Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit 3534232356, 9783534232352

Die Literatur der Neuen Sachlichkeit konzentrierte sich auf die Wiedergabe des Faktischen, den Gebrauchs- und Unterhaltu

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German Pages [144] Year 2010

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Impressum
Inhalt
I. Begriff und Ausprägungen der Strömung
II. Forschungsbericht
III. Historische, politische und kulturelle Kontexte
1. Stabilisierung und Krise als Hintergrund neusachlicher Diskurse
2. Politische und literarische Kämpfe und Kontroversen
3. Metropolenkultur: Berlin
4. Literatur und Arbeitswelt: Die Angestellten (Kracauer)
5. Die Nachwirkung des Krieges
6. Die Neue Frau
IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur
1. Einflüsse und Abgrenzungen
2. Zeitgenössische Kritik an der Neuen Sachlichkeit
3. Gattungen und Präsentationsformen
4. Mediale Formen
V. Einzelanalysen repräsentativer Werke
1. Erich Kästner: Fabian
2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft
3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter
4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues
5. Friedrich Wolf: Cyankali
Bibliographie
Personenregister
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Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit
 3534232356, 9783534232352

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Einführungen Germanistik Herausgegeben von Gunter E. Grimm und Klaus-Michael Bogdal

Johannes G. Pankau

Einführung in die Literatur der Neuen Sachlichkeit

Wissenschaftliche Buchgesellschaft

Einbandgestaltung: Peter Lohse, Büttelborn Abbildung: Symbolische Darstellung der Durchbrechung des mittelalterlichen Weltbildes, 1888. Aus: Camille Flammarion: L’atmosphère, et la météorologie populaire, Paris 1888. i akg-images.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. i 2010 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe dieses Werks wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Lichtsatz Michael Glaese GmbH, Hemsbach Umschlaggestaltung: schreiberVIS, Seeheim Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de

ISBN 978-3-534-18454-23235-2

Inhalt I. Begriff und Ausprägungen der Strömung

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II. Forschungsbericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte . . . . . . 1. Stabilisierung und Krise als Hintergrund neusachlicher Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Politische und literarische Kämpfe und Kontroversen . 3. Metropolenkultur: Berlin . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Literatur und Arbeitswelt: Die Angestellten (Kracauer) 5. Die Nachwirkung des Krieges . . . . . . . . . . . . . 6. Die Neue Frau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur 1. Einflüsse und Abgrenzungen . . . . . . . . . . . . . 2. Zeitgenössische Kritik an der Neuen Sachlichkeit . . 3. Gattungen und Präsentationsformen . . . . . . . . 4. Mediale Formen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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V. Einzelanalysen . . . . . . . . repräsentativer . . . . . . . . Werke . . . . . . . . . . . 1. Erich Kästner: Fabian . . . . . . . . . . . . . . 2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft 3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter . . . . 4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues 5. Friedrich Wolf: Cyankali . . . . . . . . . . . .

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Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Begriffsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Bibliographie

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I. Begriff und Ausprägungen der Strömung Bei der Literatur der Neuen Sachlichkeit handelt es sich um eine Spielart der literarischen Moderne, die sich als dominante Strömung seit Mitte der 1920er Jahre ausprägt (vgl. Becker 2007; Becker/Kiesel 2007, 31). Die Situierung innerhalb der literarischen Moderne ist produktiv und problematisch zugleich, denn in der fachwissenschaftlichen Diskussion der letzten Jahre hat eine Ausweitung des Moderne-Begriffs stattgefunden, die eine „zunehmende Unverbindlichkeit des Terminus“ (Becker 2007, 1) mit sich bringt. Andererseits wird im Gegensatz zu den frühen, oftmals ideologiekritisch und sozialhistorisch verengten Arbeiten seit einiger Zeit die ästhetische Beschaffenheit und Valenz der Texte selbst stärker in den Blick genommen (vgl. Becker 2000a, 2000b). Die Neue Sachlichkeit bildet in gewisser Weise einen Endpunkt in der modernistischen Literaturentwicklung. Zugleich hebt sie sich als eine kulturelle Dominante aus den vielen Tendenzen und Strömungen der Weimarer Zeit deutlich heraus. Verstanden werden muss sie vor allem als Absetzbewegung vom zuvor das literarische Feld beherrschenden Expressionismus, von dem sie sich durch die Hinwendung zur Faktizität und zum Gebrauchscharakter von Literatur unterscheidet, aber auch dadurch, dass sie keine kohärenten Gruppenstrukturen und keine vereinheitlichende Programmatik ausbildet (vgl. Becker 2002, 75). Zentral für die Begriffsbildung und insgesamt das Realitätsverständnis der Neuen Sachlichkeit ist die Neufassung der Kategorien Gegenständlichkeit und Wesen. Damit verbunden ist vor allem die Umwertung des Begriffs der Oberfläche: In einem dokumentarischen, quasi fotografischen Verfahren soll diese abgebildet und gestaltet werden, weshalb innere Vorgänge, wie Gefühle, weitgehend ausgespart bleiben. „Psychologische Schöpfungen müssen ebenso untersagt sein wie lyrische Ausschweifungen“ (zit. n. Becker 2000b, 165), heißt es in einer Rezension von Stefan Grossmann zu Kisch. Die Oberfläche definiert sich nicht als Gegenpol zu einem dahinter verborgenen Innern, „sondern als das einzig Sichtbare, das einzig Existierende, als eine Art Leinwand, auf der alles Geschehen sich abspielt und hinter der sich nur der leere Raum befindet“ (Kimmich 2002, 170). Der eng mit der Psychologie des 19. Jahrhunderts und der Psychoanalyse verbundenen Literatur eines Arthur Schnitzler oder Stefan Zweig scheint damit der Boden entzogen: Psychologismus ist im Kontext der Neuen Sachlichkeit überhaupt negativ konnotiert. Die Problematik der Bestimmung einer Realität, die sich nicht mehr aus einem vorgestellten übergreifenden Innenbereich, sondern in der Funktionalität der Verläufe manifestiert, ist im Zusammenhang mit der Wahrnehmungstheorie und Literaturtheorie der Neuen Sachlichkeit seit Ende der 1920er Jahre bis heute immer wieder diskutiert worden, bereits 1924 bei Plessner und noch 1994 bei Lethen. Das Weiterwirken derjenigen Strömungen, die sich bereits in der Vorkriegszeit entwickelt haben, trägt zum äußerst heterogenen Gesamtbild der literarischen Szene in der gesamten Weimarer Zeit bei, was auch die syste-

Anfänge der literarischen Moderne

Oberfläche

Heterogenität

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I. Begriff und Ausprägungen der Strömung

Heutige Begriffsbildung

Neue Sachlichkeit als Richtung

matische Erfassung der Neuen Sachlichkeit erschwert. Diese zeigt sich zwar von Beginn durchaus als eigenständige Richtung und dominiert die mittleren und späteren Jahre der Republik, aber sie bleibt dennoch nur eine Strömung unter zahlreichen anderen. Sie ist zudem in sich selbst derart vielfältig und widersprüchlich, dass von einer Epoche im engeren Sinne nicht gesprochen werden kann. Problematisch ist vor allem die Rückbindung an die Phase der so genannten relativen Stabilisierung (vgl. dazu II). Obwohl angesichts dieser Vielzahl an Entwicklungsschritten, Verbindungslinien und Interdependenzen definitorische Festlegungen notwendig unzulänglich bleiben, hat sich der Begriff Neue Sachlichkeit zu Recht durchgesetzt, da er die wesentlichen Züge der Strömung konzise und handhabbar in sich zu fassen vermag (vgl. Becker 2000a). Die durch die Forschungen von S. Becker u.a. forcierte Rückbesinnung auf die spezifisch literarischen Dimensionen der Neuen Sachlichkeit ermöglichte in vieler Hinsicht erstmals eine fundierte literaturanalytische Erfassung. Allerdings ist hier durch die mögliche Isolation der im engeren Sinne literarischen Faktoren auch die Gefahr einer neuerlichen Blickverengung nicht zu verkennen. Zu weit gegriffen wäre es wiederum, den Begriff Neue Sachlichkeit als „Chiffre zum pauschalen Verständnis der literarischen Kultur der 20er Jahre insgesamt“ (Baar 2008, 171) auszulegen. Die Aufteilung literarischer und kultureller Richtungen nach Jahrzehnten, wie sie etwa durch die entsprechend angelegte, von Faulstich herausgegebene Reihe wieder zum Strukturprinzip gemacht wurde, ist grob vereinfachend und letztlich arbiträr (vgl. Faulstich 2008). Die Orientierung des fiktionalen Schreibens am Tatsächlichen, die Einbeziehung von bisher als unliterarisch betrachteten Bereichen (etwa der Alltags- und Unterhaltungskultur) und die Medialisierung der Literatur (im Sinne einer Aufnahme und Integration der modernen Medien, vor allem des Films) können als gemeinsame Züge neusachlichen Schreibens betrachtet werden. Unterschiede zwischen einzelnen Autoren wie Richtungen ergeben sich zum Teil daraus, wie weit die Ästhetizität und Literarizität der Texte zugunsten des rein Dokumentarischen aufgegeben werden oder die Unterhaltungs- bzw. Verkaufsabsicht zu einer Trivialisierung führt (etwa beim Kolportageroman) oder auch zu Komplexitätsreduktionen wie etwa in Teilen der Lyrik (der Vorwurf der Trivialität traf etwa immer wieder die Gedichte Mascha Kalékos). Auf einer zweiten Ebene sind die Differenzen zwischen den verschiedenen neusachlichen Fraktionen auch in der politischen Ausrichtung zu suchen, d. h. in einer mehr oder weniger progressiven oder konservativen Zielsetzung und Parteinahme für bestimmte aktuelle politische Ziele und Strategien. Da die Neue Sachlichkeit sich nie als exklusive AvantgardeStrömung formierte oder verstand, wurde sie zum Oberbegriff für eine Vielzahl von literarischen Versuchsanordnungen, die sich an Formen der Realitätswiedergabe wie am Gebrauchswert orientierten. Sie ist Produkt des ,Laboratoriums Vielseitigkeit‘, wie die Literatur der Weimarer Republik nicht zu unrecht genannt wurde (vgl. Fähnders 1998, 222). Als zentrale Dimensionen der neusachlichen Ästhetik lassen sich idealtypisch bestimmen: – Nüchternheit/Objektivität/Entsentimentalisierung – Präzisionsästhetik – Tatsachenpoetik

I. Begriff und Ausprägungen der Strömung

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Realitätsbezug/Aktualität Reportagestil/Dokumentarismus/Bericht Antipsychologismus Gebrauchswertorientierung Entindividualisierung Vereinfachung/Anschaulichkeit/Konsumfreundlichkeit (vgl. Becker 2000a, 97ff.; Becker 2003, 191) – Unterhaltungsfunktion/Massenappeal – Multimedialität

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II. Forschungsbericht

Nationalsozialistische Positionen

Aufschwung der Forschung nach 1970

Die Neue Sachlichkeit als eigenständige Strömung ist bereits in der Formationsperiode heftig und kontrovers diskutiert worden. In der Entstehungszeit wurde sie häufig als eine Modeerscheinung betrachtet, auch in jüngerer Zeit findet sich gelegentlich noch diese Beurteilung (vgl. Schütz in Kisch 1978, 313). In der Literaturwissenschaft hat sie erst relativ spät Würdigung erfahren. Ähnlich wie andere der literarischen Moderne oder der Avantgarde des 20. Jahrhunderts angehörige Erscheinungen, wie etwa der Expressionismus oder die Exilliteratur, passte sich auch die Neue Sachlichkeit den Epochenund Gattungspräferenzen der Forschung seit 1945 nicht an und entsprach in Themenwahl und Sprachduktus auch lange Zeit nicht den Geschmackskonventionen, die am Werk von Autoren wie Rilke, Thomas Mann, Benn oder George orientiert waren. So wird etwa in Fritz Martinis viel gelesener Deutscher Literaturgeschichte der Expressionismus als letzte ,Epoche‘ explizit gewürdigt, eine systematische Behandlung der Neuen Sachlichkeit fehlt. Während der Zeit des Nationalsozialismus beschäftigte sich die Germanistik aus eindeutig politischen Gründen so gut wie nicht mit der Neuen Sachlichkeit, die wichtigen neusachlichen Autoren waren schon vor 1933 von den NS-Ideologen als nihilistische Asphaltliteraten denunziert worden. Allerdings formulierte Goebbels in seiner „Rede über die Stellung des neuen Staates zur Kunst“ vom Mai 1933 ein Verständnis des Sachlichen, das den nationalsozialistischen Normen von Härte und autoritärer Formierung entgegen kommt und den Begriff deutsch-völkisch uminterpretiert (hierzu und zu ähnlichen Stellungnahmen der Nazi-Führer vgl. Becker 2000a, 341f.). Eine im engeren Sinne wissenschaftliche Behandlung des Themas versuchte der kurze Zeit später zum NS-Stargermanisten aufgestiegene Heinz Kindermann mit dem Buch Das literarische Antlitz der Gegenwart und seinen Aufsätzen von 1930 und 1933, in denen er eine lebensphilosophisch grundierte „idealistische Sachlichkeit“ postulierte, eine Haltung, die dann in die Dissertation von Gertrud Hilgers zur zeitgenössischen Lyrik einging (vgl. Kindermann 1930, Hilgers 1934). Denunziert wurden allerdings von Beginn die Werke der wichtigen Exponenten neusachlicher Literatur aus dem linken Spektrum von Bertolt Brecht bis Robert Neumann, von Vicki Baum bis Mascha Kaléko. Sie wurden verfemt und in vielen Fällen in die Emigration gedrängt. Erich Kästner, auch er bedroht und von Berufsverbot betroffen, aber in Deutschland verbleibend, war die Ausnahme. Noch 1972 stellte Karl Prümm mit Recht fest: „Die 20er Jahre haben in der Literaturwissenschaft bisher […] kaum Beachtung gefunden.“ (Prümm 1972, 606) Zugleich merkte er an, dass die Klischeevorstellung der goldenen 20er Jahre eine ernsthafte Erforschung behindert habe. Allerdings hängt die Abstinenz der Germanistik vor allem mit einer Abwehr von allem direkt Politischen und Sozialen zusammen, die die Phase der Werkimmanenz bestimmte. Eine Öffnung gegenüber modernistischen Richtungen und ein auch politisch motiviertes Interesse an der Literatur der Weimarer Republik entwickel-

II. Forschungsbericht

te sich erst im Gefolge des Paradigmenwechsels nach 1968 (vgl. Fähnders 1998, 226). Helmut Lethen legte mit seinem Buch Neue Sachlichkeit 1924–1932. Studien zur Literatur des ,weissen Sozialismus‘ (1970) die erste Monographie mit umfassendem Anspruch zum Thema Neue Sachlichkeit vor. Dabei ging er von einem bezeichnenden Gegensatz in der bis dahin überaus spärlichen germanistischen Behandlung dieser Epoche und der des Expressionismus aus: Er konstatierte eine eindeutige Präferenz der expressionistischen Literaturrevolution gegenüber einer Dichtung, die sich nach der Novemberrevolution der neuen realen Situation der deutschen Gesellschaft stellte (vgl. Lethen 1970, 2). Lethen selber verstand die Literatur der Neuen Sachlichkeit im Ganzen als affirmativen Ausdruck einer von der Systemlogik erzwungenen Sachlichkeit, die ihre Basis in der Produktionssphäre hatte. „In den 20er Jahren lässt sich beobachten, wie die Ideologen der Bourgeoisie mit dem Begriff der ,Sachlichkeit‘ – als einem Normbegriff der herrschenden Klasse – die Arbeit des Unkenntlichmachens der Klassengesellschaft zu leisten beginnen, und später, wie der NS-Staat diesen Prozeß […] fortsetzt.“ (Lethen 1970, 8) Die literarischen Produkte der Neuen Sachlichkeit erscheinen, in rechter wie linker Provenienz, als Ausdruck eines Einverständnisses mit der in Deutschland verspätet wahrgenommenen Modernisierung unter kapitalistischen Vorzeichen (vgl. Lethen 1983, 168). Daraus ergibt sich eine recht schematische Darstellung in Gegensatzpaaren (zit. n. Lethen 1983, 172f.): Verwurzelung Symbiose Wärme Undurchsichtigkeit Wachstum Erinnerung Sammlung Organismus Individuum Original Natürlicher Zyklus Dunkelheit

versus versus versus versus versus versus versus versus versus versus versus versus

Mobilität Trennung Kälte Transparenz Planung Vergessen Zerstreuung Apparat Typus Reproduktion Mechanische Zeit Helligkeit

Hinter diesem habituellen Einverständnis stecken Lethen zufolge „Parolen der Synchronisierung“ (Lethen 1983, 169), die er bereits im Dadaismus zu Beginn der Weimarer Republik entdeckt. Als Ergebnis dieser Synchronizität wandeln sich die Figur und die Funktion des Autors, der nun – jeglicher romantischen Aura entkleidet – als Operateur und Konstrukteur von technikanalogen Prozessen erscheint. Lethens Ansatz war von Beginn nicht unumstritten. Ihm stand, ausgerichtet an den aktionistisch-ideologiekritischen Grundhaltungen der Zeit, bei allem Einfallsreichtum nur ein relativ grobes Instrumentarium zur Verfügung, zudem fehlte ihm eine ausreichende Quellenbasis. Methodologisch einseitig schlug er die neusachliche Literatur allzu glatt der kapitalistischen Ideologieproduktion zu, was auch durch die meist negative Sichtweise der Kritischen Theorie beeinflusst war. Insbesondere verfehlte er aber das spezifisch

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II. Forschungsbericht

Literarische: „Der Versuch, die Neue Sachlichkeit in Zusammenhang mit ihrer Bindung an die Stabilisierungsphase der Weimarer Republik von 1924 bis 1929 und an deren Scheitern über vornehmlich ideologische Kriterien und politisch inspirierte Wertungen zu erfassen, darf heute als gescheitert gelten.“ (Becker 2000a, 13) Allerdings wird bei Becker wiederum die Verbindung der literarischen mit den anderen kulturellen Diskursen außer Acht gelassen (zur Kritik an solchen Voraussetzungen vgl. Müller-Seidel 1987, 429). Auch in jüngerer Zeit wurde – so von Bengt Algot Sørensen – noch die These vertreten, ein neusachlicher Stil in der Literatur lasse sich, anders als in der Malerei und Architektur, kaum ausmachen, das Neusachliche äußere sich eher in den Themen und Gattungen sowie allgemein in einer bestimmten Haltung Zeitphänomenen gegenüber (vgl. Sørensen 1997, 219). In der frühen literaturwissenschaftlichen Forschung um 1970 wird die von Benjamin u.a. begründete Traditionslinie einer negativen Wertung der Neuen Sachlichkeit fortgeführt. Affirmative Tendenzen der Neuen Sachlichkeit werden überbetont, etwa in Jost Hermands Aufsatz „Einheit in der Vielheit? Zur Geschichte des Begriffs ,Neue Sachlichkeit‘“ (Hermand 1978; vgl. dazu Becker 2000a, 28f.). Hierbei handelt es sich meist um einen begrifflichen Kurzschluss: Es kann sehr wohl davon gesprochen werden, dass die Produkte der Neuen Sachlichkeit ein „Einwilligen in das zivilisatorisch Erreichte der westlich orientierten Massengesellschaft der Weimarer Republik“ (Schmitz 2001, 167) ausdrücken, also eine Affirmation des Gegenständlichen, dies schließt aber keineswegs eine radikale Kritik aus. Die Beeinflussung durch die in der Frühphase gesetzten Forschungsprämissen lässt sich seit den 1970er Jahren klar verfolgen. Auch wenn gewisse Verstiegenheiten von Lethens früher Sicht der Neuen Sachlichkeit nicht geteilt wurden, so war der hier initiierte takeoff für die weitere Forschung über eine lange Phase doch maßgebend. Einfluss ausüben konnte auch das zweite wichtige Lethen-Buch zum Thema, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen (1994), das die aus den Diskussionen der 1920er Jahre (Plessner) bezogene Kälte-Wärme-Metaphorik ausbaute. Lethen hat die vom Klassenschema bestimmte Bewertung aus seinem ersten Buch hier stark revidiert oder abgeschwächt. Allerdings hat er, wenn auch mit anderer Begründung, an den Prämissen des ersten Buches größtenteils festgehalten. Dies betrifft insbesondere die Haltung der Protagonisten der Gegenwart gegenüber, nämlich, wie es in den Verhaltenslehren der Kälte heißt, die „Entscheidung für den Zivilisationsbegriff“ (Lethen 1994, 30), also eine Entscheidung für die vor allem über Amerika vermittelte technisch-kommerzielle Zivilisation und gegen deren polemische Abwehr zugunsten moralischer, künstlerischer oder religiöser Werte, wie sie der europäischen und vor allem deutschen Tradition zugeschrieben wurde. Lethen entwickelt auch einen Begriff der ,neusachlichen Intelligenz‘, der innerhalb seines Untersuchungsspektrums nicht präzisiert werden kann. Becker bezeichnet die „Perspektive der anthropologischen Mentalitäts- und Verhaltensforschung“ (Becker 2000a, 31) als grundsätzlich ungeeignet zur Erschließung der ästhetisch-literarischen Dimensionen und hält die Herausarbeitung einer „Epochenidentität“ (Hüppauf 1995, 399) für unzureichend. In der Tat holt Lethen weit aus und versucht, die großen Entwicklungslinien der Verhaltensdiskurse zu rekonstruieren, die dann in der Weimarer Zeit zur Neuen Sachlichkeit führen:

II. Forschungsbericht

Von der Scham- und Gewissenskultur über Graciáns ,kalte persona‘ und Wahrnehmungs- und Ausdrucksmodelle bis zur Handlungstheorie von Bühler und der Relation Carl Schmitt – Plessner. Die Orientierung an philosophisch-historischen, kulturkritischen und psychologischen Diskursen (Physiognomie-Forschung, philosophische Anthropologie, Behaviorismus) zeigen auch die anderen Arbeiten Lethens zum Thema (vgl. etwa Lethen 1995a, 1997, 2009). Neben Lethens Versuch einer ideologiekritischen Herleitung des Sachlichkeitsbegriffs wurden auch schon früh strukturelle Vergleiche von programmatischen wie literarischen Äußerungen neusachlicher Autoren vorgenommen. Dies geschah zunächst vor dem Hintergrund der Begriffsgenese, denn bekanntlich verwendete der Direktor der Mannheimer Kunsthalle Georg Friedrich Hartlaub den Begriff im Titel seiner Ausstellung „Neue Sachlichkeit, deutsche Malerei seit dem Expressionismus“ (1925), was zu seiner Verbreitung in der Publizistik führte, obwohl dieser Ausdruck schon gleich nach Ende des Ersten Weltkriegs in kunsttheoretischen Diskussionen geläufig war. Kleinster gemeinsamer Nenner innerhalb der von da an laufenden Bestimmungsversuche war die Sicht des Neusachlichen als einer im weitesten Sinne gegenständlichen, realistischen Kunst. Eine direkte Übertragung auf die Literatur erwies sich als letztlich unmöglich, obwohl immer wieder Versuche in diese Richtung gemacht wurden. Eine Wechselbeziehung von Literatur und Malerei stellte etwa Volker Klotz in einem Aufsatz her, der die Gegenstandsorientierung der neusachlichen Malerei vor allem auf den Roman übertrug (vgl. Klotz 1972). Die literaturwissenschaftliche Erforschung der Neuen Sachlichkeit wurde von zwei Aufsätzen angeregt, die sich von Lethens materialistischem Ansatz beträchtlich unterschieden, von Horst Denklers „Sache und Stil. Die Theorie der Neuen Sachlichkeit und ihre Auswirkung auf Kunst und Dichtung“ (1968) und Karl Prümms „Neue Sachlichkeit. Anmerkungen zum Gebrauch des Begriffs in neueren literaturwissenschaftlichen Publikationen“ (1972) (zur Begriffsbildung in der Frühphase vgl. auch Petersen 1982). Prümm setzt sich an mehreren Stellen von Lethen ab: Er kritisiert einen gewissen Schematismus, die fehlende Auseinandersetzung mit den expressionistischen Vorläufern, vor allem jedoch, dass Lethens Wertung einseitig sei, das heißt, ideologische Voreingenommenheiten ihn hinderten, positive Elemente festzustellen und partiell gelungene Versuche, die wahrgenommene Wirklichkeit adäquat darzustellen, zu registrieren. Diese blinden Flecke weist Prümm dann an Lethens Analyse von Regers Industrieroman Union der festen Hand auf (Lethen 1970, 611). Neuere Studien wie die von Becker beriefen sich auf diese frühen Arbeiten (vgl. Becker 2000a, 14). Allerdings lassen sich diese aus heutiger Sicht höchstens noch bedingt (und kaum im Sinne von Becker) mit dem Forschungsstand synchronisieren, da ihnen ein tragfähiges Moderne-Konzept und eine entsprechende Begrifflichkeit weitgehend fehlen. So wird bei Denkler die Rechts-Links-Klassifizierung unhinterfragt übernommen, entsprechend reibungslos werden die Werke von Jünger und Bronnen ebenso als neusachlich qualifiziert wie die von Renn oder Remarque. Die Frage ist jeweils, wie die zentralen neusachlichen Kriterien Sachlichkeit, Reportage/ Bericht und Zeitnähe definiert werden (vgl. Becker 2000a, 262). Zeitnähe muss auch den Werken Ernst Jüngers oder des späteren Bronnen, sogar

Stilgeschichte und Abhängigkeit von der Kunsttheorie

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II. Forschungsbericht

Neue Ansätze seit 1990

einem Drama wie Schlageter des bereits früh zum Nationalsozialismus konvertierten Hanns Johst zugesprochen werden. Der Sachlichkeitsdiskurs zeigt sich als höchst variabel und kann ebenso von der linksliberalen Mitte, die im Allgemeinen als Kern der neusachlichen Literatengruppen wahrgenommen wird, als auch von Autoren der extremen Rechten oder Linken in Anspruch genommen werden. Wegen solcher unklarer Bestimmungen konnte der Begriff des Sachlichen leicht auch für die Zwecke der nationalkonservativen Rechten in Anspruch genommen werden. Denkler bemüht sich allerdings darum, das Sachlichkeitsparadigma zu hinterfragen und gelangt zu dem Ergebnis, dass die neusachlichen Texte (etwa von Ludwig Renn, Arnolt Bronnen oder Hans Küppers’ Gedicht „He, He! The Iron Man!“) ihrem eigenen Postulat nicht folgen und einen poetischen Überschuss in die Texte einlagern, d.h. die ästhetischen Formelemente, die im Programm der Neuen Sachlichkeit hinter Stoff, Aufklärungs- und Gebrauchswert zurücktreten sollten, ebenso aufnehmen wie psychologische Momente. Der wichtigste Versuch einer Neubestimmung des Sachlichkeitsbegriffs aus dem Geist einer quellenkritischen, literaturtheoretisch fundierten Methode ging von Sabina Becker aus, die bereits durch ihre Dissertation Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930 (1993) den Kontext von Expressionismus, Neuer Sachlichkeit und Urbanität erarbeitet hatte. Vor allem durch ihre zweibändige Habilitationsschrift Neue Sachlichkeit (Becker 2000a, 2000b) suchte sie ihre Grundannahmen zu belegen. Der Dokumentenband wirkte auf die weitere Forschung befruchtend, nachdem bis dato fast nur auf die ältere und nicht auf die neusachliche Strömung ausgerichtete Quellensammlung zur Literatur der Weimarer Republik von Kaes (1983) zurückgegriffen werden konnte. (Kaes u.a. gaben 1994 eine aufwändige amerikanische Quellensammlung The Weimar Republic Sourcebook heraus, vgl. Kaes/Jay/Dimendberg 1994.) Becker bereicherte die Forschung mit ihren zahlreichen Publikationen, dem mit Christoph Weiß zusammen publizierten Interpretationsband Neue Sachlichkeit im Roman (Becker/Weiß 1995) und auch mit der Herausgabe des Jahrbuchs zur Literatur der Weimarer Republik (ab 1995, ab 2001 Jahrbuch zur Kultur und Literatur der Weimarer Republik) erheblich. Sie trennt methodologisch eindeutig zwei Begriffsverwendungen von Neue Sachlichkeit; es sei „zu unterscheiden zwischen Sachlichkeit als Devise und Modewort für zeitsymptomatische Einstellungen und Verhaltensweisen sowie allgemeinkulturelle Entwicklungen der Zwanziger Jahre auf der einen und den stilprogrammatischen Tendenzen der Neuen Sachlichkeit auf der anderen Seite“ (Becker 2003, 205). Die Beschränkung des Fokus auf die ästhetische und poetologische Seite bei Becker riskiert eine der Sache selbst nicht gerecht werdende Verengung des Untersuchungsspektrums. Zwar vermeidet etwa die Abkoppelung des bildkünstlerischen vom literarischen Diskurs eine undifferenzierte Sicht der einzelnen Bereiche. Zugleich aber lassen sich die Effekte der neusachlichen Literatur in dieser Limitierung nur sehr grob erfassen. „In Beckers poetologischer Perspektive bleibt die Wirkung der neusachlichen Literatur […] abstrakt und normativ.“ (Barndt 2003, 7) Diese Ausrichtung hat zudem beträchtliche Folgen für die zeitliche Bestimmung der Strömung und den Geltungsbereich der Aussagen. Becker sieht die Neue Sachlichkeit als „eine do-

II. Forschungsbericht

minante literarische Ästhetik“ (Becker 2000a, 14) der 1920er Jahre, will also die aus der historischen Epochenbestimmung entstandene Bindung an die Phase der relativen Stabilität aufheben. Die Verknüpfung der neusachlichen Diskurse mit anderen Diskursebenen (vor allem den neu entstandenen Medien, aber auch politisch-ideologischen Implikationen) wird zwar nicht abgestritten, in der konkreten Textuntersuchung aber bewusst ausgeblendet (kritisch dazu Fähnders 2007, 86). In ihrer Untersuchung (Bd. 1) folgt Becker den aufgestellten Prämissen und argumentiert systematisch. Dadurch dass sie literarische Texte der Versuchsanordnung gemäß selbst kaum berücksichtigt, sondern sich auf die Analyse der theoretischen und poetologischen Zeugnisse beschränkt, wirken die Folgerungen für die Literatur zum Teil abstrakt und ohne Tiefenschärfe. In der Materialsammlung (Bd. 2) bietet sie eine für die weitere Forschung unverzichtbare Materialfülle, die aufgeführten Quellen stellen allerdings teilweise ihre eigenen Forschungsprämissen infrage, denn in den Selbstaussagen wird die Neue Sachlichkeit als ein Ensemble sehr heterogener und keinesfalls ausschließlich poetologischer Diskurse präsentiert. Die Neue Sachlichkeit steht für Becker am Ende der literarischen Moderne, ist jedoch wegen des weitgehenden Verzichts auf experimentelle Schreibweisen nicht als Teil der historischen Avantgarden einzustufen. Sie unterliegt nicht der „Absage an die formale Kohärenz des Kunstwerks“ (Becker 2000a, 345), sondern beschreitet einen neuartigen Alternativweg der Moderne, indem sie die Funktionalisierung der Literatur als Zentrum ihres Kunstpostulats setze. Dies bedeutet im historischen Verlauf vor allem die Absetzung von den dezidiert antimimetischen Gestaltungsprinzipien des Expressionismus, ohne wiederum einem unreflektierten, platten Abbildungsrealismus zu verfallen. Insgesamt erwachte das Interesse an der Literatur der Weimarer Zeit in den 1990er Jahren wieder. Neben den Versuchen zu einer theoretischen Abklärung des Begriffsgehalts und damit verbundener Parallelbegriffe hat es in der jüngeren Vergangenheit immer wieder wichtige Einzeluntersuchungen gegeben. Diese galten zunächst ähnlich wie bei der Exilliteratur der Sammlung und Archivierung, auch der Bewahrung vor dem Vergessen, erstreckten sich aber zunehmend auch auf Einzeluntersuchungen wichtiger Werke und Autoren. Dies gilt vor allem für die neusachliche Literatur von Frauen, die in einigen aufschlussreichen Untersuchungen gewürdigt wurde, teilweise auch für die Kinder- und Jugendliteratur (vgl. Barndt 2003, Stürzer 1993, Tost 2005 u.a.). Man beschäftigte sich nun auch seriös mit bisher eher der Trivialliteratur zugeschlagenen Autoren wie Kaléko, Fallada, Remarque oder Baum, ebenfalls mit weitgehend unerforschten Genres wie dem Zeitstück. Lethen konstruierte in Analogie zur zeitlichen Eingrenzung des Expressionismus den Begriff des „neusachliche[n] Jahrzehnt[s]“ (Lethen 1995, 10). Dies ist fragwürdig, besonders was den angenommenen Beginn angeht, denn Einigkeit besteht darüber, dass die Mehrzahl der typischen und wirkungsvollen neusachlichen Werke erst nach Mitte der 1920er Jahre veröffentlicht wurde. Höchst problematisch ist ein Abschluss mit dem Jahr 1930, denn besonders zahlreiche der wichtigen neusachlichen Romane und Gedichtbände erschienen erst danach: Falladas Kleiner Mann, was nun? (1932), Kalékos Lyrisches Stenogrammheft (1933), Keuns Kunstseidenes Mädchen oder Theodor

Probleme der Periodisierung

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II. Forschungsbericht

Offene Fragen und Forschungsperspektiven

Plieviers Der Kaiser ging, die Generäle blieben (1932). Zeitliche Fixierungen unterliegen immer ideologischen und forschungsgeschichtlichen Vorgaben. Für die Literatur der Neuen Sachlichkeit wurde meist der politische und ökonomische Bezugsrahmen angelegt, und in der Tat sind große Teile der in der republikanischen Zeit entstandenen literarischen Texte an politische Themen und Intentionen gebunden, die Zeitstücke ebenso wie die Industriereportagen oder die Kriegsliteratur. Auch zentrale politisch-soziale Veränderungsprozesse wie die Entstehung einer ausdifferenzierten Angestelltenschicht und -kultur wirkten fast ungefiltert auf die Literatur ein und führten zur Entstehung neuer Genres, etwa des Angestelltenromans. Gegenüber dem poetologischen Paradigmenwechsel der letzten beiden Jahrzehnte, der die Geltung neusachlicher Schreibweisen zeitlich eher ausdehnt, ist eine vermittelnde Sicht angemessen, die neben der Betrachtung der ästhetischen Faktoren auch berücksichtigt, dass die ökonomisch-soziale Stabilisierung ab Mitte der 1920er Jahre mit Dawesplan und Fordismus als Grundlage Impulse für den Sachlichkeitsdiskurs gab (vgl. Fähnders 1998, 234). Dies wirkt auch nach dem Einsetzen einer breiten Kritikbewegung zu Beginn der 1930er Jahre nach, teilweise bis ins Exil. Eine Wendung hin zu restaurativen, mythenfixierten oder christlichkonservativen Haltungen ist partiell vorhanden, aber nicht als dominierende Tendenz zu sehen. Analog zu den politischen und ökonomischen Prozessen wurde für die Weimarer Republik immer wieder eine Phasenbestimmung in drei Teilen vorgenommen (so Fähnders 1998, 224): 1. Nachkriegskrise mit dem Spätexpressionismus und Dada als dominierenden Avantgardeströmungen (1919–23) 2. Phase der relativen Stabilisierung mit der Neuen Sachlichkeit als charakteristischer Richtung (1923–29) 3. Etappe der Wirtschaftskrise und der Faschisierung der Weimarer Republik ohne eine künstlerisch hegemoniale Strömung (1929–33) Die Positionierung der Neuen Sachlichkeit in diesem Schema ist gerade von Sabina Becker angezweifelt worden – aus plausiblen Gründen, da neusachliche literarische Texte auch außerhalb des Zeitraums von 1923 bis 1929 in größerem Ausmaß erschienen sind, aber auch aus methodischen Erwägungen, da die Übertragung politisch-historischer Kategorien auf ästhetische Strömungen grundsätzlich problematisch erscheint. Trotzdem ist die Einteilung bis zu einem gewissen Grade brauchbar, da mit ihr die starken kulturell-politischen Bezüge abgedeckt werden und ein großer Teil der Texte erfasst werden kann. Die Beantwortung der Fragen nach den politisch-gesellschaftlichen Positionierungen der Neuen Sachlichkeit ist durch die Polarisierung und damit Vereinseitigung der Forschungsmeinungen eher verhindert worden. Die Merkmale nüchterner Beobachtung, soldatischer Kühle, männlicher Härte und aristokratischer Distanz rückten die ,Neue Sachlichkeit‘ in die Nähe faschistischer oder präfaschistischer Thesen. Stellt man die ,Neue Sachlichkeit‘ allerdings in einen aufklärerischen Diskurs des neuen Sehens, das sozialrevolutionäre Visionen und ästhetische Avantgarde verbindet, ist von rechter Gesinnung nichts mehr zu finden. (Kimmich 2002, 167)

II. Forschungsbericht

Zwar ist richtig, dass die heute als führend betrachteten Autoren im Umkreis der Neuen Sachlichkeit (Glaeser, Weiß, Roth, Toller, Feuchtwanger, Kisch, Graf u.a.) der linken oder linksliberalen Kultur und Subkultur entstammten. Allerdings ist auch diese Aussage zu relativieren: Zahlreiche Autoren – etwa Fallada, Keun, Baum, Kaléko – können hier nicht eingeordnet werden, sie gehören vielmehr einer politisch kaum festgelegten, primär am Massenerfolg orientierten Literatenschicht an. Keineswegs ausreichend untersucht sind die formativen Entwicklungslinien, die weit ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Kleinschmidt weist zu Recht darauf hin, dass zwar der Begriff Sachlichkeit im Grimm’schen Wörterbuch von 1893 noch nicht auftaucht, nennt zugleich aber Voraussetzungen im Realismus und Naturalismus und formuliert die Notwendigkeit der Einbeziehung außerkünstlerischer und außerliterarischer Einflüsse für die Diskursarchäologie, etwa im Positivismus oder in medizinischen Diskursen (vgl. Kleinschmidt 2000). Eine Erweiterung der Forschungsperspektiven versprachen die diskursanalytischen und auch die kulturwissenschaftlichen und vom new historicism beeinflussten Sichtweisen, die jedoch bis heute in die literaturwissenschaftliche Untersuchung der Neuen Sachlichkeit nur gelegentlich und unsystematisch einbezogen wurden. Nach wie vor ist trotz aller Bemühungen eine Unschärfe in der Grundbestimmung als Stilbegriff, politischer Begriff, Epoche oder Gruppenphänomen festzustellen (vgl. Fähnders 1998, 244). Der Forschung stellen sich insbesondere folgende Probleme: – die Situierung der Neuen Sachlichkeit innerhalb des politisch bestimmten Zeitraums der Weimarer Republik, – die Herkunft der Bezeichnung aus der Bildenden Kunst und das Verhältnis zur Literatur, – das Schwanken des Begriffs zwischen stilgeschichtlicher und politisch-soziologischer sowie medienhistorischer Bestimmung, – die für die künstlerische Moderne überhaupt konstitutive Frage nach dem Charakter als Epoche, Strömung oder lediglich Phase, was einen hegemonialen Anspruch ausschließen würde, – der Zusammenhang von literaturwissenschaftlicher, intermedialer und interdisziplinärer Forschung in einer kulturwissenschaftlichen Makroperspektive, – der Zusammenhang von neusachlicher Schreibform und Unterhaltungsformen, – die weitere Klärung der Position neusachlicher Literaturformen in den und zu den literarischen Moderne- und Avantgardebewegungen.

