die neusachliche Literatur zwar schon zu einem Gemeinplatz avanciert – schließlich wird eben ein solches Schreiben programmatisch eingefordert. Den9

Brief an Jutta Siegmund-Schuktze, Winter 1976, S. 5 (Literaturarchiv Marbach, Nachlass der Autorin), in: Schüller 2005, S. 189. 10 Kracauer, Werke, Bd. 1, 2006 (1929), S. 217. Selbstverständlich hat diese Einschätzung einer Angestellten Kracauer nicht davon abgehalten, sein Unternehmen fortzusetzen, denn „es steht nicht alles in den Romanen, wie die Privatangestellte meint“, fährt Kracauer fort. „Gerade über sie und ihresgleichen sind Auskünfte kaum zu erlangen. Hunderttausende von Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern“, ebd. S. 217/218. 11 Neben dem Leitmedium Zeitung, spielen auch Radio, Film (Wochenschauen ebenso wie Spielfilme) und das Telefon eine entscheidende Rolle.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten noch lohnt ein Blick auf die Techniken, die in Tergits Roman zum Einsatz kommen, denn hier wird ein beachtliches Spiel auf unterschiedlichen Fiktionsebenen gespielt. Da sind zunächst einmal jene Reizwörter wie Kurfürstendamm, Dönhoffplatz und Kaufhaus Tietz12 zu nennen, mithin die genauen Ortsangaben, mit denen der Roman beginnt und sich an eine reale Topographie bindet: Die Kommandantenstraße zu Berlin, halb schon Konfektions- und halb noch Zeitungsviertel, beginnt an der Leipziger Straße mit einem hübschen Blick auf die Bäume des Dönhoffplatzes [...] und verliert sich in der Proletarier- und Fabrikgegend der Alten Jakobsstraße. (5)

Diese exakten Ortsangaben wecken ebenso wie jene von Datum und Uhrzeit13 den Eindruck von Authentizität. Wenngleich im Präteritum abgefasst, so ereignet sich das Erzählte im Hier und Jetzt, es kommen keine Pro- oder Analepsen zum Einsatz, alles findet zwischen Frühjahr 1929 und 1931 statt, auf den Straßen und in den Cafés, auf den Gesellschaften, vor allem aber in der Eroberung und dem Verlust von Territorien als Ausdruck von Gewinn an oder Demontage von gesellschaftlicher Stellung. Ein telegrammartiger, temporeicher Erzählstil ebenso wie der hohe Einsatz direkter Rede verstärken den Effekt einer registrierenden, direkt am Leben teilnehmenden Literatur: Er wollte in die Elektrische nach Hallensee steigen. Sie kam nicht. Er wartete. Neben ihm wartete ein junges Mädchen. Sie ging auf und ab. Meyer fixierte sie. Sie sah ihn an. Sie war jung. Offenbar aus gutem Hause. „Wollen wir uns ein Auto nehmen?“ fragte er. Sie nickte. Er winkte. Das Auto kam. (71/72)

Eine Liebesszene, wie sie nüchterner wohl kaum geschildert werden kann und den Leser zum Beobachter des Geschehens macht, zum Voyeur der äußeren Zeichen einer Tändelei. Der Erzähler scheint dabei zu verschwinden. Kursorisch und passagenweise auch gar nicht erscheint er bei der Widergabe direkter Rede und der ‚Aufzeichnung‘ von Telefongesprächen: „Hallo, hallo, Miezeken“, beginnt ohne weitere Einleitung das achte Kapitel nach der Überschrift Der Pariser Korrespondent des Allgemeinen Blattes kommt nach Berlin und fährt auf diese Weise über zwei Seiten fort:

12 „Der Dönhoffplatz! Rechts Tietz, Inventurausverkauf!“ (5) 13 „Am nächsten Tag um 12 rief Miermann sie an“ (39); „Am nächsten Tag klingelte um 11 Uhr das Telefon bei Lambeck“ (50); „Am Freitag, den 10. März, sprach Otto Lambeck am Radio“ (50)

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Poetik des Privatraums „Hallo, hallo, Miezeken.“ „Hier Marie Pantke. Wer spricht?“ „Na, Fräulein, warum denn so mit de frisierte Schnauze? Hier Oskar Meyer.“ „Mensch Meyerchen. Seit wann denn?“ „Heute nachmittag?“ „Na, das is ja mal ’n Freudentag.“ (57)

Wie auch in Martin Kessels Roman, so trifft man auch in Tergits Romanwelt auf einen kaum zu bändigenden Redeschwall; aber während in Herrn Brechers Fiasko die Wortbeiträge auf die Angestellten der Propagandaabteilung beschränkt bleiben, melden sich in Käsebier mehr als drei Dutzend Personen zu Wort, so als würde das ganze in den Blick genommene Stadtgebiet die Stimme erheben. „Er ist himmlisch“, sagte Hannelore. „Ist er kühn?“ fragte Susi. „Ja“, sagte Hannelore stolz. „Hat er dich geküßt?“ fragte Susi. „Ja, denke Dir, im Wintergarten.“ „Liebt er Dich?“ „Sicher.“ „Wir müssen uns morgen sprechen, ich erzähle Dir ausführlich.“ „Wir telefonieren morgen früh.“ (109)

Seien es nun die exakten Ortsangaben, die Aussparung von Zeitsprüngen, die direkte Rede, Telefongespräche, Briefe,14 Plakate15 oder schließlich die Fülle an Daten und Statistiken16, hier wird der Gestus einer gründlichen Tatsachenrecherche gepflegt, wie sie aus Nachrichten und Reportagen bekannt ist. Als Egon Erwin Kisch 1925 seine Sammlung Der rasende Reporter herausgegeben hat, formulierte er in seinem Vorwort eben jene Tugend, der auch Tergits Roman entspricht, nämlich als Augenzeuge jener Ereignisse aufzutreten, die „gar nicht so fern, gar nicht so selten und gar nicht so mühselig erreichbar“17 sind. Käsebier wendet sich dem Alltag Berlins zu, der Roman ist – wie auch Alfred Döblins Alexanderplatz – bis zu einem gewissen Grad als Lokaljournalismus zu bezeichnen, von einem Erzähler bzw. Reporter präsentiert, der teilweise beob14 S. 80. 15 S. 83. 16 „Und das arbeitende Volk, 42 oder 48 oder 52 Pfennige die Stunde, vorausgesetzt, daß man Arbeit hat. Die guten fetten Schinkenenden kosteten 1,10 Mark. Schweineköpfe bekam man das Pfund schon für 30 Pfg. Es war 6 Uhr. Gebratene Leber und Suppe 75 Pfg.“ (83) 17 Egon Erwin Kisch, Vorwort zur ersten Auflage ‚Der rasende Reporter‘ von 1925, zitiert nach: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. 5, Berlin, Weimar 1974, S. 660.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten achtet und miterlebt, teilweise journalistisch recherchiert,18 sich also vor allem durch perspektivische Geschmeidigkeit auszeichnet. Die Aufgaben der Reportage lesen sich in Erich Straßners Abhandlung zu Journalistischen Texten aus dem Jahre 2000 wie die Definition neusachlicher Verfahrensweisen: Die Reportage gründet genuin auf der Augenzeugenschaft. [...] Der Leser erlebt dann gleichsam das Geschehen in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe mit. Genaue Ortsangaben, Detailbeobachtungen, Stimmungs- und Emotionskundgebungen, konkrete Anschaulichkeit wie auf sprachlicher Ebene das aktualisierende Präsens oder Temporaldeiktika und Adverbien bestimmen die Geschehensübermittlung.19

Wenn der Roman schlussendlich auch noch explizit von der Literatur einfordert, was ursprünglich alleiniger Anspruch der Zeitungen war, nämlich Aktualität, dann wird das eigene Verfahren ausdrücklich verhandelt. Es ist die Redakteurin Dr. Charlotte Kohler, die sich über die Schreibpraxis des Dramatikers Otto Lambeck mokiert: Warum nimmt dieser Mensch, der das Leben unserer Tage kennt wie kein anderer, bloß immer so vertrottelte Themen? Er braucht Chroniken des 16. Jahrhunderts statt des Polizeiberichts. Zu traurig, dachte sie. (49)

Gabriele Tergit, die selbst als Gerichtsreporterin tätig war,20 pflegt eine professionelle Nähe zum Polizeibericht, der in der neusachlichen Diskussion um Authentizität und Aktualität zur Metapher avanciert: Als sich Joseph Roth Ende der 20er Jahre vom Verfechter zum Gegner der Neuen Sachlichkeit wandelt, prangert er genau jene „Sehnsucht [...] nach der falschen [...] Autorität des Polizeiberichts“

18 So Thorsten Unger über Kischs Reportagen (Thorsten Unger, Erlebnisfähigkeit, unbefangene Zeugenschaft und literarischer Anspruch, Zum Reportagekonzept von Egon Erwin Kisch und seiner Durchführung in Paradies Amerika, in: Bernd Blöbaum, Stefan Neuhaus (Hg.), Literatur und Journalismus, Theorie, Kontexte, Fallstudien, Wiesbaden 2003, S. 173-195, hier S. 181). 19 Erich Straßner, Journalistische Texte, Tübingen 2000, S. 84. 20 Gabriele Tergit arbeitete vor allem als Gerichtsreporterin für das Berliner Tageblatt, den Berliner Börsen Courier und für die Weltbühne, vgl. dazu: Jens Brüning, Nachwort, in: Gabriele Tergit, Atem einer anderen Welt, Berliner Reportagen, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jens Brüning, Frankfurt am Main 1994, S. 201/202; Kurt Koszyk, Publizistik und politisches Engagement: Lebensbilder publizistischer Persönlichkeiten, Münster 1999, S. 487-490; Gisela Brinker-Gabler, Karola Ludwig, Angela Wölffen (Hg.), Lexikon deutschsprachiger Schriftstellerinnen 1800-1945, München 1986.

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Poetik des Privatraums an,21 sie habe in der „furchtbarste[n] aller Verwechslungen, [...] das Wirkliche für wahr, das Dokumentarische für echt, das Authentische für gültig“ gehalten, die Zeugenaussage über die künstlerische Gestaltung gestellt.22 Im Käsebier aber wird an eben jenem Otto Lambeck vorgeführt, dass die proklamierte Abspiegelung des Lebens auf der Straße gar nicht so einfach auszuführen ist, wie Roth insinuiert, dass hier mehr Gestaltung am Werk ist, als intendiert. Otto Lambeck wird nämlich gegen seine eigenen Absichten im Auftrag der Berliner Tageszeitung auf Reportagetour durch Berlin geschickt; er soll zum Lokalreporter des Hier und Jetzt werden. Über eine impressionistische Bestandsaufnahme kommt Lambeck aber nicht hinaus, es fällt ihm offenbar schwer, sich jenseits seiner literarischen, künstlerischen Kategorien, die ihm eine klare Rollenverteilung mit typisiertem Personal vorgeben, zu bewegen, ja seine Abneigung dem Alltag gegenüber wird ihm mit Goethe versüßt: „Wissen Sie, wie wär’s, Sie würden über diese hinreißende Stadt schreiben? Auch Goethe hat es nicht verschmäht, sich gelegentlich an aktuellen Gegenständen zu versuchen.“ (31)

Aber: Otto Lambeck hatte schon wieder die Idee eines großen Dramas. Wie, dachte er, immer nur die kleinen Sorgen, immer nur Fürsorgeerziehung und § 218 und als letzter Schrei Historie oder Bett und nochmals Bett? Ich will einen Helden auf die Bühne bringen, einen Kerl, daß die Männer staunen und die jungen Mädchen selig sein sollen. (43)

Das Ergebnis seiner Recherchen bekommt der Leser nicht zu Gesicht, wohl aber die Schwierigkeiten, mit denen sich Otto Lambeck konfrontiert sieht. In Anbetracht der vielen Details ist er überwältigt und unfähig, „allein den Stoff zu finden“ (45). Zugleich thematisiert der Roman explizit sein eigenes Verfahren, wenn er das Problem einer rhetorisch unentwegt eingeforderten imitatio jener kleinen Sorgen, die Lambeck so zuwider sind, in den Blick rückt. Ein Problem, vor das sich nicht nur die Schriftsteller, sondern auch die Journalisten der 20er Jahre gestellt sahen und das zu jener paradoxen Konstellation der vermittelten Unmittelbarkeit führt, die es später noch genauer zu analysieren gilt. Die Nähe zwischen neusachlicher Literatur und Journalismus kommt jedoch nicht nur durch die Hinwendung zum Hier und Jetzt 21 Joseph Roth, Der Amerikanismus im Literaturbetrieb, in: Frankfurter Zeitung, 29.1.1928, abgedruckt in: ders.: Werke 2, hrsg. von Fritz Hackert, Köln 1989, S. 908. 22 Roth, Werke 3, 1991 (1930), S. 153.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten oder durch vergleichbare Verfahrensweisen zustande – Thorsten Unger fasst zusammen: Die neusachliche Literatur greift politische und wirtschaftliche, soziale und kulturelle Gegenwartsthemen auf, die zeitgleich auch in den Printmedien diskutiert werden, gestaltet sie oft dokumentarisch mit klaren Zeit- und Ortsbezügen und auf der Basis einer Sachanalyse, die nicht selten eine gründliche Recherche erkennen lässt.23

Autoren und Journalisten bemühen sich darüber hinaus um dasselbe Zielpublikum, den sprichwörtlichen Kleinen Mann. Als ein regelrechtes Konkurrenzverhältnis bezeichnet Michael Winkler die Beziehung zwischen Literatur und Tagespresse, Letztere formuliert dem Romancier nicht nur die Meinungen vor; sie nimmt ihm auch die Themen und Motive weg. Gerade der seit Mitte des Jahrzehnts aktive Reformjournalismus, der [...] sich den Problemen des ‚kleinen Mannes‘ widmete, bediente den gleichen Markt wie der Zeitroman. Beide sind praktisch zeitgenössische Phänomene. Daher überrascht die Beobachtung nicht, daß fast alle Autoren von Zeitromanen im Unterschied zur expressionistischen Dichtergeneration ihren Lebensunterhalt als Journalisten verdienten, daher mit der Arbeitsweise der Tageszeitungen aus persönlicher Erfahrung vertraut waren und diese auch mehr oder weniger in ihre Romanproduktion übernahmen.24

Auch Gabriele Tergit verdiente ihren Lebensunterhalt als Journalistin – sie arbeitete von 1924 bis zu ihrer Emigration im Jahr 1933 u.a. für das Berliner Tageblatt unter Theodor Wolff, schrieb für den Berliner Börsen Courier und die Weltbühne, zeitweise unter dem Pseudonym Christian Thomasius – und gehört damit jenen journalistisch tätigen Autoren bzw. schriftstellerisch aktiven Journalisten an, die das reportagehafte Schreiben mühelos beherrschten. Nicht nur erinnern ihre Kapitelüberschriften im Käsebier an Headlines: Ein Mädchen läuft durch die Stadt – Ein Kind stirbt und ein Mann verzweifelt – Käsebier kehrt zurück, sie integriert sogar ganze Passagen aus ihren zuvor im Berliner Tageblatt publizierten Reportagen in den Käsebier-Roman. So findet sich ihr Artikel Umzug 1931 als ‚Fünfundzwanzigstes Kapitel Wohnungswende‘ wieder und das ‚Zehnte Kapitel Premiere im Wintergarten‘ ist bereits in der Reportage Varieté vorformuliert.25 Gänzlich unauffällig werden die Reporta23 Unger 2003, S. 174. 24 Michael Winkler, Paradigmen der Epochendarstellung in Zeitromanen der jüngsten Generation Weimars, in: Thomas Koebner (Hg.), Weimars Ende, Prognosen und Diagnosen in der deutschen Literatur und politischen Publizistik 1930-33, Frankfurt am Main 1982, S. 360-376, hier S. 363. 25 Weitere Übernahmen sind: Die Luxusgroßmama, im Roman in ein Telefongespräch zwischen Mutter und Tochter Muschler integriert (S. 109, S. 135); Der Generaldirektor oder „Die Verhältnisse“ wird gleich zweimal in den

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Poetik des Privatraums gen in den Roman integriert und bleiben keineswegs Ready-Mades oder erkennbare Zeitungsausschnitte. Damit bedient sich Tergits Roman einer mit Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz vergleichbaren Vorgehensweise, zu der Volker Klotz bemerkt: die Ergebnisse des konkurrierenden Mediums sprechen nicht einfach für sich, sie werden nicht als Fremdkörper in den Text montiert, viel eher werde das journalistische Verfahren in Erzählen umfunktioniert.26 Aus mehreren Gründen lässt sich Gabriele Tergits Roman demnach als Medienroman bezeichnen: erstens, weil der Chansonnier ein reines Medienprodukt ist,27 zweitens, weil mit Dr. Charlotte Kohler, Redakteur Miermann und Gohlisch ebenso wie mit Willi Frächter ein ganzes Panorama unterschiedlicher Journalistentypen entworfen wird,28 drittens weil journalistische Schreibweisen und Themen der Tagespresse übernommen werden, viertens weil vor allem das Telefon bzw. die unentwegten Gespräche am Telefon dem Roman ein weiteres Moment der Vermitteltheit inkorporieren. Es ist die Inszenierung eines Medienereignisses, die der Roman vor Augen führt, die Fiktionalität journalistischer Berichterstattung ebenso wie neusachlicher Produktionen, wenn sie sich im Wunsch nach Authentizität und Aktualität treffen. Bevor dieses Verhältnis aber genauer in den Blick genommen werden kann, gilt es, das zweite Großthema, jenes vom Bauen und Wohnen, in den vom Roman selbst angedeuteten Zusammenhang mit den Medien und ihrer Vermitteltheit zu stellen.

Roman montiert, einmal im fünften Kapitel in ein Gespräch zwischen dem Verleger Waldschmidt und Otto Lambeck (S. 32-34), ein weiteres Mal in eine Unterredung desselben Verlegers diesmal mit Käte Herzfeld (S. 142, 143); sämtliche hier genannten Reportagen in: Gabriele Tergit, Atem einer anderen Welt, Berliner Reportagen, hrsg. und mit einem Nachwort versehen von Jens Brüning, Frankfurt am Main 1994; vgl. auch: Gabriele Tergit, Frauen und andere Ereignisse, Publizistik und Erzählungen von 1915 bis 1970, Hrsg. von Jens Brüning, Berlin 2001. 26 Klotz 1969, S. 429. 27 Stephan 1995, S. 297. 28 Ein solches Panorama findet sich auch in Erich Kästners Fabian, der zeitgleich und im selben Verlag erscheint. Zu den Journalisten in Tergits Roman zählen: Miermann, Gohlisch, Kohler (alle Berliner Rundschau), Frächter (frei), zu den Verlegern Cochius (Berliner Rundschau) und Waldschmidt (Berliner Tageszeitung).

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten

Wohnen in der Fiktion Auf einer Gesellschaft bei Margot Weißmann (99ff) – in einem Berliner Interieur – wollen zwei findige Junggesellen einerseits die Geschicke der Zeitung Berliner Rundschau in die Hand nehmen und mehr auf Reklame, mehr auf Unterhaltung setzen (Frächter),29 andererseits die Idee zu einem Käsebiertheater an den Terrainbesitzer und Bankier Muschler herantragen (Dr. jur. Kalinski).30 Nach dem ersten Drittel des Romans beginnt so das Thema vom Bauen und Wohnen eine immer größere Rolle zu spielen. Dabei ist es nicht alleine das Käsebiertheater das im Voranschreiten der Handlung in den Fokus des Interesses rückt, im Laufe des Romans erscheint vielmehr beinahe jede Figur auf der Suche nach einer eigenen neuen Wohnung. Ziemlich unvermittelt hinterlässt der Wohndiskurs seine Spuren in Käsebier, dessen Titel zwar schon von der Relevanz, die der (Stadt)Architektur eingeräumt wird, kündet, indem der äußerst proletarisch klingende Name des Volkssängers Käsebier auf die Nobeladresse Berlins, den Kurfürstendamm, stößt und ihn erobert. Ohne die Massenpresse würde es das „Theater für Käsebier und ein großes Wohnhaus mit Läden und Garagen“ (117) sicher nicht geben, dennoch ist jenseits der histoire-Ebene danach zu fragen, warum die frisch geschiedene Käte Herzfeld betont: „Ich hoffe jetzt bald eine hübsche Wohnung zu haben“ (43), Margot Weißmann völlig „überlastet“ ist, denn „wir suchen doch Wohnung. Wir wollen in den alten Westen zurück“ (93), oder die Redakteurin Dr. Charlotte Kohler ihrer Mutter resigniert erklärt: „Was wir brauchen, kriegen wir überhaupt nicht, nämlich eine Drei- bis Vierzimmerwohnung.“ (86) Schon im ersten Kapitel ist von einem bald erscheinenden „Artikel über Neubauten“ (7) die Rede und der Journalist Heinrich Wurm schreibt über die neuesten „Berliner Projekte“ (53). Daneben werden wortwörtliche Übernahmen aus der Wohndebatte wie auch eigene Reportagen in den Roman integriert, so ist von den noch immer fehlenden 30.000 Wohnungen ebenso die Rede (115) wie von der Wohnungswende (Kap. 25 – ein detaillierter, lexikonartiger Überblick zum Wohnungsmarkt der 20er Jahre und den menschenunwürdigen Wohnbedingen (141/217). Ein ganzer Abschnitt 29 Frächter: „Tempo, Schlagzeile, Sensation, das wollen die Leute. Amüsement. Jeden Tag eine andere Sensation [...]. Sie müssen einen Rundflug der Berliner Rundschau machen, Sie müssen das schönste Berliner Bein prämieren, tausend kleine Häuschen, eine Schwimmkonkurrenz mit Auszeichnung. [...] Sie müssen in alle Kreise kommen. Der Zeppelin darf nicht mehr Zeppelin heißen, sondern Berliner Rundschau.“ (104/105) 30 Kaliski: „Sie haben doch Terrains [...]. Gerade richtig. Großes Haus. Reines Vergnügungsetablissement. [...] Unten links Läden. Rechts Käsebier, durch zwei Stockwerke das Lokal für Käsebier. Nur Käsebier.“ (106/107)

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Poetik des Privatraums aus Gustav von Schmollers Mahnruf in der Wohnungsfrage (1890) wird beinahe unverändert übernommen: So nötigt die heutige Gesellschaft die untern Schichten des großstädtischen Fabrikproletariats durch die Wohnverhältnisse mit absoluter Notwendigkeit zum Zurücksinken auf ein Niveau der Barbarei und Bestialität, der Rohheit und des Rowdytums [...]. Ich möchte behaupten, die größte Gefahr für unsere Kultur droht von hier aus.31

Das Aufeinandertreffen alter und neuer Wohnvorstellungen wird ebenso beschrieben wie die Übernahme des Neuen Bauens als dernier cri: „Ich finde die modernen kahlen Wohnungen scheußlich, und meine Nichte sagt: ‚Wie kannst Du es bloß in den vollgestopften dunklen Zimmern aushalten?‘“ (165) Der Bauunternehmer Otto Mitte „baute Gartenstädte, er baute Laubenganghäuser, er baute flache Dächer – ‚verheerend, aber wird verlangt‘, – er baute Steildächer, er baute Reihenhäuser, er war kein Rebell“ (142), und er plant mit dem Architekten Karlweiß eine Großsiedlung in Hohenschönhausen, deren Kritik der Feder des Neuen Bauens entspringt: Nach einem völlig irrsinnigen Plan wurden dort Wohnungen für 5.000 Menschen geschaffen. Der Hauptplatz wurde für Lichthöfe und wunderschöne weitläufige Treppenhäuser genommen, was eine bildschöne Fassade ergab. Die Wohnungen hingegen enthielten zwei kleine Löcher als Zimmer, dazu Bad, Küche, Nebengelasse, was alles um eine sehr geräumige fensterlose Diele herumlag. Das Resultat war später, daß Frau und Kinder jahraus, jahrein in dem fensterlosen Raum bei künstlichem Licht spielten und nähten. (166)

Im Architekten Oberndorffer erhält das Neue Bauen eine Stimme, die sich aber gegen die Schiebereien nicht durchsetzen kann, Oberndorffer kämpft vergeblich für funktionale Grundrisse, die den Repräsentationsansprüchen des Bürgertums ebenso wenig entsprechen wie den proletarischen Vorstellungen von Gemütlichkeit. Was am Funktionalismus modisch erscheint, wird vom Bauunternehmer kurzerhand übernommen, den Geist des Neuen Bauens aber atmen die realisierten Räume keineswegs. Kollektiv wird die Moderne für das Scheitern verantwortlich gemacht: In den Kreisen des Geldgebers und Bankiers Muschler ist man entsetzt über die minimalistische Dimension der Wohnungen im Haus Käsebier. „Wenn schon keine hochherrschaftlichen Wohnungen“ dann sollten doch „wenigstens vier, fünf oder sechs Zimmer“ zur Verfügung stehen. „Eine richtige, hochherrschaftliche Wohnung fängt bei sieben Zimmern an, drei Toiletten, Anrichte, zwei Bäder, Wintergarten, das ist rich31 Gustav von Schmoller, Ein Mahnruf in der Wohnungsfrage, in: Hartmut Frank und Dirk Schubert (Hg.), Lesebuch zur Wohnungsfrage, Köln 1983 (1890), S. 159-174, hier S. 162 u.174; in den Roman montiert auf S.141.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten tig“; und „daß man plötzlich Proletarierwohnungen am Kurfürstendamm baut“ ist ebenso schockierend wie „Wohnungen ohne jede Repräsentation“, die als „lächerlich“ disqualifiziert werden.32 Auf der anderen Seite versucht Käsebiers Frau ebenso vergeblich die Wohnwünsche des aufsteigenden Proletariats zu verwirklichen: Frau Käsebier, der zuerst die Wohnung am Kurfürstendamm als Paradies erschienen war, weinte manche Träne. Gewohnt in der Küche zu essen, wollte sie diese Gewohnheit nicht aufgeben. Und die Küchen waren, wie es bei den Modernen üblich ist, auf ein Minimum beschränkt. Das Hin- und Herservieren hätte ihre ganze Gemütlichkeit getötet, und sich ein Mädchen zu nehmen, widerstand ihr aufs heftigste. (222)

Während in Martin Kessels Herrn Brechers Fisako der Protagonist eine Werbebroschüre für neue Wohnungen verfasst, deren Wortlaut deutliche Parallelen zu einem Artikel Adolf Behnes – einem der wortgewaltigsten Verfechter des Neuen Bauens – aufweist,33 schildert Gabriele Tergit quer durch die Gesellschaft die Reaktionen auf das Neue Bauen, die Stimmen des Bürgertums auf der einen Seite, die weiterhin auf Repräsentation setzen, jene des Proletariats auf der anderen Seite, die keineswegs einen Fortschritt in Erfindungen wie der Frankfurter Küche, einer reinen Arbeits- und eben nicht mehr Wohnküche, entdecken können, und mittendrin die vor allem weiblichen Angestellten wie die Redakteurin Dr. Charlotte Kohler, die von einer 40Quadratmeter-Wohnung träumt,34 einem Zuhause, das zumindest in seinen Ausmaßen deckungsgleich ist mit den Idealen des Neuen Bauens, oder wie die selbstständige Käte Herzfeld, die „für ihre Gymnastikschule eine gutgelegene Wohnung in der Kurfürstendammgegend“ (40) sucht und später auf Abzahlung kauft (130). Aufgrund dieser massiven Präsenz der Wohndebatten35 ist es wohl auch dazu gekommen, dass sich ein Ausschnitt des Romans in dem 2001 erschienenem Lesebuch für Architekten befindet,36 ja man kann vermuten, dass Gabriele Tergit heute unter Architekten bekannter ist als unter Germanisten, denn in eben diesem Lese32 Sämtliche Zitate auf S. 163-164. 33 Vgl. das Kapitel über Herrn Brechers Fiasko. 34 „Zu Hause in Blumeshof erwartete sie [Dr. Charlotte Kohler] ihre Mutter [...]. Die Wohnung war sehr elegant gewesen. [...] Der Vorplatz war 40qm groß, „genau so groß, wie eine Wohnung sein müßte, in der ich glücklich wäre“, dachte Kohler immer.“ (85) 35 Gabriele Tergit heiratete 1928 den Architekten Heinrich Julius Reifenberg. 36 Das Lesebuch für Architekten ist eine Wiederauflage des 1941 erstmals von dem Hamburger Stadtarchitekten Fritz Schumacher zusammengestellten Lesebuchs für Baumeister, neu bearbeitet und ergänzt um einige Texte, u.a. Gabriele Tergit: Die Baupolizei, in: Peter Conradi (Hg.), Lesebuch für Architekten, Stuttgart, Leipzig 2001, S. 205-213.

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Poetik des Privatraums buch erhält der Roman, anders als bei den Literaturwissenschaftlern, in der Nachbarschaft zu Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz und Bertolt Brechts Über die Städte seinen gebührenden Platz in der Großstadtliteratur der Moderne. Noch immer aber ist unklar, in welchem Verhältnis der Wohndiskurs zum Medienroman Käsebier steht; tatsächlich lässt sich ein struktureller Zusammenhang herstellen, der allerdings einen kleinen Exkurs in die Architekturgeschichte erforderlich macht, denn in der Tat geht die Architektur in den 20er Jahren eine neue, enge und folgenreiche Verbindung mit den (Massen)Medien ein. So ist beispielsweise zu konstatieren, dass eine der auffälligsten Erscheinungen auf dem Buchmarkt der Weimarer Republik der enorme Zuwachs an Architekturbüchern ist, Publikationen, die sich weder an ein kunstwissenschaftliches noch an ein Fachpublikum wenden, sondern an den Laien. So bemerkt der Architekturpublizist Alexander Schwab (alias Albert Sigrist) 1930 in eigener Sache: „Vielleicht noch niemals in der Geschichte der Kultur ist über das Bauen [...] so viel für das breite Publikum geschrieben worden wie heute“37, und Roland Jaeger erläutert: Tatsächlich ist es im Verlauf der zwanziger Jahre zu einer derart signifikanten Zunahme von Verlagen, Büchern und Zeitschriften im Themenbereich von Architektur, Städtebau, Raumkunst und Wohnungswesen gekommen, daß erstmals von einer regelrechten ‚Architekturpublizistik‘ als eigenständiger Gattung neben baugeschichtlicher Kunstliteratur einerseits und bautechnischer Fachliteratur andererseits gesprochen werden kann. Diese ‚Architekturpublizistik‘ beschränkte sich jedoch nicht nur auf Bücher und Zeitschriften, sondern bestand vielmehr aus einer Vielzahl unterschiedlicher Veröffentlichungs- und Vermittlungsformen, zu denen Kongresse und Bauausstellungen ebenso gehörten wie einschlägige Beiträge in den noch relativ jungen Medien Rundfunk und Film. Im weiteren Sinne zählten dazu auch Kunst- und Kulturzeitschriften sowie die Tagespresse mit ihren illustrierten Beilagen, die nun ebenfalls vermehrt Artikel zu Architekturthemen brachten.38

Insbesondere im Anschluss an die Bauausstellung auf dem Weißenhof in Stuttgart kam es zu einer Flut von Schriften, die diesen neuen Stil erklärten.39 Im Endeffekt aber bedeutete dieser Umschwung eine bis dahin unbekannte mediale Aufmerksamkeit für die Architektur. Abgesehen von der Vielzahl an Kunst- und Archi37 Alexander Schwab, Das Buch vom Bauen: Wohnungsnot, neue Technik, neue Baukunst, Städtebau, Berlin 1930, S. 11; zitiert nach: Roland Jaeger, Neue Werkkunst, Architekturmonographien der zwanziger Jahre, Berlin 1998, S. 11. 38 Jaeger 1998, S. 11. 39 Reyner Banham, Die Revolution der Architektur, Theorie und Gestaltung im ersten Maschinenzeitalter, Braunschweig, Wiesbaden 1964, S. 251.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten tekturkritikern – darunter Adolf Behne, Paul Westheim, Leo Adler, Werner Hegemann und Heinrich de Fries – , die nicht nur regelmäßig in Tageszeitungen schrieben, sondern auch Bücher veröffentlichten, waren es die Architekten selbst, die diese enge Verbindung suchten und pflegten. Man denke nur an die zahlreichen Publikationen eines Bruno Taut, dessen Neue Wohnung, Die Frau als Schöpferin Jaeger zu Recht als eine der einflussreichsten Publikation zur Wohnreform bezeichnete,40 oder an Ludwig Hilberseimer, über den Reyner Banham bemerkt, dass er vor seiner publizistischen Tätigkeit kaum wahrgenommen wurde.41 (Abb. 3) Dieser Umstand gilt auch schon für Adolf Loos, dessen Schriften bis heute berühmter sind als seine Bauten,42 und über den Margarete Schütte-Lihotzky, die Erfinderin der Frankfurter Küche, kolportiert, dass er nicht zeichnen konnte.43 Der Vorwurf dürfte Adolf Loos wenig gestört haben, denn er proklamierte eine regelrechte Abwendung vom Zeichenkult: „Gute Architektur kann beschrieben, sie müßte nicht gezeichnet wer-

40 Jaeger 1998, S. 16; Tauts Publikationstätigkeit beginnt schon in seiner expressionistischen Phase, die für das Neue Bauen relevanten BuchPublikationen sind: Bauen, Der neue Wohnbau (1927); Ein Wohnhaus (1927); Die neue Baukunst in Europa und Amerika (1929). 41 Vgl. dazu auch Banham 1964, S. 252 („er [Ludwig Hilberseimer] ist eine der typischsten Figuren dieser Epoche. Bis zu diesem Zeitpunkt war seine Karriere als Architekt weder durch besonders rege Tätigkeit noch durch irgendwelchen Erfolg gekennzeichnet, jetzt aber, unter der Ägide von Hannes Meyer, gründete er am Bauhaus eine Abteilung für Stadtplanung und schrieb in zwei Jahren vier Bücher, die ein bemerkenswert vollständiges Bild von der Bewegung der Moderne vermitteln, und zwar so, wie sie sich damals selbst auffaßte.“); vor allem für das Bauhaus ist die publizistische Präsenz lebensnotwendig gewesen, vgl. Jaeger 1998, S. 93. Die Titel der Bücher von Hilberseimer lauten: Großstadtarchitektur (1925); Internationale Neue Baukunst (im Auftrag des Deutschen Werkbunds), Baubücher Bd. 2, Stuttgart (1927); Großstadtarchitektur, Die Großstadt, Städtebau, Wohnbauten, Kommerzielle Bauten, Hochhäuser, Hallen- und Theaterbauten, Verkehrsbauten, Industriebauten, Bauhandwerk und Bauindustrie (1927); Hallenbauten, Stadt- und Festhallen, Turn- und Sporthallen, Ausstellungshallen, Ausstellungsanlagen (1931). 42 Colomina 1996 (1994), S. 46. 43 Margarete Schütte-Lihotzky im ZDF-Interview vom 7. Juli 1988, Die Architektin der ‚Frankfurter Küche‘. Margarete Schütte-Lihotzky im Gespräch mit Heinrich von Nussbaum, in der Reihe: ‚Zeugen des Jahrhunderts‘, zitiert nach: Lorenzo Gerster, Zur Architektur der sogenannten Mitte, Bauen im Zwiespalt mit der Tradition und im Zwiespalt mit der Moderne, vor allem aber nicht im Zwiespalt mit der Politik, Bd. 1, Zürich 1999, S. 16.

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Poetik des Privatraums den“,44 notiert er, und: „Der beste Zeichner kann ein schlechter Architekt, der beste Architekt kann ein schlechter Zeichner sein.“45 Abb. 3: Titelblätter zu Architekturpublikationen aus den 20er Jahren.

Schließlich ist auch auf diesem Gebiet Le Corbusier eine der herausragenden Figuren des Funktionalismus. Er publizierte nicht nur über 50 Bücher,46 sondern gestaltete ebenso Werbeanzeigen, in die

44 Adolf Loos, Das Werk des Architekten, hrsg. von Heinrich Kulka, Wien 1979, S. 18 (aus den Büchern: ins Leere gesprochen, Paris 1921, u. Trotzdem, Innsbruck 1931, sowie nach Gesprächen). 45 Ebd. S. 17. 46 Vgl. Willy Boesiger (Hg.), Le Corbusier, Basel, Boston, Berlin 1998 (1972), S. 243.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten er gekonnt die eigenen Bauten oder Projekte integrierte (Abb. 4, Abb. 5), wobei die Grenzen zusehends verschwommen: In his books and articles Le Corbusier borrows the rhetoric and persuasive techniques of modern advertising for his own theoretical arguments and manipulates actual advertisements to incorporate his own vision, thus blurring the limits between text and publicity.47

Abb. 4: Le Corbusier, Anzeige Euboolith in: Almanach d’Architecture Moderne, 1925.

So bemüht er sich beispielsweise für seinen Plan zur Umgestaltung von Paris neben der Automarke Voisin auch noch die Reifenfirma Michelin zu gewinnen, um so das Vorhaben werbewirksam als Plan 47 Colomina 1996 (1994), S. 185.

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Poetik des Privatraums Michelin et Voisin de Centre de Paris bezeichnen zu können. In einem Brief an Michelin versucht Le Corbusier erfolglos den Firmenchef von seinem Vorhaben zu überzeugen: Through association of the name ‚Michelin‘ with our plan, the project will acquire considerable mass appeal. It will become possible to motivate public opinion in much more fundamental way than would be possible through books, for example.48

Abb. 5: Le Corbusier, Anzeige Immeuble Villas in: Almanach d’Architecture moderne, 1925.

Le Corbusier „was well aware of the aura of exclusivity that was associated with the Voisin trademark.“49 Einer vergleichbaren Strategie hängt Frächter bei der Umgestaltung der Berliner Rundschau an, wenn er eben diese zu einem Markennamen erheben möchte und dem Verleger vorschlägt: Sie müssen einen Rundflug der Berliner Rundschau veranstalten, Sie müssen das schönste Berliner Bein prämieren, tausend kleine Häuschen, eine Schwimmkonkurrenz mit Auszeichnung. [...] Sie müssen in alle Kreise kommen. Der Zeppelin darf nicht mehr Zeppelin heißen, sondern Berliner Rundschau. (104/105)

Frächter wird mit seinem Vorhaben scheitern, Le Corbusier aber, der auch Anzeigen für Bauten entwarf, die niemals zur Ausfüh48 Fondation Le Corbusier, Box A1 (7), zitiert nach: Stanislaus von Moos, Urbanism and Transcultural Exchanges 1910-1935, A Survey, in: H. Allen Brooks (Hg.), The Le Corbusier Archive, Bd. X, Urbanisme, Algiers and other Buildings and Projects, 1930-1933, New York 1983, S. xiii. 49 von Moos 1983.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten rung kamen, und für den Kauf dieser Immobilen warb – beispielsweise für seine Immeuble-Villas im Alamanach d’architecture moderne (vgl. Abb. 5)50 –, wird dank seiner Publikationen und dank der Massenmedien zu einem der beachtetsten Architekten der Moderne, und das, obwohl nur ein Teil seiner Gebäude überhaupt errichtet worden ist: Einhundert ausgeführten Bauten stehen 170 unausgeführte Projekte und 65 Stadtplanungsprojekte gegenüber.51 Wie die Figur des Volkssängers Käsebier, so changieren in der Architektur die Gebäude zwischen Fiktion und Realität. „The realm of ideas [conflates] with that of facts“, Ideen und Fakten vermischen sich auf auffällige Weise, hält schon Colomina im Hinblick auf Le Corbusier fest.52 Die Gebäude existieren nur dank der (Massen-)Medien, nur deshalb, weil man über sie schreibt und spricht – oder aber: sie wurden nur deshalb errichtet, nur deshalb zu gebauter Realität, weil sie mithilfe der Medien in Galerien, Büchern und Zeitschriften veröffentlicht wurden, so urteilt Wallis Miller über das Werk einer weiteren Galionsfigur moderner Architektur, Ludwig Mies van der Rohe.53 Und Werner Hegemann, Herausgeber von Wasmuths Monatsheften für Baukunst und ein Verteidiger der Stuttgarter Schule, nannte die Baukünstler der Weißenhofsiedlung: „Stuttgarter Literatur-Architekten.“54 Ob die Architektur nun mit Worten beschrieben oder mit bildlichen Mitteln inszeniert wurde – im Verbund mit den Massenmedien und durch den Einsatz bestimmter Präsentationstechniken durchdringen sich Fiktionen und Fakten unentwegt. Die Photomontagen Ludwig Mies van der Rohes zu seinen eigenen Projekten beeinflussen den Blick auf das gebaute Werk so nachhaltig, „daß man gelegentlich die photographischen Abbildungen seiner gebauten Werke für Montagen halten möchte.“ 55 Immer werden Fragmente aus der Realität in die Entwürfe und Romane integriert, die als Ready-Mades die

50 In der von Le Corbusier vorgesehenen Form von 1922 sind die ImmeubleVillas nie errichtet worden, allerdings wurde das Grundmodul einer Wohnung 1925 im Pavillon ‚Esprit Nouveau‘ auf der Ausstellung ‚Art Décoratif‘ in Paris aufgebaut, vgl. Boesiger 1998 (1972), S. 14-18. 51 Boesiger 1998 (1972), S. 243. 52 Colomina 1996 (1994). 53 Wallis Miller, Mies van der Rohe und die Ausstellungen, in: Barry Bergdoll u. Terence Riley (Hg.), Mies in Berlin, Ludwig Mies van der Rohe, Die Berliner Jahre 1907-1938, München, London, New York 2001, S. 338-350, hier S. 338. 54 Werner Hegemann, Stuttgarter Werkbund-Ausstellung und Paul Schmitthenner, in: Die Horen 4, 1928, S. 233-242. 55 Andres Lepik, Mies und die Photomontage, 1910-1938, in: Bergdoll, Riley 2001, S. 324-330, hier S. 329.

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Poetik des Privatraums Authentizität steigern sollen und zugleich den Grad der Fiktionalität erhöhen. In diesem Sinne schreibt schließlich Claire Zimmermann über die Photographien des Hauses Tugendhat von Mies van der Rohe: Die engen Bande zwischen Weimarer Architektur und Weimarer Fotografie sollten jedoch nicht zu dem trügerischen Schluß verleiten, es handele sich bei diesen Bildern um architektonische Dokumente. Die Fotografien vom Haus Tugendhat sind eher ideologisch als beweiskräftig. [...] Sie erzählen uns von den Sehnsüchten, die von dieser Spielart der Moderne [...] gehegt wurden: von einem Wunsch nach einer Architektur der klaren sauberen Kanten [...]. Dabei verwandelte die Fotografie die Architektur in zweidimensionale Oberflächen, um die Schlacht der Moderne an jenem Ort voranzutreiben, wo sie in der Regel ausgefochten wurde: auf dem Papier.56

Ein letztes schon fast klassisches Beispiel möge genügen, um die labile Grenze zwischen Fakten und Fiktionen zu verdeutlichen.57 Als Marcel Duchamp 1917 ein Urinal erwarb, es mit R. Mutt signierte, auf den Kopf stellte und an die Jury des Salon of the Independants in New York sandte, war eines der ersten Ready-Mades entstanden (Abb. 6), ein Ready-Made, das von der Jury damals nicht angenommen wurde, obwohl Duchamp, ohne sich als Urheber des Werkes zu erkennen zu geben, der Jury angehörte. In der Folge war Duchamps The Fountain of R. Mutt bis zum heutigen Tage in keiner Ausstellung zu sehen – dennoch avancierte es zu dem Ready-Made der Moderne, dank einer Photographie, die zusammen mit einer Kritik von Beatrice Wood 1917 in The Blind Man erschien, sowie den seither präsentierten Kopien. Das Original selbst aber existiert nicht mehr, es ist verschollen.58 Das Kunstwerk überlebt also dank der Medien, es verliert mit seiner Aura auch die schiere Existenz.

56 Claire Zimmermann, Tugendhat Frames, in: Arch +, Zeitschrift für Architektur und Städtebau, Nr. 161: Miesverständnisse, Juni 2002, S. 22-31, hier S. 30. 57 Colomina 1996 (1994), S. 171f; und von Moos 1983, vgl. vor allem sein Unterkapitel: Technology and its Cultural ‚Ready-Made‘. 58 Colomina 1996 (1994), S. 171; sowie Anne D’Harnoncourt und Kynaston McShine (Hg.), Marcel Duchamp (The Museum of Modern Art and Philadelphia Musuem of Art), New York 1973, S. 282/283; Janis Mink, Marcel Duchamp 1887-1968, Kunst als Gegenkunst, Köln u.a. 2001, S. 63f.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten Abb. 6: M. Duchamp, Fountain (Fontaine), Ready-made, 1964 (1917).

Innerhalb des Romans von Gabriele Tergit erhalten die Wohndebatten nun einen vergleichbaren Status, denn auch wenn über das Wohnen unentwegt gesprochen wird, gerät es selbst beinahe aus dem Blick, es erscheint vielmehr als Redegegenstand und Fiktion. Einen regelrechten Einblick in die Wohnungen erhält der Leser nur in jenen Momenten, in denen Umzug oder Versteigerung anstehen, und damit in Räume, die Repräsentanten des alten, überholten Wohnkonzepts sind. Es sind die „samtenen und seidenen Gardinen, die Wolkenrouleauxs, die brüchigen Filetgardinen, die Vitrine im Eßzimmer, [...] [und] Rokokomuster“, die „kein Mensch mehr“ will (241), genausowenig wie „Sammlungsschränke, innen beleuchtet, für römische Gläser. Daneben Herrenzimmer, Renaissance, ein großer Ruisdael überm Schreibtisch. Daneben Wohnzimmer in Chippendale“ (S. 255). Während das gewesene oder eben gerade sich in Auflösung befindliche Wohnen wie für eine Nachwelt ausführlich in Augenschein genommen und katalogisiert wird, bleibt dem realen Wohnen nur ein untergeordneter Stellenwert vorbehalten. Nicht das Wohnen, sondern das Reden darüber, mithin die Wohndebatten werden in den Roman montiert und erscheinen wie auch die statistischen Angaben, topographischen Benennungen und belauschten Telefongespräche, die Zeitungsausschnitte, Briefe und Plakate als Versatzstücke aus der Realität, die scheinbar den Grad der Authentizität erhöhen und dennoch in hohem Maße Fiktion sind.

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Poetik des Privatraums Abb. 7: Herbert Bayer, Arbeitsraum von Walter Gropius am Bauhaus, Weimar, 1923.

Der Blick in den Architekturdiskurs der 20er Jahre erhellt demnach die spezielle Funktion, die das Thema Bauen und Wohnen im Käsebier einnimmt, eine Funktion, die in der Forschung bisher unbeachtet geblieben ist. Gleichwohl auch wahrgenommen wurde, dass sich der Roman nicht einzig um die Zeitungsmacher dreht, blieb das Wohnen wie ein Fremdkörper außerhalb der Interpretationen stehen.59 Das Wohnen aber führt das konstatierte Medienereignis Käsebier weiter, überträgt das Kunstprodukt, den Status des Fiktiven aus dem Bereich des Öffentlichen (Zeitung) in das Private (Wohnen): und dieser erweist sich als nicht minder fiktiv wie der von der Presse hochgeschriebene Künstler. In ihrer absoluten und proklamierten Hinwendung zum Hier und Jetzt des Lokaljournalismus einerseits, des Maschinen- und Ingenieurzeitalters andererseits, streben Autoren wie Architekten eine Aufhebung des Kunststatus’, der 59 Vgl. dazu etwa: Stephan 1995, die zwar den Roman als einen „weitgehend vergessenen Beitrag der Neuen Sachlichkeit zum Großstadtdiskurs der Moderne“ (ebd. S. 292) betrachtet und analysiert, ohne aber genauer auf den Privatraum einzugehen; Carola Köhler wiederum konzentriert sich einzig auf den Wohndiskurs und Fiona Littlejohn (Mobility and the Metropolis: Responses to the Changing City in Gabriele Tergit’s Käsebier erobert den Kurfürstendamm and J.B. Priestley’s Angel Pavement, in: New readings Vol. 5, 2001: http://www.cardiff.ac.uk/euros/subsites/newreadings/volume5) betrachtet unter dem Aspekt von gender und Generation die Auseinandersetzung mit der Stadt und kommt dabei sogar auf das Wohnen zu sprechen, beachtet aber die Dimension des Medienromans nicht.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten Künstlichkeit an, wollen die Grenze zwischen sogenannter Realität und Fiktion aufheben. Zugleich aber stärken sie mit ihrem unbedingten Anspruch auf Authentizität das Fiktive. Käsebier ist solchermaßen ein Roman über die Fiktionen und Illusionen einer Gesellschaft am Ende der Weimarer Republik. Abb. 8: Alberto Sartoris, Entwurf Haus Looser, Ascona, 1928/1929.

Auf der Verfahrensebene sorgen aber nicht nur die bereits erwähnten Reizwörter und Daten für einen gelungenen Illusionsaufbau, auch die Tatsache, dass Erzähler und Held beinahe gänzlich aus dem Roman verschwinden, die gewählte Perspektive an keinen Protagonisten mehr gebunden ist und von keinem eindeutig Stellung beziehenden Erzähler verantwortet wird, unterstützen dasselbe Ziel. Ein steter Wechsel zwischen erzählenden Passagen, Reportagen, Introspektionen, Bewusstseinsströmen und direkter Rede bestimmt den Roman. Aufgegeben wurde also ein Standpunkt des Erzählers, der mit der Zentralperspektive einer Architekturzeichnung vergleichbar ist. Aber auch die Zentralperspektive der Architekturzeichnung weicht in den 20er Jahren einer neuen Darstellungsweise: der sogenannten Axonometrie (Abb. 7-8). Die Axonometrie wird zur bestimmenden Präsentationsform des Neuen Bauens, denn mit ihr verbindet sich ein entscheidender Vorteil: eine vom Betrachter ideell unabhängige Darstellungsweise, die einzig auf den Gegenstand bezogen ist. Der Mittelpunkt einer solchen axonometrischen Projektion liegt nicht wie bei der Fluchtpunktperspektive im Auge des Betrachters, sondern im Unendlichen – im nur noch vorstellba107

Poetik des Privatraums ren Raum.60 Aus diesem Grund wird die Axonometrie auch am Bauhaus gelehrt; in expliziter Abgrenzung zur „alte[n] akademische[n] Bilddarstellung der Fluchtpunkt-Perspektive [mit ihrer] optische[n] Verzerrung [, welche] die reine Vorstellung“ verderbe, beansprucht Martin Gropius gar, die Axonometrie am Bauhaus erfunden zu haben:61 Neben der geometrischen Zeichnung wurde am Bauhaus eine neue räumliche Darstellung entwickelt, die in ein und derselben Zeichnung die Bildwirkung eines Raumes mit der maßstäblichen geometrischen Zeichnung vereint, also deren Nachteile der unsinnlichen Wirkung vermeidet, ohne den Vorzug der unmittelbaren Meßbarkeit der Größen einzubüßen.62

Wissenschaftliche Objektivität und Sachlichkeit werden also auch auf dem Gebiet der Architekturdarstellung angestrebt, mit dem Effekt, dass die Zeichnungen ihren Fluchtpunkt, ihre Mitte verlieren. Abb. 9: Ludwig Mies van der Rohe, Entwurf ‚Hofhaustyp‘, um 1934.

60 Winfried Nerdinger (Hg.), Die Architekturzeichnung, Vom barocken Idealplan zur Axonometrie, Zeichnungen aus der Architektursammlung der Technischen Universität München (Katalog der Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main), München 1986, S. 17/18 und 182-184; Bernhard Schneider, Perspektive bezieht sich auf den Betrachter, Axonometrie bezieht sich auf den Gegenstand, in: Daidalos Nr. 1, 1981, S. 60-73 und S. 81-95; Hilpert 1988, vor allem die Kap. XI und XII: Das Kamera-Auge und Die Rundum-Fassade. 61 Tatsächlich ist die Axonometrie nicht am Bauhaus entwickelt oder erfunden worden, vgl. dazu Nerdinger 1986, S. 18. 62 Walter Gropius, Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses, in: Staatliches Bauhaus Weimar 1919-1923, Weimar und München 1923, S. 7-18, hier S. 15, in: Nerdinger 1986, S. 17/18.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten Mit Blick auf die gebaute Architektur konstatiert Hans Sedlmayr 1948 eben einen solchen Verlust der Mitte.63 Wiederum aber bedeutet diese sachliche Darstellungsweise, die angestrebte ‚Objektivität‘, kein Verharren auf der Außenhaut der Gebäude, denn Axonometrien lassen sich ebenso von einem Interieur erstellen, sie können äußerst detailliert über räumliche Verhältnisse und das Innenleben der Häuser Auskunft geben. Ein solcher Blick hat die heimelige Stimmung eines Jugendstilinterieurs zwar eingebüßt, nichtsdestotrotz werden auch hier Geschichten vom Innenleben der Häuser erzählt. Besonders geeignet für solche Nahblicke erscheint schließlich eine weitere Darstellungsweise, die neben der Axonometrie eine vergleichbare Konjunktur in den 20er Jahren erlebt hat: der Grundriss (Abb. 9-11). So fordert nicht nur Le Corbusier eine neue Konzentration auf den vernachlässigten Grundriss,64 es entstehen auch die ersten Lehrbücher zum Grundriss,65 und „einheitliche Grundrißmaße für [...] Möbel“ werden diskutiert (Abb. 12).66 Das heißt aber auch, dass diese Architekturzeichnungen universell lesbar gemacht werden sollen, dass sie eine Geschichte ihrer fiktiven Bewohner erzählen: hier werden sie sich die Hände waschen, dort zur Ruhe legen, malen, sporteln und wegfahren (vgl. Abb. 9-11).

63 Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte: Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol der Zeit, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1985 (1948), S. 97; 101-109. 64 Leitmotivisch wiederholt Le Corbusier den Satz: „Aus dem Grundriss entsteht alles“ (Le Corbusier 2001 (1922), S. 22, 48, 49; vgl. auch Adolf Behne (Der moderne Zweckbau, Berlin 1926, Reprint Berlin 1964, S. 53), und Winfried Nerdinger erläutert: „In genauer Umkehrung der Auffassungen des 19. Jahrhunderts soll sich also die schöpfersiche Phantasie des Architekten beim Zeichnen des gestalterisch unattraktiven Grundrisses entfalten.“ Nerdinger 1986, S. 15; vgl. dazu auch: Peter Faller, Der Wohngrundriss: Entwicklungslinien 1920-1990, Schlüsselprojekte, Funktionsstudien, Stuttgart 1996, S. 9. 65 Vgl. etwa: Siegrid Stratemann, Grundrisskatalog, in: Der Städtebau, 1928, S, 275ff; Reichsforschungsgesellschaft für Wohnungsbau, Sonderheft 1: Kleinstwohnungsgrundrisse, Berlin 1928; Grundrisskatalog der gebauten Wohnungen, in: Das neue Frankfurt: Internationale Monatsschrift für die Probleme kulturelle Neugestaltung, Frankfurt am Main 1930; Gustav Wolf, Die Grundrissstaffel, München 1931; siehe dazu: Geist 2001 (1999); Jonas Geist und Klaus Kürvers sprechen von einer „regelrechte[n] Verwissenschaftlichung der Grundrissarbeit in Deutschland“, Jonas Geist und Klaus Kürvers, Verwissenschaftlichung der Wohnungsgrundrisse, in: Geist 2001 (1999), S. 28-36. 66 Wilhelm Lübbert, Rationeller Wohnungsbau: Typ/Norm, Berlin 1926, S. 39, abgedruckt in: Geist 2001 (1999), S. 47.

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Poetik des Privatraums Abb. 10: Fritz Block, Typenwohnungen für ein Ledigenheim für erwerbstätige Frauen, 1928.

Der Betrachter dieser Pläne wird geradezu dazu aufgefordert, sich durch das Gebäude zu bewegen, Türen zu öffnen und zu schließen, Treppen zu steigen, die Aussicht zu genießen, sich zur Ruhe zu legen. Grundriss und Axonometrie aber machen deutlich: dort, wo nach Sachlichkeit gestrebt wird, gerät zwar ein konkreter Protagonist, ein einzelner Flucht- und Mittelpunkt aus dem Blick, zugleich aber eröffnet sich ein Tableau unterschiedlicher Erzählungen über potentielle Bewohner und Protagonisten, die mehr angedeutet, denn ausbuchstabiert sind. Abb. 11a: Bruno Taut, Grundrisse mit Wegenetzen in üblichen Stockwerkswohnungen.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten Abb. 11b: Bruno Taut, Grundrisse mit Wegenetzen in verbesserten Stockwerkswohnungen.

Wenn der Architekt hinter seinem Zeichenbrett oder der Autor vor seinem Gegenstand „keine Tendenz [...] und [...] keinen Standpunkt“ hat, wie das Egon Erwin Kisch vom Reporter fordert,67 dann zieht das weder eine Werkszeichnung noch eine Gebrauchsanweisungsprosa nach sich, die Architekten ebenso wie der Erzähler des Käsebier präsentieren weiterhin Geschichten, dringen weiterhin in die fiktiven Gedankenwelten ihrer fiktiven Helden ein. Weder Privaträume noch Subjekte werden eliminiert – ja sie erscheinen im Käsebier geradezu massenhaft –, angestrebt aber wird die Eliminierung des künstlerisch Subjektiven: sei es, dass sich die Autoren hinter Pseudonymen verstecken, sei es, dass Architekten die Pläne von ihren Mitarbeitern ausführen lassen und bewusst die eigene Handschrift vermeiden, sogenannte Bürozeichnungen anfertigen,68 oder sei es schließlich, dass Ready-Mades, also vorgefertigte Teile, in Texte, Zeichnungen und Bauten montiert werden: im Hinblick auf die Literatur Zeitungsausschnitte, im Bereich der Architektur „Stahlträger“69 und andere vorfabrizierte Produkte:

67 Egon Erwin Kisch, Vorwort zur ersten Auflage ‚Der rasende Reporter‘ von 1925, zitiert nach: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. 5, Berlin, Weimar 1974, S. 659. 68 Vgl. Nerdinger 1986, S. 192. 69 Als Ready-Made bezeichnet Neil Levine den Einsatz von Stahlträgern in Mies van der Rohes amerikanischen Gebäuden, also jenen, die ab den späten 30er Jahren entstanden. „Mies’s adoption of the standard American rolled steel I-beam was the ‚readymade‘ signifier of a new structural order of representation.“ Levine 1998, S. 87.

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Poetik des Privatraums genau so, wie es [...] 90% der bevölkerung nicht mehr einfällt, sich ihre beschuhung nach maß anfertigen zu lassen, sondern vorratsprodukte bezieht, [...] so wird sich in zukunft der einzelne auch die ihm gemäße behausung vom lager bestellen können.70

Es ist ein entscheidender Unterschied, so Stanislaus von Moos, zwischen der Freude des Werkbunds an der ästhetischen Klarheit von Industriegebäuden und Le Corbusiers Überzeugung, die Rettung der Architektur als Ganze würde an der „adoption of the aesthetic principles of engineering“71 hängen, an der Ready-Made-Kultur des Maschinenzeitalters.

Faktizität und Fiktionalität: Grenzauflösungen In der Architektur wie in der Literatur ist ein Amalgam von Fiktionalität und Faktizität zu konstatieren, eine Vermischung, die für den neusachlichen Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm im reportagehaften Schreiben begründet liegt, in der Übernahme journalistischer Techniken in das fiktionale Genre des Romans, Techniken, die für Faktizität und Authentizität einstehen. Dabei hat zwischen Journalist und Schriftsteller nicht einfach bloß ein Rollentausch stattgefunden, wie das Siegfried Kracauer angedeutet hat,72 sondern eine Verschmelzung, wie besonders anschaulich an Herrmann Dannenberger alias Erik Reger vor Augen geführt werden kann. Auch er war wie Elise Reifenberg alias Gabriele Tergit als Journalist tätig, u.a. für das Publikationsorgan des Essener Theaters Der Scheinwerfer wie auch für dessen Ableger Westdeutscher Scheinwerfer. In beiden Organen publizierte Reger zahlreiche Artikel, was der Leser aber nicht ohne Weiteres bemerken konnte, denn Reger pflegte eine Vielzahl an Pseudonymen zu verwenden: die lebhafte Beteiligung zahlreicher Autoren war also nur Fiktion, wie Erhard Schütz und Matthias Uecker dargelegt haben. Im Westdeutschen Scheinwerfer, den Reger gegründet hat, stammten sogar alle Artikel, Schriftstücke, die mit diversen Namen unterzeichnet waren,

70 Walter Gropius, Geistige und technische Voraussetzungen der neuen Baukunst, in: Die Umschau, Frankfurt am Main 1927, Heft 45, S. 909-910, zitiert nach: Kristina Hartmann, trotzdem modern, Die wichtigsten Texte zur Architektur in Deutschland 1919-1933, Braunschweig, Wiesbaden 1994, S. 148-151, hier S. 149. 71 von Moos 1983, S. x-xi. 72 „Journalist und Schriftsteller vertauschen unter dem Druck der ökonomischen und sozialen Verhältnisse beinahe die Rollen.“ Siegfried Kracauer, Über den Schriftsteller, in: Die Neue Rundschau, 42 (1931), Nr. 6, S. 860862, in: Becker 2000, 2, S. 192-195, hier S. 193.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten aus seiner Feder. Auf diese Weise war Reger auch Publizist in eigener Sache, bahnte seinem Industrieroman Union der festen Hand mit zahlreichen Artikeln „den Weg in die literarische Öffentlichkeit“.73 Mit seinen programmatischen Überzeugungen, dass Literatur mehr als Kunst, „nämlich Wahrheit“74 sei, dass die Dichtung „keine poetische [...], sondern [eine] publizistische Funktion“ 75 habe, gehörte Reger ebenso wie Le Corbusier sicherlich zu den ‚Extremisten‘ seiner Zunft, und doch lässt sich an ihm jene für diese Zeit typische Verschmelzung von Faktizität und Fiktionalität ablesen: die von Ludwig Mies van der Rohe postulierte „significance of facts“76 bleibt eine Fiktion. Auf dem Weg zur eingeforderten ‚Wahrheit‘, Authentizität und Alltagsnähe schwindet in den Romanen zusehends die Grenze zwischen Fiktion und Realität – selbst der Autor erhält durch seine Pseudonyme (Elise Reifenberg, geb. Hirschmann alias Gabriele Tergit alias Christian Thomasius77) mehrere Leben zugesprochen – und lässt schon die Zeitgenossen nach unmittelbaren Vorbildern der im Käsebier auftretenden Figuren suchen. So wird hinter dem Sänger der Clown Carow vermutet, die beschriebenen Journalisten werden als „hinieden leibhaftig Handelnde“ bezeichnet, kurz, das Ganze als ein sogenannter „Schlüsselroman“ klassifiziert.78 Gabriele Tergit scheint diese Interpretationen nicht wirklich begrüßt zu haben, bezeichnet ihren Roman vielmehr als einen „Spaß über ein erfundenes Nichts“79 und das Programm des Chansonniers als eine Mischung „aus zwei Artikeln von mir über Hasenheide und Skala […] mit einigem Neuerfundenen dazu“.80

73 Erhard Schütz, Matthias Uecker, „Präzisionsästhetik“? Erik Regers ‚Union der festen Hand‘ – Publizistik als Roman, in: Becker/Weiss 1995, S. 89112, hier S. 96. 74 Erik Reger, Antworten auf die Umfrage über Tendenzen ihres Schaffens (ohne redaktionellen Titel), in: Die Kolonne, Zeitung der jungen Gruppe Dresden ½, 1930, S. 7-11, hier S. 7, zitiert nach: Schütz, Uecker 1995, S. 94. 75 Reger 2000 (1931), S. 191. 76 Vgl. Anmerkungen zur Kapitelüberschrift. 77 Vgl. Brüning 1994, S. 202. 78 Rezension zu Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm, in: Vossisches Zeitung, o.J., in: Schüller 2005, S. 190. 79 So zumindest berichtet Egon Larsen in seiner Biographie, Egon Larsen, Die Welt der Gabriele Tergit, Aus dem Leben einer ewig jungen Berlinerin, München 1987, S. 15. 80 Gabriele Tergit, Etwas Seltenes überhaupt, Erinnerungen, Frankfurt am Main, Berlin, Wien 1983, S. 78.

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Poetik des Privatraums Abb. 12: Wilhelm Lübbert, Rationeller Wohnungsbau, 1926, S. 39.

Während der Monate, in denen mein ‚Käsebier‘ von mir, von den Druckern, den Buchbindern angefertigt wurde, war der Rummel um Carow entstanden. Wenige Tage, nachdem der ‚Käsebier‘ in den Schaufenstern lag, kam Heinz, die ‚B.Z. am Mittwoch‘ schwenkend, wütend ins Zimmer. „Deine Freunde haben dir ja einen netten Streich gespielt!“ Ein Artikel von Kiaulehn hieß ‚Schlüssel zu einem Schlüsselroman‘. Der Schlüssel zu ‚Käsebier‘ sei Carow.81

Unabhängig davon, ob man Käsebier nun als Schlüsselroman lesen möchte oder nicht: Der Roman selbst stellt nichts deutlicher aus als 81 Ebd. S. 80.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten das Medienereignis, die Konstruktion von Fiktionen, den aus dem Alltagsgeplapper kreierten Star. Nicht Käsebier schreibt oder spricht, man schreibt und spricht über ihn – ebenso wie auch ohne Unterlass vom Bauen und Wohnen berichtet und geträumt wird. Der Volkssänger und das Wohnen, sie existieren ebenso wie Duchamps Fountain einzig im Verbund mit den Medien, steigern so ihren Anspruch auf Realität und verwischen zugleich die Grenze zwischen Fiktion und Faktizität – kein Wunder, dass auf einer solchen Basis auch ein Käsebier-Plagiator sein Glück versucht (166). Entgegen der Ambition neusachlicher Literatur, als Teil des Alltags und Gebrauchsgegenstand wahrgenommen zu werden („Was geschrieben wird [...], soll ohne Tiefsinn sein. Es muß einen Nutzwert haben. Es muß ein Werkzeug sein“),82 entgegen der Intention, als Reportage zu erscheinen, die nur wie zufällig zwischen zwei Buchdeckel gebunden wurde und ihren eigentlichen Bestimmungsort in der Zeitung hat (einen Umstand, den die vielen als Fortsetzungsromane in Zeitungen erschienen Publikationen deutlich machen), entgegen all dieser Bemühungen, die Tergit mit ihren Autorenkollegen teilt, werden in Käsebier vor allem die Ebenen von Illusion und Fiktion gestärkt. Andersherum ausgedrückt: konform mit dem neusachlichen Ziel, Literatur als ein Stück alltäglicher Gebrauchsprosa erscheinen zu lassen, erweckt Tergits Roman den Eindruck, dieser Käsebier könnte tatsächlich so existiert haben. Von dieser bloß vermittelten Unmittelbarkeit sind letztlich aber beinahe alle Figuren geprägt, beispielsweise dann, wenn Dr. Charlotte Kohler vorerst keineswegs persönlich in ihrem Redaktionsbüro erscheint, sondern von Miermann vorgestellt und in den Roman eingeführt wird und damit zumindest anfänglich ebenso vermittelt in den Blick gerät wie Käsebier selbst. Gerade sie ist es auch, deren Lebens- bzw. Liebeskonzept auf der unbedingten Fiktion gründet. Ihr geliebter Korrespondent Oskar Meyer, er existiert zwar auf der Ebene des Romans real, die Liebe aber bleibt reine Fiktion. Während Oskar Meyer sich dem Illusionsaufbau der Liebe durch seine eigenen Worte hingibt, entwirft Charlotte Kohler über die Abwesenheit des Geliebten eine glückende Liebe.83 „Welch schöne runde Stirn sie haben, welch schöner Bogen zur Nase und der kleine kluge Mund voll Ironie. [...] Ich möchte ein Bildhauer sein, nur um diese Hand modellieren zu können. [...] Wenn Sie wüßten, wie ich – ach, ich habe viel unter Pariser Bäumen an Sie gedacht. Ich habe viel von dir geträumt, ich träume immer von dir.“ (66, 67)

82 Erik Reger, Antworten auf die Umfrage über Tendenzen ihres Schaffens (ohne redaktionellen Titel), in: Die Kolonne, Zeitung der jungen Gruppe Dresden ½, 1930, S. 7-11, hier S. 9, zitiert nach: Schütz, Uecker 1995, S. 94. 83 Vgl. Schüller 2005, S. 213.

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Poetik des Privatraums Für einen kurzen Moment befinden sich Oskar Meyer und Charlotte Kohler in der Illusion einer perfekten Liebe, Meyer vergisst sich und gibt Charlotte Kohler einen Kuss auf die Stirn, während er danach aber übergangs- und mühelos wieder in die Realität wechselt und: „Zahlen“, verlangt (67), arbeitet die Redakteurin Kohler die Fiktion aus, richtet sich darin ein und behauptet, obwohl ihr Geliebter für sie niemals greifbar wird und sich ihren Wünschen unentwegt entzieht: „Ich bin aber eigentlich sehr glücklich in dieser Liebe.“(80)84 Nicht die gelebte Liebe, sondern erneut das Reden über dieselbe wird in den Mittelpunkt gerückt. Auf unterschiedlichen Ebenen wird so ein verwirrendes Spiel mit Fiktionsgraden entfesselt, das entgegen den neusachlichen Ambitionen „gerade nicht zur Klärung des Gegenstandes beiträgt, sondern seiner Ungreifbarkeit und Unberechenbarkeit eine weitere Seite abgewinnt.“85 Nicht nur der Leser sitzt den Fiktionen auf, auch die Figuren sind von ihnen hochgradig abhängig, finanziell ebenso wie ideell, im Hinblick auf ihre Lebens- ebenso wie ihre Wohnkonzeptionen. Der Wunsch nach Authentizität und Nähe zu den Alltagsereignissen wird solchermaßen konterkariert, er bleibt auf der Ebene des Fiktionalen: Käsebier und das Wohnen sind gleichermaßen Produkte des Wortes und der Bilder, der Medien – Fiktionen, die es bewusst zu kaschieren gilt, um das Ziel von Alltags- und Maschinennähe, um die angestrebte Rationalität, Objektivität und Sachlichkeit nicht zu verraten. Auch die maschinenzeitaltersüchtigen Architekten entwickeln mithin Utopien, erzählen von einer besseren Welt – in ihren Zeichnungen ebenso wie in ihren Büchern. Den Blick auf sein gebautes Werk hat Mies durch [seine] Montagen selbst nachhaltig beeinflußt, so weit, daß man gelegentlich die photographischen Abbildungen der gebauten Werke für Montagen halten möchte.86

Was Gabriele Tergit liefert, ist einerseits eine Bestandsaufnahme der 20er Jahre, andererseits aber ein Blick hinter die Kulissen von Zeitungsredaktion und Zeichenbrett. In beiden Disziplinen wird ein gekonntes Spiel zwischen Fiktion und Realität gespielt, Verwechslungen sind vorprogrammiert. Der Versuch, sich in die Realität einzuordnen, mündet in eine Illusionskunst, in einen Medienroman, der nicht nur über die Medien erzählt, sondern deren Strategien sich selbst zueigen macht. Käsebier erobert den Kurfürstendamm ist weder ein Roman, der Identitätsentwürfe ausarbeitet und zur Debatte stellt, noch einer, der 84 Vgl. ebd. S. 196, 198. 85 So urteilt Volker Klotz über Andrej Belyjs Petersburg (Klotz 1969, S. 424), einem ganz und gar der Neuen Sachlichkeit fernstehenden Roman, der in diesem Punkt aber parallele Intentionen aufweist. 86 Lepik 2001, S. 329.

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Schreiben und Wohnen zwischen Fiktionen und Fakten diese vornehmlich über Privat-Räume veranschaulicht, vielmehr liefert Tergit einen Roman, der – wie Reger verlangt hat – an den gegenwärtigen Zuständen haften bleibt. Radikaler noch als bei Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko ist im Käsebier kein Protagonist auszumachen, sondern eine Vielzahl an Personen bevölkert das Geschehen, die insbesondere in ihrem Verhältnis zu den beiden großen Themen des Romans von Interesse sind: Zeitung und Architektur bzw. Wohnen. Folgerichtig ist es auch das Zeitungsgebäude, das zu Beginn des Romans beschrieben und am Ende einstürzen wird. Käsebier erobert den Kurfürstendamm ist die Geschichte eines Zeitungs-Hauses, der Medien und der Architektur in den 20er Jahren, und auch wenn vor allem die Innenräume porträtiert, dagegen die Straßen der Stadt vornehmlich als Durchgangswege genutzt werden, als Verbindungslinien zwischen Redaktion, Café und Wohnung, ist Käsebier kein Roman, der sich vornehmlich um Identitäten und Privat-Räume kümmert. Und dennoch hat der Roman seinen berechtigten Platz in dieser Studie, denn wie kein anderer beschreibt Käsebier den virtuellen Raum, in dem sich Identitäten entwerfen können, beschreibt ein Verfahren, das das Wohnen ebenso wie das Schreiben der Neuen Sachlichkeit geprägt hat, macht auf die strukturellen Schwierigkeiten aufmerksam, die entstehen, wenn man Kunst und Alltag zur Deckung bringen möchte. Das Zeitungs-Haus liegt am Ende des Romans – wie auch das Hotel Savoy im gleichnamigen Roman – in Schutt und Asche, es wird abgerissen, ein altes, dem Historismus entstammendes Gebäude. „Als Gohlisch und Oberndorffer dastanden und nach drüben sahen, flog gerade die Minerva herunter und zersprang, eine Hand und ein Stück von den Geschichtstafeln bröckelten auf der Straße weiter.“ (284) Zerstoben ist nicht nur der Traum Frächters, die Berliner Rundschau zum Anzeigenträger umzugestalten, zerstoben ist auch ein altes Architekturund Wohnkonzept: Die ehemalige Repräsentation, die ehemalige Behaglichkeit ist öder Ballast. Der Mensch braucht Bett, Tisch, Stuhl, Schrank, die Sachlichkeit ergibt sich ohne weiteres aus der Armut. Und wieder sieht es aus in diesen Tagen wie vor dem Krieg. Vor den Haustüren stehen die Möbelwagen wie einst. Es ist Umzug.87

So endet Gabriele Tergit ihrer Reportage Umzug 1931. Tergit kreiert mit ihrem Käsebier eine nüchterne, teils ironische, teils larmoyante Bestandsaufnahme vom Ende der Weimarer Republik, von Subjekten auf der Suche nach neuen Formen des Wohnens, die allerdings noch weit entfernt scheinen, sich in der Realität zu installieren.

87 Gabriele Tergit, Umzug 1931, in: Berliner Tageblatt, abgedruckt in: dies., 1994, S. 32.

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‚BEINAHE ZU HAUSE‘ – SIEGFRIED KRACAUERS GINSTER.

VON IHM SELBST GESCHRIEBEN GESCHRIEBEN (1928)* (1928)* Wenn es in den folgenden Romananalysen darum gehen soll, dem in Gabriele Tergits Käsebier beschriebenen ‚Umzug der Subjekte‘, ihrem Aufenthaltsort zwischen Fiktionen und Fakten in einer neusachlichen Poetik des Privatraums auf die Spur zu kommen, fällt bei diesem ersten von Siegfried Kracauer veröffentlichten Roman1 zunächst auf, dass er, obwohl just zu Kriegsbeginn einsetzend (7), keineswegs ein Kriegsroman ist, der vom Schlachtengetümmel in fremden Ländern jenseits der Heimat berichtet, sondern im Gegenteil Zuhause verweilt. Ginster erlebt die Kriegsjahre freilich nicht in der stillen Kammer, und doch ist diese Grunddisposition eines mitten im ersten Weltkrieg als 25jähriges männliches Individuum zu Hause Bleibenden bemerkenswert und vorläufige Basis für die Berechtigung einer Analyse unter der Fokussierung auf Ginsters Pri*

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Siegfried Kracauer, Ginster, Von ihm selbst geschrieben, in: ders.: Schriften, hrsg. von Karsten Witte, Bd. 7, Frankfurt am Main 1973 (1928), S. 7243. Die Erstausgabe im S. Fischer Verlag Berlin erscheint 1928 anonym und ohne Gattungsbezeichnung, wogegen der Vorabdruck in der Frankfurter Zeitung mit dem Zusatz ‚Fragmente aus einem Roman‘ versehen ist; vgl. Dirk Niefanger, Der Autor und sein Label, in: Heinrich Detering (Hg.), Autorschaft, 2002, S. 521-539, hier S. 535. Kracauer schrieb zuvor bereits zwei Erzählungen, 1907 Das Fest im Frühling und 1913 Die Gnade (Letztere fungiert als Prätext für Ginster, vgl. Inka Mülder-Bach (Siegfried Kracauer, Grenzgänger zwischen Theorie und Literatur: seine frühen Schriften 1913-1933, Stuttgart 1985, S. 126) und Dirk Niefanger (Transparenz und Maske, Außenseiterkonzeptionen in Siegfried Kracauers erzählender Prosa, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, Bd. 38 (1994), S. 253-282, hier S. 255)), 1926 schließlich Der Gast. Die Parallelen zwischen der Novelle Die Gnade und Ginster sind unter dem Blickwinkel der vorliegenden Analyse wenig aufschlussreich, weshalb sie auch keine gesonderte Behandlung erfahren. Der Hinweis Niefangers, Ludwig Loos sei eine Anspielung auf Adolf Loos (Niefanger 1994, S. 255, Fußnote), entbehrt leider genauerer Begründung, vgl. Siegfried Kracauer, Die Gnade, in: ders. Werke, Bd. 7, Romane und Erzählungen, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 2004, S. 535-577.

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Poetik des Privatraums vatraum. Darüber hinaus deutet auch der Beruf des Protagonisten darauf, dass Räume in diesem Roman eine besondere Rolle spielen, denn Ginster ist Architekt. Siegfried Kracauer, selbst studierter Architekt,2 hat einige der in seinem Debüt fingierten Bauwerke als Entwurf oder gebautes Monument tatsächlich hinterlassen wie den Soldaten-Ehrenfriedhof in Frankfurt am Main, die Lederfabrik in Neu-Isenburg sowie Arbeiterwohnhäuser in Osnabrück (Abb. 13-14). Abb. 13: Siegfried Kracauer, Wettbewerbsentwurf für den Soldaten-Ehrenfriedhof, 1916.

Kracauer kennt sich im Wohndiskurs der 20er Jahre bestens aus, seine für die Frankfurter Zeitung geschriebenen Artikel belegen dies3 – Berichte über die Stuttgarter Weißenhofsiedlung4 und andere Bauausstellungen5 zählen ebenso dazu, wie jene über Möbelmes2

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Siegfried Kracauer studiert zunächst in Darmstadt, dann in Berlin und schließlich in München; er promoviert mit der Arbeit: Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Reprint Berlin 1997 (1915). Darunter Berichte über Ernst May und Bruno Taut, Architekturzeitschriften und das Frankfurter Hochhausprojekt; eine Auswahl seiner Architekturfeuilletons findet sich in: Siegfried Kracauer, Frankfurter Turmhäuser, Ausgewählte Feuilletons 1906-30, hrsg. von Andreas Volk, Zürich 1997; Siegfried Kracauer, Berliner Nebeneinander, Ausgewählte Feuilletons, 1930-33, hrsg. von Andreas Volk, Zürich 1996. Kracauer schreibt für die Frankfurter Zeitung drei Artikel zur Weißenhofsiedlung, am 23.7.1927, am 24.7.1927 sowie am 31.7.1927; teilw. abgedruckt in Siegfried Kracauer, Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-70. Siegfried Kracauer, Kleine Patrouille durch die Bauausstellung, in: ders. Schriften hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 332-334.

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Beinahe zu Hause sen6 –, er interessiert sich zeitlebens in besonderem Maße für die Räume der modernen Gesellschaft und versucht aus diesen, die Signatur der Moderne zu entziffern. Erwähnt seien nur die Essays über Die Hotelhalle7 oder Arbeitsnachweise.8 Abb. 14: Siegfried Kracauer, Siedlung an der Hügelstraße, Osnabrück, 1918.