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte 1. Stabilisierung und Krise als Hintergrund neusachlicher Diskurse Zwei kollektive Bilder der Weimarer Republik sind im Bewusstsein der Nachwelt vorherrschend: Zum einen das Bild der roaring twenties, einer äußerst lebendigen und dynamischen Gesellschaft, die eine Blüte der Kultur ebenso erlaubte wie individuell ausgelebte permissive Lebensstile. Zum anderen das einer krisengeschüttelten Republik, die, durch die Revolutionswirren direkt nach dem verlorenen Krieg hindurch, nach Inflation und Not, unterbrochen nur von einer kurzen Phase relativer Stabilität, in die fundamentale Wirtschaftskrise und schließlich in den Abgrund des Faschismus taumelt. Krise und Krisendiskurs scheinen so allgegenwärtig, dass darüber heute manchmal die Formen alltäglicher Normalität fast aus dem Blick geraten: „Jedenfalls wäre es verfehlt, von der Krisenrhetorik der Kulturpessimisten auf der einen und der radikalen Linken auf der anderen Seite und von den Aufgeregtheiten der akademischen Deutungselite auf die Einstellung der Bevölkerungsmehrheit zu schließen.“ (Hardtwig 2007, 7) Die allgemeine Krisenhaftigkeit strahlt besonders auf die Literatur aus, die in der Weimarer Republik zu großen Teilen Zeit-Literatur ist, so dass ein Buch über den Roman der Neuen Sachlichkeit den Titel tragen kann: Leben in der Krise (Lindner 1994). Auch die zeitgenössische Literaturkritik ist vielfach bestimmt vom Krisendiskurs, dies besonders nach dem Einsetzen der weltweiten ökonomischen Krise und der für die späte Weimarer Republik charakteristischen radikalisierten politischen Auseinandersetzungen um den Ersten Weltkrieg als ,Urkatastrophe‘ des 20. Jahrhunderts (George F. Kennan, vgl. Mommsen 2002). Im 1931 von Oscar Müller herausgegebenen und mit einem Vorwort von Reichskanzler Heinrich Brüning versehenen Sammelband Crisis beklagt etwa der christlich-konservative Autor Detmar Heinrich Sarnetzki die politische, religiöse und künstlerische Krise der Zeit, die zur Frage führt, wie das Bürgertum zu neuer Orientierung finden könne, wenn „alle Spielarten, die sich in kurzer Folge ablösen und dennoch nebeneinander herlaufen, es bedrängen: Naturalismus, neue Romantik, Expressionismus, neue Sachlichkeit; das Tendenzwerk, die aktuelle Reportage!“ (Sarnetzki 1932, 311) Der Erste Weltkrieg, der Untergang der Monarchie, die tiefgreifenden Veränderungen der Sozialstruktur und Rollenverteilung (Angestellte, Neue Frau, Metropolisierung, Medienentwicklung) haben zwar partiell zu neuen Möglichkeiten, zum Abbau rigider patriarchalischer Strukturen und Obrigkeitshörigkeit, zu größeren Freiheiten des Einzelnen, etwa im Bereich von Ehe, Familie und Sexualität, geführt, sie ließen aber auch kollektive Zustände der Verunsicherung aufkommen, die die mentalitätsgeschichtliche Grundlage der Weimarer Republik bis

1. Stabilisierung und Krise

zu ihrem Ende bildeten (vgl. dazu Fähnders 1998, 210ff.; Weyergraf 1995, 9). Die Krisenerfahrung kommt auch in den berühmten zeitdiagnostischen Werken der Zeit zum Ausdruck, nicht zuletzt in Karl Jaspers’ Die geistige Situation der Zeit (1931) oder in Helmuth Plessners Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus (1924), einem Buch, das – für die Formierung der Neuen Sachlichkeit bedeutsam – aus der Annahme einer Zivilisationskrise die Wendung gegen das in Deutschland verbreitete Denken in Gemeinschaftskategorien ableitet und stattdessen zu einer ,sachlichen‘ Verhaltenslehre gelangt (vgl. Lethen 1994, 75ff.; Kimmich 2002). Als in der Weimarer Republik die ökonomische, kulturelle und mediale Moderne – aller Retardierungen und Behinderungen zum Trotz – endgültig zum Durchbruch kommt, zeigen sich die Reaktionen darauf als Irritation breiter Bevölkerungskreise, die in Literatur und Medien reflektiert werden (vgl. Hoeres 2008, 8; Kyora/ Neuhaus 2006, 10; Peukert 1987). Das Krisenparadigma bildete in der Frühphase der Forschung weitgehend auch die Grundlage für die Herleitung der Neuen Sachlichkeit. Als Prämisse diente dabei die Annahme, dass durch die Modernisierung der Gesellschaft auf allen Ebenen zusätzlich zu den Kriegsfolgen Anpassungsleistungen erforderlich wurden, für die gerade Kunst und Kultur sorgten. Die wichtigsten Modernisierungsphänomene der Zeit waren sicherlich die Einführung neuer Formen sozialer Schichtung und Arbeitsorganisation (Fordismus, Fließband, Taylorisierung), die Expansion der technischen Apparaturen und wissenschaftlichen Entdeckungen, die in der Produktion wie in der Distribution und im Verkehrswesen zu bisher nicht geahnten Neuentwicklungen führten (Kaufhauskonzerne, Automobil-, Bahn- und Flugwesen), die Ausbreitung und Perfektionierung der modernen Medien (Presse, Verlagswesen, Film, Radio), die immer deutlicheren Interdependenzen der einzelnen Medien in Produktion, Marketing und Streuung brachten, die weitergehende Verstädterung und Metropolenbildung, eine sich vor allem in den Städten ausbreitende ausdifferenzierte Unterhaltungskultur und nicht zuletzt die veränderte Stellung der Frauen. Bei dieser Aufzählung darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Kräfte des Überkommenen, des Konservatismus und der Reaktion, in der Weimarer Zeit in je nach Phase unterschiedlicher Weise präsent waren und einen starken Gegenpol zu den genannten progressiven Tendenzen bildeten. Dies manifestierte sich etwa in den Versuchen der frühen Freikorps-Verbände zu einer Revision der Kriegsergebnisse, dem völkisch-frühfaschistischen roll-back mit stark antisemitischen Bestrebungen, im Kampf der klerikalkonservativen Gruppen gegen jede Liberalisierung des Strafrechts, der Wendung gegen den Amerikanismus, der angeblich die nachwilhelminische deutsche Gesellschaft überschwemmt habe, und der Ablehnung der Frauenemanzipation. Zugleich gerät die traditionsgebundene, dem Bildungsbürgertum verpflichtete Hochliteratur immer stärker in die Defensive, durch die immer schärfer werdende Konkurrenz der neuen Medien, aber auch durch den Aufschwung einer medienaffinen Unterhaltungs- und Reportageliteratur. Die Annahme eines grundsätzlichen Einverständnisses der Neuen Sachlichkeit mit der kapitalistischen Modernisierung in einem Krisenbewältigungsdiskurs (Lethen) ist selbstverständlich verkürzt, denn gerade die neu-

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

sachliche Literatur enthält starke sozialkritische Elemente und zeigt die Charaktere in ihrer Rat- und Orientierungslosigkeit. Bezüglich der Relation zu krisenhaften wie stabilisierenden Elementen kann für die Literatur summarisch festgestellt werden: – Das zentral positionierte Personal in neusachlichen Narrationen und partiell auch in den Dramen oder den lyrischen Ichs der Gedichte entspricht weitgehend dem neusachlichen Prototyp. Beispiele dafür sind der angepasste, zugleich aber verunsicherte und nach Perspektiven suchende, von sozialer Deklassierung bedrohte Typus des Angestellten (oft mit akademischer Bildung und Journalist, Werbetexter etc.), wie er bei Kästner, Tergit u.a. gezeigt wird. Bei den weiblichen Protagonisten ist es die karriereorientierte, gut ausgebildete, im persönlichen Habitus freizügige Neue Frau, wie sie Cornelia Battenberg in Fabian repräsentiert, oder die ,Girlie‘Figur, wie sie Baum in Flämmchen (Menschen im Hotel) gestaltet. Besonders augenfällig sind die Charaktere Keuns, die von ihrem Aufgehen in den Warenversprechungen der Zeit träumen. Die für den Roman charakteristischen Liebeskonflikte werden ebenfalls partiell versachlicht, indem prononciert untragische, entromantisierte Konfliktlösungen oder Romanschlüsse angeboten werden. Dies trotz der Vorliebe für melodramatische Effekte: So wird die große Oper in Menschen im Hotel von zwei eigentlich nicht in die Moderne passenden Figuren durchgespielt, von der Tänzerin Grusinskaya und dem Baron von Gaigern. – Als Erklärungsmodell für Verhaltensweisen der Figuren werden weniger psychologische, innengelagerte Prozesse angenommen als Reaktionsbildungen im Konflikt mit der Außenwelt (Externalisierung). Stark aktiviert ist die epische Beobachterfunktion, die sich weitgehend auf das Äußere, Gegenständliche beschränkt. – Die Formen des Amerikanismus, der Technikbegeisterung, der Vorliebe für Zahlen und Rationalisierungsprozesse erscheinen im Einsatz von Musik, kühl-sachlicher Redeweise und dezidiert antiromantischer Attitüde, besonders auch im Tanz und in gesteuerten Bewegungsabläufen sowie in der Relation zum eigenen Körper. – Die expandierende Unterhaltungskultur bildet das Setting und das Ambiente vieler neusachlicher Texte: Kaffeehaus, Kino, Revue, Tanzpalast, Büros und teilweise auch Fabriken sind die Orte, an denen die Lebenspraxis und die Beziehungskonstellationen bevorzugt stattfinden. – Lebensperspektiven und -alternativen werden in den Angeboten der vorhandenen Kultur und Gesellschaft gesucht, kaum in existentieller Reflexion oder Metaphysik. – Die Gattungen werden entsprechend diesen Vorgaben modifiziert. Es finden sich Innovationen im Drama und im Roman, wie etwa Zeitstück und -roman, die sich den journalistischen Formen annähern. Erstmals entsteht in größerem Ausmaß, nach den naturalistischen Vorformen, eine realistische Fabrik- und Büroprosa und die narrative Vergegenwärtigung des Krieges in einem eigenen Genre. – Durch die Betonung des Gebrauchswertcharakters des Literarischen wird die Möglichkeit individueller Aktivierung und Operationalisierung in den Vordergrund gerückt. Das Versprechen neusachlicher Literatur liegt in der objektiven Schilderung persönlich erfahrbarer Zustände und deren Bewäl-

2. Politische und literarische Kämpfe

tigung, nicht in revolutionär-verändernder Aktion, sondern eher in einem wehmütig hingenommenen Abfindungsprozess, beispielhaft in der Lyrik Mascha Kalékos.

2. Politische und literarische Kämpfe und Kontroversen Die Autoren der Neuen Sachlichkeit bildeten nicht – wie die Expressionisten – mehr oder weniger feste Gruppen mit programmatischem Anspruch. Sie waren eher Einzelgänger, die in den literarischen Szenen vor allem Berlins verkehrten. Wie bereits vor dem Weltkrieg so waren es auch jetzt insbesondere die Literatencafés, in denen sich Schriftsteller wie Kästner, Brecht oder Kaléko trafen. Zu einem der Zentren wurde das Romanische Café, das allerdings gegen Ende der Weimarer Zeit den Angriffen nationalsozialistischer Trupps ausgesetzt war (vgl. Bienert 2005). Eine Literatengruppe, in der zahlreiche neusachliche Autoren wie Döblin, Kasack, Kesten, Roth und Kisch sich sammelten, war die von Rudolf Leonhard 1927 gegründete heterogene „Gruppe 1925“, die sich gegen staatliche Eingriffe und politische Anfeindungen wehrte (vgl. Petersen 1981). Mit der zunehmenden politischen Polarisierung der Schriftsteller schloss sich eine Reihe von Autoren, die aus dem neusachlichen Umkreis kamen, linken Organisationen an, vor allem dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS), der – 1928 gegründet und der KPD nahe stehend – die für die literaturpolitischen Debatten wichtige Zeitschrift Die Linkskurve herausgab. Zwar wurden hier zunächst kontroverse Positionen zugelassen, aber in den letzten Jahren der Republik geriet der BPRS immer stärker unter den Einfluss der von der Komintern erlassenen Generallinie der Kommunistischen Partei. Der BPRS blieb trotz seiner unzweifelhaften Bedeutung für die neusachliche Theoriediskussion, vor allem im Rahmen der Kontroverse um Reportage und Roman, doch relativ isoliert, da auch marxistische Autoren wie Brecht ein direktes Engagement ablehnten. Der Austausch zwischen den Literaten, die der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen waren, vollzog sich zu großen Teilen über die Tätigkeit bei den großen Verlagen, Tageszeitungen und Magazinen: Der multimediale Autor entstand. Im Gegensatz zu den prominenten älteren Autoren, die trotz gelegentlicher publizistischer Aktivitäten ihrer literarischen Buchproduktion Priorität einräumten, stand für die neusachlichen Autoren diese Tätigkeit teilweise im Vordergrund, dies aus finanziellen Gründen, aber auch, weil diese Medien als vorwärtsweisend angesehen wurden. So ließ sich für Brecht die marxistische Weltanschauung gut mit der lyrischen Produktion von Werbetexten vereinbaren, arbeitete Kästner durchgängig für Magazine und war Vicki Baum sogar Angestellte des Ullstein-Verlages. Diese Produktionsmischform bot sich auch deshalb an, weil journalistisches und im engeren Sinne literarisches Schreiben sich annäherten und viele Texte ohne Mühe aus der Kurzform oder der Fortsetzungsserie in eine Buchfassung übertragen werden konnten. Die gegenseitige Kritik der als neusachlich zu bezeichnenden Literaten und Journalisten war durchaus hart und manchmal unversöhnlich, wie etwa die Kritiken von Tucholsky oder Ihering und auch die Polemiken Brechts zei-

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

gen. Sie kreisen um politische und gesellschaftliche Fragen, immer wieder aber auch um die Grundpositionen des Schreibens, die Aktualität oder Obsoletheit von Gattungen, Strömungen oder Autoren. Bis weit in die 1920er Jahre hinein reicht die Debatte um den Expressionismus, aber auch um neue Formen des Romans und des Dramas oder die Reportageform und schließlich um die Nachwirkungen des Weltkriegs, die Ende des Jahrzehnts an Schärfe zunimmt. Besonders vehement ist die Diskussion um die gesellschaftsverändernde oder affirmative Funktion der Literatur, die vor allem durch Walter Benjamins gegen Erich Kästners Lyrik gerichteten Aufsatz „Linke Melancholie“ ausgelöst wurde. Immer wieder geht es im Kontext der neusachlichen Literaturentwicklung um die Begriffe von Objektivität, Gebrauchswert und Parteinahme und darum, wie diese Begriffe inhaltlich-öffentlich zu füllen sind. Die im Verlaufe der Neuen Sachlichkeit entwickelten Genres der Reportage und des Zeitstücks zeigen das Realitäts- und Literaturverständnis der Neuen Sachlichkeit am deutlichsten. Bald schon wurden die Begrenzungen dieser Formen zum Thema, die Tendenzen zur Dispensierung des Kunstanspruchs und zur Negation der Subjektivität. Das Zeitstück als Genre blieb, nachdem es die Jahre ab 1925 bis etwa 1933 auf dem Theater partiell bestimmt hatte, eine Episode in der Theatergeschichte, es wurde von der wesentlich komplexeren und artifizielleren Theaterform Brechts theoretisch wie in der dramaturgischen Durchführung überboten. Auch die Reportage bildete sich in gewisser Weise zurück zur journalistischen Gebrauchsform, nachdem Kisch vor allem aufgrund seines persönlichen Talents die Berichtsform an die Literatur angeschlossen hatte.

3. Metropolenkultur: Berlin Im heutigen Bewusstsein sind die Kultur der Weimarer Republik und insbesondere die Neue Sachlichkeit fast untrennbar mit der Metropole Berlin verbunden. Die roaring twenties erscheinen im medial klischierten Bild, das durch Filme wie Cabaret geprägt wurde, als zügellos und wild, ein, wie Hans Mayer sarkastisch meinte, „sonderbares Berliner Schwabing, das etwa vom Nollendorfplatz reichte bis zum Grunewald“ (Mayer 1985, 245). Zutreffend sind diese Bilder nur in begrenztem Umfang. Dies gilt auch für die Zentrierung auf die Reichshauptstadt: Formen neusachlichen Schreibens gab es auch in anderen Großstädten (München, Hamburg, Stuttgart, Frankfurt am Main, Leipzig, Dresden), in Österreich (etwa Rudolf Brunngraber), in besonderem Maße aber im Industrieareal des Ruhrgebiets. Auch wenn also die Fixierung auf Berlin in ihrer extremen Form zu Blickverengungen führt, so ist dennoch die Bedeutung der deutschen und europäischen Metropole für die Entstehung der Kultur der Weimarer Zeit und auch speziell für die Literatur der Neuen Sachlichkeit nicht zu übersehen. Nicht nur war hier das Verlags- und Pressewesen konzentriert, entwickelten sich die neuen Medien Film und Radio, insgesamt eine florierende Unterhaltungsindustrie, entfaltete sich eine ausdifferenzierte Angestelltenkultur, alle Widersprüche und Verwerfungen der Zeit zeigten sich hier besonders schnell und deutlich. Damit entstand eine Dynamik, die produktive Wechselbeziehungen zwischen den

3. Metropolenkultur

einzelnen Sparten entstehen ließ und selbst zum Sujet für die verschiedenen Genres und Gattungen wurde. Alfred Döblin, der von 1919 bis 1931 eine Kassenpraxis an der vom Alexanderplatz abgehenden Frankfurter Allee 340 betrieb, schrieb im Geleitwort zum Bildband Berlin 1928. Das Gesicht der Stadt (1928) des Fotografen Mario von Bucovich: Es ist wahrhaft eine moderne Stadt, eine großartige Stadt, eine Siedlung heutiger Menschen. Die Straßen mäßig beleuchtet, man fliegt von Bahnhof zu Bahnhof, man ist schon längst im Stadtbereich Berlin, aber noch immer gliedert sich nichts, nur neue Straßen, […] da ein helles Licht, das muß ein Kino sein, plötzliche Lichtwirbel, aber wie belanglos in diesem Dunkel, auf den Bahnhöfen nüchterne eilige Menschen und wieder Straßenzüge, Mietskasernen, Schornsteine, Brücken. (Döblin 1992, 6) Das Wachsen Berlins zu einer mit den traditionellen europäischen Hauptstädten Paris und London konkurrenzfähigen Metropole begann bereits im späten 19. Jahrhundert, verstärkt dann in den Jahren nach der Jahrhundertwende bis zum Beginn des Krieges. „Alles wirklich Umstürzende war schon im späten Kaiserreich angelegt gewesen, wenn auch der Monarch selber solche Neuerungen verabscheute.“ (Siedler 2000, 12) Solche Impulse sind gemeint, oder wenn zeitgenössische Beobachter in der Rückschau von den goldenen 20er Jahren sprechen, wenn etwa der bekannte Berliner Journalist Walther Kiaulehn in seinem 1958 erstmals erschienenen Buch Berlin. Schicksal einer Weltstadt zweifellos übertreibend „fünf sorglose Jahre“ (Kiaulehn 1980, 532) nennt, in denen sich die Stadt als Metropole frei entwickeln konnte: „Nie war die Stadt größer, reicher, bunter, glitzernder als damals, niemals hat sie ihren Kindern mehr gehört als in dieser kurzen Zeit!“ (Kiaulehn 1980, 532) Zur Weltstadt und Kulturmetropole hatte sich Berlin in großem Tempo, wenn auch immer wieder kurzzeitig unterbrochen von ökonomischen Krisen durch die Überhitzung der Konjunktur) seit der Reichsgründung 1870/ 71, entwickelt. Ökonomischer turnoff, damit verbunden die rapide Bevölkerungszunahme und Konzentration in neuen Stadtteilen und angrenzenden Kleinstädten, die Einführung neuer Kommunikationstechnologien (Telefon, Telegraphie, moderne Druck- und Distributionsverfahren der Massenpresse, schließlich Film) und die fortschreitende Industrialisierung und Kommerzialisierung bewirkten tiefe gesellschaftliche Umschichtungsprozesse, die zum Wachsen einer luxurierenden Erwerbsschicht, aber auch zu Wohnraumnot und sozialen Notständen (Gesundheitsversorgung etc.) führten. Die Modernisierungswelle im Anschluss an den Sieg im deutsch-französischen Krieg (1870/71) und die Reichsgründung wälzte – verstärkt seit der Jahrhundertwende – alle Bereiche des öffentlichen wie privaten Lebens um. Aus der hauptsächlich durch das Militär und seine Repräsentationsbedürfnisse geprägten Hohenzollernmetropole wurde eine Weltstadt modernen Zuschnitts. Bereits um 1910 hatte Berlin mit europäischen Metropolen wie Paris oder London annähernd gleichgezogen, es war zum Schauplatz tief greifender Modernisierungsprozesse geworden: im Verkehrswesen, in der Industrieproduktion, in der Konglomeration von Bevölkerungsmassen, in der Durchsetzung der neuen Unterhaltungs- und Kommunikationsmedien, auch in den hochkulturellen Sphären der Wissenschaft und der Künste. Berlin, im

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

Jahre 1877 zur Millionenstadt avanciert, überschritt schon 1905 die 2-Millionen-Einwohnergrenze, näherte sich dann, nach einem temporären Bevölkerungsabfall infolge der Kriegsereignisse, 1920 der Zahl von 4 Millionen Einwohnern, was als Hauptursache die vielen Eingemeindungen hatte: Großberlin entstand (vgl. Vietta 2001, 17; Siedler 2000, 15). Schon kurz nach 1900 avancierte Berlin auch zur Stadt der literarischen und künstlerischen Avantgarden, wurde es Szenerie neuer Geselligkeits- und Unterhaltungsformen, trafen sich in den Clubs, Cafés und Kneipen die Literaten aus dem Umkreis des Expressionismus und der Bohème, frequentierte ein vielfältiger werdendes Publikum die Kinopaläste und Varietétheater. Insgesamt gab es zur Jahrhundertwende in der Hauptstadt ca. 80 Unterhaltungs-, Revue- und Musiktheater. Ein neues städtisches Zentrum entstand im Berliner Westen zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit den Gegenden um den Kurfürstendamm in Charlottenburg und in Wilmersdorf – Wohn-, Arbeits- und Erholungsquartiere für das wohlhabende Bürgertum –, in den 1920er Jahren setzte sich diese Entwicklung fort. Die erste Berliner U-Bahnlinie wurde 1902 eröffnet, schon seit 1881 gab es eine elektrisch betriebene Straßenbahn, die nach und nach die frühere Pferdebahn gänzlich ersetzte. Berlin hatte zehn Fernbahnhöfe als Knotenpunkte. All dies hatte jedoch auch eine Kehrseite, die von der offiziellen Fortschrittsgläubigkeit verdeckt wurde: Jetzt entstanden viele der typischen Mietskasernen in den proletarischen Stadtteilen. Die glitzernde Nachtszene an der Friedrichstraße hatte ebenfalls ihre Schattenseiten, etwa 20.000 Prostituierte lebten bereits um 1900 unter meist erbärmlichen Bedingungen in der Stadt. Die Geschichte des Metropolenberlins ist auch eine der Armut und Ausbeutung.

4. Literatur und Arbeitswelt: Die Angestellten (Kracauer) Durch die Konzentration von Industrie und Verwaltung in den Metropolen, vor allem in Berlin, entwickelte sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend eine Angestelltenschicht, die – materiell meist unterprivilegiert – ein deutlich von der Arbeiterschaft unterschiedenes gesellschaftliches Bewusstsein entwickelte. Auch dieser Wandel kam erst nach dem Ersten Weltkrieg zur vollen Ausbildung. Die entstehende Angestelltenkultur ist überwiegend eine weibliche und großstädtische, und so wird sie auch in den neusachlichen Romanen gezeigt (zu den Realbedingungen vgl. Frevert 1990). Auch dass die wachgerufenen Wünsche nach erotischer wie materieller Erfüllung für die meisten hart arbeitenden und schlecht bezahlten Sekretärinnen und ,Tippfräuleins‘ fiktiv blieben, kann man dort lesen. Die große Stadt ist immer auch Ort der Sehnsucht und der Vorlust, die Emanzipation der Neuen Frau in der Metropole bleibt meist Versprechen, dies zeigen die meisten Berlin-Romane ebenso wie die auf Realbeobachtung basierenden Aufsätze Siegfried Kracauers. Nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise ging es für die Angestellten mehr und mehr um die bloße Existenzsicherung, und Kracauer schrieb im Vorwort zu seinem Buch Die Angestellten, dass „Berlin zum Unterschied von allen anderen deutschen Städten und Landschaften der Ort ist, an dem sich die Lage der Angestelltenschaft am extremsten darstellt“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 213).

4. Literatur und Arbeitswelt

Die Angestellten vor allem in den Großstädten zeigen ein hohes Maß an „Kulturbedürftigkeit“ (Band 1999, 181), sie versuchen zum Beispiel in hochkulturelle Bereiche einzudringen, die bisher dem Bildungsbürgertum vorbehalten waren, bildeten aber vor allem die Konsumentenschicht der nun entstehenden neuen Formen von Unterhaltung und Amüsement. Dabei zeigen sie, meist höchstens mit mittleren Bildungsabschlüssen ausgestattet, den Willen, sich von den Fabrikarbeitern abzusetzen. Die Ausbreitung und Ausdifferenzierung der Angestelltenschicht, aber auch ihr Funktionswandel, resultierten aus der Technifizierung und Rationalisierung der Büroarbeit, der Einführung häufig in den USA entwickelter Zeit- und Leistungserfassungssysteme und einer verstärkten Konzernbildung. Als neues Element kam nun die Integration von immer mehr weiblichen Arbeitskräften in diese Sphäre. Die soziologische und ökonomische Erfassung dieses neuen Phänomens und dessen politische Behandlung nahmen deshalb in den 1920er Jahren immer weiter zu. 1928 war etwa eine gewerkschaftliche Schrift über die soziale Not der weiblichen Angestellten erschienen, 1933 veröffentlichte der Soziologe Carl Dreyfuss das Buch Beruf und Ideologie der Angestellten, 1930 erschien die von Frieda Glass und Dorothea Kische im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Frauenberufsverbände durchgeführte Erhebung Die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse der berufstätigen Frauen, 1930 eine ähnliche Umfrage des Zentralverbandes der Angestellten Die weiblichen Angestellten. Arbeits- und Lebensverhältnisse von Susanne Suhr, 1931 die Untersuchung Zur Typologie der kaufmännischen weiblichen Angestellten (zu diesem Thema hatte Marie Hörbrand bereits 1926 eine Untersuchung vorgelegt), Robert Hoffstätters Die arbeitende Frau. Ihre wirtschaftliche Lage, Gesundheit, Ehe und Mutterschaft (1929), marxistisch-feministisch orientiert von Alice Rühle-Gerstel Die Frau und der Kapitalismus. Eine psychologische Bilanz (1932), Bücher über die neuen technisierten Bürotätigkeiten, etwa Die Schreibmaschine und das Maschineschreiben (1923) von Hermann Scholz, besonders wichtig die vor 1933 nicht mehr veröffentlichte Untersuchung des Soziologen Hans Speier Die Angestellten vor dem Nationalsozialismus (1932) und die groß angelegte statistische Studie Die soziale Schichtung des deutschen Volkes von Theodor Geiger (1932). Die Vielzahl solcher Analysen und Stellungnahmen, besonders zur Problematik der weiblichen Angestellten, zeigt die Bedeutung des Themas. Interessanterweise treten im neusachlichen Zusammenhang erstmals literarische Texte gleichberechtigt und teilweise auch gleichartig an die Seite der wissenschaftlichen und publizistischen Diskurse. Die Angestelltenromane und zahlreiche Zeitstücke vermitteln auch ein relativ gründliches Wissen über die Stellung der Angestellten im sozialen Gefüge, ihre materielle Lage und ihre Mentalität. Entsprechend erscheint auch bereits 1932 eine literaturwissenschaftliche Studie zum Thema: Josef Witschs Berufs- und Lebensschicksale weiblicher Angestellter in der Schönen Literatur. Siegfried Kracauer veröffentlichte von Dezember 1929 bis Januar 1930 im Feuilleton der Frankfurter Zeitung, deren Redaktion er bereits seit 1922 angehört hatte, in zwölf Folgen die Artikelserie Die Angestellten, die 1930 mit dem Untertitel Aus dem neuesten Deutschland als Buchfassung erschien. Aus der Fülle der Bücher, Aufsätze und Reportagen zu diesem Thema hebt

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

sich Kracauers Serie vor allem dadurch heraus, dass es ihm um die Beobachtung und Darstellung der kollektiven Mentalität dieser neuen Schicht geht, um ihre Bewusstseinsformen, ihre Sehnsüchte, Wünsche und Ängste, nicht zuletzt aber auch um ihre Praxis in Arbeitswelt und vor allem Freizeit, der er in Büros, Fabriken, Unterhaltungsetablissements, Revuetheatern oder Parks nachspürt. Fassen und begreifen will Kracauer diese neuen Mentalitäten durch einen ebenfalls neuartigen teils analytischen, teils journalistischen und teilweise episch-literarischen Zugriff, nämlich durch die Konzentration auf die Oberflächenstruktur, die für Kracauer auch das entscheidende Moment der Angestelltenkultur ist. Dabei geht es weder um die Erfassung in einem theoriegebundenen Begriffssystem, noch um Änderungsvorschläge, auch nicht um eine Reportage im Sinne von Kisch, sondern eher um die Montage von Wahrnehmungs- und Beobachtungsstücken: „Zitate, Gespräche und Beobachtungen an Ort und Stelle bilden den Grundstock der Arbeit. Sie sollen nicht als Exempel irgendeiner Theorie, sondern als exemplarische Fälle der Wirklichkeit gelten.“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 214) Kracauer schafft eine neue Form der Wirklichkeitsaneignung, die – hier den Techniken Brechts und Döblins durchaus ähnlich – aus der montageartigen Zusammenstellung von kurzen Texten besteht, deren Titel die jeweilige Thematik andeutend verrätseln. Der Text ist in einem Zwischenbereich zwischen diskursivem und literarischem Schreiben angesiedelt, er besetzt die „Form der analytischen Beschreibung“ (Koch 1996, 55). Neusachlich ist Kracauers Buch durch die Schreibform, die den Abbildrealismus weit überschreitet, aber an einer Sachorientierung festhält und Reportageelemente einbezieht (vgl. Becker 2000a, 169). Dabei geht Kracauer von der direkt an die Angestelltenschicht adressierten großstädtischen Unterhaltungsindustrie aus und zeigt deren Funktionszusammenhang. Diese Industrie konstruiere das Modell einer möglichen Glückserfahrung, die aber real gerade verhindert werde, vielmehr setzten sich die in der Arbeitswelt herrschenden Normen der Uniformität und Anonymität, Drill und Disziplin, Präsentation der Körper als Maschinen und Waren, die Geringschätzung des Alters bis in die Freizeitsphäre fort. In den Angestellten wendet er sich auch deutlich gegen die Kälte der neusachlichen Objektsprache, indem er sie bewusstseinskritisch auslegt. Dann zeige sich nämlich, dass unter der durch die Arbeit und auch den Freizeitbereich abgeforderten Sachlichkeit etwas anderes liegt, und dies enthüllte sich etwa in den großstädtischen Vergnügungsstätten. Kracauer beschreibt die Eingangshalle des beliebten Hauses Vaterland, die ihn an ein feudales Hotelfoyer erinnert: Sie übertreibt den Stil der neuen Sachlichkeit, denn nur das Modernste ist gut genug für unsere Massen. Nicht schlagender könnte sich das Geheimnis der neuen Sachlichkeit enthüllen als hier. Hinter der Pseudostrenge der Hallenarchitektur grinst Grinzing hervor. Nur einen Schritt in die Tiefe, und man weilt mitten in der üppigsten Sentimentalität. Das aber ist das Kennzeichen der neuen Sachlichkeit überhaupt, dass sie eine Fassade ist, die nichts verbirgt, dass sie sich nicht der Tiefe abringt, sondern sie vortäuscht. (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 292f.) Die Neue Sachlichkeit in Design und Architektur, die Kracauer als Architekt besonders intensiv wahrnahm, gehört für ihn zur Disziplinierungsindustrie,

4. Literatur und Arbeitswelt

indem sie unter dem Mantel des Funktionalen und Strengen nur alte sentimentale Inhalte anbietet. Sie ist gleichzeitig leer, da sich hinter der Fassade nur die Dekorationen der Revuenummern verbergen, beides also zusammenfällt (vgl. Koch 1996, 61). Bemerkenswerterweise nimmt Kracauer hier eine doppelte Bestimmung vor, die in sich nicht ganz widerspruchslos erscheint. Er fragt nach dem, was aus der Architektur spricht und sieht dies zunächst als Ausdruck der Kälte neusachlicher Objekte. Die ,Strenge‘ zeigt sich aber gleich als eine nur scheinhafte, ,pseudohafte‘, da unter der Oberfläche des Neuen etwas sehr Altes schnell sichtbar wird, Grinzing nämlich, der Wiener Stadtteil, dessen Name längst eine verkitschte Form Wiener Gemütlichkeit repräsentierte und der hier hinweist auf eines der vielen Themenrestaurants, die das Etablissement enthielt. Grinzing deutet zugleich darauf, dass die Fassadenhaftigkeit die Angst vor Vergänglichkeit und Tod repräsentiert, die auch konnotativ in der Wiener Bildhaftigkeit angelegt ist. Kracauers Denken schwankt zwischen Ideologiekritik, die die eskapistische Haltung der Konsumentenschicht der Angestellten entlarvt, Kulturkritik und zugleich einer „kontemplativen Kritik an der Zerstreuung“ (Koch 1996, 60), die mit Denkmodellen Pascals und Montaignes in Verbindung steht. Diese divergenten Sichtweisen werden immer wieder zeitdiagnostisch am Kino festgemacht, in dem die kleinen Ladenmädchen ihrem Alltag zu entfliehen suchen, oder auch in den „Pläsierkasernen“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 292) Berlins. Als Beispiele solcher Betriebe wären etwa das als Novität mit Tischtelefonen ausgestattete Ballhaus Residenz-Casino (,Resi‘) oder das an der Friedrichstraße gelegene Moka-Efti-Lokal zu nennen, beides Orte einer vorgestellten Ferne, im eigentlichen Sinne „Märchengefilde, in denen die Illusionen leibhaftig Figur geworden sind“ (ebd., 294; vgl. Band 1999, 182). Diese Verdrängungsindustrie, die auf die Aufstiegssehnsucht, das Kulturbedürfnis und die Fluchtreflexe der Angestellten setzt, zeigt für Kracauer, fast im Sinne barocker Sinnlichkeits- und Körperdarstellungen, den Gegensatz von Sein und Schein, nun bezogen auf Technik und Ausstattung. Einzelgegenstände, die häufig dem Bereich des Visuellen und Präsentativen entstammen, der von Kracauer wie bei den Filmanalysen und im Ornament der Masse kritisch als Sphäre falscher Wahrnehmung beschrieben wird, enthüllen dies, so etwa bei der Beschreibung von „Wasserkunst“ im beliebten Berliner Lunapark: Immer neu geformte Strahlenbüschel fliehen rot, gelb, grün ins Dunkel. Ist die Pracht dahin, so zeigt sich, dass sie dem ärmlichen Knorpelgebilde einiger Röhrchen entfuhr. Die Wasserkunst gleicht dem Leben vieler Angestellten. Aus seiner Dürftigkeit rettet es sich in die Zerstreuung, lässt sich bengalisch beleuchten und löst sich, seines Ursprungs uneingedenk, in der nächtlichen Leere auf. (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 297) Kracauer unterscheidet zwischen den faktischen politischen und sozialen Gegebenheiten (Deprivation, Disziplinierung und tendenzielle Verelendung), dem Bewusstsein der Angestellten (Identifikation mit dem höheren Bürgertum) und der Angestelltenkultur, die vor allem den wachsenden Freizeitbereich umfasst. Dieser ist durch Modernität gekennzeichnet (Film, Sport, Nachtlokale, Revuetheater), aber zugleich durch eine Vereinnahmung durch die herrschenden Interessen der Besitzenden. Deshalb ist es notwen-

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

dig, durch Aufklärung diese Interessen herauszuarbeiten, da sie zunächst verdeckt sind und von der Masse der Konsumenten nicht wahrgenommen werden. Diesen Veranstaltungen haftet, wie Kracauer sagt, eine „Nebenbedeutung“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 294) an: „Außer ihrem eigentlichen Zweck erhalten sie noch den andern, die Angestellten an den der Oberschicht erwünschten Ort zu bannen und sie von kritischen Fragen abzulenken […].“ (Ebd., 295) Kracauers Kritik der massenmedialen Phänomene der Gegenwart lässt sich aber nicht auf deren Instrumentalisierung für die herrschenden Gruppen reduzieren, sie ist doppelseitig, wie die Bestimmung des ,Bildzaubers‘ zeigt, der Eskapismus vor den Notwendigkeiten der Zeit ausdrückt, aber auch Ausweichen vor den Gesetzen des Daseins: „Die Flucht der Bilder ist die Flucht vor der Revolution und dem Tod.“ (Ebd.) Der zentrale Abschnitt „Asyl für Obdachlose“ zeigt besonders klar, dass Kracauers Verfahren zur Erfassung der Angestelltenkultur weit über eine Bestandsaufnahme im Sinne neusachlicher Oberflächenwiedergabe hinausgeht. Damit gelingt es ihm, ähnlich wie Kisch und Roth in ihren Reportagen, mit dem neusachlichen Repertoire der Beobachtung und Registrierung zugleich über eine platte Realitätswiedergabe hinauszugelangen. Gegenüber den häufig lediglich auf Oberflächenphänomene gerichteten Beschreibungen des Büroalltags in den Sekretärinnenromanen zeigt sich in der Reportageform Kracauers der Versuch, die Nebenbedeutung, den Subtext, zu integrieren. Ähnlich nimmt auch Joseph Roth Öde und Monotonie des Angestelltendaseins inmitten einer „Berliner Vergnügungsindustrie“ (so der Titel eines Artikels in den Münchner Neuesten Nachrichten von 1930) mit einem Kracauer analogen Grad an Literarizität genau wahr, den Zwang zur an die gesellschaftlichen Erwartungen angepassten Körper- und Bewegungsform. Weit entfernt ist dies von der Beschwörung einer versöhnenden Wirkung der auf den Amerikanismus zurückgeführten Disziplinierung, wie sie sich etwa in den Schriften des Psychologen Fritz Giese (1925) findet. Gabriele Tergit beobachtet in einem Artikel über die Erfahrung eines Varietés die massenhafte Verwertung von Weiblichkeit präzise und gleichzeitig kritisch: „Zweimal neunhundert Augen, davon mehr als die Hälfte männliche, starrten aus dem Dunkel. Nackte Beine als Massenerscheinung sind ungemein peinlich. Lächeln als Massenerscheinung ist schamerregend, weil unverhüllte Prostitution […].“ (Tergit 1994, 32)

5. Die Nachwirkung des Krieges Wurde der Weltkrieg in der ersten Zeit häufig als eine Art reinigendes Gewitter empfunden, „,eine herrliche Erfrischung nach der langen faulen Zeit des Friedens‘“ (Glaeser 1978, 56), wie ein Assessor in Ernst Glaesers Roman Jahrgang 1902 sagt, so erscheint sein Ausgang je nach Standort als Niedergang oder als eigentlicher Beginn der Moderne. Große Teile der publizistischen, wissenschaftlichen und künstlerischen Diskurse in allen Phasen der Weimarer Republik reflektieren in sehr verschiedenartiger Weise die Schuldfrage, mehr noch aber die Folgen des verlorenen Krieges für die staatliche Organisation, das Verhältnis zu den ehemaligen Feinden, die Ökonomie

5. Die Nachwirkung des Krieges

und die Mentalität von großen Teilen der Bevölkerung. Besonders in der Literatur spielt die Kriegsthematik eine wichtige Rolle, und mit den im Umkreis der Neuen Sachlichkeit zu verortenden Autoren meldete sich Ende der 1920er Jahre eine später als lost generation bezeichnete Gruppe zu Wort, die bei Kriegsanbruch im jungen Erwachsenenalter (Renn, Jahrgang 1889), in der Adoleszenz (Remarque, Jahrgang 1898) oder noch in der Kindheit (Glaeser, Jahrgang 1902) war. Patriotische und nationalistische Romane, Berichte und Erinnerungen überwogen zunächst. In der Statistik der Auflagenzahlen der Kriegsliteratur von 1914 bis 1939 liegen Richthofens Tagebuchsammlung Der rote Kampfflieger und Remarques Im Westen nichts Neues mit jeweils ca. 1,2 Millionen Exemplaren klar an der Spitze, danach kommen die Abenteuer des Fliegers von Tsingtau (1916) des Luftwaffenfliegers Gunther Plüschow, gefolgt von der erfolgreichen, national gestimmten Kriegserzählung Der Wanderer zwischen beiden Welten von Walter Flex (vgl. ebd., 10f.). Den nationalistischen Autoren (Beumelburg, Dwinger, Grimm, Luckner) ging es nicht um die schonungslose und aufrüttelnde Darstellung des Geschehens, sondern um Verklärung aus einer vergoldeten Erinnerung und die Stärkung des militaristischen Widerstandswillens. Die mediale Auseinandersetzung mit dem Krieg als entscheidendes Zentralereignis spielte im gesamten Weimarer Kontext eine große Rolle, insbesondere auch als ein Sujet der Neuen Sachlichkeit, die hier ihren Wirklichkeitsbegriff besonders intensiv erproben konnte. Die lange vorherrschende, schon von Pinthus vertretene Annahme, nach einer Phase des „Nichtmehrwissenwollens“ (Pinthus, zit. n. Becker 2000b, 40) habe sich seit 1928/28 ein neuer Strom an ,Kriegsbüchern‘ gebildet, ist, wie quellenkritische Forschungen gezeigt haben, nicht haltbar; allerdings ist nach 1929 in der Tat ein Anstieg zu verzeichnen. Der Gesamtkorpus dieser Literatur ist kaum überschaubar, in einer neuen Sichtung wird von 670 Titeln gesprochen, faktisch ist die Zahl wesentlich höher (vgl. dazu Vollmer 2003, 6). Wesentlich schwieriger noch als die quantitative Erfassung der Texte ist die Bestimmung der Intentionalität, des Verhältnisses zur literarischen Moderne sowie zum Spannungsfeld von Dokumentarismus und Fiktionalität, zumal in der frühen Forschung (einsetzend mit Hans Harald Müllers Habilitationsschrift Der Krieg und die Schriftsteller, 1986) häufig nur eine geringe Zahl von heute noch bekannten Romanen einbezogen wird. Selbst literarisch ambitionierte Werke wie Leonhard Franks Novellensammlung Der Mensch ist gut (1918), die beiden Kriegsromane Theodor Plieviers Des Kaisers Kulis (1930) und Der Kaiser ging, die Generäle blieben (1932), Als Mariner im Krieg (1928) von Joachim Ringelnatz oder Arnold Zweigs Der Streit um den Sergeanten Grischa (1927) wurden erst spät eingehender untersucht. Noch weniger Aufmerksamkeit gewannen Werke wie Adam Scharrers proletarisch-marxistisches Kriegsbuch Vaterlandslose Gesellen (1930) oder auf der rechten Seite Franz Schauweckers Roman Aufbruch der Nation (1930), ein Antikriegsbuch wie Der Schädel des Negerhäuptlings Makaua (1931) von Rudolf Frank und Georg Lichey oder Ernst Johannsens Vier von der Infantrie (1929), immerhin die Vorlage für G. W. Pabsts bedeutenden Kriegsfilm Westfront 1918 (UA 1930). Johannsen schrieb zudem mit Brigadevermittlung (1929) auch eines der wichtigsten Hörspiele der Zeit. Gegen-

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über dieser lange Zeit vorherrschenden Vernachlässigung (der auch ein Desinteresse des Lesepublikums entsprach) konnten sich die Bücher von Ernst Jünger über das Fronterlebnis breiter Aufmerksamkeit gewiss sein, das gilt für das auf Tagebuchaufzeichungen beruhende, 1920 erschienene In Stahlgewittern ebenso wie für den Essay Der Kampf als inneres Erlebnis (1922) und Das Wäldchen 125. Eine Chronik aus den Grabenkämpfen, 1918 (1925). Im Kontext des neusachlichen Schreibens ist besonders die Frage von Bedeutung, wie sich in der Kriegsliteratur das Verhältnis von Dokumentarismus und Fiktionalismus darstellt. Hierzu können einige Tendenzen angegeben werden: – Die frühe, noch im Krieg oder relativ kurz danach verfasste, Kriegsliteratur ist meist autobiographisch orientiert. Sie ist Erlebnisliteratur, die versucht, die Authentizitäts-Annahme aufrechtzuerhalten oder gar zu konstruieren, obwohl fast immer eine literarische Überformung nachweisbar ist. Dies gilt für die Kriegsbücher Ernst Jüngers, letztlich aber noch für Remarques Im Westen nichts Neues. Damit war eine Transfermöglichkeit auf Grundgefühle der aus dem Krieg psychisch wie häufig auch physisch versehrt zurückgekehrten Kriegsgeneration hergestellt, und zugleich konnte deren Erfahrung in einem nun literarisch gewendeten ,Wahrheitsdiskurs‘ aufgehen (vgl. hierzu Müller 1986, 3–5). – Die Romane sind nur dann anschlussfähig an die literarische Moderne, wenn man diese nicht in einem experimentellen Sinne versteht, sondern die nicht-intentionalen Brüche und Spannungen der Narration einbezieht. In der Darstellungsform bleiben die Werke einem Abbildungsrealismus verpflichtet, allerdings mit starken Montage- und Reportagetechniken in Romanen wie Arnolt Bronnens O.S. (1929), der die Kämpfe der Freikorps gegen polnische Aufrührer nach dem Ende des Krieges im Sinne der deutsch-völkischen Kräfte in Oberschlesien darstellt, oder Edlef Köppens Heeresbericht (1930), der den Topos der Desillusionierung eines zunächst begeisterten jungen Mannes entwickelt. Der Kriegsroman in dieser Form scheint besonders gut mit der neusachlichen Programmatik verbunden werden zu können (vgl. Schöning 2007, Stockhorst 2008). – Im Verlaufe der Weimarer Republik, mit der Zeit um 1925 als Zäsur, ist eine tendenzielle Veränderung im Umgang mit den Kriegserlebnissen feststellbar: Gegenüber den pseudoauthentischen, apologetischen, als Augenzeugenberichte präsentierten Kriegserinnerungen, Regimentsberichten, Tagebüchern etc. treten nun Texte mit stärker offen fiktionalisiertem Anteil hervor. Die meisten Romane und Novellen zeigen eine Ausdifferenzierung der Erzähltechnik, es kommt gegen Ende der 1920er Jahre stärker zu auch politisch motivierten Auseinandersetzungen um die Deutungsmacht bezüglich des Kriegsereignisses und ein „semantischer Kampf“ (Vollmer 2003, 16) zwischen den Extremen prägt in der Folge die Wirkungsgeschichte der Kriegsliteratur. – Gegenüber diesen Deutungsunterschieden ist das in den Narrationen gezeigte Bild des Kriegsgeschehens relativ einheitlich (vgl. Schöning 2007, 360), sowohl bei der Schilderung von Kampfszenen als auch der Vorgänge in der Etappe.

5. Die Nachwirkung des Krieges

– Entscheidend ist der Versuch einer Deutung und Sinnstiftung des Krieges ex post (vgl. Müller 1986, 53ff.). Nicht mehr das Rechtfertigungs- oder auch ein Unterhaltungsbedürfnis steht jetzt im Vordergrund, sondern der Versuch einer Bewältigung der generationellen Verlorenheit für die Nachkriegsexistenz, weshalb die meisten Kriegsromane eigentlich Gegenwartsromane sind. – Technifizierung des Krieges und mediale Abbildung stehen in engem Verhältnis. Der Krieg brachte neue destruktive Potenzen hervor, aber auch Möglichkeiten einer visuell bestimmten Realitätswiedergabe wie -manipulation. So wurde die Ufa 1917 von Banken und Militärs vor allem zur Stärkung der Kriegspropaganda gegründet, die Fotografie wurde als wichtiges Speicherungsmedium eingesetzt. Auch in der Literatur wurde der dokumentarische Charakter der Weltkriegesschilderungen betont, allerdings ist eine Identifizierung von Wirklichkeit und Reproduktion bereits theoretisch nicht aufrechtzuerhalten. Die Wiedergabe des Geschehens – häufig aus der Ich-Perspektive eines einzelnen Soldaten – bleibt notwendig im Bereich des Subjektiven, Arbiträren und Fragmentierten (vgl. Müller 1986, 5). Dies gilt selbst für Fotobände und Berichtsanthologien wie Ernst Friedrichs Krieg dem Kriege! (1924), Schauweckers So war der Krieg (1928) und das von Kurt Kläber 1929 herausgegebene Erste Volksbuch vom großen Krieg, in dem Beiträge von international bekannten literarischen und politischen Autoren versammelt sind. Gerade in der Haltung dem Krieg gegenüber wird der Unterschied von expressionistischer und neusachlicher Haltung deutlich. Im Übergang zeigt dies etwa die Darstellung der Figur des Kriegskrüppels in Franks Der Mensch ist gut von 1918, die, wie Lethen gezeigt hat, noch einmal die ,kreatürliche‘ Mitleidsfunktion aktiviert und zugleich die Ablehnung der neusachlichen Protagonisten hervorruft (vgl. Lethen 1994, 249). Der Krieg ist als Erfahrungsgrundlage nicht nur in der explizit auf den Krieg bezogenen Literatur präsent, er durchdringt die Texte durch die Gattungen hindurch subkutan: ,Geistige‘ Kriegsfolgen zeigen sich im Zeitstück an den Ängsten und an der Verlassenheit der jungen Leute (etwa in Bruckners Krankheit der Jugend, 1926), sie hindern die (männlichen) Angehörigen der um 1900 geborenen Generation am Entwurf tragfähiger Zukunftspläne, sie bewirken ein Gefühl der Verlassenheit und machen die Gegenseitigkeit der Liebe problematisch. Zwar sucht man (wie Kästners Fabian) nach einer Form der Geborgenheit, ist aber oft unfähig dazu. In Vicki Baums Menschen im Hotel war der Krieg für den entwurzelten Baron Gaigern eine Art Heimat, in der Kälte der Nachkriegszeit wird er zum ruhelosen Wanderer und Dieb: „,Im Krieg war es gut. Im Krieg spürte ich mich zu Hause.‘“ (Baum 1988, 139) Den Verlust der Jugend vor der Zeit als Generationserfahrung im lyrischen Wir rufen neusachliche Gedichte Erich Kästners auf, zum Beispiel „Jahrgang 1899“, das Trauer darüber in der Maske der für Kästner typischen Lakonie artikuliert: Man hat unsern Körper und hat unsern Geist ein wenig zu wenig gekräftigt. Man hat uns zu lange, zu früh und zumeist in der Weltgeschichte beschäftigt!

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

6. Die Neue Frau Im Jahre 1929 reiste Lady Grace Drummond-Hay als einzige Frau im Luftschiff „Graf Zeppelin“ um die Welt, gesponsert vom New Yorker Pressezar Randolph Hearst, für dessen Zeitungen sie von der abenteuerlichen Fahrt berichtete, in einem Film der niederländischen Filmemacherin Ditteke Mensink von 2009 mit dem Titel 1929: Mit dem Zeppelin um die Welt wird dies dokumentiert. Diese Reise und ihre massenmediale Verarbeitung hat Symbolwert: Das Bild des Weiblichen ist hier mit der modernen Realität synchronisiert, es erscheint im Schnittpunkt von Reisen – Tempo, Geschwindigkeit, Abenteuer, Medien und Aktivität. War um die Jahrhundertwende das kollektive Bild der Frau vor allem von femme fatale- und femme fragile-Projektionen bestimmt gewesen – von der sexuell bedrohlichen wie naiv-elementaren Frau – so gewinnt jetzt ein modernisiertes Bild mit entsprechenden Attributen und Verhaltensformen Raum. Ein anderes Beispiel: 1927 tritt die Industriellentochter und Rennfahrerin Clärelore Stinnes eine Fahrt um die Welt mit dem Auto an. Im Juni 1929 kehrt sie mit ihrem Begleiter nach Berlin zurück, dreht mit diesem zusammen einen Dokumentarfilm, 1929 erscheint das Reisebuch Im Auto durch zwei Welten in Berlin (Neuausg. Wien 1996). Ein berühmtes Geschwisterpaar der Zeit unternahm 1927 ebenfalls eine Weltreise, die zu einem Buch verarbeitet wurde, Erika und Klaus Mann, die 1929 den Bericht Unterwegs. Abenteuer einer Weltreise publizierten. Maria Leitner, wie Vicki Baum Mitarbeiterin des Ullstein-Konzerns, wurde 1925 von diesem auf große Amerika-Fahrt geschickt und fasste ihre Reisereportagen 1932 in dem Sammelband Eine Frau reist durch die Welt zusammen. Das individuelle und Neuland entdeckende Reisen – bislang eine Domäne der Männer und weithin als unweiblich betrachtet – wurde nun zunehmend zu einer Unternehmung, bei der sich auch junge, körperlich durchtrainierte, technisch versierte und sexuell wie beruflich emanzipierte Frauen entfalten konnten. Obwohl es diese wagemutigen Frauen real gab – die Fliegerin Elly Beinhorn wie die Schauspielerin und Bergfilmerin Leni Riefenstahl –, so ist das Bild der Neuen Frau, das hier seine Verkörperung findet, doch vor allem ein medial konstruiertes Wunschbild. Es bestimmt vor allem die neusachliche Literatur: Dort begegnen uns – als Produzentinnen wie als Figuren – Frauen in Bewegung, die sich von den alten Rollenvorstellungen jedenfalls teilweise gelöst haben und, vor allem im persönlichen Lebenszuschnitt, neues Terrain erproben. Irmgard Keuns kunstseidenes Mädchen, Irene Moll aus Kästners Fabian oder stud. chem. Helene Willfüer in Vicki Baums gleichnamigem Roman sind alle Frauen, die sich in der nach wie vor männlich-hierarchisch bestimmten Berufs- und Wissenschaftswelt durchzusetzen versuchten. Und es taucht sogleich eine Reihe von prominenten Namen auf: Marieluise Fleißer, Vicki Baum, Irmgard Keun, Gabriele Tergit, Mascha Kaléko und Gina Kaus, um nur einige der heute noch bekannten Namen zu erwähnen (vgl. Fähnders/Karrenbrock 2003). Fällt es beim Expressionismus noch schwer, außer Else Lasker-Schüler eine andere Repräsentantin namhaft zu machen, obwohl es natürlich weitere schreibende Frauen gab, bietet die Literatur der Neuen Sachlichkeit Autorinnen bisher ungekannte Möglichkeiten der Entfaltung.

6. Die Neue Frau

Das Bewegungsmoment ist deshalb von so großer Bedeutung, weil es sich real wie symbolisch mit dem Großstadtmilieu verbindet, in dem die genannten und viele andere neusachliche Autorinnen arbeiteten (vgl. Becker 2003, 193ff.) Auch Marieluise Fleißer, die in ihren Werken gerade die selbst gemachte Erfahrung von provinzieller Unterdrückung thematisiert, lebte lange in großen Städten, zunächst in München, dann in Berlin, und arbeitete im engen Kontakt zur großstädtischen Literaten- und Theaterszene (vgl. Häntzschel 2007). Nicht nur ,Tippfräuleins‘ wurden bei den expandierenden Verlagen und Journalen gesucht, man benötigte journalistisch schreibendes weibliches Personal, da sich auch die Rezipientengruppen zunehmend ,verweiblichten‘ und eigene Genres für Leserinnen entstanden. Im Bereich der Literatur – und vor allem im neusachlichen Kontext – war der Übergang von der journalistischen zur im engeren Sinne literarischen Tätigkeit nun leichter möglich. Eine Gruppe jüngerer hoch gebildeter Frauen, meist aus ärmeren Mittelschichten, die ihre Lebensperspektive nicht mehr primär auf Ehe und Familie abstellten, trat ins Berufsleben. Im Kontext von neusachlicher Literatur und kulturellen Imaginationen der Neuen Frau bzw. des ,Girl‘-Typus sind folgende Aspekte wesentlich: – Unterschieden werden muss zwischen der Realsituation von Frauen und den literarisierten oder medialisierten Bildern. Obwohl sich etwa aus den Sekretärinnen-Romanen wichtige Aufschlüsse über Arbeitsbedingungen und Autoritätsverhältnisse im Bürobetrieb gewinnen lassen und die Autorinnen meist eine fundierte Kenntnis über diese Abläufe besitzen, sind die Darstellungen trotzdem nicht als naturalistisches Abbild zu verstehen. – Die gewohnten, von Beginn plakativen Begrifflichkeiten (Neue Frau, Girl) sind inzwischen in einer Weise klischiert, die sie für analytische Zwecke kaum mehr brauchbar erscheinen lassen. Zumindest muss zwischen verschiedenen Bedeutungsschichten und Verwendungszusammenhängen jeweils differenziert werden. – Die kulturellen und im direkten Sinne literarisch-poetologischen Bereiche sind zwar vielfältig verknüpft, dennoch müssen diese Sphären auch in ihrer Eigenständigkeit berücksichtigt werden, also in der medialen Spezifik von literarisch-narrativen und filmischen Repräsentanzen der Neuen Frau. – Eine vereindeutigende Festlegung von literarischen Weiblichkeitstypen muss immer scheitern, dies nicht nur beim Vergleich konservativer (Gabriele Reuter, Rahel Sanzara, Ina Seidel, Clara Viebig, Elisabeth Langgässer u.a.) mit modern-neusachlichen Autorinnen, sondern auch immanent, etwa in den Romanen von Vicki Baum. Die Popularität harmonistisch-patriarchaler Frauenbilder ist bei weiten Leserschichten ungebrochen, was etwa die Verkaufszahlen der Romane von Autorinnen wie Hedwig Courths-Mahler anzeigen (vgl. Becker 2003, 195ff.). – Bei der Darstellung des neuen Weiblichen ist zwischen dem Zugang von weiblichen und männlichen Autoren deutlich zu unterschieden, ohne dass Unterschiede im thematisch-inhaltlichen wie literarisch-ästhetischen Zugriff jeweils mit der Geschlechtszugehörigkeit identifiziert werden könnten. Inwieweit von einer „spezifisch weiblichen Ästhetik“ (Becker 2003, 188) oder gar einer „weiblichen neusachlichen Avantgarde“ (ebd., 199) wirklich gesprochen werden kann, wie Sabina Becker behauptet, muss weiteren textkritischen Untersuchungen vorbehalten bleiben.

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte Die Neue Frau als Kultur- und Medienprodukt

In den Massenmagazinen und auch in den seriösen Zeitschriften der Weimarer Republik wird immer wieder der Versuch gemacht, die Neue Frau zu präsentieren, dies zunehmend im fotografischen Bild, und zugleich zu ,ergründen‘. Die alte Frage, was das Weib denn sei, die die Autoren des Fin de Siècle oft bis zum Obsessiven umtrieb, kommt in anderer Form wieder, nun etwas modernisiert, aber immer noch oft aus der irritiert männlichen Perspektive. Die Neue Frau zeigt sich männlichen Beobachtern als Paradox: sinnlich-aufreizend und offensiv, schien sie doch zugleich nüchtern-sachlich und damit traditionelle männliche Weiblichkeitsimaginationen unterlaufend (vgl. Vorw. v. Silvia Bovenschen, in: Huebner 1990, 14). So fragt sich Max Brod, neben Bronnen, Eggebrecht, Flake, Thiess, Lucka u.a. Beiträger zum 1929 von Friedrich Markus Huebner herausgegebenen Sammelband Die Frau von Morgen, wie wir sie wünschen, ob die Beziehungen der Geschlechter sich wirklich versachlichten, ausschließlich Männer wurden hier um ihre Einschätzung gebeten. ,Herzlos‘ sei die Neue Frau mitunter schon, meint Brod besorgt, stellt aber am Ende beruhigt fest, sie werde den Bogen schon nicht überspannen, und die Problematik der Geschlechter könne dann in der vage prophezeiten sozialistischen Gesellschaft gelöst werden: Die Frau von morgen wird instinktvoll und klug die guten von den bösen Komponenten der ,neuen Sachlichkeit‘ zu scheiden haben. Darin sehe ich ihre Bedeutung […] für die gesamte soziale Entwicklung zu einer wirklichen, nicht auf Ausbeutung beruhenden Gesellschaft und Staatengemeinschaft. (Huebner 1990, 54) Neigen viele der in diesem Band vertretenen Autoren zur Fortschreibung spekulativer Weiblichkeitsmuster, äußert sich bei ihnen auch eine alte Angst vor der ,Vermännlichung‘ der Frau. Brod etwa meint in den literarischen Weiblichkeitsdarstellungen einen „harten, kalten männlichen Zug“ (ebd., 48) zu entdecken und der Flaneur Franz Hessel hält sich – halb schwärmerisch, halb ironisch – bei der Skizzierung der Hauptstadtfrau an Beobachtungen: Schöne Berlinerin, du hast bekanntlich alle Vorzüge. Du bist tags berufstätig und abends tanzbereit. Du hast einen sportgestählten Körper, und deine herrliche Haut kann die Schminke nur erleuchten. […] Mit der Geschwindigkeit, in der deine Stadt aus klobiger Kleinstadt sich ins Weltstädtische mausert, hast du Fleißige schöne Beine und die nötige Mischung von Zuverlässigkeit und Leichtsinn, von Verschwommenheit und Umriss, von Güte und Kühle erworben. (Hessel 1994, 26) Hessels Flaneursblick kommt der Realität wahrscheinlich näher als die spekulativen ,Wesensbestimmungen‘ der in Huebners Band versammelten Kollegen. Er zeigt etwas von der Diversität, auch den Anforderungen, der sich die Neue Frau zu stellen hatte, aber auch von ihrer Erlebnislust – und er sieht sie in Synchronie zur Großstadt, deren Teil sie ist. Die Bilder des Weiblichen werden auch in der Weimarer Zeit noch hauptsächlich von Männern produziert, allerdings ist deren Definitionsmacht jetzt doch immer mehr bedroht. Denn gerade im neusachlichen Kontext, aber überhaupt in der öffentlichen Repräsentation melden sich Frauen jetzt erstmals in größerer Zahl und mit größerem Gewicht selbst zu Wort und bestimmen zumindest ein Stück mit,

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und das nicht nur über die tatsächliche soziale Praxis, sondern auch über deren Symbolisierungsfelder. Allerdings finden wir auch in den kulturellen Repräsentationen die für die Weimarer Republik charakteristische Gemengelage: Häufig ist kaum zu entscheiden, ob es sich um authentische Selbstäußerungen neuer Weiblichkeit handelt oder nicht doch letztlich um traditionelle Zuschreibungen, die auch von Frauen selbst übernommen werden. Immerhin sitzen in den Redaktionen der Zeitungen, Zeitschriften und Verlage nun immer mehr gebildete und unternehmungslustige Frauen, die versuchen, die Stellung der Frau in der Gesellschaft neu und selbstbewusst zu verorten (vgl. Todorow 1991). Voraussetzung dafür waren der mit der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und dem Zerfall der wilhelminischen Gesellschaft sich vollziehende partielle Abbau von Hierarchien und zugleich eine Erschütterung der überkommenen patriarchalischen Strukturen. Die Frauen waren in großem Ausmaß Trägerinnen der Kriegswirtschaft gewesen, und dieser Wandel ließ sich trotz allen Beharrungsvermögens der reaktionären Kräfte auch nach dem Kriege nicht wieder rückgängig machen. Die Künstlerinnen, Autorinnen, Direktricen, Modeschöpferinnen und Galeristinnen repräsentieren neue Formen des Selbstbewusstseins, des Körperund Bewegungsausdrucks, insbesondere auch der Erotik. Der moderne Typus wird häufig von Schriftstellerinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen oder Varietékünstlerinnen repräsentiert: von der skandalumwitterten Tänzerin Anita Berber, die nach ausschweifendem Leben bereits 1928 mit 29 Jahren starb, von Valeska Gert, der erfolgreichen Kabarettistin und Schauspielerin, von den umschwärmten Film- und Theaterstars Claire Waldoff und Marlene Dietrich, von Autorinnen wie Vicki Baum, Gabriele Tergit, Irmgard Keun oder Thea von Harbou, zeitweilig Gattin von Fritz Lang, die als Drehbuchautorin (Der müde Tod von 1921, Die Nibelungen, Metropolis), aber auch als Romanautorin reüssierte. In den symbolischen Konstruktionen des Weiblichen findet sich „ein breitgefächertes Spielen mit traditionellen Geschlechterrollen“ (Roebling 2000, 52), aber auch mit neuen Verhaltensangeboten, das in immer neuen Kombinationen vorgeführt wird. Neusachliches Kunstverständnis und neue Weiblichkeit konvergieren dabei häufig in den Grundvoraussetzungen. Die Neue Sachlichkeit, so könnte man pauschalierend sagen, erlaubt größere Spielräume für ästhetische Weiblichkeitsvorstellungen als etwa der Expressionismus oder die Literatur der Jahrhundertwende, die eine Domäne von Weiblichkeit imaginierenden Männern blieb. Wesentlich dabei ist die Hinwendung der neusachlichen Kunst und Literatur zum Gegenständlichen und Körperlichen, zur Bewegung, zum Visuellen und auch die Annäherung der Literatur an die Berichts-, Presse- und Unterhaltungsformen, die eine Teilnahme von Frauen eher möglich machte. Ob neben der Versachlichung auch die „Vereinfachung“ (Becker 2003, 191) des literarischen Stils die ,Feminisierung‘ der Literatur erleichtert hat, wie Becker meint, muss dahingestellt bleiben. Die medialen Konstruktionen des Weiblichen werden zunehmend von den Ikonographien des Kinos bestimmt, dort werden anziehende junge Frauen – Schauspielerinnen wie Asta Nielsen, Pola Negri oder Greta Garbo, in Deutschland Henny Porten oder Marlene Dietrich – im Luxusleben gezeigt, als Wunschbilder der Männer, allerdings auch in tragischen und verzweifel-