Trotz der vielen Parallelen zwischen dem Autor des Textes und seinem Protagonisten, interessiert der Roman im Folgenden nicht als Schlüsselroman, sondern als Beispiel für eine Literatur, die sich am Wohndiskurs der 20er Jahre beteiligt und die Subjekte in den neuen Wohnungen zu etablieren beginnt. Genau diesen Aspekt hat die Forschung bisher kaum beachtet. Wenn Ginster und sein Autor in ihrer Profession ernst genommen wurden – vor allem von Gerwin Zohlen – dann blieb das Interesse an der Architektur meist nur an den städtischen Außenräumen oder an den Ornamenten haften.9 Das Wohnen selbst, der Privat6

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Siegfried Kracauer, Möbel von heute, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 332-334. Siegfried Kracauer, Die Hotelhalle, Kapitel aus: Der Detektiv-Roman, Eine Deutung, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 1, Frankfurt am Main 2006 (1922-1925), S. 130-140. Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise, Konstruktion eines Raumes, in ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 185-192. Gerwin Zohlen, Text-Straßen, Zur Theorie der Stadtlektüre bei Siegfried Kracauer, in: Text u. Kritik, Zeitschrift für Literatur, hrsg. von Ludwig Arnold, Heft 68, 1980, S. 62-73; Gerwin Zohlen, Schmugglerpfad, Siegfried Kracauer, Architekt und Schriftsteller, in: Michael Kessler, Thomas Y. Levin

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Poetik des Privatraums raum aber tritt entweder gar nicht in Erscheinung oder wird nur erwähnt. Das gilt für Tillmann Heß’ Aufsatz Zur Architektur in Kracauers Stadtbildern (mit einem Exkurs zu Le Corbusier)10 ebenso wie für Anthony Vidlers Räume des Durchgangs. Psychopathologie und Entfremdung in der modernen Großstadt.11 Während Vidler gar eine Ablehnung moderner Stadtarchitektur wie auch des Neuen Bauens bei Kracauer „zweifellos“12 zu erkennen glaubt, verdeutlichen Gerwin Zohlen und Hans-Georg von Arburg zumindest seine ambivalente Haltung. Beide bestätigen die Relevanz des Architekturdiskurses der 20er Jahre für den Roman Ginster und darüber hinaus, wobei sich Arburg auf den Friedhofsdiskurs innerhalb der zeitgenössischen Architekturpublizistik konzentriert13 und in Ginsters Entwurf des Ehernfriedhofs einen essentiellen neusachlichen Beitrag „zur Architekturdebatte seiner Zeit“ sieht,14 damit aber letztlich wie auch Zohlen erneut in den Außenräumen gefangen bleibt. Das gilt schließlich auch für die Monographie von Henrik Reeh Ornaments of the metropolis: Siegfried Kracauer and modern urban culture,15 die zwar den Stellenwert der Architektur und dabei insbesondere das Konzept des Ornaments in Kracauers Werk diskutiert, jedoch nicht beachtet, dass diese Metropolis sich maßgeblich auch über den Wohndiskurs formiert.16

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(Hg.), Siegfried Kracauer, Neue Interpretationen, Tübingen 1990, S. 325344; Henrik Reeh, Ornaments of the metropolis, Siegfried Kracauer and the Modern Urban Culture, Cambridge Mass. 2004 (Odense 1991: Storbyens ornamenter: Siegfried Kracauer og den moderne bykultur); Helmut Stalder, Hieroglyphen-Entzifferung und Traumdeutung der Großstadt, Zur Darstellungsmethode in den ‚Städte-Bildern‘ Siegfried Kracauers, in: Andreas Volk (Hg.), Siegfried Kracauer, Zum Werk des Romanciers, Feuilletonisten, Architekten, Filmwissenschaftlers und Soziologen, Zürich 1996, S. 131-155. Tillmann Heß, Zur Architektur in Kracauers Stadtbildern (mit einem Exkurs zu Le Corbusier), in: Volk 1996, S. 111-129. Anthony Vidler, Räume des Durchgangs, Psychopathologie und Entfremdung in der modernen Großstadt, in: Volk 1996, S. 85-110. „Obschon [Hannes, I.L.] Meyers spätere Hinwendung zur ‚Neuen Sachlichkeit‘ zweifellos von Kracauer verurteilt worden wäre“, schreibt Vidler über den späteren Bauhausdirektor in: Vidler 1996, S. 101. Hans-Georg von Arburg, „Zweck-Architekturen der Verwesung“, Siegfried Kracauers Roman Ginster im Kontext von Friedhofsreform, Denkmalstreit und Neuem Bauen in der Weimarer Republik, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Bd. 6, 2001, München 2001, S. 73-107. Ebd. S. 74. Reeh 2004 (1991). Allerdings verschränkt Reeh die Stadt ebenso wie in der vorliegenden Studie mit der moderne Subjektivität. „An overall objective for this book is thus to illustrate how Kracauer’s urban writings concretely expose the place of the ornament in modern subjectivity.“ Reeh 2004 (1991).

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Beinahe zu Hause Ginster ist weder ein Kriegs- noch ein Antikriegsroman im klassischen Sinn, denn der Held ist kein Augenzeuge von Schlachtengetümmel, Eroberungen und Niederlagen. Vielmehr ist er Augenzeuge ganz anderer Vorgänge, die sich nicht an der Front, sondern in der Heimat ereignen, diesseits der Grenzen: welche Formen von Identität, welcher Begriff von Heimat hat in einer Zeit Konjunktur, in der sich das Individuum ganz in den Staatspflichten aufzulösen und seine Privatinteressen auszuschalten hat, bzw. welche Möglichkeiten von Subjektkonstruktion und privatem Raum ergeben sich in und jenseits dieses geschlossenen Systems? Um diese Fragen kreist Ginster, und vor diesem Hintergrund wird sich auch die Relevanz einer Fragestellung nach der ‚Poetik des Privatraums‘ erweisen.

RaumRaum - und Sprachkonstruktionen eines Architekten Obwohl der Krieg nicht das zentrale Thema des Romans ist, stellt er dennoch den äußeren Anlass jeglicher Aktionen des ‚Helden‘ dar und dient unentwegt zur Rechtfertigung seiner Taten. Die erzählte Zeit erstreckt sich zu großen Teilen zwischen den Jahren 1914 und 1918,17 Ginster muss mehrmals kriegsbedingt umziehen: von M. nach F., von K. nach Q., wie die Städte abgekürzt heißen,18 bis der Roman nach einem Zeitsprung von fünf Jahren 1923 in Marseille – jenseits der umkämpften Grenzen – endet. In all dieser Zeit ist Ginster als Architekt tätig, entweder aktiv im Beruf oder in Form einer professionellen Deformation, die ihn die Welt nur noch in architektonischen Formen wahrnehmen lässt. Wie in einem veritablen Bildungsroman heißt es: „Von früh auf zeichnete Ginster gern Ornamente. Seiner Spiralen wegen wurde ihm zur Architektur geraten.“ (21/22) In M. arbeitet Ginster deshalb folgerichtig bei dem „Kunstgewerbler“ Allinger (13), später in F. bei dem Architekten Valentin und schließlich in Q. im Stadtbauamt (194). Er entwirft ein Schwimmbad, beschäftigt sich mit Ladenumbauten, zeichnet einen Soldatenehrenfriedhof, eine Leder- und Maschinenfabrik sowie Arbeiterwohnungen.

17 Ausnahmen bilden die Kapitel II und XI. 18 Vor dem Hintergrund von Kracauers Biographie deuten die Städte auf München, Frankfurt, Köln und Oldenburg, so Dirk Oschmann, Auszug aus der Innerlichkeit, Das literarische Werk Siegfried Kracauers, Heidelberg 1999, S. 176.

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Poetik des Privatraums

RAUMKONSTRUKTIONEN Das Entwerfen und Formenzeichnen wird für Ginster nicht nur zum Brotberuf, es ist ihm zugleich Art und Weise der Weltaneignung. Diese funktioniert mithilfe von Tabellen, zwei- und dreidimensionalen Oberflächenmustern, die Ginster beispielsweise wahrnimmt, wenn sein Freund Otto Klavier spielt: Ginster erblickte Geschichten [in den Melodien], die aber gar keine Geschichten waren, sondern geometrische Merkwürdigkeiten [...]. Es betrübte ihn, daß die Musik sich ihm in Figuren übersetzte, statt bildlos zu bleiben. (35)

Nichts, so scheint es, vermag Ginster rein zeitlich zu erfassen, selbst die Musik tritt ihm als Figur im Raum entgegen. Auch der Umgang mit seinen Mitmenschen ist dieser Perzeptionsweise geschuldet, sie erscheinen als in ihrem Mechanismus gefangene geometrische Körper. Die Zimmerwirtin setzt sich „aus drei übereinander angeordneten Kugeln zusammen, die sich in einen Kegel einschreiben ließen“ (11), ihr Mann wird als „Stecknadel“ (11) bezeichnet, und der Freund Otto besitzt die „Freundlichkeit des Rechtecks“ (33). Ginsters Mutter wird mit zunehmendem Alter „abgetragen wie ein Bauwerk“ (42), und der Feldwebel „bot seine Vorderansicht dar, aber da er ein Profil überhaupt nicht besaß, hätte er sich von jedem anderen Standort auch als Fassade gezeigt.“ (191) Auch das Innere der Figuren wird räumlich gedacht, als Hohlkörper und Resonanzkörper beschrieben, in dem sich – wie in einer Wohnung – die unterschiedlichsten Dinge und Menschen versammeln können. Ginsters Reflexionen über das Erinnern zeigen dieses als ganz im Sinne der memoria19 dem Raum unterworfene Fähigkeit an, die Ginster jedoch trotz seines Architektenberufes nicht beherrscht. Immer wieder vergisst er nämlich seine Bekanntschaften und hat „sich darum um den geschickten Aufbau allgemeiner Wendungen geübt, der die vergessenen Personen zu dem Glauben bringen mußte, sie seien bei ihm zeitlebens in Kost und Logis“ (95). Als Ginster ehemaligen Studienkollegen begegnet, stellt er fest: Einige hatten sich zu Eigenheimen ausgestaltet in besonderen Westen, andere glichen den Fensterreihen an öffentlichen Fassaden. Lauter Raumfiguren zum Greifen; die meisten Damen als Gattinnen eingerichtet. (111, Hvm)

19 Zur Memoriatheorie vgl. etwa Aleida Assmann, Erinnerungsräume, Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, sowie Anselm Haverkamp und Renate Lachmann (Hg.), Memoria: Vergessen und Erinnern, München 1993.

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Beinahe zu Hause Ginsters Wahrnehmung betrifft also nicht nur die Physis der Menschen, sondern ganze Lebensentwürfe und Lebenseinstellungen. Interessant ist das Ginstersche Verfahren der Weltaneignung aber vor allem deshalb, weil es auf den ersten Blick als logische Fortführung seines Architektenberufs erscheint. Auf den zweiten Blick aber wird offensichtlich, dass dieses Verfahren seiner Profession zugleich diametral entgegengesetzt ist, denn Ginster vermag zwar wie schon zu Schulzeiten einzelne Formen und Ornamente im Raum nachzuzeichnen, mithin einzelne Erscheinungen als räumliche Figuren wahrzunehmen, aber er verharrt in dieser Naheinstellung. Ganz so, als würde ein Architekt Detailzeichnungen anfertigen, darüber hinaus aber weder zu einer Ansicht, noch zu einem Grundriss gelangen. Eine solche Wahrnehmungsweise begünstigt natürlich die neusachliche Intention der Entpsychologisierung, darüber hinaus aber verfährt Kracauer ähnlich wie in seinem Essay Ornament der Masse. Dort, wie auch für die entpsychologisierenden Schreibverfahren der Neuen Sachlichkeit, gilt es, via Alltags- bzw. Oberflächenbeschreibungen die Strukturen und Mechanismen der modernen Gesellschaft aufzudecken: Der Ort, den eine Epoche im Geschichtsprozeß einnimmt, ist aus der Analyse der Oberflächenbeschreibungen schlagender zu bestimmen, als aus den Urteilen der Epoche über sich selbst,

schreibt Siegfried Kracauer im Ornament der Masse,20 und in den Arbeitsnachweisen macht er deutlich: Wo „immer die Hieroglyphe irgendeines Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen Wirklichkeit dar.“21 Genau dies aber bleibt in Kracauers Roman ein Desiderat, denn Ginster gelingt eben keine zusammenhängende Konstruktion, die vom Architekten im Raum wahrgenommenen Figuren fügen sich zu keinem Muster, keiner Gebrauchsanweisung, keinem Werkplan, nach dem sich der ‚Held‘ konsequent verhalten könnte, geschweige denn zu einem Sinn: da man unter künstlichen Bedingungen experimentiert hatte, versagten im wirklichen Raum alle Regeln. (26)

Die Ginstersche Interpretation der Welt fügt sich zu keiner zusammenhängenden logischen Geschichte, so dass eine Vielzahl der De20 Siegfried Kracauer, Das Ornament der Masse, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka-Mülder Bach, Bd.5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, hier S. 57. 21 Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise, Konstruktion eines Raumes, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd.5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 185-192, hier S. 186.

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Poetik des Privatraums tailinformationen und Naheinstellungen bis zum Schluss sinn- und zwecklos bleiben. Diese Unfähigkeit zu einer veritablen Kommunikation mit der Welt in der Art und Weise, dass Ginster sie sich nutzbar machen könnte, führte schon bei den zeitgenössischen Kritikern zu der Überzeugung, Kracauer habe mit Ginster eine komische Figur, einen literarischen Chaplin geschaffen. Joseph Roth schreibt 1928 in der Frankfurter Zeitung, in welcher der Roman zunächst auszugsweise abgedruckt war: Ginster im Krieg, das ist: Chaplin im Warenhaus. Über die rollende Treppe, die allen anderen zur Heraufbeförderung dient, stolpert Chaplin sechzehnmal. [...] Wir haben endlich den literarischen Chaplin. Das ist ‚Ginster‘.22

Tatsächlich kann man die permanent wahrgenommenen Muster und Bilder im Raum als Gegenstände betrachten, die sich Ginster regelmäßig in den Weg stellen, mit denen er in Kämpfe verwickelt wird, beispielsweise wenn er mit seinem Köfferchen zur Kaserne stolpert, nachdem der Einberufungsbefehl ihn schlussendlich doch erreicht hat. Da der Henkel [des Holzkistchens] genau in der Mitte saß, war nicht Platz genug, um sich bequem auf dem Deckel niederzulassen, wenn die Kiste ruhig stand. Wurde sie dagegen getragen, so erwies sie sich als zu breit; denn beim Gehen stieß sie, wie Ginster bereits ausprobiert hatte, fortwährend wider die Beine. Sein Bemühen, sie von sich fernzuhalten, wurde mit Armschmerzen erkauft. (128) […] Die Sachen [im Koffer] hatten die Gewohnheit, ihre Lage von selbst zu ändern, und verlangten überhaupt fortwährend Bedienung. (155)

Ein ‚Aufstand der Dinge‘23 wird vorgeführt, in den schließlich auch die Sprache selbst – als Ding, dessen man sich bedienen muss, um mit der Welt in Beziehung zu treten – einbezogen wird. Sie erweist sich als ebenso unberechenbar wie Gebrauchsgegenstände und Möbel, vor denen sich Ginster fürchtet und die er gelegentlich flieht. Ginsters Umwelt ist sperrig und in einer rationalen Zeit völlig unfunktional: „Die Gegenstände, die sonst unsichtbar waren, tauchten aus ihren Verstecken auf und sperrten ihn ein. Er fürchtete sich vor dem Waschbecken, die Seitengeländer waren Barrieren.“ (13)

22 Joseph Roth, Wer ist Ginster? (25.11.1928, FZ), in: ders.: Werke 2, das journalistische Werk 1924-1928, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1990, S. 996-999, hier S. 997. 23 Von einem ‚Aufstand der Dinge‘ berichtet in den 20er Jahren der Ethnologe Walter Krickeberg, vgl. Hans P. Hahn, Materielle Kultur, Eine Einführung, Berlin 2005, S. 46-50.

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SPRACHKONSTRUKTIONEN Als kulturelles Konstrukt und vom Menschen Geschaffenes erscheint die Sprache auf derselben Ebene angesiedelt wie die Gegenstände. Ähnlich wie diese dem Protagonisten einen einfachen Zugriff auf die Welt verwehren, sich einer simplen Funktionalisierung und Anwendung entziehen, stolpert Ginster auch über die Unebenheiten und Uneindeutigkeiten der Sprache. Anstelle von Klarheit, stiftet sie Verwirrung, anstelle von friedlicher Weltauslegung, wird sie zum Kriegsgeschoss. So verunsichert Ginster beispielsweise die Auskunft eines Vorgesetzten über seinen künftigen Einsatz beim Militär: „Kanonier[...] im Fußartillerieersatzbataillon. [...] Für einen Augenblick befand er sich im Ungewissen, ob er als Ersatz diente, oder selbst ersetzt worden war.“ (144) Und „aus dem nochmaligen Vorgang der Namensverlesung folgert Ginster, daß beim Militär die Leute mehrfach hier sein mußten.“ (138/139) Ironischerweise findet diese Sprachverwirrung in einem Zusammenhang statt, in dem die Sprache vollkommen ‚durchsichtig‘, die Oberfläche, auf die es Ginster so sehr ankommt, völlig ausgeblendet sein sollte: eben beim Militär. Aber Sprache und Realität haben im Ginster offenbar wenig gemeinsam, die Sprache verweigert sich, eine vorgängige Realität zu beschreiben, sie kreiert vielmehr ihre eigene Realität: „Das Sprechen hatte nur dann einen Sinn, wenn es die Wirklichkeit einsperrte und in Freiheit erging“ (92), heißt es explizit, und als Ginster den Auftrag bekommt, als Ghostwriter tätig zu sein, übernimmt er die Arbeit „aus Lust an einer Aufgabe, nach deren Vollendung von der Wirklichkeit nichts mehr übrig blieb.“ (219) Solchermaßen erscheint die Sprache als ein vor der Funktionalisierung durch den Menschen resistentes Gebilde, das nach bestimmten, sprachimmanenten Mustern organisiert ist und ein abgeschlossenes Repertoire an Worten, Satzkonstruktionen und Geschichten zur Verfügung stellt. Durch den menschlichen Resonanzkörper hindurch kann sie sich nach den Gesetzten der Kombinatorik – ebenso wie auch die Ornamente – in immer neuen Variationen zeigen. Der Wahrnehmung des menschlichen Körpers als Hohlraum entsprechend, wohnt die Sprache in diesem und legt dem Subjekt selbstherrlich Sätze in den Mund24 oder hält gar ganze Geschichten lebendig.25

24 Tante Rosas „Gespräche wechselten fortwährend den Gegenstand, aber sie sprang nicht etwa von einem zum andern, sondern die Gegenstände selbst jagten in rasender Eile an ihr vorbei.“ (213) 25 „Offenbar hatte er, Ginster, sich eben von der oft erzählten Familiengeschichte überrümpeln lassen. Nicht selten wurde er einfach vertauscht.“

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Poetik des Privatraums Diese Fähigkeit der Sprache, Variationen des immer Gleichen zu erzeugen, wird in einer Passage nicht nur explizit benannt, sondern durch den Einsatz der figura etymologica auch auf der Ebene des discours deutlich gemacht, einer Figur, die dem eben geschilderten Gesetz der Variation gehorcht: „Habe ich Ihnen einmal die Geschichte von der Gans erzählt?“ Frau Biehl bejahte. „Es ist ja auch bereits zu spät, um sie zu erzählen. Aber, wenn ich zurückdenke, wahrscheinlich erinnern sie sich nicht mehr genau“.

Es folgt in schöner Ausführlichkeit die Geschichte von der Gans, die mit den Worten endet: „Anderen Tages schickte ich Falk eine besondere Gans.“ Die Mutter lachte, sie verschluckte sich im Lachen, und lachte dann weiter. Eigentlich wollte sie gar nicht lachen, weil Krieg war, aber bestimmten Hausgeschichten ließ sich nicht widerstehen. Das Lachen griff um sich, auch Frau Biehl lachte und Ginster.“ (70, Hvm)

Nicht von ungefähr erinnert dieses Muster der Sprachbildung erneut eher an räumliche Formen und Ornamente, die Ginster bereits in seine Schulhefte kritzelte. Das heißt, dass sich auch auf der sprachlichen Ebene die Welt vor Ginster verschließt, eine Sinnbildung verweigert und an der Oberfläche haften bleibt. Zeugma,26 elliptische Fügung27 und ‚syndetisches Asyndeton‘28, aber auch der

(228) „Es ging ihm öfter so, daß er eine Pointe anbrachte, die nur die anderen bemerkten. Sie bildete sich von selbst“. (125) 26 „In einer Versammlung vor ein oder zwei Jahren hatte einmal ein Redner unter Berufung auf das Glück des Gemeinschaftserlebnisses die Anwesenden aufgefordert, ihre Kupfergeschirre und Söhne zum Einschmelzen herzugeben.“ (179) 27 „Der Krieg ist sehr laut, die Soldaten, man kann ums Leben kommen.“ (43) 28 Damit seien syndetische Konstruktionen gemeint, die ihrer Logik nach aber keinen Zusammenhang stiften: „Ginster entwarf den Schwung einer Ladengalerie, der so doch nicht ausgeführt wurde. Berta kam zum drittenmal. Der Schwung wurde ausradiert.“ (64) Das Nacheinanderschalten der Sätze suggeriert einen Zusammenhang, wo keiner ist, denn Berta ist beileibe nicht der Grund für das Ausradieren. Ebenso erscheinen die Verknüpfungsmethoden des folgenden Beispielsatzes als vollkommen logisch, entbehren aber erneut jeglicher psychologischen oder politischen Begründung, so dass die reine Konstruktionsleistung des Satzes bzw. die Schaffung von Realitäten durch Redewendungen offensichtlich wird: „Andern Tags beschloß Ginster, sich freiwillig zu melden. Es war notwendig; nicht nur Ottos wegen, sondern weil etwas geschehen mußte.“ (17)

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Beinahe zu Hause spezifische Einsatz von Metaphern29 sorgen für eine meist nur an der Oberfläche haftenden Logik. Konsequenz dieser Konstruktionen, die die Sprachpartikel häufig in ungewöhnlichen Kombinationen und Fügungen zeigen oder die Sinnebenen plötzlich wechseln und unlogische Bezüge herstellen, ist eine Sprach-Ironie, die parallel zu den Slapstick-Szenen zu sehen ist: Ein Redner über der Masse feierte die Ziffern in den Sümpfen [= die Anzahl der Feinde, die in den Sümpfen ums Leben kamen, I.L.] und das befreite Stück Land. Er erklärte, daß die Bevölkerung um des Landes willen vorhanden sei, für das sie freudig ihr Leben hingeben werde; selber war er noch niemals gestorben. (52)

Auf diese Weise aber wird die Konstruktionsleistung der Sprache überhaupt erst ausgestellt und auf die Oberfläche projiziert, wird erneut zu einer räumlichen Figur. Dort, wo es keine konjunktive, syndetische Fügungen gibt, bleiben auch die Erklärungen und Motivationen, die psycho-logischen Begründungen für ein bestimmtes Handeln unklar. In diesem Sinne räsoniert Ginster: „Vielleicht hatten die [Kriegs-]Begeisterten recht, und nur er verstand den Zusammenhang nicht.“ (54) Eben dies, die Unauffindbarkeit von Gründen für den Krieg, lassen Ginster auch in seiner Unbestimmtheit verharren, während sie für seinen Freund Otto als Repräsentanten der Kriegsgesellschaft30 völlig unnötig erscheinen. „Du und ich, wir können beide die Gründe nicht ermessen“, erwiderte Otto. Die Gründe waren für ihn eine Störung. „Es ist mir, unabhängig von den Gründen, eine Notwendigkeit gewesen, mich zu melden“, versicherte er noch. Ginster wußte, daß auch er die Gründe nicht zu erkennen vermochte. Hätte er Gründe gefunden, so wären es nicht die gesuchten gewesen. Das Handeln von ihnen abhängig zu machen, war verkehrt, denn jeder Grund hatte wieder seinen Gegengrund, wie eine Wand starrten sie ihm alle entgegen, unmöglich nach außen

29 Damit sei nicht der prinzipielle Einsatz von Metaphern gemeint, sondern das häufige Verharren in dieser Bilderwelt, die einen Rückschluss zum Ausgangspunkt der Metaphernkette verwehrt und damit erneut sowohl eine Verschiebung betreibt als auch die Konstruktionsleistung der Sprache hervorhebt. „Aus Höflichkeit erwiderte er [Ginster] Bertas Blick. Ihre Augen vergrößerten sich im Halbdunkel zu Wassereimern, in denen Ginster untertauchte, ohne etwas zu finden. Fast wäre er bei der Gelegenheit ertrunken.“ (104) Vgl. dazu bereits Adorno: „Mit ihrer unzähmbaren Lust, Metaphern wörtlich zu nehmen, eulenspiegelhaft zu verselbständigen, an ihnen einen Arabeskenrealität zweiten Grades zu streicheln, treibt sie Luftwurzeln bis weit in die Moderne hinein.“ Theodor W. Adorno, Der wunderliche Realist, in: ders., Noten zur Literatur III, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1981, S. 388-409, hier S. 402. 30 Vgl. dazu die folgenden Ausführungen.

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Poetik des Privatraums zu schlüpfen. Es dunkelte, die Lichter gingen an. Von außen gesehen, bildeten sie wie stets ihr Mosaik aus leuchtenden Pünktchen, dieses Mosaik, über dem Ginster vergaß, daß es die eigentliche Aufgabe der Pünktchen war, in den Stuben zu scheinen. (50)

Wieder vertieft sich Ginster in ein Detail, die leuchtenden Pünktchen, und vergisst darüber den Zusammenhang. Für die komischen Momente im Roman ist demnach nicht allein der plot und das veritable Stolpern über Gegenstände verantwortlich, sondern auch der Einsatz der Sprache. Sicher wendet sich eine solche Sprachauffassung implizit auch gegen den Glauben neusachlicher Programmatik, durch die bloße Verschiebung sprachlicher Parameter und durch die Veränderung des Romangegenstandes, die Wirklichkeit tatsächlich in den Blick zu bekommen, dennoch geht es in Kracauers Ginster weniger um eine emphatische Verneinung der Fähigkeit sprachlicher Mimesis, als vielmehr um die Beschreibung von Realität konstruierenden künstlichen Zeichensystemen, innerhalb derer sich das Subjekt in der Welt orientiert. Und in diesem Zusammenhang ist es dann keineswegs beliebig, dass der hier scheiternde Protagonist, der „literarische Chaplin“, ein Raumkünstler, ein Architekt ist: ihm gelingt nämlich weder in seiner Profession ein die Zeichen ordnendes sinnvolles Gefüge noch gelingt ihm dies durch die Sprache. Dass ihm zudem ein Onkel an die Seite gestellt wird, der als Historiker tätig ist, dem Architekten also diametral entgegengesetzt die Organisation der Zeit zu bewerkstelligen hat, deutet auf eine neben den geschilderten pikarischen Zügen des Romans liegende weitere Sinnebene.

Architekt und Historiker: RaumRaum - und Zeitkünstler Für Ginster erscheint es beliebig, ob die Zeichen zur Konstruktion der Welt sprachlicher oder architektonischer Natur sind, hier wie dort gruppieren sie sich zu in permanenter Verschiebung befindlichen Ornamenten, die niemals zum Stillstand kommen und somit eine Verräumlichung des Textes betreiben: Dieser Aspekt verbindet den Roman nicht nur mit zahlreichen der Kracauerschen Essays, am sinnfälligsten mit dem Ornament der Masse, diese Lust an der Oberfläche und ihren ornamentalen Verschiebungen beschäftigt den Autor schon seit seiner Dissertation aus dem Jahr 1915: Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Hier offenbart sich eine Kontinuität des Denkens, die sich über die verschiedenen Bereiche seines Schaffens erstreckt und ih-

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Beinahe zu Hause ren Ursprung im Studium der Architektur hat: Kracauer belegt Kurse zum Ornamentzeichnen und hört Vorlesungen zur Geschichte und Theorie des Ornaments.31 Obwohl Ginster konkrete Entwürfe für Bauten vorlegt und obwohl diese Gebäude des Autors Kracauer de facto analysierbar wären, ist es doch die hier aufgefächerte Konstruktionsleistung von mentaler oder gezeichneter Architektur, die im Mittelpunkt des Interesses steht, ja sie erscheint dem Protagonisten selbst wesentlich bedeutsamer als die gebaute, reale Umwelt. Es sind die Oberflächen und ihre permanente Verschiebung, die unentwegt in den Blick geraten und Raum und Zeit zusammenfallen lassen; deshalb arbeiten Architekt (Ginster) und Historiker (sein Onkel) letztlich auch auf derselben ‚Baustelle‘, denn Ginsters Onkel ist ebenso wie sein Neffe weit davon entfernt, einen souveränen Überblick, einen konzisen Zusammenhang der geschichtlichen Ereignisse zu erstellen. Er wird vielmehr als Wissenschaftler geschildert, der mit „Hilfe eines Leimtopfes“ (42/43) die Geschichte gleich einer Collage zusammen„klebt“ (65), „Da er im dreizehnten [Jahrhundert, I.L.] vor kurzem zwei Jahre liegen geblieben war, ließ sich nicht voraussagen, ob er je an sein Ziel gelangen werde.“ (44) Die Beherrschung der Zeit erscheint demnach als ebenso ungreifbares Unterfangen wie diejenige des Raums; Vergangenheit (Historie) bleibt ebenso vage wie die Gegenwart (das Kriegsgeschehen). Historiker und Architekt sind aus der Zeit bzw. dem Raum gefallene Figuren,32 sie bleiben wie der Roman selbst auf der Oberfläche, bei den Ornamenten und Spiralen, den einzelnen Bausteinen haften. „So wenig“ Kracauer „mit seinem Metier, der Architektur zu tun haben mochte, der Primat des Optischen, den diese verlangt, blieb [...] ihm erhalten.“33 Halten wir vorerst fest: Obwohl die Handlung des Romans zwischen 1914 und 1918 angesiedelt und der Protagonist im wehrpflichtigen Alter ist, bleiben wir diesseits der Landesgrenzen. In der Figur Ginsters wird auf den ersten Blick ein aus dem Zusammenhang Gefallener gezeigt, der trotz seines Berufs als Architekt, als Raumkünstler, 31 Lorenz Jäger, Kracauers Blick, Nachwort zu: Siegfried Kracauer, Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Reprint Berlin 1997 (1915), S. 129, und Marbacher Magazin 47, 1988, hrsg. von Ulrich Ott, Stuttgart 1988, S. 7ff; Gerwin Zohlen, Von der Architektur zur Publizistik, Ein Porträt Siegfried Kracauers, in: Der Architekt 2/1986, S. 7982 (erstmals abgedruckt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 9. November 1985). 32 Ginster hatte „vergessen [...], daß er in einer Zeit lebte“ (239), und „gerne wäre Ginster ins Raumlose geflüchtet.“ (111) 33 Adorno 1981, S. 392.

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Poetik des Privatraums weder die zivilen noch die kriegerischen Auseinandersetzungen um den Raum tatsächlich begreift. Seine Lust am Zeichnen von Ornamenten führt ihn zu seinem Beruf, aber die Weltaneignung kommt über dieses Stadium nicht hinaus, es bleibt bei einem Spiel mit Zeichen (architektonischen, räumlichen, ebenso wie sprachlichen, zeitlichen), das er bewusst treibt, das aber auch mit ihm gespielt wird und den Roman immer wieder zu komischen Sequenzen führt. An dieser Stelle ist es nun sinnvoll, den hier agierenden Architekten vor dem Hintergrund des Wohndiskurses der 20er Jahre wahrzunehmen, ohne den Ginster einzig ein aus der Zeit gefallener Chaplin bliebe, ein Chaplin, der tatsächlich immer zu spät kommt34 und an dem die historischen Großereignisse spurlos vorbeizuziehen scheinen – wie später auch am Kleinen Mann von Hans Fallada –, der in Tränen ausbricht, wenn andere lachen, und der lacht, wenn andere weinen.35 Ohne den pikaresken Zug des Romans in Abrede stellen zu wollen, gilt es, den Protagonisten als Architekten ernst zu nehmen, der Häuser für Arbeiter entwirft und mitten im Krieg die Privatrechte des Menschen über die gesellschaftliche Funktion stellt und sie einfordert.36 Erstmals soll hier der Versuch unternommen werden, über den Wohndiskurs Aussagen zur Subjektkonstruktion des Protagonisten zu machen, denn – so bemerkt schon Dirk Niefanger – Ginster „erlebt keineswegs eine Zerfallskrise, wie sie der Identitätsdiskurs der ‚klassischen Moderne‘ nahe legt und wie sie Kracauer in Die Gnade noch darlegen wollte. Gerade das Auflösungsmoment mutiert [...] in Kracauers Roman [...] zur Gestaltungsmöglichkeit einer spezifischen Subjektivität.“37 Um diese spezifische Subjektivität in den Blick zu bekommen, soll nach der Relevanz des Privatraums für den Identitätsentwurf gefragt werden, nach der Verschränkung von Raum und Identität.

34 „Immer hatte Ginster bei öffentlichen Veranstaltungen Pech.“ (224); vgl. auch S. 225: während auf den Plätzen die 1918er-Revolution tobt, schläft Ginster oder arbeitet brav im Büro. 35 „Über den allgemeinen Jubel hatte er schluchzen müssen. Bei Tragödien brachte er es nicht zu einer einzigen Träne.“ (9) 36 „Ja gewiß, das Geschlechtsleben, das wir führen, wird genau verfolgt. Alle acht Tage haben wir zur Untersuchung im Revier anzutreten. Warum [sich so viele] von der Untersuchung drücken, verstehe ich nicht, es ist ja keine Schande, geschlechtskrank zu sein. [...]“/ „Die Leute kommen eben nicht nur ins Lazarett“, erklärte Hay, „sondern werden auch ihres Leichtsinns wegen bestraft.“/„Aber ihre Leiden sind doch privat.“/„Strafe muß sein.“ (168/169); vgl. dazu auch S. 189: Als Ginster erkrankt, bleibt es „unbestimmt [...], ob die Krankheit ihm gehöre oder nicht“, und S. 149, auf der selbst die Notdurft der Soldaten zu einer öffentlichen Angelegenheit deklariert wird. 37 Niefanger 1994, S. 263.

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RaumRaum - und Identitätskonzepte HISTORIE UND AUTOBIOGRAPHIE Es wurde bereits festgestellt, dass es dem Historiker, Ginsters Onkel, nicht gelingt, die einzelnen Ereignisse zu einer Geschichte zusammenzufügen, ja in gewisser Weise erscheint er mehr als Organisator des Raumes denn der Zeit.38 Solchermaßen aber wird Geschichtsschreibung sowohl im Hinblick auf die Großhistorie als auch im Hinblick auf die in diesem Roman vorgelegte persönliche Historie, die Autobiographie, problematisiert: Ginster, Von ihm selbst geschrieben, lautet der Titel, der Erzähler und Protagonist ostentativ in eins fallen lässt. Wie der zuvor beschriebene Einsatz der Sprache bereits deutlich gemacht hat, handelt es sich bei dieser Autobiographie eben um keinen Roman, der nach dem Muster einer teleologischen Geschichtsschreibung verfährt. Die einzelnen Ereignisse werden nicht im Sinne der Unumkehrbarkeitsregel gestaltet, einer ästhetischen Doktrin, nach der kein Teil wegfallen kann, ohne dass das Ganze in Unordnung gerät; und am Ende der Historie oder Autobiographie steht weder ein geläutertes Menschengeschlecht noch der gebildete Bürger, der seinen Platz in der Gesellschaft gefunden hat. Sowohl Ginster als auch eine Vielzahl der Oberflächenbeschreibungen bleiben ungreifbar, gefeit gegen jegliche Form der Entwicklung oder Funktionalisierug.39 Auch retrospektiv ergibt sich keine zwingende Geschichte, welche die Existenz der Ornamente im Sinne einer Entwicklung rechtfertigen würde. Konsequent und explizit wendet sich der Protagonist denn auch tatsächlich von der prototypischen Autobiographie und dem darin entworfenen Subjekt ab. Ginster nahm sich vor, nicht mehr ‚Dichtung und Wahrheit‘ zu lesen, der glänzenden Jugend des Dichters wegen, die er haßte wie die Fassade. (40)

38 Der Onkel klebt nicht nur mit „Hilfe eines Leimtopfes“ die Historie gleich einer Collage zusammen (42/43/65), auch sein Arbeitszimmer folgt einer exakten räumlichen Ordnung, als Zerstörung dieser erweist sich dann bereits, wenn die Briefmarken ihrer Funktion zugeführt aus ihrem Kästchen entfernt und aufgeklebt werden. „Die Marken gehörten in ihre Behälter und hatten nichts auf den Briefen zu suchen.“ (43) Damit erweist sich der Onkel als alter ego Ginsters, beiden ist gemeinsam, die Dinge aus ihrem Funktionszusammenhang herauszuheben. 39 In diesem Sinne schreibt Dirk Oschmann: „Damit aber weist sich der Roman nicht nur als Anti-Bildungsroman aus, sondern dezidiert als Schelmenroman, dessen Hauptmerkmal bekanntlich in der Unveränderbarkeit seines Protagonisten besteht.“ Oschmann 1999, S. 163.

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Poetik des Privatraums Dirk Niefanger verweist in seinem Aufsatz auf den Umstand, dass der Untertitel des Kracauerschen Romans Von ihm selbst geschrieben ein Zitat aus eben dieser Autobiographie, aus Dichtung und Wahrheit, ist, denn dort ist zu lesen: ‚Das Leben des biederen Götz von Berlichingen, von ihm selbst geschrieben.‘ [...] Vor dem Hintergrund der Goethe-Intertexte signalisiert der Zusatz ‚Von ihm selbst geschrieben‘ also zugleich Form der Autobiographie, als auch seine Aporien und Probleme.40

Die gescheiterte Autobiographie des Antihelden Ginster – die ihn mit den anderen neusachlichen Protagonisten verbindet –41 ist für diese Studie aber vor allem deshalb relevant, weil der Text selbst die Raum- und Zeitkonstruktionen reflektiert, indem er ein zeitliches Erzählschema (Biographie) mit einer räumlichen Gestaltung (Fassade) vergleicht. Wenn Ginsters ornamentale Weltaneignung ebenso zusammenhanglos bleibt wie seine sprachliche Kommunikation sinnlos, ja seine gesamte Biographie in Einzelteile zu zerfallen droht, so zeugt diese Kopplung von Subjekt- und Raumkonstruktion – von Dichtung und Wahrheit mit der Fassade – vom Wohndiskurs der 20er Jahre. Gerade hierüber lassen sich die einzelnen Ornamente dann schließlich doch interpretatorisch mit Sinn aufladen.

WOHNDISKURS DER 20ER JAHRE Die Kopplung von Subjekt- und Raumentwürfen42 – Dirk Oschmann spricht von einer „Gleichsetzung von Häusern und Menschen“ 43 – wird nochmals dadurch unterstrichen, dass neben Dichtung und Wahrheit auch Goethes Gedichte sind gemalte Fensterscheiben zitiert werden.44 Primär geht es in diesem „Gedichtchen“, wie Ginster es nennt, zwar um die Rezeption von Poesie, der Vergleich mit den „gemalten Fensterscheiben“ stiftet aber nicht nur eine Verbindung zwischen Architektur und Literatur, sondern auch zu einer bestimmten Stilepoche, mit der sich Goethe seit seinem frühen Aufsatz über die Deutsche Baukunst von 1772 über das neunte Buch von Dichtung und Wahrheit immer wieder beschäftigt hat: der Gotik. Betrachtet man Goethes Gedicht in seinem historischen Kontext der Architekturgeschichtsschreibung, in dem die Gotik (fälschlich) als 40 41 42 43 44

Niefanger 2002, S. 535. Mülder 1985, S. 131. Nach Ottos Tod liegt „auch die Zimmereinrichtung [...] in Verwesung“ (77). Oschmann 1999, S. 189. Johann Wolfgang von Goethe, Gedichte sind gemalte Fensterscheiben, in: Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, hrsg. von Erich Trunz, Bd. I, Gedichte und Epen I, München 1993, S. 326.

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Beinahe zu Hause deutsche Kunst definiert und schließlich auch in den Dienst der deutschen Nation gestellt worden ist45 – Jens Bisky spricht von einer altdeutschen Modewelle um 1810, in der „patriotische und religiöse Motive [...] die ästhetische Dimension [...] überlagerten“ 46 – dann offenbart sich eine Bedeutungsdimension, die zwischen 1910 und 1920 erneut diskutiert und für den vorliegenden Roman entscheidend wird. Wilhelm Worringer erklärt in seinen Formproblemen der Gotik (1911) den „gotischen Ausdruckswert“ aus einer „nordischen Seelenverfassung“,47 Hans Much formuliert 1917 noch zugespitzter: „Gotik ist Deutschtum schlechthin.“48 Die Erwähnung von Goethes Gedicht an eben jener Stelle des Romans, an der der Protagonist beim Militär die Regeln des Grüßens kennenlernt, kreiert in derselben Weise einen Zusammenhang zwischen Gotik, Nation und Krieg und rückt Letzteren in den Bereich von heiligen Riten: Jetzt erst verstand Ginster die Bewegungen [also militärischen Grußformeln, I.L.], die seinerzeit mit Otto bei ihrem Spaziergang ausgeführt worden waren.49 Kommt aber nur einmal herein. Begrüßt die heilige Kapelle! Das Gedichtchen hatte doch recht. Wenn man sich mitten in der Grußkapelle befand, wirkten die Grüße farbig. Daß sie des Zwecks entrieten, störte nicht weiter, auch die Buntheit der Glasfenster war nutzlos. (151)

Natürlich haben sowohl die Grußformeln wie auch die bunten Glasfenster eine Funktion innerhalb ihres Systemzusammenhangs – das Gedicht Goethes weist darauf hin, dass im Innern die Scheiben sogar eine Geschichte zu erzählen beginnen,50 aber genau diesen zu 45 Hanno-Walter Kruft bezeichnet Goethes Auseinandersetzungen mit dem Straßburger Münster einen „Versuch, das Straßburger Münster als deutsche Leistung in einem nationalen Sinn zu verstehen.“ Kruft 1995 (1985), S. 251. Zur differenzierten Beurteilung und Wandlung von Goethes Architekturverständnis vgl. Norbert Knopp, Zu Goethes Hymnus ‚Von deutscher Baukunst‘, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 53, 1979, S. 617-650, insbes. S. 617; Hanno-Walter Kruft, Goethe und die Architektur, Pantheon XL 1982, S. 282-289; Jens Bisky, Poesie der Baukunst, Architekturästhetik von Winckelmann bis Boiserée, Weimar 2000, S. 37 u. S. 291. 46 „Seit 1810 war die Vorliebe für altdeutsche Malerei und Baukunst modisch geworden, patriotische und religiöse Motive überlagerten die ästhetische Dimension.“ Bisky 2000, S. 291. 47 Wilhelm Worringer, Formprobleme der Gotik, München 1911. 48 Hans Much, Norddeutsche Backsteingotik, Ein Heimatbuch, Hamburg 1917, S. 6f. 49 Der Text bezieht sich hier auf eine Passage auf S. 47. 50 „Kommt aber nur einmal herein! / Begrüßt die heilige Kapelle;/Da ists auf einmal farbig helle,/Geschicht und Zierat glänzt in Schnelle,/Bedeutend wirkt ein edler Schein.“ Goethe, Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. I, 1993, S. 326.

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Poetik des Privatraums akzeptieren, verweigert der Roman.51 Ginster interessiert die Heiligenlegende ebenso wenig wie die Architekturgeschichte, innerhalb derer die bunten Glasfenster eine bestimmte Funktion haben, innerhalb derer der Kölner Dom zu dem nationenbildenden Bauwerk aufstieg: Dem Vorwurf seines Onkels, er habe sich als Architekt doch für den Dom zu K. zu interessieren – und die Vermutung liegt nahe, eben hierin den Kölner Dom52 zu erkennen, um dessen Fertigstellung sich Goethe ebenso in den 10er Jahren des 19. Jahrhunderts einsetzte53 –, begegnet er mit der Antwort, er sei Hochbauingenieur (140).54 Ginster gibt damit nicht weniger zu verstehen, als dass er sich um die Konstruktion, nicht um die Geschichte zu kümmern habe. Mit seiner Ablehnung der Historie, zudem einer national konnotierten, und der wiederholten Selbstbeschreibung als Ingenieur55 folgt Ginster den funktionalistischen Architekten und ihrer internationalen Ausrichtung, wird Teil des Diskurses um das Neue Bauen, das den Abbruch mit der Vergangenheit auf seine Fahnen geschrieben und den Ingenieur zum Vorbild erhoben hat. Zahlreiche Architekten der 20er Jahre verstanden sich wie Ginster nämlich als Ingenieure oder Wissenschaftler und keineswegs als KünstlerArchitekten.56 Die als zwecklos deklarierten unfunktionalen Archi51 Zum Verhältnis von Innen und Außen siehe die folgenden Ausführungen, siehe dazu auch: Mülder 1985, S. 207. 52 Zur Auflösung der Initialen der Städte vgl. Oschmann 1999, S. 176, bzw. hier Fußnote 18. 53 Vgl. Udo Kultermann, Geschichte der Kunstgeschichte, Der Weg einer Wissenschaft, München 1996, S. 74; vgl. auch Heinrich Lützeler, Der Kölner Dom in der deutschen Geistesgeschichte, in: Der Kölner Dom, Festschrift zur Siebenhundertjahrfeier 1248-1948, Köln 1948, S.195-250. 54 Ginster „vergegenwärtigte sich den berühmten Dom zu K., den ihm der Onkel [...] einmal erklärt hatte. [...] Daß Ginster unter Umständen Dome langweilig fand, die aus einer Frühzeit stammten, nahm er ihm übel. ‚Du bist doch Architekt‘, zürnte er dann. Nein, Hochbauingenieur, sagte Ginster zerstreut vor sich hin.“ (140) 55 „Nach dem Beruf gefragt, gab er aus Gewohnheit an, Hochbauingenieur zu sein, die Architektur war ihm völlig entfallen.“ (188) „‚Beruf?‘ fragte ein Mann. – ‚Hochbauingenieur‘, erwiderte Ginster.“ (84) 56 Vgl. dazu den Beginn bei Le Corbusier 2001(1922), der sich mit der Ingenieur-Ästhetik auseinandersetzt, aber auch die Debatte im Werkbund im Jahr 1914, die Henry van der Velde und Hermann Muthesius über standardisierte industrielle Massenkultur und individuelle künstlerische Entwürfe führen (Henry van der Velde, Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 354ff, und Angelika Thiekötter, Der Werkbund-Streit, in: Der westdeutsche Impuls 19001914, Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet, Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Kölnischer Kunstverein Köln 1984, S. 78-94). Walter Delabar verweist darauf, dass der Ingenieur zur Leitfigur des neusachli-

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Beinahe zu Hause tekturelemente (wie etwa die bunten Glasscheiben in einem Gotteshaus) bekommen in einem solchen Kontext zugleich einen Beigeschmack: sie gelten als Ausdruck einer Baupolitik und einer Architekturgesinnung, die sozial unverträglich ist, da sie sich, bevor das Grundrecht aller Menschen auf Wohnraum sichergestellt ist, in Zierrat für Wenige verausgabt. Kracuaers Bericht über eine Werkbundausstellung zu Gebrauchsgegenständen im Jahre 1924 schlägt denselben Ton an, wenn er feststellt: Rein wirtschaftlich und sozial gesehen [...] verbietet sich [...] die betont individuelle Behandlung der Gebrauchsgegenstände [...]; ein Volk, das sich das Notwendige erarbeiten muß, hat dieses Notwendige zuerst zu gestalten, bevor es seine Kräfte auf die schönen Überflüssigkeiten des privaten Lebens verwenden kann.57

Ginster als der aus Zeit und Raum gefallene Narr ist zwar in seiner Grunddisposition weit davon entfernt, sich für eine sozialverträgliche Architektur bzw. für irgendetwas überhaupt zu engagieren ebenso wie er in seiner Ornamentversessenheit keineswegs als typischer und konsequenter Vertreter einer funktionalistischen Architektur in Erscheinung tritt. Dennoch legt er Spuren zu diesem Diskurs, wenn von Zwecklosigkeit oder Ingenieuren die Rede ist, von der Ablehnung des ‚gotisch-nationalen‘ Baustils. In der ostentativen Verweigerung des Anschlusses an einen ‚nationalen‘ oder besser: regionalen Formenkanon, stießen die Architekten des Neuen Bauens allerdings nicht nur in der deutschen Gesellschaft der 20er Jahre, sondern auch in anderen Ländern auf Unverständnis, und zwar aus einem auch für Ginster aufschlussreichen Grund: in der Verweigerung eines ‚nationalen Baustils‘ wurde zugleich die gesellschaftliche Aufgabe der Architektur verschoben. Wurde sie im 19. Jahrhundert zusehends als Gestalter von Heimat und Nation proklamiert, mithin zum bürgerlichen Identitätsstifter,58 lehnt die internationale Architekturbewegung der 20er

chen Jahrzehnts wird, der Dichter zu einem Ingenieur-Dichter (Walter Delabar, Linke Melancholie, Kästners Fabian, in: Jörg Doering (Hg.), Verkehrsformen und Schreibverhältnisse: medialer Wandel als Gegenstand und Bedingung von Literatur im 20. Jahrhundert, Opladen 1996, S. 15-35, hier S. 30f). 57 Siegfried Kracauer, Stuttgarter Kunstsommer, Teil 2: Werkbundausstellung Die Form, in ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1 Aufsätze 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 262-267, hier S. 263. 58 Vgl. dazu insbesondere die Aufgabe der Baudenkmäler im 19. Jahrhundert. Dass der an die Architektur herangetragene Anspruch, Ausdruck von Nation und Heimat zu sein, auch vor den Wohnungen nicht Halt machte, zeigen die Reaktionen auf die Weißenhofsiedlung. Nur wenige hundert Meter entfernt wurde ihr mit der Kochenhofsiedlung eine ‚deutsche Siedlung‘ an die

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Poetik des Privatraums Jahre dagegen prima facie nicht nur eine im Heimatboden verwurzelte Architektur ab, sondern auch ein Subjekt, das sich über Nation und Heimat, über ‚national aufgeladene‘ Räume identifiziert. Der in den Neuen Wohnungen ansässige Bewohner ist der moderne Mensch, per se ein Weltenbürger.59 Vor diesem Hintergrund ist auch Ginsters Abneigung mittelalterlicher Architektur und Städtekunst zu sehen, denn nicht nur die Gotik mit ihren Domen und Kathedralen ist im Laufe der Architekturgeschichtsschreibung zum Denkmal deutscher Baukunst aufgestiegen, die gesamte mittelalterliche Stadtanlage ist seit Camillo Sittes Schrift über den Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen (1889)60 zum Vorbild deutscher Urbanistik erhoben,61 wenn auch keineswegs durchgesetzt worden. Es sind die mittelalterlichen Städte, die, heimatbildend eingesetzt, das Deutschlandbild noch bis heute prägen, wie die Ende des 19. Jahrhunderts in Mode gekommenen Ansichtspostkarten von Heidelberg oder Rothenburg ob der Tauber deutlich machen. In diesem Sinne ist Ginster nicht nur die mittelalterlich labyrinthische Wohnung seines Arbeitgebers unerträglich (113, 114), sondern es sind ihm auch die verwinkelten Gässchen in Q. ein Greuel: eine natürliche Städtebaukunst, die aus lauter Fachwerkhäusern bestand. Manche waren auf Ansichtskarten abgebildet; der spitzen Giebel wegen eigneten sie sich besonders gut für Hochformat. (198) […] Draußen wurde er [Ginster] von den Fachwerken aufgefangen. Glatte Betonwände, die ohne die trügerischen Holzkaros auskamen, wären schon besser gewesen. (218)62

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Seite gestellt; vgl. dazu Stefanie Plarre, Die Kochenhofsiedlung – das Gegenmodell zur Weißenhofsiedlung, Stuttgart 2001. Vgl. etwa Hannes Meyer: „Unsere Wohnung wird mobiler denn je: Massenmietshaus, Sleeping-car, Wohnjacht und Transatlantique untergraben den Lokalbegriff der‚Heimat‘. Das Vaterland verfällt. Wir lernen Esperanto. Wir werden Weltenbürger.“ Hannes Meyer, Die Neue Welt, zitiert nach: Hartmann 1994, S. 146-148, hier S. 146. Camillo Sitte, Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889 (1901, 1909, 1983). „Sitte ist ein Befürworter gewachsener Unregelmäßigkeiten und gekrümmter Straßen [...], die ‚gewachsene‘ Stadt des Mittelalters“ steht ihm nahe; Kruft 1995 (1985), S. 365, 366. Fast identisch schreibt Kracauer am 10.7.1924 in der Frankfurter Zeitung: „Wenn schon gebaut werden muß, dann lieber Eisenbeton als dieser verblühte Seelenkitsch“, wobei sich Letzteres auf die Planungen des Ulmer Münsterplatzes bezieht: „Die Stadt Ulm hat zur Bebauung des Münsterplatzes ein geradezu selbstmörderisches Projekt ersonnen, dessen Hausgruppen mit ihren Torbögen und Erkerchen Romantik im schlimmsten Sinne sind.“ Siegfried Kracauer, Stuttgarter Kunstsommer, Teil 1: Werkbundausstellung, ‚Bauausstellung‘, Frankfurter Zeitung, 10.7.1924, zitiert in: Heß 1996, S. 121, 122.

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Beinahe zu Hause Und erneut vergleicht der Roman Raum- und Sprachkonstruktionen, indem er Valentins Rede zur Preisverleihung für den Entwurf des Soldatenfriedhofs mit einer Stadtanlage vergleicht: „In Anbetracht dessen stelle ich einem Generalkommando ergebenst anheim, in die Erwägung einzutreten ...“, las [Valentin] vor, ohne je das Satzende zu erreichen, ein selbsterzeugtes Altstadtlabyrinth, in dem er sich schnaufend verlief. (88)

Was den neusachlichen Autoren Satzbaukunst, sind den funktionalistischen Architekten die Altstadtgassen: pittoreske Nutzlosigkeiten. Relevant erscheinen diese Interpretationen aber insbesondere deshalb, weil Raum- und Sprachkonstrukte nicht unabhängig vom Menschen gedacht werden und diesen beeinflussen. Architektur wird zum Ausdruck der Gesellschaft und ihrer Bewohner, Ausdruck von Lebensentwürfen. Elfriede, die kurzzeitige Geliebte Ginsters, und ihre Mutter sind in eben dieser Weise in Szene gesetzt. Eine Wohnung, in der man mit dem „Kopf unmittelbar gegen die Decke [...] stieß“ und dessen „Diwan“ mit „lauter Kissen bedeckt[...]“ war (217), beschreibt die Mutter folgendermaßen: „ ‚Wir leben zwar in einfachen Verhältnissen‘ meinte [sie] während des Obstes, ‚haben aber eine gemütliche Bleibe.‘“ (217) Und auch Elfriede, „ein Heimatpastell“ (208), bleibt ganz in diesem Bild gefangen: „Ich wünschte, ich hätte ein Schneckenhäuschen in der Heide [...], ganz klein müßte es sein, und niemand außer meinem Mütterchen dürfte darin wohnen.“ (208, Hvm)

Von einem ähnlichen Schneckenhäuschen träumt auch die Frau des Architekten in dem kaum bekannten Theaterstück des sonst für Architekturkritik zuständigen Sigfried Giedion von 1917 (im selben Jahr in Berlin uraufgeführt),63 hier wie dort scheint eine ganz auf Heimat, nicht auf Weltbürgertum ausgerichtete Architektur das Lebensideal zu bilden. Auch das großbürgerliche Interieur von Stadtbaurat Schmidt wird ganz im Sinne des Neuen Bauens verurteilt – „[i]m Haus [...] prahlten die Möbel mit ihren ausladenden Gesimsen. Gewundene Säulen über Lebensgröße, auch die Frau war ein Eichenstück“ (229) – und die sich hieran orientierenden kleinbürgerlichen Träume des Vaters fallen demselben Verdikt anheim: Ginster haßte die Straßen am Sonntag. Sie [Ginster, Vater und Mutter, I.L.] gingen durch das Westend, wo die Villen und die Herrschaftshäuser sich in ihre Vorgärten zurückziehen, damit der Asphalt sie nicht streift. Hier sind die Stra-

63 Sigfried Giedion, Arbeit, Theaterstück in drei Akten, Berlin 1917. Das Stück handelt von dem Konflikt zweier Architekten mit der praktischen Architektur und den Bauherren.

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Poetik des Privatraums ßen am Sonntagnachmittag verlassen, und die Häuser verstecken ihre Türen. [...] Der Vater verweilte vor den Villen und schätzte sie ab: „Dieses Haus muß mindestens zehn Zimmer haben“, sagte er, „drei nach der Straße, die Küche im Souterrain; dann noch die vielen Nebenräume und der schöne Garten. [...] Seht nur die hohen Spiegelscheiben, die Zimmer sind heller als unsre. Nach hinten zu ist sicher eine große Veranda angebaut. Wenn wir die Villa hätten, könnte ich bei warmem Wetter im Lehnstuhl auf der Veranda liegen.“ Er bewunderte vorgeklebte Zinnen und eignete sich in der Phantasie üppige Dielen an (41/42).

Dieser Ausschnitt schlägt mit seiner Betonung von historistischem Zierrat und vorgeklebten Zinnen als Herrschaftssymbol nicht nur einen Bogen zu den „zwecklosen“ Glasscheiben der ‚kleinen Kapelle‘, er verdeutlicht zugleich Wunsch und Bereitschaft zur Identifikation mit ikonisierten Situationen des bürgerlichen Habitus, etwa wie ein ‚Hausherr im Liegestuhl‘ zu verweilen. Sofern sich bürgerliche Verhaltensmuster finden, ermöglichen sie – hier Elfriede und ihrer Mutter – selbst über menschenunwürdige Wohnverhältnisse wie etwa niedrige Decken hinwegzusehen. Redefloskeln und Bilder des bürgerlichen Glücks dienen als Orientierungshilfe: „wir leben zwar in einfachen Verhältnissen“, aber das „Mütterchen“ ist dennoch „ein Kunstdruckblatt“ (217), mithin Inkarnation der in diesen Bildern verewigten deutschen Mutter. Eben diese Kunstdruckblätter sind gegen Ende des 19. Jahrhunderts in Mode gekommen und sollten auch ärmeren Haushalten die Möglichkeit bieten, ihre vier Wände durch Kunst zu verschönern und sich im doppelten Sinne zu bilden.64 Die scheinbar komplikationslose Übertragung des Bildmusters auf ein Lebensmuster zeigt, dass Wohnstätten nicht nur Ausdruck von bestimmten Lebensauffassungen sind und der ‚Bau von Wohnraum‘ zugleich den ‚Bau des Menschen‘ symbolisieren kann, sondern dass Wohnungen darüber hinaus im Hinblick auf ein ebenfalls zu entwerfendes Subjekt geplant und eingerichtet werden.

BESITZ UND EIGENTUM Der Subtext des Ginster spricht von einem aus dem Wohndiskurs geformten Subjekt, von einem Protagonisten, der sich der sozialen oder besser: gesellschaftlichen Implikationen der Baukunst sowie der damit verbundenen individuellen Möglichkeiten und Chancen eines Selbstentwurfs bewusst ist. Besonders anschaulich wird dieser Zusammenhang, als Ginster im Stadtbauamt von Q. die Aufgabe übertragen bekommt, Wohnhäuser für Arbeiter zu entwerfen. 64 Vgl. Henrike Junge-Gent, „Gute Kunst“ ins Haus! Auflagengraphik als Wandschmuck im kleinbürgerlichen Interieur, in: Thomas Althaus (Hg.), Kleinbürger, zur Kulturgeschichte des begrenzten Bewußtseins, Tübingen 2001, S. 197-221.

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Beinahe zu Hause Stadtbaurat Schmidt hatte gemeint, daß sie [die Arbeitersiedlung] aus einer Masse kleiner Einzelhäuser mit Gärtchen und gemütlichen Dächern bestehen solle. [...] Ginster [...] wunderte sich über die beabsichtigte Niedlichkeit um so mehr, als der Stadtbaurat ihm gegenüber die Arbeiter einmal als Gesindel bezeichnet hatte. Erst wurden sie erschossen und dann in die Gärtchen verpflanzt – er begriff den Zusammenhang nicht, es sei denn, daß Schmidt das Gedeihen der Arbeiter wünschte, damit sie im folgenden Krieg wieder frisch verwandt werden konnten. Widerstrebend zeichnete er luftige Räume, in denen das Gesindel sich später wahrscheinlich so glücklich fühlte, daß es sie von neuem mit dem Karabiner verteidigte. Freilich konnte man die Arbeiter auch nicht in Löchern unterbringen, aber richtig wäre es gewesen, statt der bunten Glaskugeln Grabsteine im Garten aufzustellen. (199, Hvm)

Durch Wohnungen wie diese könnten, so die Überlegung Ginsters, die künftigen Bewohner zu Verteidigern ihres Vaterlandes geformt werden. Ausgelöst wird diese Argumentation durch die Aufforderung des Stadtbaurats, kleine Einzelhäuser mit Gärtchen und gemütlichen Dächern zu entwerfen. Betrachten wir die Architekturdebatte der 20er Jahre, dann wird deutlich, dass der Stadtbaurat hier auf einen Formenkanon zurückgreift, von dem sich die Neue Sachlichkeit verabschiedet hat: anstelle des ‚gemütlichen Satteldachs‘ wurde das Flachdach protegiert, anstelle der eigenen Gärtchen mit der Möglichkeit der Selbstversorgung ein Haushalt imaginiert, der die Lebensmittel aus dem Supermarkt bezieht, weder Garten noch Vorratskammer oder Keller mit Einweggläsern erscheinen funktional und zeitgemäß. Mit der Erwähnung der gemütlichen Satteldächer trifft Ginster mitten in die Architekturdebatte der 20er, von einem regelrechten Dächerstreit ist die Rede.65 Dahinter verbirgt sich letztlich aber nichts Geringeres als die Auseinandersetzung um das dem modernen Menschen adäquate Gehäuse und damit um den Bewohner selbst. Als 1927 die Weißenhofsiedlung gebaut wurde, waren es vor allen anderen Neuerungen die flachen Dächer die auf Unmut stießen, und bezeichnenderweise sind diese nicht als Zeichen einer internationalen Architektur (wie von den Funktionalisten intendiert), sondern einer fremden nationalen Kultur gedeutet worden. In diesem Sinn begann das traditionalistische Lager der Architekten die Weißenhofsiedlung zu interpretieren, die Kritiker meinten in den ‚Vorstädten Jerusalems‘66 die Vorläufer der Formensprache 65 Sprichwörtlich wurde der Dächerstreit anlässlich der Berlin-Zehlendorfer Bebauung am Fischtal, ein Streit über Bruno Tauts Flachdachbebauung und Heinrich Tessenows Giebeldächer; vgl. dazu Kristina Hartmann, Alltagskultur, Alltagsleben, Wohnkultur, in: Geschichte des Wohnen, Bd. 4, 2000, S. 183-303, hier S. 263, und Cramer, Gutschow 1984. 66 Die Weißenhofsiedlung erinnere an eine „Vorstadt Jerusalems“ schreibt Paul Bonatz im Schwäbischen Merkur bereits 1926 (Schwäbischer Merkur, Stuttgart, 05.05.1926, in: Kirsch 1999 (1987), S. 206.) Nach Fertigstellung der

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Poetik des Privatraums zu finden. „Gemütliche Dächer“ aber, und das heißt Dächer, die Geborgenheit stifteten, Heimat und Verwurzelung symbolisieren konnten, das waren hierzulande allein die Giebeldächer. Das Argumentationsmuster selbst reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück,67 und Kracauer kannte die Debatten nicht nur als Architekt, sondern auch als Reporter. Zum Manifest der dem Funktionalismus gegenüberstehenden traditionalistischen Bewegung wird nur wenige hundert Meter vom Weißenhof entfernt die von Paul Schmitthenner, einer der bedeutendsten Vertreter des traditionalistischen Lagers und Professor an der Stuttgarter Hochschule, iniziierte KochenhofSiedlung errichtet: sie wird zum Ausweis einer heimatspendenden Architektur und Gegenproklamation zur internationalen Bewegung.68 Bereits zwischen 1914 und 1917 hatte Schmitthenner Siedlungen in Staaken und Plaue gebaut, die an Ginsters Entwurf erinnern, denn diese „sogenannte[n] Reichsgartenstädte“ sind „für die Arbeiter staatlicher Munitionsbetriebe“69 bestimmt. Ginsters „gemütliche Dächer“ der Arbeitersiedlung symbolisieren eine Architektur, die ihren Bewohnern eine im „Gärtchen“ verwurzelte Heimat und Identität stiften soll, die sie in künftigen Kriegen zu verteidigen bereit wären, denn: „Wenn die Völker Krieg führten, so rührte es daher, daß sie an ihren Besitztümern hingen“ (132, Hvm), an der „Heiligkeit des Eigentums“.70 Eine solche Perspektive bedeutet eine sich erst im 20. Jahrhundert etablierende völlig neue Interpretation von (Grund)Besitz. Betrachtet man noch die bürgerlichen Wohnräume des 19. Jahrhunderts, dann wird deut-

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Siedlung vollzieht Bonatz zwar eine Kehrtwende, tragischerweise wird sein erstes Urteil vor allem von den Nationalsozialisten dennoch übernommen, vgl. ebd. S. 206. Vgl. Carl von Dalberg leitet bereits – wenn auch mit einer völlig anderen Intention als in den Diskussionen der 20er Jahre – die gotischen Satteldächer aus der Niederschlagshäufigkeit in den nordischen Ländern ab: „Die Gothische Baukunst erfand die scharfen Winkel der Satteldächer und Turmspitzen, von welchen der Schnee schneller herabrollt, und nicht so leicht bey dem Schmelzen in die Gebäude eindringen kann.“ Carl von Dalberg, Versuch einiger Beyträge über die Baukunst, 1792, zitiert nach: Bisky 2000, S. 127. Von dem Stuttgarter Architekten Paul Schmitthenner schon 1927 geplant, konnte die Siedlung erst in den 30er Jahren mit Unterstützung der Nationalsozialisten errichtet werden. Zum Wohnkonzept Paul Schmitthenners bzw. der ‚traditionalistischen Moderne‘ vgl. hier das Kapitel zu Hans Fallada sowie den Ausstellungskatalog: Wolfgang Voigt, Hartmut Frank (Hg.), Paul Schmitthenner 1884-1972, Berlin, Tübingen 2003. Voigt 2006, S. 18. Siegfried Kracauer, Über Arbeitsnachweise, Konstruktion eines Raumes, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1900, S. 185-192, hier S. 188.

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Beinahe zu Hause lich, dass Besitz bis hin zum Besitzkult gesteigert nicht nur ein wichtiger, sondern vor allem auch ein positiver Bestandteil bürgerlichen Selbstverständnisses war und der Kampf um die Bereitstellung von Wohnraum für das Proletariat ebenso wie die Gewöhnung der unteren Gesellschaftsschichten an Besitz und Eigentum noch von der Überzeugung getragen war, auf diese Weise die Masse nicht nur befreien und befrieden zu können, sondern auch einen revolutionären Umsturz der Gesellschaft zu verhindern;71 friedliches und glückliches Zusammenleben erscheint durch die Einordnung des Proletariats in bürgerliche (Wohn-)Strukturen möglich, genau so, wie es Ginsters Vater und Elfriedes Mutter vorgeführt haben. Ginster selbst erscheinen diese Verhaltensmuster und Wohnformen aber ganz im Gegenteil nicht mehr als Ausdruck von Frieden, sondern als potentiell zerstörerisch, da sie Frieden im Innern mit einem Krieg nach außen jederzeit zu erkaufen bereit sind. Besitz und Besitzkult, das zeigt sich immer wieder in den hier analysierten Romanen, ist der jungen Generation fremd und verdächtig, womit sie sich zugleich den berechtigten Vorwurf einhandelt, „keine Ahnung vom Besitz, keine Ahnung von der Patina der Dinge“ zu haben.72 Wir müssen die Wohnung aufgeben! [...] Wegen der Schränke braucht man eine große Wohnung! [...] Als Kind [...] habe ich in den Katalogen von Herzog und Gerson und Grünfeld immer die Gardinen und die Tischwäsche angestrichen, die mir am besten gefielen. Ich habe gar kein Gefühl mehr für Besitz! So beweglich sein wie möglich,73

konstatiert Charlotte Kohler im Käsebier. Es ist Ginster, der „[g]ewöhnlich [...] auf den Ankauf der Bücher [verzichtet], sie umst[ehen] ihn dann nur als Besitz“ (205), und es ist Ginster, der „sich nicht als Eigentümer richtiger Sachen empf[indet] [und] lieber [...] zu Gast“ ist. Er freut sich auch, als er seinen Koffer für die Armee packt, jedoch nicht, weil er endlich in den Krieg ziehen darf, sondern, weil er von unnötigem Ballast befreit wird: Hätte Ginster nicht zum Militär gemußt, so wäre er im Augenblick über das Kistchen glücklich gewesen, weil es nur die wenigen Habseligkeiten barg. [...] [F]ür seine Zweckbestimmung konnte es schließlich nichts. (132)

71 Häußermann/Siebel 2000, S. 85ff. 72 So Mutter Schöpps zu ihrer Tochter Mucki in: Kessel 2002 (1932), S. 223. Siehe dazu ausführlich das Kapitel zu diesem Roman. 73 So sinniert Charlotte Kohler in Gabriele Tergit, Käsebier erobert den Kurfürstendamm, Roman, Berlin 2004 (1931), S. 263.

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Poetik des Privatraums Besitz und Eigentum werden im Ginster aber nicht nur auf der Ebene der histoire problematisiert, sondern auch auf struktureller Ebene, wie an Ginsters eigentlichem Gegenspieler, eben nicht dem um eine Generation älteren Historiker, sondern dem gleichaltrigen Otto deutlich wird.

Raumfiguren des Krieges OTTO Nicht der bereits aus dem Zusammenhang gefallene Onkel und Historiker, sondern der jugendliche Freund, die „etwas stubenhafte Erscheinung hinter Brillengläsern“ (32), ist die am stärksten gezeichnete Figur bürgerlicher Lebensmuster, auf die nicht nur bereits das Wort ‚Stube‘ (im Adjektiv stubenhaft) verweist, das im Wohndiskurs für die ‚gute Stube‘ und damit den Mittelpunkt des familiären bürgerlichen Lebens steht. Otto, der im Gegensatz zu Ginster sich sofort nach Kriegsausbruch freiwillig zur Armee meldet, ist darüber hinaus derjenige, der nichts vom Räumen versteht,74 und das, obwohl sein Name so programmatisch für die bürgerlichen Wohnstrukturen einsteht: ōt bedeutet im althochdeutschen nämlich soviel wie ‚Besitz‘ und ‚Reichtum‘.75 Relevanter aber ist, dass sein Name jenseits seiner Semantik einer Struktur gehorcht, die als äußerst problematisch geschildert erscheint: Ot-to folgt den Regeln der Symmetrie, auf die sowohl im Hinblick auf die Architekturen als auch im Hinblick auf die Lebensentwürfe regelmäßig Bezug genommen wird, so heißt es beispielsweise auf S. 39/40: W. besaß ein berühmtes Barockschloß, das Ginster nicht kannte. Um drei Uhr nachts öffnete sich ihm eine Platzfläche, die er nicht betreten mochte, aus Furcht, ertrinken zu müssen. Er lehnte an einer Hauswand [...] Allmählich erstand gegenüber ein Gelände aus Stein, in dem die Wege nach strengen Geset-

74 „Ottos Ungeschick war so ursprünglich wie seine Kurzsichtigkeit. Er vergriff sich beim Räumen, und jedes Gebäude war ihm recht, wenn es nur einen Eingang besaß.“(35) „Wider willen stellte Ginster die Häßlichkeit des Zimmers fest. „Von wegen schief“, fiel ihm ein. [...] Die Pendeluhr schlug und irgendein Kuckuckruf ertönte, der zu den Kügelchen auf den Stühlen gehörte.“(78) 75 Vgl. auch Kleinod; zu Ursprung und Bedeutung des Namens siehe: Duden, Lexikon der Vornamen, 4. völlig neu bearb. Aufl. von Rosa und Volker Kohlheim, Mannheim 2004, S. 240. Vgl. auch Bogislav von Selchow, Das Namensbuch, Eine Sammlung sämtlicher deutscher, altdeutscher und in Deutschland gebräuchlicher fremdländischer Namen mit Angabe ihrer Abstammung und ihrer Deutung, 4. Aufl., Leipzig 1934, S. 169/170.

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Beinahe zu Hause zen verliefen. Fensterreihen, Balkone und Säulen [...]. [D]ie Erscheinung war festgefügt und dauerte an. Sie würde fortbestehen, mit oder ohne Zeugen, sie bedurfte der Zeugen nicht. In Stücke hätte sie Ginster reißen mögen, ihre Säulen zerschlagen und die Fensterfluchten auflösen, hinter denen Prachträume unberührt schliefen. Angst befiel ihn, nur den Platz nicht überschreiten, was wußte die schöne Fassade vom Krieg. Vielleicht gab es Kompositionen, die sich nicht verschlossen, frei geschleuderte Spiralen und Kritzelzeichen und verschobene Flächen, die ohne Ordnung sich regten – anders als jene entsetzliche Figur. Übernächtigt kehrte er um, von dem Schloß verfolgt, das sich durch die Gassenschlitze zwängte. (39/40)

Gegen diese „Fixierung der stadträumlichen Architektur“, gegen die „barocke Ordnung der Weltverfügung, die über die Architektur des Schloßgartens in die des Stadtraums führt“, richtet die Moderne ihre „gezieltesten Schläge“, erläutert Thilo Hilpert und ergänzt im Hinblick auf Le Corbusier: Wenn sich eine ganze Abhandlung [in Le Corbusiers Vers une architecture, I.L.] anhand der Akropolis gegen eine barock erstarrte Optik auf die Grundlagen der griechischen Raumkomposition bezieht, dann um eine Komposition nach Sehwinkeln, statt nach Fluchtpunkten – der freien Bewegung im Raum, der sich verlagernden und gebrochenen Achsen – zu verdeutlichen. „Augen, die nicht sehen“ [so eine Kapitelüberschrift in Vers une architecture, I.L.] meint nicht allein eine Ästhetik der Maschine, sondern auch die Optik der Antike gegen eine in der perspektivischen Prägung erstarrte Raumkomposition.76

Sei es nun die symmetrische Anlage eines Schlosses und Schlossplatzes oder die Lebenshaltung von Männern im Allgemeinen, deren „Unnahbarkeit“ Ginster an „symmetrische[...] Grundrisse[...] [...] erinnerte [...], die in nichts verändert werden konnten“, „sie glichen Ländern mit Grenzen“ (131), oder sei es auch nur das „Piano“ in Ottos Wohnung, das „die von ihm eingenommene Ecke um keinen Kubikzentimeter überschreiten“ durfte (33), immer gerät die entscheidende konstruktive Eigenschaft der Symmetrie, die Fluchtpunktperspektive, in den Verdacht, ihrer Gesetze wegen, das Individuelle und die Freiheit zu unterdrücken. Am deutlichsten tritt dies in Ginsters eigenem Entwurf eines Soldatenfriedhofs zutage, der, wie auch die anderen Bauten, keineswegs seinen Vorstellungen von Architektur entspricht, sondern vielmehr jenen der Gesellschaft gerecht zu werden sucht. Und Ginster ist damit erfolgreich, denn mit diesem Vorschlag gewinnt Ginsters Büro den Wettbewerb. Hier, im Ehrenfriedhof für die „endgültig an der Heimkehr verhinderte[n] Soldaten,“ von denen manche „zu Lebzeiten mit Frau und Kindern in einem Loch untergebracht“ waren und die nun „wenigstens im Tod besser einquartiert werden“ 76 Hilpert 1988, S. 136.

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Poetik des Privatraums sollten (102),77 hier wiederholt sich in der architektonischen Anlage der Tod des Individuums: [Ginster] verfertigte [...] mit Reißschiene und Winkel ein Friedhofssystem, das einer militärischen Organisationstabelle glich. [...] Nach streng wissenschaftlichen Grundsätzen aufgereiht, für jedermann öffentlich. Rechteckige Gräberfelder richteten sich auf einen Mittelplatz aus, auf dem das Denkmal sich wie ein oberer Vorgesetzter erhob. [...] Damit das Laub die Symmetrie nicht zerstöre, zeichnete er es kubisch beschnitten. In Gestalt dicker schwebender Balken zog es sich an den Alleen entlang und unterstrich die Gewalt ihrer perspektivischen Wirkung. Von den Balken umgürtet, standen die Gräbermahle in Reih und Glied; kleine Steinflächen ohne Schmuck. Einfachheit war in den Kriegsjahren die Losung der führenden Kreise. (106, 107)

Was Ginster an der Symmetrie ablehnt, baut auf demselben strukturellen Prinzip auf, das schon im Hinblick auf die Autobiographie ad acta gelegt worden war. Der Text selbst legt diese Analogie nahe, denn die Schlossbetrachtung zu W. endet mit den bereits zitierten Worten: Ginster „nahm sich vor, nicht mehr ‚Dichtung und Wahrheit‘ zu lesen, der glänzenden Jugend des Dichters wegen, die er haßte wie die Fassade.“ (40) Abgelehnt werden hier aber nicht einfach zwei Werke vergangener Epochen, eine Schlossanlage aus der Zeit des Barock und eine Autobiographie aus der Zeit der Klassik bzw. Nachklassik, abgelehnt werden zwei Ästhetikkonzepte, die nach denselben Regeln verfahren: sei es auf der Ebene der Literatur das Gesetz der Unumkehrbarkeit, sei es auf der Ebene der Architektur die Symmetrie. Strukturmerkmal beider Konstruktionen ist, dass kein Teil wegfallen kann, ohne die Ordnung des gesamten Baus zu gefährden, jedes Glied hat einer übergeordneten Gesamtkomposition zu gehorchen. Effekt eines solchen Konzeptes aber ist für Ginster keineswegs ein wohlkomponiertes und nach klassischen oder übersteigerten neusachlichen, rein wissenschaftlichen Regeln gestaltetes Werk, sondern ist: Statik, Stillstand und Erstarrung. In diesen Raumfiguren scheint sich für Ginster die Kriegsgesellschaft zu versinnbildlichen, Symmetrie und Unumkehrbarkeit erscheinen als Signatur des Krieges, in dem der bzw. das Einzelne nicht für sich, sondern nur als Glied eines Ganzen interessiert, als Teil einer übergeordneten Komposition. Otto hat sich offenbar nicht wie alle anderen jungen Männer einfach für die Verteidigung seines Vaterlandes entschieden, sondern bereits mit seinem Namen der falschen räumlichen Ordnung

77 „Es gab eine Menge endgültig an der Heimkehr verhinderter Soldaten, die früher in der Stadt gewohnt hatten. Ihre Angehörigen wollten sie wiederhaben; wenn nicht lebendig, so doch die Leichen. Auch mußten sich die Soldaten selbst in schönen Gräbern zu Hause wohler fühlen als draußen.“ (102)

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Beinahe zu Hause verschrieben, und so heißt es explizit, er verstehe nichts von Räumen. Eben diese statische Ordnung aber erweist sich in der Logik des Textes als tödlich für das Individuum – und so endet Ottos Einstand für die Symmetrie letal, er bleibt im Krieg. In diesen Kontext bekommen die schon erwähnten Besitztümer eine weitere Bedeutungsebene zugeschrieben: ererbte Möbelstücke binden an die Vergangenheit der eigenen Familie oder an einen festen (Wohn-)Ort und implizieren somit die Einschränkung von Mobilität, die schließlich das Absterben impliziert. „Viele Leute waren von ihren Sachen wie von Efeu umsponnen“ (205), einer Pflanze, die ihrem Wirt die Kräfte entzieht, heißt es pointiert. Aber während sich Otto gemeinsam mit den anderen Romanfiguren in diesen statischen bürgerlichen Wohn- und Verhaltensmustern wie in fertigen, natürlichen Gehäusen einzurichten und die Muster als Identität anzunehmen vermag: Sie waren stolz darauf, daß sie jetzt alle gleich aussahen, und zeigten sich gegenseitig. Wahrscheinlich löschten die Uniformen gar keine Unterschiede aus, sondern hoben die ursprünglich vorhandene Ähnlichkeit der Mannschaftsgesichter erst richtig hervor (146),

sind es dieselben Muster, die Ginster für seinen eigenen Identitätsentwurf ablehnt. Ausgehend von Goethes Dichtung und Wahrheit ist es das bürgerlich geprägte Amalgam aus Wohnraum- und Subjektentwurf, das als Gegen- wenn nicht gar Feindbild inszeniert wird, und zwar aufgrund mehrerer ineinander verwobener Eigenschaften: Der nationalen und besitzorientierten Aufladung des Wohnraums über die Verwurzelung des Subjekts bis zu der dadurch bedingten Statik der Gehäuse, die sich räumlich in der Symmetrie, literarisch in der Unumkehrbarkeitsregel zum Ausdruck bringt. Denn in nichts anderes wird Ginster unentwegt eingeübt, nichts anderes sollte eine Autobiographie von Rechts wegen darstellen, als dass sich das Subjekt in diesen Mustern endlich auflöst. Von „Vorbildern umzingelt“, so dass er sich „[k]aum von der Stelle bewegen“ konnte (127), verwehrt sich Ginster jedoch ununterbrochen der gesellschaftlichen Vereinnahmung, der ‚Aufgabe‘ seiner Individualität. Er arbeitet damit einer Auslöschung seines Subjekts in bürgerlichen Verhaltensschemata und ästhetischen Formeln entgegen. Wenn für die Moderne immer wieder die Erosion des Subjekts beklagt wird, dann erscheint in Kracauers Ginster der Protagonist von einer solchen zwar tatsächlich bedroht zu sein, allerdings nicht durch den Einbruch der Moderne in seine Lebenswelt, sondern durch die immer noch herrschende Vergangenheit, durch überlieferte Verhaltens- und Wohnmuster. Die Moderne dagegen bietet ihm neue Möglichkeiten der Subjektkonstruktion, die es im Folgenden 147

Poetik des Privatraums genauer zu beleuchten gilt. Es ist die stets aufs Neue eingeforderte öffentliche Aufgabe eines Bürgers, gegen die sich Ginster zur Wehr setzt und die der Lächerlichkeit preisgegeben wird, wenn zu Zeiten des Krieges selbst der eigene Körper als staatlicher Besitz deklariert, sogar die Verrichtung der Notdurft zu einer öffentlichen Angelegenheit erklärt wird: Der einzige Schuppen, der ihn [Ginster] etwas anging, war [...] die Latrine, in der die Aborte zweireihig übten. Da nur öffentlich geübt werden durfte, ermangelten sie der Türen. Die Verrichtungen mußten überwacht werden, sonst wären sie unmilitärisch ausgeführt worden. (149, Hvm)

Während Valentins ganzer Stolz seine „Posten“ sind, die ihn „zu einer öffentlichen Person erhoben“ (Hvm), während Ginsters Umwelt auf einer strengen Trennung beider Sphären beharrt, erweist sich der Protagonist offenbar als unfähig, Privates und Öffentliches auseinanderzuhalten.