Die medialen Repräsentationen des Weiblichen

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III. Historische, politische und kulturelle Kontexte

Girlkultur

ten Situationen, die sich in der Form des filmischen Melodrams gut zeigen lassen. Mit der Realität haben diese Bilder natürlich wenig zu tun, und Kritiker wie Siegfried Kracauer vermerkten diese Irrealität in ihren Analysen immer wieder, etwa im bekannten Artikel „Die kleinen Ladenmädchen gehen ins Kino“, der 1928 in der Frankfurter Zeitung erschien: „Die blödsinnigen und irrealen Filmphantasien sind die Tagträume der Gesellschaft, in denen ihre eigentliche Realität zum Vorschein kommt, ihre sonst unterdrückten Wünsche sich gestalten.“ (Kracauer 1963, 280). Das Girl – wie die analogen Typen des ,Flapper‘ und der ,Garçonne‘ – ist ein Produkt der seit Mitte der 1920er Jahre immer stärker repräsentierten Unterhaltungskultur, ein Import aus den USA. Der Typ findet sich als Zigarettenverkäuferin in den Varietés und Revuetheatern, im Film und nach diesem Modell geformt, auch in den Cafés und Büros der Großstädte: jung, sportlich, körperbetont, freizügig, aber auch diszipliniert. Die modischen Vorgaben für die Neue Frau waren dem dominierenden Vorkriegsbild entgegengesetzt: „Die Kleidung versprach jetzt Bewegungsfreiheit und strahlte Jugendlichkeit aus. Das modische Ideal der Zeit war die schlanke, knabenhafte Silhouette.“ (Strobel 2008, 124) Die Kleider wurden kürzer oder man trug Hosen, die Schuhe spitz, und der Pagen- oder Herrenschnitt (Bubikopf) war die bevorzugte Frisur. Die junge Frau stellte sich als „sachlich und androgyn“ (ebd.) vor, zugleich aber auch als sinnlich und begehrenswert. Rudolf Kayser beschrieb das Girl in seinem Artikel „Amerikanismus“ von 1925 als „knabenhaft, linear, beherrscht von lebendiger Bewegung, vom Schreiten, vom Bein“ (zit. n. Kaes 1983, 266). Die Girlkultur präsentierte sich vor allem in den beliebten Revuen der Varietétheater, wo, nach Pariser Vorbild, die Tänzerinnen sparsam bekleidet und zugleich in fast militärischem Gleichschritt oder auch im Rhythmus der Maschinen vorgeführt wurden. Diese Formierung und Anonymisierung beschäftigte die Theoretiker stark, in kritischer Absicht Kracauer (Das Ornament der Masse), vor allem aber den Psychologen Fritz Giese, der in seinem Buch Girlkultur. Vergleiche zwischen amerikanischem und europäischem Rhythmus und Lebensgefühl (1925) die Revueveranstaltungen als ein Mittel zur Disziplinierung (vgl. Baureithel 2007) sowie als Ausdruck einer neuen Körper- und Bewegungskultur bestimmte: „Die Girls sind der Ausdruck jenes echten Sportgeistes der Frau, die in elegantem Sprunge auf die Straßenbahn, vom Automobil herunter, in schneller Reaktion zum Telephon eilt: wie es die rasche Zeit dauernd erfordert.“ (Giese 1925, 97) Ähnlich wie in der Massengymnastik erscheint das Individuum hier gleichgeschaltet mit der kapitalistischen Rationalisierung und seriell, jede Individualisierung wird zurückgenommen. Für Giese ist die Girlkultur insgesamt ein „Produkt amerikanischer Mentalität“ (Giese 1925, 15). Im Vordergrund steht der Zusammenhang von Amerikanismus, Fordismus, Taylorismus und Girlkultur, wobei die Wurzeln dieser Vermassung und Disziplinierung in der preußisch-militaristischen Kultur verkannt werden (vgl. Weisbrod 2006, 206). Besonders eindrucksvoll wurde die massenhafte ornamentale Inszenierung des weiblichen Körpers von Gruppen wie den „Tiller Girls“ vorgeführt, die in den 1920er Jahren in allen Großstadtrevuetheatern Triumphe feierten (vgl. Polgar 1926). Die Girl-Truppen trieben den Drill allerdings teilweise so weit, dass die Vorführungen als unerotisch empfunden worden (vgl. Roebling 2001, 263). Die

6. Die Neue Frau

Betonung des Körperlichen als Auslöser erotischer wie ,sachlicher‘ Wirkungen erscheint in der Entstehungszeit neu, ist aber auch eine Fortschreibung binärer Geschlechtercodes, da beim Mann weiterhin stärker die ,Geistigkeit‘ betont wird. Die Verbindung von Girlkultur und Amerikanismus wurde häufig polemisch attackiert, etwa in Adolf Halfelds bekanntem Buch Amerika und der Amerikanismus (1927), das die alteuropäische Tradition gegen die angebliche amerikanische Kulturlosigkeit verteidigte (vgl. Weisbrod 2006). Die Vereinigten Staaten erschienen solchen kulturkritischen Autoren als Einfallstor für eine ungehemmte, wilde Sinnlichkeit, wie sie sich vor allem im Tanz und in der Musik äußerte. Dass dabei stets rassistische Untertöne im Spiel waren, Warnungen vor ,Neger- und Hottentottenbewegungen‘, versteht sich. Eine Einflussnahme war natürlich durchaus vorhanden: Ein Roman wie Anita Loos' Gentlemen Prefer Blondes, der 1925 in den USA erschienen war und in Deutschland zunächst als Fortsetzungsserie in der Zeitschrift Die Dame und dann 1927 in Buchform erschien, wirkte massiv auf die Entstehung der deutschen Frauenliteratur der 1920er Jahre ein und beeinflusste Keun, Baum und andere Autorinnen. Die Ambivalenz des Girl-Typs zeigt sich gerade an diesem ungemein erfolgreichen Buch, denn hier erscheint unter der sexualisierten Oberfläche eine geradezu septische Lustneutralität (vgl. Roebling 2000, 17–21). Die neusachlichen Autoren nehmen die gängigen, teilweise bereits klischierten Bilder der Neuen Frau auf, variieren sie und eröffnen durch die Form des überwiegend nüchternen, manchmal ironischen und bisweilen wehmütigen Berichts Möglichkeiten des Verständnisses wie der Kritik. Neben der beruflich erfolgreichen Alleinstehenden, die für die Karriere eine ausfüllende Liebesbeziehung opfert, wie Cornelia Battenberg in Kästners Fabian, steht die nur in Teilbereichen – zum Beispiel der erotischen Ausstrahlung – ihrer selbst sicheren Frau, die beruflich in einem nivellierten Angestelltenheer untergeht und sich in eine Phantasiewelt flüchtet, wie die Protagonistinnen bei Irmgard Keun. Der Nähe zur Unterhaltungs- oder Kolportageliteratur versuchen die Romanautorinnen meist nicht auszuweichen. Vicki Baum nennt Menschen im Hotel im Untertitel nicht ohne Ironie einen Kolportageroman mit Hintergründen, ihren Roman stud. chem. Helene Willfüer versieht sie ebenfalls mit trivialen Erzählelementen. Die neusachlichen Frauen- und Angestelltenromane befriedigen also partiell durchaus die eskapistischen Bedürfnisse der Leserinnen in der Schilderung kleinbürgerlicher Hoffnungen auf Liebe und Erfolg, zugleich aber zeigen sie immer wieder in realistischer Weise die zermürbenden Routinen, denen Sekretärinnen oder Verkäuferinnen unterworfen und die Repressionen, denen sie in der Berufs- wie Freizeitwelt ausgesetzt sind. Die Freizeit erscheint mitunter als illusionärer Freiraum. Realistische Bilder der weiblichen Angestelltenexistenz vermitteln etwa Rudolf Braunes Roman Das Mädchen an der Orga Privat (1930), Christa Anita Brücks Schicksale hinter Schreibmaschine (1930), Gina Kaus’ Die Verliebten (1928), ein Roman, der wegen seiner Darstellung von der Frau initiierter freizügiger sexueller Aktivitäten Publikationsschwierigkeiten hatte, Mela Hartwigs 1931 entstandener Roman Bin ich ein überflüssiger Mensch oder – auf ungleich höherem ästhetischen Niveau – auch Marieluise Fleißers Eine Zierde für den Verein - Roman vom Rauchen, Sporteln, Lieben und Verkaufen (1931).

Erfolg und Kritik

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur 1. Einflüsse und Abgrenzungen Begriff der Moderne und des Realismus

Vorausgehende und parallele Entwicklungen

Expressionismus und Futurismus

Das grundsätzliche Problem, den Entwicklungsprozess der Literatur in handhabbaren Epochenbegriffen zu fassen, stellt sich seit dem späten 19. Jahrhundert in besonderem Maße. Mit dem naturalistischen Kunstbegriff wird das Moderne erstmalig begrifflich fixiert, zugleich aber auch schon pluralisiert, wie die weitere Entwicklung zeigt. Eine in der Forschung gelegentlich vorgenommene Zurückverlegung des Moderne-Begriffs bis in die (Früh-)Romantik würde die Problematik letztlich prolongieren (vgl. Becker 2002, 93). Ein Wendepunkt ist die Phase des Fin de Siècle: Seit der Jahrhundertwende werden Stilpluralität und Richtungskonkurrenz zu Konstanten des literarischen Lebens. Der Zeitraum von den 1890er Jahren bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs wird zurecht als ,Zeitalter der Ismen‘ charakterisiert, das allerdings im Verlaufe der Durchsetzung des Expressionismus als dominanter Literaturströmung seit etwa 1910 deutlicher konturiert wird. Die Zerfaserung der literarischen Öffentlichkeit wird auch im Zuge der Weimarer Republik nicht dauerhaft aufgehoben, weshalb die Auffassung überzogen scheint, mit der Neuen Sachlichkeit komme „das literarische Anliegen einer ganzen Autorengeneration zum Ausdruck“ (ebd., 75). Alle wesentlichen Richtungen der Vorkriegsliteratur wurden nach 1918 weitergeführt, auch wenn sie zum Teil, wie der Expressionismus, an öffentlicher Wirkung einbüßten. Starke Publikumswirkung hatte weiterhin die im Gefolge der Heimatkunstbewegung entstandene völkisch-nationalistische Literatur, fortgesetzt wurden auch Ästhetizismus und Symbolismus, und vor allem die psychologisch gerichteten Werke etwa eines Schnitzler hatten nach wie vor ein großes Publikum. Bedeutende Autoren, deren Anfänge mit dem Wilhelminismus eng verbunden sind, dominierten teilweise noch die literarische Öffentlichkeit der Weimarer Zeit, besonders die Brüder Mann, in geringerem Ausmaß G. Hauptmann, Rilke oder George. Döblin, schon ein bedeutender Autor der Vorkriegsperiode, stellte mit Berlin Alexanderplatz den Anschluss an die internationale Moderne her, auch die anderen großen modernistischen Romane des deutschsprachigen Raums, Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften und Hermann Brochs Die Schlafwandler, entstanden in dieser Zeit. Ehemalige Expressionisten wie Gottfried Benn oder Franz Werfel standen weiterhin im Vordergrund des Interesses. Auch Franz Kafka produzierte bis in die 1920er Jahre hinein, schließlich traten innovative junge Autoren wie Elias Canetti hervor (Die Blendung). Die Neue Sachlichkeit formiert sich in meist polemischer Abgrenzung vom Expressionismus. Die expressionistische Autorengeneration der um 1880 Geborenen teilte ein gemeinsames Krisen- und Innovationsbewusstsein, das sich in den großstädtischen Literatenzirkeln vor allem Berlins bis

2. Zeitgenössische Kritik

zum Beginn des Ersten Weltkriegs artikulierte (vgl. Pinthus 1959, 16). In ihren Werken äußerte sich der Versuch, den rebellischen Impetus im Generationenkonflikt der wilhelminischen Gesellschaft möglichst aussage- und wirkungskräftig zu gestalten, und das Bestreben, neue Ausdrucksformen zu entwickeln – Praktiken, die in der Nachkriegszeit oft als leer pathetisch empfunden werden. Die expressionistische Bewegung zerfällt nach dem Weltkrieg rapide und die Überlebenden der Schlachten versuchen sich politisch wie literarisch neu zu orientieren, so Becher, Johst, Toller oder Pinthus. Die Verbindungs- und Trennlinien von Neuer Sachlichkeit und italienischem Futurismus sind bisher noch wenig erforscht. Dessen Hauptvertreter Filippo Tommaso Marinetti hatte die Berliner Avantgarde schon während eines Besuches 1912 beeindruckt. Die Futuristen führten einen Technikenthusiasmus in die deutsche Literaturszene ein, der sich dann bei Brecht und vielen neusachlichen Autoren in den zwanziger Jahren wiederfand. Allerdings regte sich bereits vor dem Ersten Weltkrieg auch Kritik an diesem technikfixierten und -fetischistischen Programm und seinen Auswirkungen für die Literatur, zum Beispiel in den Stellungnahmen Alfred Döblins, der 1911 einen sehr kritischen „Offenen Brief an F.T. Marinetti“ unter dem Titel „Futuristische Worttechnik“ verfasste.

2. Zeitgenössische Kritik an der Neuen Sachlichkeit Die Neue Sachlichkeit als ein Versuch, radikal auf die Herausforderungen der zeitgenössischen Wirklichkeit zu reagieren und diese in adäquate literarische Formen zu übersetzen, reagierte auf die Kategorien der Innerlichkeit, der Subjektivität und des Pathos, die die Vorkriegsliteratur und den Expressionismus beherrscht hatten. Dabei war sie weder beim Publikum, das meist nach wie vor konventionelle Schreibweisen präferierte, noch bei den meisten Kritikern, die sich nur schwer an die ,kalte‘ Schreibweise gewöhnten, von Beginn akzeptiert. In der Konkurrenz der literarischen Richtungen besetzte die Neue Sachlichkeit ebenfalls nur einen gewissen Teil des Spektrums. Etablierte Autoren wie Thomas Mann oder Gerhart Hauptmann hielten Distanz zu ihr, aber auch wichtige Schriftsteller wie Gottfried Benn, der sich in seiner Stellungnahme „Über die Rolle des Schriftstellers in dieser Zeit“, 1929 in der Zeitschrift Die neue Bücherschau erschienen, gegen den Reportagestil eines „Journalisten von […] so oberflächlichem Hinsehn des Herrn Kisch“ (Benn 1986–2003, Bd. 3, 218) wandte. Von den späten 1920er Jahren an nahm die Kritik an der Neuen Sachlichkeit an Ausmaß, aber auch an Schärfe zu. Der Kabarettist und Schriftsteller Werner Finck drückte dies 1930 in Gedichtform aus Neue Herzlichkeit Wir stehen vor einer neuen Periode. Die Sachlichkeit verliert an Sympathie, die kalte Schnauze kommt schon aus der Mode; zurück zur Seele! Herz ist dernier cri. Der Schmerz darf einen wieder übermannen,

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

am Jüngling sucht die Jungfrau wieder Halt, das Unterleibchen wird sich nach und nach entspannen, und nur des Kriegers Faust bleibt noch geballt. (Finck 1999, 97)

Benjamins Aufsatz „Linke Melancholie“

Klingt in Fincks ironischer Diktion, die den aufscheinenden Militarismus schon antizipiert, die Kälte der Neuen Sachlichkeit als Modeerscheinung an, so entzünden sich um 1930 Debatten um die Neue Sachlichkeit, die vor allem auf die Politisierung der Literatur und die Fraktionierungen in der Linken verweisen, der sich die meisten neusachlichen Autoren, wenn auch oft diffus, zugehörig fühlen. In der früheren Forschung zur Neuen Sachlichkeit wurden die um 1930 vorgetragenen forcierten Angriffe von marxistischer und kommunistischer Seite – etwa von Lukács, Balázs, Alfred Kemény, Brecht und Benjamin – hervorgehoben. Um zu einem korrekten Bild zu gelangen, sollte aber im Blick behalten werden, dass die Kritik der rechtskonservativen, völkischen und bald auch nationalsozialistischen Kreise „wesentlich dominanter und aggressiver“ (Becker 2000a, 257) war. Die Fokussierung auf die marxistische Kritik um 1930 ist vor allem daraus zu erklären, dass es sich hier in gewisser Weise um eine ,interne‘ Diskussion innerhalb der Linken handelte, deren publizistische Organe (z.B. die Linkskurve) maßgeblich daran beteiligt waren. Auch die Wiederaufnahme des Sachlichkeitsdiskurses um 1970 vollzog sich in einem politischen Kontext der Linken, da die Brauchbarkeit von historischen, literarischen und theoretischen Modellen für die aktuellen politischen Bedürfnisse überprüft werden sollte. Benjamins Aufsatz, der speziell zu Kästners Gedichtsammlung Ein Mann gibt Auskunft (1930), insgesamt aber auch zu der Strömung der Neuen Sachlichkeit Stellung nahm, war zunächst von der Frankfurter Zeitung abgelehnt worden und erschien dann 1931 in der Zeitschrift Die Gesellschaft. Ähnlich wie Brecht zu dieser Zeit, so verstand auch Benjamin die Neue Sachlichkeit als Durchgangsstadium für eine wirklich gesellschaftlich relevante, progressive Literatur. Seine Fundamentalkritik ist offensichtlich literaturpolitisch motiviert, es geht ihr nicht um eine fundierte inhaltliche Auseinandersetzung mit den Gedichten Kästners oder anderer neusachlicher Autoren wie Mehring und Tucholsky, die explizit genannt werden. Die Neue Sachlichkeit, so lautet der Vorwurf, vertrete eine Gruppe eigentlich saturierter und von den Problemen der proletarischen Klasse weit entfernter ,Agenten‘ der Bourgeoisie, sie sei nicht mehr als die „proletarische Mimikry des zerfallenen Bürgertums“ (Benjamin 1977, Bd. 3, 280). Zwar gebärde sie sich kritisch und gar linksradikal, sei aber letztlich identifiziert mit den temporär auftretenden „geistigen Konjunkturen, vom Aktivismus über den Expressionismus bis hin zur Neuen Sachlichkeit“ (ebd.). Das auch später wiederholte Verdikt hat hier seinen Ursprung: Die neusachliche Literatur sei affirmativ, da ablenkend und politische Aktionen verhindernd (vgl. ebd., 281). Die Zuordnung der Produzenten wie Konsumenten neusachlicher Lyrik zur Gruppe der privilegierten Großstädter, die hier inmitten der tobenden sozialen Kämpfe ihre Unterhaltungsbedürfnisse befriedigen kann, wird am Schluss der Rezension noch radikalisiert: Kästners Gedichte sind Sachen für Großverdiener, jene traurigen schwerfälligen Puppen, deren Weg über Leichen geht. […] Diese Gedichte wimmeln von ihnen wie ein Citycafé nach Börsenschluß. Was Wunder,

2. Zeitgenössische Kritik

da sie ihre Funktion darin haben, diesen Typ mit sich selbst zu versöhnen und jene Identität zwischen Berufs- und Privatleben herzustellen, die von diesen Leuten unter dem Namen ,Menschlichkeit‘ verstanden wird, in Wahrheit aber das eigentlich Bestialische ist, weil alle echte Menschlichkeit – unter den heutigen Verhältnissen – nur aus der Spannung zwischen jenen beiden Polen hervorgehen kann. (Ebd., 283; zur Kritik an Benjamin vgl. Becker 2000a, 276; Fähnders 1998, 232) In mehreren Texten nahm der ungarische Filmtheoretiker Bela Balász, der sich in der Weimarer Zeit dem Kommunismus zugewandt hatte, zur Neuen Sachlichkeit Stellung. Wie für Benjamin im „Melancholie“-Aufsatz, so ist auch für ihn eine beanspruchte, aber nicht eigentlich durchgeführte Haltung von besonderer Bedeutung, ein Schwindel, der darin bestehe, „daß sich nämlich diese Sachlichkeit revolutionär gebärdet“ (in: Becker 2000b, 398). Balász wirft den Neusachlichen vor, zu „bloßen Registriermaschinen der Tatsachen [zu] werden“ (ebd., 397), dies aber sei unkünstlerisch, denn die Registrierung habe als solche keinerlei künstlerische Potenz, da die Aufgabe des Dichters die Deutung und Gestaltung des vorfindbaren Tatsachenmaterials sei (vgl. ebd., 399). Eben dies entspreche auch den Wünschen des politisch bewussten Proletariers: „Er will seine Dichter haben.“ (Ebd.) In ähnlicher Weise wie Balász urteilte auch Georg Lukács über die Neue Sachlichkeit: Der von ihr geschaffene ,Tatsachenroman‘ vernachlässige die für die künstlerische Qualität notwendige Gestaltung und könne so weder ästhetisch noch politisch befriedigen. Lukács, ebenfalls Parteigänger der Kommunisten geworden, nahm in seinem Aufsatz „Reportage oder Gestaltung?“ (1932) zu Ernst Ottwalts 1931 erschienenem justizkritischem Dokumentarroman Denn sie wissen, was sie tun Stellung. Mit dem Titel seiner Kritik trifft er bereits in den Kern der Auseinandersetzung, indem er die beiden Formen Reportage und Tatsachenbericht historisch wie strukturell herleitet. Beide Formen betrachtet er zunächst als legitim, kritisiert dann aber am Reportageroman die Fixierung auf die Reproduktion des Tatsachenmaterials und vermisst die „Gestaltung des Gesamtzusammenhanges“ (zit. n. Becker 2000b, 369). Eben diese „Gestaltung des Gesamtprozesses“ (ebd.) ist aber in seiner Sicht die Voraussetzung für das künstlerische Gelingen und auch die politische Funktionalität des Romans. Trotz der Ablehnung des bürgerlich-psychologischen Romans zeigt sich Lukács letztlich doch einer unterliegenden psychologisch und gesellschaftsanalytisch gerichteten Ästhetik des 19. Jahrhunderts verpflichtet, die er als Totalitätsvorstellung in seiner vor-marxistischen Theorie des Romans (1916) vertreten hatte. Interessanterweise bezweifelte auch Tucholsky von einem linksliberalen politischen Standpunkt aus (in der Weltbühne) den ästhetischen Wert des Romans, da er lediglich mit den Mitteln des frühen Naturalismus arbeite, hob jedoch dessen Wert im politischen Kampf hervor: „Das ist eine recht beachtliche Sache – weniger als künstlerische Leistung denn als gute Hilfe im Kampf gegen diese Justiz.“ (Tucholsky 1975, Bd. 3, 27) Ottwalt, der – ebenfalls in der Linkskurve – auf Lukács’ Kritik antwortete, betonte den funktionellen Charakter der proletarischen Literatur im politischen Kampf, sah das Vordringen des Reportageromans in der Publikumsgunst und die Angemessenheit dieser Form als Mittel der Veränderung, wobei literarische Qualitätsmaßstäbe in den Hintergrund

Die Kritik von Balász und die Kontroverse Lukács – Ottwalt

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Joseph Roths Verdammung der Neuen Sachlichkeit

treten müssten. „Unsere Literatur hat nicht die Aufgabe, das Bewusstsein des Lesers zu stabilisieren, sondern sie will es verändern.“ (In: Becker 2000b, 149) Mit Joseph Roth wendet sich ein prominenter Vertreter der Neuen Sachlichkeit gegen diese Strömung. Roth hatte neben seiner im engeren Sinne literarischen Tätigkeit bereits früh auch journalistisch gearbeitet, unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg in Wien, was er nach seinem Umzug 1920 nach Berlin fortsetzte. In dieser Zeit war er publizistisch äußerst aktiv, veröffentlichte Gerichtsreportagen, Reiseberichte, Beobachtungen aus dem Alltagsleben, Texte, in denen er, ohne sich einer politischen Ideologie zu verschreiben, seine Sympathien für die Unterdrückten und Deklassierten, die vom Weltkrieg Gezeichneten, und zugleich seine Ablehnung des wieder erstarkenden Militarismus durchscheinen ließ. Ist Roth also ein Pionier und Meister der Reportageform, so veröffentlichte er in den zwanziger Jahren auch Zeitromane, die stilistisch den Einfluss neusachlicher Schreibweise zeigen, etwa Das Spinnennetz (1923) und vor allem den 1927 veröffentlichten Roman Flucht ohne Ende, der den Untertitel Bericht trägt und den Roth mit einem Vorwort versah, das das neusachliche Programm in nuce enthält: Im Folgenden erzähle ich die Geschichte meines Freundes, Kameraden und Gesinnungsgenossen Franz Tund. Ich folge zum Teil seinen Aufzeichnungen, zum Teil seinen Erzählungen. Ich habe nichts erfunden, nichts komponiert. Es handelt sich nicht mehr darum zu ,dichten‘. Das Wichtigste ist das Beobachtete. (Zit. n. Fähnders 1998, 236) Die Veröffentlichung von Roths Aufsatz „Schluß mit der Neuen Sachlichkeit“ in der Literarischen Welt (1930) kann als ein singulärer Akt der Distanzierung verstanden werden (so Becker 2000a, 149). Ähnlich gerichtet wie Lukács, wenn auch nicht politisch, sondern ästhetisch motiviert, wirft Roth der Neuen Sachlichkeit vor, die „künstlerische Gestaltung“ (in: Becker 2000b, 316) außer Acht zu lassen: „Das Wirkliche begann man für wahr zu halten, das Dokumentarische für echt, das Authentische für gültig.“ (Ebd.) Die Literaten entsprächen zwar dem Publikumsgeschmack, indem sie auf das Faktisch-Dokumentarische und die Sensation setzten, damit aber verfehlten sie notwendig den künstlerischen Anspruch: „Der Künstler muß den Leser besiegen, einfangen, durch Täuschung, mit Gewalt, durch Überrumpelung.“ (Ebd., 317) Roths Abrechnung mit dem dokumentarischen ,Augenzeugen‘-Schreiben der Neuen Sachlichkeit, die eine transnationale Perspektive auf die französische und russische Literatur umfasst, auch den Amerikanismus einbezieht und sich auf die Behandlung des Krieges konzentriert, markiert letztlich den Rückgang zu einer ästhetischen Vorstellung, für die die „Identität der Form und des Inhalts“ (ebd., 323) konstitutiv ist und die deshalb die angebliche Formlosigkeit der neusachlichen Produkte mit einer „Gehaltlosigkeit“ gleichsetzt.

3. Gattungen und Präsentationsformen Ziel der neusachlichen Literaturpraxis ist die „theoretisch genau fundierte Tatsachendarstellung“ (Haas, in: Becker 2000b, 291). Von daher stellt sich

3. Gattungen und Präsentationsformen

die Gattungsfrage nicht mehr in einem abstrakt-poetologischen Sinne, wie etwa bei der noch im Expressionismus vorherrschenden Vorstellung eines autonomen ästhetischen Bereichs. Die Neue Sachlichkeit lässt sich in allen literarischen Gattungen nachweisen, auch wenn in der zeitgenössischen Rezeption und auch später vor allem narrative und lyrische Formen beachtet wurden. Allerdings war es schon seit dem späten 19. Jahrhundert zu einer Vermischung der Gattungen gekommen, was sich etwa in der Verbreitung von Mischtypen wie der Tragikomödie manifestierte. Antiklassizistische und auch antinaturalistische Autoren wie Wedekind, Panizza, Strindberg u.a. öffneten das Drama den neuen Unterhaltungskünsten, etwa dem Circus, dem Kabarett oder dem Varieté. Allerdings bringt erst die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg die Bedingungen für die universelle Entfaltung einer sozial relevanten Tatsachenkunst hervor. Die vorgestellten Leser, Hörer oder Zuschauer sollen sich zunehmend aus der kontemplativen Position des passiv Rezipierenden lösen und die neue Rolle eines aktiv Agierenden, das sprachliche oder auch visuelle Produkt ,benutzenden‘ Akteurs besetzen. Die Wendung gegen den auratischen Kunstbegriff fasst Walter Benjamin in seinem Aufsatz „Literaturgeschichte und Literaturwissenschaft“ von 1931 drastisch: „In diesem Sumpfe ist die Hydra der Schulästhetik mit ihren sieben Köpfen: Schöpfertum, Einfühlung, Zeitentbundenheit, Nachschöpfung, Miterleben, Illusion und Kunstgenuß zu Hause.“ (Benjamin 1977, Bd. 3, 286) Den ästhetischen Leitlinien der Neuen Sachlichkeit liegen Gebrauchswertkategorien zugrunde, die traditionell als kunstfremd verstanden werden. Die jetzt neu entstehenden oder bereits ausdifferenzierten Genres sind vor allem durch ihren Objektivitätsanspruch, der freilich keineswegs immer eingelöst wird, und ihren unmittelbaren Zeitbezug determiniert, stellen sich meist als Mischprodukte dar, verzichten auf eine gegebene ästhetische Fallhöhe und beziehen außerliterarische Versatzstücke ein. Bevorzugt werden deshalb Stoffe, die offen für veristische Gestaltungsmöglichkeiten sind, wobei die Realitätsdichte der Vorlage oder des Themas der Maßstab ist. Daraus resultiert die Präferenz der diversen Formen erzählender Prosa, da diese schon traditionell der Berichtsform nahe stehen. Eine stärkere formale Umgestaltung erforderten die lyrische wie die dramatische Gattung, die mehr von traditionellen Stilkonventionen geprägt waren. Die Konzentration auf das lyrische Ich und seine Innenproblematik musste aufgegeben werden, ebenso die Frontstellung des Ausnahmeindividuums im Drama. Literarische und publizistische Ausdrucksformen nähern sich an, Raumökonomie fungiert als Wertkriterium wie beim Roman, der, so der Psychologe Giese, analog zum Telefongespräch immer kürzer werde (vgl. Giese 1925, 53, s. auch Becker 2000a, 172). Von diesen Bestimmungen her ergeben sich die dominierenden Gattungen und Genres der neusachlichen Literatur: Zeitroman, Reportage (s. ausführlich unter V, 3), Bericht in der Epik, Zeitstück und dokumentarisches (politisches) Theater und die Gebrauchslyrik. Mit der Aktualität des Kinos und der großen Tageszeitungen konnte das Theater schon bald nicht mehr mithalten. Die Kinowochenschau wurde immer beliebter, ab 1925 gab es die Ufa-Woche und ähnliche Programmteile. In der Medienkonkurrenz schien sich die Theaterform nur durch eine Aktua-

Zeitstück

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

lisierung behaupten zu können: Das Zeittheater entstand. Nicht nur beherrschte es zeitweise die Großstadtbühnen, es wurde auch Element der politischen Diskurskultur und trug mitunter sogar zu realen Veränderungen bei. Dabei reichten die Absichten der – heute meist vergessenen – Dramatiker und Theatermacher von einem eher allgemeinen Impetus zur Information und zur Schaffung eines kritischen Bewusstseins bis hin zum Einsatz des Dramatischen im direkt politisch-agitatorischen Sinne, wie es in Friedrich Wolfs berühmtem Aufsatz „Kunst ist Waffe“ von 1928 bereits im Titel ausgedrückt ist. Ähnlich wie in den anderen Gattungen ging es auch im Drama um eine operative Kunst, wurde auch hier vor allem gegen die idealistische Autonomieästhetik gearbeitet, die das Theater noch weitgehend beherrschte. Dies betraf, neben dem ,klassischen‘ Repertoire, vor allem die expressionistische Dramatik, der nun hohles Pathos und deklamatorische Realitätsenthobenheit vorgeworfen wurde (vgl. Boyle 2009, 180). Allerdings blieben dominierende Vertreter einer vom Expressionismus und allgemein der Ausdruckskunst beeinflussten Vorkriegstheaterkultur (Leopold Jessner, Max Reinhardt) auch in der Weimarer Zeit im Berliner Großstadttheater tonangebend, zumal sie sich in Stoffwahl wie Dramaturgie den neuen Themen und Präsentationsweisen annäherten. Bereits zu Beginn der Weimarer Zeit entstanden Zeitstücke von Dramatikern, die im expressionistischen Kontext begonnen, sich nun aber politisiert und zugleich den neuen realistischen Tendenzen angeglichen hatten: Stücke wie Georg Kaisers Nebeneinander (1923), vor allem aber Ernst Tollers Heimkehrerdrama Hinkemann (1923), das Günther Rühle als das erste deutsche Zeitstück ansieht (vgl. Rühle 2007, 541). Dominierend vor allem im Großstadttheater ist das Genre dann ab 1927 bis Anfang der 1930er Jahre (vgl. Becker 2000a, 149; Stürzer 1993, 15). Vorgearbeitet hatten allerdings bereits zentrale Figuren des Weimarer Theaterlebens, die zwar kaum der Neuen Sachlichkeit insgesamt zugerechnet werden können, diese jedoch entscheidend beeinflussten: Bertolt Brecht, der sich als junger Autor schnell und radikal vom expressionistischen Theater lossagte und konsequent seine eigene Theaterform entwickelte, das nicht-aristotelische, anti-illusionistische epische Theater. Gegenwärtigkeit, Aktualität und Eingriff in die Wirklichkeit will auch Brecht, aber er setzt sich von bestimmten Zügen des Neusachlichen klar ab, insbesondere von einer angenommenen affirmativen, gesellschaftlich konservativen Tendenz. Andererseits aber erscheint die Richtung ihm notwendig als „unabdingbares Durchgangsstadium auf dem Weg zu einer dialektischen Literatur“ (Becker 2000a, 266). Wie schon in Brechts berühmtem Motto „Glotzt nicht so romantisch“, das auf Transparenten während der Uraufführung des Stücks Trommeln in der Nacht 1922 zu sehen war, ging es dem jungen Dramatiker um eine neue, antiromantische – und antiexpressionistische – Sehhaltung des Publikums, die vor allem auch durch Bauart und Aufführungspraxis der Stücke hervorgerufen werden sollte. Zwei der Grundgedanken der Neuen Sachlichkeit bilden auch für Brecht die Basis: Objektivitätsanspruch und Gebrauchswertpostulat. Allerdings sollte dies nicht zu einer punktuellen Sicht gesellschaftlicher Verhältnisse führen, sondern zu einem gründlichen Durchschauen und schließlich auch zur Veränderung. Brecht bezeichnete seine Darstellungsform als ,Theater des wissenschaftlichen Zeitalters‘, Beobachtung und Experiment, also grundlegende

3. Gattungen und Präsentationsformen

neusachliche Operationen, bildeten das Fundament, psychologische Einfühlung und Identifikation mit den Bühnenfiguren, auch die Illusionsmomente, traten in den Hintergrund. Gegenüber der Sachlichkeit als Richtung blieb Brecht ambivalent. Zwar vermerkt er 1930 positiv die Abschaffung von Sentimentalismus und Klischee: „Die Theater können viel zuwenig, als daß sie noch lang etwas anderes machen könnten als etwas rein Sachliches. Die Sachlichkeit wird kommen, und es wird gut sein, wenn sie kommt […], vorher kann man gar nichts weiter unternehmen […].“ (Brecht 1988–2000, Bd. 21, 356) Aber das neusachliche Drama erscheint ihm nur als Zwischenschritt, da es den Anspruch einer tiefergehenden, wissenschaftlichen Analytik nicht einlösen könne. Das Zeitstück blieb in Brechts Sicht auf der Stufe bürgerlicher Öffentlichkeitsformen in Analogie zum Parlament (vgl. Brecht 1988–2000, Bd. 22, 170). Die zweite zentrale Figur im gesellschaftlich engagierten Theater der 20er Jahre war Erwin Piscator, der schon kurz nach dem Ersten Weltkrieg Mitglied der neu gegründeten Kommunistischen Partei geworden und nach mehreren Versuchen ab 1924 als Oberspielleiter der Volksbühne am Bülowplatz in Berlin tätig war, dann ab 1927 Chef der Piscator Bühne am Nollendorfplatz wurde, wo er seine Vorstellungen weiter entwickeln konnte. Piscator nahm in sein Konzept eines Politischen Theaters, das zugleich parteilich sein sollte, vor allem neue Formen der Theatertechnik auf, die Parallelen zu den Versuchen der Neuen Sachlichkeit aufweisen. Dies zeigte sich an der Adaption von sowjetischen Revolutionsstücken und Klassikern – etwa Schillers Räuber –, aber vor allem auch an der Integration gegenwartsbezogener Dramen. Hier wurde die alte, auf die Schauspielerinteraktion zentrierte Bühnensprache abgelöst durch eine Form, die sich der neuen massenmedialen Darstellungsmittel bediente, wie Dia- und Filmprojektionen, Zwischentitel und Musik. Auf Piscators Bühne wurde eine Reihe von Zeitstücken aufgeführt, etwa Konjunktur (1928) und Gott, König und Vaterland (1930), von Leo Lania oder das stark beachtete Stück Fahnen (1924) von Alfons Paquet, das den anarchistischen Aufstand im Kampf um den Achtstundentag 1886 in Chicago behandelte. Piscator wollte an diesem frühen Tendenzstück die politischen Vorgänge aufklären, die Zuschauer zur Reflexion anregen und zu Stellungnahmen herausfordern, er verwendete also bereits die Mittel des epischen und eines argumentativ-parteilichen Theaters (vgl. Rühle 2007, 496). Der revolutionäre Inhalt, aber auch die Bauart kam Piscator entgegen: „Der Autor hatte die Vorgänge in sachlicher Weise und ohne dichterische Prätention in eine Art von szenischem Bilderbogen gefaßt.“ (Piscator 1979, 61) Die Aufführung der Fahnen am 26. Mai 1924 an der Berliner Volksbühne erwies sich als großer Erfolg. In seinem Bericht über die Aufführung beschreibt Piscator die Bühnentechnik der projizierten Zwischentexte und der Filmprojektion, hebt aber vor allem den sachlichen Gestus hervor: „Es war meines Wissens das erste Mal, daß Lichtbildprojektionen in diesem Sinne im Theater verwendet wurden. Im übrigen beschränkte ich mich darauf, das Stück […] so klar und sachlich wie möglich herauszustellen.“ (Ebd., 63) Piscator, der zahlreiche neusachliche Dramatiker bekannt machte, schuf einen modernistischen Inszenierungsstil, mit dem sich zwei Ziele der Autoren realisieren ließen: ein Theater mit hohem Informationsgehalt und dem Potenzial zur politischen Bewusstmachung. Für die Inszenierung von Ehm Welks Zeitstück

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Gewitter über Gotland und Ernst Tollers Revue Hoppla, wir leben! (beide 1927) wurden die Visualisierungstechniken weiter entwickelt, wodurch das Geschehen aus dem Bereich des Individuellen ins Gesellschaftliche erweitert und zur Veränderung aufgerufen wurde (vgl. Toeplitz 1987, 420ff.). Brecht und Piscator sind als Anreger für das neusachliche Zeitstück von Bedeutung, wichtig sind aber auch die Unterschiede zu den Zeitstückautoren: Piscator etwa erprobte seine Theaterauffassung an klassischen wie modernen Stücken, im Gegensatz zur eher konventionellen Machart vieler Zeitstücke experimentierte er immer wieder mit neuen Ausdrucksformen. Zudem vertrat er eine eindeutige weltanschauliche Tendenz auf der Basis des Marxismus, die den neusachlichen Zeitstücken im Allgemeinen fehlt (vgl. Jung-Hofmann 1999, 30). Die Entliterarisierung des Theaters in Richtung eines multimedialen Gesamteindrucks wurde von den Zeitstückautoren nicht mitgetragen, die weiterhin die lineare aristotelische Bauform bevorzugten. Ist das Theater von Brecht und Piscator durch die Verbindung von Experimentierlust und Gesellschaftskritik gekennzeichnet – der Einfluss von Stanislavskij, Artaud, Mejerchol’d und insgesamt der russischen Revolutionskunst spielt eine wichtige Rolle –, so arbeiten die von der Neuen Sachlichkeit inspirierten Zeitstückautoren in stärkerem Maße punktuell, auf einzelne Probleme und Ereignisse bezogen, weshalb sie später schnell vergessen wurden. Eine Einheitlichkeit des Genres Zeitstück kann nicht in formaler, sondern nur in intentionaler Hinsicht festgestellt werden. Versuche, das Zeitstück in dramaturgischer oder politischer Hinsicht zu fixieren, sind gescheitert (vgl. Jung-Hoffmann 1999, 15, 39). Genrespezifisch ist der Versuch, eine Situation oder Problematik durchschaubar zu machen, sie in einem gewissermaßen journalistischen Sinne auf die Bühne zu bringen und – häufig rhetorischpersuasiv – eine Lösung zu offerieren. Die Zeitstücke, die ab 1927 massenhaft auf die Bühnen kamen und häufig zu vehementen Debatten führten, unternahmen es, die Zeit zu diagnostizieren und mit ihr ins Gericht zu gehen (vgl. Rühle 2007, 542). Sie waren zum großen Teil von linken – etwa Friedrich Wolf und Peter Martin Lampel – oder linksliberalen Autoren verfasst – z.B. der sehr erfolgreiche Ferdinand Bruckner –, aber auch mit den Nationalsozialisten sympathisierende Dramatiker nahmen sich zeittypische Sujets vor, oft zu propagandistischen Zwecken wie Hanns Johst mit seinem Schlageter-Stück (1933). Nimmt man die vorherrschenden Themen in Augenschein, so zeigt sich, dass es dieselben waren, die in der Spätphase der Weimarer Republik auch die Presse beherrschten. Vor allem Justizprobleme, etwa in Bruckners Die Verbrecher, 1928, uraufgeführt 1927, und darunter besonders die leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen um die Abschaffung des § 218 des Strafgesetzbuches wurden aufgegriffen: Neben Wolfs Cyankali (1929) sind Stücke von Carl Credé (§ 218 – Gequälte Menschen, 1929), Hans José Rehfischs Der Frauenarzt (1928) oder Thea Vogt-Wenzels In Not (1928) zu nennen. Ein weiterer Schwerpunkt der Zeitstückproduktion sind die Probleme einer entwurzelten, vaterlos aufgewachsenen und richtungslosen Jugend, oft auch von Studenten, zu denen etwa Ferdinand Bruckner (Krankheit der Jugend, 1926) mehrfach thematisch zurückgekehrt ist. Behandelt werden auch der Weltkrieg und die darauf folgenden revolutionären Ereignisse, zu-

3. Gattungen und Präsentationsformen

sammen mit der Heimkehrerproblematik, der Separatistenbewegung an Rhein und Ruhr, Inflation, Militarismus mitsamt illegaler Aufrüstung und gegen Ende der zwanziger Jahre dann vermehrt die Probleme von Arbeitslosigkeit und Wohnungsnot (vgl. die Aufstellung bei Jung-Hofmann 1999, 24–30). Gegenüber dem „operativen Kunstverständnis“ (Jung-Hofmann 1999, 68), also einer direkten Wirkungsabsicht, traten bei den Zeitstückautoren ästhetische Erwägungen zurück. Deshalb wirken die Zeitdramen zum Teil wenig durchkomponiert, bestimmt zum schnellen Verbrauch, auch hier Presseerzeugnissen ähnlich. Von konservativer Seite wurde immer wieder der Vorwurf der Tendenzhaftigkeit erhoben. So führte die neusachliche Zeitschrift Der Scheinwerfer im November 1928 eine Umfrage unter der Überschrift „Soll das Drama eine Tendenz haben?“ durch. Der Zeitstückautor Rehfisch behauptete, jedes Stück habe notwenig eine Tendenz, entweder in beharrender oder verändernder Richtung. Ähnlich äußerte sich Toller (vgl. Schütz/ Vogt 1986 102–126) und in derselben Umfrage betonte Friedrich Wolf die Notwendigkeit, gegenüber den überkommenen ,Ewigkeitswerten‘ die Aktualität des Tages auf die Bühne zu bringen und parteilich zu gestalten, „aus dem Geist der Arbeiterbewegung und der Arbeiterkämpfe“ (ebd., 123; vgl. auch Jung-Hoffmann 1999, 71). Wenn auch zahlreiche Zeitstücke weiterhin eher einer mimetischen Einfühlungsästhetik verpflichtet sind und im formalen Aufbau den Gesetzen des traditionellen Theaters gehorchen, so ist doch auch hier ein „Formenpluralismus“ (ebd. 73) festzustellen, der aus unterschiedlichen Absichten der Dramatiker resultiert. Die bis dato ungekannte Ausdifferenzierung und Diversifizierung der erzählenden Genres in der Weimarer Zeit bringt eine Vielzahl an prinzipiell realistischen narrativen Formen hervor (vgl. Becker 2008). Der Roman der Neuen Sachlichkeit ist spezialisiert insofern, als Subgenres entstehen, die auf den Themenbereich (Zeitroman, Angestelltenroman, Sekretärinnenroman, Presseroman etc.) oder aber auf die journalistische Ursprungsform verweisen wie beim Reportageroman. Dies zeigt die zunehmende Spezialisierung sowohl der Autoren als auch der Leserschaft und die Milieubindung auf der Basis des sich ausdifferenzierenden literarischen Marktes, was man etwa an der Formierung einer neuen Leserschicht aus Angestellten und Frauen oder an der Entstehung von gewerkschaftlichen Buchgemeinschaften wie der Büchergilde Gutenberg und dem Bücherkreis sehen kann. Im Gegensatz zum Expressionismus, der relativ wenige, häufig experimentelle Romane hervorbrachte (z.B. Carl Einstein) und in dem die lyrischen Formen dominierten, lässt sich für die literarische Produktion der mittleren und späteren Weimarer Jahre eindeutig ein Übergewicht der narrativen Prosa feststellen (vgl. Klotz 1972, 250). Vor dem seinerseits stark episierten Drama ist der Roman die „triftigste literarische Ausdrucksform“ (ebd., 252) der Neuen Sachlichkeit, da hier gattungsbedingt die Außen- und Objektwelt eine zentrale Rolle spielt und der Autor tendenziell gegenüber dem Dargestellten zurücktritt. Allerdings zeigt die Anlage der meisten Romane Unterschiede zu denen des Realismus oder Naturalismus, dies vor allem darin, dass der „weite epische Atem“ (ebd., 254) fehlt, d.h. ausschnitthaft und nicht panoramisch erzählt wird, wodurch etwa weit ausgreifende Generationenromane oder auch bildungsromanähnliche Formen nicht mehr entstehen. Werden auch

Zeit- und Angestelltenroman

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

die Gattungsbezeichnung Roman und der fiktionalen Rahmen meist beibehalten, so handelt es sich doch um eine ,mutierte‘ Romanform, die der allgemein neusachlichen Tendenz zur Öffnung der epischen Genres hin zu journalistischen Schreibweisen entgegenkommt (vgl. dazu Becker 2000a, 226). In ihrer formal-strukturellen Ausführung tendiert die neusachliche Epik zur Rücknahme der experimentellen Verfahrensweisen, die den Roman – stärker noch als das Drama – zu einer paradigmatischen Form der Avantgarde-Literatur gemacht hatte. Der neusachlichen Epik fehlt weitgehend die sprachreflexive und autoreferentielle Dimension; die nun zentral eingesetzte faktuale, plot- und objektzentrierte Erzählform lässt den Erzähler (Autor) stark hinter dem Erzählten zurücktreten, eine Tendenz, die als Forderung bereits in Döblins „Berliner Programm“ von 1913 ausgedrückt ist (vgl. Renzi 2007, 183). Döblin bildet in gewisser Weise die Verbindung von der expressionistisch-experimentellen zur neusachlich-objektivistischen Erzählform mit ihren hervortretenden Montageelementen, die in Berlin Alexanderplatz, den neusachlichen Horizont allerdings weit hinter sich lassend, in einer Totalität realisiert werden (zu den Widersprüchen „zwischen praller Alltagsschilderung einerseits und höchsten Dichtungsansprüchen Döblins andererseits“ vgl. ebd, 2007, 191). Ästhetische Avanciertheit prägt die neusachliche Romanform nicht, selbst der ,Musterroman‘ Fabian von Erich Kästner ist durchgängig linear erzählt und verzichtet weitgehend auf experimentelle Darstellungsformen. Wenn auch neue Leserschichten erschlossen werden, so spricht man doch andererseits von einer Krise des Buchs in der neuen Medienkonkurrenz. So meint der Verleger Samuel Fischer 1926: „Man treibt Sport, man tanzt, man verbringt die Abendstunden am Radioapparat, im Kino, man ist neben der Berufsarbeit vollkommen in Anspruch genommen und findet keine Zeit, ein Buch zu lesen.“ (Zit. n. Schütz 2007, 369) Neben dem Hinweis auf die Zeitökonomie stellt der Rekurs auf die Kriegserfahrung ein gewichtiges Argument gegen den traditionellen Roman dar, so bei Kisch: „Nach dem Krieg sind alle Romankonflikte nichtig geworden, gemessen an den überwältigenden Erlebnissen des ersten Weltkriegs.“ (Kisch 1993, Bd. 11, 437) Gerade hieraus ergeben sich allerdings die Versuche, neue narrative Formen zu entwickeln, die diese Erfahrung adäquat ausdrücken. So charakterisiert Hermann Kesten im Vorwort zur von ihm herausgegebenen Sammlung 24 neue deutsche Erzähler (1929) die junge Schriftstellergeneration genau aus dieser Erfahrung heraus: „Es gibt heute […] eine Reihe junger Schriftsteller, die alle erst seit zwei oder drei Jahren oder hier zuerst heraufkamen, junge Leute, die noch den Schauder eines sogenannten Weltkrieges in den Sinnen, im Herzen, im Kopfe tragen wie Greise einen Rheumatismus in den Gelenken […].“ (Kesten 1929, 9) Die Implikationen der Gattungsdiskussion zeigen sich etwa in einer von Hans Tasiemka durchgeführten Rundfrage zum Thema „Reportage und Dichtung“, die 1926 in der Literarischen Welt erschien. Prominente Autoren wurden befragt, ob sie glaubten, die epische Literatur werde von der Reportage „entscheidend beeinflußt werden“ (in: Becker 2000b, 165f.) und ob sie Buch oder Zeitung für wesentlicher hielten. Die Antworten sind sehr uneinheitlich. Max Brod, Leonhard Frank und auch Döblin vertreten den antijournalistischen Standpunkt, die Reportageformen werden von den meisten als

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letztlich doch inferior gesehen. Einen radikal anderen Standpunkt vertritt bemerkenswerterweise ein (überwiegend) bildender Künstler, George Grosz, der auf den idealistischen Dichtungsbegriff der Vorkriegszeit hinweist, dann aber auch auf die großen amerikanischen Gegenwartsautoren Upton Sinclair und Sinclair Lewis, und der eine Entwicklung in Richtung der dokumentarischen Literatur auch für Deutschland vorhersagt: „Damit zeigt sich, daß tatsächlich die Form der Reportage mit der Zeit entscheidenden Einfluß gewinnen wird.“ (Becker 2000b, 167) Die Varietät der durch die Neue Sachlichkeit geprägten Romantypen lässt sich typologisch in folgender Weise fassen: Frauenroman

Marieluise Fleißer: Mehlreisende Frieda Geyer; Irmgard Keun: Gilgi, eine von uns; Irmgard Keun: Das kunstseidene Mädchen; Vicki Baum: stud. chem. Helene Willfüer; Joe Lederer: Das Mädchen George Angestelltenroman Erich Kästner: Fabian; Hans Fallada: Kleiner Mann, was nun?; Martin Kessel: Herrn Brechers Fiasko; Gabriele Tergit: Käsebier erobert den Kurfürstendamm Film- u. Starroman Arnolt Bronnen: Film und Leben Barbara La Marr Sekretärinnenroman Rudolf Braune: Das Mädchen an der Orga-Privat; Christa Anita Brück: Schicksale hinter Schreibmaschinen Arbeitslosenroman Albert Klaus: Die Hungernden; Bruno Nelissen-Haken: Der Fall Bundhund Sportroman Kasimir Edschmid: Sport um Galgaly; Rudolf Stratz: Lill. Der Roman eines Sportmädchens (Anti-)kriegsroman Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues; Ludwig Renn: Krieg; Ernst Glaeser: Jahrgang 1902; Arnold Zweig: Der Streit um den Sergeanten Grischa; Edlef Köppen: Heeresbericht Industrieroman Franz Jung: Gequältes Volk; Erik Reger: Union der festen Hand Großstadtroman Franz Hessel: Heimliches Berlin; Siegfried Kracauer: Ginster

Trotz der Unterschiedlichkeit der verschiedenen Genres lassen sich einige Gemeinsamkeiten in den Merkmalen des Zeitromans festhalten (ausführlich vgl. Becker 1995): Gemäß der Grundabsicht einer fast reportagehaften, journalistischen Berichtweise sind die Romane zumeist linear aufgebaut und begrenzt in Raffungen, Dehnungen, Einschüben, Exkursen etc. Die Montageformen sind oft – ähnlich wie beim narrativen Spielfilm – indirekt, Schnitte werden – im Gegensatz zum experimentellen Roman – oft nicht sichtbar gemacht (invisible cut). Die Handlungsverläufe in den Zeitromanen sind zumeist überschaubar und klar gegliedert. Eine Fokussierung auf eine Zentralfigur ist oft vorhanden, die Heldinnen oder Helden der Romane sind aber durchweg gebrochen, von Träumen und Hoffnungen bestimmt, die sich in der Realität nicht erfüllen lassen, sind sie eher passiv und richtungslos, teilweise fremdbestimmt. Die Dürftigkeit in der Ausstattung der Hauptpersonen

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Gebrauchslyrik

kontrastiert mit deren Reaktions- und Bewegungspotenzial, das sie in der Konfrontation mit diversen gesellschaftlichen Milieus – Begegnungen, die oft flüchtigen Charakter haben – an den Tag legen. Die Personen werden zum Teil stark typisiert und fungieren eher als Rollenträger denn als individuelle Charaktere, wie es etwa im Angestelltenroman der Fall ist. Im Mittelpunkt steht die Konfrontation mit den aktuellen sozialen Verhältnissen oder den Auswirkungen gesellschaftlicher Modernisierung allgemein, woraus sich Identifikations- wie auch Distanzierungsmöglichkeiten für den Leser (oder die Leserin) bezüglich des Erwartungshorizonts ergeben. Gegenüber der Schilderung innerer Zustände konzentriert sich die Narration auf äußere Vorgänge. Die Sprache ist am Alltäglichen orientiert, Pathos und Emphase werden eher vermieden, Signale werden gesetzt, die häufig aus dem Bereich medial vermittelter Bildhaftigkeit stammen, es finden sich Zitate aus Kino, Radio oder Populärmusik. Indem diese Formen eingesetzt werden, nähern sich die Zeitromane strukturell den Formen massenhafter Unterhaltungsund Informationsprodukte an: dem Trivialroman mit festgelegten Spannungsbögen und dem Operieren mit bestimmten Klischees und Topoi, der Serialität von Zeitungs- und Zeitschriftenfiktionen, der ,Traumproduktion‘ im Unterhaltungsfilm (s. Kracauer). Qualitativ bestehen große Unterschiede, etwa zwischen Kästners Fabian und den Büchern von Christa Anita Brück. Zwar gibt es auktoriale Züge, im Allgemeinen aber versuchen die Erzähler die Haltung eines reinen Berichterstatters einzunehmen. Die Forderung nach Aktualität bedingt eine Zurückdrängung der historischen Erzähldimension, die nicht – wie im traditionellen psychologischen Gesellschaftsroman – durch Rückblenden, Binnenreflexionen, innere Monologe u.Ä. in den Erzählvorgang integriert wird. Sehr unterschiedlich sind auch Haltungen zur Politik, die von der ,unpolitischen‘ Position Falladas bis zur klar sozialkritisch-linken Darstellungsweise Braunes reichen. Liebe als Zentralkomplex des bürgerlichen Romans spielt zwar auch im Zeitroman eine Rolle, sie erscheint aber oft eher akzidentell als schicksalhaft, tragische Verläufe bleiben die Ausnahme. Überhaupt stehen zwar persönliche Schicksale im Mittelpunkt – an ihnen werden die Auswirkungen der sozialen und urbanen Entwicklung gezeigt – allerdings fehlt in fast allen Fällen eine fundierte psychologische Einsicht, kein indirekt steuernder und allwissender Erzähler ist im Hintergrund erkennbar. Es besteht ein Pakt zwischen Autor(-Intention) und Leser(-Erwartung), die beide auf ein mittleres Maß gestimmt sind. Gegenüber einer gesteigerten Subjektivität im expressionistischen Figurenarsenal wird nun gerade eine unpersönliche und damit objektivistische Charakterisierungstechnik favorisiert. Die Lyrik war die zentrale Gattung des expressionistischen Jahrzehnts, sie eignete sich in besonderer Weise zum subjektiven Gefühlsausdruck wie zur formalen Innovation, dem Sprachexperiment. Zwar gingen die neuen Lebensformen und Modernisierungsfolgen in die expressionistische Lyrik ein – sie bestimmten sie sogar in starkem Maße, was den Aufschwung einer Metropolenlyrik anging (Heym, Benn, Lichtenstein, v. Hoddis u.a.) – aber das geschah meist in einem überhöhten Modus, der für die Rezeption Ergriffenheit oder doch wenigstens emotionale Gestimmtheit voraussetzte. Gegen diese Position gab es schon in der Spätphase des Expressionismus selbst Widerstände. Angesichts der nun spürbaren Brutalitäten des Kriegs und seiner

3. Gattungen und Präsentationsformen

Folgen erschien das expressionistische Pathos hohl und menschenfeindlich, abgehoben von den Schicksalen der Leidenden. Yvan Goll, der die expressionistische Richtung programmatisch stark mitgeprägt hatte, meinte in einem Beitrag für die Zeitschrift Zenit, dass diese Bewegung es nicht vermocht habe, auch nur einen von sechzehn Millionen Menschen zu retten, das humanistisches Postulat also nicht erfüllen konnte (vgl. Anz/Stark 1982, 109). Der Expressionismus als bürgerliche Protest- und Jugendbewegung wie als Richtung der experimentellen Avantgarde blieb gebunden an die zwar innerlich ausgehöhlte, maskenhafte, aber zugleich materiell wie geistig noch relativ saturierte wilhelminische Phase. Die neuen Verhältnisse mit wirtschaftlicher Not, Druck von außen, politischen Wirren und kollektiver Richtungslosigkeit nach der Kapitulation verlangte nach einer Lyrik, die nicht nur abstrakt Sinngebung versprach, sondern bei der Bewältigung der drängenden Zeitfragen hilfreich sein konnte. Allerdings ist die lyrische Szene in der gesamten Weimarer Republik sehr unübersichtlich – mehr noch als in den anderen Gattungen. Kann zwar insgesamt von einem Bedeutungsverlust der lyrischen Formen in der Öffentlichkeit nach 1918 (vgl. Korte 1995, 618) gesprochen werden, so zeigt sich bei näherer Betrachtung dennoch eine große Vielfalt: Brecht ist früh auch im Gedicht präsent, aber auch Autoren aus dem expressionistischen Umkreis, die sich teilweise – wie Goll oder in anderer Weise auch Benn – neu orientieren, vor allem auch die beiden maßgebenden Poeten der Vorkriegszeit: Rilke und George. Lyriker, die explizit der Neuen Sachlichkeit zuzurechnen sind, – Tucholsky, Kästner, Mehring, Kaléko – treten im Laufe der 1920er Jahre hervor und erreichen Breitenwirkung. Ab 1930 ist dann von einer ,traditionalistischen Wende‘ die Rede, die sich in der Naturlyrik von Autoren wie Loerke und Lehmann, im sog. Magischen Realismus, im Kreis um die in Dresden erscheinende Zeitschrift Die Kolonne manifestiert (vgl. Korte 1995, 618). Benn lässt sich keiner der Richtungen zuordnen, er wendet sich jedenfalls bei mehreren Gelegenheiten gegen die neusachlichen Schreibweisen, wie hier in Anspielung auf Brecht: „Ich persönlich bin gegen Amerikanismus. Ich bin der Meinung, daß die Philosophie des rein utilitaristischen Denkens, des Optimismus a tout prix, des ,keep smiling‘, des dauernden Grinsens auf den Zähnen, dem abendländischen Menschen und seiner Geschichte nicht gemäß ist.“ (Benn 1986–2003, Bd. 3, 487) Diese Ablehnung amerikanisierter lyrischer Formen richtet sich implizit gegen extreme Versuche in diese Richtung wie Walter Mehrings Gedicht „Tempo-Synkopen“ aus dem Ketzerbrevier von 1921: „La chanson – the song / haben nicht nur eine / ehrenwürdige Tradition, / sondern auch eine gloriose / Zukunft. Führen sie uns / doch zur kommenden Dichtung: / dem internationalen Sprachen- / ragtime …“ (zit. n. Schuhmann 1995, 121). Obwohl zwischen 1919 und 1921 eine große Zahl von Lyrikbänden publiziert wurde, gab es gleichzeitig eine Diskussion darüber, inwieweit das Gedicht als literarisches Ausdrucks- und Verständigungsmittel überhaupt noch brauchbar sei (vgl. Korte 1995, 601). Wie schon an der Stellungnahme Golls zu erkennen, wurde dem traditionellen Gedicht Sentimentalismus, hohle Innerlichkeit und Subjektzentriertheit vorgeworfen, damit erschien es für die Bewältigung der Gegenwartsprobleme als unbrauchbar. Einen extremen Standpunkt nahm hier zum Beispiel der Publizist Walther Kiaulehn ein, der

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

1930 den Tod der Lyrik proklamierte, da die Lyriker in ihren Produktionen dem rasanten Tempo der Moderne nicht zu folgen vermöchten: „Der Dichterschimmel ist lendenlahm geworden, er rennt schnaufend der Straßenbahn nach […].“ Und bündig: „Die Lyrik stirbt an dem technischen Fortschritt, an den Automobilen, an der Hygiene und an den kurzen Röcken.“ (Zit. n. Becker 2000b, 257) Schließlich aber geht es nicht um ein Absterben, sondern um eine Neu-Positionierung im industrieanalogen System: „Die Lyrik wird heute von den Reklamechefs der Stiefelwichsefabriken und von den Unfallverhütungspsychologen der B.V.G. verwaltet […].“ (Ebd.) Dies war zwar nicht neu, bereits Frank Wedekind schrieb im späten 19. Jahrhundert Reklamegedichte für die Firma Maggi, aber Brecht verband Gesellschaftskritik bedenkenlos mit Werbelyrik, indem er ein Gedicht über die „Singenden Steyrwägen“ schrieb. Das futuristische Motto der ,stählernen‘ Lyrik mit dem Automobil als glänzendem Symbol in den Manifesten Marinettis wird hier gesteigert zu einem freilich auch ironisch gebrochenen Hymnus auf den Amerikanismus, der in sich einen revolutionären Geist trage. Wie Brecht so produzieren auch die anderen von der Neuen Sachlichkeit inspirierten Dichter Texte, die auf einen klar definierten Gebrauchswert hin konzipiert sind, wenn dies auch keineswegs immer und vornehmlich direkt für die Werbung geschieht. Die Lyrik lässt ab Mitte der 1920er Jahre immer stärker die Begrenzung auf einen bildungsbürgerlichen Horizont hinter sich. Stattdessen dringt sie immer stärker in die Massenmedien vor: Die auflagenstarken illustrierten Wochen- und Monatsschriften publizieren zunehmend Gedichte, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen, vor allem jedoch auch Unterhaltungswert besitzen. Kästner äußerte sich grundsätzlich in der „Prosaischen Zwischenbemerkung“, die er 1929 seinem erfolgreichen Lyrikband Lärm im Spiegel einfügte. Den Begriff Neue Sachlichkeit verwirft er schon 1927 und spricht stattdessen von ,indirekter Lyrik‘ (vgl. Kästner 1998). Es kann aber sowohl aus der Sichtung von Kästners Lyrikproduktion als auch aus der zeitgenössischen Kritik geschlossen werden, dass er direkt der neusachlichen Schreibweise zuzuordnen ist (vgl. Becker 2004, 117). In seinem Text zu Lärm im Spiegel spottet er zunächst über ,altmodische Dichter‘ „mit ihren geistig zurückgebliebenen Produkten, die keinen noch so gefälligen Hund vom Ofen locken“ (zit. n. Becker 2000b, 216). Schnell kommt er auf den Gebrauchswert zu sprechen: „Verse, die von den Zeitgenossen nicht in irgendeiner Weise zu brauchen sind, sind Reimspielereien, nichts weiter.“ Gebrauchanweisungen, die den literarischen Texten beigestellt werden, sind häufig in der Neuen Sachlichkeit, sie finden sich – oft verbunden mit emphatischem Amerikanismus – in Feuchtwangers Pep: J. L. Wetcheeks amerikanischem Liederbuch (1928), bei Horváth, bei Erik Reger und in Brechts Hauspostille (vgl. Fähnders 2007, 101. Die Gebrauchswertorientierung der Lyrik – der „Tatsachensinn“ (Feuchtwanger, zit. n. Becker 2000b, 81) – wird in variabler Weise funktionalisiert: Sie kann sich auf eine Zulieferfunktion für die Unterhaltungskultur beziehen – Lieder und Couplets der Cabarets und Varietés, dies eine Entwicklung, die bereits im Fin de Siècle einsetzt und von Wedekind, Mühsam, Panizza u.a. vorangetrieben wurde –, sie kann, wie in Brechts Dreigroschenoper, Teil der szenischen Aktion werden oder auch für Agitation und Propaganda genutzt werden, wie die vielfältige Lied- und Gedichtproduktion auf der Linken wie

3. Gattungen und Präsentationsformen

Rechten zeigt. In allen Fällen werden die neusachlichen Zielsetzungen konsequent auf die lyrische Form übertragen: eine möglichst weitgehende Eindämmung bzw. Ausschaltung von Sentimentalismus, Subjektivismus und Elitismus, daran gerade entzündet sich dann auch bereits in den späteren 1920er Jahren die konservative Kritik. Die weiter entwickelten Formen der Erlebnis- und Naturpoesie geraten eine Zeitlang ins Abseits, ebenso strenger konventionalisierte Typen wie das Sonett oder die Ode. In möglichst einfacher, bildarmer, dokumentarischer Sprache sollen die Oberfläche der Dinge, die Funktionalität der Abläufe – vor allem technischer Art – und auch Gefühle abgebildet werden, etwa die des Verliebtseins oder des Abschiedsschmerzes, die das lyrische Ich wie bei Kästner oder Kaléko oft mit Wehmut und Ratlosigkeit grundiert. Die Gedichte richten sich an jene großstädtische Schicht jüngerer Angestellter, die mit der Tiefendimension heroischer oder tragischer Gefühlsinhalte nichts mehr anfangen kann, noch im Schmerz klingt ein Kontrolliertsein mit, das in der Arbeitswelt eingeübt wurde. Teile der neusachlichen Lyrik sind eher selbstgenügsam, verstehen sich als Ausdruck einer gelebten Normalität mit kritischen Untertönen. Wenn diese Manier als kunsthandwerklich angesehen wird, so betrachten Autoren wie Mascha Kaléko dies nicht als diskreditierend (vgl. Delabar 2010, 97). Gerade wegen der Tendenz zur Rücknahme des direkten Gefühlsausdrucks wird diese Lyrik häufig als ,männlich‘ bezeichnet, so von Kurt Pinthus, der im Tage-Buch 1929 die Analogie zum Sport bemüht: Die neusachliche Sprache sei „ohne lyrisches Fett, ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers“ (zit. n. Becker 2000b, 38) vergleichbar. Populär werden Gedichte, die emotionale Zustände in zugänglicher Form abbilden und dennoch nicht in Kitsch oder zu große Klischeehaftigkeit abrutschen, wie Kästners „Sachliche Romanze“, Mascha Kalékos „Großstadtliebe“, aber auch ein komplexes Gedicht wie Brechts „Erinnerung an die Marie A.“. Brecht nimmt auch bei der Lyrik im Verhältnis zur Neuen Sachlichkeit eine spezielle Position ein, da er den Gestus des Kühl-Sachlichen, Unsentimentalen, Gebrauchswertorientierten teilt, zugleich aber, wie auch bei den anderen literarischen Formen, eine Begrenzung entdeckt, die für ihn in einer gewissen Zurückgebliebenheit des Erkenntnisstandes liegt. Am nächsten ist Brecht den neusachlichen Lyrikformen in der Phase der Hauspostille (1927), der er eine „Anleitung zum Gebrauch der einzelnen Lektionen“ anfügt. Diese Gedichtsammlung bekräftigt die Absage an die konventionelle Lyrik mit ihren ,warmen‘ Gefühlsintensitäten zugunsten einer positiven Besetzung der Kälte-Metaphern. Dies wird auch als Lebenshaltung empfohlen, es gilt, „dem alten Lamento über die ,Kälte der Welt‘ eine Haltung entgegenzusetzen, die sich mimetisch der Kälte anzugleichen sucht, um schließlich selbst Subjekt in der Kälte zu werden“ (Lethen 2009, 68). Die „Anleitung“ zeigt die Doppelbödigkeit von Brechts Ausdruck, der zwar detailliert Situationen vorstellt, in denen die einzelnen Lektionen zu rezipieren seien und dabei eine bestimmte Leserhaltung der Zerstreuung betont, dies zugleich aber offenkundig ironisch besetzt. Brechts Programmatik ist also, verglichen etwa mit der von Kästner, mehrdimensional angelegt und schafft so den Referenzrahmen für eine reflektierte Konsumtion, auf die es dem Autor ankommt. In seinem „Kurzen Bericht über 400 (vierhundert) junge Lyriker“, den er 1927 als Juror im Lyrik-Wettbewerb der Literarischen Welt verfasst hatte, beharrt er

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

auf dem Gebrauchswert des Lyrischen, setzt sich radikal von den „hübschen Bildern“ und „aromatischen Wörtern“ (zit. n. Schuhmann 1995, 140) der impressionistische wie expressionistischen Literatur ab und betont das Dokumentarische jeder großen Lyrik (vgl. ebd., 141). In der Vielzahl der eingegangenen Gedichte entdeckt er nichts von Wert, mit einer wiederum provokanten Geste wählt er ein Gedicht für den Preis aus, das nicht einmal eingesandt worden war und das er angeblich in einer Radsportzeitschrift gefunden hatte; „He, he! The Iron Man“ verklärt einen Sechstage-Radrennfahrer, Reggie MacNamara, der als „Menschenwunder“ (ebd., 142) bezeichnet wird. Der Autor Hannes Küpper aus Düsseldorf war kein Unbekannter in der neusachlichen Literaturszene der späten zwanziger Jahre. Er gab von 1927 bis 1933 die für die neusachliche Selbstverständigung wichtige Zeitschrift Der Scheinwerfer der Städtischen Bühnen Essen heraus, außerdem 1929 eine die technischen Aspekte thematisierende Anthologie, Technische Zeit. Dichtungen, die Texte von Autoren verschiedener Epochen und Nationalitäten berücksichtigte, neben Brecht Paul Zech, Ernst Stadler, Oskar Maria Graf, Walt Whitman u.a., Küpper selbst steuerte ein Gedicht mit dem programmatischen Titel „Elektrizität“ bei (vgl. Schütz/Vogt 1986; Ketelsen 2007). Dass Brecht die neusachliche Technikbegeisterung positiv aufnimmt, zugleich aber ihre Begrenztheit mitreflektiert, zeigt das Gedicht „700 Intellektuelle beten einen Öltank an“ von 1929, in dem (selbst-)ironisch der „stromlinienförmige, technik- und modernegläubige Habitus“ (Fähnders 2007, 98) als eine in einem Hymnus verborgene Karikatur vorgeführt und zugleich auch dessen mögliche Folge, die Ich-Zerstörung, benannt wird: „Lösche aus unser Ich! / Mach uns kollektiv! / Denn nicht wie wir wollen: / Sondern wie du willst.“ (Brecht 1988–2000, Bd. 11, 175) Die grundsätzliche Kritik an der neusachlichen Lyrik kommt von Autoren wie Benn oder solchen aus dem Umkreis der Naturlyrik, seit etwa 1930 aber auch von jüngeren Schriftstellern, die nun selbst mit Gedichten an die Öffentlichkeit treten und sich unter der Bezeichnung Magischer Realismus um die Dresdner Zeitschrift Die Kolonne sammeln, die von 1928 bis 1932 von A. Artur Kuhnert und Martin Raschke herausgegeben wurde. Der Begriff des magischen Realismus stammt vom Kunsthistoriker Franz Roh. In der Dissertation von Wieland Schmied zum Thema wird für die zwanziger Jahre der Realismus-Begriff unterteilt in einen sachlichen und einen magischen Realismus. Eindeutige Bestimmungen lassen sich für den Bereich der Lyrik nicht finden, Raschke und sein Dresdner Kreis teilen aber eine Voraussetzung, die sie von den neusachlichen Autoren unterscheidet, „die vehemente Abgrenzung gegenüber einem ausschließlich an der Ratio orientierten Weltverständnis, das als Stigma der Moderne interpretiert wird“ (Scheffel 1990, 78). Wo die Neue Sachlichkeit sich auf die Dinge und ihre Oberflächenstruktur sowie ihr Funktionieren konzentriert, beziehen die magischen Realisten die radikale Gegenposition, indem sie die Dinge nur als Chiffren einer höheren, geistigen Wahrheit verstehen (vgl. ebd., 79). Die Zugehörigkeit zu dieser Richtung ist ebenfalls schwankend, Autoren wie Ernst Kreuder, Hermann Kasack, Friedo Lampe, Elisabeth Langgässer und Horst Lange sind ein Teil davon, einige aus dem Kreis spielen eine wichtige Rolle für die literarische Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg.