GINSTER Als Ginster sein Gesuch zur Rückstellung seines Einberufungsbefehls persönlicher formulieren möchte, gibt Valentin ihm zu verstehen: „Sie sind naiv [...], persönlicher? Es handelt sich nicht um einen Privatbrief, sondern um ein Gesuch.“ (88) Ginsters Beharren auf seinen ‚Privatrechten‘ deutet zu Zeiten des Krieges nicht nur auf einen ausgeprägten Selbsterhaltungstrieb, sondern impliziert auch den Versuch eines Selbstentwurfs; selbst wenn Ginster für einen solchen kein veritabler Privatraum zur Verfügung steht, wird dieser keineswegs in beliebigen Räumen erprobt. Ginster sucht zivile Räumlichkeiten auf, wie Cafés und Friseurläden, in denen er – während seines Soldatendaseins – aus der Masse des Militärs herausgehoben als Privatperson wahrgenommen wird: Er wollte sich dort nur vorübergehend in der schönen Umgebung aufhalten und liebenswürdig behandelt werden wie ein persönlicher Herr. Zum ersten Mal seit langer Zeit glaubte er wieder in einen richtigen Innenraum einzukehren (176, Hvm).

Dass sich Ginster dabei gerade in einem Friseurladen als Individuum verhalten kann und als solches wahrgenommen wird, deutet auf eine Konstruktion, die Privat und Öffentlich, Innen und Außen nicht mehr antithetisch gegenüberstellt, wie das noch in Goethes Gedicht der Fall war. Privat und Öffentlich erscheinen vielmehr ineinander verwoben. Bei einer solchen Verschmelzung aber wird die Trennung selbst problematisch, denn die Grenze gehört strukturell zur Symme148

Beinahe zu Hause trie: nur mithilfe der Grenze kann sich diese überhaupt erst bilden, nur die Grenze kann Individuen und Nationen eine Identität verleihen, die – in der Logik des Textes – zugleich deren Auslöschung gleichkommt. Während Dirk Oschmann feststellt, dass „die Idee der Grenze als Erfordernis des Schönen [...] sowohl auf Fabel- als auch auf Sujetniveau verworfen“ wird,78 dann gilt zu ergänzen, dass dies auch für die Architekturen und Wohnentwürfe gilt. Ebenso wie Ginster nicht zwischen öffentlicher und privater Funktion unterscheiden möchte, so verweigert er sich einer weiteren Demarkationslinie bürgerlicher Gesellschaftsordnung: der Trennung in weibliches und ein männliches Geschlecht: Trotz seiner achtundzwanzig Jahre verabscheute Ginster die Notwendigkeit, ein Mann werden zu müssen. Sämtliche Männer, die er kannte, hatten feste Ansichten und einen Beruf; viele überdies Frau und Kinder. Ihre Unnahbarkeit erinnerte an die von symmetrischen Grundrissen, die in nichts verändert werden konnten. [...] [S]ie glichen Ländern mit Grenzen. Niemals gaben sie sich auf. Ginster fand sie beinahe unappetitlich; lauter schwere Körpermassen, die sich selbstsicher behaupteten und gegen eine Aufteilung sträubten. Er selbst wäre im Unterschied zu ihnen gerne gasförmig gewesen, jedenfalls mochte er sich nicht auszudenken, daß er einmal zu solcher Undurchdringlichkeit gerann. (131, Hvm).79

Parallel zu dieser Ablehnung eines festgefügten Musters, an das er sich „gewöhnen [...] mußte [...], wie an ein Eigentum, das in einer Glasvitrine stand“ (192)80, gelingt es Ginster, sich trotz der wiederholten Aufforderung, ein Mann zu sein,81 solchen Imperativen zu entziehen: als Kind mit seiner Leidenschaft fürs Stricken (142), als Erwachsener durch seine (weibische) Angst vor dem Krieg und sein Diäthalten: „Durch einen begrenzten Nahrungsentzug wollte Ginster sich allmählich verringern aus Unlust am Krieg“ (115), eine Strategie, 78 Oschmann 1999, S. 200. 79 Vgl. auch S. 137: „Plötzlich [...] eine Leere, und in der Leere vereinsamt ein einzelner Name. Der Name kam Ginster fremd vor [...].Es dauerte eine geraume Zeit, bis er erfaßte, daß es sein eigener war. Hilflos starrte er den Namen an, der den ganzen Hof einnahm und Forderungen stellte, die er, Ginster, unmöglich erfüllen konnte, denn eigentlich war er ja nichts und durfte daher auch kaum beanspruchen, mit solcher Macht in dem Hof allein benannt zu werden. Er schwankte lange, ob er statt zu antworten sich nicht lieber verleugnen solle. Zuletzt fiel ihm ein, daß er äußerlich zu dem Namen gehörte und sich unter Umständen strafbar machte, wenn er sich ihm entzog. [...] Später einmal konnte er sich vielleicht genauer erklären.“ (137) 80 „Schon mit der eigenen [Ehre] wußte er nicht recht umzugehen. [...] Vermutlich hing sie auch mit den Männern zusammen, er mußte sich also an sie gewöhnen, wie an ein Eigentum, das in einer Glasvitrine stand.“ (192) 81 „,Sei doch ein Mann, sagte der Onkel zu Ginster. Dieser wußte nichts zu erwidern.“ (131)

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Poetik des Privatraums die der Architekt Bruno Taut ebenfalls erfolgreich eingesetzt hat. Taut schwächte „seinen Körper durch Hunger“ dermaßen konsequent, „daß die Untersuchungskommission ihn als ‚untauglich‘ einstufen mußte.“82 Während Ginsters Einsatz beim Militär kommt es schließlich zu einem Tausch der gesellschaftlich eingeteilten weiblichen und männlichen Arbeiten, der zugleich die Künstlichkeit solcher Grenzziehungen offenbart. So muss Ginster nicht nur sein Bett machen, bei einem Besuch verkennen Mutter und Tante zudem seine neu erworbene Kunst: „Eigentlich überraschte es ihn, daß häusliche Arbeiten, die in Familien das Mädchen versah, eine solch militärische Rolle spielten, denn er hatte sich Kanoniere immer neben eiskalten Kanonenrohren vorgestellt“ (149), und es „verstimmte“ ihn „ein wenig, daß sie [Mutter und Tante] die Mäntel aufs Deckbett legten, ohne die Kanten zu schonen.“ (156) Unter umgekehrtem Vorzeichen steht letztlich auch sein Kartoffelschälen beim Militär: was hier als besonders clevere Leistung angesehen wird, würde in Friedenszeiten schlechterdings als unmännlich abgetan werden.83 Die weiblichen und männlichen Rollen sowie die ihnen zugeschriebenen privaten und öffentlichen Räume werden aber nicht einfach vertauscht, sondern eher verschmolzen. Darauf deutet nicht nur Ginsters Flucht zum Friseur, diese Struktur legen insbesondere auch die Wohnentwürfe der 20er Jahre nahe. Kracauer selbst berichtet als Sonderkorrespondent K. für die Frankfurter Zeitung dreimalig von der Werkbund-Ausstellung in Stuttgart und darin von eben jener neuen Auffassung des Wohnens, die Innen- und Außenraum, Privat und Öffentlich eine Beziehung eingehen lässt, die nicht mehr auf strenge Trennung hin angelegt ist, sondern die Fassade aufsprengt und damit neue Verbindungen ermöglicht. Die neue Wohnung muß zu dem veränderten Raumgefühl dieser Menschen passen, sie hat sich polemisch zu verhalten zu der privaten Abgeschlossenheit, die eine [...] vergangene Epoche [...] erstrebte. [...] Was die Fassaden betrifft, so sind sie die [...] äußeren Abschlüsse dieses Gerippes, ohne tragende Funktion. [...] Fenster könnten sie ihrer ganzen Länge durchbrechen und durchbrechen sie darum auch. Ausdrücklich wehren sich die Fassaden dagegen, ein Gesicht zu haben; denn Menschen, die sich mit hundert Kilometer Geschwindigkeit fortbewegen, tragen mit Recht kein Verlangen nach solchen Bildern. Nicht der angewurzelte Beobachter ermisst die Häuser, sondern der sie umstreifende und durch-

82 „Ein solcher Untauglichkeitstsatus wollte erhalten werden: Taut nahm eine Stelle als Bauleiter einer Pulverfabrik, dann eine im Büro einer Ofenfabrik an, um außer untauglich auch ‚unabkömmlich‘ zu sein.“ Kirsch 1999 (1987), S. 9. 83 „Ginster lehnte den Glückwunsch bescheiden wie ein Künstler ab“ (191). „Jetzt sind sie fein heraus“ (194).

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Beinahe zu Hause dringende [...]. Im Ganzen also: Auflösung des Hauses als einer perspektivisch auszuwertenden Baumasse [...] und Dynamisierung aller stabilen Elemente.84

Neben der hier von Kracauer beschriebenen neuen Freiheit der Fassadengestaltung durch den Einsatz von „Gerippen aus Eisenstützen“, ist es vornehmlich das Glas, das diese neue Struktur ermöglicht und in Ginster den Wunsch, nie zu solcher „Undurchdringlichkeit“ (131), also Intransparenz, zu gelangen, auslöst. Es ist das Glasdach im Haus seiner ersten Wirtin, das ihn aus den Fängen des bürgerlichen Interieurs und der Lektüre des Schauerromans, ausgerechnet einer gothic novel, rettet (13). (Auch hier werden wie schon bei Dichtung und Wahrheit literarische und räumliche Konstruktionen explizit parallel geschaltet.) Diese im Glas symbolisierte Verwischung der Grenzen steht nunmehr ein für Ginsters Geschlechtskonstruktion: Nicht nur sein Name, der als Eigenname gar nicht existiert, lässt keine Einordnung zu, auch seine sexuellen Vorlieben sind von Übergängen und Durchlässigkeiten gekennzeichnet. Sein Freund Otto übt auf Ginster eine ebenso starke erotische Anziehung aus wie Mimi, Frau van C. und die Prostituierten. Ginster wird also nicht als Trans-, sondern Bisexueller gezeichnet, als ‚Zwitter‘, als Subjekt des Dazwischen, des ‚Sowohl-als-Auch‘. Das Gegenbild zu Ginsters eigenem Entwurf ist deshalb nicht, wie Inka Mülder folgert, das Architektonische an sich,85 sondern genauer, eine bestimmte Auffassung von Architektur, die in den 20er Jahren vom Neuen Bauen ad acta gelegt wird. So sehr sich Ginster aller Funktionalisierung auch entziehen möchte, in einer im Expressionismus gründenden Raumauffassung des Neuen Bauens findet er „beinahe“ ein Zuhause. Vielleicht gab es Kompositionen, die sich nicht verschlossen, frei geschleuderte Spiralen und Kritzelzeichen und verschobene Flächen, die ohne Ordnung sich regten. (40)

Dort, wo eindeutige Grenzen fallen, wird auch der Identität ihre feste Rahmung entzogen und zugleich die Chance einer neuen Subjektkonstruktion eröffnet. Der Wegfall hinterlässt ein ‚Nichts‘, die leere Fläche, auf der es neue Entwürfe zu zeichnen gilt – ein ‚Nichts‘ allerdings, das nicht dem Aufgehen in den bürgerlichen Strukturen geschuldet ist, sondern dem Vakuum des Neuanfangs. Ginster kann sich weder als künstlerischer Flaneur im öffentlichen Raum, noch als bürgerliches Subjekt im Privatraum entwerfen: 84 Siegfried Kracauer, Das neue Bauen, zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung: „Die Wohnung“, in: Frankfurter Zeitung vom 31.7.1927, zitiert nach: Siegfried Kracauer, Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-70. 85 Mülder 1985, S. 138.

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Poetik des Privatraums Ein Schauer der Verlassenheit durchfuhr Ginster; weder hier unter der Lampe noch in [d]em Rauschen [der Weltgeschichte] [...] traf er sich an. Dazwischen so leer. (192, Hvm)

In einer alptraumartigen Sequenz wird die Verunsicherung des bürgerlichen Subjekts, der Horror vor der leeren Fläche deutlich. Kaum schlossen sich die Augen, als er [Ginster] die deutliche Vorstellung hatte, daß er in einem Zimmer eingesperrt sei. Das Zimmer war, abgesehen von einem großen Spiegel an der Wand, aller Gegenstände beraubt. Nachdem er mehrere Male vergeblich an der Tür gerüttelt hatte, trat er in den Spiegel und befand sich in einer schnurgeraden beleuchteten Allee [...]. Die Allee führte nach einer Stadt, deren Straßen er kreuz und quer durchmaß. An einer Nebengasse zauderte er, weil er fühlte, daß er hier einbiegen müsse. Er geht sie zu Ende, steht in einem Hof, sucht sich eines der Häuser aus, das gar keine besonderen Kennzeichen hat, klettert Stiege um Stiege empor, sieht in der Mansardenkammer oben einen Spiegel hängen, begibt sich in ihn hinein und – weilt wieder in demselben leeren Zimmer, von dem aus er die Wanderung begonnen hatte. Hinter ihm die Tür ist inzwischen aufgegangen, eine grundlose Angst hält ihn aber davon ab, durch sie zu entfliehen. Auf seinem gepackten Koffer sitzend, starrt er durch die Tür in einen Schacht, aus dessen Dunkel unvermittelt ein Schrei bricht, der anhält und wie ein entsetzlicher Schatten immer näher kommt. (181)

Möglicherweise wäre es in der gesellschaftlichen Situation der 20er Jahre konsequenter gewesen, den Roman mit diesem Bild enden zu lassen – Adorno nennt das wirkliche Ende am Hafen von Marseille denn auch eine „Koketterie mit der Positivität“86 –, einem Bild, das in Josephs Roths Hotel Savoy nochmals aufgegriffen werden wird: die Unheimlichkeit der leergefegten Fläche, des leeren Raumes, die nach dem Ausmisten der historistischen, bürgerlichen Räume übrig geblieben ist. Denn gezeigt wird hier einzig der notwendige Übergang, das aktuelle Durchgangsstadium – wie Kracauer auch die Siedlung auf dem Weißenhof bezeichnet –, nicht aber eine neue, funktionierende Ordnung.87 Aber während Ginster hier noch auf den gepackten Koffern sitzen bleibt, endet der Roman nach einem Zeitsprung schließlich in Marseille: dort wird der Antiheld doch noch so etwas wie Heimat finden, ein Zuhause. Dass das Schlusskapitel nicht vornehmlich eine „Koketterie mit der Positivität“ ist, 86 Adorno 1981, S. 402, 403; als Ginster 1963 erstmals nach dem Krieg wieder aufgelegt wurde, erschien er ohne das letzte Kapitel; zu den Umständen dieser Entscheidung siehe: Gertrud Koch, Kracauer zur Einführung, Hamburg 1996, S. 75. 87 Zum Traum und seiner Motivwiederholung in den verschiedenen Schriften Kracauers vgl. Mülder 1985, S. 77-86; vgl. dazu auch: Vidler 1996, S. 85110.

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Beinahe zu Hause sondern der Versuch, jenseits der Heimat und jenseits der Kriegsgesellschaft eine Identität zu entwerfen, wird erst vor dem Hintergrund des Wohndiskurses offensichtlich. Als Gegenbild zur Stadt Q., die Ginster den neugierigen Blick ins Innere verwehrte (es „schnellte sogleich der Laden herunter“ (198)), lösen sich in Marseille die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum auf und bieten eine glückende Verschmelzung an. Marseille wird zum Symbol des Übergangs, zum Symbol des Ginsterschen Identitätsentwurfs, oder wie Mülder-Bach mit Blick auf das Romanganze formuliert, zur Chiffre, zum Ort, an dem der Roman Gestalt annimmt.88 Die Bedeutung dieser Stadt am Meer kann also nicht hoch genug eingeschätzt werden und ist eben keineswegs nur sinnlos bejahender Appendix. Im Gegenteil: Marseille wird mit seinem Hafen schon zu Beginn des Romans als Fluchtpunkt desselben vorgezeichnet – „Später schickten sie ihm eine unleserliche Ansichtskarte mit dem Blick auf den Marseiller Alten Hafen“ (11). Während die anderen Stationen seines Lebens, an denen er sich zumindest für kurze Zeit niederlässt, nur als Initiale erscheinen – eben M., F., K. und Q. – wird diese Stadt nun erstmals ausbuchstabiert, und das liegt vor allem daran, dass Marseille als Hafenstadt über eine spezielle Form städtischer Raumkonzeption verfügt, die Kracauer auch in seinen Essays als exemplarisch beschrieben hat89 und die Ginsters architektonische Träume Realität werden lässt: Er stieg mit ihr [Frau van C.] die steile Treppe hinan, die zu dem hochgelegenen Punkt führte, von dem aus das Viertel sich zum Hafen herabsenkte. [...] Ginster empfand weder ihre noch seine Gegenwart, so berauscht war er von den Schätzen, die ihn umgaben. Sie bestanden aus Abfällen, Wäschestücken und Dreck. [...] eine Richtung zu finden, war unmöglich. [...] [U]ndeutlich [...] kräuselten sich [...] Akanthusblätter, das Haus war ein altes Patriziergebäude. Jetzt schützten seine geschweiften Fenstergitter keine Reichtümer mehr, und die einst so vornehme Fassade wuchs mit den Wänden des benachbarten Hausgesindels zu einem ununterschiedenen Mischmasch zusammen. [...] Ein Raum neben dem anderen öffnete sich nach der Straße zu, Käfige, die ein Bett, einen Stuhl eine Spiegelscherbe, ein Waschbecken enthielten. (235)

Genau hier, „in diesem armseligen Hafenviertel“, gibt Ginster zu verstehen, dass er „endlich auf eine Welt [stößt]“, in der er „beinahe 88 Mülder 1985, S. 142. 89 Siegfried Kracauer, Straßen, Schiffe, Lokale, Aufzeichnungen aus Hamburg, Spätsommer 1931 (in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2, Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 383-390, hier S. 384); Siegfried Kracauer, Stehbars im Süden (in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1, Aufsätze, 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 381-383.).

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Poetik des Privatraums zu Hause“ sein kann (237/238, Hvm). Ein Zuhause allerdings, das nur noch ein Bett, ein Stuhl, eine Spiegelscherbe und ein Waschbecken aufweist, das mithin antithetisch zum bürgerlichen Besitzkult steht. So ist auch in dem Essay Aufzeichnungen aus Hamburg von 1931 zu lesen: Der Hafenstraßenraum [...] ist den Ankommenden und Abfahrenden geweiht. Darum verwehrt er der bürgerlichen Seßhaftigkeit den Einblick, während er sich denen offenbart, die nicht vor Anker liegen. Ihnen schenkt er sich nicht nur, ihnen bedeutet er eine so unwiderstehliche Verführung, daß sie ihn wieder und wieder aufsuchen, um in den Bildern des unverfestigten Daseins zu vergehen.90

Und ebenso unmissverständlich gibt Ginster in einem Gespräch mit Frau van C. zu verstehen: „Ich habe schon oft darüber gegrübelt, [...] worin sich die anderen von mir unterscheiden. Die Menschen sind an ihrem Leben interessiert, sie haben Ziele für sich, wollen besitzen und etwas erreichen. Jeder Mensch, den ich kenne, ist eine Festung. Ich selbst will nichts. Sie werden mich nicht verstehen, aber am liebsten zerrieselte ich. Das hält die Menschen von mir fern. Ich schlafe in einem gleichgültigen Zimmer und besitze nicht einmal eine Bibliothek.“ (124)

Ausdrücklich wird hier die Lebenshaltung, etwas besitzen zu wollen, mit der architektonischen Form der Festung parallelisiert, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass sie eine der Stadtmauer vergleichbare Grenze zwischen innen und außen zieht. Die Gleichsetzung von Mensch und Festung basiert demnach auf deren Eigenschaften von Grenzziehung einerseits und ‚Festgefügtem‘ andererseits, denen der Entwurf des ‚Nichts‘ und des ‚Zerrieselns‘ gegenübergestellt wird. Diese körperliche Leichtigkeit und Abmagerung Ginsters bis auf das Skelett91 zeugt von einer Analogisierung des menschlichen Körpers mit den Baukörpern und Möbeln der 20er Jahre, mithin von einem gemeinsamen Entwurf von Räumen, Möbeln und Subjekten: Die Hitze löste ihn [Ginster] auf. Gewiß saß er noch an seinem Platz, aber zu gleicher Zeit war er ein Eselskarren, der Eisbomben enthielt; die rotbraune Flä-

90 Siegfried Kracauer, Straßen, Schiffe, Lokale, Aufzeichnungen aus Hamburg, Spätsommer 1931, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2, Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 383-390, hier S. 384. 91 „Ginster blickte an sich herunter und bestaunte das Muster seines Rippenskeletts, das sich auf der Hautoberfläche scharf abzeichnete. Ein Wunder der Regelmäßigkeit, wie ein Kastanienblatt.“(187)

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Beinahe zu Hause che einer Markise; ein lächerlicher Inder; das Dämchen, das wie ein Knallbonbon zwischen den Taxis blitzte. (231)92

Und auch die Beschreibung eines Krankenhauses gerät gleichzeitig zur Charakterisierung des zu einem Skelett abgemagerten Körpers Ginsters: Die Klinik bestand aus Steinfliesen, Luft, Licht und weißer Farbe. Raumgrenzen waren nirgends zu sehen, alles schattenlos und hygienisch. Auf der Treppe glaubte Ginster zu schweben [...]. Schmale Striche, die in ziemlicher Höhe waagerecht liefen, zeigten wie eine Küstenlinie das Vorhandensein von Wänden und Decken an. Ginster folgte ihnen an Türen vorbei, die ebenso unsichtbar waren wie die Wände. [...] Wenn die Sonne schien, mußte die Klinik vollends zergehen; höchstens das Strichnetz hatte Bestand. (81-83)

Insofern steht Ginsters Name ebenso programmatisch für das moderne Subjekt ein, wie jener Ottos für das bürgerliche, denn während sich der eine Name als ‚Besitz‘ und ‚Reichtum‘ festschreiben lässt, bleibt ‚Ginster‘ wortgeschichtlich undefinierbar. Als Pflanze zeichnet er sich durch drahtige Zweige und eine Vorliebe für Licht aus, der Ginster ist, wie es unter Botanikern heißt, ein Sonnenanbeter. Die Subjektkonstruktion des Protagonisten entfaltet sich folglich als Gegenbild zu den „vorgeklebten Zinnen“ der „Festungen“ mit ihren „symmetrischen Grundrissen“ und zu den gemütlichen mittelalterlichen Häusern. Ginsters Federgewicht ist das Gegenbild zu den bürgerlichen Subjektentwürfen der Verwurzelung, Statik und Grenze: Das ersehnte Element, Gas (131), es ist nicht nur schwerelos, es ergeht sich ebenso in permanenter Wandlung und Grenzverschiebung.93 Es ist also nicht verwunderlich, dass die Autobiographie in Marseille endet, einer Stadt, in der ein „ununterschiedene[s] Mischmasch“ (235) der geöffneten Fassaden eine neue Zone des Dazwischen etabliert, und zwar insofern als ihr eine strukturelle Dynamik innewohnt. Eben diese Dynamik unterscheidet Marseille auch von dem Alptraum Ginsters, der mit seinen „schnurgeraden beleuchteten Alleen“ an den symmetrischen Entwurf des Friedhofs gemahnt. Marseille ist also nicht so sehr als Stadt, denn als Hafen92 Der Schreibduktus etlicher Passagen im Ginster erinnert an Verfahren des Expressionismus und des Surrealismus, beispielsweise in der behaupteten écriture automatique, in der der menschliche Körper als Resonanzkörper eingesetzt scheint: „Er [Ginster] plapperte widerstandslos die Stadt aus, die in ihm nachhhallte.“ (233) Die écriture automatique zeugt hier aber nicht nur von einem Experiment des Schreibens, sondern ebenso von einer Subjektkonstruktion des Künstlers, der die Grenzen zwischen Innen und Außen nicht mehr eindeutig zu setzen gewillt ist. 93 Zu dem ästhetisch-philosophischen Kontext dieser Identitätskonstruktion vgl. Oschmann 1999, S. 161ff.

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Poetik des Privatraums stadt abgehoben von den anderen Städten und als solche kommt sie einer Realisierung der langgehegten Wünsche Ginsters nahe: Ginster liebte den Hafen wegen der Ungemütlichkeit [...]. Nichts wurzelte hier außer den Kranen; während überall sonst sich die Leute nur aufhielten. (47)

Schon als Kind hatte er sich gern in Bahnhöfen herumgetrieben (142), während des Krieges sehnt er sich wie sein Namensgeber, der Ginsterbusch, am Bahndamm zu blühen,94 und „eine Seereise schwebte [ihm] schon immer vor.“ (32) Züge und Schiffe aber gehören zu den herausragenden Ingenieurleistungen der Moderne und zu den wichtigsten Vorbildern für die Architektur der 20er Jahre (Abb. 15, 16 u. 54, S. 293). Nicht nur in den Grundrissen, Einrichtungen und den Motiven wie der Schiffsreling finden diese Konstruktionen moderner Fortbewegung Eingang in die Architektursprache, auch ihre Funktion des Reisens wird für die Räume der Moderne und die in ihnen entworfenen Subjekte paradigmatisch. Am radikalsten beschreibt Hilberseimer diese neue Spezies des Idealbewohners und seine ostentative Abkehr vom bürgerlichen Besitzkult. Bei einem Umzug wäre fortan kein Möbelwagen mehr notwendig, denn alles, was man besitze, ließe sich in ein paar Koffer packen – eben dergestalt, wie sich Ginster glücklich mit seinem Holzköfferchen auf den Weg macht. Wohnungen wären nicht mehr mit ‚individuellen‘ Möbelstücken möbliert, sondern mit Einbauschränken für jedermann.95 Dennoch gilt es festzuhalten, dass sich Ginster nicht als moderner Nomade entwirft, selbst dann nicht, wenn er zu verstehen gibt: „Reisen wäre schön“ (122) und „mit Aufenthaltsorten [verbinde ich] gewöhnlich keine Gefühle“ (106), de facto bleibt Ginster am Ende des Romans in Marseille, er bleibt beinahe zu Hause.

94 „Am liebsten hätte auch er zu beiden Seiten des Bahndamms geblüht.“ (208) 95 Hilberseimer 1978 (1927), S. 19; vgl. dazu ausführlich das folgende Kapitel zu Joseph Roths Hotel Savoy.

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Beinahe zu Hause Abb. 15 und 16: Doppelseite aus: Siegfried Giedion, Befreites Wohnen, 1929: Speisewagen der Berninabahn und Le Corbusier, Fensterwand des Hauses Cook, Boulogne sur Seine, 1927.

Wenn Gertrud Koch Ginster als einen Helden „des ‚Dazwischen‘“ bezeichnet, einen „ortlose[n] [...] kleine[n] Bruder des Mannes ohne Eigenschaften, vollgesogen [...] vom Bewußtsein, daß es im ‚Dazwischen‘ sich nicht häuslich einrichten läßt,“ und „die Anonymität der Straßen der Großstadt“ als den einzigen Platz beschreibt, „auf dem ein Zerrieselnder sich aufhalten kann“96, dann muss einerseits ergänzt werden, dass es eben keine beliebige Stadt ist, in der Ginster seine Identität des Dazwischen entfalten kann, und dass es andererseits nicht ausschließlich die Straße ist, auf der eine solche Zone des ‚Dazwischen‘ errichtet werden kann, sondern ein Raum, in dem Innen und Außen eine Verbindung eingehen, ein Raum, der seine Grenzen aufgegeben hat, ein Raum, der konsequenterweise den Gegensatz zwischen Privat und Öffentlich, Straße und Wohnen gar nicht mehr kennt. In diesem Raum erst, der sowohl Innen- wie Außenraum ist, kann Ginster ‚beinahe zu Hause‘ sein. Und wenn Dirk Oschmann im literarischen Werk Kracauers einen „Auszug aus der Innerlichkeit“ konstatiert, dann gilt es zu bedenken, dass sich diese Innerlichkeit einzig auf jene im Ginster abgelehnten Formen des bürgerlichen Wohnens bezieht und damit einer Definition von Innerlichkeit folgt, die einer radikalen Abkehr von der äußeren Wirklichkeit 96 Koch 1996, S. 71.

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Poetik des Privatraums gleichkommt,97 mit dem neusachlichen Privatraum im Selbstverständnis der Architekten aber so gut wie nichts gemein hat. Als Kracauer 1927 die Weißenhofsiedlung beschreibt, schlussfolgert er in eben diesem Sinne: „Vielleicht deutet wirklich die Anlage des Bebauungsplans und der immer wiederholte Versuch, durch das Einreißen von Zwischenwänden“ im Inneren der Häuser „die frühere Insichgeschlossenheit des Einzelmenschen nach außen hin abzubauen, auf eine noch ungegebene Struktur der Gesellschaft vor“.98 Diese angestrebte Zone des Dazwischen hat Ginster selbst und bereits zu Beginn des Romans in einer Raumfigur vorgezeichnet, als er für den Kunstgewerbler Allinger ein Schwimmbaddach entwirft: „Wir müssen in der Decke über dem Bassin ein großes Kaleidoskop einlassen, dass durch eine Maschinerie in Bewegung gesetzt wird und in immer anderen farbprächtigen Figuren sprüht ...“ (15)

Die bunten Glasscheiben dienen hier nicht mehr als Medium für Heiligenlegenden, wie noch in Goethes Gedicht, diese Glasscheiben sind abstrakt und in permanenter Bewegung. Das Kaleidoskop entspricht Ginsters eigenem Lebensentwurf, der da lautet: „Nur nicht fest an einem Ort bleiben und in einem Zweizimmerberuf wohnen.“ (226) Beinahe zu Hause sein, ist also der einzige Ort, an dem man existieren kann. Ein solches Konzept der permanenten Verschiebung verdankt sich zahlreichen Entwürfen der modernen Architektur. So hat das Schwimmbaddach in der Glasarchitektur Bruno Tauts, vor allem in seinem Kölner Glashaus einen prominenten Vorläufer. Die Kuppelanlage dieses für eine Bauausstellung entworfenen Glashauses erinnert selbst nicht nur an ein Kaleidoskop (Abb. 17), es ist tatsächlich mit einem „Kaleidoskoptheaterchen“99 ausgestattet (Abb. 18). Tauts Glashaus auf der Werkbundausstellung in Köln 1914 musste weitab

97 Vgl. Oschmann 1999, S. 100/101. 98 Kracauer fährt fort: „Vielleicht soll er aber auch nur dem anonymen Sein des der kapitalistischen Wirtschaft verpflichteten Massenmenschen Ausdruck verleihen. All diese Erscheinungen sind mindestens doppeldeutig. [...] Nur insofern sie [die Wohnungen, I.L.] sich dem gegenwärtigen Stand der Dinge anpassen, bereiten sie ‚neue Lebensformen‘ vor.“ Siegfried Kracauer, Das neue Bauen, zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung: „Die Wohnung“, in: Frankfurter Zeitung, 31.7.1927, in: Siegfried Kracauer, Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-74, hier S. 73,74. 99 Kristina Hartmann, Franziska Bollerey, Das Glashaus von Bruno Taut, in: Der westdeutsche Impuls 1900-1914, Kunst und Umweltgestaltung im Industriegebiet, Die Deutsche Werkbund-Ausstellung Cöln 1914, Kölnischer Kunstverein Köln 1984, S. 133-143, hier S. 133.

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Beinahe zu Hause vom eigentlichen Ausstellungsgelände errichtet werden – ähnlich wie auch 1925 Le Corbusiers Pavillon L’Esprit Nouveau auf der Pariser Ausstellung Art Décoratif hinter einem 6m hohen Zaun versteckt wurde100 –, stand es doch in Opposition zu den Entwürfen der tonangebenden Architekten im Werkbund, unter denen noch Kracauer studiert hatte: Theodor Fischer war in München Kracauers Lehrer gewesen – übrigens auch der von Bruno Taut, J.J.P. Oud, Ernst May und Paul Schmitthenner. Ein solches Konzept der permanenten Verschiebung, wie es sich im Kaleidoskop versinnbildlicht, beschwört letztlich eine ‚Praxis des Wohnens‘,101 von der die offenen Fassaden in Marseille künden. Es ist nicht der ‚Auszug aus der Innerlichkeit‘, verstanden als eine prinzipielle Absage an das Wohnen oder das Subjekt, sondern eine Verschmelzung, die angestrebt wird und Kracauer 1931 noch im Hinblick auf ein Mietshaus ausführt: Es wäre durchaus denkbar, daß sich [...] viele [der Bewohner des Mietshauses, I.L.] [...] nach einem Naturhäuschen sehnten mit einem Gärtchen dabei. [...] Welch eine Torheit! Besteht doch die Herrlichkeit dieses Mietshauses gerade darin, daß es wie eine Hafenquartier tagaus tagein frische Ankömmlinge aufnimmt und nicht nur an der Straße liegt, sondern auch Straße ist. 102

Nicht das Wohnen an sich, sondern eine spezielle Form des Wohnens wird ad acta gelegt, und einer Praxis des Wohnens das Wort geredet, einem Leben neben dem Geplanten, jenseits des im „Adreßbuch“ Festgeschriebenen. „Vielleicht verlängert sich das Haus nach einer mir unbekannten Richtung oder besitzt geheime Aufbauten, die nicht im Adreßbuch stehen,“103 notiert Kracauer, um später dann nochmals zwei Auffassungen von Stadt, die geplante und die zufällige zu vergleichen, wobei er Letzterer, der Praxis des Wohnens, das Wort redet:

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Als Le Corbusier 1925 auf der Pariser Ausstellung Art Décoratif seinen Pavillon L’Esprit Nouveau präsentieren möchte (einer Wohneinheit aus seinem 1922 entworfenen Villen-Block, der als Bestandteil seiner Ville Contemporaine gedacht war), verbirgt die Leitung der Internationalen Kunstgewerbeausstellung den Beitrag zunächst hinter einem 6m hohen Zaun; vgl. Kirsch, 1999 (1987), S.113. Unter der ‚Praxis des Wohnens‘ ist ein an Michel de Certeau angelehntes Konzept zu verstehen, das jenseits des bewusst Geplanten nach der Nutzung von Stadträumen fragt; vgl. die Einleitung dieser Studie bzw. de Certeau 1988 (1980) S. 179-241. Siegfried Kracauer, Mietshaus im Berliner Westen, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 294-296, hier S. 295, 296. Ebd. S. 295.

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Poetik des Privatraums Diese Landschaft ist ungestelltes Berlin. Ohne Absicht sprechen sich in ihr, die von selber gewachsen ist, seine Gegensätze aus, seine Härte, seine Offenheit, sein Nebeneinander, sein Glanz. Die Erkenntnis der Städte ist an die Entzifferung ihrer traumhaft hingesagten Bilder geknüpft.104

Abb. 17: Bruno Taut, Glashaus auf der Ausstellung des Deutschen Werkbunds, 1914, Außenaufnahme und Blick in die Kuppel.

Seinen Beruf als Architekt aber gibt Ginster schließlich auf, denn schon immer fürchtete er sich vor dem Schritt der Realisierung seiner Entwürfe, der statischen Festschreibung und scheinbar eindeutigen Bedeutungszuschreibung. Das Baugerüst ist Ginster lieber als der fertige Bau,105 denn der Signifikant scheint seine Konstruktion, 104

105

Siegfried Kracauer, Aus dem Fenster gesehen, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 399-401, hier S. 400, 401. Vgl. S. 97: „Nach seinem [Ginsters] Empfinden, wurden die roten Wände nur aufgeführt, um das Baugerüst zu ermöglichen. [...] Bald würde das Gerüst ausgedient haben. Dann gab es kein Labyrinth mehr, sondern lauter glatt gestrichene Flächen.“ (99) und S. 22/23: „Trotz seiner Anlagen war Ginster mit dem Architektenberuf nicht zufrieden. Je mehr er sich anzupassen suchte, desto deutlicher erkannte er, daß der Zauber der zeichnerischen Darstellungen sich verlor, sobald sie durch Backsteine

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Beinahe zu Hause den Entwurf, sein zufälliges Entstehen zu verbergen. Der permanente Entwurfsstatus und dessen permanente Verschiebung entsprechen dagegen Ginsters Verständnis von Architektur, Städtekunst, Lebensmuster und Sprache, wonach man eben immer nur ‚beinahe zu Hause sein‘ kann: Ginster hatte den Eindruck, daß die Teile ununterbrochen durcheinander geschüttelt wurden und neue Verbindungen eingingen, die wieder zerfielen. Wie die Vokabeln in einer Schulgrammatik. (231)

Abb. 18: Bruno Taut, Glashaus für die Ausstellung des Deutschen Werkbunds, Köln 1914, Ausschnitt aus dem Baueingabeplan.

Die in der Moderne betriebene Verzeitlichung der Architektur und die in diesem Roman betriebene Dynamisierung des Subjekts sind Annäherungen an ein Konzept, das einer Verfestigung und Statik entfliehen möchte und denen Ginster in seinem diätisch-gasförmigen Verhalten – das an Kafkas Hungerkünstler erinnert – entgegenstrebt. Eine solche Eigenschaft bescheinigt Kracauer explizit

und Maurer verwirklicht wurden. Statt sonderbar verschlungene Figuren in Gebäude münden zu lassen, hätte er es vorgezogen, alle nützlichen Gegenstände in Figuren zurückzulegen.“

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Poetik des Privatraums dem Neuen Bauen, und kommt dabei erneut auf das Kaleidoskop zu sprechen: Die Beschwörung dieses ungreifbaren gläsernen Spuks, der sich kaleidoskopartig wandelt wie die Lichtreflexe, ist ein Zeichen dafür, daß das neue Wohnhaus nicht eine letzte Erfüllung bedeutet.106

Es ist wohl El Lissitkys Wolkenbügel von 1925, der am ehesten Ginsters Architekturverständnis entsprochen hätte, nicht nur in seinem Status als erneut fiktiv gebliebene Architektur, sondern vor allem auch in seinem Versuch, Architektur als ein in der Bewegung befindliches Gebilde anzusehen; es handelt sich um einen Baukörper, der durch eine Serie sich verändernder Wahrnehmungswinkel, durch dauernd ineinanderfließende Wahrnehmungen in Bewegung kommt. [...] Der Baukörper wird vom fahrenden Auto aus wahrgenommen und dann auf eine spannende Weise komplex, wie sie eigentlich nur der Film, kaum noch die Zeichnung erfaßt. [...] Aus einer Richtung hätten die Bürobauten wie Tore gewirkt, und aus der anderen Richtung [...] wären sie wie in der Luft sich drehende Flügel erschienen.107

Das Unfertige und der permanente Wandel des Protagonisten findet sich bereits in der Maskenhaftigkeit des Narren, er bleibt ungreifbar, ihm graut davor, von alten Bekannten „wie zwischen Glaswänden“ (92) mühelos erkannt zu werden. Ginsters ornamentale Skizzen und sein Wunsch nach geheimnisvollen Architekturen sind deshalb aber nicht im Sinne verwinkelter Altstadtgassen zu verstehen, sondern im Sinne der Schreibweise des Textes und seiner Entwürfe: im Sinne einer permanenten Verschiebung und Dynamisierung von Räumen und Subjekten, einer auch literarisch implementierten Praxis des Wohnens. Das bedeutet zugleich, dass es keine unschuldigen paradiesischen Räume gibt, in denen die Menschen als Produkte der Architektur ebenfalls unschuldig werden und in denen die Gesellschaft sich zu verbessern imstande wäre. Ein marxistisch-funktionalistischer Traum, auf den es im Kapitel über Martin Kessels Roman nochmals zurückzukommen gilt, und den ein anderer Kracauerscher Protagonist, nämlich Georg in dem gleichnamigen Roman108

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Siegfried Kracauer, Das neue Bauen, zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung: „Die Wohnung“, in: Frankfurter Zeitung vom 31.7.1927, in: Siegfried Kracauer, Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-70, hier S. 74. Hilpert 1988, S. 116. Bereits 1934 geschrieben, wird der Roman 1973 erstmals publiziert.

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Beinahe zu Hause für utopisch erklärt. Die Wendung, die Georg vollzieht, ist auch für Ginster und dessen Praxis des Wohnens bedeutsam: „Ich fand die Diskussion wirklich ganz wundervoll [...]“. Frau Heinisch beglückwünschte sich zu der Diskussion in ihrem Salon und schien der Ansicht zu huldigen, daß die Diskussion gar nicht überall hätte stattfinden können, sondern vom Salon erst hervorgebracht worden war. Der Salon erzeugte solche Diskussionen von selber.109 „Natürlich“, hörte er Dr. Wolff sagen, „hängt alles von einer Veränderung unserer Einrichtungen im Sinne des Sozialismus ab.“ [...] „Und die Menschen“, fragte er [Georg] Wolff, „was nützen die veränderten Einrichtungen, wenn die Menschen dieselben bleiben?“ „Aber gestatten Sie – wir werden uns doch einig darüber sein, daß die Menschen ein Produkt ihrer Verhältnisse sind. Nun, wenn diese gebessert werden, so wandeln sich mit ihnen selbstverständlich die Menschen.“ [...] „Ich glaube eben nicht“, begann Georg von neuem, „daß die Menschen bloße Einrichtungsgegenstände sind, die von den Architekten mitentworfen werden wie Schränke und Tische... Die Menschen müssen sich selber entwerfen.“110

Wie sich die Autobiographie Ginster von der Unumkehrbarkeitsregel verabschiedet, so gilt diese Abkehr also auch für das Verhältnis von Raum und Subjekt, auch dieses wird nicht im Sinne einer Struktur von Ursache und Wirkung gedacht, und dennoch impliziert dies keine gegenseitige Immunität. Ginster führt vor, dass architektonische Zeichen – wie alle kulturellen Zeichen – einer Interpretation unterliegen und dass gerade in dieser menschlichen Interpretationsleistung zugleich der Selbstentwurf der Subjekte offensichtlich wird, der sich in Ginster und den folgenden Romanen vor allem in der Auseinandersetzung mit den architektonischen Zeichen vollzieht. Deutlich und explizit wie in kaum einem anderen neusachlichen Roman hat der Wohndiskurs im Ginster seine Spuren hinterlassen. Das mag einerseits nicht verwundern, sind Autor und Protagonist doch beide Architekten und die autobiographischen Hinweise deutlich erkennbar. Andererseits zeigt sich hier aber zugleich auch ein Subjekt, das in enger Auseinandersetzung mit dem ihm zur Verfügung stehenden Raum einen Neuentwurf wagt, der strukturell den Wohnentwürfen der 20er Jahre vergleichbar ist. Dabei changiert der Roman sowohl sprachlich wie auch in seinen mentalen, vorgestellten, also fiktiven Räumen zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit. 111 Dass Ginsters Selbstentwurf dabei von keinen ex109 110 111

Kracauer 1973 (1934), S. 361. Ebd. S. 358. Vgl. dazu vor allem das letzte Kapitel mit seinen expressionistischen Stadtbeschreibungen; zu Kracauers expressionistischer erster unveröffentlichter Erzählung vgl. Oschmann 1999, S. 17 u. S. 311.

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Poetik des Privatraums pliziten Privat-Räumen auszugehen vermag, ist einerseits den Kriegsjahren, andererseits seinem Identitätsverständnis geschuldet; Privat-Räume zeigen sich nunmehr nur noch am eigenen Körper, der letztmöglichen Behausung des Menschen. Ginster verharrt auf der Oberfläche der Dinge, sein Blick verweilt in der Naheinstellung. Sein ‚Beinahe-Zuhause‘ kann er einzig in einer Hafenstadt finden, die ihr Inneres preisgibt, die permanent ihre äußeren Ränder verschiebt und der das Fremde und die Fremde eingeschrieben sind: Die „Menschen [sind] heimisch sowohl zuhause wie anderwärts oder auch nirgends zuhause“, heißt es in einem Essay über die Reise und den Tanz.112 Solchermaßen wird Marseille auch zum Sinnbild seines Identitätsentwurfs und einer Poetik des Privatraums. Just Marseille wird es sein, wo die Architekten des Neuen Bauens 1933 an Bord gehen und auf den Meeren Richtung Athen fahren, um die städtebaulichen Ziele der Zukunft zu diskutieren, die Le Corbusier später in der Charta von Athen niederschreiben wird.113 Es ist kein Zufall, dass im Ginster die wenigen Städte, die ausgeschrieben und nicht abgekürzt werden, Hafenstädte sind: eben Marseille, aber auch Hamburg und Genua, diese Städte, deren Grenzen offen erscheinen, die sich tagtäglich mit dem Außenraum vermischen, sind als mögliche Form des gesellschaftlichen, aber auch individuellen Lebens gezeichnet. Über den Wohndiskurs der 20er Jahre erhält Kracauers Roman eine Dimension, die ihn zu einem der wichtigsten Beiträger einer Poetik des Privatraums macht und ihm neben seinen zweifellos vorhandenen Chaplineseken Charakteristiken zuerkennt, die Konstruktion von Identitäten und gesellschaftlichen Räumen mitzugestalten und zu reflektieren.

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Die „Relativierung des Exotischen geht Hand in Hand mit seiner Verbannung aus der Wirklichkeit“ und damit sind „die Menschen [...] heimisch sowohl zuhause wie anderwärts oder auch nirgends zuhause“. Siegfried Kracauer, Die Reise und der Tanz, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1 Aufsätze 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 288-296, hier S. 289. Vgl. CIAM – Lehrsätze der Charta von Athen, in: Conrads 1981, S. 129.

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WOHNEN IM HOTEL – JOSEPH ROTHS HOTEL SAVOY (1924)* UND DIE

KOINZIDENZ VON FREMDE UND HEIMAT

Während Siegfried Kracauers Roman Ginster zur Zeit des Ersten Weltkrieges nach den Privatrechten des Individuums fragt und eine Grenzauflösung desselben betreibt, ist es vor allem der Aspekt von Fremde und Heimat, der in dem dritten hier zu analysierenden Roman, Joseph Roths Hotel Savoy, im Zentrum steht. Sein Protagonist ist ein Heimkehrer, der Krieg ist vorbei; erst mit dem nächsten Roman, mit Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns, kommen wir im ‚friedlichen‘ Alltag der Weimarer Republik an. Auch stilistisch ist Roths Roman Hotel Savoy noch nah an Kracauers Ginster, beide Texte sind noch deutlich vom Expressionismus geprägt,1 und doch sind bereits wichtige Programmpunkte einer neusachlichen Romanästhetik zu erkennen. Darüber hinaus aber erweist sich der Entwurf von Identität und Privatraum bei den vom Krieg unmittelbar geprägten Antihelden der beiden Romane, bei Kracauers Ginster ebenso wie bei Roths Gabriel Dan, als ähnlich strukturiert. Und wie schon bei Kracauer, so ist es auch in Roths Roman der Wohndiskurs, der deutliche Spuren hinterlassen hat, und das, obwohl Roth keineswegs als Verfechter des Neuen Bauens gelten kann. Selbst wenn der deutsch-österreichische Autor als, wenn auch ambivalenter, Wortführer der Neuen Sachlichkeit gilt,2 hat er doch dem International Style als dem architektonischen Stil der Neuen Sachlichkeit wenig

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Joseph Roth, Hotel Savoy, Ein Roman, in: ders.: Werke 4, Romane und Erzählungen 1916-1929, hrsg. von Fritz Hackert, Köln 1989 (1924), S. 147243. Zum Verhältnis zwischen Expressionismus und Neuer Sachlichkeit in Roths frühen Romanen vgl. August Obermayer, Sätze, labyrinthisch gebaute ..., Versuch einer stilgeschichtlichen Ortsbestimmung Joseph Roths, in: Michael Kessler, Fritz Hackert (Hg.), Joseph Roth, Interpretation – Kritik – Rezeption, Akten des internationalen, interdisziplinären Symposiums 1989, Tübingen 1990, S. 233-245, hier S. 234. Frank Trommler, Joseph Roth und die Neue Sachlichkeit, in: David Bronsen (Hg.), Joseph Roth und die Tradition, Darmstadt 1975, S. 276-305; Jürgen Heizmann, Joseph Roth und die Ästehtik der Neuen Sachlichkeit, Heidelberg 1990.

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Poetik des Privatraums Verständnis entgegengebracht. In der Kölnischen Zeitung schreibt er 1931 über Magdeburg, das ähnlich wie Karlsruhe und Frankfurt im Wohnungsbau zu den Vorreitern des Neuen Bauens gehörte (Bruno Taut war hier von 1921 bis 1924 Stadtbaurat): Der Ehrgeiz jener [Bauten der, I.L.] ‚neuen Sachlichkeit‘ [...] unterbricht die ehrlichen Gesichter der erhaltenen Fassaden durch eine gewollte, kühne Kälte, eine glatte, sachliche, unangenehm betonte Gesinnung aus Beton“. [...]„Ich [weiß] nicht [...], ob ich ohne Scham vor dieser Gegenwart gestehen darf, daß ich Teppich liebe und daß mir Holz nackt erscheint. [...] Warum fühle ich mich dem Dom, der aus dem 14. Jahrhundert stammt, näher als der Stadthalle, die erst im Jahre 1927 fertig geworden ist? 3

Während Kracauers Ginster genau die entgegengesetzte Position bezogen hat, sich für den Kölner Dom keineswegs interessiert und angesichts der Fachwerkhäuser von glatten Betonwänden träumt,4 tritt der Autor Joseph Roth der Neuen Baukunst verständnislos gegenüber – hier stellvertretend repräsentiert durch die 1927 nach Plänen von Johannes Göderitz (dem Nachfolger Bruno Tauts als Stadtbaurat) errichteten Magdeburger Stadthalle.5 Eine affirmative Haltung des Autors gegenüber dem Neuen Bauen ist allerdings keineswegs Voraussetzung für eine fruchtbare Untersuchung zur Poetik des Privatraums im neusachlichen Roman, vielmehr zeigt sich die Dominanz des Wohndiskurses im Hotel Savoy ebenso wie in Roths Feuilletons trotz seiner pejorativen Einschätzung.6

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Joseph Roth, Blick nach Magdeburg, in: ders. Werke 3, 1991, S. 301-305, hier S. 302/304. Kracauer 1973 (1928), S. 218. Vgl. dazu: Regina Prinz, Neues Bauen in Magdeburg, Das Stadtbauamt unter Bruno Taut und Johannes Göderitz 1921-1933, München 1997; Christian Antz et al. (Hg.): Neues Bauen, Neues Leben, die 20er Jahre in Magdeburg (Ausstellungskatalog), München 2000; Olaf Gisbertz, Bruno Taut und Johannes Göderitz in Magdeburg, Berlin 2000. Vgl. beispielsweise folgende Artikel: Joseph Roth: Wenn Berlin Wolkenkratzer bekäme, Vorschläge zur Behebung der Wohnungsnot (Neue Berliner Zeitung, 18.2.1921), in: ders., Werke 1, das journalistische Werk 19151923, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 447-450; Joseph Roth: Die Dringlichkeitsliste des Wohnungsamtes, die zehn verflossenen Monate und die vier kommenden (Neue Berliner Zeitung 30.8.1920), in: ders., Werke 1, 1989, S. 345-346; Joseph Roth: Proletarisierung der Häuser (Der Neue Tag, 8.11.1919), in: ders., Werke 1, 1989, S. 168-171; Joseph Roth, Der Mensch im Glaskäfig (Das blaue Heft, 8.7.1922), in: ders., Werke 1, 1989, S. 832; Joseph Roth: Die neue Waschmaschine (Münchner Neueste Nachrichten, 17.11.1929), in: ders., Werke 3, 1991, S. 127-130; Joseph Roth, Architektur (Münchner Illustrierte Presse, 27.10.1929), in: ders. Wer-

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Wohnen im Hotel Eben diesen Aspekt herauszuarbeiten und mit einer neusachlichen Poetik des Privatraums zu verbinden, ist das Anliegen des folgenden Kapitels. Während bei dem studierten Architekten Siegfried Kracauer die Baukunst in der Forschung zumindest gelegentlich in den Blick genommen wurde, erregt der räumliche Aspekt bei Joseph Roth höchstens recht allgemeine Aufmerksamkeit.7 Vom Autor ausgehende Untersuchungen führen eben nicht automatisch zum Wohndiskurs,8 wenn Biographie und Texte des Autors keine eindeutige oder dominante Spur legen. Als ostjüdischer Schriftsteller, der den Untergang der österreichisch-ungarischen Monarchie miterlebt und der während des Zweiten Weltkriegs exiliert, hat Roth mit seinem Werk natürlich Fragen nach dem Aspekt von Fremde und Heimat provoziert.9 Die in dieser Studie eingenommene Perspektive setzt diesen Aspekt allerdings in einen anderen, nicht minder aufschlussreichen Kontext und möchte den Beitrag Joseph Roths zum Wohndiskurs der 20er Jahre deutlich machen. Zugleich wird damit eine Ebene des Textes offensichtlich, die bisher fast völlig ignoriert wurde. Einzig Gotthard Wunberg sticht bei der Lektüre von Roths Hotel Savoy die Präsentation des Geschehens in der Form eines Aufrisses „im Sinne einer architektonischen Zeichnung“10 ins Auge, ke 3, 1991, S. 115-117; Joseph Roth, Das Vaterhaus (Das Tagebuch, 22.3.1930), in: ders. Werke 3, 1991, S. 193-195. 7 Vgl. etwa Joseph Strelka, Das epische Universum Joseph Roths – der innere Vorstellungsraum als strukturbildende Kraft, in: Bronsen 1975, S. 241-25 S. 241-258; Sidney Rosenfeld, Raumgestaltung und Raumsymbolik im Romanwerk Joseph Roths, Diss., Univ. of Ill. 1965; Sidney Rosenfeld, ‚Hiob‘ – Glaube und Heimat im Bild des Raumes, in: Bronsen 1975, S. 227-241; Heizmann spricht von einem ‚visuellen Stil‘, vgl. Heizmann 1990, S. 96ff. 8 Vgl. etwa Ingeborg Sültemeyer, Das Frühwerk Joseph Roths 1915-1926, Wien 1976; Kessler, Hackert 1990; Dietmar Mehrens, Vom göttlichen Auftrag der Literatur, die Romane Joseph Roths, Norderstedt 2000. 9 Vgl. etwa Eva Raffel, Vertraute Fremde, das östliche Judentum im Werk von Joseph Roth und Arnold Zweig, Tübingen 2002; Arthur Zimmermann, Der unbehauste Grenzgänger, NZZ 7/8, März 1992, S.70; Jens Stüben, Heimat und Fremde in Joseph Roths Erzählungen, in: Eijiro Iwasaki (Hg.), Begegnung mit dem Fremden, München 1991, S. 455-465; Dimitrij Zantonskij, Joseph Roth und das Problem der literarischen Heimat, in: Wolfgang Kraus (Hg.), Von Taras Sevcenko bis Joseph Roth, ukrainisch-österreichische Literaturbeziehungen, Bern 1995, S. 115-123; Wolfgang Müller-Funk, Fremde als Heimat, Kap. in: ders., Joseph Roth, München 1989, S. 22-40; Klaus Bohnen, Flucht in die ‚Heimat‘, zu den Erzählungen Joseph Roths, in: Bernd M. Kraske (Hrsg), Joseph Roth, Werk und Wirkung, Bonn 1988, S. 53-69; und vor allem Telse Hartmann, Kultur und Identität, Szenarien der Deplatzierung im Werk Joseph Roths, Tübingen 2006. 10 Gotthart Wunberg, Joseph Roths Roman ‚Hotel Savoy‘ (1924) im Kontext der 20er Jahre, in: Kessler, Hackert 1990, S. 449-463, hier S. 454.

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Poetik des Privatraums er bezeichnet Hotel und Wartesaal als die dominanten Raumfiguren des Romans.11 Neuerdings ist von einem solchen Querschnitt auch in Andreas Bernards Geschichte des Fahrstuhls die Rede, in der das Savoy jedoch nur als Beispiel für die Struktur eines Grandhotels aus dem 19. Jahrhundert dient.12 Hui-Fang Chiao interessiert sich dagegen erneut einzig für die Außenräume der Metropole in Joseph Roths Feuilletons und Erzählwerk, das Hotel Savoy kommt erst gar nicht in den Blick.13 Dennoch ist es der Autor selbst, der zumindest in seinem Abgesang auf die Neue Sachlichkeit unüberhörbar die Literatur an den Wohndiskurs bindet und beide Strömungen ad acta legen möchte. Im Januar 1930 schreibt er in der Literarischen Welt unter dem Titel: Schluß mit der Neuen Sachlichkeit!: „das moderne, hygienische Haus“ sei als Wohnhaus ebenso gescheitert wie die neusachliche Literatur als Kunst.14 Roth betrachtet Architektur und Literatur als zwei Künste, die sich – wie im Folgenden gezeigt werden soll – befruchten und demselben Geist entspringen.

Wohnen im Hotel GABRIEL DANS ENTWURF VON HEIMAT UND IDENTITÄT Joseph Roths zweiter Roman Hotel Savoy ist – wie auch sein erster Das Spinnennetz (1923) – als Fortsetzungsroman vom 9. Februar bis 16. März 1924 in der Frankfurter Zeitung erschienen,15 einem Publikationsorgan, das Roth wohl nicht ganz von ungefähr gewählt hat. Roth ist zu diesem Zeitpunkt vornehmlich als Journalist tätig und bekannt, übt also jenen Beruf aus, der für das sogenannte reportagehafte Schreiben der Neuen Sachlichkeit vorbildlich ist. Zugleich aber erhält der Roman innerhalb der Zeitung einen idealen Rahmen: Das Romanganze ist in überschaubare Abschnitte gegliedert und wird im Kontext von Nachrichten präsentiert, die das Streben neusachlicher Texte nach Aktualität unterstreichen. Roth wird später, in seinem Vorwort zur Flucht ohne Ende, das Verfahren neu11 Ebd. S. 456. 12 Andreas Bernard, Die Geschichte des Fahrstuhls, über einen beweglichen Ort der Moderne, Frankfurt am Main 2006, S. 72ff. 13 Hui-Fang Chiao, ‚Eine junge, unglückliche und zukünftige Stadt‘, das Berlin der zwanziger Jahre in Joseph Roths Werk, Berlin 1994. 14 Roth, Werke 3,1991 (1930), S. 164. 15 Vgl. Sültemeyer 1976, S. 115. Im selben Jahr noch wird der Roman im Verlag Die Schmiede, Berlin verlegt. Das Spinnenetz erschien zunächst ebenso als Fortsetzungsroman, jedoch nicht in der Frankfurter Zeitung, sondern in der Arbeiter-Zeitung.

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Wohnen im Hotel sachlichen Schreibens folgendermaßen und quasi epochenmachend erklären: „Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu ‚dichten‘. Das Wichtigste ist das Beobachtete“ – und er beschreibt damit nicht nur die Haltung des Reportes und modernen Schriftstellers gegenüber der Welt, sondern bereits die seines Protagonisten Gabriel Dan im Hotel Savoy. Dieser zweite Roman Joseph Roths gehört bis heute zu den eher selten analysierten Schriften, und das, obwohl neben dem Heimkehrer16 ein weiteres Motiv in den Mittelpunkt gerückt ist, das – wie auch Thomas Mueller vermerkt17 – für eine Vielzahl seiner Romane wichtig werden sollte: Das Hotel. In Perlefter. Die Geschichte eines Bürgers (1929)18 spielt es als Hotel Esplanade eine wichtige Rolle, im Hiob (1930) als Hotel Astor und im Radetzkymarsch (1932) als Hotel Brodnitzer. Schon in dem Roman Rechts und Links (1929) lebt der Protagonist Nikolaus Brandeis vornehmlich in Hotelzimmern.19 Auch in seinen Feuilletons schreibt Roth regelmäßig über das Hotel bzw. dessen Personal20 und thematisiert so kontinuierlich ein Sujet, das auch andere Autoren dieser Zeit aufgegriffen haben: Angefangen von Schnitzlers Fräulein Else über die Romane Thomas Manns (Zauberberg, Tod in Venedig und Felix Krull) bis hin zu Kafkas Verschollenem und Amerika oder auch Vicki Baums Menschen im Hotel ließe sich die Liste jenseits des deutschsprachigen Raums mühelos erweitern.21 Selbst im Film lässt sich eine dominante Stellung des 16 August Obermeyer verweist darauf, dass vom erstem Roman 1923 bis ins Jahr 1930 Roth immer wieder dasselbe Thema mit Variationen behandelt, nämlich die Generation der Heimkehrer; Obermayer 1990, S. 237. 17 Thomas Mueller, Hotelgeschichte und Hotelgeschichten, in: Burkhardt Krauser u. Ulrich Scheck (Hg.), Natur, Räume, Landschaften, 2. Internationales Kingstoner Symposion, München 1996, S. 189-201, hier S. 196. 18 Perlefter. Die Geschichte eines Bürgers verfasst Roth bereits 1929, sie erscheint erst posthum 1978. 19 Die Relevanz des Hotels in Roths Werk, allerdings unter einem anderen Blickwinkel und mit anderem Interesse, unterstreicht auch Telse Hartmann, vgl. ihr Kapitel 4.4 Diaspora III: Hotelexistenz in: Hartmann 2006, S. 179ff; vgl. auch das Kapitel: 3. Wohnort Hotel in: Wolfgang Müller-Funk, Joseph Roth, München 1989, S. 40-51, der das Problem aber nicht über den architektonischen Kontext entwickelt, sondern über das Motiv des Märchens erschließt. 20 Vgl. Joseph Roth-Bibliographie. Bearbeitet von Rainer-Joachim Siegel. 1995, S. 34-35, S. 298-301. 21 Vgl. dazu die Anthologie von Ronald Glomb und Hans Ulrich Hirschfelder (Hg.), Hotelgeschichten, Frankfurt am Main 1989; Mueller 1996 S. 189-201 (ein sehr anregender Aufsatz, wenn auch mit einer anderen Zielrichtung, das Hotel Savoy wird kaum behandelt); Bettina Matthias, ‚Transzendental heimatlos‘, zum kultur- und sozialgeschichtlichen Ort literarischer Hotels in der deutschsprachigen Literatur des frühen 20. Jahrhunderts, in: Arca-

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Poetik des Privatraums Hotels als Schauplatz beobachten,22 weshalb es schließlich nicht verwundern mag, dass Siegfried Kracauer in seiner Studie zum Detektivroman die Hotelhalle zum Mittelpunkt der Gegenwartskultur erhebt.23 Mit Charlotte Beates könnte man von einer regelrechten „inter-war fascination“24 des Hotels sprechen. Das starke Interesse am Hotel sowie des Lebens in demselben liegt u.a. darin begründet, dass die 20er Jahre den Höhepunkt europäischer Hotelarchitektur abschließen und den Untergang der belle epoque feiern.25 Gemeinsam mit Joseph Roths persönlicher Vorliebe für Hotels, an die sich sein Verleger Gustav Kiepenheuer erinnert, bildet diese Faszination den Hintergrund des Romans: Unsere Treffpunkte waren sein Zimmer im Hotel am Zoo, seine Ecke bei Mampe am Kurfürstendamm, in Paris das Café Deux Magots und vor allem die Schreibstube des Hotel Foyot. Für kurze Zeit hatte er einmal eine Wohnung gemietet, und ich sah ihn in dem düsteren, riesigen Berliner Zimmer, die Hände in den Manteltaschen, wie in einem Wartesaal auf und ab gehen, als lauere er auf das Abfahrtszeichen seines Zuges ...26

Seltsam mutet es an, dass der Autor dem Verleger just in jenem Moment am ruhelosesten erscheint, als er ein Zuhause, eine Wohnung hat, das Hotel Foyot dagegen über eine „Schreibstube“ ver-

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dia, Internationale Zeitschrift für Literaturwissenschaft, Bd. 40, Heft 1 (Text/Gedächtnis), 2005, S. 117-139, hier S. 119/120. Zu verweisen sind hier nicht nur auf die zahlreichen Verfilmungen des Romans von Vicki Baum, sondern auch auf Freidrich Wilhelm Murnaus Der Letze Mann. Zur Erfolgsgeschichte des Romans von Vicki Baum siehe: Lynda J. King: Menschen im Hotel/Grand Hotel: Seventy Years of Popular Culture Classic, in: Journal of American and Comparative Cultures 23(2), Summer 2000, S. 17- 24. King verweist nicht nur auf die bekannten Filmadaptionen, sondern auch auf die Umarbeitungen von Vicki Baums Roman für das Radio, das Theater (Gründgens) und schließlich sogar für ein Musical. Kracauer, Schriften, Bd. 1, 2006 (1922-1925). Charlotte Beates, Hotel Histories: Modern Tourists, Modern Nomads and the Culture of Hotel Consciousness, in: Literature and History, Manchester 12 (2), 2003, S. 62-75, hier S. 64. Vgl. Mueller 1996, S. 192, und David Watkin, The Grand Hotel Style, in: ders. (Hg.), Grand Hotel, the Golden Age of Palace Hotels, an Architectural and Social History, 1984, S. 12-25, hier S. 19, er vermerkt: „The hotels we have seen so far, luxurious though they were for their day, could scarcely be considered architecturally festive in the way palace hotels would become during thier peak period from the 1880s to the 1920s.“ Joseph Roth, Leben und Werk, Ein Gedächtnisbuch, hrsg. von H. Linden, Köln und Hagen 1949, S. 40-42, zitiert in: Friedemann Berger, Nachwort zu: Perlefter. Die Geschichte eines Bürgers, Köln 1978 (1929), S. 151

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Wohnen im Hotel fügt, über einen Raum also, der über die Bezeichnung „Stube“ analog geschaltet wird zu Gemütlichkeit und Heimat, die weniger in einem Hotel als in den eigenen vier Wänden vermutet wird. Eva Raffel erläutert in diesem Sinne: „Joseph Roth selbst, der, mit Ausnahme einer kurzen Zeitspanne, nie einen eigenen Hausstand unterhielt, liebte seine Hotels [...] ‚wie ein Vaterland‘“27. Ähnlich überkreuz erscheint auch das Setting des Romans Hotel Savoy: Vorgeblich wird die Geschichte des Kriegsheimkehrers Gabriel Dan erzählt, an die Stelle der Darstellung seiner Heimkehr, seiner Wanderung durch verschiedene Länder und Landstriche, an die Stelle der Ruhelosigkeit, rückt der Roman indes die Schilderung eines Ruhepols inmitten der Reise: den Moment, als sich Gabriel Dan im Hotel Savoy niederlässt. An diesem einen Ort wird der Leser gemeinsam mit dem IchErzähler Gabriel Dan zum Beobachter des Geschehens, und so beginnt die Erzählung nicht mit einem Fußmarsch oder einer Zugfahrt, sondern bereits mit der Ankunft: „Ich komme um zehn Uhr vormittags im Hotel Savoy an.“(149) Es ist bedeutsam, dass sich Dan – auf dem Weg von Russland nach Wien-Leopoldstadt – gerade in einem Hotel niederlässt, denn zumindest zwei weitere Unterkünfte stehen ihm in dieser polnischen Kleinstadt28 potentiell offen. Zum einen lebt hier ein Teil seiner Verwandtschaft: sein vermögender Onkel Böhlaug, der mit Frau und Kindern in einer Villa residiert. Dieser reiche Bruder der Mutter hat sich seinerseits bei den Besuchen in Wien im noch heute noblen Hotel der Stadt, dem Imperial, einquartiert (154). Ihn imitierend sucht auch Gabriel sein Obdach nicht bei der Familie, sondern im Hotel Savoy. Aber Dan verweigert auch jenen Ort als Unterkunft, der eigens für ihn, für Kriegsheimkehrer errichtet wurde: die Baracken außerhalb der Stadt. Beide naheliegenden Optionen schlägt er aus, wählt sie nicht für seinen Aufenthalt, sondern besucht sie nur: wie ein Fremder, nicht Dazugehöriger. Dieser nicht erzählte, noch vor der Erzählzeit liegende Entschluss für das Hotel ist bemerkenswert, denn immerhin bittet 27 Raffel 2002, S. 136, sie zitiert aus der Artikelserie ‚Hotelwelt‘ von Joseph Roth aus dem ersten Artikel: Ankunft im Hotel (19.1.1929, Frankfurter Zeitung), in: ders., Werke 3, das journalistische Werk 1929-1939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 3-32, hier S. 3: „Das Hotel, das ich wie ein Vaterland liebe, liegt in einer der großen europäischen Hafenstädte.“ 28 Der Roman selbst gibt keinerlei Hinweis, in welcher Kleinstadt des Ostens sich Gabriel Dan aufhält, allerdings deuten Aussagen Roths darauf hin, dass ihm beim Verfassen des Romans das polnische Lodz als Vorbild diente; vgl. Dietmar Grieser: Menschen im Hotel Savoy. Am Schauplatz von Joseph Roths erstem Roman, in: ders.: Schauplätze österreichischer Dichtung, ein literarischer Reiseführer, München, Wien 1974, S. 105-118.

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Poetik des Privatraums Gabriel Dan seinen Onkel um Geld für die Weiterreise. Fahrlässig handelt er demnach, wenn er sich, mittellos wie er ist, auch noch im Hotel niederlässt und Schulden macht; ja selbst das Angebot seines Vetters wird er ausschlagen, der ihm das Geld für die Weiterreise geben würde.29 Es muss also einen Grund für diese eigenwillige Entscheidung geben, und tatsächlich scheint sich Dan hier im Hotel die einmalige Möglichkeit eines Selbstentwurfs innerhalb eines spezifischen Privatraums zu bieten. Dient das Hotel gemeinhin als Fluchtraum vor privaten, familiären und gesellschaftlichen Zwängen – etwa in dem Sinn, dass sich der Vetter Alexander Böhlaug ein Zimmer anmietet, um jenseits des elterlichen Heims ein amouröses Abenteuer mit der Varietétänzerin Stasia anzuzetteln, oder die verheirateten Fabrikbesitzer allabendlich die nackten Tänzerinnen goutieren (jene weiblichen Gäste, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können) – so wird das Savoy von Gabriel Dan genau entgegengesetzt genutzt: nicht als Flucht vor dem Privaten, sondern als Flucht ins Private. Anders als die Gäste der Hotelbar, die sich allabendlich vergnügen und wieder heimkehren zu Frau und Kind, gehört Dan zu jenen Bewohnern des Hotels, für die ein solches Zuhause gar nicht mehr existiert: „Ich habe keine Eile. Keine Mutter, kein Weib, kein Kind. Niemand erwartet mich. Niemand sehnt sich nach mir.“ (188) Für diese Bewohner, für Stasia, Santschin, Hirsch Fisch und wie sie alle heißen, ist das Hotel keine Zwischenstation, sondern Heimatersatz, und auch für Dan gestaltet sich die Ankunft im Savoy wie eine Heimkehr, die realiter nicht mehr vollzogen werden kann: Mein Zimmer schien mir vertraut, als hätte ich schon lange darin gewohnt, bekannt die Glocke, der Druckknopf, der elektrische Taster, der grüne Lampenschirm, der Kleiderkasten, die Waschschüssel. Alles heimisch, wie in einer Stube, in der man eine Kindheit verbracht, alles beruhigend, Wärme verschüttend, wie nach einem lieben Wiedersehen (151) […]; [das Zimmer 703 ist] eine wiedergefundene Heimat (190).

Mit demselben Impetus schreibt Roth noch 1929 in einer Artikelserie über die Hotelwelt für die Frankfurter Zeitung: Wie andere Männer zu Heim und Herd, zu Weib und Kind heimkehren, so komme ich zurück zu Licht und Halle, Zimmermädchen und Portier.30

29 Dieses Angebot Alexander Böhlaugs ist freilich nicht selbstlos; vgl. S. 185f. 30 Aus der Artikelserie Hotelwelt von Joseph Roth, erster Artikel: Ankunft im Hotel (19.1.1929, Frankfurter Zeitung), in: ders., Werke 3, 1991, S. 3-32, hier S. 3.

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Wohnen im Hotel Im Savoy findet Gabriel aber nicht etwa eine verlorene, sondern eine nie besessene Heimat. Während er in seinem Hotelzimmer mühelos einen Freund beherbergen kann und ein Büro mit Sekretärin betreibt, lebte er bei seinen Eltern in ärmlichen Verhältnissen: In der Leopoldstadt wohnte der Großvater in der dunklen Küche.31 Die Entscheidung für das Hotel erscheint also nicht willkürlich, sondern eher wie die Erfüllung eines ‚Traums von Heimat‘ in der k. u. k. Monarchie, und der Entschluss ist umso signifikanter, als Gabriel Dan im gesamten Roman eher passiv und antriebsschwach dargestellt wird – sein Kamerad, der Kroate Zwonimir Pansin ist derjenige, der ihn mitreißt, Ideen hat und neue Gelegenheitsjobs organisiert.32 Aber ähnlich wie Irmgard Keuns Protagonistin Gilgi in derselben Stadt, in der nicht nur ihre Zieheltern und ihre leibliche Mutter, sondern auch ihr Lebenspartner wohnen, ein eigenes Zimmer anmieten wird, ebenso bietet das Zimmer 703 Gabriel Dan die Möglichkeit eines Selbstentwurfs, die Möglichkeit, Rollen auszuprobieren: „Im Hotel Savoy konnte ich mit einem Hemd anlangen und es verlassen als der Gebieter von zwanzig Koffern – und immer noch der Gabriel Dan sein.“ (150) Und eben diese hier im ‚westlichsten Hotel des Ostens‘33 angedeutete amerikanische Karriere des Tellerwäschers durchläuft Dan in abgewandelter Form und steigt vom mittellosen Kriegsheimkehrer zum Privatsekretär des Millionärs Bloomfield auf. Anders als all die vielen Einkünfte, die ihm sein Kriegskamerad Zwonimir Pansin verschafft hat, ist die Arbeit als Sekretär nicht nur die letzte Stufe der Karriereleiter, sie erscheint zudem als Erfüllung eines langgehegten Wunsches, dieses für die 20er Jahre so typischen, weil eigenschaftslos wirkenden Protagonisten.34 Seiner jungen Liebe gegenüber gibt er zu verstehen: „Früher wollte ich Schriftsteller werden, aber ich ging in den Krieg, und ich glaube, daß es keinen Zweck hat zu schreiben. – Ich bin ein einsamer Mensch, und ich kann nicht für alle schreiben.“(161)

Als Angestellter Bloomfields, eines in Amerika zu Geld gekommenen Sohnes der Stadt, auf den sich die Hoffnungen aller Bewohner wie auf einen Messias richten, agiert Dan eben wie ein solcher, wie 31 „Die Mutter trug ein schwarzes Kleid mit spärlich gewordenem Flitterbesatz [...] Lebzelte dufteten aus der dunklen Küche, in der mein Großvater wohnte.“ (154) 32 Wunberg 1990, S. 452. 33 „Europäischer als alle anderen Gasthöfe des Ostens erscheint mir das Hotel Savoy“ (149). 34 Schon Sültemeyer schreibt 1976: Dan „interessiert sich für vieles, aber er engagiert sich für nichts.“ Sültemeyer 1976, S. 119.

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Poetik des Privatraums ein Schriftsteller, nicht wie ein Sekretär. Er ist weder für den Briefverkehr zuständig noch für die Telefonate und er muss gleichfalls keine Diktate entgegen nehmen, vielmehr ist er derjenige, der diktiert. Sein Hotelzimmer wird zum Büro, in dem er Menschen empfängt. Sie erzählen ihm ihr Leben und ihre Projekte und werben um finanzielle Unterstützung bei Bloomfield. Diese Gesuche muss Dan zusammenfassen und diktiert sie zu diesem Zwecke seiner Sekretärin. In einer solchen Stellung kann sich Dan zwar nicht als genialer Schriftsteller, aber eben doch als neusachlicher Autor entwerfen. Verborgene Türen öffnen sich mir auf meinen Wunsch, Menschen geben sich mir preis. Wundersame Dinge tun sich kund. Und ich stehe da, bereit, alles aufzunehmen, was mir zuströmt. Die Menschen bieten sich mir an, unverhüllt liegen ihre Leben vor mir. (220) […] Es war eine Beschäftigung, die mir behagte, denn ich war auf mich angewiesen und trug die Verantwortung für alles, was ich berichtete. Ich hütete mich, mehr zu berichten, als nötig war. Dennoch lieferte ich manchmal einen Roman. [...] Bloomfield wollte eine Bestätigung seiner Beobachtungen. (219)

Das Programm der Neuen Sachlichkeit wird hier bereits drei Jahre vor der Flucht ohne Ende formuliert: Die knappe Berichterstattung des Beobachteten und die Haltung des Autors als Registrator, nicht als Dichter. Auch wenn August Obermeyer darauf verweist, dass man Roths Verteidigung des Dokumentarischen nie mit dem Kunstlosen verwechseln dürfe,35 steht in seinen frühen Romanen der knappe, berichtende Erzählstil im Vordergrund, betont er nicht die Erfindung, sondern das Beobachten, nicht die inventio, sondern die imitatio. Wenn es sprichwörtlich heißt, die Welt sei im Hotel zu Gast, so ist sie nun zu Gast in Gabriel Dans Zimmer: hier kann er das Beobachtete beschreiben. Zugleich wiederholt sich im Kleinen, was im gesamten Roman betrieben wird und den Protagonisten tatsächlich als den neusachlichen Autor schlechthin ausstellt; denn wie schon für Kacauers Ginster, so gilt auch für Gabriel Dan: Seine Passivität gegenüber dem Geschehen, seine indifferente Haltung jenseits jeglichen Engagements ermöglicht ihm eine Beobachterrolle, die weniger in das Geschehen eingreift als aufzeichnet, die weniger eine eigene, persönliche Entwicklung schildert als die seiner Umwelt, des Hotels. Obwohl Dan als IchErzähler in Erscheinung tritt, scheint das Hotel – wie schon der Titel Hotel Savoy nahe legt – die Hauptfigur des Romans zu sein, es übernimmt darüber hinaus die Funktion, ein „Multistoryformat“

35 Obermayer 1990, S. 237.

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Wohnen im Hotel zu legitimieren: Nicht eine, sondern mehrere Personen werden beobachtet.36 Dan ist kein Flaneur, die Straßen der Stadt nutzt er vornehmlich als Durchgangswege und beobachtet stattdessen Innenräume, inspiziert das Savoy vom Dachgeschoss bis in den Keller, hat Zugang zu den Baracken und Villen, Zugang zu den unterschiedlichen Geschossen, den unterschiedlichen Schichten. Während sowohl Kracauers Ginster als auch Irmgard Keuns Gilgi noch die verschiedenen Stadtviertel aufsuchen müssen, um Einblick in die schichtenspezifischen Räume zu erhalten, kann sich Gabriel in der Vertikale von Stockwerk zu Stockwerk bewegen, vom öffentlichen Sockelbereich in die privaten Zimmer,37 um die Wohnverhältnisse der Klassen zu studieren. „Das Hotel erscheint als Aufriß“38 und erinnert solchermaßen an die Schnitte durch Häuser und Räume,39 wie sie seit dem 19. Jahrhundert beliebt sind (Abb. 19). Dan ist mithin mehr Voyeur als Flaneur, beobachtet Stasia durchs Schlüsselloch, lässt sich in seinem Zimmer die Geschichten anderer erzählen, lässt sich in der Bar, im Fünf-Uhr-Saal, in der Lobby nieder. Bereits im gesamten Roman – nicht erst seit Dans Arbeit als Privatsekretär – bietet sich dem Leser auf diese Weise ein Panorama unterschiedlicher Persönlichkeiten, kurzer Schilderungen von mindestens zwei Dutzend Menschen, die im Hotel ein- und ausgehen. Eine kleine Auswahl, verglichen mit der Größe des Hotels – ist doch von sagenhaften 864 Zimmern die Rede – , und doch eine Vielzahl, die diesem Ort geschuldet ist. Ähnlich wie Thomas Mueller über Vicki Baums Menschen im Hotel notiert, kann auch für Roths Roman festgehalten werden: Das Hotel als erzählter Raum erhält [...] eine narrative Funktion, es ermöglicht eine scheinbar objektivierte Erzählhaltung, bei der die Erzählerin die Geschichten aufzeichnet, die immer wieder durch die Drehtür hereinkommen. Der Simultantechnik Döblins vergleichbar wird die Handlung in mehrere nunmehr durch den Ort, den gemeinsamen Raum verbundene und sich gelegentlich überschneidende Parallelhandlungen aufgelöst.40

36 So Lynda J. King über Vicki Baums Menschen im Hotel (King 2000, S. 20). 37 In diesem Raumprogramm folgen die Palasthotels ihrem Namen entsprechend dem Bautypus des Palastes; vgl. Simone Meyder, Hotel, in: Ernst Seidl (Hg.), Lexikon der Bautypen, Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart 2006, S. 231-233; vgl. auch den Eintrag zu Hôtel. 38 Wunberg 1990, S. 454. 39 Vgl. Bernard 2006, S. 73. 40 Mueller 1996, S. 191.

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Poetik des Privatraums Abb. 19: Querschnitt eines Pariser Hauses, das die Wohnverhältnisse auf den unterschiedlichen Stockwerken aufzeigt, 1835.

Zwar ist Roth schon in den frühen Romanen ein zu traditioneller Erzähler, als dass er Parallelhandlungen und damit das Hotel als veritable Simultanbühne41 einsetzen würde, er ist vielmehr peinlich genau darum bemüht, das Voranschreiten der Zeit immer wieder zu notieren: „am nächsten Morgen“(198), „erst in zwei Wochen“(207) oder „Bloomfield kam in der Nacht um zwei Uhr“(209), heißt es beispielweise – und diese Hinweise lassen erahnen, dass sich Dans Aufenthalt im Hotel mindestens über einen Monat erstrecken muss. Das Bemühen um exakte Zeitangaben kann aber die ausufernde Tendenz des Romans zu immer mehr Geschichten nur provisorisch eindämmen, tatsächlich erweckt die Vielfalt an unterschiedlichen Biographien zugleich den Eindruck, einer wesentlich längeren Zeitspanne beizuwohnen, verbunden bleiben diese Erzähleinheiten schließlich und tatsächlich einzig durch den Raum: Abgesehen von 41 Vgl. die zeitgleich stattfindenden Inszenierungen am Theater unter Einsatz der Simultanbühne bei Nestroy, auf die Wunberg verweist: Wunberg 1990, S. 454.

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Wohnen im Hotel der Tatsache, dass sich die Ereignisse an diesem einen Ort abspielen und von Dan aufgezeichnet werden, haben sie nichts gemeinsam; sie dienen dem Protagonisten keineswegs zur individuellen Entwicklung und Reifung, eher umgekehrt scheint Dan Sprachrohr des Hotels, Sprachrohr der Geschichten des Hotels und des in ihm gespiegelten allmählichen Untergangs einer glanzvollen Epoche.42 So reflektiert Dan schon an seinem ersten Tag: So vieles kann man in sich saugen und dennoch unverändert an Körper, Gang und Gehaben bleiben. Aus Millionen Gefäßen schlürfen, niemals satt sein, wie ein Regenbogen in allen Farben schillern, dennoch immer ein Regenbogen sein, von der gleichen Farbenskala. (150)

Seine passive Haltung ist also nicht so sehr oder einzig als Unfähigkeit des Intellektuellen zur Tat zu verstehen, sondern vielmehr als Versuch, sich als neusachlicher Autor zu entwerfen, als Berichterstatter der Ereignisse im und rund um das Savoy. Dan ist nicht Handelnder, sondern Beobachter des Geschehens, wie schon Heizmann für die Ich-Erzähler neusachlicher Romane festhält.43 Beinahe einer Photoplatte vergleichbar, bietet er Platz für die unterschiedlichsten Momentaufnahmen, zeichnet sie auf, gibt sie wieder, ohne aber gänzlich in einer Außenperspektive zu verharren, Heizmann nennt es eine Pendelbewegung zwischen Distanz und Identifikation, zwischen auktorialer und personaler Erzählhaltung. Dan kommt zwar, so wird uns berichtet, aus Krieg und Gefangenschaft, darüber oder über andere biographische Sequenzen verliert der Roman jedoch beinahe kein Wort. Abgesehen von dem knappen Hinweis, die Heimreise dauere bereits sechs Monate44 und führe von Russland nach Wien in die Leopoldstadt, erfährt der Leser keine weiteren Details. Auf die Nachfrage Bloomfields, wie es ihnen, Zwonimir und Dan, in der Kriegsgefangenschaft ergangen sei, antwortet Zwonimir kurz und bündig: „Im Kriege war es schlimmer“, und damit ist das Gespräch auch schon beendet: „Wir sprachen nicht mehr viel an diesem Tage.“ (216) Analepsen und Prolepsen sind solchermaßen äußerst spärlich eingesetzt, und die Zukunft kristallisiert sich in dem unendlich oft wiederholten „Amerika“. Das Romangeschehen ereignet sich einzig im Hier und Jetzt, im Hotel mit seinen aneinandergereihten Räumen und Ereignissen.

42 Gegen diese Beobachtung spricht auch nicht Dans Karriere. Zum einen ist diese mit Bloomfields Abreise beendet, Dan verlässt also das Hotel wie er gekommen ist: als Kriegsheimkehrer, zum anderen folgt dieser Karriere keine innere Reifung. 43 Heizmann 1990, S. 132. 44 „Sechs Monate [...] sind wir unterwegs“ (216).

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Poetik des Privatraums Sicher ist Dan kein naturalistischer Dokumentator, der seitenlange und detailgenaue Interieurschilderungen des Hotels liefert, jedoch erstellt er ein Dokument fragmentierter Lebensläufe, ein Zeugnis des zusammenhanglosen Lebens im Hotel. Seine Stellung als Autor und Reporter ist deshalb vielmehr mit der Position des Lifts denn mit einem naturalistischen Schriftsteller vergleichbar, denn wie dieser Lift ist auch Dan derjenige, der die Geschichten nur transportiert, das Sprachrohr des Geschehens. Von diesem Fahrstuhl aus, in der vertikalen Bewegung durch die Geschosse, wird das Savoy inspiziert, hier befindet sich das Kontrollzentrum, das sich auch der Hotelwirt Kaleguropulos bzw. der Liftboy gewählt hat. Dass der Hotelwirt Kaleguropulos zugleich Ignatz der alte Liftknabe ist, bleibt allerdings bis zum Ende des Romans verborgen, und damit eröffnet sich eine weitere Ebene, beginnt der Roman eine andere Geschichte zu erzählen: denn neben aller Heimeligekeit, die Dan in seinem Zimmer findet, neben seinem zumindest für den Moment geglückten Selbstentwurf als neusachlicher Autor, als Lift und Hohlraum, als Kontrollzentrum des Geschehens – eine Position, auf die es später nochmals genauer einzugehen gilt –, neben dieser Heimeligkeit haust immer auch das Unheimliche, das Geheimnisvolle, das Undurchschaubare in diesem Hotel.45

DAS UNHEIMLICHE IM HEIMLICHEN Das Savoy ist nicht nur ein normales Hotel, in dem Gabriel Dan völlig unbehelligt Geschichten registrieren kann, es ist auch ein unheimlicher Ort, dessen dämonisches Zentrum der alte Liftboy ist. Der namentlichen Klarheit Dans (slaw. Tag) entgegengesetzt ist Kaleguropulos ein Geschöpf der Dämmerung, Herr der Fledermäuse, der Gabriel Angst einjagt: „Als hätte der Tod die Gestalt des alten Liftknaben angenommen“ (180); „war er der Tod oder war er der alte Liftknabe? Was glotzte er mit seinen gelben Bieraugen?“ (183). Das Savoy ist solchermaßen auch ein undurchschaubarer Ort, an dem nicht von ungefähr in den oberen Etagen der Dampf der Wäscherei den Blick vernebelt, und ausgerechnet Typhus bricht in der Stadt aus, Typhus, was wortwörtlich Nebel, Rauch, Dampf bedeutet, als würde das Gesetz des Hotels in die Stadt getragen. Eine unheimliche Macht geht von diesem Haus aus und zieht seine Gäste in den Bann: „Santschin [...] hatte mir gesagt [...], daß alle, die hier wohnten, dem Hotel Savoy verfallen waren. Niemand entging dem Hotel“ (200). Solchermaßen ist das Savoy eingeschrieben in die Tradition der unheimlichen Häuser, welche jene gothic

45 Vgl. dazu auch Mueller 1996, S. 196.

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Wohnen im Hotel novels bevölkerten, die bereits Ginster beunruhigten46 und in Edgar Allan Poe den berühmtesten Vorläufer hatten: In seiner Philosophie des Mobiliars bringt Poe eine gewisse Beseeltheit des Raumes vor allem darin zum Ausdruck, daß die Objekte des Intérieurs, Geräusche und Stoffe die Sinne überwältigen und den Protagonisten zurückschrecken lassen vor [dem] plötzlichen Aufflackern einer Lampe, Reflexen in Spiegeln, Bewegungen von Vorhängen.47

In dieser Tradition steht auch das Hotel Savoy, es ist sowohl Heimat als auch das Fremde schlechthin. Eine antithetische Struktur des ‚Sowohl-als-auch‘, die den gesamten Roman bestimmt und ihn zu einem Paradoxon macht. Selbst der Protagonist changiert, macht sich die sozialistische Gesinnung zueigen und beklagt die ungerechten Verhältnisse der Gesellschaft (symbolisiert hier in der Schichtung der Bewohner), bestätigt sie aber zugleich, indem er sich in der Bar vergnügt oder enttäuscht darüber ist, dass kein Zimmermädchen in den oberen Stockwerken sich seinen Blicken darbietet. Das Hotel ist für Gabriel Dan sowohl Heimat als auch das unheimliche Fremde, das unheimliche Heim und die heimelige Fremde. Sicher wird die doppelte Konnotation, die widersprüchliche Struktur des Romans in der Sekundärliteratur immer wieder erkannt und beschrieben – Wunberg spricht von „Unvollständigkeit, Widersprüchlichkeit [und] Inkonsistenz“48 und Sültemeyer konstatiert eine „politische Indifferenz“49 –, dass diese paradoxe Struktur aber im Wohndiskurs gründet, soll hier aufgezeigt und damit eine neue Sinnebene des Rothschen Textes erschlossen werden. Als Sigmund Freud 1919 seinen Aufsatz über Das Unheimliche geschrieben hat, begann er die Analyse mit einer etymologischen Studie, zitierte aus den Wörterbüchern Daniel Sanders und der Gebrüder Grimm. Heimlich bezeichnet dort das Heimelige, Heimatliche, Intime und zugleich das Unheimliche, Geheime. „Freud war begeistert von diesem langsamen Aufgehen des Heimlichen im Unheimlichen“, notiert Anthony Vidler in seiner Studie Über das Unbehagen in der modernen Architektur, und Freud stellte fest

46 Kracauer 1973 (1928), S. 11. 47 Gerrit Confurius, Beseelte Räume, Beispiele literarischer Anthropomorphie, in: Körper und Bauwerk, Daidalos 45, Sept. 1992, S. 92-100, hier S. 96/97. 48 Wunberg, 1990, S. 450. 49 Sültemeyer 1976, S. 120.

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Poetik des Privatraums daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. 50 Das Heimliche wird dann zum Unheimlichen.

Die paradoxe Bedeutungsstruktur zusammenfassend – so Freud –, ließ sich bereits bei Gutzkow nachlesen: „Wir nennen das unheimlich, sie nennens heimlich.“51 Das Gefühl des Unheimlichen bedeutete also stets mehr „als irgendwo nicht dazuzugehören, es war die immer vorhandene Möglichkeit, daß das Vertraute sich gegen die seinen wendet, plötzlich fremd und der Realität entzogen wird, als handle es sich um einen Traum.“52 Während Freud am Unheimlichen sein Konzept der Verdrängung erläutert, geht es mir im Folgenden nicht um eine psychoanalytische Interpretation, sondern um die Einbettung dieser paradoxen Struktur des heimatlich-unheimlichen Hotels in einen alten, in den 20er Jahren jedoch revitalisierten Topos, der vor allem in der Romantik gepflegt wurde; E.T.A. Hoffmann hinterlässt zahlreiche Beschreibungen von Spukhäusern, in Der goldne Topf ebenso wie in Das öde Haus, am ausführlichsten aber wohl im Rat Krespel. Selbst der Beruf Dans als Privatsekretär zeugt von der Bedeutung, die dieser Gedankenfigur des Unheimlichen zugeschrieben wird: die offenbar eindeutige Berufsbezeichnung des Sekretärs deutet etymologisch auf den Geheimschreiber, den Träger von geheimen Vereinbarungen in Form von Alltags- bzw. Gebrauchsprosa, war der Geheimschreiber doch für die Abfassung von Briefen oder Reden zuständig. Es mag verwundern, dass in einer Zeit, in der sich Roth noch explizit der Neuen Sachlichkeit verschrieben hatte, das Geheime und Unheimliche überhaupt eine Rolle spielt und diese Komponente des Heimatlichen nicht einfach ignoriert wird, denn selbst auf der Ebene des discours lässt sich diese Ambivalenz ausmachen. Der Ich-Erzähler präsentiert das Geschehen in einem lockeren Wechsel zwischen Präteritum und Präsens – das zur Spannungssteigerung häufig eingesetzt wird – in einem kompakten, parataktischen Stil mit überaus kurzen Sätzen, klar gegliedert durch Absätze. Über den Ich-Erzähler ebenso wie über als direkte Rede widergegebene Redebeiträge scheint der Text Authentizität und Nähe anzustreben, darzulegen, dass der Erzähler das Beobachtete nur berichtet. Unter der Hand aber gerät auch dieser Text – wie die Berichte Dans an Bloomfield – zu einem Roman. Das heißt, das Vorgefundene wird gestaltet. Eine Fülle an Metaphern und Metonymien, parabelähnlichen Pas50 Freud 1972 (1919), S. 235; vgl. Anthony Vidler, UnHeimlich, Über das Unbehagen in der modernen Architektur, Hamburg 2002 (1992), S. 46. 51 Freud 1972 (1919), S. 235. 52 Vidler 2002 (1992), S. 25.

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Wohnen im Hotel sagen, märchenhaften Einschüben und Wiederholungen erweitern den simplen plot, ergänzen die einfache Erzählweise. Wundersame, bisweilen schräge Vergleiche und Bilder öffnen somit regelmäßig einen Raum, der nicht der reale Hotelraum ist, in dem sich das Geschehen abspielt, sondern ein Phantasieraum, in dem Füße an „seltsame Waldwurzeln“ (176) erinnern oder Brüste wie „junge, frierende Tiere“ (174) zittern. Neben den realen, physisch begehbaren Räumen spielen erneut die mentalen Räume eine entscheidende Rolle. Aber auch auf der Ebene des textuellen Raumes fallen die vielen Absätze auf, die zusammenfassenden Passagen und Ellipsen, allesamt Aussparungen, die nicht nur als Ausdruck klarer neusachlicher Strukturierung und journalistischer Alltagsprosa interpretiert werden können, sondern ebenso davon zeugen, dass sie Auslassungen, Lücken im Erzählten sind, die durch ihre auffallend häufige Verwendung zugleich geheimnisvoll, beunruhigend und unheimlich wirken. Die „Aufteilung in viele Kurzkapitel“53 und die Vorliebe für kurze Sätze, oft einfache Hauptsätze54, hat also eine Kehrseite. Kein anderer Roman Roths weist so viele Absätze, so viel Leerraum auf, um den herum sich der Text lose anordnet55 – analog zum Liftschacht, um den herum sich die Zimmer gruppieren, sind diese leeren Textstellen der unbebaute Raum, Sitz des Geheimnisvollen, Undurchsichtigen, Sitz des Kaleguropulos.

Leer Lee r räume und Hohlformen: Dan und der Liftschacht Es ist die Figur des Hohlraums, die die spannendste Verbindung zur Wohnarchitektur der 20er Jahre aufweist, denn abgesehen davon, dass Dan eine klassische Romanfigur seiner Zeit ist, wie sie in den folgenden zu analysierenden Romanen immer wieder auftauchen wird, für die nämlich die Existenz eines Privatraums, eines ‚Zimmers für sich allein‘ unabdingbar erscheint, lassen sich weitere Spuren des architektonischen Diskurses entdecken. Zu verweisen wäre dabei sowohl auf Gabriel Dans Sensibilität gegenüber den Wohnbedingungen im Hotel, gegenüber der sozialen Schichtung von 53 Sültemeyer 1976, S. 121. 54 So Obermeyer über Roths Schreibstil, Obermayer 1990, S. 234. 55 Auf die Einteilung der frühen Romane in viele kurze Kapitel verweist Sültemeyer, die im Zusammenhang mit dem Spinnennetz diskutiert, ob diese Form der Tatsache folgt, dass die Romane als Fortsetzungsromane erschienen sind; allerdings ist einerseits unklar, ob Roth die Romane bereits für die Zeitung geschrieben hat, oder ob diese erst nach der Abfassung in der Zeitung erschienen sind (vgl. Sültemeyer 1976, S. 114), zum anderen haben die Leeräume darüber hinaus noch eine andere Bedeutung, wie im Folgenden dargelegt werden soll.

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Poetik des Privatraums der bel etage bis zu den ärmlichen Dachstuben, gegenüber dem unhygienischen Zustand der Stadt im Gegensatz zu den modernen Sanitäranlagen des Savoy. Es ist typisch für den – eng mit dem Wohnen verbundenen – Hygienediskurs der 20er Jahre, dass unter diesen Umständen schließlich eine Massenkrankheit, der Typhus, ausbrechen muss. Hinzuweisen wäre aber auch auf den Umstand, dass Dan als Kriegsheimkehrer just jener Bevölkerungsgruppe angehört, deren Heimatlosigkeit schon während des Krieges zum auslösenden Moment staatlicher Wohnbauprogramme wurde.56 Ihnen, die ins Vaterland heimkehrten, musste wieder eine reale Heimstatt geschaffen werden, wie Dan ging es der Mehrzahl der Kriegsheimkehrer: „Keine Mutter, kein Weib, kein Kind. Niemand erwartet“ sie, niemand „sehnt sich nach“ ihnen. (45) Die paradoxe Struktur des Romans macht demnach selbst vor den Kriegsheimkehren nicht halt, die ihrem Namen widersprechend gar nicht mehr heimkehren können.57 Als gebaute und bewohnte Architektur spielen die funktionalistischen Bauten freilich keine Rolle. Hotel und Stadt atmen vielmehr den Geist des 19. Jahrhunderts, heimgesucht von Massenkrankheit, Revolution und Feuer werden sie jedoch als überholte Formen des Zusammenlebens gebrandmarkt, als überholte Architekturform, in der nicht alle Schichten ihren genuinen Ort gefunden haben. Seiner paradoxen Struktur gehorchend, zeigt der Roman damit sowohl das Scheitern eines Baumodells und schielt zugleich wehmütig auf eine erträumte Kindheit innerhalb dieser Struktur. Aber gerade in dieser so expliziten Aussparung funktionalistischer Architektur lässt sich die bezeichnendste Parallele zwischen der diskursiven Praxis der Architektur und dem Roman feststellen. Denn analog zu Dans Selbstentwurf als Photoplatte, als leere Fläche, analog zum Liftschacht und dem Leeraum im Text künden auch die Entwürfe der Architekten von einer bisher ungekannten Leere in Privaträumen. Als sich die Architekten daran machten, die neue Wohnung der Moderne zu entwerfen, entrümpelten sie im wahrsten Sinne des Wortes die alten Zimmer. Ihre Grundrisse, die eine neue Heimat stiften sollten, wurden zwar möbliert, aber die realen Räume blieben karg (Abb. 20-22). Was von den Architekten als Raum für Selbstentwürfe gedacht war – im Sinne eines Bruno Taut: „Der Raum ist im wahrsten Sinne des Wortes Nichts, die Menschen allein alles“58 oder eines Walter Gropius: „alles hat sich dem 56 Vgl. dazu Thomas Haefner, Heimstätten: Eigenheim und Kleinsiedlung, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 4, 2000 (1996), S. 557-599, hier S. 560/561. 57 Zu diesem Themenkomplex siehe auch die Entwürfe für Arbeiterhäuser im Kapitel über Kracauers Ginster bzw. im Roman selbst: Kracauer 1973 (1928), S. 197. 58 Taut 2001 (1924), S. 17.

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Wohnen im Hotel menschlichen unterzuordnen. [...] gerade deshalb ist die entwicklung des typus [...] notwendig.“59 – , was also den Architekten wie eine neu gewonnene Freiheit erschien, konnte (wie schon in Ginsters Traum) unheimlich und leblos wirken. Abb. 20: Wilhelm Kienzle, Junggesellenzimmer.

Das Vakuum des Nichts wird solchermaßen in seinem Effekt den verwinkelten Gassen und vollgestopften Speichern der Romantik vergleichbar, von denen sie sich doch entschieden abzuwenden trachten. Was Helmut Lethen im Hinblick auf die Neue Sachlichkeit als ‚Verhaltenslehren der Kälte‘ beschrieb,60 hat seinen Ursprung in eben solchen leergefegten Räumen, die sich ohne Bezug zur Vergangenheit einzig im Hier und Jetzt zu situieren scheinen und unendlich verlassen wirken. Als der Hotelwirt Kaleguropulos im Savoy schließlich angekündigt wird und aus seinem Schattendasein treten soll, beginnt das große Putzen:

59 Walter Gropius, Geistige und technische Voraussetzungen der neuen Baukunst, in: Die Umschau, Frankfurt am Main 1927, Heft 45, S. 909-910, in: Hartmann 1994, S. 148-151, hier S. 150. Gropius erläutert genauer: „die menschliche behausung ist also eine angelegenheit des massenbedarfs; genau so, wie es aber heute 90% der bevölkerung nicht mehr einfällt, sich ihre beschuhung nach maß anfertigen zu lassen, sondern vorratsprodukte bezieht, die infolge verfeinerter fabrikationsmethoden die meisten individuellen bedürfnisse befriedigen, so wird sich in zukunft der einzelne auch die ihm gemäße behausung vom lager bestellen können.“ ebd. S. 149. 60 Lethen 1994.

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Poetik des Privatraums Es ist eine unheimliche Sauberkeit. Man fühlt sich nicht mehr heimisch. Man vermißt wohlbekannte Staubwinkel. Ein Spinnennetz in der Ecke des Fünf-Uhr-Saals war mir eine liebe Gewohnheit geworden, in der Ecke fehlt heute mein Spinnennetz. Ich weiß, daß man eine schmutzige Hand bekam, wenn man über das Stiegengeländer strich. Heute ist die Handfläche sauberer, als sie vorher gewesen, als bestünde das Geländer aus Seife. (212)

Abb. 21: J.J.P. Oud, Wohnraum in einem seiner Häuser auf der Weißenhofsiedlung, Stuttgart 1927.

Abb. 22: Marcel Breuer, Schlafzimmer Piscator, 1927/1928.

Dieses Putzen erinnert an die Aufräumarbeiten der Architekten, die sämtliche vorangegangenen Wohnkonzepte zu eliminieren und das Mobiliar zu entsorgen suchen, wie es Bruno Taut so anschaulich in seiner Publikation von 1924 zum Neuen Wohnen in Bild und Text vorführte (Abb. 23-24): Von den Fenstern wird alles bis auf den eigentlich nötigen Vorhang weggenommen [...], überflüssige Kissen, Decken, Nippes, Vasen, Bildchen, Fächer, Haussegen, Sprüche und alles dies gehen den Weg des Irdischen. Ebenso überflüssige Vorleger, Fellchen über Teppichen und noch so vielerlei [...]. Hat man dies herausgenommen, so wird man nach Entfernung der überflüssigen Möbel

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Wohnen im Hotel [...] die übriggebliebenen [...] verbessern; selbst die schlechtesten Ramschmöbel haben noch einen konstruktiven Körper [...]. Muschelaufsätze, Aufbauten über Sofas, Troddeln, Fransen usw. sind leicht abzunehmen, im übrigen werden die Auswüchse vom Tischler abgesägt. 61

Abb. 23: Bruno Taut: Umgestaltung eines bürgerlichen Wohnzimmers, 1924

Innerhalb dieser radikalen Aufräumarbeiten bietet sich also einerseits der Raum für neue Subjektkonstruktionen, andererseits aber kann sich in dieser Leere erneut das Unheimliche einnisten, wie Anthony Vidler anschaulich darlegt. Die [...] modernen Architekten wollten die Kultur von dem befreien, was Henry James dieses belastende „Gefühl für die Vergangenheit“ nannte, sie versuchten, Spuren davon aus ihrer Architektur zu eliminieren. [...] unter die ungeordneten Innenräume und die ungesunden Lebensbedingungen von Jahrhunderten [sollte ein] Schlußstrich [gezogen werden].62

61 Taut 2001 (1924), S. 61. 62 Vidler 2002 (1992), S. 91.

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Poetik des Privatraums Abb. 24: Bruno Taut: Umgestaltung eines Arbeiterwohnzimmers, 1924.

Die leeren Flächen des Rothschen Textes stehen analog zu diesen blank geputzten Zimmern, wie sie auch in der Malerei dargestellt wurden. Nie zuvor konnte die Dachkammer eines Hauses so sauber und zugleich so leblos gezeichnet werden (Abb. 25), der Speicher, der ebenso wie der Keller und die eigentlichen Wohn-Zimmer einer Generalinventur unterzogen wurde, sollte im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr speichern.63 Noch Gabriel Dan wird zum Träger dieser nunmehr unheimlichen Leere, dieser sauberen Fläche, auf der die Geschichten des Hotels projiziert werden können. Aber unweigerlich produzierte dieser Hausputz seine eigenen Gespenster, die nostalgischen Schatten all jener „Häuser“, die jetzt nur noch Geschichte sein oder gar abgerissen werden sollten. Auf sein knochiges Skelett reduziert und bis zur Unkenntlichkeit ins Zellgewebe der Unité und der Siedlung verwandelt,

63 Bruno Tauts Inventur des Hauses beginnt interessanterweise auf dem Speicher, geht dann in den Keller und inspiziert erst zum Schluss die Wohnung, vgl. Taut 2001 (1924), S. 60.

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Wohnen im Hotel bildete das Haus selbst ein Objekt der Erinnerung [...]. Das Haus war zu einem Instrument der allgemeinen Sehnsucht geworden.64

Abb. 25: Ernst Thoms, Dachboden, 1926.

Heimat als Zuhause ist bei Roth eine fiktionale Angelegenheit geworden. Dan erträumt sich diese kindliche Heimat, die tatsächlich nie so existiert hat, er entwirft sich für die Zeit seines Aufenthaltes ein Zuhause und einen Beruf, aber er befindet sich in einer Phantasiewelt. Dass es sich trotz aller Verflechtung mit dem Lodzschen Hotel Savoy65 (Abb. 26) vor allem um ein solches Traumprodukt handelt, darauf deutet allein die schier unglaubliche Anzahl von 864 Zimmern, die über einen einzigen Lift versorgt werden müssen. Damit verfügt das Rothsche Savoy über mehr als doppelt so viele Zimmer wie sein Namensbruder in London, das erste Hotel Savoy (1884-1889), das damals bereits mit 6 Liften ausgestattet war: Das Londoner Haus führte in die Hotelgeschichte nicht nur den Namen César Ritz ein, der dort als Hotelmanager seine Karriere begann, es sollte auch zum Sinnbild aller Palasthotels werden. Erbaut im Auftrag des Impresario Richard d’Oyly Carte,66 zeugt es von der Stel64 Vidler 2002 (1992), S. 92. 65 Vgl. David Bronsen verweist auf das Hotel Savoy in Lodz (David Bronsen, Joseph Roth, Eine Biographie, 1974, S. 250); vgl. auch Joseph Roth, Briefe aus Polen, Russische Überreste, die Textilindustrie in Lodz (Frankfurter Zeitung, 19.7.1928), in: ders., Werke 2, 1990, S. 949-953; hier S. 950: „Ich mache diese Erfahrungen augenblicklich in Lodz, dem „polnischen Manchester“. Ich wohne in einem großen Hotel, dessen neuzeitlicher Komfort in einem auffallenden Gegensatz steht zum eingestandenen Religionsbekenntnis seiner meisten Gäste.“; vgl. auch Grieser 1974, S. 105-118. 66 Zur Geschichte des Londoner Savoy siehe: Watkin, 1984, S. 19/20; Richard H. Penner, Hotel, in: The Dictionary of Art, hrsg. von Jane Turner, 1996, S. 786-789, hier S. 786.

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Poetik des Privatraums lung des Hotels als Bühne der Welt, als Traumprodukt, als das auch das Hotel des Rothschen Romans am Ende untergehen muss. Für den Protagonisten birgt dieses überholte Architekturmodell allerdings ein Versprechen von Zuhause, das Joseph Roth den Entwürfen des Neuen Bauens – anders als Kracauer noch – nicht zuerkennt. Gut sechs Jahre nach der Publikation des Romans vertritt Roth die Meinung, dass das neusachliche Wohngehäuse ebenso wie die neusachliche Literatur gescheitert seien. In seinem Abgesang auf diese literarische Strömung heißt es explizit: In diesem heillosen Wust der Verwechslungen passiert es ihm [dem Leser, I.L.], daß er die ‚Wahlverwandtschaften‘ für ‚unsachlich‘ hält, einen Sportroman in der Illustrierten für ‚sachlich‘ – und wie das moderne, hygienische Haus, in dem er wohnt (oder zu wohnen sich einbildet) vor lauter Licht, Luft, Sonne und Gesundheit und blendender Weiße eher ein Luftbad ist, eine Schießstätte, ein Tummelplatz, ein Rekonvaleszentenheim – alles, nur kein Wohnhaus –, so ist das, was er für Literatur hält: Memoirenwerk, Dokument, Zeugnis, privates Geständnis, Leitfaden für ‚moderne Probleme‘ – alles, alles, nur keine Kunst.67

Man muss sich erst einmal klar darüber werden, was Roth hier als Aufgabe der Architektur und Literatur indirekt mitformuliert: das Haus solle eindeutig als Wohnhaus erkennbar und unverwechselbar mit anderen Nutzformen wie Schießstätte, Luftkurort oder Tummelplatz sein, denen der offene Baukörper zur Funktionserfüllung dient. Ein Luftbad oder eine Schießstätte könnten als solche nicht genutzt werden, wären sie nicht entsprechend weitläufig und offen, licht- und luftdurchströmt konzipiert. Ein Wohnhaus aber bedarf solcher Luftigkeit nicht, es erinnere dann eher an hygienische Krankenhausbauten. Implizit fordert Roth damit geschlossene, Geborgenheit symbolisierende Architekturelemente ein, die den Bewohner in kein Glashaus setzen, sondern ihn mit wärmenden Mauern umgeben: Geschützt vor Licht, Luft und Sonne soll er ein Zuhause bewohnen. Der Architektur hat er damit eine dienende Funktion zugeschrieben. Anders urteilt Roth über die Literatur. Ihr macht er gerade den Vorwurf, nicht autonom zu sein, sondern nur Dokument moderner Probleme. Von ihr verlangt er stattdessen dezidierten Kunststatus. Was er der Literatur zum Vorwurf macht, nur privates Gedächtnis zu sein, fordert er von der Wohnhausarchitektur: Ausdruck des Privaten, des Individuellen zu sein. Sicher formuliert Roth damit auch den prinzipiellen Unterschied beider Bereiche, die Architektur muss, so sehr sie als Kunst anerkannt sein möchte, immer auch dienen, sich den Gesetzten der Statik unterwerfen, die Literatur kann sich freier entfalten und autonomer agieren. Dennoch ist es nicht nur von Interesse, dass Roth der Literatur einen Status zurückgeben möchte, von 67 Roth, Werke 3, 1991 (1930), S. 164.

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Wohnen im Hotel dem sich die Neue Sachlichkeit, indem sie sich dem Alltag und seinen kleinen privaten Probleme zuwandte, bewusst abgewandt hat, sondern auch der Architektur eine Aufgabe zuweist, die genau dies sein soll: Gehäuse für die kleinen, individuellen Vorkommnisse, ja Ausdruck des Privaten überhaupt. Abb. 26: Hotel Savoy, Lodz, Postkarte von 1915.

Es mag deshalb nicht verwundern, dass Roth seinen Protagonisten Gabriel Dan auf der Suche nach dem Ziel seines Kriegsheimkehrerdaseins nicht in einem solchen modernen Wohnhaus einkehren lässt; aber warum wählt er dann das Hotel? Es gibt wohl keinen Architekturtypus, der einerseits auf Dauer konzipiert ist (im Gegensatz zu den Baracken für Kriegsheimkehrer etwa) und andererseits zugleich dem permanenten Wechsel seines Publikums dient. Nicht umsonst ist das Hotel in den 20er Jahren zum Symbol der Obdachlosigkeit des modernen Menschen aufgestiegen. Eben in dieser Mittelstellung, zwischen momentaner (Baracke) und monumentaler, auf die Ewigkeit zielender (Villen)Architektur, kann das Hotel zu einem Ort werden, an dem Heimkehr und Selbstentwurf gelingen. Ebenso wie der Autor in der Erinnerung Kiepenheuers nur in Hotels 189

Poetik des Privatraums ein Zuhause finden konnte, in Wohnungen aber immer auf dem Absprung war, so stellt das Savoy nicht nur ein Reise-, sondern vornehmlich ein Wohnhotel dar. Eine Unterkunft, in der man sich wie in einer Mietwohnung auch für längere Zeit niederlassen kann.68 So „wohnt“ beispielsweise Isidor Schnabel „schon das sechste Jahr im Hotel“ (221), der Vetter Alexander geht fälschlicherweise davon aus, dass „Gabriel so freundlich [ist, ihm] seine Wohnung zu überlassen“ (190), und er meint damit just das Hotelzimmer 703, das Dan bezogen hat. Und schließlich gibt auch Stasia zu verstehen: „Man kann aber doch nur – ich meine unsereins – im Hotel wohnen“ (162). Bietet das Hotel also prinzipiell ein Obdach, und sei es nur für eine Nacht, so kann es vor allem als Wohnhotel, wie es im Savoy in Erscheinung tritt,69 Teil einer Poetik des Privatraums werden. Architekturgeschichtlich ist der Spagat zwischen Hotelzimmer und Wohnraum keineswegs so groß, wie man annehmen könnte, denn zum einen greift das Hotel bereits etymologisch auf das französische hôtel zurück, das synonym zur Villa, zum herrschaftlichem Wohnhaus gebraucht wird,70 zum anderen ist das Hotel mit seinen technischen Neuerungen eines der Vorbilder für den Entwurf von Wohnungen, und zwar bereits im 19. Jahrhundert. Jene Architekten, die die Inneineinrichtung der Hotels entwarfen, planten häufig auch das Interieur der Luxusdampfer.71 Im Civil Engineer and Architect’s Journal von 1851 ist über die Neueröffnung des Great Western Hotel zu lesen: The construction of such establishments has led to many ingenious appliances which will have their future place in domestic architecture. 72

Hotelbauten befinden sich folglich auf dem Höchststand technischer Neuerungen im Bereich des Wohnens, und von diesen An-

68 „als Dauermieter“ wohnen später auch die Jägeroffiziere im Hotel Brodnitzer im ‚Radetzkymarsch‘ (Joseph Roth, Radetzkymarsch, in: ders., Werke 5, Romane und Erzählungen 1930-1936, hrsg. von Fritz Hackert, Köln 1990, S. 137-456, hier S. 260); vgl. dazu Mueller 1996, S. 197. 69 Luxushotels und Kurhotels, Reisehotels, Motels und Appartementhotels zählen zu den verschiedenen Bautypen des Hotels; vgl. Meyder 2006, S. 231-233, und Moritz Ernst Lesser, Hotelbauten, in: Wasmuths Lexikon der Baukunst, Bd. 3: H bis Ozo, Berlin 1931, S. 161-165, hier S. 164/165, der die Reisehotels als Passantenhotels bezeichnet und sie als reine Übernachtungshotels definiert, während er Luxus- und Kurhotel als Wohnhotels bezeichnet. 70 Simone Meyder, Hôtel, in: Ernst Seidl (Hg.), Lexikon der Bautypen, Funktionen und Formen der Architektur, Stuttgart 2006, S. 233-236. 71 Vgl. Watkin 1984. 72 Zit. in: Watkin 1984, S. 17.

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Wohnen im Hotel nehmlichkeiten des Hotelbaus ist nicht nur Roths Ich-Erzähler begeistert, konkret von „Glocke“ und „Druckknopf, de[m] elektrische[n] Taster“ (151), von Wasser, Seife und englischem Klosett (149), auch Ludwig Hilberseimer, der von 1929 bis 1933 am Bauhaus in Dessau Wohnungswesen und Städtebau unterrichtet und an der Weißenhofsiedlung mit einem Einfamilienhaus beteiligt war, zeigt sich als Hotel-Liebhaber. Im amtlichen Katalog zur Stuttgarter Siedlung schreibt er: Das Mietshaus wird sich mehr und mehr von seinem falschen Vorbilde, dem Einzelhause, befreien und dem Hotel, der heute komfortabelsten Wohnform, immer ähnlicher werden.73

Und ebenfalls 1927 ist in seinem Traktat über Großstadtarchitektur nachzulesen: Die einzelnen Wohnungen, deren Komfort mit allen Mitteln der Technik zu steigern ist, sind vollkommen eingerichtet [...]. Im Falle eine Wohnungswechsels ist nicht mehr der Möbelwagen, sondern nur noch die Koffer zu packen. Das Vorbild der Wohnung ist nicht mehr das Einzelhaus mit seinen Unzulänglichkeiten als Massenhaus, sondern das auf alle Bequemlichkeit und vollkommenen Komfort eingestellte Hotel.74

Für seine Villen-Blocks plant Le Corbusier „eine Hotel-Organisation“, die „Tag und Nacht [...] diensteifriges Personal zur Verfügung“ stellt, sowie ein Raumprogramm mit Eingangshalle, der Hotellobby vergleichbar, Restaurant und Tennisplätzen.75 Ein Blick in die Publikation von Hermann Gescheit über Neuzeitliche Hotels und Krankenhäuser76 aus dem Jahre 1929 macht schließlich deutlich, dass insbesondere alles Wohnen, welches sich nicht in Einfamilienhäusern abspielt, eben sämtliche Formen des gemeinschaftlichen Wohnens, und sei es nur in Mehrfamilienhäusern, in den 20er Jahren parallel zum Hotelbau gedacht wird. Seien es Theodor Fischers Entwürfe zu einem Ledigenheim oder Hans Schumachers Zeichnungen eines Wohnhotels in Köln – hier wie dort werden gleichartige Wohnzellen aneinander gereiht, hier wie dort gilt es, Gemeinschaftseinrichtungen zu planen, von denen das Hotel freilich stets 73 Ludwig Hilberseimer, Die Wohnung als Gebrauchsgegenstand, in: Bau und Wohnung (die Bauten der Weißenhofsiedlung in Stuttgart errichtet 1927 nach Vorschlägen des Deutschen Werkbundes im Auftrag der Stadt Stuttgart und im Rahmen der Werkbundausstellung ‚Die Wohnung‘), Amtlicher Katalog, hrsg. vom Deutschen Werkbund, Stuttgart 1927, S. 69-76, hier S. 70. 74 Hilberseimer 1978 (1927), S. 19. 75 Le Corbusier 2001 (1922), S. 186. 76 Hermann Gescheit, Neuzeitliche Hotels und Krankenhäuser, ausgeführte Bauten und Entwürfe, Berlin 1929.

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Poetik des Privatraums die meisten besitzt: Restaurants, Bibliotheken, Schreibzimmer, Bar, Frisör und dergleichen. Das Hotel wird zu einer Stadt en miniature und erneut erscheinen öffentliche und private Zonen aufs engste verzahnt. Dieses Konzept aber – um nochmals auf Hilberseimer zurückzukommen – das Hotel und Wohnung in eins fallen lässt, fordert geradezu dazu heraus, den Bewohner solcher Stätten als nunmehr heimat- und transzendental obdachlos, als Nomaden zu beschreiben, wie das zahlreiche Autoren in der Nachfolge Georg Lukács und Theodor W. Adornos getan haben.77 Georg Lukács spricht in seiner 1916 veröffentlichen Theorie des Romans von der „transzendentalen Obdachlosigkeit“ bzw. „transzendentalen Heimatlosigkeit“ des modernen Menschen,78 und Theodor W. Adorno verbindet 1951 diesen Gedanken konkret mit dem modernen Wohnen, wenn er in den Minima Moralia schreibt: Will man der Verantwortung fürs Wohnen ausweichen, indem man ins Hotel oder ins möblierte Appartement zieht, so macht man gleichsam aus den aufgezwungenen Bedingungen der Emigration die lebenskluge Norm. Es gehört zur Moral, nicht mehr bei sich selber zuhause zu sein.79

Hilberseimer jedoch beschreibt ja nicht nur, wie diese Obdachlosigkeit, die Umzüge in Zukunft einfacher zu gestalten sind, sondern konzipiert darüber hinaus seine Wohnung von vornherein nicht für den einzelnen, dauerhaften Bewohner – es ist nicht eine Villa für die Familie Böhlaug – sondern für den modernen Menschen. Für diesen neuen Menschen gilt, was Elizabeth Bowen in den Manners schrieb: „The rules we learnt in childhood are as useless, as impossible to take with us, as the immutable furniture of the family home.“80 Das Hotel, Metapher für die moderne Wurzellosigkeit, ist solchermaßen – und das gilt es zu betonen – mit dem Wohnen, der Heimat und dem Privaten verwoben: die Vorstellungen der Architekten hatten beileibe nicht dessen Ausschaltung, sondern ihren Neuentwurf im Sinn. Und auch Roth wendet sich – so Telse Hartmann im Hinblick auf Roths Diaspora-Konzept – gegen einen „Diskurs über Fluchtund Wanderungsbewegungen, in dem die Symbolik des Nomadischen eine spezifisch“ und einzig „negative Ausformung erhielt“. Roth scheint im Gegenteil die Diaspora gar als positiven Nomadismus verstanden und „zum Modell menschlicher Existenz generell“ 77 Zur Kontinuität dieser Gedankenfigur vgl. Matthias 2005, S. 117-139 78 Georg Lukács, Die Theorie des Romans, 2. Aufl. Neuwied, Berlin 1974, S. 32/52. 79 Theodor W. Adorno, Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001 (1951), S. 40. 80 Elizabeth Bowen, Manners, The Statesman, in: dies., Collected Impressions, London 1950, (1936), S. 67.

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Wohnen im Hotel erklärt zu haben.81 Ein positiver Nomadismus, wie ihn etwa auch der Architekt Anton Brenner mit seinen Kleinstwohnungen (als „Schlafwagen“ und „Kabinenkoffer“ bezeichnet) verfolgt hat82 oder wie er sich in einem Artikel von Moritz Ernst Lesser über Hotelbauten in Wasmuths Lexikon der Baukunst von 1931 dokumentiert: Die Entwicklung, die der Hotelbau in Zukunft nehmen wird, ist kaum vorauszusehen und hängt vollständig von dem ja unbegrenzten Fortschritt der Erfindungen ab. [...] Es ist [...] möglich, daß jeder Mieter dann in seiner Wohnung, wie heute sein Bade- oder Schlafzimmer, ein Reisezimmer besitzt, eine Art Stahlkabine mit Bett, Schreibtisch und Schränken darin, nach international festgelegtem Typ genormt, die er bei der Abreise verschließt, durch einen Druck auf den elektrischen Knopf wie ein Liftkupee auf das Dach seines Hauses steigen läßt, dort an das Flugzeug passenden Typs ankoppelt, um so in seinem eigenen Zimmer fliegend auf dem Dachgarten des gewünschten Hotels zu landen. Dies Hotel dürfte dann nur ein Stahlgerippe sein mit einzelnen, zu den internationalen Normen der Reisezimmer passenden Fächern, in welche die von den Flugzeugen losgekoppelten Kabinen eingefügt werden, so daß der ankommende Gast in seinem eigenen Reisezimmer wohnen bleibt.83

Deutlicher kann der Wunsch, die Fremde und das Fremde selbst auf Reisen auszuschließen bei gleichzeitiger Verherrlichung des Privaten kaum sein. Es geht in diesem Artikel des Architekten Moritz Ernst Lesser84 weder um eine transzendentale Heimatlosigkeit, wie sie Bettina Matthias durch zahlreiche weibliche Protagonisten der Hotelliteratur illustriert sieht, noch um die Darstellung „einer Lebensform, die nichts anderes sein will als ‚transzendental heimatlos‘“85, hier wird vielmehr eine Neudefinition von Privatheit und Heimat betrieben. 81 Hartmann 2006, S. 162-164. In ihrem Kapitel über ‚die Protagonisten der frühen Romane: Nomadische Figuren par excellence?‘ erkennt sie zwar zu Recht, dass bereits hier der Unbehaustheit der Figuren eine positive Konnotation zugeschrieben wird (S. 169), übersieht aber, dass schon im Hotel Savoy eine Neukonzeption von Heimat und Zuhause stattfindet, die zudem mit dem Wohndiskurs der 20er Jahre eng verbunden ist. 82 Anton Brenner, in: Faller 1996, S. 61. 83 Lesser 1931, S. 164, 165. 84 Zu dem Architekten Moritz Ernst Lesser vgl. Myra Warhaftig, Erinnerung an Moritz Ernst Lesser, Bauwelt 10/2002, S. 4; über den jüdischen, 1882 geborenen Architekten ist kaum etwas bekannt. Nach seinem Studium an der Technischen Universität Berlin machte er sich 1907 selbständig und hinterließ zahlreiche Bauten in und außerhalb Berlins; er errichtet u.a. 1911/1912 das Hotel Eden in Berlin (zerstört), das erste Hotel mit Dachgarten, zu dessen Stammgästen Heinrich Mann und Marlene Dietrich zählten (vgl. www.luise-berlin.de/lexikon/Mitte/Hotel_Eden.htm-4k bzw. Kathrin Chod, Herbert Schwenk, Hainer Weißpflug, Berliner Bezirkslexikon Mitte, Berlin 2001). 85 Matthias 2005, S. 138.

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Poetik des Privatraums Dabei mutet die Wohn-Reisezelle Moritz Ernst Lessers wie der Prätext zu einem Entwurf Le Corbusiers aus den 40er Jahren an, hier werden ganze Wohnungen in das tragende Skelett des Baukörpers wie Flaschen auf einen Flaschenhalter gezogen – allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass Le Corbusiers Wohnzellen nach der Installation ihre Mobilität verlieren (Abb. 27-28).86 Abb. 27: Le Corbusier, Im Verlauf des Baus der Wohneinheit von Marseille beginnt man das Grundprinzip des ‚Flaschenhalters‘ und der ‚Flasche‘ zu entdecken, Le Corbusier in: Mein Werk, 1960.

Lessers utopischer Raum behält die Beweglichkeit der Fahrkabine eines Autos, und auch dieses ist als herausragende Ingenieurleistung in der Architektur imitiert worden: 1921 entwirft Le Corbusier ein Typenhaus, das er Citrohan nennt „um nicht Citroën zu sagen [...] Mit anderen Worten, ein Haus wie ein Auto.“87 Abgesehen von den motivischen Anleihen, sind moderne Wohnbauten dem Auto aber insbesondere strukturell vergleichbar: hier wie dort ist die Grenze zwischen Innen- und Außenraum vornehmlich über das durchsichtige Glas markiert. Solchermaßen von allen Seiten einsehbar, könnte es keinen der sozialen Kontrolle besser unterstellten Ort geben als das Auto, und dennoch wird das Auto als einer der

86 Le Corbusier, Mein Werk, mit einem Vorwort von Maurice Jardot, Stuttgart 2001 (1960), S. 160/161. „Von Le Corbusier stammt der Text, Le Corbusier hat die Bildauswahl getroffen, und Le Corbusier hat die Typographie bestimmt“, erläutert der Klappentext die ungewöhnliche Perspektive, in der Le Corbusier von sich immer wieder in der dritten Person berichtet. 87 Le Corbusier 2001 (1922), S. 179.

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Wohnen im Hotel privatesten Räume genutzt und empfunden, es ermöglicht die freie, die individuelle Mobilität88 und körperliche Intimität. Abb. 28: Le Corbusier, Die ‚Flasche‘, das ist die Wohnung; der ‚Flaschenhalter‘, das ist das tragende Gerüst, Le Corbuser, in: Mein Werk, 1960.

Diese paradoxe Struktur von einerseits Öffentlichkeit, andererseits Privatheit durchzieht den gesamten Roman und prägt bereits dessen Schauplatz, das Hotel Savoy. Mit seiner Lobby, seinem Fünf-UhrSaal, seiner Portiersloge, mit Friseur, Lift und Bar89 reiht es sich ein in die Tradition der Palasthotels, die typologisch auf das Grandhotel zurückgreifen, auf die europäische Bauform des Palasts, erstmalig aber nicht im feudal geprägten Europa, sondern im Ursprungsland der Demokratie, in Amerika auftauchen. Dem Protagonisten erscheint das Savoy also nicht von ungefähr als Pforte zum Westen,90 und der Historiker Daniel J. Boorstin nennt die Grandhotels aus diesem Grund auch „palaces of the public“, denn hier wird der bürgerlichen Öffentlichkeit zugänglich gemacht, was in der alten Welt nur dem Adel von Geburt her offenstand. Das Hotel wird zu einem offenen, zu einem öffentlichen Raum, die Hotelhalle wird zum Tummelplatz, die Welt geht im Hotel ein und aus.91

In diesem öffentlichen Raum versucht Gabriel Dan nicht nur ein Zuhause, sondern auch einen Beruf zu finden, sich eine Identität zu

88 Vgl. zu diesem Aspekt auch das Kapitel zu Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko. 89 Zum Raumprogramm der Palasthotels siehe: Watkin 1984, S. 13. 90 Wobei mit Westen hier nicht Amerika, sondern das im Vergleich zum Osten stärker amerikanisierte Europa gemeint ist: „Europäischer als alle andern Gasthöfe des Ostens erscheint mir das Hotel Savoy“ (149). 91 Daniel J. Boorstin, The Americans, The Democratic Experience New York, 1973, S. 350, Übersetzung zitiert nach: Mueller 1996, S. 191.

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Poetik des Privatraums konstruieren, er wagt einen Neuentwurf als neusachlicher Schriftsteller. Als solcher scheint er auf den ersten Blick mit jenen Figuren neusachlicher Texte nicht zusammenzupassen, die sich als Stenotypisten (Irmgrad Keuns Gilgi), Verkäufer (Hans Falladas Pinneberg) und Propagandisten (Martin Kessels Herr Brecher) durchs Leben schlagen, als Angestellte der Weimarer Republik. Aber Dan ist ja selbst ein Angestellter, ein Autor im Auftrag des Millionärs, in seiner Kreativität ähnlich abhängig wie die anderen Existenzen, und seine Lebensform endet denn auch mit der Abreise Bloomfields. Gabriel Dans Haltung als neusachlicher Autor zeichnet ihn als Leerfläche, als Hohlraum, als Sprachrohr des Schauplatzes, mit dessen Hilfe sein poetisches selffashioning gelingt: die Umsetzung einer Poetik der Reportage. Diese Leerfläche findet sich nicht nur in der Konstruktion des Protagonisten, sondern auch auf der Ebene des discours: eines offenen, durchlöcherten Textes, der sich strukturell mit den Entwürfen neusachlichen Bauens vergleichen lässt. Ob dieses Nichts, dieses Vakuum aber als unheimlich interpretiert wird, wie es im vorliegenden Text auf der Ebene der histoire der Fall ist (in derselben Weise beschreibt auch Kracauer die Hotelhalle92 als bloße Lücke, innerhalb der man sich vis a vis de rien befindet, Scheinindividuen, Gespenstern gegenüber, die ungreifbar vorüberziehen),93 oder ob man dieses Nichts, diese leere Fläche als Möglichkeit betrachtet, auf der ein neuer Mensch entworfen werden kann, das zeigt den Unterschied zwischen histoire und discours, zwischen der Rezeption neusachlicher Bauten auf Seiten des Romans und den Ambitionen der Architekten. Indem Dan einen Selbstentwurf wagt, macht er sich zum Medium des Hotels und stellt genau das unter Beweis, was Bruno Taut von der modernen Architektur gefordert hat: „Der Raum ist im wahrsten Sinne des Wortes Nichts, die Menschen allein alles.“94 Als neusachlicher Autor nimmt Dan die Stelle des modernen Raumes ein, wird selbst zu einer leeren Fläche, auf der die Geschichten der Menschen eingeschrieben werden können – und Gabriel gelingt damit der historistischen Architektur des Savoy zum Trotz der Entwurf eines ‚modernen Menschen‘. Die paradoxe Struktur, die wir auf der Ebene der histoire (in der Form des unheimlichen Hotels), aber auch auf der des discours ausmachen konnten, liegt bereits in der Thematik des Kriegsheimkehrers begründet, Fremde und Heimat erscheinen nicht länger als separate Begriffe, als unterschiedliche Orte auf der Landkarte. Für die Kriegsheimkehrer ist die Heimat keine Heimat, die Fremde keine 92 Schon Mueller verweist in seinem Aufsatz über Hotelgeschichten auf Kracauers Kapitel aus dem Detektiv-Roman, vgl. Mueller 1996, S. 198. 93 Kracauer 2006 (1922-1925). 94 Taut 2001 (1924), S. 17.

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Wohnen im Hotel Fremde mehr. Die Frage Bloomfields, ob Dan und Zwonimir in dieser Stadt Fremde seien, bejaht Gabriel deshalb auch nicht, sondern antwortet: „Wir sind Heimkehrer [...] und halten uns nur zum Spaß hier auf“ (216). Zwonimir wird noch deutlicher, als ihn Polizisten mit dem Hinweis: „Du bist ein Fremder“, zurechtweisen wollen und erwidert: „Ich bin ein Heimkehrer und darf mich hier aufhalten, Freund, weil meine Regierung mit der deinigen eigens deswegen einen Vertrag geschlossen hat. Das verstehst du nicht: es gibt in meinem Land der Eurigen genug, und wenn ihr mir hier ein Haar krümmt, schlägt meine Regierung daheim den Eurigen die Köpfe ab.“ (205/206)

Reise und Verortung, Dynamik und Statik, Hotel und Wohnung, Fremde und Heimat haben ihre eindeutigen Grenzen verloren; die Heimat ist für Dan nicht mehr das Zuhause, ein solches findet er übergangsweise nur noch in der Fremde, hier im Savoy. Hier kann er seinen Traum von Heimat einen Moment lang leben, beinahe so, als hätte er gemäß der Vision Lessers sein privates Zimmer in den Osten transportiert. Noch 1925 schreibt Joseph Roth: Seitdem ich in feindlichen Ländern gewesen bin, fühle ich mich in keinem einzigen mehr fremd. Ich fahre niemals mehr in die ‚Fremde‘. Welcher Begriff aus einer Zeit der Postkutsche.95

Und 1929 berichtet er in seinem Feuilleton Abschied vom Hotel von dem modernen Paradoxon Heimat: Ich könnte das Hotel zum Heim degradieren, wenn ich es nicht ohne Not verließe. Ich will hier heimisch sein, aber nicht zu Hause. [...] Ich bin fremd in dieser Stadt. Deshalb war ich hier so heimisch.96

Nicht von der Obdachlosigkeit des modernen Menschen sollte deswegen gesprochen werden, sondern mit Elizabeth Bowen von der Dezentralisierung der Heimat: „All Ages are restless ... But this age is more than restless: it is decentralised.“97 Eine Dezentralisierung, die die Vorstellungen von Heimat in überall einfügbare ‚Privatkabi95 Joseph Roth, Die weißen Städte, in: ders. Werke 2, 1990 (1925, posthum: 1975/76), S. 451-507, hier S. 453. 96 Aus der Artikelserie ‚Hotelwelt‘ von Joseph Roth, letzter Artikel: Abschied vom Hotel (24.2.1929, Frankfurter Zeitung), in: ders. Werke 3, 1991, S. 332, hier S. 28, 30. 97 Elizabeth Bowen, To the North, London, New York 1987(1932), S. 170; in der deutschen Ausgabe: „Aber dieses Zeitalter [...] ist weit mehr als rastlos. Es hat kein Zentrum mehr.” Elizabeth Bowen, Die Fahrt in den Norden, Frankfurt am Main 2003, S. 329.

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Poetik des Privatraums nen‘ projiziert, deren Bewohner niemals gänzlich ankommen und niemals gänzlich in der Fremde sind. In einem Brief an seinen Verleger Gustav Kiepenheuer äußert sich Roth in eben diesem Sinn: Ich habe keine Heimat, wenn ich von der Tatsache absehe, daß ich in mir selbst zu Hause bin und mich bei mir heimisch fühle.98

Für den Identitätsentwurf Gabriel Dans bedeutet diese Dezentralisation eine ähnliche Disposition wie für Kracauers Ginster: zwei Antihelden, die als Leerfläche und Hohlraum (Gabriel Dan) oder als schwereloses Nichts (Ginster) gerade in der gesellschaftlich definierten Fremde ein fiktives, zeitlich begrenztes ‚Beinahe-Zuhause‘ finden, zwei Antihelden, denen Fremde und Heimat verschwimmt, die Öffentlich und Privat nicht mehr antithetisch leben können. An die Stelle einer Grenzziehung tritt eine neue Zone des Dazwischen: In die Wohnungen der Armen gelangt man unmittelbar, zwischen ihnen und der Straße ist eine ständige Beziehung vorhanden. Aber die Reichen haben zwischen sich und die Straße das Vorzimmer gelegt. [...] Ich liebe die Reichen nicht, weil sie das Vorzimmer erfunden haben.99

So sehr die Schilderungen des Daheimgebliebenen (Ginster) oder Kriegsheimkehrers (Dan) auch insofern als typisch zu bezeichnen sind, als sie für eine ganze Generation junger Männer einstehen, so sind die Romane doch mehr an deren konkreten Identitätsentwürfen interessiert: Ginster wird weniger als Soldat, denn in seiner individuellen Geschichte der Verweigerung dargestellt und Dan wohnt weder bei den Kriegsheimkehrern, noch engagiert er sich in der Arbeiterbewegung, die schließlich auch in der kleinen Stadt zur Revolution führen und das Hotel in Brand setzen wird. Während Dietmar Mehrens von einer „expressionistisch geprägten Parabel“ und einem echten ‚Klassenkampf‘-Roman spricht,100 wird hier entgegengesetzt argumentiert. In der Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen Formen von Privaträumen und Wohnentwürfen aber werden bei Kracauer ebenso wie bei Roth Identitätsentwürfe erprobt, die sich durch radikale Offenheit auszeichnen: Identitäten, die sich kaleidoskopartig wandeln (Ginster) oder „wie ein Regenbogen in allen Farben schillern“ (150) – das Subjekt und sein Gehäuse haben ihre festen Grenzen verloren, ohne sich aufzulösen. Und erneut ist es ein Innenraum, der zum Ausgangspunkt gewählt wird, ein Innenraum, der 98 99 100

Joseph Roth, Briefe, hrsg. von Hermann Kesten, Köln 1970, S. 164. Joseph Roth, Das Wartezimmer (27.1.1924, Vorwärts), in: ders.: Werke 2, 1990, S. 37-40, hier S. 37. Mehrens 2000, S. 59, 60.

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Wohnen im Hotel diese Grenzen schon als Bautyp zur Debatte stellt. Wenn es heißt, die ganze Welt gehe im Hotel ein und aus, dann bedeutet das zugleich, dass ein realer Außenraum gar nicht mehr betreten werden muss, dass das Palasthotel eine Stadt im Kleinen ist, wie schon David Watkin bemerkt.101 Der Entwurf desselben ist also ein regelrechter Stadtentwurf mit Theatersaal, Versammlungsraum und Bibliothek, Friseursalon, Restaurant und Bar, wobei die einzelnen Zimmer die Position der Wohnungen einnehmen – ebenso, wie auch Le Corbusier seine Villen in der ville radieuse gebaut hat und Hilberseimer seine Hochhausstadt: die Wohneinheiten werden über eine zentrale Hoteleinrichtung versorgt. Solchermaßen scheint sich in den 20er Jahren die neue Zone des Dazwischen vor allem im Nahraum, im Innenraum, im Privatraum zu etablieren: am Ende des Romans besteigt Gabriel Dan den Zug Richtung Wien-Leopoldstadt, steigt ein in seine Wohn-Reisezelle, die ihn in eine gesellschaftlich definierte Heimat bringt, die aber nie heimischer oder fremder war als das Hotel. Nicht die Obdachlosigkeit des modernen Menschen, sondern die Dezentralisierung und Umcodierung von Heimat stehen mithin in Roths Roman zur Debatte.

101

Watkin 1984, S. 13.

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ÖFFNUNGEN UND VERSCHLIESS ERSCHLIESSUNGEN SSUNGEN DER (WOHN-)KÖRPER. IRMGARD KEUNS GILGI – EINE VON UNS (1931)* ZWISCHEN

BERÜHRUNGSEUPHORIE UND UND EKEL

Irmgard Keuns Gilgi – eine von uns (1931) ist ein Adoleszenzroman, der in dieser besonders kritischen Phase des Lebens die biographische Orientierung der Protagonistin als eine vornehmlich räumliche beschreibt. Gisela Kron, genannt Gilgi – sie ist Schreibkraft in einem Büro und Mieterin eines Mansardenzimmers, das sie nur gelegentlich besucht, denn eigentlich wohnt sie noch bei den Eltern –, befindet sich auf der Suche nach ihrer Identität und wie schon vor ihr Gabriel Dan und Ginster durchwandert auch sie die bürgerlichen Wohn-Räume erfolglos, muss sich einen eigenen Privatraum konstruieren. Anders aber als ihre männlichen Kollegen, leidet Gilgi an ihrer Grenzenlosigkeit und Instabilität. Sie braucht ein Ziel, gesteht sie ihrem Geliebten Martin, der genau entgegengesetzt Meister des ziellosen Flanierens ist,1 und so wird der zwar labile, aber dennoch zielgerichtete Innenraum eines Zugabteils, in dem sie sich am Ende des Romans befindet, zu ihrer Heimat: „D-Zug Köln-Berlin ist dein Zuhause ...“ (260). Irmgard Keun schildert in ihrem Roman eine Protagonistin, welche die programmatischen Anforderungen des Wohndiskurses an das Subjekt einerseits offensiv und explizit übernimmt, andererseits aber daran verzweifelt – noch Keuns zweiter Roman Das kunstseidene Mädchen beschäftigt sich mit der ‚Heimat‘, wie der Arbeitstitel Mädchen ohne Bleibe erkennen lässt.2 Während Gabriel Dan ebenso wie Ginster auf eine intakte, stabile Vergangenheit blicken können, verfügt Gisela Kron keineswegs über eine solche, die Kindheit im Schoß der Familie erweist sich just mit Einsetzen des Romans als Lügenmärchen, das Zuhause als instabiler Ort. Von ihrer leiblichen * 1

2

Irmgard Keun, Gilgi – eine von uns, Roman, Düsseldorf 1979 (1931). „Nö, Martin, wirklich – das ist mir langweilig, so planlos rumzulaufen, ich geh’ sehr gern weite Strecken zu Fuß, aber ich muß irgendwohin gehen.“ „Tun wir doch auch.“ „Sooo – wohin gehen wir denn?“ „Na, irgendwohin werden wir schon kommen.“ „Ja, aber ich muß das vorher wissen.“ (141) Arend/Martin 2005, S. 71.

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Poetik des Privatraums Mutter bereits als Neugeborenes verlassen, befindet sie sich nun zwischen den gesellschaftlichen Räumen, erweist sich als unfähig, enge Beziehungen aufzubauen: „Ich [...] gehöre nirgends hin“ (147), monologisiert Gilgi, und eine zeitgenössische Besprechung merkt an, dass sie, da sie „als uneheliches Kind“ geboren wurde, auch die „Bindungen an Familie und Heim“ ablehne.3 Auch der Versuch, mit einem Lebenspartner – dem erwähnten Flaneur Martin – diese Lücke zu schließen und eine eigene Familie zu gründen, scheitert; erst dem Kleinen Mann aus Hans Falladas gleichnamigem Roman wird ein solcher Entwurf ansatzweise gelingen. Irmgard Keuns Erstlingsroman aus dem Jahr 1931 – schon 1932 mit Brigitte Helm als Gilgi verfilmt – gehört, wie Dirk Niefanger festhält, zum Mode-Genre der Weimarer Republik, handelt es sich doch um eine bürgerliche Biographie.4 Wie eng diese erneut mit dem Wohndiskurs verbunden ist, soll das folgende Kapitel aufzeigen. In den letzten Jahren und Jahrzehnten sind zahlreiche Aufsätze und Studien zu Irmgard Keun publiziert worden, deren Fokus auf der gender-Problematik bzw. der Neuen Frau liegt. Livia Z. Wittmann beispielsweise analysiert 1986 die „frauenspezifische[...] Einsicht in die gesellschaftliche Problematik der Neuen Frau“,5 Barbara Kosta betont den Mutter-Tochter-Konflikt in der neusachlichen Literatur und konzentriert sich auf die „incompability of [...] modernity and motherhood“,6 Kerstin Barndt sucht in ihrer Studie die neusachlichen „Kunstfiguren: kalte persona, Radar-Typ und Kreatur“ (die Helmut Lethen 1994 in den Verhaltenslehren der Kälte herausgearbeitet hat),7 durch die Neue Frau zu erweitern, um so „die vermeintliche ‚Männlichkeit‘“ der neusachlichen Kultur zu überprüfen,8 2007 er3

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5

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7 8

Dr. W. Winkler, Irmgard Keun, Gilgi, eine von uns. Bln.: Universitas 1931, in: Neue Bücher, Besprechungen von Neuerscheinungen 8 (1932), Heft 1-2, S. 18f, in: Arend/Martin 2005, S. 64. Niefanger 2005, S. 31. Niefanger stellt zu Recht fest, dass Gilgi und Ginster an denselben Diskursen teilnehmen (ebd. S. 44), lässt den in beiden Romanen zentral verhandelten Wohndiskurs aber unbeachtet. Livia Z. Wittmann, Liebe oder Selbstverlust, in: Sylvia Wallinger, Monika Jonas (Hg.), Der Widerspenstigen Zähmung, Studien zur bezwungenen Weiblichkeit in der Literatur vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Innsbruck 1986, S. 259-280, hier S. 261. Barbara Kosta, Unruly daughters and modernity: Irmgard Keun’s Gilgi – eine von uns, in: The German Quarterly, Vol. 68.3, Summer 1995, S. 271287, hier S.272. Lethen 1994, S. 11. „Helmut Lethen beschreibt drei Prototypen dieser Verhaltenslehren: die kalte persona im Panzer ihrer Selbst gefangen, der von außen gesteuerte Radar-Typ und die animalische Kreatur, die das Innere nach außen kehrt. Die vorliegende Arbeit stellt neben diese Prototypen die Figur der Neuen

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper scheint Carme Bescana Leirós’ Dissertation zur Gendertransgression im Romanwerk Irmgard Keuns,9 und 2005 arbeitet Gesche Blume die Verbindungslinien zwischen Psychoanalyse und neusachlicher Ästhetik heraus. Sie ist die Einzige, die wenn auch nicht die Relevanz des Wohnens, so doch die damit zusammenhängende Rolle der Mutter als Abjekt analysiert.10 Aber auch hier fehlt eine Untersuchung der mit eben diesen Müttern bevölkerten städtischen bzw. literarischen Räume. Sicher erkennen die Autoren mal mehr mal weniger die prinzipielle Bedeutung, die die Suche nach der leiblichen Mutter einnimmt und dass in diesem Zusammenhang auch die unterschiedlichen gesellschaftlichen Räume ins Blickfeld rücken; wie zentral aber der 20er-Jahre-Generation das Wohnen zur Konstruktion einer – weiblichen oder auch männlichen – Identität dient, bleibt gänzlich im Dunkeln. Neusachliche Identitätsentwürfe aber, so soll das vorliegende Kapitel erneut klären, kristallisieren sich am Wohndiskurs heraus: „vielleicht“, so phantasiert Gilgi, „vielleicht werd’ ich in ein paar Jahren eine eigene Wohnung haben.“ (70) Auch in Irmgard Keuns Roman sind es die Fragen nach Distanz und Nähe, Öffnung und Grenzziehung, welche die Auseinandersetzung mit dem Wohnen prägen, und zugleich tritt mit Gilgi eine Protagonistin auf den Plan, die in besonderer Weise im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen um das Neue Wohnen steht: nämlich als Frau, als Beinahe-Gattin und zukünftige Mutter, die das Heim zu gestalten und im Sinne des Neuen Menschen zu verändern hat, ist sie die Adressatin zahlreicher Publikationen der Weimarer Republik. Insofern ist die Frage nach dem Geschlecht durchaus relevant. Gilgi scheint nämlich wesentlich stärker in den Wohndiskurs involviert als ihre männlichen Kollegen: der Versuch, in Räumen und mithilfe von Räumen eine Identität zu entwerfen, geht an ihrem Körper keineswegs spurlos vorbei. Als Gabriel Dan den Zug Richtung Wien Leopoldstadt besteigt, reist er körperlich unverändert ab, als sich Gilgi jedoch in ihrem Abteil niederlässt, ist sie schwanger. Während sich Ginster von den Anforderungen der Gesellschaft an seine Person immer wieder ironisch zu distanzieren weiß und sich ideell in die Heimat der Neuen Wohnung flüchtet, gelingt dies Gilgi nur bedingt. Ginsters Wunsch nach Instabilität seiner Identität und das in MarFrau, um die vermeintliche Männlichkeit der Kultur der Neuen Sachlichkeit zu prüfen.“ Kerstin Barndt, Sentiment und Sachlichkeit, der Roman der Neuen Frau in der Weimarer Republik, Köln, Weimar, Wien 2003, S. 2. 9 Carme Bescansa Leirós, Gender- und Machttransgressionen im Romanwerk Irmgard Keuns, Eine Untersuchung aus der Perspektive der Gender Studies, St. Ingbert 2007. 10 Gesche Blume, Irmgard Keun, Schreiben im Spiel der Moderne, Dresden 2005.

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Poetik des Privatraums seille gefundenen Glück des permanenten Wechsels weist bei Gilgi in die entgegengesetzte Richtung: die eigene wie die fremde Instabilität und Offenheit führen zu einem Grenzverlust, auf den sie mit einer der stärksten körperlichen Empfindungen reagiert: mit Ekel.

Topographische Orientierung Die Ausgangssituation des Romans ist für die vorliegende Studie überaus bedeutsam, denn am 21. Geburtstag reift die Protagonistin von der Jugendlichen zur Erwachsenen, befindet sich also just an einem biographischen Wendepunkt, an dem vor allem die räumliche Orientierung, die neue topographische Verankerung, zentral verhandelt wird. Unter Rekurs auf Stammesriten erläutert Tilmann Habermas in seiner Studie Symbole und Instrumente der Identitätsbildung eben jenen biographischen Abschnitt folgendermaßen: [Die] Schwellenphase [bei Initiationsriten] besteh[t] oft aus dem Durchschreiten von Türen oder Schwellen, aus Reisen (Pilgerfahrt) oder aus einem permanenten Wohnortwechsel [...]. Die Schwellenphase ist in vielerlei Hinsicht der heutigen Adoleszenz als Lebensphase vergleichbar, in der Individuen keiner eindeutigen sozialen Gruppe mehr oder schon wieder angehören, und in der sie zusehends das elterliche Zuhause verlassen, ohne bereits stabile eigene persönliche Räume erworben zu haben.11

In eben dieser Phase befindet sich Gilgi, ja die Labilität der topographischen Verankerung wird in Keuns Roman just am Geburtstagsmorgen durch die Offenbarung Frau Krons, Gilgi sei nicht ihre leibliche Tochter, noch potenziert: „Tja“, sagt Frau Kron und wieder „tja“, dann schweigt sie. Ihre blassen, vollen Lippen bewegen sich, zittern. „Nu’ red’ schon, Mutter.“ [...] „Jilgi!“ Frau Krons Stimme klingt hoch und trocken, „du bist nämlich nicht unser Kind.“ [...] „So!“ Gilgi begreift nicht ganz. Zehn Minuten später hat sie begriffen. „So“, macht sie noch einmal. [...] Ihr Gesicht ist gleichmütig, sie reagiert nach innen. (30)

Die anschließend einsetzende Suche nach der leiblichen Mutter stellt sich als intensive Recherche nach dem Ort der Herkunft dar, mit dessen Hilfe Gilgi ihr „Woher“, aber zugleich auch das „Wohin“ (213) zu klären bestrebt ist. Es ist also der Ausgangspunkt des Ro-

11 Tilmann Habermas, Geliebte Objekte, Symbole und Instrumente der Identitätsbildung, Frankfurt am Main 1999 (1996), S. 168.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper mans, der die Inspektion der Räume einerseits biographisch begründet, andererseits deutlich macht, dass der Wohndiskurs nicht unabhängig von den darin lebenden Bewohnern zu verhandeln ist, dass Wohnfragen nicht alleine Fragen der Ästhetik und der Mode sind bzw. nur insofern, als Ästhetik und Mode unmittelbar mit der Identitätsbildung zusammenhängen. „Innenausstattungen sind gesellschaftliche Bekenntnisse“.12 Zugleich gruppieren sich die biographisch verankerten Privaträume zu einem Gemälde der Wohnbedingungen der Weimarer Republik, zu einem Querschnitt durch das häusliche Innenleben der Drei-Klassen-Gesellschaft, die für Gilgi und ihre Generation offenbar keine Identifikationsmuster mehr bereit hält. Obwohl Irmgard Keuns Roman durchaus als neusachlich zu charakterisieren ist, steht auch hier weiterhin ein Individuum im Zentrum der literarischen Produktion. Sicher: strenge Verfechter der Neuen Sachlichkeit würden dem Roman dasselbe vorwerfen, wie der Freund Pit der Protagonistin: „Ekelhaft, wie wichtig du dich nimmst!“ (59), aber Gilgis Antwort ist ebenso programmatisch: „Ja, zum Donnerwetter nochmal, wen soll ich denn wichtig nehmen, wenn nicht mich selbst! Ich glaub’s einfach nicht, ich halt’s für eine verdammte Lüge, wenn einer sagt, daß er erst an die Allgemeinheit und dann an sich denkt. Wer ist denn die Masse?“ (59)

Es ist Gilgi, die nach Orientierung sucht und dies vorerst in den realen Räumen der Kindheit, im Haus der Zieheltern Kron, später in jenen einer möglich gewesenen Kindheit, im Haus der vermeintlichen und schließlich der leiblichen Mutter. Dieser Gang durch die Wohnungen steht am Anfang der Analyse zu Keuns Gilgi – eine von uns, denn gegen diese über ihre Wohnungen charakterisierten und symbolisierten Müttergestalten grenzt sich Gilgi zuallererst ab.

RÄUME DER KINDHEIT – ARCHITEKTUR ALS ERZIEHER UND IDENTITÄTSSTIFTER Überlegender Blick in das nüchtern unpersönliche Zimmer. Weißlackierte Bettstelle, weißer Wäscheschrank, ein Tisch, zwei Stühle, friedvolle Blümchentapete und ein harmlos umrahmtes Genrebildchen, das – blaß und reizlos wie ein verlassenes Mädchen – endgültig verzichtet hat, aufzufallen. [...] Geht einen nichts an, das ganze Zimmer. Man wohnt ja nicht hier, schläft nur in diesem weißen Jungfrauenbett. (7)

12 Hans Ottomeyer, Alfred Ziffer, Möbel des Neoklassizismus und der Neuen Sachlichkeit, Katalog der Möbelsammlung des Münchener Stadtmuseums, München 1993, S. 13.

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Poetik des Privatraums Gleich zu Beginn des Romans wird die Relevanz des Privatraums für die Identität der Protagonistin hervorgehoben und deutlich gemacht, dass ein solches ‚Zimmer für sich allein‘ der neuen Generation unabdingbar, im Haus der eigenen Eltern aber undenkbar geworden ist. In den 70er Jahren scheint dieser Wunsch schließlich Allgemeingut geworden zu sein, denn „auf die Frage nach ihren privaten, eigenen Räumen“ nennen Jugendliche „immer häufiger Orte außerhalb des Elternhauses“,13 Orte, die nicht die Spuren des elterlichen Lebensentwurfs tragen. Die Beschreibung von Gilgis Interieur als ‚nüchtern‘ und ‚unpersönlich‘ gilt dem bürgerlichen Standardprogramm eines Mädchenzimmers: Ein weißes „Jungfrauenbett“ soll die Bewohnerin zu einem unschuldigen Bürgermädchen erziehen, deren größter Verdienst einst darin bestehen wird, eine dem Genrebild vergleichbare unauffällige Zierde zu sein – eine Zierde, wie sie die Cousinen verkörpern: Gerda und Irene bleiben die wohlerzogenen, arbeitslosen kleinen Mädchen aus den unschuldigen „Jungfrauenbetten“. Sie sind zu jenem Kunstwerk mutiert, das vergessen hat aufzufallen. – Auf dem Kölner Karneval muss sich die mit der Tugendhaftigkeit ihrer Töchter prinzipiell zufriedene Tante deshalb ironischer- und ausnahmsweise um das Gegenteil bemühen, denn ihren unauffälligen Töchtern droht die ewige Jungfernschaft, solange sie für die Männerwelt gänzlich unsichtbar bleiben. „Gerdachen, Irenchen – nicht so still am Tisch sitzen – tummelt euch mal ein bißchen durch die Säle, Kinder!“ (87) Noch deutlicher wird das in den bürgerlichen Räumen repräsentierte Lebens- und Identitätskonzept in der Beschreibung dieser typischen Drei-Zimmer-Wohnung mit Kinder- und Elternschlafzimmer, Küche, Bad und der obligatorischen Guten Stube, die so eingerichtet ist, wie wir sie von zahlreichen Interieurphotographien kennen (Abb. 29-31): Eine stereotype – eben „nüchtern unpersönliche“ – Anordnung von Plüschsofa und Troddellampe, Büffet und Gemälde: Eine Viertelstunde später sitzt Gilgi im Wohnzimmer. Urweltmöblierung. Imposantes Büffet, hergestellt um Neunzehnhundert. Tischdecke mit Spachtelstickerei und Kreuzstichblümchen. Grünbleicher Lampenschirm mit Fransen aus Glasperlen. Grünes Plüschsofa. Darüber ein tuchenes Rechteck: Trautes Heim – Glück allein. Epileptisch verkrampfte Stickbuchstaben, um die sich veitstänzerische Kornblumen ranken. Können auch Winden sein. [...] Über dem tuchenen Rechteck ein Monumentalbild [...]. (8) [Frau Kron] hat das Bild geerbt. [...] Trau-

13 Habermas 1999 (1996), S. 169/170; Habermas bezieht sich auf Studien von R. S. Laufer und M. Wolfe, Privacy as a concept and a social issue: A multidimensional developmental theory, in: Journal of Social Issues 33 (1977), S. 22-42.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper tes Heim – Glück allein. Die Familie ist beisammen. Vater, Mutter und Tochter. Sie trinken Kaffee. (9)

Abb. 29: Die Gute Stube eines Arbeiters um 1900.

Was hier vorgeführt wird, ist eine mit Blick auf das Interieur harsch geschilderte bürgerliche ‚Familienidylle‘ die allmorgendlich in der Guten Stube inszeniert wird. Auf den ersten Blick erscheint die gut situierte kleinbürgerliche Familie Kron, die sich immerhin eine Haushaltshilfe leisten kann, in völliger Harmonie zu leben, aber allmählich wird diese Idylle demontiert. Bereits die anfängliche Schilderung aus Gilgis Perspektive deckt die Brüche auf, bahnt den Weg zur inneren und äußeren Distanzierung: hervorzuheben sind dabei die vom Bürgertum als tugendhaft angesehene Stickarbeit (Abb. 30), die Gilgi als „epileptisch verkrampftes“ Ding bezeichnet, die ranzige Butter14 und die billige Kaffeemischung: Kaffee [...] Hausmischung: ein Viertel Bohnen, ein Viertel Zichorie, ein Viertel Gerste, ein Viertel Karlsbader Kaffeegewürz. Das Getränk sieht braun aus, ist heiß, schmeckt scheußlich und wird widerstandslos getrunken [...] wegen der Sparsamkeit. (9)

Während Gilgi im geschilderten Moment noch davon ausgeht, das leibliche Kind zu sein, wissen ihre Adoptiveltern, dass sie als Tochter ebenso wenig ‚echt‘ ist wie Kaffee und Butter.

14 Frau Kron und die Haushaltshilfe streiten sich: „ „Un wenn ihnen die Butter nich gut genug is ...“ „In andere Häuser ...“ „Ich krieg’ zehnfachen Ersatz für Sie.“ [...] „un dann ranzije Butter zum Frühstü ...“ „Die Butter is nicht .“ „Die is doch ranzich ...“ (110/111)

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Poetik des Privatraums Abb. 30: Die Gute Stube eines Kleinbürgers um 1900.

Butter, Kaffee und Tochter stehen dabei auf derselben symbolischen Ebene, erscheinen für das bürgerliche Familienglück ebenso unabdingbar wie Plüschsofa und Gute Stube: diese Grundbausteine und veritablen Einrichtungsgegenstände des bürgerlichen Selbstverständnisses, diese ‚geliebten Objekte‘, wie es bei Tilmann Habermas heißt, können zur Not auch als Fakes ihren Zweck erfüllen. Im (klein-)bürgerlichen Zuhause also – so zumindest vermittelt es Gilgis Sicht – herrscht unter der vermeintlich perfekten Oberfläche schnöde Künstlichkeit. Lug und Trug bestimmen das Leben und werden ebenso zielsicher wie bei Le Corbusier15 oder Bruno Taut der Lächerlichkeit preisgeben: Es wird ein Fetischismus mit den Gegenständen getrieben, man hat Aberglauben vor ihrer Vernichtung und gibt ihnen damit die Macht und Herrschaft, unterwirft sich der Tyrannei des Leblosen, anstatt in seinem Gehäuse selber der unanfechtbare Herrscher zu sein. [...] Ganz gleich, ob Jugendstil, Neubiedermeier, Expressionismus darüber hingegangen sind, ganz gleich, ob die Einzelstücke künstlerisch gut oder Kitschware sind. Es handelt sich vielmehr grundsätzlich um das Überflüssige der Wohnung.16

Und wenn Taut zu verstehen gibt, dass

15 Vgl. etw. Le Corbusier, Das Abenteuer der Wohnungseinrichtung, in: ders. 1929 – Feststellungen zu Architektur und Städtebau, mit einem amerikanischen Prolog und einem brasilianischen Zusatz, gefolgt von ‚Pariser Klima‘ u.a. Berlin u.a. 2001, S. 105-119. 16 Taut 2001 (1924), S. 10/11.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Die Handarbeiten des Stickens, Häkelns mit all den tausend nervenruinierenden Abarten [...] nicht bloß überflüssig [...], sondern angesichts der sauberen maschinellen Produkte oft sogar von geringerem Wert als diese [...], nichts weiter als atavistische Spielereien sind und dazu noch das Gerümpel des Hauhalts vergrößern,17

dann sind Ton und Zuweisung in das Reich des Gestrigen vergleichbar mit Gilgis Haltung: hier wie dort ist eine Abneigung gegen jegliche Form von Handarbeit erkennbar, die an späterer Stelle des Romans noch deutlicher wird. Abb. 31: Stickbild um 1900.