3. Gattungen und Präsentationsformen

Die Themen Kindheit und Jugend waren bereits um 1900 in den Blickpunkt geraten. Schul- und Adoleszenzkonflikte fanden verstärkt Behandlung in epischen Werken wie Dramen, in Thomas Manns Buddenbrooks ebenso wie in Hermann Hesses Unterm Rad und Frank Wedekinds Frühlings Erwachen. Das Jahrhundert des Kindes war schon 1902 in dem wirkungsmächtigen Buch der schwedischen Autorin Ellen Key beschworen worden. Jugendund Reformbewegungen betonten noch vor dem Ersten Weltkrieg Jugendlichkeit als distinktives Merkmal gegen Ordnungsfetischismus und Spießigkeit der Erwachsenenwelt, für die expressionistische Protestgeneration verband sich dann die Berufung auf das Lebensalter mit moderne- und zivilisationskritischen Tendenzen. Zugleich wurden reformpädagogische Ansätze wie die von Paul Oestreich, Peter Petersen und Maria Montessori bekannt. Gerade diese Richtungen wurden durch die Erfahrung des Ersten Weltkriegs gestärkt. Die Orientierungslosigkeit einer von der Abwesenheit der Väter und der Wertelosigkeit der Nachkriegszeit affizierten Jugend wurde in den Erinnerungsromanen einer lost generation thematisiert: bei Remarque, Renn oder Glaeser, auch im Zeitroman und -stück, so in Bruckners Krankheit der Jugend, in Süskinds Roman Jugend (1930) oder bezüglich der sozialen Depraviertheit in Lampels viel diskutiertem Stück Revolte im Erziehungshaus, Lampel legte mit Verratene Jungen ein Jahr später auch einen Roman über die Militarisierung der Jugend in den Freikorps zur Zeit des Kapp-Putsches vor (vgl. Sommer 1996, 171). Überhaupt spielen die Themen der militaristischen Formierung und damit verbunden der Sexualunterdrückung eine große Rolle. Bezüglich der weiblichen Jugend setzte sich im Zusammenhang mit lesbischer Liebe vor allem Christa Winsloe auseinander, nach der erfolgreichen Behandlung im Theaterstück Ritter Nérestan (UA 1930) wurde die Geschichte schon 1931 als Mädchen in Uniform verfilmt. Die Probleme der werktätigen und proletarischen Jugend wurden immer wieder in Romanen von kommunistischen oder mit der KPD sympathisierenden Autoren vorgeführt, etwa von Ottwalt oder in Walter Schönstedts proletarischem Zeitroman Kämpfende Jugend (1932). Auch für die Jugendthematik wird die „Synchronisierung des Menschen mit der Moderne“ (Delabar 2010, 93) zentral. Dies betrifft über das rein Literarische hinaus die Gesamtkultur, besonders in den medienwirksamen Images und in habituellen Attributierungen. So ist das Frauenbild der Zeit deutlich stärker auf Jugendlichkeit abgestellt, und viele der Protagonistinnen bei Fleißer, Keun, Tergit, Kaus u.a. entsprechen diesem Bild ebenso wie auch die lyrischen Ich-Figurationen in der Lyrik von Kaléko, Kästner u.a. Die im Verlauf der Neuen Sachlichkeit entstandenen massenhaft verbreiteten lyrischen, epischen, teilweise auch dramatischen Werke sind oft von Autoren geschrieben, die selbst noch im jüngeren Alter waren – Kästner ist Jahrgang 1899, Keun wurde 1905 geboren, Kaléko 1907, Remarque 1898 – und die sich speziell an einen jüngeren Rezipientenkreis wenden, was vor allem durch die serielle Verbreitung realisiert wurde. Von der neusachlichen Ausdrucksform stark bestimmt ist eine spezifische Kinderliteratur, vor allem der Kinderroman mit den heute noch viel gelesenen Kästner und Wolf Durian als Hauptvertretern. In diesem Zusammenhang muss auch auf die seinerzeit populären und später fast vergessenen Kinderromane Wilhelm Speyers hingewiesen werden, etwa Charlott etwas

Kinder- und Jugendliteratur

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

verrückt (1927) und Der Kampf der Tertia (1928). Wie Karrenbrock für die Phase nach 1925 feststellt, „beginnt sich in der Kinderliteratur ein Paradigmenwechsel abzuzeichnen, der ihre überkommenen Muster gründlich durcheinander bringt“ (Karrenbrock 1995, 177). Dies meint, dass nun die Tatsachenpoetik der Neuen Sachlichkeit auch diese Genres teilweise zu prägen, wenn auch nie gänzlich zu dominieren, beginnt. In die bisher schon populären Genres der Abenteuer-, Backfisch- oder Tierbücher und sogar in die Märchen – Horváth legt hier Sportmärchen, allerdings für Erwachsene, vor – werden realistische Erzählelemente integriert. Entscheidend ist ein neuer Blick, „der die Kinder nicht länger in das vorindustrielle Nirwana eines idyllischen Kinderlandes bannt, sondern in ihnen höchst gewitzte Zeitgenossen erkennt“ (ebd.). Beeinflusst von Kinderschriftenbewegung und Reformpädagogik setzt die neusachliche Kinderliteratur ein neues Zentralthema: das Leben in der großstädtischen Moderne. Zwei Bücher wirken bahnbrechend, zunächst Wolf Durians Kai in der Kiste – ein Kinderroman, der 1925 als Serie in der Kinderzeitschrift Der heitere Fridolin abgedruckt wurde, die 1921 bis 1928 im Ullstein-Verlag als Halbmonatsschrift für Sport, Spiel, Spaß und Abenteuer erschien, bei der Durian als Redakteur arbeitete –, und dann natürlich Erich Kästners Emil und die Detektive, ein Roman, der, 1929 veröffentlicht, inzwischen zum mehrfach verfilmten Klassiker der Kinderliteratur avancierte. Kästner beherrschte das Prinzip der Mehrfachverwertung meisterhaft, und so gab es auch den ersten erfolgreichen Emil-(Ton-) Film schon bald nach dem Erscheinen des Buches 1931 unter der Regie von Gerhard Lamprecht mit dem Drehbuch des jungen Billy Wilder. Durian schildert in seinem Roman den sozialen Aufstieg im Wettbewerb einer Straßengang, Bilder der Metropole Berlin, der „Zirkulationsmaschine und Energiezentrale“ (ebd., 179) werden konsequent als Hintergrund eingebaut. Es finden sich in der Gruppenstruktur zwar Züge fordistischer Formierung, letztlich dominieren aber doch subkulturelle und selbstbestimmte Regeln. Kästners Buch Emil und die Detektive war erfolgreich auf dem Markt und bei der Literaturkritik. So schrieb Hans Sochaczewer im Berliner Tageblatt vom 15.12.1929: „Es fesselt den Erwachsenen wie den Jugendlichen.“ Ausdrücklich gelobt wurden auch die Illustrationen von Walter Trier. Der Roman verbindet geschickt eine Kindergeschichte mit der Großstadtthematik (wobei Anfang und Ende in der provinziellen Heimatstadt des Protagonisten angesiedelt sind) und den Mustern des Kriminalromans, der durchgängig Spannung auf das Ende schafft. Zugleich zeigt er im Protagonisten Emil Unschuld wie Pfiffigkeit, schafft damit Identifikations- und Projektionsflächen, wie sie später ähnlich intensiv wohl nur von Astrid Lindgren ersonnen wurden. Kästner verwirklicht in seinem Roman zweifellos eine Reihe von programmatischen Ansprüchen der Neuen Sachlichkeit: Trotz der aufregenden und nicht bis ins Detail plausiblen Fabel bleiben die Geschehnisse nachvollziehbar, ein durchgängiger Realismus prägt die Darstellung. Kästner siedelt den Großteil des Geschehens dort an, wo er sich auch selber am besten auskannte, im ,Neuen Westen‘ Berlins um den Nollendorfplatz, er schreibt, wie er den Oberkellner Nietenführ zu Beginn sagen lässt, „eine Geschichte über Dinge, die wir, ihr und ich längst kennen“ (Kästner 1985, 14). Der Roman spiegelt auch ambivalente Verhaltensweisen der neuen Urbanität gegenüber: das positive Umgehen mit den gewandelten Bedingungen, die Risiken

4. Mediale Formen

und Gefahren, denen der provinzielle Emil Tischbein ausgesetzt ist. Vor allem aber entwirft er einen Geschehenszusammenhang, der den Kindern eigene Erfahrungen ermöglicht, ein Laboratorium, das wie eine Versuchsanordnung Gruppenstrukturen zeigt, die zumindest ansatzweise demokratischen Charakter haben und so den ,Geist der Republik‘ positiv widerspiegeln (in diesem Sinne Karrenbrock 1995, 191). Neben diesem Darstellungsmodus stehen freilich auch Züge, die dem neusachlichen Abbildungsrealismus widersprechen und deshalb auch oft kritisch gesehen wurden, vor allem eine Tendenz zur (fast utopisch dimensionierten) Verklärung des Kindlichen, eine harmonistische Zeichnung der Mutter-Sohn-Beziehung, ein auf Ritterlichkeit und Tapferkeit basierender Wertekanon, schließlich auch eine recht konservative Schilderung des Geschlechterverhältnisses, die die Rolle der Mädchen in traditioneller Weise einengt. (Zur Kritik von Marianne Bäumler und Ruth Klüger an Kästners Roman vgl. Kammler 2005, dort auch eine Kritik von Benjamins generellem Werturteil über Kästner, die Kammler als textfern und rein literaturpolitisch motiviert versteht, vgl. Kammler 2005, 382). Die Auseinandersetzung mit der Stellung von Kindern und Jugendlichen in der sich beschleunigenden und zugleich ihre Krisenanfälligkeit offenbarenden Moderne der Weimarer Zeit, die neben den direkt sozialen Folgen wie Arbeitslosigkeit und Entwurzelung vor allem die Mängel der Erziehung, das Versagen der Eltern, die Probleme der Sexualität und die sich verändernde Stellung der Frauen thematisierte, wurde in vielen fiktionalen Texten der Zeit geführt. Durch die Verfemung im Nationalsozialismus und die restaurativen ersten Jahrzehnte der Bundesrepublik wurden zahlreiche Texte und Autoren – vor allem Autorinnen – vergessen und auch wissenschaftlich kaum mehr gewürdigt. Erst in letzter Zeit wurden fundierte Versuche unternommen, diese Zeugnisse dem vollständigen Vergessen zu entreißen (vgl. vor allem Birte Tost, die in ihrer Doktorarbeit vernachlässigte Autoren der Weimarer Zeit wie Lotte Arnheim, Grete Berges, Clara Hohrath, Friedrich Schnack, Wilhelm Speyer oder auch Wedekinds Tochter Kadidja gewürdigt hat, Tost 2005, bes. 57ff.). Korrigiert wird so zunehmend das viel zu einseitige Bild, das die Kinder- und Jugendromane von Durian und vor allem Kästner isoliert als Ausnahmefälle betrachtete.

4. Mediale Formen In seinem Aufsatz „Kritische Rhapsodie“ von 1928 stellte sich der Kritiker Bernhard Diebold die Frage, was denn eine sachliche Kunst sein könne. Voraussetzung war ihm die Erkenntnis, dass das Künstlerische nicht mehr selbst-evident aus dem Leben hervorgehen könne, sondern dass dieses moderne Leben bereits durch die Medien geprägt sei – und zwar durch die folgenden: „Diese Sachlichkeit des Lebens besorgen Zeitung, Lichtbild, Film, Grammophon und Radio.“ (Zit. n. Becker 2000b, 275) Damit ein neuer Realismus im Sinne der Neuen Sachlichkeit überhaupt entstehen kann, müssen sich die kollektiven Wahrnehmungsbedingungen zuvor grundsätzlich verändert haben. Dies ist – nach den Anfängen seit Mitte des 19. Jahrhunderts und dem Fortschreiten der technischen Entwicklung bis zum Ersten Weltkrieg – in der Zeit der Weimarer Republik im Prinzip erreicht. Dabei reichen die Er-

Wandel der medialen Bedingungen

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Presse und Literaturkritik

findungen der wesentlichen technischen Komunikationsmedien bis weit in die Zeit vor dem Krieg zurück, die Printmedien gab es noch länger. Dennoch ereignet sich in den zwanziger Jahren ein wichtiger Wandel: die Vervollkommnung, Standardisierung und Popularisierung dieser Medien, die nun für immer größere Schichten zugänglich werden. Als Katalysator fungierte der Krieg, insbesondere die militärisch genutzte Nachrichtentechnik und Propaganda, aus der heraus auch der Filmkonzern Ufa entstand. Technik und Großstadt führten zu einer Erweiterung der Wahrnehmungsbedingungen, zugleich auch zu deren Problematisierung, wie die kontroversen Diskussionen um den Film schon vor dem Krieg zeigen, eine „paradoxe Bewegung zwischen Weltentfremdung und Weltverdichtung“ (Schmitz 2001, 154). Es entsteht eine Konkurrenz zwischen der sinnlich-spontan-direkten Wahrnehmung, etwa der Natur, und der medialisiert-verkünstlichten Aufnahme neuer, mit dem Tempo von Großstadt und Film synchronisierter Eindrücke. Diese Wahrnehmung einer neuen „künstliche[n] Welt zwischen Subjekt und Welt“ (ebd. 2001, 154) geht textuell konstruiert in sehr verschiedener Weise in die fiktionalen Texte der Neuen Sachlichkeit ein. Versteht sich die Strömung meist durchaus als eigenständig, so ist ihr doch die Verwertung der neuen Medien von Beginn eingeschrieben, weshalb der neue Realismus, die neue Mimetik, auch grundsätzlich reflexiv sein muss. Siegfried Kracauer etwa wendet sich zu Beginn von Die Angestellten gegen eine Konzeption der Reportage, die glaubt, naiv mit den Mitteln des einfachen Berichts die Wirklichkeit erfassen zu können: „[…] die Reproduktion des Beobachteten ist Trumpf. Ein Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernährung durch den deutschen Idealismus ist.“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 122) Der reinen Tatsachenfotografie stellt Kracauer den Begriff des Mosaiks entgegen, der auf die Subjektivität der Erkenntnisgewinnung verweist: „Die Wirklichkeit ist eine Konstruktion.“ (Ebd.) Die Wahrheit des Kunstwerks würde sich in dieser Sicht zum Beispiel im Roman danach bemessen, inwieweit die Medialität der Konstruktion bewusst gemacht (wie etwa in Berlin Alexanderplatz) und nicht einfach nur als Identifikationsinstrument eingesetzt wird (wie in Trivial- und Kolportageromanen). Zugleich schaffen die neuen Medien und Wahrnehmungsbedingungen eine Fixierung auf den Gegenstand bzw. die äußerlich sichtbare Bewegung, weshalb die inneren Erregungs- und Reflexionszustände in den Hintergrund treten. Wie in den frühen Stummfilmen und auch noch im Film der 1920er Jahre diese äußere Bewegung in den Mittelpunkt rückt, so wird sie auch in der Literatur der Neuen Sachlichkeit zentral. Zunehmend präformieren die Filmbilder auch die literarischen Wahrnehmungserwartungen der großen Konsumentenmassen. Um in der Medienkonkurrenz bestehen zu können, ist deshalb die Einbeziehung dieser medialen Formen notwendig. Die Zeit der Weimarer Republik bildet einen Höhepunkt der deutschen Zeitungs- und Zeitschriftenkultur, vor allem in der Großstadt Berlin, wo sich nach 1918 ein quantitativ ausgeweitetes und intern stark differenziertes Pressewesen entwickelte. Neben den vielen Tageszeitungen für fast alle Bevölkerungsschichten und politische Richtungen expandierte der Zeitschriftenund Magazinmarkt, der besonders stark von den Konzentrationsbewegungen der Zeit erfasst wurde. Die im Rahmen der Konzentrationsbewegung entstandenen Medienkonzerne – die größten waren Ullstein, Scherl und Hu-

4. Mediale Formen

genberg – bildeten nach und nach Medienverbundsysteme aus, die neben den Presseerzeugnissen immer mehr billig ausgestattete und preiswerte Romanreihen auf den Markt brachten, welche massenhaften Absatz fanden. Ullstein hatte bereits 1910 die erste Billigromanreihe Rote Ullstein-Bücher eingeführt und produzierte ab 1920 die Romanserie Ullsteins Roman für 1 Mark (vgl. Becker 1999/2000, 167), im Laufe der zwanziger Jahre erschienen immer mehr solcher Reihen. Illustrationen, auch Fotografien, spielten eine immer größere Rolle, und in den Texten bemühte man sich, der fotografischen Abbildung in Präzision und objektivem Gestus möglichst nahe zu kommen. Die neue Massenkultur bot der Entwicklung der Presse beste Bedingungen. Neben der extensiven Berichterstattung über politische und wirtschaftliche Ereignisse wuchsen vor allem diejenigen Segmente, die sich mit aktuellen Phänomenen beschäftigten, wie Sport, Technik, Reisen. Nahe rückte vor allem Nordamerika, wo die großen Berliner Zeitungen nun eigene Korrespondentennetze aufbauten. Eine Blüte erlebte vor allem das Feuilleton mit seinen zentralen Teilen Literatur-, Theater- und zunehmend auch Filmkritik (vgl. u.a. Anz/Baasner 2004; Bienert 1992). In den angesehenen Tageszeitungen – dem Berliner Börsen-Courier, dem Berliner Tageblatt, der Vossischen Zeitung oder der Frankfurter Zeitung –, aber auch in zahlreichen großen Regionalzeitungen erschienen die Rezensionen der großen Kritiker sowie Debatten und Kontroversen zu aktuellen literarischen und literaturpolitischen Themen und vor allem immer wieder Umfragen unter bedeutenden Autoren, die sich zu Themen wie der Reportage, der Neuen Sachlichkeit insgesamt oder der Zukunft des Dramas äußerten. Die vielfach auch heute noch lesenswerten Feuilletons der Zeit wuchsen auf dem Boden einer äußerst lebendigen, zudem polarisierten literarischen Öffentlichkeit, die über vielfältige Linien mit dem politischen Leben der Zeit verbunden war und versuchte, Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen zu nehmen. Kritiker, teilweise schon in der Vorkriegszeit aufgestiegen, wurden zu Stars: im Theater Alfred Kerr, Siegfried Jacobsohn, Alfred Polgar, Herbert Ihering oder Monty Jacobs, aber auch Tucholsky, Kästner, Benjamin oder Brecht, die Rezensionen zu Premieren und literarischen Neuerscheinungen schrieben, nicht zuletzt Franz Hessel, der als Flaneur in der Metropole bewusst der Tagesaktualität auswich, und Joseph Roth, der als Reporter wie Kritiker tätig war. Presse und Kritik in der Weimarer Republik zeigen immer wieder selbstreflexive und -kritische Züge, etwa in den Stellungnahmen von Publizisten wie Tucholsky oder auch in Romanen wie in Tergits Käsebier erobert den Kurfürstendamm und Kessels Herrn Brechers Fiasko. Denn neben den Möglichkeiten steht der Druck auf die Journalisten, die nach 1929 Arbeitslosigkeit und auch Pressionen politischer Art fürchten mussten, und sich insgesamt in einem Klima verschärfter Konkurrenz bewegten, das in den Romanen genau fiktionalisiert wird. Die Expansion und Ausdifferenzierung eines kulturell relevanten Pressewesens vollzieht sich in engem Zusammenhang mit der Ausbildung des neusachlichen Stils. Nicht nur werden präzise Tatsachensprache und Aktualität des Journalismus zum Vorbild der neusachlichen Autoren, auch die Diskussionen und Debatten über poetologische und literaturtheoretische Themen sind nun nicht mehr vorrangig gruppenspezifischen Zeitschriften vorbehalten, wie es im Expressionismus Die Aktion oder Der Sturm waren. Sie finden

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Unterhaltungskultur

sich ebenso in allgemein zugänglichen, ein breites gebildetes Publikum ansprechenden Publikumszeitschriften wie der Literarischen Welt, im TageBuch, der Weltbühne oder auch im Querschnitt (vgl. Becker 2000a, 95; Becker 2003b, 57). Die Neue Sachlichkeit löst die Literatur aus den Begrenzungen einer idealistischen Konzeption des autonomen, zweckfreien Kunstwerks, das bis zum Ersten Weltkrieg trotz der Versuche einer Ausweitung im Großen und Ganzen intakt geblieben war. Zwar hatte die Avantgarde der Wilhelminischen Zeit die offizielle ästhetische Doktrin eines national ausgefüllten Begriffs des ,Guten, Schönen, Wahren‘ längst hinter sich gelassen, im Anschluss an die gesamteuropäische Moderne auch das Widerständige, Hässliche, Disharmonische einbezogen. In der Literatur der Neuen Sachlichkeit stand nicht mehr die Belehrung oder ,Veredelung‘ der Leser im Vordergrund, das delectare aus dem Motto des Horaz wurde auf die neuen Unterhaltungserwartungen ausgeweitet. Die Kluft zwischen U- und E-Kultur, die, im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern, in Deutschland besonders stark war (und bis heute nachwirkt), wurde in den 1920er Jahren unter dem Einfluss des neusachlichen Kunstverständnisses erstmals aufgebrochen. Das gesamtkulturelle Klima aber hatte sich nach 1918 grundlegend verändert, dies nicht zuletzt durch den Krieg und seine Folgen. Der Schock der Ereignisse war noch frisch im kollektiven Bewusstsein, ebenso die Wirren der unmittelbaren Nachkriegszeit. Die kollektiven Traumatisierungen führten zu politischer Radikalisierung, Eruptionen von Gewalt und Hass, aber auch zum Wunsch nach Vergessen und Ablenkung. „Der Wille, angesichts einer ungewissen Zukunft das Heute zu genießen, bildete eine Konstante städtischen Lebens.“ (Maase 1997, 115) Die 1920er Jahre bringen, so kann vergröbernd gesagt werden, die Erfindung der Freizeit und des freien Wochenendes, wenn auch nur in einem beschränkten Rahmen (8-Stunden-Tag). Neben dem größeren Zeitkontingent waren Veränderungen der Produktions- und Rezeptionsstruktur ausschlaggebend, wobei immer zwischen Großstadt und Provinz sowie den ländlichen Gegenden unterschieden werden muss. Eine Bedingung für das Vordringen der Unterhaltungskultur war die nach amerikanischem Muster immer stärker kultur-industriell veränderte Produktion: Durch die Konzentration der Produktions- (Ufa, 1927 durch den Pressemagnaten Alfred Hugenberg übernommen) und Verleihfirmen gab es immer mehr Abspielstätten für Filme, es entstanden zunehmend Unterhaltungstheater, und durch die serielle Produktion sowie die wachsenden Zuschauerkapazitäten konnten die Eintrittspreise im Laufe der Zeit gesenkt werden. Konjunktur erlebten die großstädtischen Vergnügungsparks, besonders der „Lunapark“ am Halensee in Berlin, wo, wie Kracauer in seinem Aufsatz „Berg- und Talbahn“ (1928) beschreibt, die Freizeitillusion eines schnellen Aufstiegs für kleine Leute inszeniert wurde (Kracauer 1971–2002, Bd. 5.2, 118). Zugleich benennt er deren Funktion als Ablenkung: „Der genaue Gegenschlag gegen die Büromaschine aber ist die farbenprächtige Welt. Nicht die Welt, wie sie ist, sondern wie sie in den Schlagern erscheint.“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 293) Trotz der erweiterten Zugangsmöglichkeiten zu Produkten der Popularkultur gab es dennoch weiterhin Restriktionen, denn der Konsum war für die unteren Schichten immer noch zu kostspielig. Die neuen Rezipientengruppen der Unterhaltungs-

4. Mediale Formen

industrie – insbesondere die ständig wachsende Angestelltenschicht und jüngere Frauen – versuchten, so weit es zeitlich und finanziell möglich war, an dieser Kultur zu partizipieren, etwa durch den Wochendausflug, der auch in Schlagern wie „Am Sonntag will mein Süßer mit mir Segeln gehn“ von Robert Gilbert oder „Wochenend und Sonnenschein“ von den Comedian Harmonists immer wieder besungen wurde. In der Kultur der Weimarer Zeit entwickeln sich zwei Tendenzen parallel: die Kultur der ,großen Zahl‘, eine – wie von kulturkritischer Seite beklagt wird – nivellierende Massenkultur, andererseits aber auch Individualisierung, Differenzierung, Spezialisierung (vgl. Maase 1997, 141). Literatur und Buch verlieren ebenso wie das Theater ihre hegemoniale Stellung, was von den kulturkonservativen Publizisten kritisiert wird, sich aber als irreversibel erweist. Die neusachliche Literatur reagiert auf diese Tendenzen grundsätzlich positiv, indem sie Impulse aus den Unterhaltungsbereichen aufnimmt und in den literarischen Text transformiert, gerade im Zeitroman, der sich teilweise der Kolportageliteratur annähert. Dem entspricht eine Spezialisierung in der Produktentwicklung, was sich vor allem am Entstehen einer Spartenliteratur für Frauen zeigt: Weibliche Stars werden zu Ikonen der für ein weibliches Publikum modellierten Darstellung in Magazin, Film und Plakat. Die Mehrheit des Kinopublikums war weiblich, ebenso stellten Frauen den größten Anteil an Romanrezipienten und an Besuchern von Theatern und Konzerten. Spezielle Zeitschriften für Frauen bedienten Identifikationsbedürfnisse – besonders populär Die Dame und Die elegante Welt – und die Tageszeitungen hatten ,Frauenseiten‘. Repräsentiert wurde das Weibliche in Tanz, Revue und Varieté, vor allem in der Ausstellung des makellosen, jugendlichen, mehr oder weniger nackten Körpers. Das Vordringen der Unterhaltungskultur blieb nicht unwidersprochen, starke konservative Kräfte widersetzten sich dem, was sie als seichte Zerstreuung und Vermassung ansahen. Für die Bildungsbürger besonders bedrohlich erschien die Wahrnehmung von Vermassung und Nivellierung, wie sie der Soziologe Werner Sombart in seinem viel gelesenen Buch Der proletarische Sozialismus von 1924 beschwor oder wie sie in der populären Massentheorie eines Gustav le Bon vertreten wurde (vgl. Maase 1997, 170–173). Zwei Merkmale der neusachlichen Musik verbinden sich mit den anderen Künsten: die Gebrauchswertfunktion und die Zeitaktualität, dies obwohl die Trennung zwischen einem E- und einem U-Sektor – Zwölftontechnik der Avantgarde gegen Gassenhauer – hier noch schroffer war. Eine neusachliche Sicht des Musikalischen kommt – ironisch gebrochen – etwa in Lion Feuchtwangers Gedicht „Musik“ (aus der Sammlung PEP) zum Ausdruck: Der Energie-Umsatz bei der Ausübung moderner Musik ist enorm. / Während bei einem Lied von Brahms der Energie-Aufwand nur 32 bis 35 Meterkilogramm beträgt, / ist festgestellt, daß sich bei einem Jazzschlager moderner Form / der Energie-Aufwand allein beim Schlagzeug zwischen 289 und 293 Meterkilogramm bewegt. (Feuchtwanger 1957, 32) Feuchtwanger thematisiert den Unterschied der musikalischen Niveaus provokativ nicht an traditionell-ästhetischen Kriterien, sondern physikalisch als Energieaufwand. Zugleich wird der klassischen Musik eine neue Mischform entgegengesetzt, der Jazzschlager, der in den zwanziger Jahren große Popu-

Musik

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

Aufnahme- und Speicherungstechniken

Unterhaltungsmusik und Tanz

larität erlangte. Der Autor führt am Schluss des Textes, wiederum ironisch gebrochen, einen Nutzwert ein, den die musikalische Aktivität zeitigt: „Es ist also durchaus angebracht, sich musikalisch zu betätigen. / Es wirkt hygienisch vitalitätssteigernd an Menschen und Tieren.“ (Ebd.) Gegenüber der Vorkriegszeit verlief die Entwicklung rasant bezüglich der technischen und massenmedialen Möglichkeiten sowie der Umstrukturierung der Rezipientenschichten, außerdem auch in neuen Formen der Produktion, Distribution und ökonomischen Konzentration. Wie im Film so wurden auch in der Musik die funktionalen, wirkungsgerichteten, technizistischen Elemente favorisiert (vgl. Grosch 1999, 4). Man wandte sich in stärkerem Maße breiten Geschmacksbedürfnisse zu, was von konservativeren Komponisten als Trivialisierung verstanden wurde. Durch die Entwicklung des elektrischen, statt des bis dahin gebräuchlichen, mechanischen Mikrophons Mitte der zwanziger Jahre (Kondensatormikrophon) wurde die Tonqualität erheblich gesteigert. Rapide entwickelten sich auch die Reproduktionsmittel, unter ihnen vor allem das Grammophon, das sich ab 1925 durchsetzte. Zwar waren Geräte dieser Art für die Masse der Bevölkerung noch zu teuer, aber sie wurden breit in öffentlichen Zusammenhängen (Cafés, Tanzlokale, Kinos etc.) verwendet. Eine weitere Stufe war dann die Entwicklung des Radios, das bereits ab 1923 Unterhaltungsmusik sendete (vgl. ebd. 119). So musizierten bekannte Salonorchester auch in Rundfunksendungen (vgl. Hickethier 2008, 228). Im Film wurde von Beginn Musik eingesetzt. Zunächst bekannte Stücke als reine Untermalung, dann speziell mit der Filmvorführung synchronisierte Kompositionen; die in den Großstadtkinos fast immer als Live-Musik, vom einzelnen Pianisten bis hin zum großen Orchester, dargeboten wurden. Eine weitere Stufe wurde mit der Durchsetzung des Tonfilms erreicht. Bereits der erste (Halb-)Tonfilm, The Jazz Singer von 1927, wies als dominierendes inhaltliches wie formalakustisches Element die mit der Handlung synchronisierte Musik (Nadeltonverfahren) auf. Die Ausweitung, Professionalisierung und Industrialisierung des Bereichs Unterhaltungsmusik führte zu einer Zunahme der Rezeptivität bei den neuen Konsumentenschichten. Diese waren weniger traditionsbewusst als die alten Bildungseliten, die klassische Konzerte besuchten oder Hausmusik betrieben. Musik als ,Tonspur des Lebens‘ ist nicht erst in der Gegenwart entstanden, schon in den 1920er Jahren wurden die Melodien der Populärmusik zunehmend zum Soundtrack der Alltäglichkeit, als Hintergrund in Cafés, in den Freizeitstätten (Bad, Seeufer, Sommerfrische etc.), teilweise schon in Büros und Fabriken, vor allem aber in den Revuen und Tanzpalästen, die zum Massenanziehungspunkt wurden. Am klarsten realisiert sich der Gebrauchswert der Musik in den ständig wechselnden Tanzmoden der Zeit (Charleston, Quickstep, Shimmy, Ragtime, Foxtrot u. a). Die professionellen Tänzer – die Tiller-Girls, Josephine Baker, Anita Berber oder Lola Bach – werden begeistert gefeiert. In ihren Vorführungen verbinden sich Körperkult (Nacktheit) mit Bewegung und Erotik, teilweise, etwa bei Baker, mit Exotismus. In den Lokalen treten sog. Eintänzer auf, es gibt Tanzwettbewerbe und Preisspiele. Ruth Landshoff-Yorck schildert in ihrem bis vor kurzem unveröffentlicht gebliebenen Roman einer Tänzerin (1933) das Leben einer jungen Tänzerin im Nachtleben der Metro-

4. Mediale Formen

polen Wien und Berlin, die das schnelle, sinnliche Leben und die Modernität liebt, dann aber gerade durch diese technische Modernität, durch einen Autounfall, umkommt. Einen Höhepunkt erlebt aber auch der künstlerisch anspruchsvolle Tanz, Vicki Baum etwa veröffentlichte 1921 einen Roman über die innovative Tänzerin und Choreographin Mary Wigman mit dem Titel Die Tänze der Ina Raffay (vgl. Nottelmann 2007). Auch die anonym Tanzenden in den Ballsälen werden zum Thema in Theorie und Literatur, so etwa in Kracauers Ornament der Masse und in seinem Roman Ginster von 1928. Die Fähigkeit, tanzen zu können, gilt als Entreebillet zu den Vergnügungen der Großstadt, so wie es in Baums Menschen im Hotel heißt: „Tanzen muß man können. Dieses Aneinanderklammern im gleichen Takt, dieses schwindlige Drehen und Sichhalten zu zweit, nicht wahr? Man darf keiner Dame einen Korb geben.“ (Baum 1988, 53) Die Tanzkultur der Zeit orientiert sich an amerikanischen Vorbildern, besonders stark auch die Jazzmusik, die in den 1920er Jahren die europäischen Metropolen erobert. Um die ,Niggermusik‘ tobten heftige Kontroversen zwischen links und rechts, aber auch zwischen den Vertretern der Hoch- und denen der Unterhaltungskultur. Autoren wie Benn oder Stefan Zweig, Komponisten wie Hans Pfitzner sahen die abendländische Kultur bedroht. Mitte der 1920er Jahre schwappte die Jazzwelle über Frankreich und England nach Deutschland, bekannt gemacht auch durch ,ernsthafte‘ Komponisten wie Ernst Krenek, dessen Oper Jonny spielt auf, 1927 mit großem Erfolg in Leipzig uraufgeführt, schon früh zur Zielscheibe einer völkisch-nationalsozialistischen Radikalkritik wurde, obwohl Jazzelemente nur in Spuren eingearbeitet sind. Das Genre der Zeitoper entwickelte sich parallel zu Zeitstück und Zeitroman, aber meist mit weniger klaren politischen Intentionen. Krenek veröffentlichte 1927 auch eine Abhandlung zur Neuen Sachlichkeit in der Musik, in der er versuchte, eine auf die Bedürfnisse eines Massenpublikums geformte, verständliche Musik zu begründen (vgl. Grosch 1999, 17). Freilich hatte das Surrogat der amerikanischen Jazzmusik, das in den Berliner Etablissements geboten wurde, wenig zu tun mit dem Original, obwohl immer mehr US-Musiker im Berliner Nachtleben auftraten. Häufig war die angebliche Jazz-Musik auf den deutschen Geschmack hin gezähmt. Dem Großstadtschlager angeglichene Vokalmusik mit einzelnen Elementen aus dem amerikanischen Jazz führten etwa die Comedian Harmonists vor, die nach 1933 wie fast die gesamte Musikkultur der Weimarer Zeit als jüdischdekadent diskriminiert wurden. Der Schlager wurde in vielfältiger Form zu einem zentralen Ausdrucksmittel der Weimarer Popularkultur, häufig auch in der Form der sog. Nonsens- und Quatschlieder („Wer hat denn den Käse zum Bahnhof gerollt“). Couplets und Lieder waren wichtige Bestandteile der Revuen und der immer noch populären Operettenkultur. In den Revueliedern gibt es mitunter direkte Referenzen zur Neuen Sachlichkeit, etwa im bekannten, auch von Marlene Dietrich gesungenen „Es liegt in der Luft was Idiotisches“ aus der Revue Es liegt in der Luft (Ein Spiel im Warenhaus) von Mischa Spoliansky und Marcellus Schiffer, die 1928 uraufgeführt wurde. Das Lied treibt seinen Spott mit der Sachlichkeit im modernen Großstadtleben und der kommenden radikalen Schmucklosigkeit: „Fort mit Schnörkel, Stuck und Schaden! / Glatt baut man die Hausfassaden!“ Gefolgt vom eingängigen Refrain: „Es liegt in der Luft eine Sachlichkeit, / Es liegt in der Luft

Amerikanischer Einfluss

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Crossover

Sport

eine Stachlichkeit […].“ (Zit. n. Hinton 1995, 8). Verwendet werden musikalische Unterhaltungsformen nicht zuletzt auch in politischen Kampagnen. Lieder mit eingängigen politischen Parolen begleiteten die Massenversammlungen der kommunistischen Agitprop-Gruppen, dienten aber auch als Untermalung völkisch-faschistischer Aktivitäten. Schon in der Weimarer Zeit lässt sich, ohne dass es so weit getrieben worden wäre wie in der gegenwärtigen Popkultur der Postmoderne, eine Grenzaufweichung zwischen den Genres und zwischen Hoch- und Trivial-Kultur feststellen. ,Ernsthafte‘ Komponisten wie Kurt Weill oder Ernst Krenek, auch Paul Hindemith und Hanns Eisler kollaborieren mit Autoren, die von den neusachlichen Schreibweisen geprägt sind. So entstehen Werke, denen der Geist des Amerikanismus ebenso eingeschrieben ist wie eine aggressive Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen, wie die Dreigroschenoper und Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny von Brecht/Weill, beides Werke, die wiederum Schlager hervorbrachten. Schlager und Unterhaltungsmusik gehen als Zitatmaterial und Signalelemente auch etwa in die Zeitromane von Irmgard Keun ein. Manche Autoren gehen noch weiter und versuchen, musikalische Strukturen direkt in den narrativen Text zu integrieren, etwa Hans Janowitz mit seinem Roman Jazz (1927), in dem um eine eher triviale Liebesgeschichte herum das Lebensgefühl des Jazz sprachlich-rhythmisch reproduziert wird. Die Verbindung der Kulturbereiche zeigt sich bereits im Titel von René Schickeles Roman Symphonie für Jazz (1929). Die Aufnahme von Elementen der Massenunterhaltung (Kabarett, Varieté, Zirkus) in hochliterarische Werke, die sich schon bei avantgardistischen Schriftstellern der Jahrhundertwende (wie Wedekind, Panizza u.a.) findet, wird nun durch die systematische Verwendung der Montageform weitergetrieben, so in der Bauform von Döblins Berlin Alexanderplatz, aber auch in den kritischen Volksstücken Horváths oder bei Brecht, wo Alltagsäußerungen, Tingeltangeltexte, Film und (Populär-)Musik implementiert werden. Im repräsentativen Überblickswerk Moderner Sport (1930) von Willy Vierath findet sich bereits in der Einleitung die zentrale Positionierung des Sports in der Gegenwart: Sport ist zum Losungswort des Tages, ja sogar des ganzen letzten Jahrzehnts geworden. Als sich die Notwendigkeit der Ertüchtigung der deutschen Jugend mit unabweisbarer Logik herausstellte, als man sah, daß Deutschland, dem die Blockade und Diplomatie das Blut und die Nervenkraft entzogen hatten, unbedingt einer durchgreifenden Kur bedürfe, sollte es nicht an Erschöpfung zugrunde gehen, da wurde der Sport zum Heilmittel, zum Stärker und Erneuerer! (Vierath 1930, 11) Dem Sport gegenüber scheint das Künstlerische nachgeordnet, dies sieht auch Diebold: „Die Jugend der Mechaniker und Fußballspieler lebe hoch! Die Jugend der Schreibenden – sie lebt ganz niedrig hinter dem Ruhm der Fußballspieler her.“ (Zit. n. Becker 2000b, 275) Die überragende Bedeutung, die hier – aus dem Gefühl von Niederlage und Krise heraus – dem Sport zugesprochen wird, ist bezeichnend für das Gesellschaftsverständnis der Zeit auf mehreren Ebenen: Der Sport ist nun nicht mehr nur elitäres Vergnügen, sondern massenhafte Aktivität, kollektive Übung, Teil politischer, kirchlicher oder gewerkschaftlicher Organisationen und unabhängiger Vereine, aber

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auch spontaner Ausdruck der Lebenslust, praktiziert in der Freizeit am Wannsee in Berlin, beim FKK oder in Parks und auf Freigeländen. Daneben bildet sich seit den zwanziger Jahren ein teilweise bereits professioneller Sportbetrieb heraus, der Zuschauermassen anzieht und auch in den Medien präsent ist. Die professionellen Sportarten, die in neu errichteten großen Arenen betrieben werden, sind der Fußball, vor allem aber das Berufsboxen und die Sechstagerennen (vgl. Hoeres 2008, 121f.). Das Boxen wird unter dem Einfluss des Amerikanismus nun auch nach Deutschland importiert und erhält schnell das Image des Proletensports, über den sich die Bildungsbürger mokieren, der aber von den Massen geliebt und heiß diskutiert wird. Erstmals gibt es in den zwanziger Jahren Stars in diesen Sportarten, die von den illustrierten Zeitschriften und in den Wochenschauen popularisiert werden, etwa Paul Samson-Körner oder Max Schmeling, der ab Mitte der zwanziger Jahre als Schwergewichtsboxer sehr erfolgreich war und auch früh als Medienstar reüssierte. Sportler wie Schmeling fungierten als Verkörperung des muskelbepackten, stählernen Mannes, aber diesem Idealbild näherte sich nun auch die Frau an, die ihre Fitness für den Beruf, aber auch zur Steigerung ihrer erotischen Attraktivität einsetzte. Vicki Baum etwa ging, ebenso wie Marlene Dietrich, Carola Neher und Leni Riefenstahl, regelmäßig zum Boxtraining und ließ sich dabei für die Erzeugnisse des Ullstein-Verlages ablichten. Sport wird zum Thema literarisch-politischer Diskurse. Nicht nur entstehen spezielle Sportzeitschriften wie Die Koralle, Sport und Sonne und Start und Ziel, auch viel gelesene Kulturzeitschriften wie der Querschnitt oder der neusachliche Scheinwerfer, mit Artikeln etwa über die Weltklasseschwimmer Weissmüller und Arne Borg, beschäftigen sich ausgiebig mit Sportthemen. Von den neusachlichen Literaten wird der Sport als Ausdruck einer modernen, pragmatisch-zweckhaften Lebenshaltung weithin begrüßt. Man zeigt sich gern öffentlich mit den neuen Heroen, so der schmächtige Intellektuelle Brecht mit dem körpermächtigen Samson-Körner auf einem bekannten Foto, Schlägermütze und Sportkluft unterstützen den sportlichmodernen Ausdrucksgestus. In der neusachlichen Literatur spielen Sportmotive eine große Rolle: Abgesehen von vielfältiger Anwendung als atmosphärisches oder figuratives Moment in erzählenden Texten, bildet sich sogar eine Subgattung des Zeitromans heraus, der heute fast vergessene Sportroman (vgl. Sicks 2008). Die Sportromane sind der Unterhaltungsliteratur zuzurechnen und konzentrieren sich meist auf den aktuellen Leistungs- oder Wettbewerbssport, auf Leichtathletik, Tennis, Boxen, Motorsport. Auf ästhetisch eher unterkomplexem Niveau geht es aber doch um Themen, die auch für Brecht oder Feuchtwanger wichtig sind, um die „Selbstermächtigung“ (Sicks 2008, 66) des Individuums, seinen Kampf um Kontrolle und Selbstbehauptung. Man will gegen die Bedrohungen durch die Moderne bestehen, zugleich auch die Dichotomie von Körper und Natur, die oft in Maschinenmetaphorik gefasst wird, überwinden (vgl. Sicks 2008, 110). Zu Hymnen auf den Geschwindigkeitsrausch geraten die Gedichte des Essener Autors Hannes Küpper, etwa das Gedicht „Der fliegende Fisch“ über den Schwimmweltrekordler und späteren Tarzan-Darsteller Jonny Weißmüller oder „327 Stundenkilometer“ (zit. n. Schütz/Vogt 1986, 26) über den Bri-

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ten Henry Segrave, der 1927 mit seinem Rennwagen Sunbeam einen neuen Weltrekord mit 327,96 km/h aufgestellt hatte: „Es ist vollbracht, das einmal einzige Ereignis, / denn: / Diese Fahrt bleibt ewig ohne ein Gleichnis, / und / Jene, die den Rekord überbieten, morgen oder später, / alle / Müssen rasen im Schatten von Segraves 327 Stundenkilometer.“ (Ebd.; vgl. Lethen 1970, 66f.) Gerade Sportler mit dem Flair des Exotischen erregen Aufmerksamkeit, wobei rassistische Untertöne oft bemerkbar sind: Vor allem die schiere ,schwarze‘ Körperlichkeit soll der erschlafften alteuropäischen Kultur eine Blutauffrischung liefern. In Yvan Golls enthusiasmiertem Aufsatz „Die Neger erobern Europa“ von 1926 heißt es in bezeichnender Diktion: „Sie erfüllen bereits den ganzen Kontinent mit ihrem Geheul, mit ihrem Lachen. Und wir sind nicht erschrocken, wir sind nicht erstaunt: im Gegenteil, die Alte Welt bietet ihre letzten Kräfte auf, um ihnen zuzuklatschen.“ (Zit. n. Kaes 1983, 256) Der junge Hermann Kasack schreibt 1928 in der Weltbühne unter dem Titel „Sport als Lebensgefühl“, ganz im neusachlichen Geist, der Einzelne „setzt sich heute weniger mit der Idee als vielmehr mit der Wirklichkeit auseinander“ (ebd., 260), und damit finde im Sport „die Erneuerung der Vitalität ihren allgemeinsten Ausdruck“ (ebd.). Eindeutig ist das Lob des Sports als Kraftquell – trotz der Verbindungen zum Typus der Neuen Frau – maskulin konnotiert. In Kurt Pinthus’ wichtigem Aufsatz „Männliche Literatur“ von 1929 ist die Richtung bereits im Titel genannt, analog zur aggressiven Körperlichkeit des Kampfsports sei die neue Literatursprache „ohne lyrisches Fett, ohne gedankliche Schwerblütigkeit, hart, zäh, trainiert, dem Körper des Boxers vergleichen“ (zit. n. Kaes 1983, 328). Die Verbindung des Sportlichen mit dem Literarischen und Dramatischen zieht sich durch Brechts Schriften aus der Zeit der Weimarer Republik: Ein Anfang 1920 entstandener Aufsatz etwa hat den Titel „Das Theater als sportliche Anstalt“ (1988–2000, Bd. 21, 55f.), in „Das Theater als Sport“ fordert er eine Betrachtung „mehr nach der sportlichen Seite hin“ (ebd., 58), im 15. Bild von Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny wird ein Boxkampf vorgeführt. Besonders deutlich ist die Übertragung von Vorführelementen des Boxsports in Brechts Drama Im Dickicht der Städte, dessen erste Fassung bereits 1921 entstanden war und das 1927 in einer zweiten Fassung erschien. Brecht verbindet hier die Thematik der Urbanität mit dem Bild des Boxens als Kampf Mann gegen Mann. In einem „Vorspruch“ werden die Theaterzuschauer als Sportpublikum angesprochen, das Setting ist eine Kampfarena. In der Parabelerzählung „Der Kinnhaken“ geht es um neusachliche Tugenden, bzw. deren Fehlen: Kontrolle über das Geschehen und Vertrauen in die eigene Kraft, also Möglichkeiten der Selbstbehauptung in einer eigentlich feindlichen Umwelt (Becker 1999/2000, 205–209). Auch die Neue Frau wird in einen sportlich-,männlichen‘ Kontext gestellt, allerdings nur partiell. Im Sportroman streben die Protagonistinnen mittels sportlicher Leistungsfähigkeit zwar nach Unabhängigkeit, sie werden dann im Narrativ aber rasch wieder in traditionelle Gemeinschaftsformen verortet, so dass hier die neusachlichen Distanz- und Autonomiehaltungen eher eine Kontrastfolie bilden für die Affirmation konservativer Weiblichkeitszuschreibungen (vgl. Sicks 2008, 144). Anders die Sichtweisen bei Autorinnen wie Keun, Baum, vor allem aber Fleißer. Ihr Frieda Geier-Roman zeigt eine Heldin, die sich den distanzierten, warenförmigen und kalkulierten Formen des

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Geschäftslebens anpasst, diese sogar bis ins Privatleben verlängert, schließlich aber darin untergeht. Der Roman „läßt erfahren, daß die Frau, die sich in diese Gemengelage des virilen Narzißmus einmischt, zerrieben wird“ (Lethen 1994, 184). Dabei zeigt die Autorin zugleich kritisch die Funktion des Sports, der in einem engen Zusammenhang mit dem Akt des Verkaufens steht und in die Bahnen der ökonomischen Zweckhaftigkeit geleitet wird. Die Ökonomisierung, der Frieda sich anpassen muss, zeigt sich in der Beziehung zum Sportler Gustl, der von ihr verlangt, die traditionelle weibliche Rolle zu spielen. Der Charakterisierung der Heldin korrespondiert die klare und nüchterne Sprache des Romans, die auf jede Psychologisierung und Subjektivierung verzichtet (vgl. Becker 1995d, 229). Eine Sonderstellung nimmt Kasimir Edschmids Sportroman Sport um Galgaly (1928) ein, der in einem von Sportlern gebildeten Dreiecksverhältnis eine Art moderner Liebesutopie der Gleichberechtigung der Geschlechter entwirft (vgl. dazu Sicks 2008, 139). Voraussetzung für die Neue Sachlichkeit ist die Entwicklung hin zu einer Kultur des Visuellen und medial Vermittelten, die in der Weimarer Zeit eine neue Stufe erreicht (vgl. Becker 2000a, 363), auch wenn die Schrift- und Buchkultur für die Eliten maßgebend blieb. Die Zeitungen wurden in stärkerem Maße bebildert, verbesserte Reproduktionstechniken machten den Druck von Fotos besser möglich. Ebenfalls einen rasanten Aufstieg erlebten die illustrierten Magazine mit aufwendigen Fotoreportagen, die große Rezipientenkreise erreichten, die Berliner Boulevardzeitung Tempo etwa druckte täglich in drei Ausgaben Bilder vom Tage. Zum Massenvergnügen wurde vor allem das Kino: Etwa 5000 Lichtspielhäuser gab es Ende der zwanziger Jahre in Deutschland, täglich ist eine Besucherzahl von etwa zwei Millionen anzunehmen. Dieser stetig wachsende Markt, der durch den Übergang vom Stumm- zum Tonfilm 1929/30 nochmals einen Schub erhielt, wurde nach einer starken Konzentrationsbewegung in Deutschland beherrscht von drei Filmkonzernen: Terra, Tobis, vor allem aber der Ufa. Im Kino – das machte, wie Bela Balázs schon 1924 in seinem Buch Der sichtbare Mensch schrieb, seine Faszinationskraft aus – deutete sich eine neue Kultur des Gegenständlichen und Körperlichen an, die gegenüber der auf eine kleine Schicht begrenzten begriffsgerichteten Schriftkultur die Massen anzog. Dieses neue Publikum bestand zu einem großen Teil aus Arbeitern und Angestellten, Arbeitslosen nach dem Einsetzen der Weltwirtschaftskrise, denn das Kino war verstehbar und erschwinglich für fast alle. Und es bot den Stoff, aus dem die Träume sind. Davon reden auch die neusachlichen Romane. Cornelia Battenberg in Kästners Fabian – eine beruflich emanzipierte Frau mit Doktortitel – bekommt, nachdem sie dem damals schon vorhandenen Klischee entsprechend dem mächtigen Produzenten sexuell zu Willen war, die Traumrolle im Film. Doris in Keuns Kunstseidenem Mädchen möchte, wie im Film, ein Glanz werden, und auch die junge, attraktive Flämmchen in Baums Menschen im Hotel, Prototyp des Girls der zwanziger Jahre, will zum Film, worauf ihr temporärer Chef, der Fabrikdirektor Preysing, gequält repliziert: „,Warum denn gerade Film. Alle habt ihr den Filmrappel.‘ In das Alle war seine Tochter Babe eingeschlossen, die Fünfzehnjährige, die vom Film schwärmte.“ (Baum 1988, 85)

Kinokultur

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Der Film der 1920er Jahre hat verschiedene Funktionen: Er ist, ebenso wie die Fotografie, Mittel präziser Realitätswiedergabe, informationelles Instrument, aber auch Vehikel massenhafter Projektion, in den Träumen der kleinen Ladenmädchen verbindet sich die Möglichkeit narzisstischer Gratifikation durch das gespiegelte, glamouröse Selbstbild mit der Chance phantasierter erotischer Erfüllung. Im Begriff der Traumfabrik, der von Ilja Ehrenburg zuerst verwendet worden sein soll, verbindet sich dieser Aspekt der Bedürfnisbefriedigung mit dem Produktionsablauf bei der Herstellung des Produkts, wie es in den großen Filmtrusts Hollywoods, aber auch schon in den Babelsberg-Studios der zweitgrößten Filmgesellschaft der Welt, der Ufa, sich vollzog. Im industriell hergestellten Unterhaltungsfilm ist das Ziel vor allem, „den imaginären Wunschwelten der Konsumenten durch seine Illusionskraft Glaubwürdigkeit zu verschaffen“ (Schmitz 2001, 159). Dies macht die Doppelseitigkeit der Verwendung des Films im neusachlichen Kontext aus: Einerseits wurde er als Produkt des Illusionären kritisch betrachtet (Kracauer), da er dem beanspruchten Objektivismus widersprach, andererseits aber bot er avancierte technische Darstellungs- und Abbildungsmöglichkeiten realer Phänomene. Zu unterscheiden sind hierbei die künstlerisch ambitionierten Kunst- und Autorenfilme von den trivialen Unterhaltungsangeboten, die zunehmend in die Lichtspielhäuser kamen. Hier wurden die technisch avancierten Mittel immer besser genutzt, dabei aber die affektiven Wirkmittel des Boulevardtheaters und des Melodrams weitgehend beibehalten, realistischer Darstellung also ausgewichen. Diese Vermischung von Verismus und Emotionalismus findet sich auch in der Handlungsstruktur von neusachlichen Romanen. Mitte der zwanziger Jahre nach der wirtschaftlichen Erholung wendete sich die deutsche Filmindustrie, die wie die Ufa von amerikanischen Finanzspritzen abhängig war, zu den konventionellen Mustern des narrativen Langfilms zurück (vgl. Toeplitz 1987, 421). Der Beginn eines realistischen Filmstils in Deutschland ist mit Ewald André Duponts Varieté (1925) anzusetzen, der in Deutschland wie in den USA ein großer Erfolg wurde (vgl. ebd., 428). Neusachliche Filme im strengen Sinne eines dokumentarischen, authentischen Sehens unter Verwendung der avancierten filmästhetischen und -technischen Mittel entstanden in Deutschland nur wenige, meist als Dokumentarfilme (vgl. Schmitz 2001, 163): G.W. Pabsts Tonfilm Kameradschaft (1931) und Menschen am Sonntag (1931), eine Gemeinschaftsarbeit der jungen Filmautoren Curt und Robert Siodmak, Edgar G. Ulmer und Fred Zinnemann, zu dessen Drehbuch u.a. Billie Wilder Text beisteuerte. Neben Karl Otten war am Drehbuch Peter Martin Lampel beteiligt, der als Autor von Zeitstücken bekannt geworden war. Ein weiterer klassischer Film der Neuen Sachlichkeit war Walter Ruttmanns ebenfalls dokumentarische Arbeit Berlin. Die Symphonie der Großstadt (1927). Die beiden dokumentarischen Filme zeigen – der neusachlichen Maxime gemäß – das Alltagsleben in der Großstadt, vor allem auch den Freizeitbereich junger Leute, Szenen aus der Arbeits- wie Vergnügungssphäre. Es wird nur authentisches Material verwendet und möglichst detailreich und aussagekräftig montiert, ein Verfahren, das in manchen Aspekten der Kompositionsweise von Döblins Berlin Alexanderplatz ähnelt. Pabsts Kameradschaft zeigt die dokumentarische und doch kunstvolle Methode des neusachlichen Stils, den ,unsichtbaren Schnitt‘, besonders deutlich in der Form eines Spielfilms um die

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Zusammenarbeit deutscher und französischer Arbeiter bei einem Grubenunglück. Diese Schnitttechnik, die den Eindruck direkter Wahrnehmung verstärkt, hatte Pabst bereits in seinem Film Die freudlose Gasse (1925) angewendet. Der Film als Medium mit seinen Möglichkeiten, Grenzen und Gefahren wurde im neusachlichen Kontext bald verstärkt thematisiert und problematisiert. Brecht, Benjamin und andere loteten die Möglichkeiten des Films bezüglich seiner gesellschaftsverändernden Potenzen aus, so wurden etwa die sowjetischen Revolutionsfilme (,Russenfilm‘) rezipiert und leidenschaftlich im Hinblick auf die Verwendung spezifischer Mittel diskutiert. In die literarischen Narrationen wurde das Filmische ebenfalls modellhaft einbezogen, etwa in Brechts Kurzgeschichte „Die Bestie“. Vicki Baum veröffentlichte 1932 ihren Roman Leben ohne Geheimnis. Hierin führt sie eine Figur vor, Francis Warren, die, wie Flämmchen in Menschen im Hotel, ein Filmstar werden möchte, nur hier wesentlich konkreter (vgl. Rutz 2000). Besonders früh und intensiv suchte ein Autor die Verbindung zum Film, der für seine Wendigkeit und auch für seine Fähigkeit, aktuellen Trends nachzugehen, bekannt war: Arnolt Bronnen, der schon 1922 zusammen mit seinem zeitweiligen Freund Brecht ein Filmexposé verfasst hatte: Robinsonade auf Asuncion. Begonnen hatte er zwar als Bühnenautor, bald aber hielt er diese Form für obsolet: „Das Kino ist das Extrakt der Epoche, das Theater nur mehr ihr Surrogat.“ (Zit. n. Wagner in Bronnen 2003, 326) Die Erfahrungen, die Bronnen im Film sammelte, gingen ein in den Roman Film und Leben Barbara La Marr, der 1927 zuerst in der Zeitschrift Die Dame als Fortsetzungsroman veröffentlicht wurde, und dann 1928 ebenfalls sehr erfolgreich als Buchfassung im Rowohlt Verlag. In halbdokumentarischer Form, versehen mit wirksamen Spannungselementen, skandalösen Einzelheiten und ohne Scheu vor Klischees bereitet Bronnen hier Leben und Karriere der in den zwanziger Jahren als Film-Vamp bekannten amerikanischen Schauspielerin auf. Als ein besonders innovatives filmisches Stilmittel wurde gewertet, dass Bronnen oben auf der Seite eine Laufzeile einfügte, die den Inhalt wie eine Art Treatment zusammenfasste (vgl. Wagner in Bronnen 2003, 332; zur Kältemetaphorik und der Funktion des Blicks auch Capovilla 1994, 91ff.). In der zeitgenössischen Kritik wurde die kinematographische Sprache hervorgehoben, auch, etwa von Bernard von Brentano, die unpsychologische Berichtform, zudem Elemente wie schneller Szenenwechsel, Episodenhaftigkeit, Tempo etc. (vgl. v. Brentano, in: Becker 2000b, 154). Dass Bronnen nach seinen expressionistischen Anfängen durch diese und andere Werke, vor allem durch den Roman O.S., „die Etablierung der neusachlichen Ästhetik vorantreibt“ (Becker 2000a, 270f.), wird auch noch von der neueren Forschung hervorgehoben. Der Rundfunk, der in Deutschland mitten in Inflation und hoher Arbeitslosigkeit im Oktober 1923 seinen Sendebetrieb aufnahm, ist – vor allem technisch gesehen – noch stärker als der Film ein Kind des Kriegs. Zunächst sind es öffentliche Hörstuben, in denen Sendungen empfangen werden. Die gesamte Weimarer Zeit hindurch blieben die individuelle Versorgung mit Geräten und die Reichweite der Sender sehr beschränkt, und erst die industrielle Massenfertigung nach 1933 bereitete den Weg für den Rundfunk als wirkliches Massenmedium. Allerdings gab es bereits 1924 100.000 Teilneh-

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mer, im 2. Halbjahr desselben Jahres bereits 1 Million (vgl. Krug 2003, 15). Der Publizist Otto Alfred Palitzsch schreibt 1927 unter dem Titel „Gefunkte Literatur“: „Das Radio hat sich in aller Stille eingeschlichen. Heute gehört es zum Wohnungsinventar wie Zierschrank und Topfpflanze.“ (Zit. n. Kaes 1983, 197) Zudem war die Entwicklung in Deutschland, im Gegensatz zu den USA, wo sie privatwirtschaftlich verlief, öffentlichen und staatlichen Restriktionen unterworfen. Dies bedeutet, dass das deutsche Radio in der Weimarer Zeit weitgehend obrigkeitstreu war, dass es auf Aktualität und auch auf Unterhaltung weitgehend verzichtete und sich – entsprechend den Vorgaben der konservativen Kulturfunktionäre – als Vermittler der etablierten Künste Theater, Literatur und (E-)Musik verstand und deshalb entsprechend dem öffentlichen Bildungsbetrieb organisiert war. Nachrichten, politische Informationen, Reportagen zu aktuellen Problemen blieben Mangelware (vgl. hierzu ausführlich Hagen 2005, 66ff.). Immer wieder wurde nach einer neuen Organisationsform gesucht, die „einerseits die Interessen der Wirtschaft berücksichtigte, andererseits vor allem die staatlichen Einflussund Kontrollmöglichkeiten erhielt und ausbaute“ (Hickethier 2008, 221). Dennoch wurde das Potenzial des Radios als Massenmedium und auch seine Bedeutung für die Literatur früh erkannt, von Kritikern wie Alfred Polgar, Komponisten wie Kurt Weill, vor allem aber von linken Theoretikern wie Brecht und Benjamin. Das Radio wurde hier nicht einfach als Medium zur Unterhaltung und zur Information verstanden, es trug ganz andere Hoffnungen als „jene allermodernste Maschine, die die Chance und die Hoffnung auf einen Neuen Menschen erkennen ließ. Dieser neue Typus Mensch wäre es, der in Verwendung dieser Maschine das Gesicht der Masse vermenschlichen würde“ (Hagen 2005, 109). Gegen die elitäre bürgerliche Kunstkonzeption, die zunächst auf das neue Medium übertragen wurde, und gegen die Auslieferung an die Profitinteressen der Privatwirtschaft verlangte dies vom gesellschaftlich engagierten Künstler eine Verbindung von Kunst und Massenattraktivität, aber auch die Integration kritischer Praxis. Diese neue Kunst erforderte die aktive Partizipation der Zuhörer, die in den zahlreichen Radioexperimenten erprobt wurde, in Benjamins ,Hörmodellen‘ – etwa Gehaltserhöhung?! Wo denken Sie hin!, das Benjamin mit Wolf Zucker schrieb und das am 26.3.1031 ausgestrahlt wurde –, in der Zusammenarbeit von Brecht und Weill bei der Dreigroschenoper und der Kooperation von Brecht, Weill und Hindemith bei dem Hörspielprojekt Flug der Lindberghs. Lindberghflug – Der Ozeanflug (1929), das eine charakteristische neusachliche Technik- und Massenkommunikationsthematik aufweist. Für Brecht, wie auch weniger dezidiert politisch für Döblin, kann das Radio keine Variante der alten Medien sein, es muss vielmehr in die Verfügungsgewalt der neuen Massen überführt werden. So erscheint es Brecht also nötig, den Rundfunk in eine substantiell demokratische Institution zu verwandeln, das Radio soll von einem Distributions- in einen Kommunikationsapparat verwandelt werden (vgl. Kaes 1983, 217). Der Konkretionsgrad dieser Pläne blieb eher gering, an eine mehr als punktuelle Realisierung war nicht zu denken. Dass das Radio, ebenso wie der Film, zu einer Konkurrenz vor allem für das Theater werden könnte, stellte der Theatermann Leopold Jeßner 1928 fest, hielt allerdings an der konservativ-elitären Überzeugung von der Superiorität des Theaters fest:

4. Mediale Formen

Heute kommen hundert Kinos auf ein Theater und auf einen Theaterbesucher tausend Radiohörer. Dennoch kann das Theater in künstlerischer Beziehung nicht überboten werden, es wird immer das höhere Objekt für vielleicht nicht sehr viele, aber die Besten bleiben. (Zit. n. Becker 2000b, 262) Die staatliche Reglementierung und Literarisierung des frühen deutschen Rundfunks brachte als Möglichkeit die Entwicklung einer Hörspielkultur mit sich, deren Wirkungen bis zur neuen Blütezeit nach 1945 reichten. Das erste im deutschen Rundfunk gesendete Hörspiel war nach heutiger Forschungsmeinung Zauberei auf dem Sender, das von der Frankfurter Station am 24.10.1924 ausgestrahlt wurde (hierzu und zu den alternativen Begriffen vgl. Krug 2003, 14; Hagen 2005, 91). War das Hörspiel zu Beginn, wie Brecht es nannte, ein „Stellvertreter“ (zit. n. Kaes 1983, 216) für das Theater, so emanzipierte es sich bald davon und versuchte, eine eigene Formensprache zu entwickeln. Bis zum Ende der zwanziger Jahre stieg die Zahl der gesendeten literarischen Hörspiele steil an, und die meisten der wichtigen Autoren – Brecht, Döblin mit der Hörspielfassung seines Berlin Alexanderplatz u.a. – schrieben für den Rundfunk. Als Schöpfer des künstlerischen Hörspiels der Weimarer Zeit gilt Eduard Reinacher mit Der Narr mit der Hacke, das erfolgreichste Hörspiel schrieb Ernst Johannsen, der auch mit dem Antikriegsroman Vier von der Infantrie. Ihre letzten Tage an der Westfront 1918 (1929) hervorgetreten war, mit Brigadevermittlung (1929), das zur Vorlage für G. W. Pabsts Film Westfront (1930) wurde. Dieses weltweit erfolgreichste deutsche Hörspiel, das in engem Zusammenhang mit der Kriegsliteratur um 1930 von Renn, Remarque u.a. steht, ist offenkundig stark von neusachlichen Einflüssen geprägt (vgl. dazu Krug 2003, 27). Der erfolgreichste sozialistische Hörspielautor der Weimarer Republik war Friedrich Wolf, der mit Krassin und John D. erobert die Welt dokumentarische Darstellungsformen verwendete (vgl. Hörburger 1975, 343ff.). Neben den Hörspieltheorien Brechts und Benjamins waren maßgebend vor allem die Arbeiten von Richard Kolb, der 1932 die Aufsatzreihe Horoskop des Hörspiels publizierte. Wichtig im Zusammenhang mit neusachlichen Verfahrensweisen ist der Übergang zur Schallplattenwiedergabe um 1930, vor allem aber die Montagetechnik, die erstmals von Walter Ruttmann in seinem Hörbild Weekend (1930) angewendet wurde, ein Stück, das ausschließlich aus Geräuschen bestand und in gewisser Weise analog zu Ruttmanns Film Berlin: Die Sinfonie der Großstadt gesehen werden kann (vgl. Krug 2003, 37f.). Eine bis heute zentrale Radioform, die Reportage, wurde ebenfalls in der Weimarer Zeit von Autoren wie Alfred Braun und Paul Laven entwickelt. Erstaunlich ist allerdings, dass sich keiner der namhaften Reportageschriftsteller – etwa Kisch oder Roth – in der Radioreportage versuchten (vgl. Wessels 1995, 94). Beklagt wird von zeitgenössischen Beobachtern, dass der Rundfunk noch immer durch Lesungen und aufgenommene Theateraufführungen das Alte reproduziere und nicht auf der Höhe einer Entwicklung sei, die in der Literatur und im Film bereits ihren Durchbruch erlebt habe. So geht es Arno Schirokauer in seinem Artikel „Kunstpolitik im Rundfunk“ darum, eine nur ,privatistische‘ Rundfunkpolitik abzuschaffen und den Anschluss an die Reportageform der Neuen Sachlichkeit – die hier explizit nicht genannt wird