Wenn Gilgi den Schreibtisch ihres Geliebten aufräumt und Briefe entdeckt, die einen hand-, die anderen maschinengeschrieben, bemerkt sie: „Handgeschriebene Briefe haben sowas aufdringlich Intimes,“ etwas „peinlich sich Offenbarendes“. Da findet Gilgi noch einen Brief unterm Schreibtisch, den sie schon qua Profession bevorzugt: „Sympathisch klare Maschinenschrift.“ (151/152) En passant streift der Roman damit eine der heftigsten Auseinandersetzungen zwischen dem traditionalistischen und dem modernen Lager der Architekten, erinnert an einen schon 1914 im Werkbund ausgetragenen Streit zwischen Henry van der Velde und Hermann Muthesius über standardisierte industrielle Massenkultur und individuelle künstlerische Entwürfe,18 eine kunsttheoretische Auseinandersetzung darüber, „ob maschinelle Industrie und individuelle Kunst einander ausschlössen“.19

17 Ebd. S. 34. 18 Vgl. dazu Henry van der Velde, Geschichte meines Lebens, München 1962, S. 354ff; Henry van der Velde, Zehn Leitsätze der Jahresversammlung des Deutschen Werkbundes in Köln, Juli 1914, vorgelegt, in: ders.: Zum neuen Stil, Aus seinen Schriften ausgewählt und eingeleitet von Hans Curjel, München 1955, S. 213-127; Thiekötter 1984. 19 Ottomeyer, Ziffer 1993, S. 28.

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Poetik des Privatraums Gilgis Haltung gegenüber dem Handwerk bzw. den Symbolen und Gegenständen der Bürgerlichkeit, gegenüber der Künstlichkeit des Interieurs, kurz: gegenüber jenen geliebten Objekten des bürgerlichen Selbstverständnisses, ändert sie auch nicht in der erst gegen Ende des Romans inspizierten großbürgerlichen Wohnung ihrer – wie sich herausstellen wird – leiblichen Mutter Magdalena Greif. „So fette beabsichtigte Eleganz – so geschwollen. Lächerlich – dieser protzige Schreibtisch mit der obligaten Ledermappe und so’nem albernen Krokodil aus Metall“ (225/226). Es ist die „fette, beabsichtigte Eleganz“ (225), die sich hinter einem „hochmütigen“ Treppenhaus – „Aufgang für Dienstboten und Lieferanten verboten!“ (78) – auftut, die dieses Mal Gilgis Abneigung hervorruft, der „verhangen[e] und dämmrig[e]“ (229) Raum,20 „damit die Plüschpracht“, so Taut, „nicht zu rasch unter der Sonne dahinschwindet“.21 Auch Le Corbusier mokiert sich über die Vorliebe des Bürgertums für dunkle Räume: „Man sieht ja nicht den Tag bei euch“22 – Kracauer wählt nicht von ungefähr den als Sonnenanbeter bekannten Ginster zum Namensgeber seines Protagonisten. Wie schon im Wohndiskurs angedeutet, so sind auch Gilgi die verschiedenen Räume nicht einfach Ausdruck unterschiedlicher Geschmacksempfindungen, sondern zugleich Ausweise der Identität ihrer Bewohner. Ist es im Hause der Krons und der leiblichen Mutter die offensichtlich konstruierte Scheinwelt des Kleinbürger- bzw. Großbürgertums – also die Künstlichkeit, welche Gilgi anprangert –, so bekommt ihre Abneigung eine deutliche Wendung hin zum Ekel, sobald sie die Wohnung von Margarethe Täschler betritt, jener Frau, von der ihre Zieheltern annahmen, sie sei die leibliche Mutter. Gilgis anfängliche Freude darüber, dass sie von Proletariern abstammt – „sie hat nie Wert darauf gelegt, zur bürgerlichen Gesellschaft zu gehören“ (31) –, ändert sich vor Ort schlagartig. Während es im großbürgerlichen Treppenhaus der Magdalena Greif still war – „kein Schreien, kein Schimpfen, keine stinkige, veratmete Luft [legt] [...] sich lähmend auf die Brust“ (78) – , ist bereits die Straße vor Täschlers Mietblock „dreckig und dunkel“, im Hausflur schließlich

20 „Eine böse und unsympathische Wohnung. So fette beabsichtigte Eleganz – so geschwollen. Lächerlich – dieser protzige Schreibtisch mit der obligaten Ledermappe und so’nem albernen Krokodil aus Metall. [...] Eingehend mustert Gilgi Bilder und Einrichtungsgegenstände auf ihren Wert hin. [...] Klubsessel [...] Das stinkt alles nach Geld – aber den Wert von Vasen und Bildern und kleinen Skulpturen kann man ja nicht beurteilen [...] und den Flügel kann man leider nicht fortschaffen und das Büfett auch nicht.“ (225/226) 21 Taut 2001 (1924), S. 13. 22 Le Corbusier 2001 (1922), S. 94.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper stinkt es nach faulem Fisch und alter Wäsche. Gilgi steigt eine Treppe rauf [...], das Haus lebt: irgendwo kreischt eine Frau, weint ein Kind, schimpft ein Mann (39).

Das proletarische Heim – eine Einzimmerwohnung, die als Schlaf-, Arbeits-, Wohn-, Koch- und Waschzimmer dient – ist die klassische Einraumwohnung der Arbeiterschicht zu Beginn des Jahrhunderts, die häufig genug nicht nur von einer Person bewohnt wurde (Abb. 32): Abb. 32: Grundriss einer Arbeiterwohnung für 9 Personen, 1948.

Da ist ein Zimmer mit einem schmutzigen Bett, gegenüber ein Gasherd, eine Pfanne mit ein paar kalten, klebrigen Bratkartoffeln drauf. Vorm Fenster steht eine schwarze Probierpuppe, eine Dame ohne Unterleib (40). [...] Gestank nach ranziger Margarine, feuchte Wände und morscher Fußboden (41). [...] Das Licht ist schlecht, man kann nichts richtig erkennen, wie kann man hier nähen! (42)

Die in der Architekturpublizistik schon im 19. Jahrhundert formulierte Forderung nach mehr Licht und Luft wird für Gilgi zu einem körperlichen Erlebnis. Ist die Abneigung des Interieurs zuvor ästhetisch und sozial motiviert, so wird sie nun zu einer körperlichen Angelegenheit: Brechreiz und Übelkeit bestimmen die Begegnung mit ihrer vermeintlichen Mutter und deren Zuhause.

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Poetik des Privatraums

DER EKEL: DIE FUNKTIONALISIERUNG EINER STARKEN EMPFINDUNG Betrachtet man Gilgis Verhältnis zu den mütterlichen Interieurs etwas genauer, dann fällt auf, dass die Ekelempfindung am stärksten im Hinblick auf Margarethe Täschler geschildert wird, letztlich aber alle inspizierten Mutter-Räume vereint: Das speckige Ambiente der Täschler erzeugt nicht mehr Abscheu als das Luxuskabinett Magdalena Greifs oder die Spießbürgerstube der Krons. Zweitrangig erscheint dabei, dass der Ekel einmal sinnlich-olfaktorischer, das andere Mal ästhetischer Art ist, ein Ekel vor der fetten Pracht und Künstlichkeit. Gilgi verschließt die Türen hinter all diesen Interieurs, in keinem findet sie ein Zuhause. Mit ihren Innenräumen verschmolzen, mutieren die Mütter zu veritablen Ekelgestalten,23 wie sie seit der Antike bis in die Klassik beschrieben werden; der Ekel, so Winfried Menninghaus, wird in der hässlichen Alten, der vetula, personifiziert. Für das, was die Klassizisten unsichtbar machen, ja geradezu in den Orkus ästhetischer Unmöglichkeit verstoßen, gebrauchen [sie] [...] wieder und wieder eine schon in der Antike traditionsmächtige Chiffre: diejenige der ekelhaften alten Frau. Sie ist der Inbegriff alles Tabuierten: abstoßender Haut- und Formdefekte, ekelhafter Ausscheidungen und sogar sexueller Praktiken – ein obszöner, verwesender Leichnam schon zu Lebzeiten. [...] Dieses Bild vereint Falten, Runzeln, Warzen, größere Öffnungen des Mundes und des Unterleibs, eingefallene ‚Höhlungen‘ statt schöner Schwellungen, üblen Geruch, ekle Praktiken.24

Es ist die Proletarierin Margarethe Täschler, die am deutlichsten als eben jene, zur Hexe erweiterte vetula25 in Erscheinung tritt, sie ist „die Alte“ die „in der Ecke“ steht und „nach dem Ofen [...] plinkt“ wo eine gerupfte Katze liegt. Miss, miss, miss – lockt sie und macht dazu einen schauerlich krummen Zeigefinger wie die Knusperhexe aus ‚Hänsel und Gretel‘. [...] Und der Kopf [Margarethe Täschlers, I.L.] beugt sich und ist jetzt dicht neben Gilgis ... ich kann den Geruch nicht mehr vertragen, ich muß mir ’ne Zigarette anstecken. [...] [Gilgi] wird grauweiß wie das schmierige Handtuch neben dem Waschtisch, als die schrumpligen Finger ihr an der Taille rumfummeln und übelriechender Atem ihr ins Gesicht weht. (40/42)

23 Wenn auch mit einer gänzlich anderen Intention, so bemerkt doch Gesche Blume die zentrale Stellung des Ekels, den sie im Zusammenhang mit den Müttergestalten als Abjekte im Sinne Julia Kristevas thematisiert, Blume 2005, S. 89. 24 Winfried Menninghaus, Ekel, Theorie und Geschichte einer starken Empfindung, Frankfurt am Main 1999, S. 132. 25 Ebd. S. 16/143.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Während Margarethe Täschler als vetula ununterscheidbar von ihrem Interieur zu einer Hexe in ihrem kleinen Horrorkabinett mutiert, erweisen sich Magdalena Greifs Räume als „günstiger und [...] kleidsamer Aufenthalt für eine Frau über vierzig“ (229). In ihrem Interieur mit seiner ‚fetten, beabsichtigten Eleganz‘ betont Gilgi die „niedrige[n], unangenehm weiche[n] Sessel“ und den „häßliche[n] faltige[n] Hals“ ihrer Mutter. Auch hier wird die Protagonistin von Ekelreaktionen überfallen, sie wird „sehr blaß und hat plötzlich mit körperlicher Übelkeit zu kämpfen“ (229, Hvm).26 Frau Kron schließlich verschlingt „ohne Rücksicht auf ihr Monumentalgewicht ganze Himalajagebirge von Cremeschnittchen, Mohrenköpfen und Obsttortletts“ und liebt „zum Übelwerden rührselig[e]“ Kinofilme (61, Hvm). Als ekelerregend und abstoßend offenbaren sich die im weichen Licht und in weichen Sesseln auflösenden Körpergrenzen und Körpermassen der Mütter, die schon die Klassiker ablehnten: jede Falte, jedes Grübchen, jede Höhlung, jede ‚Ecke‘ [sei] ‚eckel‘ [und] würde die glatte, einheitliche Oberfläche eben so ‚widrig‘ stören ‚als jede Pockengrube oder jede fatale Unebenheit‘“. Mit einem Eifer, der heutigen Kosmetikvertretern [so Menninghaus 1999] alle Ehre machen würde, merzen die ‚Klassiker‘ jedes Grübchen, jede Runzel, jede Warze, jede Falte aus. [...] [Insbesondere] „das Körperinnere, die inneren Organe sowie alle Prozesse der Resorption und Ausscheidung bleiben in der ausschließlichen Orientierung an der schönen Fassade nicht nur unsichtbar; sie fallen [...] unter die „außerwesentlichen“ Zusätze, die peinlich zu vermeiden sind.27

Sicher hat Gilgis ablehnende Haltung gegenüber den Müttern bzw. den mütterlichen Interieurs ihren primären Grund darin, dass es sich bei Keuns Erstlingsroman um einen Adoleszenzroman handelt, der sich qua genre von den Eltern verabschiedet und auf die Suche nach neuen Räumen begibt. Ja man könnte mit Barbara Kosta argumentieren, dass die Mutterschaft der heimliche Mittelpunkt, der ‚dark plot‘ des Romans sei,28 denn nach der Auseinandersetzung mit den eigenen Müttern wird Gilgi schließlich selbst zur Mutter. „The maternal is the ‚dark plot‘ that lies at the center of the narrative; it is the plot that Gilgi undertakes to leave behind, yet it re-

26 Gilgi ist zu diesem Zeitpunkt bereits schwanger, dennoch ist diese Stelle zumindest doppeldeutig, spricht Gilgi doch bereits lange vor ihrer Schwangerschaft von dem ‚ekelhaft feinen Haus‘ (79). 27 Menninghaus 1999, S. 79/82; er bezieht sich hier auf Johann Gottfried Herder, Plastik, einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, 1778, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. VIII, hrsg. von Bernhard Suphan, Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 1-88, hier S. 29. 28 Kosta 1995, S. 272.

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Poetik des Privatraums mains perfomed throughout.“29 Dennoch übersieht eine solche durchaus fruchtbare Perspektive30 die Verbindungslinien zur ästhetischen Diskussion um 1800 ebenso wie zum zeitgleichen Architekturdiskurs, der ja dieselben Räume wie Gilgi ablehnt und sich zur Tabuisierung derselben einer ähnlich starken Chiffre wie der vetula bedient, nämlich der Hure Babylon. Bruno Taut entrümpelt die Interieurs der Stadt, Sigfried Giedion versucht das Wohnen zu befreien und Le Corbusier schreibt geradezu „manisch“31 gegen das Chaos der Stadt an. Ausgangspunkt all dieser Entwürfe und Planungen scheint eine ähnlich starke Empfindung zu sein, wie sie bei Gilgi beobachtet werden konnte, eine Ekelempfindung übrigens, die quer durch die Lager der Architekten anzutreffen ist. Ob nun die einen ihr Glück jenseits der Städte bzw. im Rückbau zur Kleinstadt suchen (wie beispielsweise Heinrich Tessenow)32 oder die anderen in einem völligen Umbau, der die alte Stadt dem Erdboden gleichmachen würde (wie Le Corbusier mit seinem Plan Voisin (1925) für Paris33 oder Ludwig Hilberseimer in seiner Vision einer Hochhausstadt von 192434), ist sekundär, einer Meinung sind sich die Architekten darin, dass die planlos gewachsene und an ihren Rändern und Grenzen verschwommene Stadt einer neuen Klarheit und Planbarkeit zugeführt werden müsse – ja, das Chaos wird augenfällig ausgegrenzt, wenn Hilberseimer nicht nur die alte Stadt, sondern auch den Verkehr unter die Erde oder zumindest unter die eigentliche Wohnstadt legt: In seiner Hochhausstadt schichtet Hilberseimer das Leben vertikal, wobei unter der Erde Fernbahn und Untergrundbahn liegen, darüber der Personenverkehr und die fünfgeschossige 29 Ebd. 30 Zum Status der Frau in den 20er Jahren und zur Problematik Mutterschaft und Moderne liefert Kosta einen noch immer sehr lesenswerten Artikel. 31 Kevin Robins, Kollektivgefühl und städtische Kultur, in: Breuer 1998, S. 172. 32 Der antigroßstädtische Impetus Heinrich Tessenows mündet nicht im bäuerlichen Landleben, in einer Agrarromantik, sondern in der Klein- und Gartenstadt; Marco de Michelis, Heinrich Tessenow 1876-1950, Das architektonische Gesamtwerk, Stuttgart 1991, S. 76; vgl. dazu das Kapitel zu Hans Falladas Kleinem Mann - was nun? 33 Le Corbusier, Städtebau, hrsg. und übers. von Hans Hildebrandt, Stuttgart 1979 (1925). 34 Hilberseimer 1978 (1927), S. 17; Hilberseimer betont allerdings den rein theoretischen Stellenwert seines Schemas einer Hochhausstadt „ohne jede Gestaltungsabsicht“ (ebd. S. 18) und schreibt unmissverständlich: „Städtebau ist keine Abstraktion, sondern Erfüllung und Organisation realer Bedürfnisse und Zwecke. Die Wirklichkeit wird jede Abstraktion modifizieren. Ihre Gegebenheiten bilden den wesentlichen Faktor des Städtebaus, können daher bei der Durchbildung eines Stadtorganismus nicht ignoriert werden.“ (ebd. S. 19).

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Geschäftstadt, bis sich schließlich darüber erst die Wohnstadt, um die Breite des Gehwegs nach hinter verlagert, erhebt.35 Die ‚dunklen Familiendepots‘ werden entrümpelt, Erkerchen und Vorsprünge am Mobiliar ebenso wie an den Hausfassaden abgehauen. Das Lichtund Schattenspiel von Ornamenten und Stuck ist gewichen, nun fällt nur noch Licht auf die Fassaden der traditionalistischen und funktionalistischen Bauten.

Grenzziehungen und Grenzverluste Der Impuls zur Neugestaltung der Wohnungen und Städte gründet also auf einer Ekelempfindung, die auch Gilgi in Anbetracht der mütterlichen Interieurs hatte, ein Ekel vor dem „Falsche[n]“, der „Schminke“ und vor der „Schliche der Kurtisanen,“36, wie es Le Corbusier 1922 in seinem Ausblick formuliert und genau aus diesem Grund auch einen chirurgischen Eingriff am kranken Leib der Stadt fordert.37 Ein Eingriff, der sich gegen die „prostituierten“ Formen der Architektur wendet, wie es Hannes Meyer zu verstehen gibt.38 In seiner immer noch lesenswerten Studie von 1978 erklärt Thilo Hilpert, die modernen Architekten verlangten nicht eine Innovation des Stils oder der Mode, sondern den Bruch mit einer konsumtiven Kultur, die alle Güter als Prestigesymbole und Repräsentationsmittel zu verwerten trachtet, deren Gegenstandswelt zerfallen ist in aufgeblähte Reizkleider über verstümmelten Gebrauchswerten. Es ist eine Kultur, deren Doppelbödigkeit schon 1908 Adolf Loos [...] als ‚Ornament und Verbrechen‘ gekennzeichnet hat. [...] Während heute eine Gegenwelt zu ‚Konsumund Warenfetischismus‘ sich in Bildern einer archaischen Idylle entfaltet, wird sie damals gesucht in den Ergebnissen beschleunigter Industrialisierung, in den Verkehrsapparaten und modernen durchrationalisierten Produktionsanlagen.39

Die Angst und der Ekel vor der Hure Babylon zeigt sich beispielsweise in den Beschreibungen über das unangenehme ‚Eindringen‘ von Untermietern und Schlafgängern,40 von Gerüchen und Geräu35 36 37 38

Hilberseimer 1978 (1927), S. 18/19. Le Corbusier 2001 (1922), S. 31. Le Corbusier 1979 (1925), S. 159. Hannes Meyer, bauhaus und gesellschaft, 1929, in: Claude Schnaidt (Hg.), Hannes Meyer, Bauten, Projekte, Schriften, Stuttgart, 1965, S. 98f. 39 Thilo Hilpert, Die Funktionelle Stadt. Le Corbusiers Stadtvision. Bedingungen, Motive, Hintergründe, Braunschweig 1978, S. 17. 40 Wie der Arzt und Soziologe Franz Oppenheimer im Vorwort zur Publikation der von Paul Schmitthenner geplanten Gartenstadt Staaken formuliert: Franz Oppenheimer, Einleitung, in: Paul Schmitthenner, Die Gartenstadt Staaken, von Paul Schmitthenner, Einleitung von Professor Dr. Franz Op-

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Poetik des Privatraums schen, von sinnlosem, ererbtem Mobiliar und unüberschaubarem Nippes. Der Privatraum soll im Gegenzug abschließbar und mit klaren Konturen, das heißt: mit eindeutigen Grenzen versehen werden. Das führt bei einer für die Aufsprengung der Fassade berühmten Architektur wie der des Funktionalismus paradoxerweise zu höchst kontrollierten Öffnungen; so bemerkt Susanne Frank beispielsweise, dass Le Corbusiers „Bewohner der neuen Stadt [...] selbst mit Sonne, Licht und Luft, den in der alten Stadt so schmerzlich vermissten Naturelementen, [...] nur vermittelt in Kontakt kommen“ durften: Die in alle Gebäude standardmäßig eingebauten Klimaanlagen, Lüftungen, Kühlungen, Schallisolierungen etc. dichten die Zelle gegen das unkontrollierte Eindringen von äußeren Einflüssen ab und ermöglichen ‚exakte Luft‘, ‚korrekte Atmung‘ und die ‚schalldichte Zelle‘.41

Und auch Hans Sedlmayr betont diesen Aspekt; bei der Betrachtung des Kugelhausentwurfs des französischen Revolutionsarchitekten Nicolas Ledoux beschreibt er Parallelen zur Architektur des 20. Jahrhunderts: Die Tendenz zur Loslösung von der Erdbasis. Die Möglichkeit unten und oben zu vertauschen, womit die Vorliebe für das flache Dach zusammenhängt. Die Neigung zu homogenen glatten Flächen ohne Durchbrechungen, ohne plastische Elemente, ohne Profil. Die Verwandlung der Wände in abstrakte Grenzflächen; daraus folgt später das Ideal einer Raumhaut aus purem Glas. Eine neue Art des Zusammenfügens der einzelnen Grundformen, die man unverbunden zusammenstellt oder aufeinanderlegt wie Schachteln. Kristallische Abgeschlossenheit des Baues gegen die Umwelt; selbst wenn später die Wände durch Glas ersetzt oder stellenweise ganz herausgenommen sind, schließen unsichtbare scharfe Konturen dem Bau schroff in sich ab [...], wie vom Himmel heruntergefallen erscheinen diese ‚reinen‘ Architekturen in der ‚reinen‘ Natur, oft tragen sie auf Terrassen unvermittelt Gewächse. Das Isolierte als Wert, denn auch „der Mensch ist überall isoliert“ (!) (Ledoux).42

Genau diese Eigenschaften des Neuen Bauens von der Grenze bis zur Vereinzelung der Baukörper stellen den entscheidenden Einfluss des Architekturdiskurses auf Keuns Erstlingsroman dar. Sicher befreit sich Gilgi aus den Wohn- und Lebensmustern ihrer penheimer und Text von Fritz Stahl, Berlin 1918, S. 3-8, hier S. 4; vgl. dazu ausführlich das Kapitel zu Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun? 41 Susanne Frank, Stadtplanung in Geschlechterkampf, Ebenezer Howard und Le Corbusier, Berlin 2004, S. 15, sie bezieht sich hier auf: Agrest, Diane, The Return of the Repressed Nature, in: dies. Et al. (Hg.): The Sex of Architecture, New York 1996, S. 49-68, hier S. 59 42 Sedlmayr 1985 (1948), S. 97.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Mütter, wie das Barbara Kosta beschreibt, wenn sie den Kern des Mutter-Tochter-Konflikts in der Verweigerung der „unruly daughters“, den für sie vorgesehenen Platz im Hause einzunehmen, erkennt. Die Töchter gehen vielmehr hinaus in die Welt und sprengen die engen Grenzen, die Vicki Baum schildert: „Arme Mütter von 1890! Eure Welt war so eng wie ein Kaninchenstall, auf allen Seiten mit Brettern vernagelt und ohne Lüftung. Wie haben wir euch erschreckt, als wir aus euren Wänden ausbrachen, ... wir mit ... unserer Rebellion gegen das Bürgerliche, wir mit der Forderung nach eigenen Wegen und Luft und Arbeit und dem Hunger nach wirklichem Leben ohne Verschleierungen und Fiktionen.“43

Auch wenn die Keunsche Protagonistin sich nach diesem „wirklichen Leben“ sehnt, so dienen die Öffnungen und das Verlassen des elterlichen Hauses mindestens in ebenso starkem Maße dem Einreißen alter wie der Etablierung neuer Grenzen. Nur mithilfe dieser kann sich der Neue Mensch erheben: The home that can now be built for modern man (and the city too), a magnificently disciplined machine, can bring back the liberty of the individual. [...] And the result will be the formation of a serene soul in a healthy body,44

imaginiert Le Corbusier. Es sind weniger die Öffnung und Befreiung des Wohnens, die in Gilgi problematisiert werden, sondern es sind Grenze und Grenzverlust. Der Verlust der Grenze erzeugt Ekel, Ekel vor den Müttern und ihren Interieurs, Ekel vor dem „Chaos“ der Stadt, ihrer „plötzlichen, unzusammenhängenden, brausenden, unvorhergesehenen und überwältigenden Flut“45, Ekel vor dem „siebenten Höllenkreis Dantes“.46 Was Hanne Bergius bemerkt, dass nämlich die utopischen Stadtprojekte der Moderne die Metropole reinigen, Ruhe und Ordnung stiften und als „Läuterungsrituale“ erscheinen,47 und was Susanne Frank unter dem gender-Aspekt als Zügelung der Hure Babylon, der chaotisch-weiblichen Stadt beschreibt,48 ist ein Projekt, das Gilgi gemeinsam mit den Architekten 43 Vicki Baum, Die Mütter von morgen – die Backfische von heute, in: Uhu, Heft 5, Februar 1929, 5. Jahrgang Berlin, in: Rheinsberg, Anna (Hg.), Bubikopf, Aufbruch in den Zwanzigern, Texte von Frauen, Darmstadt 1988, S. 31-35, hier S. 32. 44 Le Corbusier, la ville radieuse, the radiant city, London 1967 (1933), S. 113, 143ff. 45 Le Corbusier 1979 (1925), S. 23. 46 Ebd. S. 238. 47 Vgl. Hanne Bergius, Berlin als Hure Babylon, in: Jochen Boberg et al. (Hg.), Die Metropole, Industriekultur in Berlin im 20. Jahrhundert, München 1986, S. 102-120, hier S. 112. 48 Siehe dazu auch Robins 1998, S. 163-186.

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Poetik des Privatraums in den Wohnungen betreibt. Gilgi und die Architekten schreiben sich aus dem zerfließenden, stickigen und lärmenden Moloch heraus und vereinen sich im „Kult der Distanz“.49 Die Hure Babylon und die vetula verschwimmen zu einer einzigen Gestalt, die durch Künstlichkeit, schönen Schein und Luxus ihren morschen und verwesenden Leib zu verdecken trachtet. Keuns Mütter sind zugleich die Hure Babylon und die Hure Babylon zugleich das hässliche alte Weib, die vetula, wie sie auch auf Gemälden der 20er Jahre in Erscheinung tritt (Abb. 33).50 Abb. 33: Otto Dix, Älteres Liebespaar, 1923.

49 Lethen 1994, S. 70; an dieser Stelle weist Lethen darauf hin, dass „das Lob der Kälte, das Einverständnis mit der Entfremdung, der Kult der Distanz und der Mut zur Entscheidung“, also „die Eigenschaften der kalten persona [...] im Lichte der Freudschen Neurosenlehre als Krankheitssymptome erscheinen.“ Er bemerkt allerdings zu Recht, dass diese negative Sicht auf die kalte persona nur von einem Standpunkt aus erfolgen kann, der „keine Notwenigkeit mehr kennt, Körpergrenzen und Diskretionsräume zu markieren.“ 50 Die Hure Babylon wird in der Offenbarung des Johannes beschrieben, wobei es sich dabei um eine auf Babylon beschränkte Ablehnung der großen Stadt handelt; erst im 19. Jahrhundert wird die Hure Babylon zum Symbol der Großstadt im Allgemeinen, vgl. dazu: Christian W. Thomsen, Architekturphantasien, von Babylon bis zur virtuellen Architektur, München 1994, S. 14. Die bildliche Darstellung der Hure Babylon zeigt eine junge, mit zahlreichen Reizen ausgestattete Frau. Allerdings lassen sich die Huren auf den Bildern des 20. Jahrhunderts mit Recht als eine Fortsetzung dieser Ikonographie deuten, auch wenn deren Reize keineswegs mehr natürlich erscheinen, sondern ihre Künstlichkeit hervorkehren, um damit auch ihr Alter zu vertuschen. Die Hure Babylon erscheint also älter und damit den Gilgischen Müttern näher.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Einerseits übernimmt Gilgi damit eine der Frau durchaus zugedachte dominante Rolle bei der Revolutionierung des Wohnens – Gilgi wird in gewisser Weise zu einer Tautschen ‚Schöpferin‘ –, andererseits aber befreit sie sich aus der ihr von denselben Architekten immer noch zugedachten Rolle als Hausfrau und Mutter: „Die Frau an ihren Herd, zu ihren Kindern“51, lässt Le Corbusier wissen und stellt sie in seinen Zeichnungen just an diesem Ort dar (Abb. 34). Abb. 34: Le Corbusier, M.A.S. Häuser in Trockenbauweise, 1940.

Was für Gilgi und die Architekten der 20er Jahre am Ekeldiskurs der Klassik allerdings so anregend und fruchtbar erscheint, ist nicht einzig die Übertragung einer Ausgrenzungsstrategie auf die mütterlich konnnotierte Großstadt, also auf die Hure Babylon und die vetula, attraktiv an der Ästhetik um 1800 ist ihre Tendenz zu eindeutigen Grenzziehungen und seziermesserscharfen Linien. Was Winckelmann und Herder idealisieren, findet sich fast 200 Jahre später in der neusachlichen Ästhetik wieder. In diesem Sinne spricht auch Helmut Lethen – der den Kälte-Habitus als Rückgriff auf den deutschen Idealismus beschreibt52 – von den geschlossenen Konturen in der Porträtmalerei der 20er Jahre53, von einer Konzentration auf Oberflächen und Masken, von einer Abwendung „von den dunkeln Familiendepots der Seele zu den Äußerlichkeiten der Handlung“54. Es sind eben jene schon für die Klassiker maßgebenden glatten und klaren Oberflächen, die mehr interessieren als die dunklen verwinkelten Tiefen. Auch Sabina Becker bewegt sich argumentativ in derselben Tradition, wenn sie in der Diskussion der 51 Le Corbusier 1967 (1933), S. 112; vgl. Frank 2004, S. 17, bzw. Frank 2003 S. 224 und Colomina 1996 (1994), S. 104. 52 Lethen 1994, S. 12, allerdings bezieht sich Lethen weniger auf Herders Überlegungen zur Plastik, als zur Sprache bzw. zur Anthropologie und der Künstlichkeit des Menschen, vgl. ebd. S. 92. 53 Ebd. S. 50. 54 Ebd. S. 51.

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Poetik des Privatraums Neuen Sachlichkeit und ihren Voraussetzungen unter Rekurs auf die Architekturtheorie von Schmuck- und Ornamentlosigkeit spricht und ihr attestiert, dass die Neue Sachlichkeit entgegen aller Proklamation von Gebrauchs- und Asphaltliteratur vornehmlich als Ästhetik gewirkt habe.55 Diese Nähe zu Positionen der Klassik erkannten bereits die Zeitgenossen, wenn beispielsweise Rudolf Kayser und Max Freyhan von einem neuen Klassizismus bzw. einer neuen Klassizität sprechen, oder Ernst Glaeser, der an Joseph Roths Flucht ohne Ende die ‚gleichmäßige Beleuchtung‘, unter der sich „nirgends [...] das berüchtigte deutsche ‚Dunkel‘“ finde, lobt;56 und Béla Balázs bemerkt, so wie die Neue Sachlichkeit schmucklos, knapp und unsentimental sei, so „ist von jeher der gute „klassische“ Stil gewesen.“57 Schließlich verweist auch Kurt Pinthus auf die „schmucklos[e]“, „ohne lyrisches Fett“ sich auszeichnende Sprache der Neuen Sachlichkeit, die „hart, zäh“ und „trainiert, dem Körper des Boxers“ vergleichbar sei,58 und Rudolf Arnheim betont 1927 im Hinblick auf die Malerei: an die Stelle der gedrehten Tischbeine, der geblümten Tapeten, der Häkeldeckchen, der Stuckfassaden [tritt] das pure Material in der handwerklich einfachsten und zweckmäßigsten Verarbeitung [...]. Wir spüren da, gegenüber allem Zierrat, eine Reinlichkeit und Ehrlichkeit, die uns wohltut und erfrischt.59

Es sind dieselben ästhetischen Parameter, die auch Gilgi zur Verurteilung ihrer Mütter und zur Etablierung einer eigenen Identität heranzieht, hier wie dort ist von ‚Dunkelheit‘ und ‚Fett‘ die Rede, hier wie dort strebt man nach Helligkeit und klaren Konstruktionen. Ob nun die Architekten der Hure Babylon und den damit implizierten öffentlichen und privaten Räumen der Großstadt den Rücken kehren oder ob sich Gilgi von ihren Müttern, von der vetula abwendet, beide Frauengestalten gründen in ein und demselben Diskurs, der zugleich das Gegengift bereithält: als die Klassiker den ekelerregenden Körper beschrieben, etablierten sie zugleich das klassische Ideal, das noch für Gilgi gelten wird. Auch wenn ihr Mädchenzimmer nicht der Ort ist, der zum Ausdruck ihrer Identität wird, so ist es doch ihr ideal gestalteter Körper. Wie Tilmann Habermas die „Vor-

55 Becker 2000,1, S. 47. 56 Ernst Glaeser, Joseph Roth berichtet, in: Die neue Bücherschau 6 (1928), Nr. 4, S. 208-210, in: Becker 2000, 2, S. 202-203, hier S. 203. 57 Béla Balázs, Männlich oder kriegsblind?, in: Die Weltbühne, 25 (1929), I, Nr. 26, S. 969-971, in: Becker 2000, 2, S. 400-403, hier S. 400. 58 Kurt Pinthus, Männliche Literatur, in: Das Tage-Buch 10 (1929), Nr. 1, S. 903-911, in: Becker 2000, 2, S. 37-42, hier S. 38. 59 Rudolf Arnheim, Neue Sachlichkeit und alter Stumpfsinn, in: Die Weltbühne 23 (1927), I, Nr. 15, S. 591f, in: Becker 2000, 2, S. 295-296, hier S. 295.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper liebe gerade Jugendlicher dafür, ihren Körper zu manipulieren“ damit erläutert, dass der Körper der Kern des persönlichen Raumes ist, über den Jugendliche erstmals in ihrem Leben selbst verfügen, lange bevor sie völlig eigene persönliche Orte erwerben60,

so verhält es sich auch in Keuns Erstlingsroman. Gilgi, als Vertreterin der Neuen Frau, fordert nicht mehr einzig „das Recht auf Bildung, Arbeit und politische Betätigung“, sondern erhebt Anspruch auf den eigenen Körper, „auf Selbstverwirklichung auch im intimsten Bereich, dem von Liebe und Sexualität.“61 „Die Tochter“, so schreibt die Zeitschrift Frau und Gegenwart 1927 über die Anmaßungen der neuen Generation, beansprucht auch für ihr privates Leben Selbständigkeit, Verfügungsrecht über ihre freie Zeit, ihre Ausgaben, ihre Kleider, sogar vielleicht auch über ihren Körper.62

Gilgis Körper wiegt gerade mal 50kg (100), er ist das Gegenprogramm zur Cremeschnittchen verschlingenden vetula, zu den dunklen überladenen Räumen. Sie bestreitet den Weg zur Arbeit lieber zu Fuß als mit der Straßenbahn und sie beginnt den Tag mit Turnübungen: Halbsieben Uhr morgens. Das Mädchen Gilgi ist aufgestanden. Steht im winterkalten Zimmer, reckt sich, dehnt sich, reibt sich den Schlaf aus den blanken Augen. Turnt vor dem weitgeöffneten Fenster. Rumpfbeuge: auf – nieder, auf – nieder. Die Fingerspitzen berühren den Boden, die Knie bleiben gestreckt. So ist es richtig. Auf – nieder, auf – nieder. (5)

Gilgi gemahnt nicht nur an die Sportbegeisterung der 20er Jahre, die auch in den modernen Wohnungen ihre Spuren hinterlassen hat – vornehmlich auf den Dachterrassen oder in den Bädern trainieren sich schlanke Körper an Sprossenwänden und Boxbällen (Abb. 22, S. 184, Abb. 35), wie sie auch im Mann ohne Eigenschaften zu finden sind –, dieses Mädchen entspricht den Vorstellungen klassischer Ästhetik, denn schon um 1800 wird der Idealkörper durch „Leibesübungen“63 zu einer „schlank-elastische[n] Kontur 60 Habermas 1999 (1996), S. 170. 61 Wittmann 1986, S. 261. 62 Annette Nobody, Mütter und Töchter – getrennte Welten? in: Frau und Gegenwart, 13. Dez. 1927, S. 4, zitiert nach: Kosta 1995, S. 276. 63 Johann Joachim Winckelmann, Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst, hrsg. von Ludwig Uhlig, Stuttgart 1990 (1969), S. 5.

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Poetik des Privatraums ohne Fettansätze“, zu „tadellose[r] jugendliche[r] Festigkeit“ gebildet, die einer „ununterbrochenen, falten- und öffnungslosen Linienführung der Haut“64 dient und den Gilgi auch durch den Einsatz von „Niveacreme“(6) zu optimieren trachtet. Abb. 35: Le Corbusier, Wohnhaus Wanner, 1928/1929.

„Hat was Sympathisches so’n Spiegel, wenn man zwanzig Jahre ist und ein faltenloses, klares Gesicht hat.“ (7) Selbst ihr „kleine[r] konvexe[r] Bauch“ (6) gemahnt an den Schönheitsdiskurs um 1800, der die sanften Wölbungen der antiken Leiber preist.65 Interessanterweise überträgt Gilgi die Ästhetik ihres Bau-Körpers auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, auf die Kommunikation der Körper untereinander. Auch hier geht es um einen Kampf gegen die Übelkeit in Anbetracht eines die klare Kontur, die (eigenen individuellen) Grenzen missachtenden Verhaltens. Unangenehm peinlich ist es ihr deshalb, als sich die Mutter nach ihrem Verhältnis zu Martin erkundigt: „Gilgi, du tust doch nichts schlechtes, du bist doch nicht schlecht, du bist doch nicht so eine?“ Gilgi verkrampft die Hände, bis die Knöchel sich wachsweiß von der Handfläche abheben. Das ist furchtbar so ein Gespräch! Sie hätte schon längst von hier fortziehen sollen. [...] „Du warst doch nicht etwa bei einem Mann in der Nacht, Gilgi?“ Gilgi schämt sich unbegreiflicherweise – für die Mutter. Daß die das so aussprechen kann! Vorwurf, Teilnahme, Interesse, Neugier – alles berechtigt – ja doch, ja – aber so ekelhaft. Alles zwischen Martin und mir,

64 Menninghaus 1999, S. 16. 65 Ebd. S. 132.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper das geht doch nur mich an. Daß sie nicht begreift, daß sie sich da nichts vorstellen darf – ich tu’ das doch auch nicht – ich denk’ doch auch nicht an Dinge zwischen ihr und ihrem Mann ...“ (108)

Unangenehm peinlich ist es ihr ebenso, als der Freund Hans in ihrer Gegenwart zu weinen beginnt (193), wenn ein Brief handgeschrieben ist und der Schreiber sich damit ‚offenbart‘ (151/152) oder wenn der Vorgesetzte sein Innenleben vor ihr aus[breitet] wie eine offene Skatkarte. [...] Armer Idiot [...]. Hör auf, nicht soviel Lyrik, paßt nicht zu deinem Pickel am Kinn. [...] Armer Alter, deine Mischung barock-merkantil verträgt kein glattes Nein. (26)

Gilgi dagegen „reagiert nach innen“ (30), verhält sich wie der Flieger in Brechts Ozeanflug – auf den Lethen aufmerksam macht – der in Zuständen der Erschöpfung darum bittet: „tragt mich/In einen dunklen Schuppen, daß/Keiner sehe meine/natürliche Schwäche.“66 Als Gilgi einige Zeit später gekündigt wird, ist sie glücklich darüber, und zwar nicht nur deshalb, weil sie im Zusammenleben mit Martin ihre ‚bürgerlichen Tugenden‘ entdeckt und sich fortan als nicht mehr erwerbstätige Hausfrau entwirft, sondern insbesondere deshalb, weil die Offenbarung des Innenlebens, der eigenen Tiefen, das ‚saubere‘ bzw. „glatte“ Verhältnis einer Geschäftsbeziehung trübt, eine klare Grenzziehung nachhaltig stört. Im Kontext des Ekel- und Wohndiskurses aber wird offensichtlich, dass der „Pickel am Kinn“, die „barock-merkantile Mischung“, das fehlende „glatte Nein“ aber auch die Lyrik, ‚das lyrische Fett‘, wie es Pinthus nennt, keineswegs zufällige Beschreibungen sind, sondern eben jenem Bereich des Ekels entspringen und der Ästhetik des Glatten und Eindeutigen diametral entgegen stehen. Le Corbusier erklärt noch 1958, dass die Beschreibung seiner Person als „barocker Architekt“, die „allergrausamste Bezeichnung ist, die man mir nur geben kann“,67 und bei Herder hieß es deutlich, dass jede Falte, jedes Grübchen, jede Höhlung, jede ‚Ecke‘ ‚eckel‘ wäre und die glatte, einheitliche Oberfläche eben so ‚widrig‘ stören würde ‚als jede Pockengrube oder jede fatale Unebenheit‘.68

66 Bertolt Brecht, Der Ozeanflug, Radiolehrstück für Knaben und Mädchen, in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 2, Stücke 2, Frankfurt am Main 1990 (1928/29), S. 565-585, hier S. 584. 67 Le Corbusier 2001 (1922), S. 10. 68 Menninghaus 1999, S. 79; er bezieht sich hier auf Johann Gottfried Herder, Plastik, einige Wahrnehmungen über Form und Gestalt aus Pygmalions bildendem Traume, 1778, in: ders.: Sämtliche Werke, Bd. VIII, hrsg. von Bernhard Suphan, Hildesheim, Zürich, New York 1994, S. 1-88, hier S. 29.

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Poetik des Privatraums Was Gilgi offensichtlich bevorzugt, ist eine „moderne Reduktion der Form“.69 Ein solches Verhalten führt Gilgi in die Nähe der von Simmel beschriebenen neurasthenischen Persönlichkeit, die sich der großen Zahl der auf sie einstürzenden Eindrücke nicht mehr gewachsen zeigt [und] eine Distanz zu ihrer sozialen und dinglichen Welt auf[baut]. Von der pathologischen Furcht, mit den Dingen in Berührung zu kommen, ist eine Gestaltung durchdrungen, die kaum mehr Berührung zuläßt bzw. [...] den Menschen aufdrängt. [Die] Architektur [eines Heinrich Tessenow] wird im Sinne Simmels zur ‚inneren Schranke‘.70

Um solche Schranken geht es ja auch Gilgi, die ihren Körper und ihre Identität mit eindeutigen Konturen und Grenzen versehen möchte, um den Ekel auszusperren, ja dieser kann nur dort entstehen, wo Grenzen überschritten werden. Auch wenn primär die Müttergestalten des Keunschen Romans von den adoleszenten Abgrenzpersonen zur Inkarnation des Ekels mutieren, so ist doch offenbar der gesamte Roman von der Problematik der Abgrenzung und Etablierung einer ‚neuen‘ Ästhetik und Identität, eines ‚neuen‘ Wohnund Körperbildes durchwoben. Das „ganze[...] Innere ist zum Kriegsschauplatz [...] geworden“ (112), notiert der Roman und deutet damit auf das Interieur, auf das eigentliche Zentrum des Romans, in dem es um Grenzstreitigkeiten geht. Bei aller Nähe zur Simmelschen Idee der ‚inneren Schranke‘ ist Gilgi jedoch keineswegs jene neurasthenische Persönlichkeit, die von der „pathologischen Furcht, mit den Dingen in Berührung“ zu kommen, verfolgt wird und sich den Eindrücken der Großstadt verschließt; ganz im Gegenteil ist sie ein Kind der Stadt, sie liebt die Straßen und Büros, die unterschiedlichen großstädtischen Erscheinungen: „Martin, im Sommer – im Sommer da werden wir zusammen im Rhein schwimmen – und die Radrennen sehn im Stadion. Das ist schön, Martin: die Jungens in ihren bunten Trikots, wie sie so abenteuerlich auf dem Rasen lagern. Und das wundervoll aufregende Geräusch der sausenden Räder – ssssssst – das flitzt um die Kurven herum – Krrrrrtschickbummm, da liegt einer – man hat das Gefühl, man ist mitgefallen. Und alles dampft und kribbelt und fiebert vor Aufregung und Spannung – und über allem so’n weiter friedlicher Himmel, und die Luft ist warm und zittrig, die Bogenlampen sehen im Dunkeln aus wie vom Himmel gefallene Sterne ...“ (142),

Sie liebt ihr Grammophon ebenso wie ihre Freundin Olga ihr Radio: 69 Franz Dröge, Michael Müller, Die Macht der Schönheit, Avantgarde und Faschismus oder die Geburt des Massenkultur, Hamburg 1995, S. 147. 70 Ebd., die Beschreibung bezieht sich auf den traditionellen Architekten Heinrich Tessenow.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Olga [...] fingert am Lautsprecher herum: gleich sechs Stationen auf einmal, drei ausländische, drei deutsche Sender. [Gilgi:]„Bist du verrückt geworden, Olga!“ „Gar nicht, ist gerade richtig so: Radio – Rrroma – Napoli – Herrlich! Die ganze Welt ist bei mir im Zimmer – Budapest – London – Amsterdam – München – wollen gleich mal sehn, ob wir noch ein paar Stationen dazukriegen.“ (68/69, Hvm)

Und dennoch ist diese Öffnung gegenüber der Stadt, gegenüber dem Anderen, dem Fremden nicht so radikal und dem Tessenowschen Konzept so diametral entgegengesetzt, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, Gilgis Öffnungen sind kontrollierte Öffnungen wie auch die Berührungen kontrolliert sind, kurz, jegliche Kommunikation funktioniert nur über distanzierte Nähe – zu den Sportlern ebenso wie zu den Metropolen „Budapest – London – Amsterdam – München“, eine distanzierte Öffnung, die ganz im oben beschriebenen Sinne eine reale Berührung gar nicht mehr zulässt. Das Radio kann abgestellt, das Stadion mühelos verlassen werden. Diese Struktur zeichnet auch die moderne Architektur aus, die bei aller Öffnung des Baukörpers die Grenzen des Privatraums der unbedingten Kontrolle des Individuums unterstellt. Die unentwegte Forderung nach mehr Licht und Luft und nach der Aufsprengung der Fassade lässt beinahe vergessen, dass zugleich auch neue Grenzen etabliert wurden, ja, dass die Liebe zu den neuen Materialien wie Beton anstelle des porösen Ziegelsteins, Stahl und Glas anstelle von Holz auch eine Promotion von Baustoffen betreibt, die fähig sind, seziermesserscharfe Grenzlinien zu ziehen. Die bürgerliche Kultur der Schattierungen und gemischten Temperaturen weicht einer Ästhetik der Entmischung, der Polarisierung aller Lebenssphären, der Faszination der ‚scharfen‘ Grenzziehung und klaren Kontur.71

Die Häuser öffnen sich nicht nur maximal, sie schotten sich auch burgenähnlich ab. Vielleicht lässt sich in der Grenze eine nicht minder wichtige Errungenschaft des modernen Wohnens erblicken wie in der Öffnung, denn just in dem Moment, in dem der Bewohner erstmals zum Herrn über die Grenzen des Privatraums gemacht, das Recht auf Wohnraum und damit auch das Recht auf ein uneinsehbares Privatleben gesetzlich fixiert wird, just in diesem Moment erst kann der Wohnkörper maximal geöffnet werden. Dabei handelt es sich, um es nochmals deutlich zu machen, um eine der Kontrolle des Bewohners unterstellte Öffnung: ihm obliegt die Macht der Grenzziehung, er kann die Fenster schließen und die Türen verriegeln. Während das Leben in Täschlers Mietblock das Ende aller Privatheit und Intimität symbolisiert, den Verlust jeglicher Grenzen, sind die modernen Architekten ebenso 71 Lethen 1994, S. 133.

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Poetik des Privatraums wie Gilgi darum bemüht, eben diese Grenze fest und unüberwindlich zu installieren. Die Zurückweisung der chaotischen Stadt mündet in Visionen, die den urbanen Außenraum zum Verschwinden bringen. Man denke nur an Moritz Ernst Lessers Utopie eines Hotels – das nur noch ein Stahlgerippe ist, in das die individuellen Reisezellen eingefügt werden können –,72 oder an Hilberseimers Entwurf einer Hochhausstadt, in der „Geschäfts- und Wohnstadt“ so übereinandergebaut werden, dass die „Wege von und zu dieser nicht mehr in der Horizontalen, sondern wesentlich in der Vertikalen zurückgelegt“ werden, „und zwar im Gebäude selbst, ohne die Straße betreten zu müssen.“73 All das endet in einer von Taut schon proklamierten Auflösung der Stadt. Was Hilberseimer für die Wohnebene seiner Hochhausstadt entwirft, verwirklicht Le Corbusier mit seinen Wohngebäuden im Kleinen, stellt er diese doch ebenso auf Stützen, hebt sie über das Straßenniveau, hebt sie heraus aus der Natur, um dann einen „nach außen fast geschlossenen Dachgarten mit künstlichen Beeten“74 anzulegen; in seiner Anzeige für die Immeuble-Villas betont er die völlige Unabhängigkeit eines jeden Bewohners: L’Immeuble-Villas n’est plus l’appartement de maison locative. Il apporte l’indépendance complète de chaque propriétaire. Il apporte cet élément capital nouveau: un jardin de 70 qm sur lequel ouvrent les pièces principales de chaque villa.75

Grenze und Öffnung gehören unmittelbar zusammen, sie werden in Keuns Roman über das Relais des Ekels verschaltet, der nicht nur die Eigenschaften der vetula, sondern auch der Hure Babylon näher bestimmt. „Es ekelt mich, also habe ich eine Grenze überschritten“76, heißt es bei Menninghaus, und dieser Zusammenhang macht deutlich, dass der Ekel auch deshalb eine solch prominente Rolle spielt, weil mit dem Wunsch nach neuen Räumen und Identitäten neue Grenzziehungen notwendig werden. Überall dort, wo diese Grenze noch zur Diskussion steht, also labil ist, kann auch der Ekel einfallen.

72 Siehe dazu ausführlich das Kapitel über Joseph Roths Hotel Savoy. 73 Hilberseimer 1978 (1927), S. 18. 74 Marlene Poelzig, Das Haus des Architekten, Architekt: Marlene Poelzig, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 14. Jg., 1930, Heft 10, S. 461-462, hier S. 461. 75 Le Corbusier, Alamanach d’Architecture Moderne, Reprint 1988 (1925), im Anzeigenteil ohne Seitenangabe, Anzeige für die Immeuble-Villas. 76 Menninghaus 1999.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper

DIE GRENZE DES MANSARDENZIMMERS Das Symbol gelungener Grenzziehung ist Gilgis eigenes und schon vor Einsetzen des Romans angemietetes Mansardenzimmer, das weitab von der elterlichen Wohnung liegt und ihr zur eigentlichen Heimat wird. Dieser Ort ist Garant ihrer Identiät, seine Adresse wird unter keinen Umständen preisgegeben (vgl. 124/125). In dieser ‚Wohnung für die alleinstehende Frau‘ könnte Gilgi zwar alle empfangen: „Freundinnen, Freunde und Martin, ihren Geliebten“, wie Kerstin Barndt erläutert und zugleich übersieht, dass Gilgi dies realiter nicht tut, vielmehr hält sie die Grenzen geschlossen; das Mansardenzimmer hat also offenbar eine andere Bedeutung. Hier ist sie zu Hause. Dieses Zimmerchen hat sie gemietet, um ungestört arbeiten zu können. Sie bezahlt es, und es gehört ihr. Die Wände hat sie mit braunem Rupfen bespannen lassen. Die Möbel: Diwan, Schreibtisch, Schrank, Stuhl hat sie allmählich Stück für Stück angeschafft. Alles ist eigenst erworbener Besitz. Die kleine Erika-Schreibmaschine und das Grammophon sind mit Überstunden verdient worden. (21)

Die Rupfenbespannung der Wände, Diwan, Samowar und Kimono erinnern an historistische Chinoiserien,77 Schreibmaschine und Grammophon gemahnen an das moderne Interieur, das den Diwan unter dem Begriff der Liege bzw. der Chaiselongue ebenfalls kennt: man denke nur an jene zur Ikone der Moderne geworden Liege von Le Corbusier. Aber selbst wenn Gilgi kein lupenreines funktionalistisches Interieur bewohnt, die reduzierte Einrichtung ist ebenso programmatisch wie ihr trainierter Körper: kein Gramm zuviel verunstaltet ihren Leib, kein überflüssiger Gegenstand ziert Gilgis Zimmer. So erscheint ihre Wohnung keineswegs mehr gemütlich im bürgerlichen Sinn einer ‚Guten Stube‘, ja sie erfüllt auch eine völlig andere Funktion, denn sie dient weder der Zusammenkunft von Familienmitgliedern noch dem Treffen anderer Individuen, sondern einzig und allein der Arbeit. Die Wohnung ist gleichsam Gilgis Atelier, in dem sie nichts Geringeres als sich selbst bildet.78 Um dieses Selbst herum entwerfen die Architekten ihre Baukörper als Erweiterungen des neusachlichen Körpers (Abb. 36), als Orte, an denen man auch dem anderen, primär aber sich selbst be77 Interessanterweise war dieser literarisch vermittelte Stil der Chinoiserien ein „Nebenstil zur Hauptströmung des Barock und auf Nebengemächer und Kabinette beschränkt, wo in Flucht vor den offiziellen Anforderungen des Tages dem Rückzug in private Träumereien gefrönt wurde.“ Ottomeyer, Ziffer 1993, S. 19. 78 Zum Atelier vgl. ausführlicher das Kapitel zu Martin Kessel Herrn Brechers

Fiasko.

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Poetik des Privatraums gegnet. Existentiell gar erscheint diese Begegnung mit der eigenen Person, der Privatraum wird zur conditio sine qua non des Lebens, er ist die nach außen getragene Körpergrenze, und diese Grenze wird in den 20er Jahren als „Bedingung der Möglichkeit des lebendigen Körpers“79 wahrgenommen. So erläutert auch Marlene Poelzig ihren Entwurf des eigenen Familienhauses: „Die Schlafzimmer sind angelegt nach dem Prinzip, möglichst für jeden ein Einzelzimmer zu schaffen, wenn es auch dadurch klein wird.“80 (Abb. 37) Abb. 36: Ironischer Entwurf zum persönlichen transportablen Kleinhaus, gezeichnet: Paris, 10.1.29 Le Corbusier.

Solche ‚Identitätszellen‘ finden sich häufig in den Wohnentwürfen der 20er Jahre, auch wenn diese kleinen Räume noch zu nicht viel mehr als zum Schlafen taugen81 (Abb. 37-40) – „Jeder Person ein eigenes Bett, jeder Familie ein eigenes Bad“82 –, so entsteht wie um 1800 das Ideal eines Rückzugsorts für die Kleinfamilie83 nun ein quer durch sämtliche Bevölkerungsschichten gehender „Wunsch nach einem eigenen Raum“.84 Am augenfälligsten wird dieser Wunsch in den Entwürfen für Ledige und Junggesellen. Das Bedürfnis nach einer Identitätszelle bedingt zugleich einen Mangel an

79 So urteilt Lethen über Helmut Plessners Grenzen der Gemeinschaft, Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924); Lethen 1994, S. 83. 80 Poelzig 1930, S. 462. 81 Die anfangs noch äußerst reduzierten Schlafkammern haben sich heute gewandelt zu auch am Tage bewohnbaren Individualräumen, vgl. Faller 1996, S. 37. 82 Gustav Wolf, in: Stein, Holz, Eisen, 1928, in: Faller 1996, S. 30. 83 Reulecke 1997, S. 21. 84 Geist/Kürvers 1984, S. 276.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Gemeinschaftseinrichtungen in den Siedlungen der 20er Jahre. So schreibt Peter Faller in seiner Abhandlung über den Wohngrundriss zwischen 1920 und 1990, es gebe „keine oder nur ganz wenige Versuche, die streng nach funktionalistischen Prinzipien eingesetzten Erschließungssytseme wie Treppenhäuser oder Laubengänge als Chancen für gemeinschaftsfördernde Raumangebote zu nutzen.“85 Abb. 37: Marlene Poelzig, Haus Poelzig, OG, Berlin, 1928/1929.

Abb. 38: Hans Scharoun, Haus in der Weißenhofsiedlung Stuttgart,OG, 1927.

In seinem Ausblick betont Le Corbusier ausdrücklich, die einzelnen Wohungen mit ihren Grünflächen seien isoliert und nebeneinander angeordnet: „Jeder Garten ist streng vom Nachbargarten getrennt.“86 Vor diesem architekturgeschichtlichen Hintergrund wird schließlich

85 Faller 1996, S. 46. 86 Le Corbusier 2001 (1922), S. 185.

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Poetik des Privatraums deutlich, dass es nicht alleine die finanzielle Ausweglosigkeit der Freunde Gilgis Hans und Hertha ist, die sie in den Tod treibt, ebenso letal erscheinen das Fehlen eines eigenen Zimmers und eines eigenen Betts. Was Margarethe Täschler in ihrer Armut immerhin noch alleine bewohnen darf, teilen sich Hans und Hertha mit ihren Kindern: an der Wand eine schmale Bettstelle, eine noch kleinere daneben, ein Waschtisch, ein Schrank, ein Tisch, zwei Stühle, ein kleiner Gasherd – sonst nichts. (S. 203/204)

Abb. 39: Bruno Taut: Haus in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart 1927.

Ganz anders nimmt sich Gilglis Interieur aus, das sie alleine bewohnt; wenn sich in ihrem Atelier weder die Kronsche Troddelampe noch die behäbige Eleganz ihrer leiblichen Mutter finden, dann ist ihr Zimmer dennoch nicht Ausdruck von Mittellosigkeit wie bei Hans und Hertha, sondern ganz im Gegenteil von veritablem Luxus, es ist ein Symbol ihrer finanziellen Unabhängigkeit, denn das Mansardenzimmer ist ihr Zweitzimmer neben ihrem Mädchenzimmer, später dann das Zweitzimmer neben der gemeinsamen Wohnung mit Martin.87 Im „nackte[n], kahle[n] Zimmer“ ihres Bekannten Pit, der aus wohlhabendem Hause stammt,88 findet Giselas Interieur ein Pendant. Pit lebt in einem Raum, der erneut ungeeignet erscheint,

87 Ebenso dient Gilgis Berufstätigkeit weder der vorehelichen Existenzsicherung, „noch ist sie die Folge einer sozialen Zwangslage“, wie Ingrid Marchlewitz (Irmgard Keun, Leben und Werk, Würzburg 1999, S. 62) betont. 88 „Verrückter Kerl, er könnte es so gut haben. Sein Vater hat das schönste Haus in Marienburg, hat Geld und einen guten Namen. Pit ist sein einziger Sohn.“ (34)

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Besuch zu empfangen, geschweige denn Gesellschaften zu geben, wie sie noch in Theodor Fontanes Frau Jenny Treibel für die Bildung des bürgerlichen Subjekts so unabdingbar schienen, Gesellschaften, deren allmählicher Verlust in Gabriele Tergits Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm von der Elterngeneration bitterlich beklagt wird: „Das ist eine lächerliche Idee, Wohnungen ohne jede Repräsentation [...]. Eine richtige, hochherrschaftliche Wohnung fängt bei sieben Zimmern an, drei Toiletten, Anrichte, zwei Bäder, Wintergarten, das ist richtig.“89 Pit aber ist ebenso wenig wie Gilgi auf „Besuche eingerichtet“ (34): Hier trinkt man aus Eierbechern oder Zahnputzgläsern (219), hier sitzt man nicht auf Stühlen, sondern auf einer ärmlichen Feldbettstelle (33), die explizit an funktionalistische Entwürfe gemahnt (Abb. 41-42). Bertolt Brechts Herr Keuner ist Pits Bruder im Geiste, er wünscht sich andere Möbel, schlechtere, billigere, armseligere“, denn zu seinen „Gedanken paßt der Reichtum nicht.“90 Abb. 40: Peter Behrens, Entwurf für ein Terrassenhaus (1926) mit abtrennbaren oder bereits abgetrennten Schlafkammern.

Mithilfe des Wohn- und Ekeldiskurses fügt sich Gilgi in eine Ästhetik, die es ihr ermöglicht, sich nach den Idealen eines klassischen Wohn-Körpers zu entwerfen: mit klaren Grenzen und glatten Oberflächen. Der Privatraum wird zur abgegrenzten Intimsphäre, deren Öffnungen und Schließungen der individuellen Kontrolle unterstehen. Giselas Leben funktioniert wie der perfekte Grundriss einer Wohnung, in den jeder Gang eingezeichnet ist, wie eine „sauber gelöste Rechenaufgabe“(71). Sie verfolgt damit einen Lebensentwurf, der sich in den funktionalistischen Traktaten zum

89 Tergit 2004 (1931), S. 179/180. 90 Bertolt Brecht, das Schlechte ist auch nicht billig, in: Geschichten vom Herrn Keuner, in: Gesammelte Prosa in vier Bänden, Prosa 2, Frankfurt am Main 1980, S. 378,

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Poetik des Privatraums Städte- und Wohnungsbau wiederfindet; so etwa wenn Le Corbusier über den mittelalterlichen und mit Camillo Sitte wieder in Mode gekommenen Städtebau polemisiert, dass er damit den Wegen der Esel folge: Der Esel geht im Zickzack, döst ein wenig, blöde vor Hitze und zerstreut, geht im Zickzack, um den großen Steinen auszuweichen, um sich den Anstieg sanfter zu machen, um den Schatten zu suchen, 91

Abb. 41: Hannes Meyer, Co-op-Interieur, 1926.

Dagegen wird der denkende Mensch gesetzt, der zu anderen Ergebnissen im Städtebau kommen muss: Der Mensch beherrscht sein Gefühl durch die Vernunft. Er bändigt seine Gefühle und seine Instinkte um des vorgefaßten Zieles willen,92

Ein solcher Mensch erscheint mit Gilgi in der Romanliteratur plastisch zu werden. Sie zieht den modernen Rohrstuhl allen anderen Sitzgelegenheiten vor (17), sie lehnt die verwinkelten Gassen der Kölner Altstadt ab (153), sie braucht, wie sie zu verstehen gibt, ein Ziel (141). Ja selbst noch in ihrer Ambivalenz erscheint Gisela Produkt des Wohndiskurses der 20er Jahre – denn trotz aller Innovationen erscheint als der genuine Aufenthaltsort der Frau immer noch das Heim.

91 Le Corbusier 1979 (1925), S. 5, 6. 92 Ebd.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Abb. 42: Mart Stam, Haus in der Weißenhofsiedlung, Stuttgart, 1927.

DIE GEMEINSAME WOHNUNG ALS ORT DER GRENZAUFHEBUNG UND DES SELBSTVERLUSTS Als sich Gilgi in Martin verliebt, entwirft sie sich folgerichtig, und den Wohndiskurs herausfordernd, als Hausfrau: Gisela und Martin ziehen in die freistehende Wohnung eines Freundes ein. Die notdürftig aus ihrem Leben verwiesene vetula wird erneut von Gilgi Besitz ergreifen, denn diese Wohnung entspricht so gar nicht ihrem Selbstbild, erinnert vielmehr an das Interieur ihrer leiblichen Mutter. Von einer Bibliothek in „Eichenmöbelharmonie“ (77) und dicken Teppichen ist die Rede, von bunten Kissen und weichem Licht (94), eben von jenen dunklen Zimmern, die in Gilgis Augen die adäquate Umgebung für eine Frau über vierzig abgeben, aber nicht das Ambiente für eine Zwanzigjährige sind. Als Gilgi dann auch noch ihre Arbeit aufgibt und sich als kleinbürgerlich sparsame Hausfrau geriert – sie entlässt die Haushaltshilfe und beginnt sich ihre Kleider selbst zu nähen – liegt die Versuchung nahe, den Roman als das zu beurteilen, was er auf den ersten Blick darzustellen scheint, als harmlose Liebesidylle oder Adoleszenzroman über eine Protagonistin, der der soziale Aufstieg gelungen ist. Sie hält es fest in der Hand, ihr kleines Leben, das Mädchen Gigli. Gilgi nennt sie sich, Gisela heißt sie. Zu schlanken Beinen und kinderschmalen Hüften, zu winzigen Modekäppchen, die auf dem äußersten Ende des Kopfes geheimnisvollen Halt finden, paßt ein Name mit zwei i. (5)

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Poetik des Privatraums Was hier gleich zu Beginn des Romans wie ein literarisch und ästhetisch kaum ambitionierter Jugendroman daherkommt93 und sich später zu nicht viel mehr als zu einer Liebesidylle zu entwickeln scheint – Keuns Erstling wurde von Anfang an der Vorwurf gemacht, bloßes Melodrama oder Kolportageroman zu sein94 – endet aber nicht an diesem Punkt. Die nunmehr putzende und kochende Protagonistin beschleicht zusehends ein Gefühl des Unwohlseins, ihr Innenleben, das zum „Kriegsschauplatz“ erklärt wurde, zum Ort, an dem die entscheidenden Ereignisse stattfinden, erscheint im neuen Heim keineswegs befriedet. Gilgi reagiert mit einem heftigen Gefühl des Selbstverlusts: [I]ch gehöre mir ja nicht mehr. Das, was ich im Spiegel seh’, hat ein andrer aus mir gemacht, ich kann nicht stolz darauf sein. – Ich sollte so nicht aussehen – so ohne Beziehung zu Straße, Staub, Alltag. [...] Mein Körper ist mir fremd [...]. [S]pitzgefeilte Nägel, glänzend von rosigem Lack. Vier zärtliche, verliebte Luxusfinger an jeder Hand – daneben die Zeigefinger mit den hartgetippten Kuppen – gewöhnliche, robuste Arbeitsinstrumente [...], zwei ordinäre – ihr häßlichen, stumpfnägligen, von allen meinen zehn Fingern seid ihr beiden mir immer noch die liebsten. – (135)

Es ist der Verlust der kontrollierten Grenze, der in Gilgi erneut Ekel hervorruft und zugleich ihre Berührungsangst offenbart. Während sie im Liebesverhältnis zu Martin anfangs noch auf dem Unterschied zwischen „Vertrautheit“ und „Intimität“ beharrt (99), liest sie später an Martin adressierte Briefe (151), beginnt sein Zimmer aufzuräumen, ja nimmt schließlich sogar seine Vorlieben an: sie flaniert auf einmal in den Straßen und goutiert das Gewirr der Gassen (142f), obwohl ihr das ziellose Gehen offensichtlich zuwider ist (141).Und während sie sich im Haus der Eltern noch darüber entrüstet hat, dass ihre Grenzen nicht gewahrt werden (sei es, dass der Vater in ihr verriegeltes Zimmer eindringen will (109/110), sei es, dass die Mutter Einsicht in ihr Seelenleben wünscht (108)), hat sie diese Grenzen nun selbst eingerissen. Das Mansardenzimmer und ihre zwei Zeigefinger sind die letzten Relikte ihres Selbstverständnisses und Identitätsentwurfs. Hier, im Zusammenleben mit Martin,

93 Vgl. dazu Niefanger 2005, S. 36, 39. 94 So spricht Ingrid Marchlewitz von einer „kolportagehaften Liebesgeschichte“ (Marchlewitz 1999, S. 60), Hiltrud Häntzschel erwähnt, die Handlung habe „einiges an dick aufgetragener Kolportage“ (Irmgard Keun, Reinbek bei Hamburg 2001, S. 25) und Hans Fallada spricht von einer „Kolportagehandlung“ (Hans Fallada, Fünf Frauen schreiben, in: Die Literatur, Monatsschrift für Literaturfreunde 34 (1931/32), Heft 5 (Februar 1932), S. 249f, in: Arend/Martin 2005, S. 69).

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper auf dem Kriegsschauplatz des Interieurs erst zeigt sich die Problematik der Etablierung einer neuen, weiblichen Identität. Die eine Seite ist es, durch Absägen alter Möbel und durch tägliche Turnübungen diese verschlankten Körper zu trainieren, wie sie bereits Henry van der Velde erträumte: Ich liebe die Möbel, die ihre Zweckmäßigkeit und Reinheit der Form bewahrt haben, wie ein einfaches Mädchen die Reinheit seines Körpers bewahrt und seine Schlichtheit der Schminke und dem Putz der Kurtisanen vorzieht, 95

die andere Seite ist es, einen mit diesen Idealen verbundenen Subjektentwurf real zu leben. Gilgi scheitert an diesem Punkt des Romans gemeinsam mit den Architekten – die allerdings für beide Geschlechter ein neues Bild entwerfen, die topographische Zuweisung jedoch unverändert lassen: der Mann hat sich in der Arbeitswelt, die Frau im Haushalt zu bewähren.96 Anders als den Architekten aber ekelt es Gilgi nun nicht mehr vor der vetula, sondern vor ihr selbst, vor ihrem eigenen Entwurf. Sie treibt ihre Selbstaufgabe so weit, bis ihr die kaum besessene „körperbezogene Identität“ abhandengekommen ist und sie sich „in dem eigenen Körper“ keineswegs mehr „wohl und zu Hause“97 fühlt, wie das Tilmann Habermas in seiner Studie zur Identitätsbildung formuliert. Gilgi ist sich vielmehr selbst zur vetula geworden. [E]s ekelt mich an, daß ich so machtlos gegen meinen Körper bin. (195) Ich fühlte mich immer sauber und klar, ich war meiner sicher und hatte meinen Willen und eine selbstgezogene Grenze [...]. Und jetzt [...] ich habe keine Grenze mehr und keinen Willen [...], ich habe eine quälend körperliche Beziehung zu allen Dingen98 [...]. Ich bin mir unsagbar zuwider. [...] (170/171, Hvm) Und jetzt

95 Henry van der Velde, Amo, in: Henry van der Velde, Zum neuen Stil, hrsg. von Hans Curjel, München 1955, S. 203, Übersetzung zitiert nach Hilpert 1978, S. 18. 96 Vgl. Susanne Frank, Stadtplanung im Geschlechterkampf, Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003, S. 224, die allerdings übersieht, dass es sich hier um ein konservatives Modell für beide Geschlechter handelt, beide erscheinen als Produkte einer mechanisierten Welt, die ihnen allerdings Stunden zur Bildung eines neuen Subjekts zur Verfügung stellt, wie Le Corbusier in seiner ville radieuse beschreibt: „If the husband’s working day is reduced to a mere 5 hours, then we must be careful not to force the wife back into 12 or 16 hours of household tasks from which she has recently so energetically escaped. What is the sauce for the goose is sauce for the gander: only 5 hours housework per day as well.“ (Le Corbusier 1967 (1933), S. 112). 97 Habermas 1999 (1996), S. 24. 98 Für Plessner bedeutet der Grenzverlust, dass das ohnmächtige Subjekt nur noch seine Kreatürlichkeit ins Feld führen kann, vgl. Lethen 1994, S. 90.

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Poetik des Privatraums dringt alles in einen hinein – dringt Geruch in einen hinein – Menschen in einen hinein – Raum in einen hinein [...], fremde Gedanken dringen einem in die Poren, fremde Wünsche, fremde Lust, fremde Schwermut – Fremdes, das sich in einem festsetzt (183/184, Hvm).

Ähnlich beschreibt Tilmann Habermas die zwei Pole, zwischen denen das Körperbild pendelt: Durchlässigkeit (penetration) und Stabilität bzw. Festigkeit (barrier).99 Wenn sich zwei Körper räumlich nahe kommen, dann lasse vor allem die Festigkeit nach,100 die Körpergrenze tendiere zum Pol der Durchlässigkeit. Es ist genau jene Verstörung der Körpergrenze, die in Bezug auf Gilgi geschildert und in der Liebesbeziehung zu Martin auf die Spitze getrieben wird. Dabei ist die Durchlässigkeit der Grenzen durchaus wörtlich zu nehmen, denn die körperliche Öffnung im Geschlechtsakt wird in dem Roman parallel geschaltet mit der Aufgabe jeglichen privaten Raumes. Nur vor diesem Hintergrund wird offensichtlich, dass es die Penetration mit ihren Folgen ist, die schließlich zum Wendepunkt des Romans wird: Die Protagonistin hat die Kontrolle über den eigenen Körper, die letzte Bastion der Identität, verloren101 – im übertragenen Sinne ist sie wieder zum Kind geworden. Nur so lässt sich Gilgis heftige körperliche Reaktion und die Entscheidung zu räumlicher Distanznahme erklären. Das elementare Muster des Ekels ist die Erfahrung einer Nähe, die nicht gewollt wird. Eine sich aufdrängende Präsenz, eine riechende oder schmeckende Konsumtion wird spontan als Kontamination bewertet und mit Gewalt distanziert. Die Theorie des Ekels ist insofern ein Gegenstück – wenn auch kein symmetrisches – zur Theorie des Liebens, des Begehrens und des Appetits als Formen des Umgangs mit einer Nähe, die gewollt wird. Appetit und erotisches Begehren zielen auf die Aufhebung von Distanz, auf die Herstellung von Vereinigung.102

Ganz offensichtlich wird in Gilgi die zwischenmenschliche Kommunikation zu einem eminent schwierigen Unterfangen, und (romantische) Liebesbeziehungen gar erscheinen unmöglich, präsentieren sich als Formen von Nähe, die unkontrollierbar sind und unbere99 100 101

102

Habermas 1999 (1996), S. 65. Ebd. S. 64. Gilgi ist deshalb ein gutes Beispiel für Lethens kalte persona (die auf Plessners Schrift Grenzen der Gemeinschaft aufbaut), die die gemeinschaftliche Vereinigung mit Martin nur bereuen kann, reißt die Gemeinschaft per se doch die Körpergrenzen nieder. „Ruinös wirkt der Fundamentalismus des Gemeinschaftsgedankens auf den einzelnen. Der ‚Purismus‘ seiner Wertlehre reißt die ‚Körpergrenzen‘ des einzelnen nieder.“ Lethen 1994, S. 77. Menninghaus 1999, S. 7, 8.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper chenbar über einen hereinbrechen. Die scheinbar so radikalen Öffnungen und Bloßlegungen des Körpers funktionieren nur, solange ihre Kontrolle sichergestellt ist, die Aufhebung von Distanz ist gleichzusetzen mit dem Verlust der Grenze.103 Gilgis Leben ist nunmehr „weich“ und „zerflossen“ (121), eine Charakterisierung, die bisher Gilgis Müttern galt, ihr ganzer Körper wird zum Ausdruck ihrer Verwandlung: sie beginnt zwar keineswegs Kronsche Cremeschnittchen zu verschlingen, aber ihre Schwangerschaft hat eine ähnlich fatale Auswirkung auf ihren gestählten Leib. Ganz im Sinne der klassischen Ästhetik empfindet sie ihren sich wandelnden Körper zunächst auch als etwas „Fremdes“ (184), als „unhygienisch“ und „widerlich“ (176f), geht sie doch mit einer die glatte Oberfläche entstellenden Schwellung einher.104 Aber selbst als sich Gilgi für Schwangerschaft und für das Kind entscheidet: Die Erfahrung des Verlustes jeglicher Grenze und damit jeglichen persönlichen Raumes treibt sie zum radikalsten Ortswechsel ihrer Biographie: sie verlässt Köln und reist nach Berlin. Mit dieser Entscheidung versucht Gilgi die Kontrolle über ihren persönlichen Raum zurückzugewinnen – ein allerdings eminent aussichtsloses Unterfangen in Anbetracht ihrer Schwangerschaft, welche die Kontrolle über den primären persönlichen Raum, eben den Körper, gänzlich übernommen hat, aussichtslos auch im Hinblick auf die realen Rechte der mittellosen, und eben auch meist ‚ehelosen Mütter‘ der 20er Jahre, wie sie Vicki Baum mit ihrer Stud. Chem. Helene Willfüer 1929 schonungslos in den Blick genommen hat: „Wissen Sie die Bedingungen, unter denen ein mitteloser, unverheirateter Mensch ein Kind bekommen darf? Diese Bedingungen bestehen aus einer großen Wohltat und einer großen Härte. Man darf bis sechs Wochen vor der Geburt in die Klinik eintreten und darf bis sechs Wochen nach der Geburt dort bei seinem Kind bleiben. Das ist sehr schön. Aber man muß in diesen Wochen als Studienmaterial dienen, man muß den Studenten zur Verfügung stehen, man 103

104

Elke Reinhard-Becker macht zu Recht auf den radikalen Unterschied zwischen Gilgis neusachlicher Liebe, die sie zu diversen Männern vor Martin pflegte, und jener romantisch-aufklärerischen Liebe zu Martin selbst aufmerksam. Während in der neusachlichen Liebe die Identität gewahrt bleiben konnte, ist das zweite Liebesmodell auf Verschmelzung hin angelegt, jedoch „vermischen sich verschiedene Diskursfragmente“, so Reinhard-Becker, „die weder die romantische Individualitätskonstruktion zulassen noch die sachliche Bewährung des eigenen Ich ermöglichen.“ Reinhard-Becker 2005, S. 303. „Hören Sie, Herr Doktor, es ist doch das Unmoralischste und Unhygienischste und Absurdeste, eine Frau ein Kind zur Welt bringen zu lassen, das sie nicht ernähren kann. Es ist darüber hinaus das Unmoralischste und Absurdeste, eine Frau ein Kind kriegen zu lassen, wenn sie es nicht haben will ...“. (176)

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Poetik des Privatraums besitzt nicht einmal die Stunde der Geburt für sich allein, und das ist, wenn auch notwendig, eine große, unerträgliche Grausamkeit.“105

Die Freiheit der Frauen, welche die Macht über ihren eigenen Körper einfordern, hört spätestens bei der Schwangerschaft auf.106 Gilgis auf einer klassischen Ästhetik basierendes Ideal des Neuen Menschen wird also spätestens dann zum offensichtlichen Problem, wenn die „ununterbrochene Haut-Oberfläche“107 im Akt der Penetration tatsächlich durchstoßen wird und das „Körperinnere“108 auf einmal nicht mehr unangetastet bleibt. Auf den unterschiedlichsten Ebenen stellt sich die zwischenmenschliche Kommunikation als Problem dar, das sich schließlich zum Ekel vor Sexualität und Schwangerschaft109 steigert. Die Furcht vor jeder menschlichen Berührung bei gleichzeitiger Berührungseuphorie gegenüber modernen, das Leben in der Stadt auszeichnenden Erscheinungen wie Musik und Sport geht einher mit der Angst des Selbstverlusts. Es sind die persönlichen Räume, des Körpers und der Wohnung, die das eigentliche Drama des Romans verdeutlichen: in und an diesen wird der Konflikt moderner Identitätsbildung sichtbar. Das Mansardenzimmer rettet Gilgi nicht, ihr room of her own, wie es Virginia Woolf für jede schreibende Frau gefordert hat – und sei diese schreibende Frau auch nur Stenotypistin in der neusachlichen Angestelltenwelt –, reicht offenbar nicht aus, um als Neuer Mensch tatsächlich leben zu können. Die Entrümpelung des Inneren der Häuser im Sinne des Neuen Bauens bietet neue Spielflächen, gibt Anleitungen zu einem selffashioning, das aber nur teilweise gelingt. Die Machbarkeitsphantasien teilt Gilgi mit den Architekten, sie glaubt an die Planbarkeit des eigenen Lebens wie jene an die ganzer Städte. Anthony Vilder nannte das den funktionalistischen Optimismus, Gesche Blume „die Darstellung eines Lebensentwurfs [...], der auf Pragmatismus ausgerichtet ist: Leben als etwas Konkretes, Formbares, Faßbares, das man wie einen Gegenstand in der Hand halten kann.“110

105 106

107 108 109 110

Vicki Baum, stud chem. Helene Willfüer, Roman, München 1975 (1929), S. 136. Vgl. dazu auch: Kosta 1995, S. 280, die u.a. darauf verweist, dass 5.296 Frauen im Jahr 1924 wegen der Verletzung des § 218 inhaftiert waren, ebd. Fußnote 27. Menninghaus 1999, S. 93. Ebd. S. 82. Vgl. dazu das bei Mennighaus beschriebene Ideal des Körpers ohne Bauch sowie den Sexualekel; Menninghaus 1999, S. 112, 280. Blume 2005, S. 80.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Sei es nun Gilgis Selbstverständnis als Gegenpol zur vetula oder seien es die Entwürfe der Architekten als Gegenmodell zur stinkenden Hure Babylon: Gilgis räumliche Orientierung, ihre Suche nach Identität und die dabei zutage tretende Strategie der Aus- und Abgrenzung, ist weitaus vielschichtiger als dies ein schlichter Jugendroman vermuten lassen würde: Auseinandersetzung mit einem neuen Körper- und Identitätsbild, das bis in die klassische Ästhetik zurückreicht und über die Definition und Ausgrenzung von Ekelmomenten bestimmt ist. Spannend aber wird der Roman vor allem an jenem Punkt, an dem das adaptierte Programm der Klassischen Ästhetik für das eigene Leben untauglich wird, an dem deutlich wird, dass das Absägen von Vorbauten leichter zu vollziehen ist, als die Etablierung einer neuen Identität. Gilgi ist nicht einzig und allein eines jener 20er Jahre Girls, eine Garçonne, die mit Bubikopf und durchtrainiertem Körper das Bild der Neuen Frau repräsentiert, Gilgi ist zugleich ein Roman, der explizit „das ganze Innere [...] zum Kriegsschauplatz“ (112) erklärt. In den Innenräumen finden die eigentlichen Konflikte statt, hier muss sich der individuelle Selbstentwurf bewähren, während auf den Straßen und Plätzen, im öffentlichen Raum Gilgis selffashioning problemlos funktioniert. Solchermaßen schwankt das neusachliche Bild vom Subjekt zwischen den Visionen der Machbarkeit und Kontrolle einer stabilen Identität und einer fragmentarischen Existenzform, die sich immer nur vorübergehend arrangiert, immer nur vorübergehend eine Heimat findet. Wie schon Ginster, so ist auch Gisela Kron körperlich in diesen Prozess aufs äußerste involviert, der Körper wird zum Ort des „ästhetisch geleiteten Probehandelns“.111 Der Versuch, sich als Partnerin und ‚Ehefrau‘ zu entwerfen, ist gescheitert, der Versuch, als Kleinfamilie zu leben, wird erst gar nicht gewagt112 – zu unsicher und misogyn ist das Terrain, das Le Corbusier sarkatisch beschrieben hat: „Wenn man eine Fabrik einrichtet, kauft man das notwendige Werkzeug; wenn man heiratet, mietet man sich blödsinnige Wohnungen.“113 Giselas Berührungsangst treibt sie nach Berlin. Am Ende des Romans ist Gilgi unterwegs, es ist die Frau, die ihren Geliebten verlässt – aber nicht deshalb, weil sie ihn nicht mehr lieben würde, sondern weil sie die labile Konstruktion einer neuen Identität in seiner Gegenwart nicht wahren kann, weil Kommunikation, das Miteinander, zumal in einer Liebesbeziehung, die eben erst errichteten Grenzen zerstört. „The heterosexual love relationship and

111 112 113

Dröge, Müller 1995, S. 210, 211. „Außer Ehe, Filmschauspielerin und Schönheitskönigin zieht sie jede Existenzmöglichkeit in Betracht.“ (22) Le Corbusier 2001 (1922), S. 179.

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Poetik des Privatraums sexual desire test the fragility of the new woman’s identity“,114 und dieser Testlauf scheitert. Es sind die intimen Öffnungen, die als unmöglich beschrieben werden, wenn alles daran gesetzt wird, dass diese Öffnungen kontrolliert und distanziert bleiben. Gilgis Haltung entspricht Helmuth Plessners „Recht auf Distanz“, das er 1924 in seinen Grenzen der Gemeinschaft gefordert hat, ein „Recht des einzelnen auf einen Freiraum, das sich nur in der Gesellschaft, der ‚Nichtvertrautheitssphäre‘ realisieren ließe.“115 Tatsächlich scheint Gilgi sich in diesem Geiste zu entwerfen, denn Berührungseuphorie lässt sich nur dort beobachten, wo sie wie im Stadion zugleich die Kontrolle über Distanz und Nähe hat und somit die Grenze und den Grenzverlust, mithin den Ekel bzw. dessen Gegenstück, die Liebe, beherrscht. Oder anders ausgedrückt: Gefühle lassen sich nur dort ausleben, wo sie klar begrenzt sind, nämlich im Bereich der Populärkultur.116 Wie ambitioniert Keuns Erstlingsroman nicht nur auf der Ebene der histoire mit seinen unterschiedlichen Diskursen verfährt, sondern auch auf der Ebene des discours, soll das letzte Kapitel verdeutlichen helfen. So bemerkt Götz Großklaus in seiner Studie MedienZeit, Medien-Raum zu Recht, dass die Medien selbst diese Diskurse aufbringen, Grenze und Grenzauflösungen, Distanz und Nähe thematisieren. Mit dem Auftreten der neueren und neuesten Medien: mit Fotografie, Film, Radio und Fernsehen kann jedes reale Geschehen, wo immer und wann es sich ereignet, wie entfernt auch immer der Ort des Geschehens sein mag, zum Nahereignis werden über sein mediales Abbild. [...] Dieser kommunikativsymbolische Distanzschwund kehrt auf der semantischen Ebene wieder als Aufzehrung der Ferne, des Außen: des Außenraums, des Fremdraums, der Ferne auch der Zeit: des Vergangenen und des noch Kommenden. [...] Der ursprüngliche, vor-elektronische Nah- und Eigenraum wird zunehmend überschwemmt von Fremd-Zuflüssen, die nicht mehr nach den traditionellen raumzeitlichen Mustern geordnet und strukturiert werden können.117

Es sind die alten räumlichen Orientierungsschemata von: außen/innen – fern/nah – offen/geschlossen etc. und die abgeleiteten sozialen Orientierungsmuster der bürgerlichen Gesellschaft wie: privat/öffentlich – eigen/fremd[, die] tendenziell 114 115 116

117

Kosta 1995, S. 279. Wedepohl 1998, S. 114/115. So auch Urte Helduser, Sachlich, seicht, sentimental. Gefühlsdiskurs und Populärkultur in Irmgard Keuns Romanen Gilgi – eine von uns und Das kunstseidene Mädchen, in: Arend/Martin 2005, S. 13-29, hier S. 19. Großklaus 1997 (1995), S. 97.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper ihre Bedeutung ein[büßen], und zwar in dem Maße, wie die Verunsicherung der Wahrnehmung verläßlicher Grenzen zwischen den Feldern fortschreitet.118

Anders als bei Heinrich Tessenow erscheinen deshalb in Keuns Roman nicht mehr die Lebensäußerungen der Großstadt angstbesetzt, das Fremde kann vielmehr mühelos und distanziert genossen werden, problematisch wird vielmehr der Nahraum, das Allernächste, die Familie, die Mütter, der Geliebte, zu diesen gilt es Distanz aufzubauen, hier werden innere Schranken errichtet. Solchermaßen stellt das in den Nahraum eindringende Fremde nicht an und für sich ein Problem dar, sondern vielmehr das ihm innewohnende Potential der Irritation intimster privater Beziehungen. Gilgis Identitätskrise ist deshalb nicht nur, wie Barndt und andere Autoren immer wieder betonen, eine Sprachkrise119, in den 20er Jahren zeigt sich die entscheidende Krise vielmehr in der radikalen Verunsicherung bzw. Umgestaltung der Körper und Wohnungen. Um diese Körper und Grenzen kämpft Gilgi auf der Ebene der histoire wie auch des discours. In welcher Weise aber kann ein literarischer Text als Medium an dieser neuen Auseinandersetzung teilhaben? Dass es sich auch hier um Verhandlungen von Distanz und Nähe handelt, das verdeutlicht bereits der Titel, der programmatisch Gilgi als eine von uns in die unmittelbare Nähe des Lesers rückt. Wie aber wird sie zu einer von uns? Wie hält es der Text selbst mit der Kontrolle der Grenzen, kann auch hier eine Reduktion der Form festgestellt werden, kann von Berührungsangst oder Berührungseuphorie die Rede sein?

Der textuelle Raum Für einen Roman, in dem es fortwährend um gelungene und misslungene Grenzziehungen geht, ist vor allem der Erzählmodus von Interesse, denn hierüber lässt sich beeinflussen, wie mittelbar distanziert bzw. unmittelbar intim das Erzählte präsentiert, wie nah der Leser an den persönlichen Raum des Protagonisten geführt 118

119

Großklaus 1997 (1995), S. 97, 98; an späterer Stelle heißt es in eben diesem Sinne und in Auseinandersetzung mit dem Fernsehen: „[S]imulatorisch wird der Eindruck erweckt, als ob sich ferne öffentliche Schauspiele [...] überhaupt ‚Fremde‘ auf der Bühne meines Wohnzimmers – wie es Meyrowitz sagt – ereignen. Die traditionell getrennten Raumbereiche des Nahen = Eigenen und des Fernen = Fremden, des Privaten und des Öffentlichen überlappen, die Grenzen als Linien der Differenz werden diffus.“ ebd. S.110. So beispielsweise: Barndt 2003, S. 140ff; vgl. dazu auch die folgenden Ausführungen zum textuellen Raum.

241

Poetik des Privatraums wird.120 Ausgehend von den Ergebnissen auf der Ebene der histoire stellt sich also die Frage danach, ob auch auf der Ebene des discours so etwas wie der ‚persönliche Raum‘ Gisela Krons verhandelt wird, ob auch hier davon die Rede sein kann, dass das ganze Innere zum Kriegsschauplatz geworden sei, auf dem neue Grenzen erprobt werden. Gilgis Fähigkeit zu „eiskalte[r] Sachlichkeit“ (175), ihr Wunsch nach klaren, glatten Konturen, legt einen distanzierten narrativen Erzählstil nahe, der maximale Grenzziehungen ermöglicht und darüber hinaus einem neusachlichen Roman entspräche, der „an die Stelle der gedrehten Tischbeine, der geblümten Tapeten, der Häkeldeckchen, der Stuckfassaden, das pure Material in der handwerklich einfachsten und zweckmäßigsten Verarbeitung“, also die Reduktion der Form setzt. Tatsächlich aber finden sich in Keuns Roman sowohl der narrative als auch der involvierende dramatische Modus,121 der schließlich auch dominiert. Auf der einen Seite der Skala finden sich der Bewusstseinsbericht [„Gilgi [...] überlegt, ob sie heute ausnahmsweise erst warm und dann kalt brausen soll.“ (5/6)], der Gesprächsbericht [Gilgi „erzählt von Herrn Reuter, von Pit, vom Büro, der dicken Müller, der kleinen Behrend. Sogar von ihrer Elternsuche erzählt sie.“ (92/ 93)] und die Erzählung von Ereignissen [„Gilgi läßt sich das eiskalte Wasser auf die mageren Schultern, den kleinen konvexen Bauch, die dünnen, muskelharten Glieder prasseln. Sie preßt die Lippen zu einem schmalen, festen Strich zusammen“. (6)]; auf der anderen Seite trifft man auf direkte Rede [„„Machen Sie immer so ein böses Gesicht?“ fragt Herr Reuter. [...] „Ich mache gar kein böses Gesicht.“ (17)] aber auch auf autonomen inneren Monolog [etwa Gilgis Selbstgespräch unter der Dusche: „Eins – zwei – drei – vier. Nicht so schnell zählen. Langsam, ganz langsam“ (6), oder auch auf Melodiefetzen, die ihr durch den Kopf schwirren: „Tieta – tatieta ...“ (7)], wobei der Erzähler zur Mitsicht mit seiner Protagonistin tendiert. Ganz offensichtlich also rücken Erzähler und Leser auf Gilgis „Kriegsschauplatz“ vor, das heißt nehmen und erhalten Einblick in ihr Innenleben, ja, ihnen allein ist es auch vergönnt, das stets geheim gehaltene Zimmer mit seiner Rupfenbespannung in Augenschein zu nehmen. Solchermaßen ist der Leser nah an seiner Protagonistin, erhält Einblick in ihre Räume und Gedanken, erfährt sie als eine von uns. Der Text aber betreibt damit genau das, wovor Gilgi in ihrer ‚eiskalten Sachlichkeit‘ so sehr graut: „Vorwurf, Teilnahme, Interesse, Neugier – alles berechtigt – ja doch, ja – aber so ekelhaft.“ (108, Hvm) Erzähler und Leser werden zu jenen sich un120 121

Vgl. Martinez/Scheffel 1999, S. 48. Eine ähnlich paradoxe Struktur entdeckt Helduser, wenn sie in der der Antisentimentalität verpflichteten neusachlichen Literatur eine permanente Rede über Gefühle entdeckt, Helduser 2005, S. 17.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper gefragt einschleichenden Müttern und Vätern,122 zu Zeugen ihres Innenlebens, die ihren Wunsch nach eindeutigen Grenzen, nach einem abschließbaren Privatraum auf der Ebene des discours ignorieren. Diese Nähe des Erzählens wird in der Sekundärliteratur regelmäßig als „hautnahe Reportage“123, als „unmittelbarer“ Stil,124 als „suggestive Kraft der Darstellung“125 hervorgehoben, die auch noch für das Kunstseidene Mädchen gelte: Die intensive Anwendung des dramatischen Modus hat den Vorteil, das sie die Illusion der unmittelbaren Nähe erzeugt [...] Diese Dominanz des erlebenden Ichs wird durch das Tempus konkretisiert. Es wird nicht im Präteritum erzählt [...], sondern im Präsens, wodurch die Distanz zum Geschehnis deutlich reduziert wird.126

Die Problematik dieser Nähe und Unmittelbarkeit aber bleibt in der Sekundärliteratur unterbelichtet. Die Abwendung „von den dunklen Familiendepots der Seele zu den Äußerlichkeiten der Handlung“, wie sie Lethen für die neusachliche Literatur als charakteristisch beschrieben hat, gilt für Gilgi deshalb nur bedingt. Tatsächlich erfahren wir unentwegt, wie es unter der schönen Oberfläche brodelt. Aber nicht nur der Protagonistin, auch dem Leser scheint die Kontrolle entzogen, wenn nicht immer eindeutig zu entscheiden ist, aus wessen Perspektive gerade berichtet wird. Dort nämlich, wo die interne Fokalisierung bei anderen Figuren zum Einsatz kommt und sich der Übergang von der einen zur anderen Erzählperspektive so unmerklich vollzieht, wie auch der Wechsel von Ereigniserzählung oder Bewusstseinsbericht zu autonomem inneren Monolog. Sie zittert ein bißchen und ist wie allmorgendlich ein bißchen stolz auf ihre bescheidene Tapferkeit und Selbstüberwindung. Tagesplan einhalten. Nicht abweichen vom System. Nicht schlapp machen. In der kleinsten Kleinigkeit nicht. (6)

Die an die äußere Beschreibung des Duschens anschließenden Durchhalteparolen können sowohl als innerer Monolog als auch als 122

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126

Auch Wedepohl spricht von einer „mütterlich-zärtliche[n] Nähe der Erzählinstanz zu ihrer Protagonistin“, ohne jedoch die Problematik diese Nähe zu erkennen, Wedepohl 1998, S. 117. Wedepohl 1998, S. 124. Hanns Johst, Neue Romane, [...] Irmgard Keun: Gilgi, eine von uns (Universitas, Berlin), in: Velhagen & Klasings Monatshefte 46 (1932), Heft 6 (Februar), Rubrik ‚Neues vom Büchertisch‘, S. 621-623, hier S. 622, in: Arend/Martin 2005, S. 70. Dr. W. Winkler, Irmgard Keun, Gilgi, eine von uns, Bln. Universitas 1931, in: Neue Bücher, Besprechungen von Neuerscheinungen 8 (1932), Heft 12, S. 18f, in: Arend/Martin 2005, S. 64. Dandjinou 2007, S. 140.

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Poetik des Privatraums Kommentar des Erzählers gelesen werden, als Kommentar darüber, wie bürgerliche Durchhalte- und Disziplinierungsmethoden die Protagonistin allen Abgrenzungsbestrebungen zum Trotz von Anfang an prägen. Gesche Blume spricht in diesem Zusammenhang von einer geringen „Trennschärfe zwischen Erzähler/in und Protagonistin“,127 und Kerstin Barndt verweist auf den Einsatz des sächlichen Pronomens ‚man‘, das zwischen der Perspektive der Erzählers und jener der Figur changiere,128 und führt weiter aus: Insofern kann Keuns Schreibweise mit dem klassischen Gegensatz von auktorialem versus personalem Erzählen nicht mehr hinreichend beschrieben werden. Keuns neu-sachlicher Stil zeichnet sich vielmehr durch Unschärferelationen aus.129

Vor allem dem zweiten Teil des Romans wird eine Zunahme an inneren Monologen, elliptischem Schreiben und eine Auflösung des Erzählens attestiert,130 Symptome der Sprachverwirrung, die im Gegensatz zum nüchternen Beginn mit seinen Staccato-Sätzen und einer personalen Erzählhaltung, die keine Zeit für Kommentare und Rückblicke gelassen haben, nun mit einer ruinierten Syntax poetisch-expressiv erscheine.131 All diese Beobachtungen aber machen eines deutlich: Gilgis Innenleben kann mühelos inspiziert werden, all diese Schreibverfahren durchstoßen die klare einheitliche Oberfläche, die neusachliche Fassade, etablieren vielmehr eine neue unkontrollierbare Zone des Dazwischen. Auch auf der Ebene des discours also bleibt der von Gilgi ersehnte Privatraum mit überwachbaren Grenzen ein labiles Konstrukt. Auch deshalb, und nicht nur wegen Martin, flieht Gisela aus Köln bzw. aus der Erzählung: die Zugfahrt nach Berlin fällt zusammen mit dem Ende des Romans. Für einen Moment wenigstens bezieht sie im Zugabteil einen ihrer Kontrolle unterstellten Nahraum, der über ein eindeutiges Ziel verfügt, denn im Gegensatz zur Flanerie mit dem Freund Martin, ist der Zug an seine Schienen gebunden. Diese Ambivalenz prädestiniert ihn auch zum Vorbild der funktionalistischen Moderne, denn er ist zugleich Symbol für die neue Öffnung und Bewegungsfreiheit als auch technischer Kontrolle. Die Öffnung kann nur deshalb so radikal ausfallen, weil sie permanenter Kontrolle unterstellt ist.

127 128 129 130 131

Blume 2005, S. 83. Barndt 2003, S. 126. Ebd. Reinhard-Becker 2005, S. 295-311. Wedepohl 1998, S. 120, 124.

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Öffnungen und Verschließungen der (Wohn-)Körper Das Aufbrechen der Fassade – parallel zu der Außenhaut des Zugabteils – rückt die Außenwelt in bisher ungekannter Weise an die Bewohner heran, und hält diese zugleich auf Distanz – sie bleiben Beobachter der Außenwelt und von der Außenwelt Beobachtete.132 Wie schon Großklaus festgestellt hat, wird das Private von Fernem und Fremdem durchdrungen, Innen und Außen fließen auch in der Außen- und Innenperspektive der Figuren beständig ineinander. Unentwegt dringen Musikfetzen in Gilgi ein, unentwegt summt sie Melodien aus dem Radio: auch hier vermengen sich Nahes und Fernes im innersten Privatraum. Versteht man schließlich die Fensterflächen der Wohnungen als Mattscheibe, auf der permanent wechselnde Bilder entstehen und in den Privatraum eindringen können, dann bekommt auch die Erwähnung des Grammophons als Ausstattungsgegenstand in Gilgis Mansardenzimmer eine über den reinen Luxusgegenstand hinausweisende Dimension, denn über das Grammophon kann die „ganze Welt“ bei ihr „im Zimmer“ sein – und zugleich hat sie Kontrolle über das Gerät. The International Style, wie 1932 die epochenbildende Ausstellung zum Neuen Bauen im Museum of Modern Art hieß, vollzieht diese Verschmelzung aber nicht nur strukturell, sondern auch nominell – als internationale Architektur, die aber nur im Lokalen, im realen Hier und Jetzt gebaut werden kann – wie auch im Hinblick auf seine Konstruktion: Neues Bauen bedeutete immer auch eine Hinwendung zu neuen Baumaterialien, zu Beton, Eisen und Glas, welche die regionalen Baustoffe zurückdrängen. Ein Gebäude der Neuen Sachlichkeit hebt sich solchermaßen aus seiner Umgebung heraus, verwendet nicht primär regionalen Baumaterialien, sondern das, was massenhaft und anonym hergestellt werden kann. Auch auf diese Weise verschmilzt das Ferne und Fremde mit dem Nahen und inmitten des Privatraums. Wenn Pit Gilgi am Ende des Romans zu verstehen gibt: „D-Zug Köln-Berlin ist dein Zuhause“ (260), so wird damit nicht nur ein letztes Mal die Relevanz des Privatraums für den Roman unterstrichen, aufgerufen wird damit auch das Bild eines Raumes, der sich eben dadurch auszeichnet, dass er Nahes und Fernes, Distanz und Nähe verbindet, und der sich nur deshalb als – wenn auch utopisches – Zuhause der Protagonistin bezeichnen lässt und nur deshalb auch zum Vorbild für das Neue Bauen werden konnte. Damit endet der dritte hier untersuchte Roman mitten in der Bewegung – Gabriel Dan bestieg den Zug Richtung Wien Leopoldstadt, der Ar132

Dasselbe Prinzip gilt für die fast durchgängig errichteten Balkone und (Dach)Terrassen an diesen Häusern, denn sie sind sowohl Teil der Wohnung als auch Teil der Umgebung, weder eindeutig dem Außen-, noch eindeutig dem Innenraum zuzuschreiben.

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Poetik des Privatraums chitekt Ginster tummelte sich zwischen Ankunft und Abfahrt am Hafen von Marseille und Gisela Kron fährt nach Berlin. Solchermaßen gemahnen die Aufenthaltsorte der Protagonisten nicht nur an die Vorbilder der avantgardistischen Moderne in der Architektur – an Züge und Ozeandampfer – sie zeugen zugleich von der Verherrlichung der Mobilität auch und gerade im Hinblick auf den immobilen Wohnkörper: die Häuser erhalten Garagen, Landeplätze und Reisezellen. Gilgis Auseinandersetzung mit dem Wohndiskurs der 20er Jahre ermöglicht ihr, eine ästhetisch geleitete Probeidentität anzunehmen, die auch für die Protagonisten des folgenden Romans bedeutsam sein wird, allerdings stehen in Martin Kessels Herrn Brechers Fiasko nicht alleine die Grenzen, sondern auch die mobilen Eigenschaften des Privatraums zur Debatte.

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VON LABILEN VERORTUNGEN UND TRANSITORISCHEN IDENTITÄTEN



(1932)* MARTIN KESSELS HERRN BRECHERS FIASKO (1932)* Wie Irmgard Keuns Gilgi, so ist auch Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko im Alltag der Weimarer Republik angekommen; Krieg oder Kriegsende, die noch das historische Setting von Ginster und Hotel Savoy abgegeben haben, werden nicht einmal mehr erwähnt. Das „ganze[...] Innere ist zum Kriegsschauplatz [...] geworden“,1 hieß es schon bei Gilgi, und das gilt noch für Kessels Roman, auch wenn er prima facie ein Büroroman ist. Herrn Brechers Fiasko verabschiedet sich allerdings deutlich von der Beschreibung einer bürgerlichen Biographie. Wie schon bei Gabriele Tergit geht es nicht mehr um die Etablierung eines Subjekts, sondern um mehrere Subjektentwürfe, um unterschiedliche ‚Typen‘, die sich tagtäglich im Büro treffen. Dass – in einem Büroroman vielleicht ähnlich überraschend wie in einem Hotelroman – der Privatraum, das Wohnen, von höchster Relevanz ist, gilt es im Folgenden aufzuzeigen. Dabei loten die Figuren jene in den vorangegangenen Romanen analysierten Entwürfe zwischen Grenzauflösung und -etablierung, nun auch zwischen Vagabundieren und Zirkulieren, zwischen Exhibitionismus und Hermetik aus. Da es bisher nur wenig Sekundärliteratur über Martin Kessel gibt, ist es umso erstaunlicher, dass der Aspekt des Wohnens bereits eine Rolle gespielt hat: 2004 legt Thomas Wegmann die erhellende Untersuchung Wohnen, Werben, Reden: Über das (nicht nur) ästhetische Zuhause von und in Martin Kessels Roman ‚Herrn Brechers Fiasko‘ vor.2 „In kaum einem anderen Roman seiner Zeit wird so ausführlich gewohnt, so ausführlich über verschiedene Wohnformen erzählt und räsonniert wie bei Kessel“,3

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Martin Kessel, Herrn Brechers Fiasko, Roman, Frankfurt am Main 2001 (1932). Keun 1979 (1931), S. 112. Thomas Wegmann, Wohnen, Werben, Reden, über das (nicht nur) ästhetische Zuhause von und in Martin Kessels Roman Herrn Brechers Fiasko, in: Stefan Scherer und Claudia Stockinger (Hg.), Martin Kessel (1901-1990) – ein Autor der Klassischen Moderne, Bielefeld 2004, S. 233-269. Ebd. S. 244.

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Poetik des Privatraums erläutert Wegmann treffend, und doch gilt mit dieser Studie die Dominanz des Wohndiskurses in den neusachlichen Romanen darzustellen, der zum Kristallationspunkt neusachlicher Identitätsentwürfe wird. Martin Kessel schreibt an seinem Erstlingsroman Herrn Brechers Fiasko beinahe genauso lange, wie die Strömung der Neuen Sachlichkeit überhaupt währt, nämlich von 1923 bis 1932.4 Zu Beginn gibt der Text bereits unmissverständlich zu verstehen, dass gut neusachlich der Alltag der Angestellten im Zentrum des Interesses steht: „Täglich, zumal bei Büroschluß“5, heißt es an dieser Stelle einleitend zu dem dann immer wieder beleuchteten Alltag. Die Angestellten in Herrn Brechers Fiasko sind allesamt Kollegen ein und derselben Propagandaabteilung in einer Firma, die als UniversaleVermittlungs-Aktien-Gesellschaft, abgekürzt Uvag, bezeichnet wird. Das genaue Betätigungsfeld der Firma wie auch seiner Angestellten jedoch bleibt bis zum Ende des Roman ziemlich unklar, offenbar wird zwischen Käufer und Verkäufer einfach universal also alles vermittelt, die Gesellschaft ist für Konkursmassen ebenso zuständig wie für die Publikation von Romanen6 – wobei Letzteres darauf zurückzuführen sein mag, dass der Ullstein-Verlag als Vorlage gedient haben soll.7 Das Büro der Propagandaabteilung ist im Dachgeschoss des Uvag-Gebäudes – eines historistisch überformten „Produkt[s] einer überlebten Epoche“ (18) – untergebracht, neben einem „Dachgar4

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Kessel beginnt 1923 mit den Vorarbeiten zum Roman, der schließlich 1932 erscheint; vgl. Stefan Scherer, Claudia Stockinger, „Bei historischer Betrachtungsweise kommt eines zu kurz: die Variante der Möglichkeit.“ Martin Kessel – eine Einführung, in: Scherer, Stockinger 2004, S. 7-65, hier S. 18. Kessel 2002 (1932), S. 7. „Die Universale-Vermittlungs-Aktien-Gesellschaft [...] hatte ursprünglich nichts zu tun als zu vermitteln. Wenn einer ein Haus kaufen wollte, sagte sie ihm, wo er es finden könne; wenn einer sich verheiraten wollte, schaffte sie ihm [...] Raum [...]; wenn einer nicht wußte bei einer plötzlich zugefallenen Erbschaft: wohin damit? – die Uvag begriff diese Notlage und sorgte für deren Beseitigung.“ (18) Mucki „erging [...] sich in der Lustbarkeit eines Uvag-Romanes“, der offenbar Nähe zu Schundromanen zeigt: „Komm, wir wollen uns zusammen hinlegen und schlafen! [...] Es floß eine sanfte Röte über ihn hin“ (116, 117) „Ich will es nun mit einem kleinen Roman versuchen, der bei Ullstein spielt“, schreibt Martin Kessel 1926 in einem Brief und nochmals 1933: „Bei Ullstein sind sie wütend, daß ich Modelle aus der Propaganda-Abteilung benutzt habe, und so ist anzunehmen, daß man mich totschweigt“; (27. Dezember 1926: DLA Kessel, 73.437) (2. Januar 1933: DLA Kessel, 73.445 /1) zitiert nach: Scherer, Stockinger 2004, S. 19.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten ten“, in „neuen [...] geräumigen“ Zimmern, die sich durch „Helligkeit“ (22) auszeichnen. „Meine Räume sollen so hell sein, daß die Sonne von Ost nach West elegant wie eine Dame hindurchspazieren kann“, konterkariert der Chef die Diskussionen des Neuen Bauens. Solche Ironie artikuliert sich allerdings nicht nur gegenüber dem Funktionalismus, sondern ist vielmehr Grundtenor des Romans, der das Geschehen ebenso wie die Figuren unentwegt in Distanz wie hinter die „Glasscheibe“ der Propagandaabteilung8 rückt. Zugleich aber kann sich der Leser vor dem permanenten Bürotratsch kaum retten: es geht – wenn auch auf einer anderen Ebene – erneut um Verhandlungen von Distanz und Nähe, von Hermetik und Exhibitionismus. Damit stehen vergleichbare Phänomene zur Debatte, die schon Gilgi umgetrieben haben, bei Kessel allerdings eine andere Akzentuierung erhalten. Ekel und die Liebe als Relikte klassischer Ästhetik spielen hier keine Rolle mehr, selbst wenn sich das weibliche Personal in ähnlichen Räumen aufhält, die schon für Keuns Protagonistin identitätstragend waren. Auch der Flaneur Martin bekommt in Max Brecher eine neusachliche Ausformung an die Seite gestellt und Statik und Dynamik scheinen sich in Herrn Brechers Fiasko tatsächlich im Wohnen selbst zu synthetisieren. Was also Ginster, Dan und Gilgi mit ihren Identitäten angestrebt haben und utopisch in Zügen und Hafenstädten zu finden versuchten, erfährt hier räumliche Realisation im Alltag der Weimarer Republik. Erneut werden die Subjekte dabei nicht in ihrer Auflösung betrachtet, sondern als in Bewegung geratene Identitäten der Moderne. Kehren wir aber nochmals zurück zum angekündigten Alltag der Angestellten. Auch dieser ist durch mehrere Momente geprägt. Erstens spielt sich der Alltag des gesamten Figurenpersonals (Max Brecher und Doktor Geist, Gudula Öften, Mucki Schöpps, Lisa Frieske, Perdelwitz, Coty, Toldi und Rüland) im Büro ab. Dort beginnt sich eine familienähnliche Struktur zu etablieren, welche die abwesenden oder nicht mehr intakten Familien9 außerhalb des Büros ersetzt und Brechers Scheitern ebenso vorbereitet wie die Karriere Geists, dessen Hochzeit mit Mucki Schöpps, eine Fehlgeburt, „einen geglückten Selbstmord aus Übermut [sowie] einen mißglückten aus Verzweiflung“ (409). Diese Ereignisse sind nicht deshalb von Inter8

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„Da der Empfangsraum hallenförmig gebaut war, bot sich ihrem (Muckis, I.L.) Blick sowohl der Korridor, der schlauchartig dalag, als auch ein Teil jener Glaswand, hinter der ihr künftiger Arbeitsplatz war.“ (27) Keine der Figuren verfügt mehr über eine komplette Familie: Muckis Vater ist tot, Lisa Frieskes Familie besteht zwar aus der leiblichen Mutter, aber einem Stiefvater; alle anderen leben alleine oder bei Tanten (nämlich Perdelwitz, 177); über die meisten Familien allerdings wird geschwiegen.

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Poetik des Privatraums esse, weil sie eine Familien-, sondern eine Angestelltengeschichte prägen. Zweitens ist dieser Alltag bestimmt von den täglich nach Büroschluss begangenen Spaziergängen durch die Stadt: „Sie liefen bereits wieder“, ist über Brecher und Geist zu lesen, „sie liefen bereits wieder mechanisch, als Doktor Geists Gangwerk [...] mitten im Trubel anhielt, um sich freilich sofort wieder in Bewegung zu setzen“ (16). Dieses Flanieren durch die Straßen Berlins bildet also den Kontrapunkt zur „sitzenden Lebensweise“ (20) im hoch über dem Verkehr liegenden Büro der Propagandaabteilung. Der Roman bleibt allerdings nicht bei dieser einfachen Gegenüberstellung von Statik und ihrer Verortung im Büro einerseits und Dynamik und ihrer Lokalisierung auf der Straße andererseits stehen. Das mittlere des in drei Bücher gegliederten Fiaskos trägt den Titel: Private Späße und widmet sich ausführlich dem Privatleben, und das heißt in diesem Fall: dem Wohnen der Angestellten. Vieles in der Welt liegt hell und offen zutage, [...] das Privatleben nicht; ins Privatleben zieht man sich zurück. Hier ist’s dämmrig und Vorhänge verschließen den Einblick

– jedoch nicht dem Roman, denn dieser dringt ein und beschaut sich die häusliche Intimität: Man zieht seine Stiefel aus, hängt seine Jacke an die Wand und wäscht sich den Staub der Zermürbung aus dem Gesicht, frei in der Einbildung, nun ganz eigener Herr zu sein. Welch ein Zauber geht davon aus. (185)

„Neben dem Büroalltag“, schreibt schon Michael Grisko „sind es vor allem die privaten Sphären der jeweiligen Angestellten, die zum Gegenstand der Betrachtung werden“.10 Nur auf den ersten Blick handelt es sich dabei um die Verlängerung der sitzenden und damit statischen Lebensweise, der unbeweglichen Arbeit des Schreibtischtäters vom Büro in das wohnliche Zuhause. Betrachtet man diese Privat-Räume näher, dann sind sie nicht mehr primär Ausdruck von Sesshaftigkeit, Gemütlichkeit und Verwurzelung, sondern vielmehr von Dynamik und Offenheit: Die bewohnten Räume des Romans sind ausnahmsweise tatsächlich Räume des Neuen Bauens, bilden ein Amalgam von Statik und Dynamik, von Nähe und Distanz.

10 Michael Grisko, Rezension: Martin Kessel, Herrn Brechers Fiasko, mit einem Nachwort des Autors: Mein erster Roman, in: Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik, Bd. 6, 2001, hrsg. von Sabina Becker, München 2001, S. 265-269. hier S.267, 268.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Die folgende Analyse will aufzeigen, dass diese dynamischen Räume auch den in Bewegung geratenen Identitäten der Moderne11 einen Ort der Selbstfindung bieten, womit jedoch keineswegs behauptet werden soll, moderne Identitätskonstruktionen wären an keinem anderen Ort, in keiner anderen Wohnung als der neusachlichen möglich. Es soll lediglich die Romanlogik nachgezeichnet werden, die damit nichts Geringeres als die Vorstellung der Architekten vom Neuen Menschen zur Disposition stellt, die Vorstellung von einer Befreiung des Wohnens und seiner Bewohner. Max Brechers Fiasko besteht so gesehen nicht einzig in seinem Arbeitsplatzverlust, wie der erste Eindruck vermitteln möchte, Herrn Brechers Fiasko ist ebenso der gescheiterte Versuch, sich innerhalb der Beschleunigung der Moderne und der von den Architekten beschworenen Mobilität des Wohnens einzurichten, sich als dynamische, als transitorische Identität12 zu entwerfen.

Die Dynamisierung von Identität: die weiblichen Angestellten DIE ÄUSSERE BESCHLEUNIGUNG UND EIN HALBES ZIMMER Als Mitglied der Berliner Künstlervereinigung Novembergruppe, der Künstler unterschiedlicher Sparten und Stilrichtungen angehörten, steht Martin Kessel in direktem Kontakt zu den Architekten des Neuen Bauens – unter anderem zu Walter Gropius, den Brüdern Taut, Adolf Meyer und Mies van der Rohe –,13 und so mag es nicht verwundern, dass in dem Roman die Architektur bzw. genauer das Wohnen eine wichtige Rolle spielt. Die Allgegenwärtigkeit des Wohndiskurses bringt es mit sich, dass dieser selbst in jenen Gesprächen dominant wird, die eigentlich um ein anderes Thema kreisen, beispielsweise als Mutter und Tochter Schöpps eines Abends zusammensitzen und die Ältere der beiden über ihr Gehör klagt. Mucki empfiehlt ihrer Mutter ein Hörrohr, die Reaktion darauf ist allerdings bemerkenswert. [Mutter:] „keine Ahnung vom Besitz, keine Ahnung von der Patina der Dinge, aber beseitigt soll werden. Beseitigen! Vor jeder Säule am liebsten in Schreikrämpfe 11 Vgl. dazu die folgenden Ausführungen und Literaturhinweise bei Joachim Renn, Jürgen Straub, Transitorische Identität. Der Prozesscharakter moderner personaler Selbstverhältnisse, in: dies., (Hg.), Transitorische Identität, Der Prozesscharakter des modernen Selbst, Frankfurt am Main, New York 2002, S. 10-32, hier S. 13 Fußnote 5. 12 So der Titel des Sammelbandes von Renn/Straub 2002. 13 Helga Kliemann, Die Novermbergruppe, Berlin 1969, S. 43 und S. 74.

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Poetik des Privatraums verfallen, weil die Idee der Säule älter ist als ihr. Beseitigen, auch das beseitigen.“ [Tochter:] „Man beseitigt bereits ganz andere Schäden und ersetzt sie“. [Mutter:] „Ersetzt sie – ganz recht. Und künstlich dazu. Ersetzt sie künstlich.“ (223)

Frau Geheimrat Schöpps, die nach dem Tod ihres Mannes eine stadttopographische Deklassierung erfahren hat – sie musste aus der alten Villa in Grunewald ausziehen (190) und versucht nun in einem Hinterhaus ‚zu residieren‘, das „Frau Geheimrat zu Ehren“ auch als „Gartenhaus“ bezeichnet wird (200) – ärgert sich zwar primär über die mangelnde Sensibilität ihrer allzu sachlichen Tochter, aber sie kommuniziert diese Gefühle über den Wohndiskurs, beklagt den Verlust von ‚Gegenständen mit Patina‘, also mit Ablagerungen und Spuren des Gebrauchs und der Zeit, mokiert sich über das Unverständnis gegenüber einem festen Hausstand, also Erbstücken, und setzt sich darüber hinaus in unmittelbaren Bezug zu einem Architekturelement: der Säule. Damit bezieht sie sich auf die fulminante Neuerungslust des Funktionalismus, auf dessen Vorliebe für Gegenstände ohne Vergangenheit. Frau Schöpps dagegen sehnt sich zurück in die ihr bekannte Welt, in der ihr selbst der Umzug und ihrer Tochter der Broterwerb erspart geblieben wäre, in der die erwähnten Säulen von einer ihr bekannten, klassischen Ordnung kündeten. Auch wenn Frau Schöpps’ Diagnose von der Abschaffung der Säule nicht ganz aufrechtzuerhalten ist, ein hervorstechendes Gestaltungsmittel ist sie keineswegs mehr, Balkone und Überdachungen kommen bautechnisch und ästhetisch längst ohne sie aus, und ihre klassische Ordnung hat sie in der modernen Architektur tatsächlich eingebüßt, sich zu Stahlstützen und Pilotis gewandelt. Die Säule wurde entkleidet und verschlankt und zumindest der Idee nach auch industriell hergestellt. Ihr haftet nichts mehr von Handarbeit an, es umgibt sie vielmehr eine Aura der Maschinenhalle, ihr Material ist glatt und kühl. Ebenso glatt und kühl erscheint die Tochter Mucki an ihrem ersten Arbeitstag in der Uvag: als Garçonne14 „mit kühlen Armen und ausrasierter Achselhöhle“ (27). Effektivität und Dynamik stellen für sie keine Bedrohung dar, und als sie an eben diesem ersten Arbeitstag auf ihren Einsatz wartet, vergegenwärtigte ihr [...] ein Blick auf die Uhr [...], daß sie bereits geschlagene zwölf Minuten als ungenutzte Arbeitskraft hier draußen saß, während ihr Monatsgehalt bereits zu laufen begonnen hatte. (28)

14 „Sie trug eine schicke, enganliegende Bluse, die leuchtete und die am Hals abgeschlossen war durch einen Herrenkragen [...], aus dessen Mitte ein giftgrüner, mit rötlichen Tupfen besäter Schlips in schmalen Streifen herabhing.“ (36)

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Muckis Verständnis von Effektivität wird durch das Warten untergraben, erneut wird damit auf den Kontrast zwischen Statik, dem Sitzen, und Dynamik, dem bereits laufenden Gehalt, hingewiesen. In welchem Maße sich Muckis Selbstverständnis der Dynamik und dem Potential an Veränderung der äußeren Gegebenheiten entspringt, zeigt sich auch darin, dass ihr der Umzug aus der Grunewaldvilla im Gegensatz zu ihrer Mutter wenig auszumachen scheint. Abb. 43: Berliner Etagenwohnungen mit zwei Zimmern und einer Kammer.

Während er für die Mutter eine veritable Schande ist, wird der Besitz der Familie doch mitten auf der Straße und damit öffentlich zur Schau gestellt: „ein Hohn auf jede Zurückgezogenheit und Intimität“ (197), scheint Mucki diesen labilen Zustand zwischen zwei Orten nicht nur zu genießen, sondern auch noch zu verlängern. Nicht am tatsächlichen Tag des Umzugs, sondern in der neuen Wohnung bezieht Mucki nämlich ein Zimmer, „das als halbes galt“ (239). Fachterminologisch nicht definiert, kann das halbe Zimmer entweder als Kammer interpretiert werden, die zum Raumprogramm der Berliner Mietwohnungen gehört (Abb. 43),15 oder – und das ist nach dem Weltkrieg wahrscheinlicher – als jenes halbe Zimmer, das nach der Unterteilung der Mietwohnungen in kleinere Wohneinheiten entstanden und beispielsweise in die Grundrisse zur Umgestaltung von großbürgerlichen Wohnungen 1932 eingezeichnet worden ist. Eben

15 Alexander Klein, Grundrißgestaltung für Wohnung und Haus, in: Handwörterbuch des Wohnungswesens, hrsg. von Gerhard Albrecht et al. im Auftrag des Deutschen Vereins für Wohnungsreform e.V. Jena 1930, S. 318- 326, hier S. 319.

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Poetik des Privatraums eine solche Hinterhauswohnung könnten auch Mucki Schöpps und ihre Mutter bewohnt haben (Abb. 44).16 Abb. 44: Enwurf zur Teilung von Wohnungen mit einem halben Zimmer, 1932.

Muckis ‚Heimat‘ lokalisiert sich zwar nicht in einem Raum des Neuen Bauens, wenn sich Mucki aber in diesem halben Zimmer niederlässt, dann ist das primär nicht den beengten Wohnverhältnissen und der Repräsentationslust der Mutter geschuldet – die das zweite veritable Zimmer als Salon nutzt und eben nicht der Tochter überlässt – , sondern Ausdruck dafür, dass der Sesshaftigkeit so viel an Offenheit, Labilität und Dynamik abgerungen wird, wie nur möglich ist. Das halbe Zimmer wird für Mucki aufgrund seiner Instabilität, zugleich ein Zimmer und doch kein Zimmer zu sein, attraktiv. Eben dadurch ist es auch vergleichbar mit den Raumlösungen des Neuen Bauens. Man denke etwa an die Verwandelbarkeit und damit Mehrdeutigkeit von Zimmern, die sowohl als Schlaf- als auch als Wohnzimmer zu bezeichnen sind (vgl. Titelbild),17 an die Galerien und halbhohen Wände, welche die eindeutigen Raumgrenzen innerhalb von Wohnungen aufheben, man denke an die vielen Lösungsversuche, den Bauten der Moderne so viel an Dynamik und Instabilität einzuschreiben wie möglich: angefangen von den verschiebbaren Bildern,18 16 Hildegard Margis, Karl Mahler (Hg.), Teilung und Umbau von Wohnungen, Stuttgart, Berlin 1932, S. 24ff, zitiert in: Geist/Kürvers 1984, S. 277. 17 Etwa in Le Corbusiers Doppelhaus in der Weißenhofsiedung, Abb. in Kirsch 1999 (1987), S. 126 (Tagesgebrauch), S. 128 (Nachtgebrauch). 18 So in den Reihenhäusern J.J.P. Ouds in der Weißenhofsiedlung, Abb. in: Vetter 2000, S. 78.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten über die verschiebbaren Wände,19 die Liebe zu Schiebetüren und Schiebefenstern, versenkbaren Glaswänden und Drehscheiben mitten im Wohnzimmer, bis hin zu den zahlreichen Möbeln, die auf Räder gesetzt werden, wie Schreibtisch und Bett, man denke schließlich an die motivischen Anleihen bei den Verkehrsmitteln Auto, Zug und Schiff, an die Vorliebe, Autos und Flugzeuge, Garagen und Landeplätze in die Architekturzeichnung selbst zu integrieren (Abb. 45-48). Diese Liebe zu Bewegung und Instabilität ist Teil einer Begeisterung, die schon zu Beginn des Jahrhunderts von dem Volkskundler Michael Haberlandt im Hinblick auf ein damals noch neues Verkehrsmittel, das Fahrrad, formuliert und in unmittelbaren Zusammenhang mit den Identitäten gesetzt wurde: wo früher Ruhe und Festkleben war [bringt das Fahrrad, I.L.] die ungebundene Circulation der Individuen, welche die verödeten Zwischen- und Nebenstraßen beleben mit flüchtigen Schwärmen, die allerorten durcheinanderstrebten [...]. Die Emancipation des Individuums von dem schwerfälligen Gemeinverkehr [ist ein] Culturfortschritt von unübersehbarer Tragweite. [...] [Er führt] von der Uncultur zur Cultur, von der Austernexistenz des Urmenschen zur Allbeweglichkeit der Gegenwart.20

Wenn sich Mucki in einem halben Zimmer niederlässt, dann ist das auch als Annäherung an ein Ideal von Instabilität, Dynamik und Beschleunigung zu verstehen. Nur konsequent erscheint es dann, dass Mucki im Gegensatz zu ihrer Mutter das heruntergekommene21 Hinterhaus nicht als Gartenhaus bezeichnet wissen möchte (200), um somit das Zuhause zumindest ideell nach dem Vorbild der Villen weit von der Straße entfernt in den Garten zu verlagern (eine Anlage, wie sie bereits im Ginster beschrieben wurde, als die Familie durchs Westend spazierte, „wo die Villen und die Herrschaftshäuser sich in ihre Vorgärten zurückziehen, damit der Asphalt sie nicht streift“)22, sondern im Gegenteil das Haus aus der tatsächlichen Sackgasse der Dahlmannstraße herausholt und behauptet, sie würde am Kurfürstendamm (53), der Flaniermeile und Durchgangsstraße schlechthin, wohnen. Damit positioniert Mucki die Wohnung direkt an der Straße mitten im tobenden Verkehr.

19 In zahlreichen Lösungen, beispielsweise bei Mies van der Rohe in der Weißenhofsiedlung und am radikalsten wohl in F. Krauses Entwurf für ein Wohnhaus mit variablen Wänden aus den Jahren 1931/32, Abb. in: Vetter 2000, S. 87. 20 Michael Haberlandt, das Fahrrad, in: ders., Cultur im Alltag, Gesammelte Aufsätze, Wien 1900, S. 126-132, hier S. 126, 128. 21 So Gudula Öften (352). 22 Kracauer 1973 (1928), S. 41.

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Poetik des Privatraums Im Uhrzeigersinn: Abb. 45: Le Corbuiser, Pierre Jeanneret, Haus in der Weißenhofsiedlung Stuttgart, 1927 (Innenraumperspektiven von Alfred Roth; Boudoir im Zwischengeschoss). Abb. 46: Erich Mendelsohn, Richard Neutra, Wohnaus Berlin-Zehlendorf, 1923. Abb. 47: Arne Jacobsen, Flemming Lassen, Haus der Zukunft, 1928.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Abb. 48: Le Corbusier, Charlotte Perriand, Ausstellungsraum im Herbstsalon, Paris, 1929.

Erneut scheint hier einer abgeschlossenen Austernexistenz, einem Etui, wie Benjamin das bürgerliche Wohnen bezeichnet hat,23 die Allbeweglichkeit und Offenheit gegenüberzustehen. Folgerichtig tauchen für Mucki auch erst dann Probleme auf, als der Verkehrsstrom unterbrochen wird und wenn Stau und Stillstand drohen, sei es am Tag ihres Arbeitsbeginns durch unnötige Warterei oder in der Liebe, über die sie eine – nach Gudula Öften – seltsam anmutende Ansicht pflegt: Man sei eine Kopfstation für den jeweiligen Partner, hatte sie [Mucki, I.L.] neulich gesagt, ein Bahnhof. Der käme erst herein, dann kehrte er um. Überhaupt, das Ganze sei ein Verkehr, und das Verkehrshindernis in der Liebe sei der Mensch. (493)

Erst der menschlich verhinderte Verkehrsstrom, die Sackgasse, stellt für Mucki eine Schwierigkeit dar, der sie in ihrem halben Zimmer – ist es doch nur zum vorübergehenden Aufenthalt bestimmt – ebenso wie in der U-Bahn entgehen kann, in der ihr die Fahrt zu einem veritablen Liebesakt wird: Wieder das Flutende des Verkehrs zu spüren, die Bewegung unter den Menschen, das Schlagen der Türen [...], es verfehlte nicht seine große rhythmische Wirkung [...], bis die schönste aller Bewegungen näher kam. Denn vor dem Gleisdreieck legte sich die Bahn für eine Kurve zurecht, nicht weniger schmiegsam, als sich eine Geliebte in die Arme eines Liebhabers bettet, eine Zärtlichkeit der Erwartung aufrufend, ein Vorgefühl, wie es Berlin nicht ein zweites Mal bietet. Wie oft war

23 Benjamin 1982, S. 292: „Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit seinem Zubehör [...] tief in sie ein“.

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Poetik des Privatraums Mucki die gleiche Strecke gefahren! [...] Meine Kurve! hatte sie gedacht, bevor sie, wie nach einem intimen Genuß, entspannt wieder hinunterbefördert worden war in die künstlich erhellte Finsternis der Katakomben. (387)

Mucki steht mit ihrer Verortung innerhalb dynamischer, labiler Räume – sei es das halbe Zimmer, sei es die U-Bahn, sei es der Kurfürstendamm – nicht alleine da. Die Angestellten der Propagandaabteilung erscheinen allesamt als Teil dieser Dynamik. Nicht nur, weil sie als Angestellte ungewollt in den Kreislauf der Geldwirtschaft einbezogen sind oder sich nach Büroschluss als Flaneure betätigen, sondern weil sie teilhaben an der Begeisterung für die Beschleunigung der Moderne, die ihnen als Garant der Persönlichkeitsentfaltung, als Garant der Freiheit des Individuums erscheint. Selbst wenn in den 20er Jahren Nüchternheit und Sachlichkeit regieren: die Relevanz der Dynamik für Mucki und ihre Kollegen ist Teil dieses Ideals, das mit der Beschleunigung des Lebens auch die Hoffnung auf Verbesserung, auf Perfektibilität in sich trägt.

DIE INNERE BESCHLEUNIGUNG UND EIN ATELIER Das trifft insbesondere auf Gudula Öften zu, und das, obwohl sie die Dynamik durch ein störendes Element beeinträchtigt: durch ihr Hinken. Im Gegensatz zur äußeren Dynamik von Mucki Schöpps, handelt es sich bei Öften mithin eher um eine innere Beschleunigung, um eine Beweglichkeit oder besser: Gestaltbarkeit der Identität. Denn es ist eben das, was Öften unentwegt von ihren Kollegen einfordert und deutlich macht: es gibt sie doch, „die Mittel und Wege“ (547), es gibt die Möglichkeit, sich zu verändern. Dass äußere und innere Beschleunigung freilich Teil desselben Konzepts sind, macht Hartmut Rosa deutlich, wenn er bemerkt, „dass gesellschaftliche bzw. soziostrukturelle Modernisierungsprozesse nicht ohne Entsprechung in der Konstruktion subjektiver Selbstverhältnisse bleiben können“, also von einer „‚strukturellen Kopplung‘ von sozialem Wandel und Veränderung der Selbstverhältnisse oder Identitätsmuster“24 auszugehen ist. In seiner Studie über die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne bemerkt Rosa deshalb, dass mit der Beschleunigung auch „die Identität in Bewegung geraten“ sei,25 wobei die Bewegung hier vor allem als ein Versprechen auf Verbesserung des eigenen Lebens verstanden wird:

24 Hartmut Rosa, Zwischen Selbstthematisierungszwang und Artikulationsnot? Situative Identität als Fluchtpunkt von Individualisierung und Beschleunigung, in: Renn/Straub 2002, S. 267-303, hier S. 267. 25 Hartmut Rosa, Beschleunigung, Die Veränderung der Zeitstruktur in der Moderne, Frankfurt am Main 2005, S. 354.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Die Entwicklung oder „Verwirklichung“ der Identität wird zu einem zeitlichen Projekt, das sich in einem Lebensvollzug entfaltet; dies ist die klassisch-moderne Form des „Inbewegungsetztens“ von Identität. Wenn die Verantwortung für das, was aus dem je eigenen Leben wird, für die Lebensführung und für die Verfolgung des konstitutiven Identitätsprojekts beim Individuum selbst liegt, so ist dieses gezwungen, für seine Zukunft vorzusorgen und alternative Zukunftsmöglichkeiten auszuloten. [...] Die Orientierung an der Vergangenheit verliert dagegen an Gewicht [...].26

Gudulas unentwegtes Streben hat eben darin sein Ziel, die Kollegen für die Lebensführung zu sensibilisieren. „‚Man muß sich um die Angelegenheiten der Menschen kümmern, sie verwahrlosen sonst‘, dachte [Öften], zugleich in die Ratlosigkeit Lisas ein wenig verliebt“ (51). Diese Ratlosigkeit führt sich erneut auf eine gestörte Dynamik zurück, auf eine ‚steckengebliebene Privatangelegenheit‘ (50), auf einen ‚fehlenden Fahrplan‘ (52): Frieske [...] kam bei [ihrem Liebhaber] Heinz seit Wochen nicht mehr voran. Es war eine Verzögerung eingetreten, und Frieske, an Bewegung gewöhnt, sagte schließlich: „Ich gehe die Wände hinauf.“ (50)

Just in dieser Situation schaltet sich Gudula ein, gibt der Kollegin einen Wink und verschwindet mit ihr in der Damentoilette, der „einzige[n] Zufluchtstätte für Angestellte [...], wo Intimitäten ungestört durchgesprochen werden können“ (50). Es ist durchaus bemerkenswert, an welchen Orten sich Öften vorzugsweise um die ‚Angelegenheiten der Menschen‘ kümmert, nämlich nicht während der nach Büroschluss begangenen Spaziergänge in den Straßen der Stadt, sondern in explizit privaten oder eben privat nutzbaren Räumen wie den Toiletten. Sicher entbehrt es nicht der Ironie, wenn sich gerade auf dem Abort die Ideale des Neuen Bauens realisieren, dennoch sind diese Raumlösungen ernst zu nehmen. Nicht minder distanziert schreibt Adolf Behne 1931: Gelöst ist die Wohnung als ästhetisches Problem und als Installation. Wir sahen in den Häusern und Wohnungen [...] wahrhaft vollendete Waschbecken, Badewannen, Duschen, Warmwasserapparate und an 100 W.C.’s von geradezu klassischer Schönheit. Ja, es scheint fast, als sei das W.C. zum ästhetischen Schrittmacher der modernen Wohnung geworden.27

Kessels Roman greift den Gedanken auf:

26 Ebd. S. 357. 27 Adolf Behne, Abteilung „Die Wohnung unserer Zeit“, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 48/1931, S. 733; zitiert in: Kähler 2000 (1996), S. 382, 383.

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Poetik des Privatraums Die Räume sind hell, glänzend gelüftet, und bei schwierigen Operationen ist sofort Wasser in Hülle und Fülle zur Hand. Auch rauscht es oft leise. [...] Dieser Zug von Sauberkeit und höchstem Komfort kommt auch einem wirren Gemüt in trefflicher Weise zustatten. (50)

Der Abort birgt neben aller Ironie das Versprechen auf eine Lisa eben abhandengekommene Dynamik: hier ist nicht nur die Luftzirkulation sichergestellt, auch das rauschende Wasser kündet von einer permanenten Bewegung und Diffusion. Neben diesem intimen Raum ist es Gudula Öftens Wohnung, ein Atelier, das als ‚Privatraum‘ die Basis liefert, sich den Problemen der Angestellten zu widmen: Welch ein Glück, dieses Atelier! Es war geräumig, und ein riesiger Diwan, ein Lotterbett befand sich darin [...]. Draußen lief ein Balkon die Längsseite entlang, und ein kleiner Alkoven, Gudulas Schlafkabinett, zeigte sich gegenüber nebst einem küchenartigen Laboratorium, puppig, doch ausreichend für ein Kotelett. Groß war der Hauptraum, das übrige klein und darum bestens geeignet. [...] Man war in jeder Hinsicht vollkommen zu Hause. (325)

Die Wohnungsbeschreibung erwähnt neben einer Küche, klein und technisch wie ein Laboratorium ausgestattet, ein Schlafzimmer, das nicht mehr als eine Wandaussparung ist, und einen großen Hauptraum, dem ein Balkon vorgelagert ist. Dieses Raumprogramm kündet von einer Grundrisslösung des Neuen Bauens und die Lage der Wohnung unter dem Dach verweist zugleich auf eine Neuinterpretation der häuslichen Vertikale. Dachgeschosswohnungen sind nicht mehr per se Ausdruck sozialer Deklassierung, so noch in Roths Hotel Savoy, genau im Gegenteil gewinnen sie zusehends an Bedeutung,28 wie bereits die Lage des Propagandabüros in der Nähe des Dachgartens verdeutlicht hat; eine Lage mit der sich der Chef direkt identifiziert (22). Öften bewohnt damit eine für die 20er Jahre typische Einraumwohnung, wie sie vor allem für sogenannte Ledigenwohnheime entworfen wurden: Die Ledigenwohnungen für erwerbstätige Frauen [...] gewähren bei geringen Raummaßen alle Bequemlichkeiten. [...] Der Typ des Einraumes verlangt aber ein „Wohnenkönnen“, er ist nur geeignet für kultivierte Menschen,29

notiert der Architekt Fritz Block 1928 in seinem Aufsatz über Haus und Wohnung des modernen Menschen. Öften ist also keineswegs in 28 Dieser Umschichtung im Haus widmet Andreas Bernard jüngst eine eigene Studie, Bernard 2006. 29 Fritz Block, Haus und Wohnung des modernen Menschen (Funktion und Form), in: ders. (Hg.), Probleme des Bauens, Potsdam 1928, S. 87-116, hier S. 97.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten einem beliebigen Raum situiert, ihre Einraumwohnung ist vielmehr durchdrungen vom Wohndiskurs der 20er Jahre, Doris Weigel versteht die Einraumwohnung gar als das „räumliche Manifest der Moderne“.30 Für den eigentlichen plot, also Brechers beruflichen Werdegang bis zu seiner Entlassung, ist es völlig unerheblich, ob und vor allem in welchem konkreten Privatraum sich Gudula Öften niederlässt, die ausführliche Wohnungsbeschreibung muss also einer anderen Logik gehorchen. Sie erscheint nur dann sinnvoll, wenn man Öftens Privatraum zugleich als Ausdruck ihrer mit der Wohndebatte verwobenen Identität begreift. Dann fällt nämlich nicht nur auf, dass sie in einem explizit neusachlichen Raum wohnt, in einer „offenen Atelierwohnung“,31 sondern dass das Atelier zugleich im eben skizzierten Sinne den Archetypus des Neuen Bauens darstellt32 und einen ebenso fähigen Bewohner erfordert, einen „kultivierten Menschen“. So erläutert schon 1931 Joseph Frank: „Das moderne Wohnhaus entstammt dem Bohemeatelier im Mansarddach“,33 und der Kunsthistoriker Richard Hamann bezeichnet 1933 das neue Wohnen als ein Wohnen im Atelier.34 Da dieser Wohntyp von jeher über zahlreiche Fenster verfügt, kommt er der in der Moderne betriebenen Öffnung des Wohnens und damit der Annäherung von Außen- und Innenraum wie kein anderer entgegen. Darüber hinaus aber ist der „direkte Kontakt [...] täglicher und nächtlicher Arbeit, von [einerseits] Werkstoffen, Modellen, Freunden und Festen mit den [andererseits] gemeinhin innerhalb des privaten und intimen Bereichs des Hauses vorgenommenen Wohnvorgängen wie Essen, Waschen und Schlafen,“35 besonders reizvoll, das heißt die Idee eines großen Haupt- bzw. Atelierraumes, in dem sich die Funktionen mischen, die Räume ineinander fließen, in dem privater und öffentlicher Bereich, Arbeit und Wohnen eine neue Einheit bilden. Als Gudula Öften unter dem Motto einer ‚Italienischen Nacht‘ ein Fest in ihrem Atelier veranstaltet, bietet ihr dieser neusachliche Raum mit seiner Funktionsvermischung den idealen Rahmen, um eben genau diese paradoxe Mixtur von Arbeit und Wohnen zu kreieren: das Paradox einer „allgemeine[n] Intimität“ (318). Zweck dieser Intimität ist die Befreiung des Menschen, denn rückblickend heißt 30 31 32 33

Weigel 1996. Wegmann 2004, S. 247. Vetter 2000, S. 136. Josef Frank, Das Haus als Weg und Platz, publiziert in: Der Baumeister, 29. Jg., 1931, S. 316; in: Vetter 2000, S. 137. 34 Richard Hamann, Geschichte der Kunst von der altchristlichen Zeit bis zur Gegenwart, Berlin 1933; darauf verweist Vetter 2000, S. 140; vgl. die folgenden Ausführungen. 35 Vetter 2000, S. 136.

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Poetik des Privatraums es über die ‚Italienische Nacht‘: „Damals hatte sie alle Kollegen befreien wollen“ (507); ein nicht gerade bescheidenes Unterfangen, das sich aber just und nur innerhalb eines Ateliers bzw. einer Neuen Wohnung verfolgen lässt, wie sie der Kunsthistoriker Hamann beschrieben hat: in Künstlerateliers finden wir dieselbe Unterteilung eines großen Arbeitsraumes in Wohnräume durch niedrige Wände, durch Verschläge. Das heißt aber nichts anderes, als daß die Räume, in denen wir im alten Sinne wohnen, Familie simpeln, träumen, nichtstun, uns gemütlich finden, zu Nebenräumen werden und in die Verschläge verwiesen werden, daß der Hauptraum ein Arbeitsraum, ein Atelier ist, daß es ein Wohnen für den produktiven Menschen werden möchte, nicht für den Rentner, den Träumer, den Nichtstuer, und daß sich dieser produktive Mensch mit den weiten, den Einblick gewährenden Fenstern als ein Funktionär der Öffentlichkeit, als Arbeiter am Gemeingut des Volkes oder der Menschheit fühlt. [...] Der Künstler als Erzieher!36

Hamanns Beschreibung charakterisiert nicht nur Gudula Öftens Atelier, sondern zugleich die Bewohnerin selbst, denn mit ihrem Anspruch, alle Kollegen befreien zu wollen, kann nicht mehr mit Block von einer simplen ‚Kultur des Wohnenkönnens‘ die Rede sein, Öften rückt vielmehr in auffällige Nähe zu den Avantgardekünstlern und -architekten. Auch diese bezweckten mit der Befreiung des Wohnens ja nichts Geringeres als die Befreiung des Menschen, auch sie sind dabei als Volksaufklärer und Pädagogen aktiv,37 organisieren Ausstellungen, halten Vorträge und publizieren Literatur für den Laien.38 „Stets sei den Leuten erklärt worden, wie sie wohnen sollen; permanent sei versucht worden, Gesellschaft durch Grundrisse zu reformieren“.39 Und eben Gudula Öften ist es, die als „dieser ewig pädagogische Backfisch“ (549) bezeichnet wird, als diejenige, „deren Pädagogik [...] weiter reicht als die stümperhafte der Lehrer. Was Öften treibt, ist Lebenspädagogik“ (324), und sie ist von der Perfektibilität des Lebens überzeugt: „man kann eine Schlinge auch zerschneiden, Herr Brecher.“ (548) Wenn Anthony Vidler im Hinblick auf die Architektur der 20er Jahre von einem „funktiona36 Hamann 1933, S. 891, 892. 37 Vgl. Fritz Wichert, Die Neue Baukunst als Erzieher, in: Das neue Frankfurt: Internationale Monatsschrift für die Probleme kulturelle Neugestaltung, Frankfurt am Main 1928, S. 233-236; Judit Solt, Wohnungsbau für wen? Architektur als pädagogisches Instrument, in: archithese, 4, 2003, S. 3844. 38 Zum rasanten Anstieg von Architekturpublikationen auf dem Buchmarkt der 20er Jahre siehe: Jaeger 1998, S. 11, sowie das Kapitel zu Gabriele Tergit Käsebier erobert den Kurfürstendamm. 39 Robert Kaltenbrunner, Wohnwelten, Denkwelten: Was hat Wohnen mit Architektur zu tun, in: archithese, 33, 2003, 4, S. 6-14, hier S. 13.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten listischen Optimismus“40 spricht, dann eignet dieser auch Gudula Öften. Auf diese Weise erscheint sie tatsächlich wie eine Künstlerin, wie eine Architektin des Neuen Menschen und als Teilnehmerin am Projekt der Avantgarde: Ihre Modelle lassen sich auf dem riesigen Diwan nieder (325), um sich mithilfe von Intimität, um sich in einem Privatraum befreien zu lassen. Hier im Privatraum bilden sich die Fiktionen des Angestellten, welche die Romane und die Pläne der Architekten bevölkern. Dass Lisa Frieske letztlich Öftens einziges gelungenes ‚Modell‘ bleiben wird, stellt ihre Selbsteinschätzung und Identitätskonstruktion dabei nicht infrage. An Lisa Frieske versucht sie explizit die Verwandlung von der Proletarierin zur Angestellten, formt vorerst ihren Körper und versetzt diesen dann ebenfalls in ein Atelier: „Die Achselhöhle rasiert“ wie bei Mucki Schöpps, erscheint Lisa bei der ‚Italienischen Nacht‘, „die Brustwarze leicht geschminkt, die allzu krasse Gesundheit durch Puder gedämpft, die ganze Person ein Kunstwerk, eine Schöpfung der Gudula Öften“ (324 ). Zum eigentlichen Befreiungsschlag aber wird erst Lisas Auszug aus dem Elternhaus. Sie setzt sich in Bewegung, versucht sich in der von ihrer Kollegin beschworenen Perfektibilität des Lebens, in der Verwandlung von der Proletarierin zur Angestellten. Zu diesem Zweck verlässt sie „Küche und Kammer“ (152) der Eltern und zieht um in eine ‚Wohnung für die berufstätige Frau‘ – wie die entsprechenden Entwürfe der Architekten heißen – , in ein Atelier, das ganz in der Nähe von Gudula Öftens Behausung liegt (218). Bedenkt man, dass der „schöpferische Künstler“ schon weit vor der Avantgarde „zum Paradigma des modernen Selbst- und Identitätsverständnisses“41 geworden ist, „in gewisser Weise zum paradigmatischen Exemplar des Menschen“, der „als Handelnder eine originelle Definition seiner selbst anstrebt“,42 und die „eigene Identität [...] somit als etwas gedacht [wird], was nicht vorgegeben ist, sondern selbst gesucht, gefunden [und] hergestellt werden muss“,43 dann erscheint es vollends einsichtig, warum Gudula Öften und Lisa Frieske das Projekt Identität von einem Atelier aus und in diesem betreiben. Hier nur werden ihre Entwürfe als moderne Identitätskonstruktionen erkennbar; freilich: Identitätskonstruktionen durchschnittlicher Menschen, keiner Heroen, aber Identitätskonstruktionen von Angestellten, nicht von Arbeitern, und schließlich Identitätskonstruktionen moderner Künstler, denn so träumte man in 40 Vidler 2002 (1992), S. 258. 41 Norbert Meuter, Müssen Individuen individuell sein? in: Renn/Straub 2002, S. 187-211, hier S. 194. 42 Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, Frankfurt am Main 1995, S. 72, vgl. Meuter 2002, S. 195. 43 Meuter 2002, S. 195.

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Poetik des Privatraums den 20ern: Dass es in absehbarer Zeit keinen Unterschied mehr zwischen Künstlern und ‚anderen Menschen‘ gebe – so zumindest Amedée Ozenfant, Mitbegründer des Purismus und Malerkollege Le Corbusiers. Der Künstler rückt näher an den Angestellten heran, so nah, wie er uns in Herrn Brechers Fiasko mit Gudula Öften und Lisa Frieske vor Augen geführt wird. „Zerstören wir den romantischen Begriff einer phantastischen Inspiration“, schreibt Ozenfant, sie muß gehorchen. Ihr bekommen nicht schwere Mahlzeiten und durchwachte Nächte. Sie liebt Methode, Regelmäßigkeit und die Lebensweise eines Jockei. Die Inspiration hat gerechten Anspruch auf das Weekend und den Arbeitersonntag. An den Feiertagen heißt es Augen, Herz und Kopf baden in dem Licht des weiten Landes; die Welt schauen.44

Die Beschreibung der künstlerischen Inspiration ist zugleich eine des Künstlers, denn was jener dienlich ist, steht diesem zu Gebote: die Lebensweise eines Jockei, die Methode und die Regelmäßigkeit. Das sind alles Tugenden, die eher an den Angestellten, denn an den schöpferischen Künstler erinnern, von dem hier explizit Abstand genommen wird, und dennoch geht es auch bei Ozenfant um poiesis, um das Herstellen von Kunst und solchermaßen haben sich Lisa und Gudula mit dem Atelier des Neuen Bauens bzw. Mucki Schöpps mit ihrem halben Zimmer mitten in die Debatten um das Projekt einer befreiten Identität verortet. Der Elterngeneration stehen sie diametral entgegen, denn was sie an Begeisterung für Bewegung, Veränderung und Dynamik aufbringen, ist jenen zuwider. So ist die Hausfrau Schöpps auch als „die leibhaftige preußische Erstarrung, eine Art Schnedderengteng auf menschlichem Gebiet“ (194) beschrieben, ihre Wohnung „die reinste möblierte Gruft“ (490) und damit jenseits des Lebens angesiedelt. Gemeinsam mit dem arbeitslosen Schilhanek wird sie so zur Gegenfigur der Dynamisierung von Identität. Während Schilhanek den Auszug seiner (Stief)Tochter Lisa Frieske zu verhindern sucht, kann auch Frau Geheimrat Schöpps der Beschleunigung keineswegs etwas Positives abgewinnen, sie erscheint ihr vielmehr noch wie eine Nervenkrankheit: „leidest du auch so wie die 3 am Wechsel der äußeren Eindrücke?“ (221), fragt sie ihre Tochter Mucki. Eine Frage, die keineswegs unbeantwortet bleibt, denn Mucki ist diese Dynamik, die Fahrt in der U-Bahn Lebenselixier und Liebesakt in einem.

44 Amédée Ozenfant, Leben und Gestaltung: Bilanz des 20. Jahrhunderts, Aufbau eines neuen Geistes, Reprint Berlin 1998 (1928), S.226, 227; vgl. Vetter 2000, S. 293.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Wenn Wegmann im Hinblick auf Mutter Schöpps und Stiefvater Schilhanek davon spricht, dass deren „hauptberufliches Wohnen“ nicht mehr Ausdruck des Lebens sei, „sondern [...] im Gegenteil vom Leben“ ausschließe,“45 „daß es ein einzelnes Zuhause an einem festen Ort nicht mehr gibt, weder im öffentlichen Raum der Stadt noch in der privaten Wohnung“, und dann fortfährt, ein gelingendes Zuhause könne nur noch ein transitorisches sein, das auf dem genau ausbalancierten Wechsel von Aufenthaltsorten, von privaten und öffentlichen Sphären basiere,46 so ist zu ergänzen, dass es sich hierbei um eine Gegenüberstellung von Wohn- und Identitätskonzepten, von Statik, Stillstand und Erstarrung einerseits, um Dynamik und Mobilität andererseits handelt. Was Rosa für die Spätmoderne festhält, gilt deshalb auch schon für die 20er Jahre: „Auf Stabilität hin ausgerichtete Selbstentwürfe erscheinen in der Spätmoderne [...] als anachronistisch und in einer hochdynamischen Umwelt zum Scheitern verurteilt“47. Es geht eben nicht nur, wie Wegmann vermutet, um den ‚genau ausbalancierten Wechsel der Aufenthaltsorte‘, es geht auch darum, dass diese Aufenthaltsorte bestimmten Strukturmerkmalen gehorchen: der Öffnung des Innenraums nach Außen, der Vermischung unterschiedlicher Lebensbereiche, der Dynamisierung des Wohnens. Öftens Atelier, das sich über den die ‚Längsseite entlang laufenden Balkon‘ bis in den Außenraum erstreckt, ist ein großer, fließender Raum, der der Bewegung seines Bewohners keine Grenzen setzt.48 Dieser Raum ist das Gegenteil von einem schmalen Gang, der im Bewohner das hervorruft, was Lisa Frieske in ihrer Liebesbeziehung empfunden und der Kunsthistoriker August Schmarsow beinahe wortgleich beschrieben hat: ein Unwohlsein, das einer Bestrafung gleichkommt, schränke es doch die freie Bewegung ein und lasse den Betrachter buchstäblich „die Wände hochgehen“49. Das, was Wegmann treffend als transitorsiches Zuhause bezeichnet, ist ein solches nicht nur deshalb, weil man sich dort vorübergehend aufhält, sondern weil dem Zuhause dieses Vorübergehende, Momentane eingeschrieben ist, weil es ein Amalgam bildet: 45 46 47 48

Wegmann 2004, S. 248. Ebd. S. 249. Rosa 2005, S. 379. Vgl. Kirsten Wagner, Vom Leib zum Raum, Aspekte der Raumdiskussion in der Architektur aus kulturwissenschaftlicher Perspektive, in: Wolkenkuckucksheim – Internationale Zeitschrift für Theorie und Wissenschaft der Architektur, 9. Jg., Heft 1, November 2004, Gebaute Räume, Zur kulturellen Formung von Architektur und Stadt, S. 5, Internetzeitschrift. 49 August Schmarsow, Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig 1894; vgl. Wagner 2004.

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Poetik des Privatraums weil es eine dynamische Sesshaftigkeit ist, eine verwurzelte Mobilität. Nur so kann das Zuhause für die hier analysierten weiblichen Figuren des Romans zur Basis eines Identitätsentwurfs werden. Sie sind damit weit entfernt von einer kulturpessimistischen Diffusion des Subjekts in der Großstadt, denn in ihrem Bekenntnis zum Wohnen ebenso wie in der Relevanz der Wohndebatten für den Roman kommt zugleich ein neues Moment zum Tragen, das im Kontrast zum Protagonisten Max Brecher noch an Kontur gewinnen wird. Der moderne Stadtbewohner, der in Häusern wie Zelte (die Maison Domino), in Häusern wie Autos (die Maison Citrohan) oder noch radikaler in Häusern wie Flugzeuge (die Maison Voisin) lebt, war das Leitmotiv einer Gesellschaft [...], die Mobilität tatsächlich lebt.50

Als Erprobung eines solchen Ideals treten Mucki Schöpps, Lisa Frieske und Gudula Öften auf den Plan, ihnen wird damit zugleich eine Bedeutung zugeschrieben, die in dem ursprünglichen (Arbeits)Titel des Romans Die Kontoristinnen noch deutlich wird. Schließlich aber ist Max Brecher via Titel zum Protagonisten erhoben, er hat ein Verhältnis zu Mobilität, Beschleunigung und dynamischen Räumen, das ihn nicht nur von seinen Kolleginnen, sondern auch vom funktionalistischen Optimusmus trennt.

Max Brechers Fiasko: vom Vagabundieren und Zirkulieren In einem Werbetext, den Brecher über Neue Wohnungen zu verfassen hat, lässt sich Folgendes lesen: Er, der möbliert in einer der üblichen Mietskasernen hauste, in einem Zimmer, das eine Bude war, wahllos zusammengewürfelt, schrieb nichtsdestoweniger per „Wir“ von Räumen, die nur in seiner talentierten Einbildung existierten, so erstklassig waren sie. „Unser Lebensstil hat sich gewandelt [...]. Wir leben nicht mehr gesellschaftlich gebunden und darum weniger konventionell, mehr auf individuelle Lebensgestaltung als auf gesellschaftliche Geltung bedacht. [...] Deshalb [...] betrachten wir auch unsere Wohnungen nicht mehr als Objekt gesellschaftlicher Repräsentation [...], sondern als Gebrauchsgerät, dessen Wert nach seiner Leistung abgeschätzt wird. [...] Es hat sich eine Akzentverschiebung innerhalb der Ansprüche vollzogen, die wir an eine Wohnung stellen [...]. Auch wer über einen erweiterten Lebensspielraum verfügt, verzichtet auf den Luxus, der die Wohnleis-

50 Vidler 2002 (1992), S. 258.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten tung mindert, und nimmt dafür den technischen Komfort, der sie durch praktische Hilfe erhöht.“ Zwischendurch blickte Brecher im Büro umher, dieser Arbeitsstätte, angesichts derer Verstaubtheit er sich ungemein seiner Formel vom erweiterten Lebensspielraum erfreute. Aber dann sagte er doch so laut, daß es jeder hören konnte: „Sie verzichten ab heute auf Luxus zugunsten des Komforts. Daß ich nicht lache.“ (453/454)

Die Schlagworte des Neuen Bauens von Wohnmaschine bzw. Gebrauchsgerät bis zur Repräsentation nutzt Brecher gekonnt für seinen Werbetext, um sich schließlich über die Spitzfindigkeit und scheinbare Lebensfremdheit der Architekturdebatte zu mokieren, wie sie sich beispielsweise in einem Beitrag Adolf Behnes zu erkennen gibt. In der Zeitschrift Das neue Frankfurt schreibt Behne1928 unter dem Titel Luxus oder Komfort?: Immer wieder begegnet man der Auffassung, daß die Besitzer der pompösen Schlösser unerhört komfortabel gelebt hätten ... aber das ist ein Irrtum. [...] Luxus und Komfort sind zwei ganz verschiedene Dinge. Bei großem Luxus kann doch der Komfort primitiv sein. Luxus ist Verschwendung. Komfort aber ist nicht ohne Ökonomie. Mein Satz: „Lieber wollten wir Tagelöhner in Leuna sein, als Herr in den adligen Kerkern San Gimignanos“ [...] dürfte kaum eine Übertreibung enthalten.51

Behnes plakativer Vergleich deutet auf eine nicht unproblematische Beurteilung der Wohnsituation innerhalb des Architekturdiskurses.52 Max Brecher geht darauf ein, wenn er sich die Wirkung seiner Broschüre auf mögliche Adressaten ausmalt, auf Damen aus gehobenen Kreisen etwa, die den Diskurs geschickt zur eigenen Distinktion umfunktionieren und ihrer Freundin erklären: „Aber Editha! Wir leben ja nicht mehr gesellschaftlich gebunden, meine Werteste. Wir verachten den Luxus zugunsten des Komforts.“ (454/455) Deutlich anhand dessen wird zweierlei: zum einen die detaillierte Kenntnis der Architekturdebatten der 20er Jahre, denn abgesehen von den Zwischenkommentaren könnte der essayistische Werbetext problemlos Bestandteil einer Anthologie werden, wie sie beispielsweise Kristina Hartmann als Die wichtigsten Texte zur Archi51 Adolf Behne, Luxus oder Komfort? in: Das neue Frankfurt: Internationale Monatsschrift für die Probleme kulturelle Neugestaltung, Frankfurt am Main 1928, S. 6-8. 52 So kann die eklatante Wohnungsnot insbesondere für die unteren Schichten in den 20er Jahren nicht gestillt werden, was Behne allerdings nur zu gut weiß; 1931 schreibt er: „Die Wohnung unserer Zeit – das ist in furchtbarer Dringlichkeit die Volkswohnung, die Wohnung des Arbeiters.“ Adolf Behne, Abteilung „Die Wohnung unserer Zeit“, in: Zentralblatt der Bauverwaltung 48 (1931), S. 733; zitiert in: Kähler 2000 (1996), S. 383.

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Poetik des Privatraums tektur in Deutschland 1919-1933 herausgegeben hat. Mühelos jongliert Brecher mit den Schlagworten Luxus und Komfort,53 Repräsentation, Wohnmaschine oder Wohnleistung, als handele es sich um einen veritablen Text des Neuen Bauens. Zum anderen aber wird deutlich, dass der Privatraum für Max Brecher keineswegs Ausgangspunkt oder Basis einer Identitätskonstruktion geschweige denn ein Versprechen auf Perfektibilität des Lebens ist. Und daran ändert sich auch nichts, als das Tagebuch seiner Kollegin Öften wie zufällig im Büro auftaucht und er mit Dr. Geist – in einer Parallelbewegung zu Öften und Lisa – ebenfalls ins „Kabinett der Intimitäten“ (149) verschwindet, in die Herrentoilette, um das Fundstück zu studieren: Niemals bisher hatten die beiden Herren, Brecher und Geist, so deutlich den Eindruck, in einer Atmosphäre zu leben, wo es darauf ankam, sich nicht zu kennen, in einem Haus zu sitzen, von welchem niemand hätte zu sagen vermocht: es gehört mir. Niemals bisher hatten sie so deutlich das Gefühl, einen Kopf zu besitzen, dessen Welt verbannt war, ein Kopf voller Geheimnisse und Sorgen, Sehnsüchte und Unsicherheiten, alles Dinge, die in der Bürosprache mit den Worten abgetan wurden: „Was geht denn Sie das an?“ (156)

Tatsächlich begibt sich der Roman mit den folgenden Kapiteln in das Privatreich, macht sich auf den Weg nach Hause, wie das anschließende Kapitel heißt, und widmet sich im zweiten Buch den Privaten Späßen. Was aber wie eine allgemeine Eroberung des Privatraumes inszeniert wird, ist dies realiter nicht für den Protagonisten. Max Brecher bleibt seine „Bude“ rein äußerlich, „in den Fragmenten seiner Systeme“ wird es auch nach der Entdeckung des Tagebuchs „nicht gerade wohnlich“ (502), und in einem Fragebogen, den Brecher nur aus „Spielerei“ verfasst, formuliert er als eine der möglichen Antworten: „Ich bin nie zu Hause bei mir; ich will von mir weg“ (407). Als er schließlich entlassen wird, verliert er seine Wohnung gänzlich: „keine Familie, keine geregelte Arbeit, kein fester Wohnsitz“54, die Parameter des Vagabunden bestimmen fortan sein Dasein. Das für den plot einschneidende Ereignis, negativer Höhepunkt des Romans, das Fiasko der Kündigung nämlich, wird vom Schulkameraden und langjährigen Freund, dem Vorgesetzten Dr. Geist, vollzogen und folgendermaßen erläutert:

53 Luxus und Komfort bilden sich als Kontrastpaar vor allem im Hinblick auf das Wohnen bereits seit 1800 heraus, vgl. dazu: Horst Mühlmann, Luxus und Komfort, Wortgeschichte und Wortvergleich, Bonn 1975. 54 Théodore Homberg, Etudes sur le vagabondage, Paris 1880, S. ix, zitiert in: Vidler 2002 (1992), S. 260.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Doktor Geist [hatte] liebenswürdigerweise auf eine hygienische, sozusagen hygienische Notwendigkeit hingewiesen: die Zirkulation, die Durchpulsung, die reibungslose Energiezufuhr. Das käme allen zugute. (459)

Dr. Geist setzt Brechers Kündigung in unmittelbaren Zusammenhang mit jener einem modernen Betrieb innewohnenden Zirkulation, einer Zirkulation, die aber vor allem dank des Hygienediskurses innerhalb der Städte und Wohnungen an Brisanz gewonnen hat: es gilt geradezu als tödlich, wenn die Luft nicht zirkulieren kann, wenn sie in den Räumen steht. Auf den zweiten Blick jedoch wird deutlich: Was Brecher tatsächlich ereilt, ist nur die Potenzierung dessen, was er schon zuvor betrieben hat. Zirkulation und Beschleunigung werden ihm nicht erst über Dr. Geist und die modernen Arbeitprozesse auferlegt, nein, Max Brecher ist die Haltung des Vagabundierens schon vor seiner Entlassung zueigen – wenn auch auf einer Ebene, die mit der stadträumlichen Verortung kaum noch etwas zu tun hat, sondern mit dem Einsatz von Sprache und seinem Verhältnis zur Kommunikation. Es wurde bereits erwähnt, dass das genaue Tätigkeitsgebiet der Uvag im Dunkeln bleibt, im Gegenzug der Leser aber in aller Ausführlichkeit Zeuge des unentwegten Bürotratsches wird, des Geredes und Geplauders. Daran haben alle Figuren ihren Anteil, und selbst der Erzähler wirkt nicht gerade wenig geschwätzig, der größte Künstler in der Produktion sinnfreier Sätze aber ist der Titelheld Max Brecher. Nachdem Mucki über drei Wochen nicht zur Arbeit erschienen ist – „ihr wäre die Lust an der Arbeit vergangen,“ wird sie Öften gegenüber bekennen, „sie müßte sich erholen, offiziell gesagt: ihre Mutter pflegen“ (351) –, wird das zum Anlass, im Büro über den Grund ihres Fehlens zu spekulieren. Als ihre Krankmeldung geltend gemacht wird, schaltet sich Brecher ein: „Auch was! Krank sind wir ja alle. Oder zumindest: Wir kranken an etwas. Ist ein Mensch verliebt, so krankt er an seiner Verliebtheit. Manche kranken auch daran, noch nicht zu wissen, woran sie kranken. Das sind die Schlauesten. Sie laufen mit einer zynischen Gesundheit durch ihre Fatalitäten, daß man ihnen den Kopf absägen müßte, damit sie einsehen lernen, was ihnen fehlt. Mucki hingegen, ja Mucki ... [...] Sie ist ohne Schicksal, sie krankt an nichts“, hatte Brecher gesagt. Er hielt diese Behauptung aufrecht, aller pantomimischen, von Gudula Öften ausgeführten Künste ungeachtet. Und wahrlich, nicht für jenes hinkende Huftier hatte er weiterhin bemerkt: „Jetzt fehlt sie. Aber ich muß schon sagen, daß sie in durchaus barvouröser Form fehlt. Unsereiner fehlt zwar auch gelegentlich, aber mit einem Gewissen, schlechter als ein verschimmelter Hering. Dafür, daß wir fehlen, kriegen wir ein Gewissen. Sie aber fehlt, wie all das fehlt, was einfach nicht da ist. Sie fehlt wie ein Loch, das nicht fehlt. Capristi? Sie ist

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Poetik des Privatraums ein Loch, so ist sie vorhanden, aber trotzdem fehlt sie. Loch ist übrigens nicht obszön gemeint.“ (387/388)

Was Brecher also bis zur Perfektion beherrscht, ist eine durchaus wuchernde Sprache, eine Sprache voller Verweise, Abschweifungen und Wiederholungen, die schließlich zu völliger Unklarheit und Undurchsichtigkeit des eigentlich Gesagten führen. Anders ausgedrückt: es kommt zu keinem Stillstand, zu keiner auch nur annähernden Festschreibung eines Sinns. Innerhalb von fünf Zeilen taucht sechs Mal das Wort ‚krank‘ auf, neun Mal ‚fehlen‘, und tatsächlich verfährt auch der Erzähler nicht anders, wenn er Gudula Öften als ‚hinkendes Huftier‘ bezeichnet und damit in einen völlig anderen Bildbereich wechselt und das Thema erneut verschiebt. In einer Studie über Zeitpraktiken in der Spätmoderne, kommen die Autoren Hörning, Ahrens und Gerhard denn auch auf neue Kommunikationsformen zu sprechen: Die hochdynamische Form der Kommunikation des ‚Spielers‘, die darauf abzielt, immer neue Sinnwelten zu erschließen, kann dazu führen, sich im faszinierenden Spiel der Kommunikation zu verlieren. Man geht den sich immer wieder bietenden, endlosen Verweisungen nach und hat – weil ja eben nahezu alles möglich ist – enorme Schwierigkeiten, noch Relevanzen zu erkennen, Bedeutsamkeiten im Auge zu behalten.55

Während Kracauers Ginster in seinen Verschiebungen vor allem die Realitäten konstruierende künstliche Zeichensysteme fokussierte, ist Brecher ein tragischer Spieler im Mantel der Ironie – beide aber treffen sich in ihrer Verweigerung von Funktionalität –, genau dies wird letztlich zum Grund für Brechers Entlassung, nicht seine Einschreibung in eine von der Firma diktierte Zirkulation der Waren und Arbeitskräfte, sondern sein von Anfang an dysfunktionaler Spracheinsatz, seine ‚ungenügende‘ Sachlichkeit, seine permanenten Sprachspielereien, die innerhalb einer Werbeabteilung tödlich wirken. Alles bleibt mehr oder minder offen, alles kann bestätigt und dementiert werden – und damit ist das Sprechen selbst dem Rotieren, dem maschinellen Flanieren oder besser: Vagabundieren vergleichbar, denn im Gegensatz zu den Flaneueren, die an einen stillstehenden Ausgangspunkt zurückkehren können, ist dieses Zentrum Brecher und seiner Sprache nicht mehr zugänglich. Er ist ein Spieler unendlicher Verweise ohne Mitte, unendlicher Wiederholungen ohne Klärung. In diesem Sinne bezeichnet Max Brecher den Menschen auch als „Durchgangsstation“ (548) und empfindet die 55 Karl H. Hörning, Daniela Ahrens, Anette Gerhard, Zeitpraktiken, Experimentierfelder der Spätmoderne, Frankfurt am Main 1997, S. 165, zitiert nach: Rosa 2005, S. 385.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten „Vibration“ (547) bereits als körperliches Bedürfnis,56 der Erzähler erklärt, Brechers Leben besitze keine „Endstation“ (15/16), und Brecher „läuft“ schließlich „auch über die Straße, wenn das Zeichen auf rot steht“ (369). Max Brecher hat also unübersehbar Teil an der Diffusion des modernen Subjekts, das großstädtische Labyrinth wird erneut zur Chiffre für die Wanderungen des modernen Individuums,57 für die ‚Unrettbarkeit des Ich‘. Täglich, zumal bei Büroschluß, läuft ein Zittern durchs Zentrum, durch die Fundamente Berlins, als wäre nun wieder etwas Unvorhergesehenes im Gang. Alles ist unterwegs. (7) [...] Alles ist unterwegs. Es ist der Fluchtcharakter Berlins [...]. Da sind die Linden: Als eine Achse durchqueren sie das Ganze, aber nach einigen hundert Metern haben sie bereits den Namen gewechselt; plötzlich sind sie eine Chausee. [...] Oder [...] die Leipziger Straße [...], auch sie wechselt nach ein paar hundert Metern den Namen. (9) [...] Und wird ein Mietbewohner nach dem Hauswirt gefragt, so schüttelt der Gefragte meistens den Kopf, ratlos [...]. Denn der sagenhafte Besitzer ist unterwegs, auch er ist meist unterwegs. Zur Bekräftigung dessen saust die funktionierende Vertikale des Fahrstuhls in ihrem Drahtkäfig auf und nieder [...]. (10)

Spätestens dann, wenn Brecher bekennt, dass er der Stadt endgültig verfallen ist (547), und Gudula Öften ihn als Kind der Großstadt definiert, scheint alles darauf hinzudeuten, Herrn Brechers Fiasko als klassisch-modernen Großstadtroman zu lesen: Dinge und Personen, das eigene Leben inbegriffen, spielen bei ihm keine Rolle. Er könnte unehelich sein, mitten auf dem Potsdamer Platz geboren oder in einem Müllkübel. (132)

In Brechers unbedingter Hingabe an die Dynamik der Stadt ist er den zahlreichen Protagonisten des modernen Romans durchaus vergleichbar, zugleich aber lässt sich eine Nähe zu spätmodernen Identitätsmustern feststellen, wenn Brecher jegliche Stabilität verweigert, die Rettungsversuche Öftens, die mit ihm im wahrsten Sinne des Wortes intim wird, ausschlägt und sich in fatalistischer Ironie vagabundierend am Straßenkampf beteiligt. Wenn Brecher bekennt: „mein Leben war stärker als meine Wahrheit“ (549), wenn er also den Verlust der Kontrolle über das eigene Leben eingesteht, dann wird er genau zur Gegenfigur Öftens und ihrer auf Perfektibilität ausgerichteten Existenzweise:

56 Brecher: „Allmählich wurde mir diese Vibration zu einer Notdurft [...]. Und damit war ich der Stadt endgültig verfallen.“ (547) 57 Vgl. Müller 1988, S. 21.

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Poetik des Privatraums Was unter den Zwängen der Beschleunigungsgesellschaft also preisgegeben wird, ist die Idee eines auf Dauer oder Langfristigkeit hin angelegten Identitätsprojekts, mithin die Vorstellung einer Autonomie, welche Subjekten das kontextübergreifende und zeitstabile Verfolgen von selbstdefinierten Werten und Zielen ermöglicht.58

In eben diesem Sinn notiert Brecher: „Lebensrichtung – ein Blödsinn“ (407), womit sich sein Verständnis von Dynamik und Beschleunigung als den weiblichen Figuren diametral entgegengesetzt erweist und eine Kluft in den Identitätskonzepten offenbart, die an jene zwischen klassischer und später Moderne erinnert: Zwischen der „klassisch-modernen“ Form der Mobilität, die von einem festen „Wohnort“ aus große Beweglichkeit erlaubte und zugleich eine sequenzielle Veränderung dieses Wohnorts ermöglichte, und der spätmodernen Wiederkehr des Nomadismus [...] oder der Ortspolygamie [...] klafft identitätstheoretisch eine große Lücke.59

Es gibt einen Unterschied zwischen dem Flaneur der Jahrhundertwende und den Subjekten, denen ein solch fester Wohnort abhandengekommen ist: Herrn Brechers Fiasko präsentiert Figuren, die sich durch eine gewisse Lust am Verlust von Stabilität auszeichnen, auf der einen Seite Mucki Schöpps, Gudula Öften und Lisa Frieske, die dieser Dynamik entsprechende Wohnformen beziehen, auf der anderen Seite Max Brecher, der allerdings genau entgegengesetzt die Dynamik als Auflösung des Subjekts begreift. Die Lücke, die sich zwischen Öften, Frieske und Mucki Schöpps einerseits und Max Brecher andererseits auftut, ist aber nicht jene zwischen Flaneur und Nomade, sondern deutet auf verschiedene Konzepte des Nomadismus, die nicht einzig als Diffusion des Subjekts verstanden werden können. Es genügt weder Herrn Brechers Fiasko unter dem Blickwinkel des modernen Großstadtromans zu betrachten oder unter demjenigen postmoderner Ironie noch genügt es ihn einzig und allein als Büroroman zu klassifizieren, denn dann würde man völlig übersehen, dass mit Gudula Öften, Lisa Frieske und Mucki Schöpps Identitätsentwürfe zur Debatte stehen, die sich weder den ‚Lichtern der Großstadt‘ opfern noch in der Ironie auflösen. Diese Figuren sind vielmehr Ausdruck einer kurzen Hoffnungsphase der 20er Jahre, Personifikationen eines „funktionalistischen Optimismus“60. Wie ein ironischer Kommentar zur Großstadtliteratur wirkt deshalb auch Hückstedts Sprung von der Potsdamer Brücke in den

58 Rosa 2005, S. 372. 59 Ebd. S. 376/377. 60 Vidler 2002 (1992), S. 258.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Landwehrkanal, in dem sich prototypisch die Lichter der Großtstadt spiegeln61 – tatsächlich aber möchte sie sich keineswegs auslöschen und mit der Großstadt verschmelzen, nein, sie möchte vielmehr von ihrem Angebeteten Toldi gerettet werden. Fatalerweise aber kann dieser wie schon Kästners Fabian im gleichnamigen Roman nicht schwimmen (336f), die Kommunikation der professionellen Vermittler scheitert. Nicht die pulsierende Großstadt wird als die ihre eigenen Kinder verschlingende Hure Babylon an den Pranger gestellt, sondern die tatsächliche Unbeweglichkeit des Menschen, der Stillstand der Individuen: einerseits Toldis Verharren am Ufer, andererseits seine darauf einsetzende sinnlose Beschleunigung, eben seine Flucht vom Ort des Geschehens, ohne sich um Rettung zu kümmern (339). Auf der einen Seite befindet sich die leibhaftige Erstarrung der Mutter Schöpps und des Vaters Schilhanek, auf der anderen Max Brecher, dessen ungebrochene, ziellose Dynamik dem Untergang geweiht ist: er hinterlässt einen Abschiedsbrief, der mit den Worten endet: „hier trete ich ab.“ (550)

Zwischen Exhibitionismus Exhibitionismu s und Hermetik: moderne Schreibverfahren und Identitätsentwürfe Ähnlich den Identitätsentwürfen der weiblichen Figuren, ist auch die Struktur des Romans von Gegensätzen bestimmt. Finden sich auf der einen Seite Formen des intimen Schreibens: Tagebuch und Brief, distanzloser Brüotratsch und Monologe, so steht auf der anderen Seite der über die Ironie unentwegt verschobene Sinn, das uneigentliche Reden, das jegliche Näherung wieder ad absurdum führt. Dem Exhibitionismus, der den Leser über eiternde Furunkel (111) ebenso aufklärt wie über die Notdurft (547), Potenzprobleme (385), Selbstbefriedigung (524) und andere sexuelle Vorlieben der Angestellten, ist eine Hermetik an die Seite gestellt, welche die zuvor sezierten Identitäten erneut in die Distanz rückt und als nicht erklärbar definiert: „Ü“ pflegen die Kollegen ihre Sätze zu beschließen, sie erfinden die ÜSprache (25/28/32/39/55), und vor allzu großer Nähe flüchten sie sich in die „Indianer- oder Seemannssprache“ (123). Das hat aber nicht so sehr mit dem modernen Sprachverfall zu tun als damit, dass Festschreibungen nicht mehr betrieben werden, dass ein Amalgam auch in der Sprache zu bewerkstelligen ist zwischen Dynamik und Statik, zwischen Öffnung und Verschließung. Dem Roman sind also auch Strukturen der Statik zueigen: Da bilden die Angestellten zum einen eine abgeschlossene Einheit, die 61 „Es spiegele die Lichtreklamen wider, sei betupft mit ihnen und amüsiere sich gleichsam über den Reflex.“ (337)

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Poetik des Privatraums kaum von Außenstehenden tangiert wird. Wie unter einer Käseglocke flanieren sie durch die Stadt, zum anderen verrichten sie ihre Arbeit völlig abgeschirmt im Dachgeschoss der Uvag, hoch über dem tobenden Verkehr, eine Tätigkeit, die immerhin als Vermittlungsarbeit beschrieben wird und damit eigentlich einen enorm hohen Außenkontakt einfordern sollte. Unklar bleibt also nicht nur, was vermittelt wird, sondern auch der Vermittlungsakt selbst, völlig abwesend sind jegliche Kunden, die in Kommunikation und Interaktion mit den Angestellten treten könnten. Einer beinahe starren, abgeschlossenen Struktur gehorcht schließlich auch der Romanaufbau mit seinen drei Büchern (Abteilung Propaganda, Private Späße, Ein Gespenst geht um) mit je zehn Kapiteln und drei Unterkapiteln; das sechste Kapitel ist je einem Monolog Brechers gewidmet, und ebenso symmetrisch behandelt das zweite Kapitel im ersten Buch Mucki Schöpps Eintritt ins Büro, das zweite Kapitel im dritten Buch dann ihre Rückkehr ins Büro, schließlich gewährt das neunte Kapitel des ersten und dritten Buches Einblick in Das Tagebuch der Gudula Öften. So bildet der Roman mit seinem starren Aufbau einerseits und seiner polysemantischen Sprache andererseits (den Geheimsprachen und dem Redeschwall, den – teilweise kaum noch einzelnen Personen anhaftenden – Introspektionen und Bewusstseinsströmen, die das literarisches Pendant zur allgemeinen Mobilisierung, zu den fließenden Räumen, der Befreiung des Bewohners, der ‚ungebundenen Circulation der Individuen‘ darstellen) ein Amalgam zwischen Statik und Dynamik, zwischen Struktur und Defiguration innerhalb dessen die weiblichen Protagonisten ihre Identitäten entwerfen. In seiner absoluten Verherrlichung der Dynamik bleibt Brecher dagegen erfolglos, sein Fiasko ist der missglückte Versuch, sich innerhalb der transitorischen Räume tatsächlich zu entwerfen, um „endlich ‚auch einmal ich zu sein‘ wie [...] [Öften] es nannte.“ (291) Als sich der Architekt Ettore Fagiuoli am Experiment einer mobilen Architektur beteiligte, führte das in der Nähe von Verona zu einem besonders pittoresken Ergebnis. Seine zwischen 1929 und 1935 errichtetet Villa Il Girasole, hält, was ihr Name verspricht: die ‚Sonnenblume‘ folgt dem Lauf der Sonne und sorgt so im Hausinnern für ideale Sonneneinstrahlung und Belichtung (Abb. 49). Der Baukörper konnte dank einer Maschinerie im Sockelgeschoss um 120° gedreht werden, eine Drehung, die das Gebäude „in mehr als neun Stunden zurücklegte“.62

62 Ettore Fagiuoli, Villa Girasole, Via Mezzavilla 1, Marcellise, Verona; Vetter 2000, S. 88; vgl. dazu auch: Lucia Bisi, La casa girevole: Villa „Il Girasole“ a Marcellise, Verona 1935, in: Lotus International, 1983, 40, S. 112-128.

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Labile Verortungen, transitorische Identitäten Abb. 49: Ettore Fagiuoli, Il Girasole, bei Verona, 1929-1935.

Diese beinahe schon phantastische Architektur zeigt auch die Grenzen einer mobilen Architektur auf, da sie sich immer nur in vorgegebenen, geplanten Bahnen vollziehen kann, wenn sie realisierbar bleiben soll. Aber eben hierin zeigt sich auch, dass mobile Architektur nicht Obdachlosigkeit (und schon gar keine transzendentale) provozieren muss. Ebenso wie das halbe Zimmer und das Atelier, in denen sich die weiblichen Figuren niederlassen, streben diese Lösungen zwar nach Dynamik, aber sie bilden ein Amalgam, sie vermitteln zwischen der sitzenden Lebensweise im Büro und der Dynamik der Stadt. Nur innerhalb dieser zwischen Statik und Dynamik vermittelnden Strukturen gelingen Identitätsentwürfe wie die der Angestellten, Identitätsentwürfe wie die Öftens, deren Beweglichkeit ja ebenfalls auf Planbarkeit basiert, deren Bewegungsfreiheit nicht unbedingt in mobilen Architekturen stattfinden muss (wie sie Girasole oder die U-Bahn darstellen), aber in Wohnentwürfen, die Bewegungsfreiheit symbolisieren und ermöglichen. Als Georg Simmel zu Beginn des Jahrhunderts einen Prozess der Distanzierung zwischen dem Selbst und seiner lokalen und materiellen Umwelt beobachtet, stellt er fest: Der Objektivierungsprozeß der Kulturinhalte, der, von der Spezialisation dieser getragen, zwischen dem Subjekt und seinen Geschöpfen eine immer wachsende Fremdheit stiftet, steigt nun endlich in die Intimitäten des täglichen Lebens hinunter. Die Wohnungseinrichtungen, die Gegenstände, die uns [...] umgeben, waren noch in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts [...] von relativ großer Einfachheit und Dauerhaftigkeit. Hierdurch entstand jenes ‚Verwachsen‘ der Persönlichkeit mit den Gegenständen ihrer Umgebung, das schon der mittleren Generation heute als eine Wunderlichkeit der Großeltern erscheint.63

63 Georg Simmel, Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6, hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989 (1900), S. 637.

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Poetik des Privatraums Wenn Simmel also eine Entfremdung zwischen dem Selbst und seiner Umwelt feststellt, eine Verselbständigung des Individuums, eine Trennung zwischen Subjekt und den ihn umgebenden Gegenständen und Räumen, dann muss im Hinblick auf Herrn Brechers Fiasko festgehalten werden, dass für die weiblichen Figuren die Verbindung zu Gegenständen und Wohnungen zwar nicht mehr dauerhaft sein mag, austauschbar aber werden sie nur unter der Prämisse, dass sie dem Konzept der Mobilität und Durchlässigkeit folgen. Insofern ist es keineswegs beliebig, womit sich die Bewohner umgeben, die Umgebung und ihre Gegenstände sind Ausdruck ihres Selbst, sind den Subjekten „wesenhaft“, die Subjekte des Romans „gehen in den Ort“ ein,64 wenn auch in einem anderen Sinn. Es ist eben keineswegs beliebig, dass sich Gudula Öften in einem Atelier niederlässt, dieses Atelier ist Ausdruck ihres Selbstverständnisses: Gestalterin, Schöpferin des Lebens zu sein, ihres und dessen ihrer Kollegen, Ausdruck einer Dynamisierung von Identität; es ist ebenso wenig beliebig, dass Lisa Frieske in solch ein Atelier zieht und durchaus stimmig, dass sie niemals mit einer Tasche, sondern immer nur mit einer „Tüte unterm Arm“ (156)65 im Büro erscheint. Leichter und temporärer ist keine andere Tragemöglichkeit; und schließlich ist es auch nicht willkürlich, dass sich Mucki in einem halben Zimmer niederlässt. An all diesen Orten und Gegenständen mögen die Figuren zwar keinerlei individuelle Spuren mehr hinterlassen, aber die Gegenstände selbst sind zu den Spuren ihres Lebens, ihrer transitorischen Identität geworden.

64 Vgl. Rosa 2005, S. 377. 65 „Während Frieske, eine Tüte unterm Arm – denn es war eine ihrer Gewohnheiten, statt mit dem Köfferchen mit einer Tüte durch die Straßen zu gehen –, längst [...] da war.“ (156)

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DER TRAUM VOM WOHNEN – HANS FALLADAS KLEINER MANN – WAS NUN? (1932)* UND DIE TRADITIONALISTISCHE TRADITIONALISTISCHE MODERNE Hans Falladas Roman Kleiner Mann – was nun? erzählt die Geschichte des 26jährigen Herrenkonfektionsverkäufers Johannes Pinneberg, der am Ende der Weimarer Republik zum arbeitslosen Hausmann wird: Er legt „die Betten zum Lüften ins Fenster, er räumt[...] das Zimmer auf“, wäscht ab, schält Kartoffeln und schabt Mohrüben. (339) So einseitig wie kein anderer der in dieser Arbeit diskutierten Romane wurde Falladas Kleiner Mann jahrzehntelang einzig als Angestelltenroman und das Scheitern seines Protagonisten als Ergebnis seiner problematischen sozialen Stellung, seiner a-politischen Haltung wahrgenommen. Ohne Frage ist es einer der Vorzüge dieses Textes, eine Art Psychogramm des prototypischen Angestellten der frühen 30er Jahre zu zeichnen, der sich mit seinesgleichen nicht solidarisiert, sondern am Bürgertum orientiert. „Und die andern, die genau so sind wie wir, die sitzen auch allein. Jeder dünkt sich was. Wenn wir wenigstens Arbeiter wären! Die sagen Genosse zueinander und helfen einander [...], die dürfen es sich wenigstens dreckig gehen lassen. Unsereiner, Angstellter, wir stellen doch was vor, wie sind doch was Besseres ...“ (308)

Problematisch und deshalb Gegenstand vieler Interpretationen ist die scheinbar so typische Haltung des Kleinen Mannes aber deshalb geworden, weil er sich diese in wirtschaftlicher Hinsicht gar nicht leisten kann, weil er die Illusion der Realität vorzieht: Ökonomisch betrachtet bleibt er dem Arbeiter, nicht dem Bürger vergleichbar. Diese, unter dem Gesichtspunkt von Ökonomie und Engagement betrachtet, schwierige Lage des Protagonisten mag dem Autor des Kleinen Mannes wie auch seinem Protagonisten durchaus bewusst gewesen sein, denn Hans Fallada war Leser der soziologischen Stu*

Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?, in: ders. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, 2, hrsg. von Günter Caspar, Berlin, Weimar 1982 (1932).

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Poetik des Privatraums die Siegfried Kracauers zu den Angestellten (1929),1 in der u.a. der Mangel an Solidarität unter den Angestellten analysiert wird.2 Und so erscheinen die Pinnebergs keineswegs als politische Akteure, sie ziehen sich vielmehr in ihr Privatleben zurück,3 und im Gegensatz zu den ‚Helden‘ der zuvor untersuchten Romane – von Irmgard Keuns Gilgi über Martin Kessels Max Brecher bis hin zu Joseph Roths Gabriel Dan – ist der Privatbereich des Kleinen Mannes nun dezidiert von der Familie dominiert: während der Privatraum dort äußerst durchlässig war, ist er hier beinahe hermetisch abgeriegelt. Während Gilgi und ihre Schwestern und Brüder im Geiste der Familie den Rücken kehren und als Einzelpersonen in Einzelzimmern ihr Glück suchen, idealiter in Einraumwohnungen, gründen Johannes und Emma eine Familie, finden ihre Lebenserfüllung in der Kleinfamilie, in der abgeschlossenen Familienwohnung. So fällt der Kleine Mann aus dem Rahmen, erscheint in seinem (klein)bürgerlichen Moralvorstellungen verhafteten „Bewusstsein“4 sogar unmodern. Und doch ist Pinneberg nicht nur jener Angestellte, der es versäumt hat, sich mit Seinesgleichen zu solidarisieren, weil er sich etwas Besseres dünkt. Roland Ulrich stellt schon 1997 fest, dass das bekannte neusachliche Schreibverfahren der Kameragenauigkeit im Kleinen Mann nicht einzig die Funktion habe, sozialökonomische Zusammenhänge aufzudecken und hinter die Kulissen wirtschaftspolitischer Gegebenheiten zu blicken, sondern eine Mischästhetik fördere, die über die marxistischen Studien hinausgehend dem Text eine Mehrdeutigkeit zurückgebe, die auch für die folgende Analyse relevant sein wird. Denn trotz aller Orientierung am Bürgertum geht ein tiefer Riss durch die Wunschvorstellungen und Träume des Protagonisten und dem tatsächlich herrschenden Bürgertum einerseits, durch Inhalt und Form andererseits. Obwohl der Kleine Mann beim ersten Lesen einen geschlossenen, beinahe idyllischen Eindruck hinterlässt und noch dem Erzählschema des 19. Jahrhunderts verhaftet zu sein scheint, weisen gerade die Konstruktion und Erzählweise auf seine Verwurzelung in der Moderne. Solchermaßen wird Pinneberg als Teilnehmer am Projekt einer – wie 1 2 3

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Vgl. dazu u.a. Reinhard Zachau, Hans Fallada als politischer Schriftsteller, New York u.a. 1989, S. 83, und Lethen 1970. Kracauer 2006 (1929), S. 279ff. Vgl. Lethen 1970, S. 160; Claus-Dieter Krohn, Hans Fallada und die Weimarer Republik, Zur Disposition kleinbürgerlicher Mentalitäten vor 1933, in: Helmut Arntzen et al. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geschichtsphilosophie: Festschrift für Wilhelm Emrich, Berlin 1975, S. 507-523, hier S. 519-521. Christa Jordan, „Wir stellen doch was vor“ – Angestelltenleben und dessen Spiegelung in der Prosa am Ende der Weimarer Republik, in: Althaus 2001, S. 221-247, S. 239.

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Der Traum vom Wohnen sie in Anlehnung an die Architekturgeschichte genannt werden soll – traditionalistischen Moderne5 erscheinen: eben hierin liegt der bislang unbeachtet gebliebene spezielle Beitrag des Kleinen Mannes zu einer Poetik des Privatraums.6

Die Rettung des Kleinen Mannes aus seiner ökonomischen Bedingtheit Die am Romanende erzählte ‚Flucht‘ des Kleinen Mannes ins PrivatIdyllische lässt sich gemeinsam mit vielen Interpretationen als Konsequenz aus seiner kleinbürgerlichen Reaktion auf die ökonomische Bedingtheit lesen, zumindest legt das der Roman selbst nahe, wenn Pinneberg bei seinem letzten Ausflug in die Stadt vom Bürgersteig gejagt wird. „Sie sollen weitergehen, Sie, hören Sie!“ sagt der Schupo laut. Es stehen noch mehr Leute am Schaufenster, gutgekleidete Herrschaften, aber denen gilt die Anrede des Polizisten nicht, es ist kein Zweifel, er meint allein von allen Pinneberg. Der ist völlig verwirrt. [...] „Soll ich dir Beine machen?“ sagt der Schupo. Pinneberg gibt sofort klein bei, er ist wie besinnungslos, er will auf dem Bürgersteig weiter rasch zum Bahnhof Friedrichstraße, er will seinen Zug erreichen, er will zu Lämmchen ... Pinneberg bekommt einen Stoß gegen die Schulter, es ist kein derber Stoß, aber er ist immerhin so, daß Pinneberg nun auf der Fahrbahn steht. (360/361)

Diese Szene ist die zentrale Metapher für den realen sozialen Status der Pinnebergs, den sie durchgängig zu ignorieren trachten. Nachdem Pinneberg seine letzte Anstellung beim Herrenausstatter Mandel in Berlin verloren hat, findet er keine Arbeit mehr, ihm und seiner kleinen Familie – das sind: er selbst mitsamt Ehefrau Emma, 5

6

Die Traditionalistische Moderne ist kein terminus technicus, vielmehr erfährt sie unterschiedliche Umschreibungen und ist überhaupt als Beitrag zur Moderne erst in den letzen Jahren wieder ins Bewusstsein getreten, vgl. dazu den Abschnitt ‚Die traditionalistische Moderne und die neuen Zonen der Intimität‘. Zachaus Interesse an den Wohnräumen konzentriert sich auf einen sehr eingeschränkten Aspekt, der Wohndiskurs der 20er Jahre bleibt dagegen unbeachtet; Zachaus Interpretation möchte anhand der von Pinneberg erworbenen Frisierkommode aufzeigen, dass die Thematisierung des Wohnens auf die Selbsterkenntnis der Figuren ziele, vgl. Reinhard K. Zachau, Wohnräume in ‚A Farewell to Arms‘ und ‚Kleiner Mann – was nun?‘, in: Hans-Fallada-Jahrbuch, hrsg. von der Hans Fallada Gesellschaft, Nr. 4, 2003, S. 57-66, hier S. 61ff.

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Poetik des Privatraums genannt Lämmchen, und Sohn Horst, genannt Murkel – bleibt immer weniger Geld zum Überleben, neue Kleider können sie sich längst nicht mehr leisten. Ohne Schlips und Kragen erscheint Johannes dem Polizisten nicht mehr als ehrenwerter Angestellter, sondern als gefährliches, die Sicherheit der Bürger gefährdendes Subjekt. Sein Äußeres lässt ihn als potentiellen Feind des Systems erscheinen. Diesem eindrücklichen Bild am Ende des Romans soll hier nunmehr eine weitere Lesart entgegengestellt werden, die das Private nicht einzig als Flucht vor der Gesellschaft begreift, sondern als Ort, an dem der Versuch unternommen wird, ein neues Subjekt zu etablieren. Wohnen hat für die Pinnebergs von Anfang an eine identitätsstiftende Funktion und ist nicht alleine Ausdruck regressiven Verhaltens, das den Kleinen Mann offenbar erstmals nach dem Verlust seiner Anstellung und der Begegnung mit dem Schutzpolizisten ereilt. Unbestreitbar teilen Pinnebergs das Schicksal aller Arbeiter und Angestellten, eben dort wohnen zu müssen, wo sie Arbeit finden, wie es der Vorgesetzte Spannfuß ebenso sachlich wie zynisch auf den Punkt zu bringen vermag: „Die Firma ermöglicht erst ihr Privatleben“ (315). Diese Abhängigkeit vom Arbeitgeber zeigt sich unter anderem darin, dass die Pinnebergs allein in den erzählten zwei Jahren7 vier Mal ihre Unterkunft wechseln – vom angemieteten Zimmer bei der Witwe Scharrenhöfer, über das sogenannte „Fürstenzimmer“ im Haus der Mutter Pinneberg, und der ‚Dachkammer‘ beim Schreinermeister Puttbrese bis hin zur Laube des Kollegen Heilbutt am Rande Berlins: Die Pinnebergs übertreffen damit sogar noch die reale Frequenz der Umzüge eines Großstadtproletariers zu Beginn des Jahrhunderts,8 sie sind „Mietsnomaden“9 - und doch sind die unter diesen Umständen bezogenen Wohnungen nicht nur Ausdruck von Unterdrückung, sondern zugleich von Identität, die allen äußeren Zwängen zum Trotz erprobt wird. Der Roman selbst verweist darauf, dass die Wohnungen, die das junge Paar bewohnt, allein unter ökonomischen Gesichtspunkten betrachtet, ein ‚Wahnsinn‘ sind, denn nicht immer sind die Pinnebergs gezwungen just dort zu wohnen, wo sie sich gerade niedergelassen haben:

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Die Handlung des Romans spielt zwischen Juli 1930 und November 1932. Durchschnittlich ein Mal pro Jahr wechselt das Großstadtproletariat die Wohnung, vgl. Marco de Michelis, Trübe Transparenzen, in: Freibeuter 1984, 22 (Befreites Wohnen), S. 55-64, hier S. 55. So der Soziologe Franz Oppenheimer über das Schicksal der Bewohner von Mietshäusern: Die Mietskaserne „kann ihre Bestimmung nicht verleugnen, Massenquartier für Mietsnomaden zu sein, anstatt eine Heimat für Seßhafte.“ Oppenheimer 1918, S. 3.

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Der Traum vom Wohnen Ihr Hauptfehler war es natürlich, daß sie noch ein ganzes Jahr nach seinem Arbeitsloswerden die teure Wohnung bei Puttbrese behalten haben. [...] Es war ein Wahnsinn, aber sie konnten sich nicht entschließen ... Das letzte Eigene aufgeben, das Alleinseinkönnen, das Beisammenseinkönnen. (346)

In ähnlicher Manier heißt es über das halsstarrige Festhalten an der eigenen kleinen Laube, die sie am Ende des Romans beziehen: Jetzt im Winter wohnten in dieser großen Siedlung von dreitausend Parzellen höchstens noch fünfzig Menschen, wer irgend das Geld für ein Zimmer auftreiben oder bei Verwandten unterschlüpfen konnte, war vor Kälte, Schmutz und Einsamkeit in die Stadt geflohen. (340)

Den Pinnebergs kommt es nicht einmal in den Sinn, bei der Mutter anzuklopfen oder die vielfältigen Hilfsangebote seitens Jachmanns oder Heilbutts anzunehmen. Ihr Traum vom Wohnen erscheint zwar auf den ersten Blick erneut dem kleinbürgerlichen Angestelltenschema zu gehorchen, sich in der Illusion des bürgerlichen Daseins einzurichten, tatsächlich aber geht es in Falladas Kleinem Mann nicht einzig um die Illustration des ökonomisch sinnlosen und damit auch lebensbedrohlichen Drangs eines Angestellten nach den eigenen vier Wänden, sondern vielmehr um eine neue, sich erst in der Moderne etablierende Sehnsucht nach dem Privaten. Dieses Private ist darüber hinaus anders geartet, als man bei einem Angestellten vermuten würde, denn die Pinnebergsche Wohnvorstellung ist nicht nur dem proletarischen Interieur entgegengesetzt, wie Bernd Hüppauf betont,10 sondern auch dem des herrschenden Bürgertums. Wenn Johannes Pinneberg schon auf der ersten Seite des Romans das Wohnen thematisiert, lehnt er sofort auch das bürgerliche Interieur ab. Er wartet vor der Praxis des Urologen Dr. Sesam – der die Botschaft von Lämmchens Schwangerschaft übermitteln wird – und denkt: „So müßte man wohnen können [...]. Sicher hat dieser Sesam sieben Zimmer“ (7). Den „roten Plüsch“ im Wartezimmer bezeichnet er allerdings als „schrecklich altmodisch“ (9), und auch seine Frau Emma kommt aus dem Jammern gar nicht mehr heraus, als sie die erste gemeinsame Wohnung – ein möbliertes Zimmer – beziehen. Emma Pinneberg – die nach der Hochzeit mit Johannes ihren Beruf als Verkäuferin aufgegeben hat, bei den Eltern aus- und mit ihrem Mann zusammengezogen ist – ereifert sich in der Rolle als frischgebackene Hausfrau und künftige Mutter über die Zumutungen ihres neuen Zuhauses bei der verarmten Witwe

10 Bernd Hüppauf, Hans Fallada, ‚Kleiner Mann – was nun?‘, in: Manfred Brauneck (Hg.), Der deutsche Roman im 20. Jahrhundert, Bd.1, Analysen und Materialien zur Theorie und Soziologie des Romans, Bamberg 1976, S. 209-240, S. 228.

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Poetik des Privatraums Scharrenhöfer, deren Ersparnisse in der Inflation wertlos geworden sind. Ihrem Mann, der das Zimmer gemietet hat, erklärt sie die Bedingungen, unter denen eine solche Bleibe zu bewohnen ist: „Du hältst mir ’ne Frau, ja? Mindestens fünf Stunden täglich muß hier ’ne Frau her“, denn „wer soll das sauber halten, bitte? Die dreiundneunzig Möbel mit ihren Kerben und Knäufen und Säulen und Muscheln, na ja, ich hätt’s noch getan. Trotzdem es sündhaft ist, solche Quatscharbeit. Aber dieses Spalier, da habe ich ja allein jeden Tag drei Stunden damit zu tun. Und dann die Papierblumen ... [...]. Gefällt dir das? Möchtest du hier leben? Denk dir doch mal aus, du kommst nach Haus, und dann rennst du hier zwischen Eiern rum und überall sind Deckchen.“ (46)

Ganz im Sinne des Neuen Bauens verurteilt Lämmchen das unfunktionale Interieur. (Abb. 50), das Bruno Taut kaum anders geschildert hat, nämlich als Ansammlung von Bildern aller Art, Spiegel, Decken und Deckchen, Vorhängen über Vorhängen, Kissen über Kissen, Teppichen, Vorlegern, Uhren, aufgestellten Photos und Souvenirs, Nippes über Nippes auf Etageren, Konsolen und dgl. mehr.11

Abb. 50: „Dinge, deren Reinigung kein Kopfzerbrechen mehr macht, wenn sie nicht vorhanden sind!“; Abbildung aus zeitgenössischer Hauswirtschaftsliteratur.

Im Ergebnis wurde die Frau in solchen Räumen zum Staubwischen versklavt [...]; es wurde einfach unmöglich, eine solche Wohnung bei bestem Willen stets sauber zu halten, und doch lud man ihr die Verantwortung auf. […] Heute sind in normalen bürgerlichen Wohnungen [...] das Bad, Klosett und manchmal auch die Küche die einzigen guten Räume, in

11 Taut 2001 (1924), S. 10.

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Der Traum vom Wohnen denen der Mensch nicht ständig durch Firlefanz abgesaugt und in Anspruch genommen wird.12

Der Stellenwert, den das Wohnen im Leben der Pinnebergs einnimmt, ist also offenbar derselbe, der ihm auch innerhalb der Wohndebatte zugeschrieben wird. Privatraum wirkt identitätsstiftend, ist Ausdruck von Identität und keineswegs dermaßen beliebig, dass er seine Bewohner ‚im Grunde nichts angeht‘, wie sich ein Kollege Pinnebergs äußert13 und auch schon für Max Brecher charakteristisch war. Nur deshalb ist es Emma Pinneberg auch ein Graus, dass der gemeinsame Sohn in einem ihr im Grunde fremden Zuhause aufwachsen soll (46). Innerlich wehren sich die Pinnebergs also gegen die Bleibe bei der Witwe Scharrenhöfer ebenso wie auch gegen das darauffolgende (klein)bürgerliche Interieur im Haus der (Schwieger)Mutter Mia Pinneberg. In beiden bürgerlichen bzw. kleinbürgerlichen Privaträumen können sie ihre Identität nur durch Abgrenzung behaupten, hier wie dort mokiert sich Lämmchen über den schlechten Geschmack und die üblen Gewohnheiten. „Also, das ist nun euer Zimmer ...“ [erklärt Mia Pinneberg.] Sie schaltete das Licht ein, und rötlicher Ampelschimmer mischte sich mit dem Licht des vergehenden Septembertages. Sie hatte von fürstlich gesprochen. Dies war führwahr fürstlich! Auf einer Stufe stand das Bett, ein breites Bett, vergoldetes Holz mit Putten. Rote, seidene Steppdecken, irgendein weißes Fell auf der Stufe. Ein Baldachin darüber. Ein Paradebett, ein Prunkbett ... „O Gott!“ rief Lämmchen auch in dieser ihrer neuen Wohnung. (122/123)

Dieses Bett im Stil „Louis XVI. oder Rokoko, ich weiß nicht mehr“, wie Mia Pinneberg zu verstehen gibt, ist ein Geschenk Jachmanns an Johannes’ Mutter. Interessanterweise zeigt sich der Lebensgefährte und Geschäftspartner Holger Jachmann damit als WohnConnaisseur, denn der im Bürgertum noch immer beliebte Historismus scheidet die Zimmer nach Stil und Geschlecht: ist das Herrenzimmer in Renaissance eingerichtet, so gilt in dem den Frauen zugeschriebenen Schlafzimmer das Rokoko als angemessen.14 Für solche Spielereien aber scheinen Emma und Johannes nicht empfänglich zu sein, sie lehnen das Stilgemisch ebenso ab wie das in

12 Ebd. S. 59/63. 13 So die Haltung des Kollegen und Freundes Heilbutt zu seiner Wohnung: „Sieh dich ruhig um, es ist eine Bude wie alle, scheußlich im Grunde, aber mir tut es nichts. Sie geht mich nichts an.“ (228) 14 Vgl. Adelheid von Saldern, Im Hause, zu Hause, Wohnen im Spannungsfeld von Gegebenheiten und Aneigungen, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3, 1997, S. 145-333, hier S. 181.

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Poetik des Privatraums diesen Räumen zelebrierte weitschweifige Leben. Wie schon Gilgi, so fühlen auch sie sich nicht nur in ästhetischer, sondern auch in moralischer Hinsicht dem Bürgertum weit überlegen. Folglich orientieren sich die Pinnebergs offenbar nicht an den realen Interieurs, sondern am aktuellen Wohndiskurs, sie gehen nicht nur auf Distanz zum proletarischen Wohnen von Lämmchens Familie (17), sondern auch zum (klein-)bürgerlichen. Die so häufig angeprangerte und sozialgeschichtlich belegte Orientierung des Angestellten am Bürgertum ist deshalb differenzierter zu beurteilen, denn obwohl die Pinnebergs hier wie dort, bei Mutter Pinneberg ebenso wie bei der Witwe Scharrenhöfer, teilhaben können an den Insignien des bürgerlichen Daseins, obwohl hier wie dort der Schein mit dem nachgesagten Wunsch des Angestellten nach bürgerlichen Sein übereinstimmt, findet keine Identifikation statt, die Wohnungen bleiben ihnen gänzlich äußerlich. Erst die im weiteren Verlauf des Romangeschehens bezogenen Wohnungen werden zum Ausweis für ein gelingendes Zuhause. Die zusehends ärmlicher werdenden Behausungen sind eben nicht nur Ausdruck des sozialen Abstiegs, wie Zachau anmerkt,15 sondern tatsächlich auch Ausdruck neuer Wohnvorstellungen. Als ein Kollege im Kaufhaus Mandel Johannes damit droht, das moralisch zweifelhafte Leben seiner Mutter publik und ihn damit als Angestellten angreifbar zu machen,16 müssen sich die Pinnebergs erneut auf Wohnungssuche begeben. Die Bleibe, die Emma daraufhin findet, wird zu ihrem kleinen Paradies auf Erden. Wohnung wie noch nie lautet das Kapitel über ihr neues Zuhause, das es laut Gesetz gar nicht geben dürfte, denn es ist über einen Werks-, nicht über einen Wohnhof,17 über eine Leiter und nicht über eine anständige Treppe erreichbar. Die Wohnung liegt oberhalb eines Kinos und unter dem Dach der Werkstatt von Schreinermeister Puttbrese. Hier findet erstmals eine Identifikation zwischen Haus und Bewohner statt: „Es ist schön, bei sich zu Haus zu sitzen“ (198), erklärt Lämmchen: Das Zimmer ist wirklich gemütlich mit der tiefen Balkendecke und den rotbraunen warmen Mahagonimöbeln. Es ist ganz und gar kein modernes Zimmer, es

15 Zachau 2003, S. 61. 16 Schon im 19. Jahrhundert „floß das außerdienstliche Verhalten in die Qualifikationsberichte über den jeweiligen Beamten mit ein. Ein Botenmeister in Minden wurde beispielsweise für den ‚unsittlichen Lebenswandel seiner Frau und seiner beiden Töchter‘ zur Rechenschaft gezogen.“ von Saldern 1997, S. 234. 17 Folglich dürfen sich hier nur Werkstätten, aber keine Wohnungen befinden.

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Der Traum vom Wohnen tut dem Zimmer gar nichts, daß ein mit schwarzen und weißen Perlen gestickter Spruch an der Wand hängt, „Sei getreu bis in den Tod“: Das gehört alles dazu. Und auch Lämmchen gehört dazu im weiten, blauen Kleid mit der kleinen Maschinenspitze um den Hals, mit dem sanften Gesicht und der graden Nase. Es ist angenehm warm im Zimmer, der nasse Novemberwind faucht manchmal gegen die Scheiben an, das macht alles noch heimeliger. (196)

Weit entfernt von einem historistischen aber ebenso von einem funktionalistischen Interieur scheinen sich die Pinnebergs in einer Art Biedermeier niederzulassen, in diese Zeit des Bürgertums sehnen sie sich zurück und in ein solches Interieur gehört auch die Frisierkommode aus „kaukasisch Nußbaum“ mit einem Spiegel in einem „bräunlichen Rahmen mit einem ganz zarten grünlichen Ton“ (156). Als Johannes Pinneberg von seinem ersten Berliner Gehalt dieses Möbelstück für Lämmchen ersteht, jene Kommode, die sie schon so häufig im Schaufenster bewundert haben, dann wird diese Handlung zwar regelmäßig als Beweis für sein Leben in der Illusion bürgerlichen Daseins herangezogen – verweist das Möbelstück doch auf nicht vorhandenen Luxus und Wohlstand18 –, doch ist diese Kommode darüber hinaus ein Dokument biedermeierlichen Lebensgefühls: Pinneberg macht seiner Frau ein Geschenk, das für das Innere des Hauses bestimmt ist. Er beglückt sie nicht mit einer Federboa oder einem Pelzmantel, um auf den Boulevards zu flanieren und sich bewundern zu lassen – wie es Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen machen würde –, nein, er schenkt ihr einen Gegenstand, der nur im Innern des Hauses seine Wirkung entfaltet. Er kauft weder Radio noch Grammophon, um die Außenwelt zu sich zu holen, sondern ein Möbelstück für die Frau im Haus; für sich selbst träumt Pinneberg von einem Klubsessel aus Leder und einem eichenen Diplomaten (154). Offensichtlich soll hier mithilfe des Mobiliars eine patriarchalische Ordnung wiederhergestellt werden, wie sie sich im Leben der Pinnebergs ansonsten zusehends aufgelöst hat. Ob nun Klubsessel aus Leder, eichener Diplomat oder eine Frisierkommode aus „kaukasisch Nußbaum“ (155) – die Aufmerksamkeit, mit der einerseits die Oberflächen wahrgenommen werden, andererseits über Interieurs Ordnung und Harmonie etabliert werden soll, verweisen auf das Biedermeier. Bereits zu Beginn des Romans träumt Pinneberg in eben diesem Sinn von seinem Zuhause: „Ich möchte“, sagt Pinneberg leise und drückt Lämmchens Hand, „daß wir es ein bißchen hübsch hätten. Weißt Du“ – er versucht es zu schildern – „es müßte hell sein bei uns und weiße Gardinen und alles immer schrecklich sauber.“ (25)

18 So zum Beispiel Hüppauf 1976, S. 229.

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Poetik des Privatraums Licht, Luft und Helligkeit sollen durch das Pinnebergsche Interieur strömen. Tatsächlich besitzen sie in ihrer ersten eigenen Bleibe im Dachstubenidyll bei Meister Puttbrese „hübsche weiße Gardinen“ (192) und ebenso ist ihre Behausung blitzsauber. Nicht ganz hundert Jahre zuvor ließ sich schon in Adalbert Stifters Feldblumen ein ähnlicher Wohnentwurf entdecken: „Ich möchte eine Wohnung von zwei großen Zimmern haben, mit wohlgebohnten Fußböden, auf denen kein Stäubchen liegt; sanft grüne oder perlgraue Wände, daran neue Geräte edel, massiv, antik einfach, scharfkantig und glänzend; seidne graue Fenstervorhänge, wie mattgeschliffenes Glas, in kleine Falten gespannt, und von seitwärts gegen die Mitte zu ziehen. In dem einen der Zimmer wären ungeheure Fenster, um Lichtmassen hereinzulassen und mit obigen Vorhängen für trauliche Nachmittagsdämmerung.“19

Sicher kann sich der Angestellte Pinneberg nicht annähernd so gewählt und dezidiert ausdrücken wie der Erzähler der Feldblumen, die Grundkomponenten aber ähneln sich auffallend. Das Stiftersche Zitat interessiert dabei vor allem im Zusammenhang mit jener bereits genannten Epoche, die erstaunlicherweise zu Beginn des 20. Jahrhunderts allgemeine und neue Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat: das Biedermeier. Als man sich bereits um die Jahrhundertwende auf die Suche nach einer dem Alltag angemessenen Ausdrucksweise begeben hat, setzte gleichzeitig eine Neubewertung des Biedermeiers ein,20 das als letzte kulturelle Phase wahrgenommen wurde, „in der eine pure und ehrliche Gestaltungsästhetik“, „Funktionalität der Einrichtungsstücke“ geherrscht habe.21 Biedermeier als Erzieher22 lautet der Titel eines Schlüsselaufsatzes von 1904, und Peter Haiko erläutert, dass die Zeit um 1800 zur modernen Vergangenheit wird: „das Biedermeier fungierte[...] als das intentionale Vorbild für diese erste

19 Adalbert Stifter, Veilchen (25. April 1834), in: ders., Feldblumen, in: ders., Werke und Briefe, historisch kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 1,1, Stuttgart u.a. 1978, S. 44-47, hier S. 44, 45. 20 Vgl. Christian Witt-Döring, Zur Ästhetik des Biedermeiermöbels, in: Hans Ottomeyer, Klaus Albrecht Schröder und Laurie Winters (Hg.), Biedermeier, die Erfindung der Einfachheit, Ostfildern 2006, S. 58-70, hier S. 61. 21 Laurie A. Stein, Eine Kultur der Harmonie und Erinnerung – Die Transformation des Wohnraums im Biedermeier, in: Ottomeyer, Schröder, Winters 2006, S. 72-81, hier S. 79. 22 Joseph August Lux, Biedermeier als Erzieher, in: Hohe Warte, ill. Halbmonatsschrift für Architektur, angewandte Kunst und alle modernen Kulturaufgaben, Bund Deutscher Architekten, Bd. 1 (1904/1905), Leipzig, S. 145ff.

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Der Traum vom Wohnen Avantgarde.“23 Biedermeier war zu Beginn des 20. Jahrhunderts also keineswegs eindeutig und ausschließlich mit dem Epitheton ‚reaktionär‘ behaftet, vielmehr entzündet sich die Moderne an dieser Epoche ebenso wie an Ozeandampfern oder Ingenieurleistungen. So schreibt beispielsweise Bruno Taut anerkennend über die „Biedermeierdarstellung einer Abendgesellschaft“: Keine Bilder, die Möbel kaum in Erscheinung tretend, keine Tischdecke, ein sehr einfacher Teppich, ebenso einfacher Vorhang am geschlossenen Fenster und keine Tapete – alles in größter Einfachheit.24

An diese Ideale schließen sich die Pinnebergs an, und um die von ihnen bewohnten Räume als Ausdruck ihrer Identität und eben nicht nur als Illustration ihres sozialen Abstiegs wahrnehmen zu können, bedarf es an dieser Stelle eines weitergehenden Exkurses in die Architekturgeschichte der 20er Jahre.

D ie traditionalistische Moderne 25 und die neuen Zonen der Intimität Was das Bauhaus in Dessau für den International Style, das war die Stuttgarter Schule für die traditionalistische Moderne: „Wir Studenten in Berlin wurden damals von zwei Schulen der Architektur angezogen,“ erinnert sich Julius Posner 1990, „der Stuttgarter und der Dessauer Schule. Wir dachten wohl alle daran, eine Zeit lang ent- weder nach Stuttgart zu gehen oder ans Bauhaus. “26 25

23 Peter Haiko, Traditionalistische Moderne und undogmatische Avantgarde, Optimale Wohnqualität versus rigiden Formenkanon, in: Annette Becker (Hg.), Architektur im 20. Jahrhundert, Östereich, München 1995, S. 23. 24 Taut 2001 (1924), S. 16. 25 Die Bezeichnung traditionalistische Moderne für die traditionell ausgerichteten Architekten der Zwischenkriegszeit hat sich als terminus technicus zwar keineswegs durchgesetzt, soll hier aber dennoch zur Unterscheidung zweier Großströmungen innerhalb der Architektur der 20er Jahre dienen, da diese Bezeichnung den Beitrag zur Moderne betont; vgl. dazu auch das Vorwort zum Katalog der Paul Schmitthenner-Ausstellung, in dem von der ‚traditionalistischen Opposition‘ die Rede ist, die trotzdem modern sei (Voigt/Frank 2003, S. 6), oder Annemarie Jaeggi, die von einer ‚anderen Moderne‘ spricht (Annemarie Jaeggi, Traditionell und modern zugleich: das Werk des Berliner Architekten Paul Mebes (1872-1938) als Fallbeispiel für eine ‚andere Moderne‘, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 26. 1999, S. 227-241, hier S. 227); so auch schon Martin Steinmann, Claude Lichtenstein, Eine andere Moderne, in: Otto R. Salvisberg (Hg.), Die andere Moderne, Ausst.-Kat., Zürich 1985, S. 6-11; vgl. Haiko, der die Bezeichnung „traditionalistische Moderne“ in seinen Aufsatztitel übernimmt (Haiko

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Poetik des Privatraums In ihrem Selbstverständnis und in ihren Ambitionen waren die Traditionalisten ebenso sachlich wie die Funktionalisten, ja sie machten Letzteren gelegentlich sogar den Vorwurf der Unsachlichkeit. Es ist unsachlich Wohnhäuser aus Stahlplatten und Glas zu bauen, um sie dann mit allem möglichen Aufwand gegen Schall, Wärme und Kälte zu isolieren,27

schreibt einer der wichtigsten Vertreter der traditionalistischen Moderne, Paul Schmitthenner, 1932 in seinem ersten Band zur Baugestaltung.28 Im Gleichschritt verabschiedeten beide Schulen den Plüsch und Stilpluralismus der Jahrhundertwende.

1995, S. 22) oder schließlich und deutlich Hartmut Frank: „Es wäre gerechter, statt diese Architektur ‚traditionalistisch‘ zu etikettieren, sie als ‚traditionalistische Moderne‘ neben das ‚Neue Bauen‘ zu stellen und ihren Werdegang in diesem Jahrhundert gerade unter dem Geschichtspunkt ihrer Zeitgemäßheit und nicht länger unter dem Vorurteil ihrer Rückschrittlichkeit zu untersuchen.“ (Hartmut Frank, Welche Sprache sprechen Steine? Zur Einführung in den Sammelband ‚Faschistische Architekturen‘, in: ders. (Hg.), Faschistische Architekuren, Planen und Bauen in Europa 1930 – 1945, Hamburg 1985, S. 7-22, hier S. 19.) In diesem Sinne veranstaltete das Architekturmuseum 1992 und 1994 drei Ausstellungen zur modernen Architektur: Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Reform und Tradition (anlässlich der Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt am Main, 15. August bis 29. November 1992), Stuttgart 1992. Vittorio Magnago Lampugnani und Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Expressionismus und Neue Sachlichkeit (anlässlich der Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt am Main, 15. April bis 7. August 1994), Stuttgart 1994.; (der ursprüngliche geplante dritte Teil vergrößerte sich: Romana Schneider und Winfried Wang (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 2000, Macht und Monument (anlässlich der Ausstellung im Deutschen Architektur-Museum Frankfurt am Main, 24. Januar bis 5. April 1998), Stuttgart 1998; vgl. dazu neuerdings auch: Arne Ehmann, Wohnarchitektur des mitteleuropäischen Traditionalismus um 1910 in ausgewählten Beispielen, Betrachtungen zur Ästhtetik, Typologie und Baugeschichte traditionalistischen Bauens, Hamburg, Univ., Diss. 2007. 26 So erinnert sich Julius Posner 1990 in seinen Memoiren: Julius Posner, Fast so alt wie das Jahrhundert, Berlin, Siedler, 1990, S. 177, zitiert nach: Wolfgang Voigt, Schmitthenners Werklehre und die Stuttgarter Schule, in: Voigt, Frank 2003, S. 27-47, hier S. 27. 27 Schmitthenner 1932, S. 11. 28 Ebd. S. 10.

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Der Traum vom Wohnen Mietskasernenelend wird nicht besser durch aufgeklebte Fassaden in deutscher Renaissance, Bierbrauereien in altdeutschem Burgenstil und Postgebäude in Gralsarchitektur sind und bleiben verlogene Lächerlichkeiten,

erläutert Schmitthenner weiter. Schon Paul Mebes erklärt 1908 in seiner diese Strömung prägenden Publikation Um 1800: „ein Bauwerk ohne Ornament [wird uns] vollauf ästhetisch genügen, wenn die Hauptbedingungen [...] glücklich gelöst sind.“29 In der Abkehr vom vorherrschenden Baustil ebenso wie auf der Suche nach neuen, billigen Konstruktionsmöglichkeiten vereint, trennt die funktionalistische Moderne von der traditionalistischen jedoch grundlegend die Vorstellung davon, wie diese neue Wohnform auszusehen hat, in welcher Behausung der Mensch sein Zuhause finden kann. Nicht etwa die Getreidesilos oder Turbinenwerke, sondern Goethes Gartenhaus oder Stifters Asperhof aus dem Nachsommer dienen den Traditionalisten als Vorbild. In anschaulicher Weise illustriert Paul Schmitthenner die Differenz der formalen Gestaltung, indem er in der bereits erwähnten Publikation Goethes Gartenhaus mit Hans Scharouns Einfamilienhaus in der Weißenhofsiedlung kontrastiert (Abb. 51-52). Während Schmitthenner die Unzulänglichkeiten des Scharounschen Hauses in Prosa erläutert, den „Wolkenkratzer von dreihundert Metern Höhe“ und den elektrischen Stuhl als Ausdruck desselben Geistes bezeichnet und zugleich an „die Sendung des deutschen Volkes“ gemahnt – [v]on Goethes Haus zur Wohnmaschine klafft ein Abgrund, der unüberbrückbar. [...] Auf der einen Seite: Rechnender Verstand, Maschine, Masse, Kollektivismus; auf der anderen Seite: Gefühl, blutwarmes Leben, Mensch, Persönlichkeit. [...]

zitiert er unter der Abbildung von Goethes Gartenhaus aus dem Versepos Herrmann und Dorothea (1797). Wir wollen halten und dauern, Fest uns halten und fest der schönen Güter Besitztum.30

29 Paul Mebes, Um 1800, Reprint Berlin 2001 (der 2. Aufl. 1918) (1908), S. 11, zitiert nach Annemarie Jaeggi, Traditionell und modern zugleich: das Werk des Berliner Architekten Paul Mebes (1872-1983) als Fallbeispiel für eine ‚andere Moderne‘, in: Marburger Jahrbuch für Kunstwissenschaft, 26. 1999, S. 227-241, hier S. 229. 30 Schmitthenner 1932, S. 8.

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Poetik des Privatraums Abb. 51: S. 8 aus Paul Schmitthenner: Baugestaltung, Das deutsche Wohnhaus,1932, Hans Scharoun, Haus in der Weißenhofsiedlung, 1927.

Abb. 52: S. 9 aus Paul Schmitthenner: Baugestaltung, Das deutsche Wohnhaus,1932, Goethes Gartenhaus, Weimar, um 1600.

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Der Traum vom Wohnen Ob nun Goethes Gartenhaus, das schon 1908 als das „Urhaus der deutschen Kultur“ 31 bezeichnet wurde und bereits 1924 zur Verdeutlichung alter und neuer Wohnentwürfe diente – diesmal unter Bezug auf das Musterhaus des Bauhauses, das Haus am Horn –,32 ob Gottfried Kellers Grüner Heinrich mit seinem „Höfchen, das die Heimat umschließt“33 oder das Rosenhaus aus Stifters Nachsommer, das nachentworfen und gezeichnet wird (Abb. 53):34 die Vorbilder der traditionalistischen Moderne stammen aus den vergangenen Jahrhunderten und orientieren sich an Hochkultur und Handwerk, nicht an Alltag und maschineller Fertigung. Während Le Corbusier Häuser wie Züge baut und Hans Scharoun Dampfermotive zitiert (Abb. 54), bleiben die Gebäude der traditionalistischen Moderne dem Boden verhaftet: sie verwenden regionale Materialien, mit denen sie Sesshaftigkeit im Gegensatz zu Dynamik, Gemütlichkeit und Wärme, im Gegensatz zu Schnelligkeit und Kälte vermitteln wollen. Während die einen ihren Büchern Titel wie Internationale Architektur,35 oder Internationale Neue Baukunst 36 geben, betonen die anderen das Deutsche Wohnhaus37 oder Das Gesicht des deutschen Hauses.38 Und liest man Goethes Versepos weiter, so zitiert Schmitthenner eine Geisteshaltung, die bereits Ginster beim Entwurf der Arbeiterhäuser kritisierte: eine über das Haus mit Boden und Besitz verwurzelte Ideologie, die bereit ist zur kriegerischen Verteidigung derselben Güter: Und drohen diesmal die Feinde, Oder künftig, so rüste mich selbst und reiche die Waffen. Weiß ich durch dich nur versorgt das Haus und die liebenden Eltern, O, so stellt sich die Brust dem Feinde sicher entgegen. 31 So Paul Mebes in seiner 1908 erschienenen Schrift: Mebes 2001 (1908); vgl. Wolfgang Voigt, Vom Ur-Haus zum Typ. Paul Schmitthenners ‚Deutsches Wohnhaus‘ und seine Vorbilder, in: Vittorio Magnano Lampugnani und Romana Schneider (Hg.), Moderne Architektur in Deutschland 1900 bis 1950, Reform und Tradition, Ostfildern 1992, S. 245-267, hier S. 245. 32 Vgl. Voigt 1992, S. 248, 249. 33 In der Beschreibung des Hauses mit den gemauerten Gärten schreibt Schmitthenner über einen Innenhof: „Dem Rationalisten läuft es kalt über den Rücken. Das erinnert ihn denn doch zu sehr an Eichendorff oder gar an Gottfried Keller, falls er den Anfang des grünen Heinrich kennen sollte: ‚das Höfchen, das die Heimat umschließt. ‘“ Schmitthenner 1932, S. 33. 34 Voigt 1992, S. 252, 255. 35 Walter Gropius, Internationale Architektur, Bauhausbücher Bd. 1, 1925. 36 Ludwig Hilberseimer (Hg.), Internationale Neue Baukunst (Im Auftrag des Deutschen Werkbunds), Baubücher Bd. 2, Stuttgart 1927 (Reprint in: Neues Bauen International 1927/2002 (eine Ausstellung des Instituts für Auslandsbeziehungen e.V., Stuttgart), Berlin 2002). 37 Schmitthenner 1932. 38 Paul Schultze-Naumburg, Das Gesicht des deutschen Hauses, München 1929.

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Poetik des Privatraums Und gedächte jeder wie ich, so stände die Macht auf Gegen die Macht, und wir erfreuten uns alle des Friedens.39

Abb. 53: Theodor Fischer, Rosenhaus: Umgebungsplan, Aufriss, Grundriss OG, 1933.

Jenseits der verhängnissvollen Verstrickungen der traditionalistischen Moderne mit dem Dritten Reich40 gilt es, die formal unterschiedlichen Lösungen für das Wohnhaus ernst zu nehmen, will man nicht wie in den Bauämtern der Nachkriegszeit in völlig undifferenzierter Manier und Fortschreibung des Dächerstreits der 20er Jahre nunmehr die Satteldächer als des Faschismus verdächtig brandmarken.41 Neben den Giebeldächern fällt vor allem Größe und 39 Johann Wolfgang von Goethe, Herrmann und Dorothea, in: ders., Werke, hrsg. von Friedmar Apel et al., Bd. 6: Versepen, Schriften, Maximen und Reflexionen, Darmstadt 1998 (1797), S. 127-185, hier S. 184. 40 Vor allem in der zeitgenössischen Debatte um die Weißenhofsiedlung spitzt sich die Auseinandersetzung zu. Schon Ende der 20er Jahre entsteht zwar der Plan, der Weißenhofsiedlung eine topographisch angemessenere Siedlung gegenüberzustellen; realisiert wurden diese Musterhäuser aber erst in den 30er Jahren mit Hilfe der Nationalsozialisten in der nur wenige hundert Meter entfernten Kochenhofisedlung. Als Reaktion auf die Berliner Architektenvereinigung Der Ring schlossen sich die Traditionalisten im Block zusammen und zementierten so die Frontstellung; vgl. dazu: Kirsch 1999 (1987), S. 18f/206. Plarre 2001. 41 Zur Aufarbeitung der traditionalistischen Moderne seit den 80er Jahren, im speziellen Paul Schmitthenners, siehe: Voigt, Frank 2003, S. 7; vgl. dazu auch das Interview von Nike Breyer mit Christoph Mäckler in der Berliner Tageszeitung vom 22. April 2006 „Flachdach ist spießig“ und ders.: 9. Dortmunder Architekturtage, Stadtbaukunst - ‚Das Dach‘, in: Baumeister BX., Sonderveröffentlichung Sept. 2007.

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Der Traum vom Wohnen Lage der Häuser ins Auge: die traditionalistische Moderne sucht weniger nach einer Lösung des Wohnproblems über den Geschosswohnungsbau in der Stadt als vielmehr über das Reihen- und Einzelhaus außerhalb der Stadt bzw. in der Klein- und Gartenstadt. In offenen Wohnformen, mithin in Mietskasernen oder nachträglich unterteilten Wohnungen, erscheint dagegen die familiäre Integrität, die Sittlichkeit aufs äußerste gefährdet. Abb. 54: Hans Scharoun, Brief an die Bauherren Haus Schminke, Löbau, 1930-1933.

So schreibt Franz Oppenheimer 1918 in seinem Vorwort zur von Paul Schmitthenner entworfenen Gartenstadt Staaken bei Berlin über das Problem der städtischen Mietshäuser: „Mädchen und Frauen“ seien „fast ohne Aufsicht“ und damit „allen Versuchungen fast schutzlos ausgeliefert,“ er nennt als Gefahren die „Ansteckung durch Einmieterinnen“ ebenso wie die „Verführung durch Schlafgänger“.42 In der Laubenkolonie dagegen zeige der „abgehetzte, rastlose, heimatlose“ Großstädter, wohin seine „gerechte Sehnsucht“ ziele.43 In eben diesem Sinne vermerkt auch Wasmuths Baulexikon

42 Oppenheimer 1918, S. 4; vgl. dazu auch Frank, Schubert 1983 (1890), S. 72. Die Wohnreform, so schreiben Häußermann/Siebel 2000, sollte zugleich die „Sittlichkeit und Humanität“ der Bevölkerung heben. 43 Oppenheimer 1918, S. 4.

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Poetik des Privatraums im Jahr 1932: die Kleingartenkolonien seien „Zeichen eines allgemeinen Bedürfnisses“44. Aber nicht nur die Gartenstädte und Laubenkolonien gehorchen in ihrer Anlage dem Rückzug aus der Stadt, auch beispielsweise jene von Schmitthenner geplanten Einfamilienhäuser sind fast immer in der grünen Natur situiert, mitten im Garten mit einem „phantastische[n] Stadtblick“,45 „verschont von Verkehrslärm und Staub“.46 Einen ebenso gearteten Rückzug aus der Stadt betreiben auch die Pinnebergs. Sie sind nicht nur an jeglicher Form von Kultur, sei sie nun städtische Alltagskultur oder Hochkultur, desinteressiert, sie fliehen regelrecht aus der Stadt. Und das hat nicht einzig und alleine seinen Grund darin, dass sie ökonomisch Ausgeschlossene sind; selbst wenn sich ihnen die Möglichkeit bietet, endlich einmal groß auszugehen, brechen sie das Unternehmen ab: „Wir gehen jetzt nach Haus.“ (302)47 Ähnlich konstatieren auch Bernhard Spies und Michael Grisko im Hinblick auf die Büroangestellten in Herrn Brechers Fiasko: Zerstreuung durch Teilnahme am großstädtischen Amüsierbetrieb, die in den zeitgenössischen Angestellten-Theorien eine bedeutende Rolle spielt, bestimmt in Kessels Roman keineswegs die Freizeit. Sie bleibt ebenso ein Ausnahmeereignis wie das traditionelle Kulturerlebnis.48

Diese Abwendung von der Großstadt und allen damit verbundenen Vergnügungen betreiben die Pinnebergs bereits auf ihrem ersten Ausflug, der schon die Grundkomponenten ihres späteren Wohnens

44 „Allenthalben breiten sich an den Rändern der Städte Kleingartenkolonien in regelloser Verzettelung aus, die Schumacher ‚Zeichen eines allgemeinen Bedürfnisses‘ nennt, die aber städtebaulich nicht als eine Lösung bezeichnet werden können und zum Schrecken und zur ständigen Enttäuschung ihrer Inhaber ahasverartig vor der sich ausbreitenden Stadt hergetrieben werden.“ Wasmuths Lexikon der Baukunst, 3. Bd.: H bis Ozo, Berlin 1931, Lemma Kleingarten S. 377-380. 45 Schmitthenner 1932, S. 33. 46 Ebd. S. 66. 47 „Einmal groß ausgehen, Herr Jachmann, das war immer Lämmchens Wunsch. Herrlich!“ (292); nach dem Kinobesuch hört sich das schon ganz anders an: „Wollen wir überhaupt noch fort? Eigentlich hab ich keine große Lust mehr.“ Und auch Lämmchen bewegt zweifelnd ihre Schultern.“ (299) Und nachdem Jachmann schließlich anderen Geschäften nachgehen muss und ihnen rät, noch alleine loszuziehen, ihnen das Geld zusteckt, sagt Lämmchen zu ihrem Mann: „Wir gehen jetzt nach Haus!“ (302) 48 Bernhard Spies, Die Angestellten, die Großstadt und einige „Interna des Bewußtseins“, Martin Kessels Roman „Herrn Brechers Fiasko“, in: Becker/ Weiss 1995, S. 235-254, hier S. 244; Grisko 2001, S. 268.

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Der Traum vom Wohnen aufweist. Sie fliehen dem Lärm der Großstadt und Geselligkeit, fliehen hinaus ins Grüne, in die Natur und Intimität (90). Es ist dieselbe abgeschiedene Lage, die auch das einzig positive Moment ihrer ersten gemeinsamen Wohnung darstellen wird: weit draußen vor den Toren der Stadt liegen die Zimmer der Witwe Scharrenhöfer, am „Grünen Ende“ (42). Das Land liegt im Mondlicht [...], schön aufgeteilt in freundliche Helle und einen sanften, tiefen Schatten, wo Bäume stehen. So still ist es, sie hören bis hierherauf die Strela über ein paar Steine plätschern. [...] „Wie schön das ist“, sagt sie. „Wie friedlich.“ [...] Man dreht sich von der Betrachtung des schlichten, klaren Landes um und sieht einen Raum, in dem ... Nun, Lämmchen ist wirklich nicht verwöhnt. Lämmchen hat höchstens einmal in einem Schaufenster an der Mainzer Straße in Platz schlichte, gradlinige Möbel gesehen. Aber dies ... „Bitte, Junge“, sagt sie. „Nimm mich bei der Hand und führe mich. Ich habe Angst, ich stoß was um oder ich bleib wo stecken und kann nicht mehr vor und zurück.“ (53/44, Hvm)

In eben diesem Sinne hat schon Le Corbusier zynisch gefragt: Und wozu dieser Spiegelschrank, dieser Waschtisch, diese Kommode? Dann, wozu diese akanthusverzierten Bücherschränke, diese Konsolen und Vitrinen, diese Geschirrkästen, Silberschränke, diese ganzen Anrchitebüffets? Wozu diese ungeheuren Lüster? Diese Kamine? Diese baldachinartigen Vorhänge? [...] Das Licht eurer Lüster tut den Augen weh. Eure Gardinen und bunten Tapeten sind aufdringlich wie unverschämte Diener, und ich nehme das Bild von Picasso, das ich euch schenken wollte, wieder mit, denn in dem Basar eurer Häuslichkeit würde man es gar nicht bemerken.49

Es sind „die guten einfachen Dinge“ (290), denen hier wie dort das Wort geredet wird und die sich im Schoße der Natur finden lassen – Tendenzen einer Schäferidylle, die sich bis in die Namensgebung Lämmchens erstreckt. Und während diese das Leben in der Mietskaserne parallel zu Oppenheimer mit den Worten „das ist unten, das ist das Ende, das ist der Verzicht auf das eigene Leben“ (187) beschreibt, erweist sich die am Ende des Romans bezogene Laube als ein von Anfang an betriebenes Wohnprojekt, das den Idealen der traditionalistischen Moderne entspricht. Das Pinnebergsche Laubenhäuschen ist am Stadtrand angesiedelt: „im Osten Berlins, etwas weit ab, vierzig Kilometer, gar nicht mehr Berlin, aber mit einer Ecke Land dabei.“ (348) Erneut ist die „frische Luft“ draußen vor der Stadt „herrlich“ (349), hier leben sie in ihrer „kleinen Burg“. Aus diesem Grunde kann das ‚Schrebergartenglück‘ am Ende des Romans mit Renate Möhrmann keineswegs als „aufgepfropfte Idylle“ 49 Le Corbusier 2001 (1922), S. 94.

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Poetik des Privatraums bezeichnet werden,50 das Leben in der Laube ist vielmehr ein von Beginn an verfolgtes Ziel – und es ist die Lage der bezogenen Wohnung, die das ärmliche Heim der Pinnebergs nicht nur mit den Reihenhäusern der Gartenstadt Staaken, sondern auch mit den großbürgerlichen Villen eines Paul Schmitthenner verbindet. Selbst wenn die Pinnebergs den Nachsommer nicht lesen, prägen die über die traditionalistische Moderne in den aktuellen Wohndiskurs eingespeisten Bilder vom richtigen und guten Wohnen die Ideale des Kleinen Mannes. Dabei korrespondiert die auffällige Lage der Häuser und Wohnungen mit einer besonderen Ausgestaltung der Zugänge. Schon Heinrich Drendorf suchte am Rosenhaus die Türe, an die er klopfen könne: „Ich sah mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen. Die ganze ziemlich lange Wand derselben hatte keine Thür und kein Thor“.51 Ähnliches lässt sich bei Schmitthenner über sein Haus mit den gemauerten Gärten nachlesen: Das Entscheidende und vielleicht Merkwürdige an diesem Haus ist die Lage des Eingangs. [...] In der Straßenmauer sitzt die Pforte, die in einen kleinen Hof führt, der rings von Mauern umschlossen. [...] Ein Mauerbogen legt sich zwischen Hauswand und Bergmauer [...]. Jetzt steigst du eine ganz stattliche Treppe aus Sandstein hinauf zwischen Haus und Mauer, nochmals durch einen stützenden Bogen hindurch, trittst in einen neuen Raum, begrenzt durch die Trockenmauer der Rückgärten und die Bergseite des Hauses gehst über zwei drei Stufen hinweg und jetzt erst stehst du an der Haustür.52

Der Weg durch die Natur ins Haus wird nicht jedem Fremdling sofort offensichtlich und erhöht die Separierung von Privatraum und öffentlichem Raum. Ohne ländliche, aber mit handwerklichen Konnotationen versehen ist der Weg durch die Werkstatt in die Wohnung von Lämmchen und Johannes beim Schreinermeister Puttbrese, der Zugang gestaltet sich als eine wahre Choreographie des langsamen Übergangs vom öffentlichen in den privaten Raum: Also da liegt ein Kino, und neben dem Kino gehen sie durch einen Torgang und kommen auf einen Hof. Es gibt zwei Arten von Höfen, dies ist die andere, mehr ein Fabrik- und Lagerhof. Eine funzlige Gaslaterne brennt und beleuchtet ein 50 Renate Möhrmann, Biberkopf, was nun? Großstadtmisere im Berliner Roman der präfaschistischen Ära, Dargestellt an Alfred Döblins ‚Berlin Alexanderplatz‘ und Hans Falladas ‚Kleine Mann – was nun?‘, in: Diskussion Deutsch, hrsg. Von Hubert Ivo et al., 9. Jahrg. Heft 40 (April/Mai 1978), S. 133-151, hier S. 150. 51 Adalbert Stifter, Der Nachsommer, Eine Erzählung, in: ders., Werke und Briefe, historisch kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart, Berlin, Köln 1997 (1857), S. 48. 52 Schmitthenner 1932, S. 33.

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Der Traum vom Wohnen großes Tor, zweiflügelig, wie zu einer Garage. ‚Möbellager von Karl Puttbrese‘ steht dran. [...] „Und hier ist unser Aufgang“, sagt Lämmchen und schließt die Garagentür [...]. Es ist ein großer Lagerschuppen, in den sie eintreten, vollgepfropft mit alten Möbeln. Das kümmerliche Licht der kleinen Taschenlampe verliert sich nach oben in einem grauen Sparrengewirr mit Spinnweben. [...] „Siehst du, da hinten, die schwarze Wand, sie reicht nicht bis zur Decke, da müssen wir oben rauf.“ [...] Sie gehen näher, die Taschenlampe beleuchtet eine schmale Holztreppe, steil wie eine Leiter [...]. Nein, es ist wirklich wohl eher eine Leiter als eine Treppe. [...] Die Decke ist ganz dicht über ihnen. Sie gehen in einer Art Tunnelwölbung [...]. Und nun macht Lämmchen eine Tür auf, eine richtige Tür hier oben, und dann macht sie Licht an, richtiges, elektrisches Licht, und dann sagt sie: „Hier sind wir.“ (190/191)

In dieser Abgeschiedenheit fühlen sich die Pinnebergs erstmals zu Hause. Erst hier sind sie „allein [...]. Kein Mensch sieht uns mehr in den Kram.“ (193) Wie sehr ihnen eben jener Moment des Rückzugs gefehlt hat, macht eine Szene im Hause der Mutter Pinneberg besonders deutlich. Lämmchen und Johannes wollen sich gerade in ihr Zimmer, das zugleich ihr Schlafzimmer ist, zurückziehen, Mutter Pinneberg und Jachmann aber betreten jeweils abwechselnd den Raum, obwohl Lämmchen und Johannes bereits im Bett liegen. Sie sind dabei intim zu werden. Als sie endlich wieder allein sind, beklagt sich Johannes: „Verdammt, daß man die Tür nicht abschließen kann, nichts ist hier in Ordnung in diesem Saustall!“ Er kriecht wieder zu Lämmchen. „O Lämmchen, daß die Olle dazwischenkommen mußte, und wir waren so schön im Gang ...“ (176)

Wer biedermeierliche Ordnung und Sauberkeit herbeisehnt, dem ist das Haus der Mutter Pinneberg alleine durch den fehlenden Zimmerschlüssel ein veritabler „Saustall“ (176), ein Chaos, denn so lassen sich auch keine Grenzen ziehen. Gerade dieser Mangel an eindeutigen Demarkationslinien ist es auch, der immer wieder zum Problem der Behausung wird, bei Witwe Scharrenhöfer und Mutter Pinneberg ebenso wie in der Mietskaserne, die aus eben diesem Grund als Wohnstätte gar nicht in Betracht gezogen wird: endlose, schreckliche Mietskasernen, überfüllt, riechend, grölend. [...] Und sie hat das Zimmer angesehen mit den Flecken an den Wänden ... „Ja, Wanzen haben wir gehabt, aber jetzt sind sie weg, mit Blausäure.“ Das wacklige Eisenbett [...] Ein Holztisch, zwei Stühle, ein paar Haken an der Wand, Schluß. [...] Nein, man entschließt sich nicht so leicht. Das ist unten, das ist das Ende, das ist der Verzicht auf das eigene Leben [...]. (187)

Der „Verzicht auf das eigene Leben“ ist nicht nur durch das karge und unhygienische Interieur bedingt – in eben solchen Eisenbetten schlafen die Pinnebergs ja schließlich auch in der Laube, sie ertra297

Poetik des Privatraums gen die Kälte, bevorzugen ihre illegalen Behausungen, ziehen ein Kochloch „über einem Ofen“ (192) der mütterlichen Küche vor, sie präferieren die Spüle als Waschmöglichkeit dem modernen Bad –, der „Verzicht auf das eigene Leben“ manifestiert sich ebenso offensichtlich in Räumen, die nicht abschließbar sind, die keine eindeutigen Grenzen zwischen Innen und Außen ziehen, so dass von einem nennenswertes Privatleben keine Rede sein kann. In solchen Mietskasernen findet das Leben mehr vor als hinter der Wohnungstür statt: auf den Fluren und in den Höfen, auf der Straße und in den Kneipen. Um der Enge der Wohnungen zu entfliehen gingen Frauen, Männer und Kinder [...] nach draußen. Das Leben spielte sich vielfach in Hauseingängen und Höfen, in Kneipen und Läden um die Ecke oder auf der Straße vor dem Hause ab. [...] Quartiersöffentlichkeit war von der Privatsphäre nicht getrennt [...].53/54

Bis weit in die 20er Jahre hinein fehlen Privatheit und Intimität, „ursprünglich wird zu den Höfen hin gewohnt, auf ihnen wird gelebt und gearbeitet, auf ihnen findet die Hauswirtschaft statt, den privaten Rückzug im heutigen Sinne gibt es [...] noch nicht.“55 Selbst im (groß)bürgerlichen Interieur, wo genügend Wohnraum zur Verfügung steht, ist das Leben im Hause keineswegs immer privat. Wer es sich leisten kann, verfügt über mindestens eine Hausangestellte oder über Bedienstete, die „bei den intimsten Verrichtungen ihrer Herrschaften zugegen [waren]: beim Aufstehen, beim Schlafengehen, bei der Toilette, bei den Mahlzeiten“.56 Den Mangel an einem veritablen Heim prangert selbst Le Corbusier an, wenn auch aus einer anderen Warte, und erinnert: „Ein Haus wird gebaut, um bewohnt zu werden“, aber wahrheitsgemäß muß festgestellt werden, daß sich der Mann von heute bei sich zu Hause zu Tode langweilt; er geht in den Klub. Die Frau von heute langweilt sich und wünscht sich hinaus aus ihrem Boudoir, sie geht zum Fünf-Uhr-Tee. [...] Aber die kleinen Leute, die keinen Klub haben, drängen sich am Abend unter ihrem Lüster und haben Angst davor, sich in dem Labyrinth ihrer Möbel [...] zu bewegen. [...] diese Häuser sind kein Heim, infolgedessen sind sie nicht für die Familie oder für Kinder geeignet; das Leben zu Haus ist einfach zu unbehaglich.57

53 Vgl. von Saldern 1997, S. 200. 54 Ebd. S. 198, und daran hat sich bis in die 20er Jahre des 20. Jahrhunderst hinein nichts verändert. 55 Geist/Kürvers 1984, S. 281. 56 Probst 2000 (1987), S. 45. 57 Le Corbusier 2001 (1922), S. 98/99.

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Der Traum vom Wohnen Der Propagandist der Wohnmaschine fordert also nicht nur eine behagliche Wohnung, er macht auch darauf aufmerksam, dass dieses Zuhause tatsächlich zum Wohnen, zum Leben genutzt werden soll und den öffentlichen, den gemeinschaftlichen Raum tendenziell ersetzen kann: Grammophon oder ein guter Flügel werden euch musterhafte Wiedergabe der Bachschen Fugen schenken und euch die zugigen Konzertsäle mit Katarrh und Virtuosengetue ersparen.58

Privatheit und Intimität, wie wir sie heute pflegen und die Pinnebergs sich wünschen, sind Aspekte des Wohnens, die sich erst langsam durchzusetzen beginnen. Während sich Mia Pinneberg und Holger Jachmann ihrem Interieur entsprechend verhalten und das Schlafzimmer des jungen Paares keineswegs als Schutzzone betrachten – zur Zeit des Rokoko war das Schlafzimmer sogar Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens –, beanspruchen Johannes und Lämmchen konform mit der Wohngeschichte ein „allen Blicken [...] entzogenen Schlafbereich“, hier, so hält Clemens Wischermann bereits für das 19. Jahrhundert fest, im Schlafzimmer, „wird die neu entstehende Intimsphäre bürgerlicher Sittlichkeit am augenfälligsten.“59 Zu diesem neu entstehenden Intimbereich gehört auch das Badezimmer. Deshalb ist es nicht nur verstörend, wenn die Grenze des Schlafzimmers missachtet wird, Johannes Pinneberg geniert sich auch, als sich Lämmchens Bruder mitten in der Küche zu waschen beginnt und sich sozusagen in aller Öffentlichkeit entblößt: Karl läßt schon das Wasser am Ausguß laufen und fängt an, sich sehr intensiv zu waschen. Bis zu den Hüften ist er nackt, Pinneberg geniert sich etwas, Lämmchens wegen. Aber die scheint nichts dabei zu finden, es ist ihr wohl selbstverständlich. Pinneberg ist vieles nicht selbstverständlich. Die häßlichen Steingutteller mit den schwarzen Anschlagstellen [...], diese trostlose Küche, der waschende Karl ... (23, 24, Hvm)

Aufgrund diesen Sitten der Köperpflege erscheint dem Architekten Heinrich Tessenow das Badezimmer in Arbeiterhäusern auch als unnötiger Luxus –,60 und während sich Johannes in Anbetracht des waschenden Karls schämt, muss Lämmchen mit ihrem proletari-

58 Ebd. S. 101. 59 Wischermann 1997, S. 353; vgl. dazu auch Faller 1996, S. 17, der auf die Diskussion von 1928 anlässlich der Karlsruher Dammerstocksiedlung in: Stein, Holz, Eisen 48/28, S. 847 verweist. 60 Heinrich Tessenow, Der Wohnhausbau, München 1909; darauf verweist de Michelis 1991, S. 46.

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Poetik des Privatraums schen Hintergrund diese Scham erst noch erlernen. Später aber ist sie es, die nicht nur dass Alleinsein mit ihrem Mann genießt: „Kein Mensch sieht uns mehr in unseren Kram. Herrlich ist es“ (193), sie wünscht sich sogar eine räumliche Separierung von Johannes: „aber sie haben eben nur diese beiden Zimmer mit der ausgehängten Tür dazwischen, jeder muß alle Stimmungen des anderen miterleben.“ (212) Die Möglichkeit des Rückzugs erscheint als lebensnotwendige Eigenschaft des Wohnens. Leben ist nur im abgeschlossenen Privatraum möglich, alle anderen Wohnformen erscheinen nicht nur wie Degradierungen dieses Ideals, sondern als deren blankes Gegenteil: als „Verzicht auf das eigene Leben“ (187, Hvm). Einzig hier noch kann das Dasein des Menschen selbstbestimmt sein, aber hier, so zeigt der Roman, muss es das auch sein. Was heute wie die conditio sine qua non eines Zuhauses erscheint, ist also nicht nur im Leben der Pinnebergs, sondern auch historisch durchaus eine Neuigkeit; was die Helden von Falladas Roman durchleben und was ihnen zuwider ist, ist gleichsam Teil der Wohngeschichte, denn vom Wohnen bei den Eltern über das untervermietete Zimmer bis hin zu den eigenen vier Wänden sind sie ein Abbild der Durchsetzung kleinfamilialer Lebensform in der abgeschlossenen Wohnung, wie sie in den 20er Jahren vorangetrieben wurde.61 In der Hoffnung auf ein Zimmer für sich allein, wie sie Lämmchen pflegt, zeigt sich aber zugleich die strukturelle Nähe zu den Entwürfen der funktionalistischen Moderne und ihren Einraumwohnungen, ihren aufgestelzten Häusern und vom tobenden Verkehr abgeschiedenen Wohnungen und Dachgärten. Implizit schreibt der Kleine Mann damit eine Geschichte der Sehnsucht nach dem Privaten, der Sehnsucht nach Identitätszellen. Auch wenn die Wohnungen im Roman immer ärmlicher werden, so werden sie zugleich und in zunehmendem Maße zu Garanten der Identität. Wohnkriterien wie Lage oder Abgeschlossenheit erscheinen nicht mehr nur im Hinblick auf den Wohnkomfort, die Hygiene und die Hebung des Wohnstandards wichtig zu sein, sondern auch, um die ‚Übel der Großstadt‘ auszugrenzen, die schon bei Gilgi in den Blick geraten sind. Schärfer als in früheren Jahrhunderten gilt es, die „Sphäre der Intimität“ zu wahren und vor „den Blicken von Außenstehenden“ zu verhüllen.62 Innerhalb der traditionalistischen 61 Um 1930 kommt es zur Durchsetzung der „abgeschlossenen Wohnung für die Kleinfamilie“, vgl. Häßermann/Siebel 2000, S. 132/136. Das heißt, das was an Idealen bereits im 19. Jahrhundert vorbereitet wurde, beginnt sich im 20. Jahrhundert durchzusetzen und zu realisieren. 62 Clemens Zimmermann, Wohnen als sozialpolitische Herausforderung, Reformerisches Engagement und öffentliche Aufgaben, in: Geschichte des Wohnens, Bd. 3, 1997, S. 503-637, hier S. 527.

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Der Traum vom Wohnen Moderne ist es das Haus mit Garten, das als Garant eines solch abgeschlossenen und moralisch einwandfreien Lebens gefördert wird.63 Die schlimme Wohnung in der Mietskaserne ist teurer als eine gleich große, gleich ausgestattete, unvergleichlich schönere, unvergleichlich gesündere, unvergleichlich heimatlichere, unvergleichlich sittlich bessere Wohnung auf dem Lande, in der Kleinstadt oder gar der Gartenstadt.64

Eben weil die Pinnebergs konform mit dem traditionalistischen Wohndiskurs nur im abgeschlossenen eigenen Heim ein ihren auch sittlichen Idealen entsprechendes Leben führen können, erscheint das Wohnen so prominent gestaltet: allein hierin bestätigt sich ihre Identität. Wie die Architekten den Räumen die Ursache für Sittenlosigkeit und Verfall zuschreiben, so ist auch den Pinnebergs ein moralisch einwandfreies Leben im Haus der Mutter nicht möglich. Im falschen Interieur kann auch ein unschuldiger Gegenstand fatale Folgen haben: Allein die Rücksicht auf fremde Möbel zwingt den Bewohnern ein fremdbestimmtes Leben auf.65 Schon Bruno Taut erklärt, das schlechte Interieur nötige seine Bewohner, „das Höchstmaß von Gewohnheiten anzunehmen, Gewohnheiten, die mehr dem Interieur, in welchem er lebt, als ihm selber gerecht werden.“66 In diesem Sinne ist die immerhin selbst angeschaffte Frisierkommode nicht bloß ein Möbelstück weiblicher Unschuld, die sich im Innern des Hauses zu entfalten habe, sie bekommt im mütterlichen Interieur, in der ‚falschen Wohnung‘, eine weitere Bedeutung. Als Johannes die Kommode nach Hause bringt, muss es just der Abend sein, an dem auch der Kollege Heilbutt zu Besuch kommt. Ist die Ehe mit Lämmchen bis zu diesem Zeitpunkt als Reinwaschung ihres Mannes von den großstädtischen Sünden gezeichnet worden, Lämmchen selbst als die Verkörperung der heiligen und tugendhaften Mutter, so wird Emma Pinneberg nun zur domestizierten Hure: In ihrem Rokokoschlafzimmer, im Fürstengemach, dessen Ausstattung bereits mit „dem Fell auf der Stufe“ an ein Freudenhaus erinnert (Abb. 55-56) – eine Ausstattung, wie sie ähnlich auch auf der Weißenhofsiedlung in der Wohnung von Josef Frank für Aufsehen sorgte und dort als „Bordell Frank“ umschrie-

63 Häßermann/Siebel 2000, S. 135. / vgl. auch Frank, Schubert 1983 (1890), S. 71/72, die auf die Tradition dieser Diskussionen verweisen / vgl. dazu auch: Hubert Hoffmann, mietshaus oder siedlungshaus?, in: bauhaus, vierteljahresschrift zur gestaltung, hrsg. von hannes meyer, schriftleitung ernst kallai, okt.-dez. 1929, (Nr. 4, Jahrg. III), S. 23-25. 64 Oppenheimer 1918, S. 4. 65 „Und dann setzt sie sich in den Sofawinkel mit dem verbotenen energischen Rucks (die Feder macht Haaa-jupp!)“ (112/113). 66 Taut 2001 (1924).

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Poetik des Privatraums ben wurde67 –, in einem solchen Rokokoschlafzimmer bittet Johannes seine Emma um eine „Liebe“, wie er es nennt: sie soll sich im Beisein der beiden Männer ihren Bademantel überstreifen und im Spiegel betrachten. „nein, bitte Heilbutt, tun sie mir einen Gefallen, gehen sie jetzt nicht ran. Zuerst von uns allen soll sich Lämmchen in dem Spiegel spiegeln. [...] Lämmchen, tu mir eine Liebe. Bitte, du brauchst dich vor Heilbutt nicht zu genieren. Was, Heilbutt? [...] Also zieh deinen Bademantel mal über. Nur überziehen. Bitte, bitte. Ich habe immer gedacht, wie das ist, wenn du dich in deinem Bademantel drin spiegelst.“ (164/165)

Abb. 55: Bordellinterieur in Paris, Fotografie um 1860.

Derselbe Pinneberg, dem es peinlich war, den sich waschenden Karl in der Küche zu beobachten, bittet nun seine Frau ein durchaus intimes Kleidungsstück vor den Augen des Freundes anzuziehen. Bei aller biedermeierlichen Innerlichkeit und Beschaulichkeit lässt diese Szenerie damit zugleich an die Halbwelt denken (vgl. Abb. 55), an jene Gemälde von Edgar Degas aus den Bordells und Boudoirs, an Bildnisse von Henri Toulouse-Lautrec oder die Nana von Emile Zola: Frau Robert wohnte in der Rue Mosnier, [...] deren schöne Häuser mit den kleinen engen Wohnungen von Damen bevölkert sind. Es war fünf Uhr [...] während

67 Ein Bauleiter der Weißenhofsiedlung, Paul Meller, äußert sich so über das konservative, mit Kissen, Vorhängen, Teppichen und Fellen versehende Interieur der Häuser des österreichischen Architekten Josef Frank, siehe dazu: Kirsch 1999 (1987), S. 174.

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Der Traum vom Wohnen Männner schnell dahinhuschten und zu den Fenstern hochblickten, an denen Frauen im Morgenrock zu warten schienen.68

Abb. 56: Das gotische Zimmer im Bordell der Rue des Moulins in Paris, Fotografie um 1895.

Und auch Paul Valéry erinnert sich, im Atelier Paul Cézannes „abgetragene Frisiermäntel“69 gesehen zu haben. Solchermaßen scheint sich Johannes Pinneberg mit der Frisierkommode nicht nur an die bürgerliche Ordnung stiller Zurückgezogenheit anzupassen, er orientiert sich zugleich am Interieur seiner Mutter, die ja ganz offensichtlich eine Art von Bordell führt. Das wird dem Leser möglicherweise ebenso wenig bewusst wie Johannes und seinem Lämmchen, die erst durch eine eben noch verhinderte Denunziation vor der Geschäftsleitung darauf gestoßen werden. Ein Kollege Pinnebergs nämlich hat in der Zeitung eine Anzeige der Mutter mit folgendem Inhalt ausfindig gemacht: Kein Glück in der Liebe? Ich führe Sie in einen reizenden, vorurteilslosen Kreis entzückender Damen ein. Sie werden befriedigt sein. Frau Mia Pinneberg. Spenerstraße 92,II. (182)

Zeichen dafür, dass in diesem Haus keine gewöhnlichen geselligen Abende stattfinden, tauchen schon früher auf, wenn von Geschrei und Trinkgelagen die Rede ist und ‚die Damen sich nicht so anstel68 Emile Zola, Nana, München 1974 (1880), S. 218. 69 Paul Valéry, Tanz, Zeichnung und Degas, in: ders., Werke, Frankfurter Ausgabe in 7 Bänden, hrsg. von Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 6: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, Frankfurt am Main 1995, S. 259-355, hier S. 275.

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Poetik des Privatraums len sollen‘ (137/138), dann erinnert das erneut an Schilderungen aus dem Milieu, wie sie auch in Huysmans’ Marthe, Geschichte einer Dirne zu finden sind.70 Zu diesen Hinweisen gehören sowohl Jachmanns zahlreiche Kontakte als auch eine ansehnliche Summe Geld, die die Mutter auf dem Konto gehortet hat. Unbewusst wird Lämmchen dergestalt in einem Interieur verortet, das in seiner Ausstattung einem Bordellzimmer in nichts nachsteht, und unzweideutig dankt Heilbutt, der nicht nur in der FKKBewegung engagiert ist, sondern später auch mit Aktphotos sein Geld verdienen wird, seinem Freund Johannes, dass er zum Betrachter dieser intimen Szene werden durfte: „Ich sehe so etwas gerne.“ (165) Ein tugendhaftes und aufrichtiges Leben im Sinne der Pinnebergs ist hier nicht möglich, der Aus- und Umzug erscheint unabdingbar. Unübersehbar berichtet Falladas Kleiner Mann von den Wohnidealen eines stillen, zurückgezogenen, intimen Lebens am Rande der Stadt, die in ihrer Struktur ebenso an das Biedermeier des 19. Jahrhunderts, an Stifters Nachsommer, wie auch an die traditionalistische Moderne gemahnen. In diesem Zusammenhang darf nicht unerwähnt bleiben, dass der Autor des Kleinen Mannes 1931 aus seinen zwei möblierten Zimmern in der Berliner Calvinstraße auszieht und nach Neuenhagen umzieht, die Großstadt Berlin verlässt und sich in einem Vorort in einem Siedlungshaus niederlässt.71 Rudolf Ditzen alias Hans Fallada, seine Frau Suse (Anna Margarethe Issel) und der kleine Sohn Ulrich, auch er wird Murkel genannt, bewohnen 2 ½ Zimmer. Das Haus liegt – ähnlich wie Pinnebergs erste gemeinsame Wohnung am Grünen Ende – im Grünen Winkel.72 70 Joris-Karl Huysmans, Marthe, Geschichte einer Dirne, München 1993 (1876); heißt es im Kleinen Mann: „Gelächter und Gejohle, gesoffen haben die sicher. Lämmchen und der Junge haben in ihrem Fürstenbett gelegen, sie haben getan, als hörten sie nichts. [...] aber koscher, koscher ist der Laden nicht. Seht, Pinneberg ist mal nach hinten gegangen, das Klo liegt hinten, man muß zu ihm durch das Berliner Zimmer, denn Pinnebergs wohnen vorn. Nun, es ist wirklich ganz gemütlich in diesem Zimmer, wenn nur die Pilzlampe brennt, und die ganze Gesellschaft sitzt auf den beiden großen Couches. Diese Damen, sehr jung, sehr elegant, furchtbar fein, und diese Holländer [...] Und das alles saß da herum und trank Wein und rauchte. Und Holger Jachmann lief natürlich in Hemdsärmeln auf und ab und sagte gerade: „Nina, haben Sie sich bloß nicht. Anstellerei kotzt mich an.“ [...] aber was taten sie nun die ganze Nacht bis vier? [...] sie spielten also Karten“ (137/138); so ist bei Huysmans zu lesen: „Man brachte Gläser und spielte Karten um trübes Bier [...], mischte erneut die Karten und machte sich bereit, entweder nach Lesbos oder nach Kythera zu segeln.“ Ebd. 71 Vgl. zu Falladas Biographie Manthey 2002 (1963), S. 86. 72 Heute heißt die Straße Falladaring.

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Der Traum vom Wohnen Beide Straßennamen, im Roman wie auch in Neuenhagen, sind nicht zufällig gewählt, denn sie deuten auf das eigentliche Vorbild der Gartenstädte und ihre ländlich-mittelalterlich anheimelnden Straßennamen: Am Langen Wege, Zwischen den Giebeln, Beim Pfarrhof oder Eschenwinkel.73 Im Februar 1932 gibt Fallada dem Uhu Auskunft, er gehe gelegentlich „in den Garten seines Siedlungshäuschens, um zu graben oder einen Ast hochzubinden, da wisse er, daß er wirklich sei“.74 Kurz darauf bezieht der Autor ein neues Haus, ein Landhaus, einen kleinen Bauernhof bei Carwitz aus dem Jahre 1848, also just aus jener Epoche, welche auch im Kleinen Mann als so vorbildlich erscheint: Ich lege Euch heute einen Grundriss des Hauses und einen Lageplan des Grundstückes bei, damit Ihr Euch ungefähr ein Bild [...] machen könnt. Äusserlich kennt Ihr es ja, es ist ein einfaches schlichtes Landhaus. Der offizielle Haupteingang ist von der Westseite mit einer kleinen Freitreppe, die ganz im wilden Wein ertrinkt. Da geht es in den Garten und da stehen grade schöne Edeltannen. [...] Kommen wir nun endlich in das Haus?

Fallada beschreibt einen Rundgang durchs Haus mit seinen herausragenden Möbeln und Eigenschaften: ein Prachtstück von eichener Kommode ist auf dem Flur geblieben; [...] wir haben so in beiden Zimmern eine Nische, was beide Zimmer sehr gemütlich macht; [...] vorläufig haben wir erreicht, was wir wollten: im Innern ist das Haus die Gemütlichkeit selbst, wir fühlen uns sehr wohl darin; [...] wir liegen schön isoliert.75

Gemütlichkeit und Isolation, Rückzug und Verbundenheit mit der Natur, Ordnung und Harmonie erscheinen als Eckdaten des Wohnens bei dem Autor ebenso wie bei dem Protagonisten Pinneberg, bei Stifter ebenso wie bei Schmitthenner. Und selbst wenn die Pin73 So einige der Straßennamen in der Gartenstadt Staaken bei Berlin, siehe dazu den Lageplan in: Karl Kiem, Die Gartenstadt Staaken (1914-1917), Typen, Gruppen, Varianten, Berlin 1997, S. 33. 74 Zit. Werner Liersch, Vergebliche Sehnsucht, Fallada und das Urbane, in: Thomas Bredohl und Jenny Williams (Hg.), Die Provinz im Leben und Werk von Hans Fallada, Vorträge und Lesungen (Kolloquium des Fallada-Forums, 4. Dez. 2004 in der Akademie der Künste Berlin), o.O. 2005, S. 10-26, hier S. 14. 75 Hans Fallada, Brief aus Carwitz an die Eltern, 25. Oktober 1933, abgedruckt in: Manfred Kuhnke, „welch eine ungeahnte Welt eröffnete sich mir“, Fallada als Büchersammler, in: Marginalien, Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophile, 162. Heft (2, 2001), S. 28-48, darin Supplemente: Hans Fallada, Ein Haus voller Bücher, Briefe aus Carwitz an die Eltern, Hans-FalladaArchiv Carwitz, S. 1-8, hier S. 2-5.

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Poetik des Privatraums nebergs am Grünen Ende von Ducherow de facto in einem Spekulationskasten leben und die Laubenkolonie de facto eine Arbeitslosensiedlung ist:76 die Sehnsucht nach dem Leben in einer Garten-, in einer Kleinstadt wird mittransportiert, an der Geschichte des Wohnens und ihrer Sehnsucht nach dem Privatraum wird mitgeschrieben. Sie sollte in einem zweiten Teil sogar weitergeführt und noch deutlicher gestaltet werden, wie Fallada in einem Brief an Bernard von Brentano schreibt: Das Nachspiel meines Pinneberg ist ja nur ein Ausklang, da wird schon angedeutet, der abgerissene Kragen, daß eines Tages auch Pinneberg sich entscheiden wird. Diese Entscheidung wird in einem zweiten Teil fallen: ‚Der Siedler‘, den ich allerdings erst in zwei oder drei Jahren schreiben möchte.77

Die Geschichte des Kleinen Mannes handelt also nicht nur von seinem sozialen Abstieg – ablesbar an seiner schließlich kragenlosen Kleidung ebenso wie an den Eisenbetten in der ärmlichen Laube –, der Kleine Mann erzählt auch eine Geschichte des Wohnens, eine Geschichte vom Angestellten Pinneberg, der am Ende des Romans keine Arbeit mehr hat, aber zum Siedler geworden ist. Er ist in der Laubenkolonie nicht nur einer der vielen Erwerbslosen, er ist auch im Besitz des Garanten seiner Identität: der Wohnung. Als kultureller Hintergrund des Romans sind demnach nicht einzig Kracauers Angestellte relevant, sondern ebenso die traditionalistische Moderne und die Siedlungspolitik der Weimarer Republik, also jene Träume vom Glück in der Klein- und Gartenstadt,78 die der Autor just zur Zeit der Verfassung des Romans selbst durchlebt hat. Von ihrem Ausflug ins Grüne über den Kauf der Frisierkommode bis hin zu den Behausungen wird deutlich, dass der Kleine Mann ein bestimmtes Lebensideal pflegt, das Teil der traditionalistischen Moderne ist. Ob es nun Domestizierungsversuche des Bürgertums sind, die der a-politische Pinneberg nicht durchschaut und denen er sich 76 Vgl. den Film von Bertolt Brecht und Slatan Dudow von 1931/32 über eine solche Laubenkolonie: Kuhle Wampe oder Wem gehört die Welt. 77 Fallada an Bernard von Brentano, 2. Juli 1932, abgedruckt in: Michael Grisko, Hans Fallada, Kleiner Mann – was nun?, Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart 2002, S. 82. 78 Die Anfänge der Gartenstadtbewegung liegen im England des 19. Jahrhunderts, die Debatte darüber aber wird bis in die 20er und darüber hinaus fortgeführt, beispielsweise bei Heinrich Tessenow (Marco de Michelis verweist im Hinblick auf Heinrich Tessenows Beitrag zur traditionalistischen Moderne darauf, dass der antigroßstädtische Impetus hier nicht im bäuerlichen Landleben, der Agrarromantik mündet, sondern in der Kleinstadt bzw. den Gartenstädten, quasi am Beginn der Stadtentwicklung, de Michelis 1991, S. 76), und vermischt sich in den 20er Jahren mit der Siedlerbewegung, siehe dazu Häußermann/Siebel 2000, S. 123ff.

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Der Traum vom Wohnen unbewusst und in Einbildung einer eigenen Identität ergibt, oder ob sich in einer solchen Bewegung zum eigenen Heim gar anarchistische Züge zeigen, wie sie vor allem der Siedlerbewegung zugeschrieben werden:79 Offensichtlich wird die Sehnsucht nach dem Privaten, nach Intimität und Abgeschlossenheit, das Streben nach einer neuen Subjektkonstruktion, die sich am Bürgertum des 19. Jahrhunderts und nicht an jenem der 20er Jahre entzündet. Hier soll freilich nicht an jener Illusion, die den Pinnebergs vorgehalten wird, weitergeschrieben werden, an der Illusion einer bürgerlichen Existenz nämlich, dennoch sollte deutlich werden, wie ein in den 20er Jahren dominanter Diskurs, eben jener über das Wohnen, die Identitätsentwürfe der Protagonisten neusachlicher Romane beeinflusst hat. Sicher könnte man einwenden, die Verwurzelung der Pinnebergs in der traditionalistischen Moderne werde implizit mit den Hinweisen auf das 19. Jahrhundert, auf das Biedermeier von den vorangegangenen Interpreten bereits betrieben, denn eben hierin zeige sich ja seine a-politische, seine zutiefst kleinbürgerliche Haltung. Gerade die Verbindung mit dem Architekturdiskurs der 20er Jahre aber hat darüber hinaus deutlich gemacht, dass die dem Reaktionären anheimgestellten Merkmale des Rückzugs, der Ordnung, ja des Privaten an sich, in ebensolchem Maße Merkmale der Moderne sind. Nicht deshalb, weil sie zufällig parallel in der Architektur wie auch der Literatur verhandelt werden, sondern weil diese Momente an Bedeutung gewonnen haben. Sie erscheinen in unterschiedlichen Formen und unterschiedlichen Ordnungen, im Flachdach ebenso wie im Satteldach, in der funktionalistischen ebenso wie in der traditionalistischen Moderne, in der ausgebildeten Hausfrau und Mutter (Emma Pinneberg) oder dem berufstätigen Girlie (Gilgi), politisch engagiert sind die in den Romanen beschriebenen Angestellten weder hier noch dort, und hier wie dort erscheint der Privatraum unabdingbar zur Erprobung und Etablierung einer neuen Identität. Solchermaßen aber bleibt der Kleine Mann nicht einfach in einer „konservativen Wertebotschaft“ verhaftet, wie Ulrich meint,80 sondern ist vielfach mit der Moderne verwoben.

79 Vgl. Frank, Schubert 1983 (1890), S. 69/74; vgl. auch: Häußermann/Siebel 2000, S. 124. 80 Roland Ulrich, Zwischen Neuromantik und Neuer Sachlichkeit, Zum Motiv des Geldes im Werk Hans Falladas, in: Hans-Fallada-Jahrbuch, hrsg. von der Hans Fallada Gesellschaft, Nr. 2, 1997, S. 116-126, hier S. 121.

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Poetik des Privatraums

Erzählweisen der Nähe und Distanzlosigkeit: Die Signatur der Mo M o derne Die Präsentation des Romans lässt keinen Zweifel daran aufkommen, dass trotz aller wohnästhetischen Ähnlichkeiten mit dem Biedermeier der Kleine Mann ein Roman der 20er Jahre ist. Und das liegt nicht alleine daran, weil das Leben jenseits der Gesellschaft per se nicht gelingen kann – das hat bereits Ludwig Tiecks Des Lebens Überfluß deutlich gemacht81 –, die Modernität des Romans hat auch nicht in der Sehnsucht nach einer im Zusammenbruch befindlichen Ordnung ihren Grund – das gilt ja auch schon für Adalbert Stifters Nachsommer –, es liegt also nicht an den Unmöglichkeiten der endgültigen Realisierung des Pinnebergschen Wohntraums, sondern vor allem daran, wie dieser gestaltet ist. Bei allem Respekt vor den eigenen Figuren scheint der Erzähler, scheint der Roman unentwegt gegen die ersehnte Harmonie, Ruhe und Ordnung, gegen die Abgeschlossenheit des Pinnebergschen Heimes anzuschreiben. Während die Protagonisten den Rückzug zelebrieren und zu ihren Mitmenschen auf Distanz gehen, um ein Leben in Ruhe und Beschaulichkeit zu führen, weder die Solidarität mit den Arbeitern noch bürgerliche Geselligkeit pflegen, weder Kollegen, Freunde oder Familienmitglieder in nennenswerter Zahl empfangen – es sind einzig Jachmann und Heilbutt, die über die Schwelle ihres Heimes treten, ein einziges Mal besucht sie die Mutter, nachdem sie die Adresse mühsam recherchieren musste –, während die Kleinfamilie Pinneberg also die völlige Abgeschlossenheit feiert, hält der Erzähler keinerlei Grenzen ein, er dringt in die Privat- und Intimsphäre seiner Protagonisten ein, er schreibt völlig distanzlos über ihr Leben. Auf dieser Ebene ist der Kleine Mann ebenso weit von Adalbert Stifters Nachsommer oder der traditionalistischen Moderne entfernt, wie er in seiner Wohnästhetik diesen nahe steht. Man vergleiche Stillage, Wortwahl und Erzählperspektive der folgenden Abschnitte, wovon der erste aus dem Nachsommer, der zweite in direkter Nachfolge aus Schmitthenners Baugestaltung und der letzte aus Falladas Kleinem Mann stammt: Wenn ich sage, daß Haus sei über und über mit Rosen bedeckt gewesen, so ist das nicht so wortgetreu zu nehmen. Das Haus hatte zwei ziemlich hohe Geschosse. Die Wand des Erdgeschosses war bis zu den Fenstern des oberen Geschosses mit den Rosen bedeckt. Der übrige Teil bis zu dem Dache war frei, und er war das leuchtende weiße Band, welches in die Landschaft hinaus geschaut, und mich gewissermaßen herauf gelockt hatte. Die Rosen waren an einem Gitterwerke, das sich vor der Wand des Hauses befand, befestigt. [...] 81 Siehe hierzu Christoph Brecht, Die gefährliche Rede, Sprachreflexion und Erzählstruktur in der Prosa Ludwig Tiecks, Tübingen 1993.

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Der Traum vom Wohnen Ich sah mich nach einem Eingange des Hauses um. Allein ich erblickte keinen. Die ganze ziemlich lange Wand desselben hatte keine Thür und kein Thor. [...] Zu beiden Seiten des Hauses in der Richtung seiner Länge setzten sich Gärten fort, die durch ein hohes, eisernes grün angestrichenes Gitter von dem Sandplatze getrennt waren. In diesem Gitter mußte also der Eingang sein.82 Ein Bauplatz für „reservierte“ Leute, die für ihren Hang zur Beschaulichkeit gerne das Schicksal des unbekannten Hausbesitzers auf sich nehmen. [...] Das Wohnhaus mit dem Wagenhaus und ringsum Mauern ergeben eine Raumfolge von eigensinniger Selbständigkeit. Da ist der große spitzzulaufende Hof mit Kleinpflaster und Sandsteinplatten, und da wir das fließende Leben des Wassers lieben, empfängt uns die stille Musik eines Brunnens, die vom Lärm der Großstadt hier nicht verschlungen wird. Unter den breiten fetten Ästen der Wellingtonie am Brunnen vorbei, führt durch die Mauerpforte drei Stufen hinab der Weg in den Abendgarten, dem unser Apfelbaum Gehalt und Tiefe gibt. Da wachsen zwischen unregelmäßigen Sandsteinplatten schöne zarte Blumen und Gräser, kleine Steinbänke führen darin ihr beschauliches Dasein [...].83 Nichts ist zu Ende: Das Leben geht weiter. Alles geht weiter. Es ist November, es ist das Jahr darauf, vor vierzehn Monaten machte Pinneberg bei Mandel Feierabend. Es ist ein dunkler, kalter, nasser November, gut, wenn das Dach heil ist. Das Laubendach ist heil, Pinneberg hat es geschafft, er hat das Dach vor vier Wochen frisch geteert. Jetzt ist er wach geworden, das Leuchtziffernblatt des Weckers zeigt drei Viertel fünf. Pinneberg lauscht auf den Novemberregen, der auf das Laubendach prasselt und trommelt. Hält dicht, denkt er. Habe ich fein hingekriegt. Hält dicht. Regen kann uns jedenfalls nichts tun. (333)

Während sich die ersten beiden Texte ruhig und distanziert dem Objekt ihrer Betrachtung nähern und es ausführlich – sei es von einem festen Standpunkt aus oder im Verlauf eines Rundgangs – beschreiben, entfällt jener regelmäßige Gestus bei Fallada. Nicht das ruhige Nacheinander der Betrachtung, sondern der schnelle Wechsel unterschiedlicher Eindrücke wird präsentiert. Auch wenn der Leser ohne große Analepsen und Prolepsen den gleichmäßigen Gang der Handlung zwischen Juli 1930 und November 1932 verfolgen kann, so sind die einzelnen Abschnitte und Sätze keineswegs von einem geruhsamen Voranschreiten geprägt. Wiederholungen dienen nicht einer genauen Beschreibung, sondern der Temposteigerung oder sind Ausdruck von Verunsicherung und Beschwörung einer Ordnung. Das Leben geht weiter. Alles geht weiter. Es ist November, es ist das Jahr darauf [...] Es ist ein dunkler, kalter, nasser November, gut, wenn das Dach heil

82 Stifter 1997 (1857), S. 47f. 83 Schmitthenner 1932, S. 66.

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Poetik des Privatraums ist. Das Laubendach ist heil, [...] das Dach [...] Hält dicht, denkt er. Habe ich fein hingekriegt. Hält dicht. (333)

Ist das Dach wirklich heil, hält es dicht? Bleibt der Fluchtort Kleinfamilie am Rande Berlins tatsächlich hermetisch abgeriegelt, abgeschottet gegen die Gesellschaft und Öffentlichkeit? Eine Parataxe jagt die nächste, eine Momentaufnahme, eine Ellipse die andere, und einem inneren Empfinden folgt ohne Überleitung ein äußerer Eindruck: Wechsel und Tempo sind die bestimmenden Parameter anstelle von Verharren und Ruhe, die asyndetische Fügung bestimmt den Rhythmus, nicht das langsame Nachvollziehen einer mittels Konjunktionen verknüpften Beschreibung. An die Stelle von Zusammenhängen tritt das Nebeneinander. Während im Nachsommer noch alles zumindest beschreibbar erscheint und auch beschrieben wird, entzieht sich hier das Objekt. An die Stelle der Erzählung tritt der Leerraum, immer wieder verweisen Pünktchen oder Gedankenstriche auf das jenseits der ersehnten Ordnung, jenseits der Eindeutigkeit Stehende. Und immer im Gehirn geht es dabei, in Bruchstücken: Lämmchen hat’s gut. Frische Luft ... die weißen Vorhänge wehen. – Halt die Schnauze, verfluchter Hund! Ewig muß er kläffen. – Und um so was zittert man nun!! So was will man um keinen Preis verlieren. Na, danke schön. (81)

Unterstützt wird die Erzählgeschwindigkeit schließlich durch die zahlreichen Dialoge, die nur kursorisch vom Erzähler vermittelt werden. So bestimmen schnelle Wechsel, Redewendungen des Alltags und Lokalkolorit den discours des Kleinen Mannes. Von avantgardistischen Schreibweisen eines Alfred Döblin mag ein solcher Text zwar ein Stück weit entfernt sein, aber noch viel weiter von der Stifterschen und Schmitthennerschen Prosa. Auf der Ebene des discours vollzieht sich der Abstand zum 19. Jahrhundert ebenso wie zur traditionalistischen Moderne. Der Effekt der soeben geschilderten Erzählweise jedoch ist das unmittelbare Involviertsein des Rezipienten bzw. eine Distanzlosigkeit zwischen Erzähler und Protagonist, wie sie schon Falladas Verleger Peter Suhrkamp aufgefallen war: er war, während er schrieb, mit dem Gesicht und allen Organen ganz nahe an den Dingen, folgte mit den Augen, jeder kleinsten Bewegung seines Gegenstandes, wie jemand, der dabei ist, nicht als Mithandelnder oder Zuschauer oder Berichter, sondern als einer, der dazwischen gekommen ist, mit hineingeraten und dabei in Gefahr gekommen ist. Aus solcher Nähe, so genau, so beklemmend unverkennbar sind seine Menschen und ihre Welten gesehen und gezeichnet [...] [mit] fast völliger Distanzlosigkeit.84

84 Suhrkamp 2002 (1934), S. 181f.

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Der Traum vom Wohnen Und in diesem Sinne schreibt auch noch Karl Prümm 1994: „Die Nähe, die Fallada gewinnt, ist an Radikalität nicht zu überbieten“85. Durch Prümms Wortwahl kommt allerdings auch zum Ausdruck, dass diese Nähe etwas Verstörendes hat; nicht weil der Leser über Bewusstseinsströme, Tagebuchaufzeichnungen und Gespräche in den Alltag der Protagonisten involviert ist, auch nicht vornehmlich deshalb, weil wir – Heilbutt in der Frisierkommodenszene oder den Pinnebergs selbst im Kinosessel vergleichbar – zum Beobachter intimer Szenen werden, sondern weil dies entgegen dem ausdrücklichen Wunsch der Figuren, Johannes und Emma Pinnebergs, geschieht. Wir rücken dem jungen Ehepaar buchstäblich auf den Leib, ihr Körper bleibt nicht unversehrt, bleibt nicht vor fremden Blicken geschützt. Gemeinsam mit Pinneberg entdeckt der Leser im Entbindungsheim, daß es gar nicht gut hier riecht, eigentlich ... [...] Da ruft die Schwester: „So Herr Pinneberg!“ Und zu Lämmchen sagt sie: „Na, hat der Einlauf gewirkt?“ Lämmchen wird puterrot und nickt, und nun begreift er erst, daß Lämmchen auf einem Klo gesessen hat, während er von ihr Abschied nahm, und er wird auch rot, trotzdem er das dumm findet. (220/221)

Den Pinnebergs ist diese Szene ebenso peinlich, wie sich Johannes schon zu Beginn genierte, Lämmchens Bruder dabei zusehen zu müssen, wie er sich vor aller Augen mitten in der Küche wusch. Distanzlos wird auch aus dem Liebesleben der Pinnebergs berichtet: Und sie nimmt seine Hand und führt sie nach ihrem Leib. „Da fühle, eben hat er sich geregt, der Murkel, er hat geklopft [...].“ Und bezwungen von der seligen Mutter, neigt er, der nichts hört, sich über sie. [...] Das Korn ist ja reif. [...] Oh, wie gut riecht es hier auf dem Feld, nach Erde und Mutter und nach Liebe. Nach all der genossenen, immer frischen Liebe ... Und die kleinen Grannenhaare der Ähren sticheln an seiner Backe, und er sieht hinten die schöne geschlossene Linie ihrer Schenkel und den kleinen dunklen Wald (173/174) und dann merkt sie, daß er gar nicht dorthin gesehen hat, sondern nur auf ihre Brust. Sie bekommt einen Schreck, nun hat sie ihn ganz gedankenlos wieder gequält, sie zieht das Hemd herunter. (211)

Im Nachsommer, aber auch in Schmitthenners Entwürfen gibt es solche Distanzlosigkeiten nicht, der Körper bleibt bedeckt und versteckt. Die Häuser, die Texte, die Figuren bieten bzw. erhalten Rück85 Karl Prümm, Die Oberfläche der Dinge, Repräsentation des Alltäglichen im Film, im Theater und im Roman um 1930 am Beispiel von Robert Siodmak, Ödön van Horváth und Hans Fallada, in Germanica, 14/1994: Die ästhetische Umsetzung des Zeitgeschehens im deutschsprachigen Raum im 20. Jahrhundert, S. 31-59, hier S. 54.

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Poetik des Privatraums zugsmöglichkeiten, Heimlichkeiten und ‚gemütliche Ecken‘. Dass der Text, dass der Erzähler des Kleinen Mannes ihm genau diesen Rückzug nicht gestattet, mag daran liegen, dass Pinneberg als Antiheld in unmittelbarer Direktheit geschildert werden kann, es mag auch an der regelmäßig erläuterten Unmöglichkeit des realen Rückzugs aus der Gesellschaft liegen, vor allem aber scheint hier eine Identität mit eben derselben radikalen Nähe und Intimität beschrieben zu werden, wie sie sich Pinnebergs in ihren eigenen vier Wände zu zelebrieren wünschen. „Sie wäre ja gern allein dabei, aber sie haben eben nur diese beiden Zimmer mit der ausgehängten Tür dazwischen, jeder muß alle Stimmungen des anderen miterleben“ (211/212) – monologisiert Lämmchen und ebenso ist ja auch der Leser involviert. Nirgendwo sonst im Roman wird es so offensichtlich wie hier, dass eine sich am Biedermeier entzündende Suche nach dem Privatraum bestimmte Strukturmerkmale übernehmen kann und dennoch in keinem Identitätsentwurf des 19. Jahrhunderts mündet. Nirgendwo sonst wird zugleich deutlich, wie labil noch dieser Identitätsentwurf ist: schwankend zwischen Scham und Selbstbewusstsein. Das Private erscheint im Kleinen Mann deshalb nicht nur auf der Ebene der histoire relevant, sondern ist auch bestimmend für Erzählperspektive und den Erzählstandort, ist discoursprägend. „Familiäre Intimität“, erläutert schon Helmut Lethen, „ist ja in diesem Roman nicht nur dargestellt als Fluchtzone des gehetzten Pinneberg“, sondern das ganze Personal „wird vom Autor im intimen Jargon einer Familienautorität dargestellt; in einer Sprache,“ so fährt Lethen fort, „die sich abgedichtet erweist gegen die gesellschaftlichen Erschütterungen.“86 So richtig Lethens Beobachtung ist, ist seine Schlussfolgerung doch zu einseitig. Sicherlich folgt der Erzähler der Bewegung seiner Figur, wenn er ins intime Familienleben eintaucht, anstatt von gesellschaftlichen Unruhen zu berichten – Günter Caspar erwähnt, dass die Rahmendaten des Romans genau neben den Großereignissen der Geschichte liegen –87, andererseits aber verwehrt der Erzähler seinen Figuren genau jenen Moment, der für ihre gewünschte Intimität unabdingbar ist: Abgeschlossenheit und undurchdringliche Grenzen, er verweigert ihnen die Idylle und das Arkadien des 19. Jahrhunderts, die Ordnung und Ruhe der Schmitthennerschen Bauten, von denen noch das letzte Bild in seiner Publikation kündet: es zeigt Schmitthenners Frau Charlotte zwischen den Blumenbeeten im Garten (Abb. 57). Nur ab und zu 86 Lethen 1970, S. 165. 87 „Schon diese knappe Charakterisierung jener Jahre zeigt, wie sehr Hans Falladas Darstellung am Rande des großen Geschehens bleibt.“ Günter Caspar, Nachwort in: Hans Fallada, Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von ders., Bd. 2, Kleiner Mann – was nun? Berlin, Weimar 1970, S. 359-400.

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Der Traum vom Wohnen leuchten ähnliche Momente auf, wenn Lämmchen „im weiten, blauen Kleid mit der kleinen Maschinenspitze um den Hals, mit dem sanften Gesicht und der graden Nase“ im „angenehm warm[en] Zimmer“ sitzt, „der nasse Novemberwind faucht manchmal gegen die Scheiben an, das macht alles noch heimeliger.“ (196) Abb. 57: S. 167 aus Paul Schmitthenner: Baugestaltung, Das deutsche Wohnhaus, 1932, seine Frau Charlotte im Garten des eigenen Hauses, Stuttgart, 1922.

Es müssen demnach zweierlei Arten der Nähe unterschieden werden, einerseits jene Intimität, welche die Pinnebergs für ihre Kleinfamilie inszenieren möchten, jene Momente, an denen sich die Konstruktion ihrer Identität entzündet, andererseits die ‚Distanzlosigkeit‘ des Erzählens. Nähe muss dabei nicht nur als Ausweis von Häuslichkeit und Rückzug verstanden werden, in der Distanzlosigkeit des Erzählers verweist Nähe und Intimität auch auf einen Moment, der jenseits der hermetisch abgeriegelten Liebeslaube der Pinnebergs liegt, nämlich auf den Moment des Zusammenrückens in den Großstädten, auf neu zu erprobende Formen der Intimität: das Naherücken der Fremden auf der Straße, aber auch des Fremden mittels moderner Medien, Zeitung, Film, Radio, Grammophon. Ebenso wie Lämmchen und Johannes als Kinobesucher unter die Bettdecke der Filmhelden schlüpfen, gerät auch der Leser in das Schlafzimmer der beiden. Während die Nähe im häuslichen Rahmen Ausdruck von Stille, Klarheit und Überschaubarkeit sein soll, ist die großstädtische immer als Ausdruck chaotischer Detailfülle beschrieben worden. Während Pinneberg die Nähe im Privaten sucht, wehrt er sie im öffentlichen Raum

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Poetik des Privatraums entschieden ab. Nichts außerhalb der Kleinfamilie hat eine Bedeutung, nur hier findet das wahre Leben statt. Über den discours schleicht sich die ausgesparte, exterritorialisierte, aus dem Bewusstsein der Protagonisten zusehends ausgeschlossene Metropole wieder ein – in Form von unmittelbarer Nähe, unentwegten Dialogen und ununterbrochener Hektik. Der Kleine Mann ist keine Idylle der Ewiggestrigen, sondern ein Roman auf der Suche nach neuen Formen der Nähe und des Privaten. Das ‚gute, einfache‘ Leben (290) sieht in den 20er Jahren anders aus, als noch im 19. Jahrhundert. Privatheit und Intimität haben sich gewandelt und werden neu verhandelt. In ihrer Fokussierung auf das Intime sind die Pinnebergs aber ebenso Vertreter der Moderne, wie die Protagonisten der anderen in dieser Studie analysierten Romane. In der Abwendung von der Elterngeneration ebenso vereint, wie die traditionalistische mit der funktionalistischen Moderne in ihrer Verwerfung des Historismus und Plüschs der Jahrhundertwende, suchen beide ‚Schulen‘, suchen die Protagonisten nach modernen Identitäten, die sich in erstmals ihnen zur Verfügung gestellten Privaträumen realisieren können. Die neue Sehnsucht nach Privatheit zieht sich durch alle Schichten und so kämpferisch die Funktionalisten und die Protagonisten der anderen Romane auch erscheinen mögen: auch hier sind es weniger die gesellschaftlichen Räume und Orte, die von Interesse sind, als die privaten. Gerade das erscheint ja im Fortlauf der Geschichte auch das Dilemma der Moderne zu sein: der Verlust des öffentlichen Raumes, die ‚Tyrannei der Intimität‘. An dieser Entwicklung haben die Pinnebergs ebenso Anteil wie Irmgard Keuns Gilgi und Martin Kessels Max Brecher, Joseph Roths Gabriel Dan oder Siegfried Kracauers Ginster.

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NACHWORT In der Literarischen Welt erscheint 1930 Joseph Roths Abrechnung mit der Neuen Sachlichkeit, er kritisiert die „stoffliche Unwissenheit“ der Autoren, „die Hohlheit der Publikationen“, den unglaublichen Hunger nach Authentizität: „Das Wirkliche begann man für wahr zu halten, das Dokumentarische für echt, das Authentische für gültig.“ Ferner mokiert sich Roth über einen Schreibstil, der als „unmittelbar“ gelte, den er aber als „simpel“ bezeichnet, und vergleicht schließlich die neusachliche Literatur mit dem modernen Haus: So wie dieses nicht mehr als Wohnhaus bezeichnet werden könne, so die Literatur nicht mehr als Kunst, sie sei vielmehr „Memoirenwerk, Dokument, Zeugnis, privates Gedächtnis, Leitfaden für ‚moderne Probleme‘“. Ex negativo gelingt Roth damit eine Charakterisierung der Neuen Sachlichkeit, wie sie einer Studie zur Poetik des Privatraums nicht besser gelingen könnte: denn genau diese als authentisch, unmittelbar und privat beschriebenen Momente der Literatur konnten als Schreibformen der Nähe analysiert werden. Sie zeugen mithin von der Auseinandersetzung mit dem Privatraum auf der Ebene des discours. Literatur wird zum privaten Gedächtnis, da sich in ihr das Recht auf eine Privatheit äußert, die für die breite Masse, für die Angestellten und Arbeiter der Weimarer Republik erst noch erkämpft werden muss. „Sich den Blicken anderer entziehen zu können, ist offenbar für das Gelingen von Autonomie elementar“,1 schreibt Beate Rössler, und genau danach streben die Protagonisten der neusachlichen Romane, wenn sie nicht wie zwischen Glaswänden erkannt werden möchten, sondern sich vielmehr unentwegt neu erfinden (Ginster), wenn sie ihre neusachliche Atelierwohnung als Basis nehmen, ‚um endlich auch einmal ich zu sein‘ (Gudula Öften in Herrn Brechers Fiasko), wenn sie sich in einem Hotelzimmer niederlassen (Gabriel Dan im Hotel Savoy) oder die erste Wohnung als herrlich empfinden, weil ihnen ‚niemand mehr in den Kram sehen kann‘ (Lämmchen in Kleiner Mann – was nun?). Die Dominanz des Wohndiskurses, das Begehren nach einem room of one’s own, indiziert daher keinen Eskapismus, sondern bildet im Gegenteil die unumgehbare Voraussetzung dafür, eine gelingende Beziehung zu sich sowie zum anderen überhaupt aufbauen zu können. 1

Rössler 2001, S. 274.

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Poetik des Privatraums Obwohl die Romane keineswegs von einem einfachen Verhältnis zwischen Subjekt und Raum künden und vielmehr die architektonischen Befreiungsversuche, den funktionalistischen Optimismus an seine Grenzen führen (denn trotz „so denkbar günstige[r] Voraussetzungen“ reagieren die Angestellten nicht im Sinne des Architekten,2 die Menschen müssen sich noch immer selbst entwerfen), so zeigt sich in der Auseinandersetzung mit dem Wohndiskurs doch eines ganz offensichtlich: Privatheit in privaten Räumen „wird zur Bedingung der Selbstdefinition, der Selbsterfindung“ des Subjekts. Im Mittelpunkt der neusachlichen Romane steht eben nicht „Metaphysik“ in Form von „Freiheit, Wahrheit und Gerechtigkeit; sondern“ vielmehr „das hierfür notwendige Interieur, ohne das weder Wahrheit noch Freiheit noch Gerechtigkeit denkbar und möglich erscheinen“ oder „gelebt werden können.“ 3 Wenn Georges Duby vermerkt, dass der Privatraum dazu diene, die Waffen fallen zu lassen,4 dann ist eben dies den Protagonisten und Angestellten der Weimarer Republik noch keineswegs selbstverständlich, dieser Privatraum wird von ihnen noch erkämpft, das Interieur, der Wohnraum ist zum Kriegsschauplatz geworden (Gilgi). Und wenn Karin Kirsch über die Bauten von Peter Behrens auf dem Weißenhof festhält, jede Wohnung solle eine „Art ‚Davos-Platz‘, gewissermaßen ein Sanatorium an der Wohnung“5 erhalten (wie es Hans Castorp in Thomas Manns Zauberberg in Graubünden noch eigens aufsuchen musste) und damit die Notwendigkeit zur Verbesserung der Wohnverhältnisse für die breite Masse unter dem Aspekt der Gesundheitspolitik verdeutlicht, dann bleibt unterbelichtet, dass der Entwurf von Wohnungen zugleich den Bewohner tangiert und definiert: „Du wirst zugeben, daß die menschliche Freiheit hauptsächlich darin liegt, wo und wann man etwas tut, denn was die Menschen tun ist fast immer das gleiche: da hat es eine verdammte Bedeutung, wenn man auch noch den Grundriß von allem gleich macht“,6

lässt sich in Musils Erzählung Die Amsel nachlesen, die damit eben jene bedeutsame Beziehung zwischen dem Menschen und seiner 2 3 4

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Kessel 2001 (1932), S. 23 Rössler 2001, S. 264. Geschichte des privaten Lebens, hrsg. von Philippe Ariès und Georges Duby, Bd. 1: Vom römischen Imperium zum byzantinischen Reich, hrsg. von Paul Veyne, Augsburg 2000 (1985), S. 8. Kirsch 1999 (1987), S. 186. Robert Musil, Die Amsel, in: ders., Nachlaß zu Lebzeiten, 1997 (1936), S. 131- 154, hier S. 135.

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Nachwort Wohnstatt verdeutlicht. Und wenn schließlich Kracauer über die Häuser auf dem Weißenhof schreibt, dass dort die Räume einer künftigen Gesellschaft zu sehen sind: „vielleicht deutet wirklich die Anlage des Bebauungsplans und der immer wiederholte Versuch, durch das Einreißen von Zwischenwänden“ im Inneren der Häuser „die frühere Insichgeschlossenheit des Einzelmenschen nach außen hin abzubauen, auf eine noch ungegebene Struktur der Gesellschaft vor“7 – dann sind dies genau die Fiktionen und Imaginationen, welche die hier analysierten Romane umkreisen. Was Giedion im Hinblick auf die Bauten der Moderne schreibt, gilt deshalb auch für die Protagonisten: Ihrer Gestaltung nach öffnen sich heute alle Bauten [...]. Sie verwischen ihre selbstherrliche Grenze. Suchen Beziehung und Durchdringung. In den luftumspülten Stiegen des Eiffelturms, besser noch in den Stahlschenkeln eines Pont Transbordeur, stößt man auf das Grunderlebnis des heutigen Bauens: Durch das dünne Eisennetz [...] strömen die Dinge, Schiffe, Meer, Häuser, Maste, Landschaft, Hafen. Verlieren ihre abgegrenzte Gestalt: kreisen im Abwärtsschreiten ineinander, vermischen sich simultan. Man wird dieses absolute Erlebnis, das keine Zeit vorher gekannt hat, nicht auf Häuser übertragen wollen (es ist der Reiz der Häuser Corbusiers, daß in ihnen dies am weitesten versucht wurde). Keimhaft aber liegt in jeder Gestaltung des Neuen Bauens: Es gibt nur einen großen, unteilbaren Raum, indem Beziehungen und Durchdringungen herrschen, anstelle von Abgrenzungen.8

Es sind diese neuartigen Beziehungen und Durchdringungen, die die Helden der neusachlichen Romane umtreiben, zugleich aber geht es auch, und das hat Giedion übersehen, um eine Neujustierung der Grenze. Genau dies erscheint als das Paradox der Poetik des Privatraums, dass just in dem Moment, in dem der Bewohner erstmals zum Herrn über die Grenzen des Privatraums gemacht, das Recht auf Wohnraum und damit auch das Recht auf ein uneinsehbares Privatleben gesetzlich fixiert wird, dass sich just in diesem Moment der (Wohn)Körper zugleich maximal öffnet und burgenähn-

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Kracauer fährt fort: „Vielleicht soll er aber auch nur dem anonymen Sein des der kapitalistischen Wirtschaft verpflichteten Massenmenschen Ausdruck verleihen. All diese Erscheinungen sind mindestens doppeldeutig. [...] Nur insofern sie [die Wohnungen, I.L.] sich dem gegenwärtigen Stand der Dinge anpassen, bereiten sie ‚neue Lebensformen‘ vor.“ Siegfried Kracauer, Das neue Bauen, zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung: „Die Wohnung“, in: Frankfurter Zeitung vom 31.7.1927, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-70, hier S. 73, 74. Sigfried Giedion, Bauen in Frankreich – Bauen in Eisen – Bauen in Eisenbeton, Berlin, Leipzig 1928, S. 8f.

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Poetik des Privatraums lich abschottet: Öffnungen und Grenzen werden also gleichermaßen neu definiert. Der Drang nach Authentizität und Unmittelbarkeit führt zu äußerst distanzierten, vermittelten Beziehungen und Durchdringungen, beinahe ausnahmslos erscheinen die Protagonisten als Einzelpersonen jenseits von Familie und Freundschaft: als Bewohner von Einraumwohnungen, Ledigenheimen und Schlafkammern. Was aber aus der Entfernung der Geschichte nur noch als Anfang einer Tyrannei der Intimität, als Aufzehrung des öffentlichen Raumes erscheint, war zugleich eine Befreiung des Individuums, eine Verherrlichung des Privatraums und der Schreibformen der Nähe. Dies zu zeigen, war das Ziel der vorliegenden Studie, die sich damit nicht weniger an Georg Simmels Essay über die Großstädte und das Geistesleben anschließt, wie die zahlreichen Arbeiten zum Großstadtdiskurs der Moderne, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Denn Simmel beobachtet nicht nur Beschleunigung, nervliche Überforderung, Vermassung und Anonymität, wie das so häufig beschrieben wurde, sondern zugleich die Potentiale urbanen Lebens: nämlich die Befreiung des Subjekts aus den Zwängen der Provinzialität, die Freisetzung des Ichs in der Masse. Einem solchen Bild der Großstadt fügen die neusachlichen Romane eine neue Facette hinzu, wenn sie das Subjekt gleichsam dem urbanen Gewimmel entziehen und ein Gehäuse konstruieren, das nur auf den ersten Blick der Abschottung dient: Tatsächlich arbeiten die Texte, arbeitet der moderne Wohndiskurs überhaupt an der bis heute – vor allem im Hinblick auf die Megacities der Industrienationen und insbesondere auch der Schwellenländer – virulenten Frage, wie als Mensch zu leben sei in den modernen Städten.

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ABBILDUNGSNACHWEISE BBILDUNGSNACHWEISE Abb. 1: J. Christoph Bürkle, Wohnhäuser der klassischen Moderne, Stuttgart 1994, S. 27. Abb. 2: Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1999 (1987), S. 24. Abb. 3: Roland Jaeger, Neue Werkkunst, Architekturmonographien der zwanziger Jahre, Berlin 1998, S. 16,17, 56 und 115. Abb. 4/5: Le Corbusier, Alamanach d’Architecture Moderne, Paris 1925 (Reprint 1988), im angefügten Anzeigenteil, ohne Seitenangabe. Abb. 6: Janis Mink, Marcel Duchamp 1887-1968, Kunst als Gegenkunst, Köln u.a. 2001, S. 66. Abb. 7: Winfried Nerdinger (Hg.), Die Architekturzeichnung, Vom barocken Idealplan zur Axonometrie, Zeichnungen aus der Architektursammlung der Technischen Universität München (Katalog der Ausstellung im Deutschen Architekturmuseum Frankfurt am Main), München 1986, S. 17. Abb. 8: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 31. Abb. 9: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 72. Abb. 10: Fritz Block, Haus und Wohnung des modernen Menschen (Funktion und Form), in: ders. (Hg.), Probleme des Bauens, Potsdam 1928, S. 87-116, hier S. 92. Abb. 11: Bruno Taut, Die neue Wohnung, die Frau als Schöpferin, Berlin 2001 (1924, 5.erw. Aufl. 1928), S. 72f. Abb. 12: Jonas Geist (Hg.), Die Grundrissarbeit im Wohnungsbau des 20. Jahrhunderts in Deutschland: Seminarbericht der Studienrichtung Architektur, Fachgebiet Geschichte, Theorie und Kritik der Architektur 1999, Berlin: Hochschule der Künste, 2. Aufl. 2001 (1999), S. 47. Abb. 13/14: Marbacher Magazin 47, 1988: Siegfried Kracauer 18891966, bearb. von Ingrid Belke und Irina Renz, hrsg. von Ulrich Ott, Stuttgart 1988, S. 25.

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Poetik des Privatraums Abb. 15/16: Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, hrsg. und eingeleitet von Dorothee Huber, Frankfurt am Main 1985 (1929), Abb. 10-11. Abb. 17/18: Manfred Speidel, Bruno Taut, Natur und Fanatsie 1880-1938, Berlin 1995, S. 129, 130. Abb. 19: Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, 8. Aufl., Frankfurt am Main, New York 2000 (1975), S. 849. Abb. 20/21: Sigfried Giedion, Befreites Wohnen, hrsg. und eingeleitet von Dorothee Huber, Frankfurt am Main 1985 (1929), Abb. 48/Abb. 26. Abb. 22: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 78. Abb. 23/24: Bruno Taut, Die neue Wohnung, die Frau als Schöpferin, Berlin 2001 (1924, 5.erw. Aufl. 1928), S. 56f. Abb. 25: Sergiusz Michalski, Neue Sachlichkeit, Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933, S. 137. Abb. 26: Hotel Savoy, Lodz, Postkarte von 1915 aus dem Privatbesitz von Prof. Dr. Volker Mergenthaler. Abb. 27/28: Le Corbusier, Mein Werk, mit einem Vorwort von Maurice Jardot, Stuttgart 2001 (1960), S. 160/161. Abb. 29/30/31: Geschichte des Wohnens, Bd. 3: 1800-1918, das bürgerliche Zeitalter, hrsg. von Jürgen Reulecke, Stuttgart 1997, S. 212, 235, 237. Abb. 32: Leonardo Benevolo, Die Geschichte der Stadt, 8. Aufl., Frankfurt am Main, New York 2000 (1975), S. 797. Abb. 33: Sergiusz Michalski, Neue Sachlichkeit, Malerei, Graphik und Photographie in Deutschland 1919-1933, S. 66. Abb. 34: Susanne Frank, Stadtplanung im Geschlechterkampf, Stadt und Geschlecht in der Großstadtentwicklung des 19. und 20. Jahrhunderts, Opladen 2003, S. 226f. Abb. 35: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 269. Abb. 36: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 13, 1929, Heft 4, S. 176 (Übernahme aus: Geschichte des Wohnens, Bd. 4: 19181945, Reform, Reaktion, Zerstörung, hrsg. von Gert Kähler, 2., erw. Aufl. Stuttgart 2000 (1996), S. 251). Abb. 37: Marlene Poelzig, Das Haus des Architekten, Architekt: Marlene Poelzig, in: Wasmuths Monatshefte für Baukunst, 14. Jg., 1930, Heft 10, S. 461-462, hier S. 462. Abb. 38/39/40: Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung: WerkbundAusstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1999 (1987), S. 197, 145 und 186.

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Abbildungsnachweise Abb. 41: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 81. Abb. 42: Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1999 (1987), S. 183. Abb. 43: Alexander Klein, Grundrißgestaltung für Wohnung und Haus, in: Handwörterbuch des Wohnungswesens, hrsg. von Gerhard Albrecht et al. im Auftrag des Deutschen Vereins für Wohnungsreform e.V. Jena 1930, S. 318- 326, hier S. 319. Abb. 44: Hildegard Margis, Karl Mahler (Hg.), Teilung und Umbau von Wohnungen, Stuttgart, Berlin 1932, Abb. 24ff. Abb. 45: Karin Kirsch, Die Weißenhofsiedlung: Werkbund-Ausstellung „Die Wohnung“ – Stuttgart 1927, Stuttgart 1999 (1987), S. 122. Abb. 46/47/48/49: Andreas K. Vetter, Die Befreiung des Wohnens, Ein Architekturphänomen der 20er und 30er Jahre, Tübingen, Berlin 2000, S. 86, 73, 82, 88. Abb. 50: Günther Uhlig, Kollektivmodell ‚Einküchenhaus‘, Wohnreform und Architekturdebatte zwischen Frauenbewegung und Funktionalismus 1900-1933, Gießen 1981, S.116. Abb. 51/52: Paul Schmitthenner, Baugestaltung, Folge 1, Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932, S. 8, 9. Abb. 53: Winfried Nerdinger (Hg.), Architektur wie sie im Buche steht: Fiktive Bauten und Städte in der Literatur, (Katalog anlässlich der Ausstellung im Architekturmuseum der TU München in der Pinakothek der Moderne) Salzburg, München 2006, S. 243, 245. Abb. 54: Berthold Burckhardt (Hg.), Baudenkmale der Moderne, Scharoun, Haus Schminke, die Geschichte einer Instandsetzung, Stuttgart 2002, S. 40. Abb. 55/56: Götz Adriani, Bordell und Boudoir, Schauplätze der Moderne, Cézanne, Degas, Toulouse-Lautrec, Picasso (anlässlich der Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen, 22. Januar bis 22. Mai 2005), Ostfildern 2005, S. 45 u. 44. Abb. 57: Paul Schmitthenner, Baugestaltung, Folge 1, Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932, S. 167.

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LITERATUR Primärliteratur und zeitgenössische Quellen Adorno, Theodor W.: Asyl für Obdachlose, in: ders.: Minima Moralia, Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001 (1951), S. 40-42. Ders.: Der wunderliche Realist, in: ders., Noten zur Literatur III, hrsg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt am Main 1981, S. 388409. Ders.: Kierkegaard: Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt am Main 1974 (1933). Bachtin, Michail: Formen der Zeit und des Chronotopos im Roman, (= Formen der Zeit im Roman, Untersuchungen zur historischen Poetik), Frankfurt am Main 1989 (1937/38). Balázs, Béla: Ideologische Bemerkungen, in: ders., Der Geist des Films, Halle (Saale), 1930, S. 186-217, in: Becker 2000, 2, S. 323-327. Ders.: Männlich oder kriegsblind?, in: Die Weltbühne, 25 (1929), I, Nr. 26, S. 969-971, in: Becker 2000, 2, S. 400-403. Baum, Vicki: Die Mütter von morgen – die Backfische von heute, in: Uhu, Heft 5, Februar 1929, 5. Jahrgang Berlin, in: Anna Rheinsberg (Hg.), Bubikopf, Aufbruch in den Zwanzigern, Texte von Frauen, Darmstadt 1988, S. 31-35. Dies.: stud chem. Helene Willfüer, Roman, München 1975 (1929). Behne, Adolf: Luxus oder Komfort? in: Das neue Frankfurt: Internationale Monatsschrift für die Probleme kultureller Neugestaltung, Frankfurt am Main 1928, S. 6-8. Ders.: Neues Wohnen, Neues Bauen, Leipzig 1927. Ders.: Der moderne Zweckbau, Berlin 1964 (1926). Benjamin, Walter: Politisierung der Intelligenz, zu S. Kracauers ‚Die Angestellten‘, in: Die Gesellschaft 7 (1930), Bd. 1, S. 473-477, in: Becker 2000, 2, S. 347-349. Ders.: Die Wiederkehr des Flaneurs (1929), in: ders., Gesammelte Schriften, hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt am Main 1991. S. 194-199.

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Poetik des Privatraums Ders.: Das Interieur, Die Spur, in: ders.: Gesammelte Schriften hrsg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. V,1: Das Passagen-Werk, Frankfurt am Main 1982. S. 281-300. Block, Fritz (Hg.): Probleme des Bauens, Potsdam 1928. Ders.: Haus und Wohnung des modernen Menschen (Funktion und Form), in: ders. (Hg.), Probleme des Bauens, Potsdam 1928. Bloch, Ernst: Die Bebauung des Hohlraums, in: ders., Gesamtausgabe in 16 Bänden, Bd. 5: Das Prinzip Hoffnung, Frankfurt am Main 1977, S. 858-873. Bowen, Elizabeth: Manners, The Statesman, in: dies., Collected Impressions, London 1950 (1936). Dies.: To the North, London, New York 1987 (1932). Brecht, Bertolt: Der Ozeanflug, Radiolehrstück für Knaben und Mädchen (1928/29), in: ders.: Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 2, Stücke 2, Frankfurt am Main 1990, S. 565-585. Ders.: Nordseekrabben oder Die moderne Bauhauswohnung (1926), in: ders. Prosa, Bd. 1, hrsg. vom Suhrkamp Verlag in Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann, Frankfurt am Main 1980, S. 153-163. Ders.: Das Schlechte ist auch nicht billig, in: Geschichten vom Herrn Keuner, in: Gesammelte Prosa in vier Bänden, Prosa 2, Frankfurt am Main 1980. von Brentano, Bernard: Über die Darstellung von Zuständen, in: Frankfurter Zeitung, Nr. 19, 12.5.1929, in: Becker 2000, 2, S. 156-159. Ders.: Leben einer Schauspielerin, in: Die Weltbühne 24 (1928), II, Nr. 5, S. 170-174, in: Becker 2000, 2, S. 154-155. Fallada, Hans: Brief aus Carwitz an die Eltern, 25. Oktober 1933, abgedruckt in: Manfred Kuhnke, „welch eine ungeahnte Welt eröffnete sich mir“, Fallada als Büchersammler, in: Marginalien, Zeitschrift für Buchkunst und Bibliophile, 162. Heft (2, 2001), S. 28-48, darin Supplemente: Hans Fallada, Ein Haus voller Bücher, Briefe aus Carwitz an die Eltern, Hans-Fallada-Archiv Carwitz, S. 1-8, hier S. 2-5 Ders.: Kleiner Mann – was nun?, in: ders. Ausgewählte Werke in Einzelausgaben, 2, hrsg. von Günter Caspar, Berlin, Weimar 1982 (1932). Ders.: Fünf Frauen schreiben, in: Die Literatur, Monatsschrift für Literaturfreunde 34 (1931/32), Heft 5 (Februar 1932). Freud, Sigmund: Das Unheimliche (1919), in: ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917-1920, 4. Aufl. Frankfurt am Main 1972, S. 227-269. Gescheit, Hermann: Neuzeitliche Hotels und Krankenhäuser, ausgeführte Bauten und Entwürfe, Berlin 1929.

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Poetik des Privatraums Kästner, Erich: Fabian, Die Geschichte eines Moralisten, München 2001. Kessel, Martin: Herrn Brechers Fiasko, Roman, Frankfurt am Main 2001 (1932). Ders.: Betriebsamkeit, zwei Novellen aus Berlin, Berlin 1982 (1927). Ders.: Gebändigte Kurven, 1925. Keun, Irmgard: Gilgi – eine von uns, Roman, Düsseldorf 1979 (1931). Dies.: Das kunstseidene Mädchen, Roman, Düsseldorf 1979 (1932). Dies.: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften, München 1999 (1936). Kisch, Egon Erwin: Vorwort zur ersten Auflage ‚Der rasende Reporter‘ von 1925, zitiert nach: ders., Gesammelte Werke in Einzelausgaben, hrsg. von Bodo Uhse und Gisela Kisch, Bd. 5, Berlin, Weimar 1974. Klein, Alexander: Grundrißgestaltung für Wohnung und Haus, in: Handwörterbuch des Wohnungswesens, hrsg. von Gerhard Albrecht et al. im Auftrag des Deutschen Vereins für Wohnungsreform e.V. Jena 1930, S. 318- 326. Kleingarten, in: Wasmuths Lexikon der Baukunst, 3. Bd.: H bis Ozo, Berlin 1931, S. 377-380. Kracauer, Siegfried: Ginster, Von ihm selbst geschrieben, in: ders.: Schriften, hrsg. von Karsten Witte, Bd. 7, Frankfurt am Main 1973 (1928), S. 7-243. Ders.: Georg, in: ders., Schriften, Bd. 7, hrsg. von Karsten Witte, Frankfurt am Main 1973 (1934), S. 243-491. Siegfried Kracauer, Die Gnade, in: ders. Werke, Bd. 7, Romane und Erzählungen, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 2004, S. 535-577. Ders.: Erinnerung an eine Pariser Straße, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2, Aufsätze: 1927-1931, Frankfurt am Main 1990 S. 243-248. Ders.: Die Angestellten, Aus dem neuesten Deutschland, in: ders., Werke, Bd. 1, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Frankfurt am Main 2006 (1929), S. 213-311. Ders.: Die Reise und der Tanz, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1 Aufsätze 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 288-296. Ders.: Die Entwicklung der Schmiedekunst in Berlin, Potsdam und einigen Städten der Mark vom 17. Jahrhundert bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Reprint Berlin 1997 (1915). Ders.: Aus dem Fenster gesehen, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 399-401.

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Literatur Ders.: Über den Schriftsteller, in: Die Neue Rundschau, 42 (1931), Nr. 6, S. 860-862, in: Becker 2000, 2, S. 192-195. Ders.: Mietshaus im Berliner Westen, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 294-296. Ders.: Straßen, Schiffe, Lokale, Aufzeichnungen aus Hamburg, Spätsommer 1931, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka MülderBach, Bd. 5, 2, Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 383-390. Ders.: Stehbars im Süden, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1, Aufsätze, 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 381-383. Ders.: Stuttgarter Kunstsommer, Teil 1: Werkbundausstellung, ‚Bauausstellung‘, Frankfurter Zeitung, 10.7.1924, zitiert in: Heß 1996. Ders.: Stuttgarter Kunstsommer, Teil 2: Werkbundausstellung Die Form, in ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 1 Aufsätze 1915-1926, Frankfurt am Main 1990, S. 262-267. Ders.: Kleine Patrouille durch die Bauausstellung, in: ders. Schriften hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 332-334. Ders.: Möbel von heute, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka MülderBach, Bd. 5,2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 332-334. Ders.: Die Hotelhalle, Kapitel aus: Der Detektiv-Roman, Eine Deutung, in: ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 1, Frankfurt am Main 2006 (1922-1925), S. 130-140. Ders.: Über Arbeitsnachweise, Konstruktion eines Raumes, in ders. Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5,2 Aufsätze 19271931, Frankfurt am Main 1990, S. 185-192. Ders.: Das Ornament der Masse, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka-Mülder Bach, Bd.5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990. Ders.: Das neue Bauen, zur Stuttgarter Werkbund-Ausstellung: „Die Wohnung“, in: Frankfurter Zeitung vom 31.7.1927, in: ders., Schriften, hrsg. von Inka Mülder-Bach, Bd. 5, 2 Aufsätze 1927-1931, Frankfurt am Main 1990, S. 68-70. Ders.: Frankfurter Turmhäuser, Ausgewählte Feuilletons 1906-30, hrsg. von Andreas Volk, Zürich 1997. Ders.: Berliner Nebeneinander, Ausgewählte Feuilletons, 1930-33, hrsg. von Andreas Volk, Zürich 1996. Lamprecht, Heinz: (Erik Reger)/Ernst Glaeser: Jahrgang 1902, in: Der Scheinwerfer 2 (1928), Nr. 3, S. 28f, in: Becker 2000, 2, S. 237-238.

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Poetik des Privatraums Ders.: Der Amerikanismus im Literaturbetrieb, in: Frankfurter Zeitung, 29.1.1928, abgedruckt in: ders.: Werke 2, hrsg. von Fritz Hackert, Köln 1989, S. 908. Ders.: Das Wartezimmer (27.1.1924, Vorwärts), in: ders.: Werke 2, das journalistische Werk 1924-1928, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1990, S. 37-40. Ders.: Wer ist Ginster? (25.11.1928, FZ), in: ders.: Werke 2, Das journalistische Werk 1924-1928, S. 996-999. Ders.: Die weißen Städte, in: ders. Werke 2, Das journalistische Werk 1924-1928, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1990 (1925, posthum: 1975/76), S. 451-507. Ders.: Blick nach Magdeburg, in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 1929-1939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 301-305. Ders.: Hotelwelt, in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 19291939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 3-32. Ders.: Briefe aus Polen, Russische Überreste, die Textilindustrie in Lodz (Frankfurter Zeitung, 19.7.1928), in: ders., Werke 2, das journalistische Werk 1924-1928, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1990, S. 949-953. Ders.: Radetzkymarsch, in: ders., Werke Bd. 5, Romane und Erzählungen 1930-1936, hrsg. von Fritz Hackert, Köln 1990, S. 137456, hier S. 260. Ders.: Wenn Berlin Wolkenkratzer bekäme, Vorschläge zur Behebung der Wohnungsnot (Neue Berliner Zeitung, 18.2.1921), in: ders., Werke I, das journalistische Werk 1915-1923, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 447-450. Ders.: Die Dringlichkeitsliste des Wohnungsamtes, die zehn verflossenen Monate und die vier kommenden (Neuer Berliner Zeitung 30.8.1920), in: ders., Werke I, das journalistische Werk 19151923, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 345-346. Ders.: Proletarisierung der Häuser (Der Neue Tag, 8.11.1919), in: ders., Werke I, das journalistische Werk 1915-1923, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 168-171. Ders.: Der Mensch im Glaskäfig (Das blaue Heft, 8.7.1922), in: ders,. Werke I, das journalistische Werk 1915-1923, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1989, S. 832. Ders.: Die neue Waschmaschine (Münchner Neueste Nachrichten, 17.11.1929), in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 19291939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 127-130. Ders.: Architektur (Münchner Illustrierte Presse, 27.10.1929), in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 1929-1939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 115-117.

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Literatur Ders.: Das Vaterhaus (Das Tagebuch, 22.3.1930), in: ders. Werke 3, das journalistische Werk 1929-1939, hrsg. von Klaus Westermann, Köln 1991, S. 193-195. Ders.: Briefe, hrsg. von Hermann Kesten, Köln 1970. Schirokauer, Arno: Garde-Ulanen – abgebaut! in: Die Literarische Welt 4 (1928), Nr. 21/22, S. 1f, in: Becker 2000, 2, S. 235-237. Schmarsow, August: Das Wesen der architektonischen Schöpfung, Antrittsvorlesung gehalten in der Aula der K. Universität Leipzig am 8. November 1893, Leipzig 1894. Schmitthenner, Paul: Baugestaltung, Folge 1, Das deutsche Wohnhaus, Stuttgart 1932. von Schmoller, Gustav: Ein Mahnruf in der Wohnungsfrage, in: Hartmut Frank und Dirk Schubert (Hg.), Lesebuch zur Wohnungsfrage, Köln 1983 (1890), S. 159-174. Schultze-Naumburg, Paul: Das Gesicht des deutschen Hauses, München 1929. Schwab, Alexander: Das Buch vom Bauen: Wohnungsnot, neue Technik, neue Baukunst, Städtebau, Berlin 1930. Schwitters, Kurt: Stuttgart, Die Wohnung, in: I 10: internationale revue; abgedruckt in: Peter Conradi (Hg.), Lesebuch für Architekten, Stuttgart, Leipzig 2001, S. 184-191. von Selchow, Bogislav: Das Namensbuch, Eine Sammlung sämtlicher deutscher, altdeutscher und in Deutschland gebräuchlicher fremdländischer Namen mit Angabe ihrer Abstammung und ihrer Deutung, 4. Aufl., Leipzig 1934. Simmel, Georg: Die Großstädte und das Geistesleben (1903), in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 7: Aufsätze und Abhandlungen 1901–1908, hrsg. von Otthein Rammstedt, Frankfurt am Main 1995, S. 116-132. Ders.: Philosophie des Geldes, in: ders., Gesamtausgabe, hrsg. von Otthein Rammstedt, Bd. 6, hrsg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, Frankfurt am Main 1989 (1900). Sitte, Camillo: Der Städte-Bau nach seinen künstlerischen Grundsätzen, Wien 1889 (1901, 1909, 1983). Stifter, Adalbert: Der Nachsommer, Eine Erzählung, in: ders., Werke und Briefe, historisch kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Stuttgart, Berlin, Köln 1997 (1857). Ders.: Veilchen (25. April 1834), in: ders., Feldblumen, in: ders., Werke und Briefe, historisch kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Alfred Doppler und Wolfgang Frühwald, Bd. 1,1, Stuttgart u.a. 1978, S. 44-47. Suhrkamp, Peter: Der Erzähler Fallada, in: Neue Rundschau 45, Dez. 1934, S. 751, in: Jürgen Manthey, Hans Fallada, mit

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Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Sabine Frost Whiteout Schneefälle und Weißeinbrüche in der Literatur ab 1800 November 2011, ca. 330 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1884-6

Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa Oktober 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald August 2011, 314 Seiten, kart., 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« November 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Philipp Schönthaler Negative Poetik Die Figur des Erzählers bei Thomas Bernhard, W.G. Sebald und Imre Kertész August 2011, 348 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1721-4

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