Hörspiel

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IV. Aspekte und Ausprägungen der neusachlichen Literatur

– zu finden, denn außerhalb des Rundfunks entstehe schon ,RundfunkKunst‘ (vgl. Kaes 1983, 205): Es ist im Wesentlichen nicht falsch, dass man vom ,Dichter‘ Reportagen verlangt […]. Wichtig ist, was allgemein ist, und Alle geht nur an, was von allen ausgeht. Darum wird das Gedicht Bericht. Darum ist der Künstler nachlässig geworden gegen seine Phantasie und durchlässig geworden für die Zeit. (Zit. n. Kaes 1983, 205) Das (wieder) Öffentlich-Werden der Dichtung ist auch für Döblin das Entscheidende, verbunden mit der Mündlichkeit, die dem Medium des Literarischen weitgehend verloren gegangen war: „Beides, mündlich zu sprechen oder sprechen zu lassen, und sich auf den lebenden einfachen Menschen der Straße einzustellen: diese beiden literaturfremden, funkformalen Ansprüche sind auch literarisch gute Ansprüche.“ (Zit. n. Kaes 1983, 212)

V. Einzelanalysen repräsentativer Werke 1. Erich Kästner: Fabian Nach den Vorläufern im 19. Jahrhundert, etwa Fontane, und Rilkes Malte Laurids Brigge, dem ersten deutschsprachigen Metropolen-Bewusstseinsroman, wird die Großstadt in zahlreichen Romanen der 1920er Jahre nicht nur zum Schauplatz, sondern zum thematischen Zentrum, teilweise zum Agens, wie in James Joyces Ulysses, John Dos Passos’ Manhattan Transfer oder in Alfred Döblins Berlin Alexanderplatz. Auch die meisten Romane der Neuen Sachlichkeit sind in der großstädtischen Sphäre angesiedelt, ohne deshalb als wirkliche Großstadtromane zu gelten. Im Großstadtroman muss das Urbane mehr sein als die Szenerie, vor der sich das Geschehen abspielt, wie dies etwa in den Berlin-Romanen von Theodor Fontane der Fall war. Eine ganz neue kollektive Erfahrung geht in diese Romanform ein, Faszination wie Angst angesichts der Metropolenphänomene von Reizüberflutung, Dissoziation, Orientierungsverlust. Die Großstadt stellt sich dem Autor als Darstellungsproblem dar: Sie scheint nicht mehr in konventionellen epischen Formen fassbar und lässt keine abgeschlossene Privatheit zu. Radikalisiert ist nun, was Georg Lukács philosophisch in seiner Theorie des Romans (1916) bereits als Gattungsspezifikum für die Modernität angab: Der Roman sei „die Epopöe eines Zeitalters, für das die extensive Totalität des Lebens nicht mehr sinnfällig gegeben ist, für das die Lebensimmanenz des Sinnes zum Problem geworden ist, und das dennoch die Gesinnung zur Totalität hat“ (Lukács 1920, 44). Hatte bereits Georg Simmels Wahrnehmungstheorie – formuliert u.a. in seinem einflussreichen Vortrag „Die Großstädte und das Geistesleben“ von 1903 – die Existenzbedingungen in der Großstadt problematisiert, hatten die Expressionisten die Wirkungen des Urbanen erstmals umfassend thematisiert, so bringt die Phase nach dem Krieg einen neuen Schub der künstlerischen Darstellung. Die Grundlagen des realistischen Romans – nachvollziehbare Motivation, Durchschaubarkeit der Geschehensabläufe, kontinuierlicher Aufbau, Linearität, auktoriale Reflexivität – erschienen nun unzureichend. Die neuen Erfahrungen von Geschwindigkeit, von Technik und Vermassung sollten in den Erzählvorgang selbst eingeholt, diskontinuierliche Geschehensabläufe und Simultaneität vermittelt werden. Vor allem hatte der avancierte Romanautor die Innovationen im medialen Bereich sprachlich-narrativ umzusetzen, dies in der Konstruktion (Montageformen) wie thematisch, in einer filmischen Modellierung der Figuren und ihrer Innenwelt. Die Stelle dieses neuen Typs von Großstadtroman ist in Deutschland paradigmatisch besetzt mit Döblins Berlin Alexanderplatz. Dieser Roman, der zweifellos neusachliche Elemente hat, ist aber als Ganzes der Strömung kaum zuzuordnen. Es kann jedoch davon gesprochen werden, dass ein zweiter Typ des Metropolenromans aus der Neuen Sachlichkeit erwächst,

Metropolenroman

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

der am deutlichsten in Erich Kästners Fabian realisiert ist. Der Begriff Großstadtroman selbst taucht in der Diskussion der frühen dreißiger Jahre nur selten auf (vgl. Würzner 1986, 79). Eine Reihe von Merkmalen des Metropolenromans ist im Fabian zu finden: die konkrete und topologisch genaue Zeichnung der Großstadt Berlin, eine realistische Schilderung des Lebens inmitten von Beschleunigung und Chaotik – vom Individuum reflektiert als Irritation und Orientierungslosigkeit –, die Beobachterposition des zentralen Charakters, der wie die Protagonisten im neusachlichen Roman fast stets, in der Wirklichkeit der Großstadt unbehaust bleibt. Hier wie in zahlreichen anderen neusachlichen Romanen bestimmen filmische Sehweisen die Wahrnehmumg, rasche, abrupte Szenenwechsel, kameranaloge Fokussierungen, verknappte Dialoge u.Ä. finden sich auch in heute weniger bekannten neusachlichen Romanen, zum Beispiel in Hermann Kestens Glückliche Menschen (1931). Auffällig ist dort besonders die Beschleunigung der Ereignishaftigkeit als genaue Schilderung geschäftlicher Verläufe. Bestimmt man Berlin Alexanderplatz wie Fabian typologisch als Großstadtromane, so sind die Unterschiede grundsätzlich zu benennen: Döblins Werk ist ein „polyphoner Roman“ (Corbineau-Hoffmann 2003, 155). Eine teilweise chaotisch wirkende Kombination von Blicken, Bildern und Stimmen, Fragmentarisierung und Montierung der Einzelelemente macht den Kern des Erzählvorgangs aus, vorherrschend ist das Prinzip der bewusst eingesetzten und dem Leser als Sprunghaftigkeit vorgeführten Montage. Bei Kästner, aber auch bei Kesten, Baum, Keun und anderen neusachlichen Autoren, werden die Neukonstruktion der Wahrnehmungsweisen und die formalen Innovationen längst nicht so weit getrieben. Es dominieren durchgängig realistische, lineare und psychologische, also traditionelle Erzählweisen. Dies liegt in der Tendenz zur Übernahme journalistischer Bericht- und Reportageformen begründet, aber auch in einer anti-elitären Unterhaltungsabsicht, die leichtere Zugänglichkeit erfordert. Allerdings operieren die neusachlichen Romane etwa mit dem Einsatz filmanaloger Mittel sehr unterschiedlich: So wurde festgestellt, dass Fallada in Kleiner Mann – was nun? zwar durchgängig kinematographische Mittel einsetzt, zugleich aber einen „Ausgleich zwischen neuen Schreibverfahren und dem traditionellen Erzählen des 19. Jahrhunderts“ (Prümm 2007, 482f.) sucht. Demgegenüber sei der „Film formgebend für den Roman [gemeint ist Fabian], den man ohne Übertreibung als ,Kinostück‘ bezeichnen kann“ (ebd.), eine Behauptung, die angesichts des weitgehenden Fehlens von Elementen wie genuin filmischer Montage, syntagmatischen Verknüpfungen oder parallelen Handlungsabläufen etc. eher problematisch erscheint (so auch Preusser 2004, 141). Formal wirkt Kästners Roman deshalb im Vergleich zu Döblins Großstadtepos eher unterkomplex. Die Wirkung erwächst hier nicht aus der Spannung zweier Pole – „das elementar Menschliche der Ursituationen und die Dynamik der Existenz in der Modernität“ (Renzi 2007, 195) – sondern aus der inhaltlichen Verbindung moderner Elemente mit „vormodernen ästhetischen Mitteln“ (Preusser 2004, 127). Als Zeitroman bezieht sich Fabian eindeutig auf die Metropole: Die Fabel entfaltet, gruppiert um die Hauptfigur, den zunächst als Werbetexter tätigen und bald arbeitslosen Germanisten Jakob Fabian, der bei seinen Gängen durch die Stadt gezeigt wird, ein Porträt der Stadt Berlin um 1930. Hierbei

1. Erich Kästner: Fabian

sind allerdings deutliche Schwerpunktsetzungen und auch Auslassungen festzustellen: Die Handlung konzentriert sich auf wenige Stadtteile und bestimmte Bevölkerungsgruppen, die Beschreibungen des faktischen Umfeldes wirken mehr im Sinne einer Signalwirkung, etwa durch die Nennung von Straßennamen, als detailliert. Dabei stehen solche Orte und Interieurs im Vordergrund, die auf den Erfahrungsbereich des Autors bezogen sind. Es ist die Welt der Medien, der urbanen Treffpunkte und einer bestimmten Halbwelt, in der sich Fabian mit seinem Freund Labude trifft, in der er seine Geliebte Cornelia Battenberg kennenlernt und wo er die zumeist erotischen Angebote der Frauen erhält. Nur gelegentlich blendet das Erzählgeschehen auf andere Orte: die Villa von Labudes Eltern in Dahlem, den Berliner Norden, wo Fabian eine kurze Liebesbeziehung zu einer verheirateten Frau eingeht, schließlich in den letzten Kapiteln die Provinzstadt als Herkunftsort, in der er nach den enttäuschten beruflichen Aspirationen und Liebeshoffnungen vergeblich einen Neuanfang sucht. Fabian besetzt die vielen Schauplätze des Romans jeweils nur kurz und eher flüchtig, er entspricht in gewisser Weise dem seit dem 19. Jahrhundert präsenten Typ des Flaneurs, dann aber auch wieder nicht, denn im Roman geht es nicht um ein absichtsloses Schlendern, sondern um eine Suche, die freilich nie oder doch nur vorübergehend zu einem Ziel führt. Es handelt sich also bei Kästners Fabian um den Roman eines in die Metropole verschlagenen und ihr eher hilflos ausgelieferten Individuums, in dessen Handlungen und Schicksal sich allerdings auch die Signatur einer Epoche abbildet, der – wie dem Zentralcharakter – eine Mitte fehlt und die sich dem Eingriff entzieht und so das gegenwärtige Leben als provisorisch erfahren lässt (hier sind sogar Referenzen zu Musils Mann ohne Eigenschaften hergestellt worden, vgl. Zeller 2008, 332). Erich Kästner ist bis heute national und international einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren – als Romancier, Lyriker und Essayist, für Kinder wie Erwachsene. Seine Vielseitigkeit und sein Talent, sich schnell und in fast allen Medien ausdrücken und durchsetzen zu können, ermöglichten diese große Resonanz ebenso wie seine Allgemeinverständlichkeit, die ihn elitär bildungsbürgerlichen Kreisen eher suspekt, einem breiten Publikum aber gerade interessant machten. Kästner, 1899 in Dresden geboren und aufgewachsen, wurde nach Schulzeit und später Weltkriegsteilnahme zunächst angehender Wissenschaftler mit einer germanistischen Doktorarbeit an der Universität Leipzig über Friedrich den Großen als Schriftsteller (1925). In dieser Zeit war er schon Mitarbeiter bei Zeitungen und Zeitschriften, für die er Gedichte und Feuilletons schrieb, und bald wurde er zum professionellen Autor, als Theaterkritiker und Lyriker. Der Erfolg bei der Kritik und auf dem Buchmarkt kam bereits 1928 mit seinem ersten Gedichtband Herz auf Taille, dem Lärm im Spiegel (1929) und Ein Mann gibt Auskunft (1930) folgten. In den späten Weimarer Jahren war Kästner ein fast omnipräsenter Autor, versiert in Presse, Film und Radio, hart kritisiert zwar mitunter und von der NS-Journaille als zügel- und sittenloser Asphaltliterat beschimpft, insgesamt aber geschätzt und populär. Zum ,Volksschriftsteller‘ avancierte er vor allem durch die erfolgreichen Kinderromane der späten Weimarer Zeit, Emil und die Detektive (1929), der schon 1931 von der UFA unter der Regie von Gerhard Lamprecht verfilmt wurde und an dessen Drehbuch der junge Billie Wilder mitarbeitete, dann Pünktchen und Anton

Kästner als Erfolgsautor

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Kästner und die Neue Sachlichkeit

(1931) und Das fliegende Klassenzimmer (1933). Dass die Machtübernahme durch die Nationalsozialististen auch für Kästner, der in Deutschland blieb, einen harten Bruch bedeutete, dass er aber trotzdem, wenn auch unter Pseudonym, weiter veröffentlichen konnte, ist vielfach beschrieben worden. (Es gibt eine Reihe von eingehenden Biographien zu Kästner, u.a. Görtz/Sarkowicz 1999; am aktuellsten und ausführlichsten: Hanuschek 1999.) Als neusachlicher Autor wollte Kästner sich nie bezeichnet wissen. Schon 1927 drohte er scherzhaft in der Neuen Leipziger Zeitung: „Und wer die Dummheit beging, diesen Stil die ,Neue Sachlichkeit‘ zu nennen, den möge der Schlag treffen!“ (Kästner 1998, 104) In seinem Aufsatz „,Indirekte‘ Lyrik“ von 1928 wies er die Bezeichnung ebenso zurück: „Auch diesmal besteht eine innige Verwandtschaft mit der gleichzeitigen Malerei und Graphik. Deren stilistischer Charakter wurde mit dem Schlagwort ,Neue Sachlichkeit‘ einzukleiden versucht; aber es paßt nicht.“ (Kästner 1998, 131) Es half nichts: Kästner wurde (und blieb es bis heute) zum Repräsentanten dieser Strömung. Und dies besonders durch Fabian, dem wohl „bedeutendsten Roman der Neuen Sachlichkeit“ (Hanuschek 2004, 61). Trotz der späteren Versuche Kästners, sein Werk als Moralsatire verstanden zu wissen, handelt es sich bei Fabian zweifelsfrei um einen Roman mit dominierenden neusachlichen Merkmalen. Sabina Becker nennt Kästner generalisierend und gattungsübergreifend einen „der konsequentesten und prominentesten Vertreter des neusachlichen Programms einer publizistischen Ausrichtung von Literatur“ (Becker 2004, 117). Der Roman springt zu Beginn abrupt ins Geschehen, indem er die zentrale Figur Fabian in einer typischen Situation vorstellt, nämlich in großstädtischer Szenerie als Besucher eines Cafés. Außerdem wird der aktuelle Geschehenskontext streiflichtartig umrissen, wobei zugleich der Bezug zur Figur des Fabian als Medienmann hergestellt wird. In einem nächsten Schritt wird ein weiteres Moment initiiert, das Paradox im Dialog mit dem Kellner, als Fabian die Frage stellt, ob er zu seinem Termin „hingehen“ (ebd.) solle und schließlich das Gegenteil des Geratenen tut. Das Erzähltempo im Roman ist zügig – die erzählte Zeit umfasst ca. zwölf Tage –, die Sprache konzentriert sich auf parataktische Fügungen, der häufige Szenenwechsel und die insgesamt episodische Struktur nähern sich filmischen Ausdrucksweisen an. Das Transitorische der Großstadt Berlin, die in markanten Einzelheiten und in ihrer Topographie gezeigt wird, kommt in den Gängen Fabians, und teilweise seines Freundes Labude, in den Vordergrund. Die Erzählposition des Romans ist überwiegend personal mit zahlreichen reflektierenden Passagen, selten in erlebter Rede. In den subjektiveren Passagen, etwa im 12. Kapitel, als die Mutter Fabian in Berlin besucht, ist die personale von der auktorialen Darstellungsform unterbrochen, in wenigen Situationen wird das Innere anderer Personen eingeblendet (vgl. dazu ausführlicher R. Müller 2008, 145f.). Die Zentralfigur Fabian lässt Identifikation bis zu einem gewissen Grade zu, ist aber insgesamt zu inkonsequent und charakterlich defizitär, um durchgängig eine Projektionsfläche abzugeben; zudem tritt sie häufig hinter dem Geschehen zurück und wird Teil einer großstädtischen Szenerie, die nivellierend erscheint. Fabian ist eine ,Sonde‘ (ein ,Radar‘-Typ) und bleibt in seinen Wünschen, etwa nach emotionaler Erfüllung oder fester Beziehung,

1. Erich Kästner: Fabian

unbestimmt, aber dennoch ist hinter der kalten, sachlichen Fassade eine emotionale Betroffenheit erkennbar – ein beobachtender, aber auch melancholischer, Lethen meint: larmonyanter, Held (vgl. Klotz 1972, 255; Lethen 1970, 143; ders. 1994, 11). Überdeutlichkeit, Wiederholungstendenz und zugleich Verschwommenheit, mit der in Fabian wiederkehrende Motive und Charaktereigenschaften variiert werden, sind häufig kritisch vermerkt worden (z.B. von Schwarz 1993, 254). Eine grundsätzliche Kritik (Preusser) bezweifelt die Modernität des Romans wegen seiner konservativen Grundpositionen – politisch, besonders im Bereich der Geschlechterstereotypen – aber auch die zeitdiagnostische Kraft. „Das Gros des Textes bewegt sich zwischen szenischen Darstellungen im Dialogstil und den selteneren Reflektorpassagen der Er-Erzählsituation […]. Alles geschieht abgefedert, ohne Brüche und Kanten.“ (Preusser 2004, 141) Kästner hatte sich aber, wie die meisten Autoren der Neuen Sachlichkeit, nie zur literarischen Avantgarde gezählt, er betrachtete sich – und dies prägt auch die Erzählstruktur des Romans – als ,Volksschriftsteller‘, wollte aber den Begriff jeder „falschen Vertraulichkeit“ (Hanuschek 1999, 10) entkleidet wissen. Beleg für eine zumindest partielle Abkehr Kästners vom neusachlichen Realismus, wie sie vor allem von Ladenthin angenommen wurde, ist nicht zuletzt die an zentraler Stelle eingesetzte Traumsequenz (vgl. Ladenthin 1988). Das Traumkapitel (14) befindet sich zwischen zwei entscheidenden Wendepunkten in Fabians Leben: Ihm ist bereits gekündigt worden, und im folgenden 15. Kapitel erhält er Cornelias Brief, der das Ende ihrer Beziehung und damit auch die private Katastrophe bedeutet. Der Albtraum, den Fabian an der Seite Cornelias erlebt, kann als eine „Synthese der verhandelten Probleme“ (Rauch 2001, 56) verstanden werden. Hier wird eine verzerrte, ins Apokalyptische gesteigerte Welt vorgeführt, die Grundthemen wie bereits bekannte Romanfiguren in neuen Situationen zeigt. Der Traum ist in drei Phasen gegliedert: In der ersten irrt Fabian verloren in einer Großstadtszenerie herum und trifft schließlich den Erfinder, der ihm in einem Irrenhaus seine Erfindung vorführt, einen Ofen, in dem Kinder verheizt werden. Die zweite Phase spielt in einem Kabarett, das gesteigert und deformiert die Züge trägt, die auch als Realszene bereits geschildert wurden: Die Warenhaftigkeit der Liebe und die Zügellosigkeit der sexuellen Gier sind nun extrem, und die beiden zentralen Frauenfiguren Cornelia und Frau Moll sind darin Handelnde. Im dritten Teil wird eine gewaltige Orgie der Gewalt entfesselt, zugleich tritt Labude auf und wiederholt seine Ansicht von der Notwendigkeit einer Durchsetzung von Vernunft und Menschlichkeit und Fabian schickt ein kleines Mädchen, das ihm schon vorher begegnet war, aus der Flammenhölle nach Hause: „Das Kind lief davon. Es hüpfte wie auf einem Bein.“ (Kästner 1997, 153) Die Traumsequenz kann als ein Höhepunkt des Romans verstanden werden und zugleich als symbolische Verallgemeinerung des Geschehens (so Rauch 2001, 53). Allerdings entspricht dies weder den neusachlichen Prinzipien noch den Strukturbesonderheiten des modernen Romans, der ja voraussetzte, dass die über das Handlungsgeschehen hinausweisenden Momente aus diesem selbst erwachsen müssten. Es kommt hinzu, dass die Traumsquenz in Fabian eine reine Verstärkerfunktion hat und dem Roman keine

Der Traum als Form der Überschreitung

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Politik und Presse

neue Dimension hinzufügt, die realistische Grundstruktur aber unterbricht. Es ist, als ob Kästner seiner Narration nicht zutraut, in der von ihm angestrebten Wirkungsdimension zu funktionieren und deshalb den neusachlichen Zusammenhang aufweicht. Gegenüber dem Kinderbuchautor, dem Lyriker, dem Romancier ist der Essayist, Rezensent und überhaupt Journalist Kästner lange Zeit vernachlässigt und in seiner Bedeutung nicht erkannt worden. Dabei verband sich bei ihm die im engeren Sinne literarische Arbeit von Beginn an mit dem publizistischen Wirken. Früh – bereits in Dresden und Leipzig, ab 1922 als angestellter Redakteur der Neuen Leipziger Zeitung, nach der Entlassung 1927 dann als Kulturkorrespondent, freier Mitarbeiter und Autor in Berlin – entwickelte er immer neue Stoffe, Geschichten, Ideen für die vielen Zeitschriften und Zeitungen, für die er arbeitete, und verwendete diese dann in einem zweiten Schritt häufig in Buchform (vgl. zur Entwicklung der publizistischen Tätigkeit ausführlich Sarkowicz 1999). Die Eigenschaften, die Kästners publizistische Produktionen – ob Gelegenheitsgedichte, Glossen, Anekdoten, Essays, Buch-, Film- und Theaterkritiken – für die Leserschaft, und auch für die Redaktionen, attraktiv machten, waren die Schnelligkeit, mit der er auf Zeitereignisse reagieren konnte, vor allem aber der Witz, die Schärfe, die Pointiertheit und die Sachkenntnis, die fast alle seine Produkte auszeichneten. Kästner schrieb durchaus engagiert, vertrat aber nie sektiererische oder extreme Positionen. Er blieb einer pazifistischen Linie treu, die er schon kurz nach Kriegsende entwickelt hatte, setzte sich für soziale Anliegen ein – etwa in der Frage des § 218 – und sah die Gefahr der völkisch-faschistischen Machtübernahme früh. Nie aber stand er auf Seiten der radikalen Linken, was ihn für politisch eindeutig positionierte Kollegen wie Brecht oder Benjamin suspekt machte. Den ,Platz zwischen den Stühlen‘, von dem etwa in seinem Gedicht „Kurzgefaßter Lebenslauf“ (im Sammelband Ein Mann gibt Auskunft von 1930) die Rede ist, nahm er in den goldenen Jahren der Weimarer Republik meist ganz gern ein. Er sorgte für publicitywirksame Kontroversen und kam der Beweglichkeit (und auch dem Geschäfssinn) des Autors und der ,Marke‘ Kästner entgegen. Kästner erfüllte seine journalistischen Aufträge schnell und zuverlässig, berühmt waren etwa seine wöchentlichen Gedichte im Montag Morgen von 1928 bis 1930. Er war deshalb beliebt bei den leitenden Redakteuren, konnte aber auch obstinat sein und auf seinen Prinzipien beharren, was etwa zur Entlassung von seinem Redakteursposten bei der Neuen Leipziger Zeitung führte. Den publizistischen Betrieb, in der Provinz wie in der Weltstadt, den er seit der Jugend so genau kannte und durchschaute, sah er selbst jedoch auch kritisch. Fabian ist nicht zuletzt auch ein Zeitungs- und Presseroman und damit Teil eines Genres, das in der Weimarer Zeit Konjunktur hatte und vor allem von Autoren wie Gebriele Tergit oder Martin Kessel bedient wurde. Schon die erste Seite des Romans zeigt, vor allem vor dem Hintergrund des öffentlichen Raums, den das Café symbolisiert, wie die Presse durch sensationelle Überschriften, die alle wesentlichen Bereiche der Zeit berühren, funktioniert: Politik und Wirtschaft, Lokales, Medien, Starkult – der ,tägliche Kram‘ eben, mit dem die Zeitungen sich beschäftigten und den Kästner subtil wahrnahm. Im weiteren Verlauf werden die Agenten und Verteiler dieser Öffentlichkeitsindustrie vorgeführt, die

1. Erich Kästner: Fabian

Verleger, Journalisten, Redakteure. Das 3. Kapitel des Romans ist ganz diesem Sektor gewidmet. Es spielt zunächst in der Handelsredaktion, wohin Fabian mit dem politischen Redakteur Münzer gegangen ist und wo er nun auch den Volontär Dr. Irrgang und den Handelsredakteur Malmy kennenlernt. Gezeigt wird gleich zu Beginn eine manipulative Technik: Eine Lücke im Text wird einfach durch die Erfindung eines Spaltenfüllers geschlossen, ein fingierter Bericht über eine Straßenschlacht in Kalkutta. Im weiteren Verlauf nimmt die Darstellung satirisch-entlarvende Züge an, so, wenn Münzer dem noch naiven Volontär sein Prinzip vorträgt: „Meldungen, deren Unwahrheit nicht oder erst nach Wochen festgestellt werden kann, sind wahr.“ (Kästner 1997, 30) Zynismus und Opportunismus der Zeitungsmacher werden entlarvt, Malmy etwa verkündet: „Ich weiß, daß das System falsch ist. […] Aber ich diene dem falschen System mit Hingabe. Denn im Rahmen des falschen Systems, dem ich mein bescheidenes Talent zur Verfügung stelle, sind die falschen Maßnahmen naturgemäß richtig und die richtigen falsch.“ (Ebd., 32) In der Weinstube, in der sich die Journalisten anschließend betrinken, werden in einer längeren Rede Malmys die Widersprüche und Absurditäten des bestehenden krisenhaften Wirtschaftssystems benannt – Kapitalflucht, schwindende Kaufkraft der Massen, die Vernichtung von Nahrungsmitteln durch neue technische Produktionsmethoden – und auch die möglichen Alternativen zum bestehenden System thematisiert. Hier werden die radikalen Bewegungen von links wie rechts, wie später bei der körperlichen Auseinandersetzung des kommunistischen mit dem nationalsozialistischen Arbeiter, in drastischer Weise identifiziert, indem Malmy behauptet, beide „wollen die Blutvergiftung heilen, indem sie dem Patienten mit einem Beil den Kopf abschlagen. Allerdings wird die Blutvergiftung dabei aufhören zu existieren, aber auch der Patient, und das heißt, die Therapie zu weit zu treiben.“ (Ebd., 38) Ausführlicher kommt innerhalb des Romans nur eine im realhistorischen Kontext minoritäre Position zu Wort, die von Fabians Freund Labude vertreten wird, der auf eine Erneuerung durch die Avantgarde-Bestrebungen einer humanitär gesonnenen kleinbürgerlich-intellektuellen Elite setzt. Dies sind Gedanken, die Kästner teilweise von H. G. Wells und den Reformkräften um die britische Fabian Society bezog, womit auch eine mögliche Erklärung für die Namensgebung der Titelfigur gefunden wäre (vgl. Hanuschek 1999, 201; Hanuschek 2004, 57). Die Handlung des Romans, die noch gar nicht recht begonnen hat, wird durch die beschriebene Redaktionsszene retardiert. Fabian nimmt die Rolle ein, die er im gesamten Buch besetzt: die des Beobachters und Zuhörers, der zwar interessiert, aber weder beruflich (er arbeitet als Werbetexter) noch persönlich in das Geschehen involviert ist. In diesem Kapitel wird die publizistische und zeitdiagnostische Tendenz des Romans der Neuen Sachlichkeit besonders deutlich. Zugleich zeigen sich zwei der wesentlichen Eigenschaften des Autors Kästner: Er bleibt, was gesellschaftliche Alternativen angeht, eher unverbindlich, denn, gemäßigt sozialreformerisch eingestellt, war er „alles andere als ein Aktivist.“ (Hanuschek 2004, 57) Es gelingt ihm jedoch

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Fabian und die Frauen

durch die Verbindung konkreter Charakterisierungs- und Beschreibungsformen mit allgemeinen Aussagen die Aufmerksamkeit des Lesers zu erhalten und Spannung auf das Folgende zu schaffen. Kästners Roman ist auch die Beschreibung einer Folge von amourösen, allerdings meist enttäuschenden Abenteuern. Fabians Weg durch den Großstadtdschungel ist gesäumt von Frauen, die er intensiv wahrnimmt und zu denen er mehr oder weniger flüchtige Beziehungen herstellt. Ist er abgeschnitten von allen wirklichen personalen Bindungen – mit Ausnahme der zur Mutter und der Männerfreundschaft zu Labude – so zeigt sich der Mangel an Beziehungsfähigkeit gerade am Verhältnis zum anderen Geschlecht, das für ihn durchaus eine große Bedeutung im Sinne der Faszination hat, dem er aber zugleich mit Ablehnung, ja bisweilen sogar mit Ekel begegnet, wie viele Reaktionen im Roman zeigen. Fabian trifft die weiblichen Figuren in mehr oder weniger öffentlichen, erotisch aufgeladenen Situationen – in Clubs, Lokalen, im Atelier oder Bordell –, liebt Cornelia in seinem möblierten Zimmer und führt eine kurzfristige, aus der Einsamkeit der beiden Beteiligten entstandene Beziehung in der Wohnung einer verheirateten Frau. Die einzig ernsthafte Liebesbeziehung, die der Roman entfaltet, ist die zu Cornelia Battenberg, einer selbständigen, akademisch gebildeten Frau, die Fabian im Atelier der lesbischen Malerin Reiter kennenlernt. Gegenüber den aggressiven, auf das Sexuelle reduzierten Angeboten der innerhalb des Erzählverlaufs immer wieder auf Fabian zutretenden Irene Moll ist die Beziehung von Fabian zu Cornelia von Beginn durch Ernsthaftigkeit gekennzeichnet, die auf eine umfassende Beziehungsperspektive verweist. Bereits im ersten Gespräch geht es um die Problematik der Mann-Frau-Beziehung in der Gegenwart. Dabei zeigen sich beide Beteiligte, die sich dann doch schnell ineinander verlieben und eine gemeinsame Perspektive suchen, als Vertreter einer desillusionierten Generation junger Leute, wobei die ökonomische und soziale Problematik den Ausschlag gibt. Zentral für den zu Beginn von Fabian wie auch von Cornelia vertretenen Pessimismus sind die Abspaltungen und Trennungen des modernen Lebens, die Fabian als antinomisch bezeichnet: „Die Familie liegt im Sterben. Zwei Möglichkeiten gibt es ja doch nur für uns, Verantwortung zu zeigen. Entweder der Mann verantwortet die Zukunft einer Frau, und wenn er in der nächsten Woche die Stellung verliert, wird er einsehen, daß er verantwortungslos handelte. Oder er wagt es, aus Verantwortungsgefühl, nicht, einem zweiten Menschen die Zukunft zu versauen, und wenn die Frau darüber ins Unglück gerät, wird er sehen, daß auch diese Entscheidung verantwortungslos war.“ (Kästner 1997, 90) So wird schon die Verliebtheitsphase überlagert von einem Sachlichkeitsdiskurs, auf den Cornelia Battenberg – Prototyp der Neuen Frau – entsprechend respondiert: „Ihr wollt den Warencharakter der Liebe, aber die Ware soll verliebt sein. Ihr zu allem berechtigt und zu nichts verpflichtet, wir zu allem verpflichtet und zu nichts berechtigt. So sieht euer Paradies aus. […] Wenn ihr uns kaufen wollt, dann sollt ihr teuer dafür bezahlen.“ (Ebd., 91f.)

1. Erich Kästner: Fabian

An der Reaktion Cornelias, der „kleine Tränen übers Gesicht“ (ebd.) laufen, zeigt sich, typisch für Kästners Erzählweise, die Gender-Differenz, die trotz des beiderseitig geteilten Sachlichkeitsdiskurses besteht: Ebenso wie im Gedicht „Sachliche Romanze“ die Frau nach einer Phase des Schweigens schließlich zu weinen beginnt, so auch hier im Anschluss an einen objektivierten Diskurs zur Warenförmigkeit der Liebe. Während die Gefühlsreaktionen Fabians im ganzen Roman sparsam bleiben, scheint Emotionalität den weiblichen Figuren vorbehalten zu sein, selbst die verheiratete Frau nennt ihn Schatz, während Fabian keinerlei Zärtlichkeitsformel findet. Allerdings zeigt sich in der Liebesbeziehung von Fabian und Cornelia deutlich eine Schere von verbaler Äußerung und Handlungsweise: Die sachliche Verhaltensform wird von Cornelia gewählt und aktiv durchgeführt, die, um ihre Aufstiegschance wahrzunehmen, eine Liaison mit einem Filmproduzenten eingeht. Ihr Gefühl gegenüber dieser Verbindung beschreibt sie ganz deutlich: „Mir ist, als hätte ich mich an die Anatomie verkauft.“ (Ebd., 162) Sie realisiert damit in gewisser Weise auch, was sie vorher angekündigt hatte: Tatsächlich muss Fabian, der trotz seiner skeptischen Äußerungen eine Bereitschaft zur Aufnahme einer langfristigen und ausschließlichen Beziehung signalisiert hatte, zahlen. Schon vorher, am Wendepunkt des Geschehens im 11. Kapitel, hatte es eine zurückgenommene, neusachliche Liebeserklärung gegeben: Er saß neben ihr, hielt seine Knie umschlungen und blickte auf das ausgestreckte Mädchen nieder. „Ich glaube, ich warte nur auf die Gelegenheit zur Treue, und dabei dachte ich bis gestern, ich ware dafür verdorben.“ „Das ist ja eine Liebeserklärung“, sagte sie leise. (Ebd., 118) Diese Form der Intimität deutet aber schon auf das Scheitern der Beziehung, denn die größte Nähe ergibt sich in jenem Augenblick, in dem die beruflichen Schicksale der beiden Figuren sich radikal auseinander entwickeln: Während Fabian seine Kündigung eingestehen muss, bekommt Cornelia die Gelegenheit zum beruflichen Aufstieg als Filmstar, was die Steigerung ihrer Position von der beruflich emanzipierten Frau zur glamourösen weiblichen Ikone bedeutet, falls sie die Bedingung des Produzenten erfüllt. Und so klingt auch die Schlussbemerkung Cornelias beschwichtigend und zugleich unwahr: „,Mein Lieber, mein Lieber! Mach dir keine Sorgen.‘“ (Ebd., 119) Die Möglichkeit einer gefühlsbestimmten, auf Dauer angelegten und alte Werte, wie Treue, realisierenden Beziehung wird in Fabian probehandelnd durchgespielt. Sie wird aber letztlich durch das veränderte Bewusstsein der Frau wieder verworfen, die ein in gewisser Weise ,männliches‘ Verhalten zeigt, indem sie ihre berufliche Karriere dem Beziehungsglück vorzieht, obgleich sie in ihrem Brief behauptet, dies für beide zu tun, was wiederum eine eher ,männliche‘ Äußerung (vgl. ebd., 162) ist. Das Verhalten der Cornelia Battenberg erscheint durchaus nachvollziehbar, zugleich aber insinuiert die Häufung entsprechender Frauenfiguren im Roman, dass Fabians grundsätzliches Misstrauen dem weiblichen Geschlecht gegenüber gerechtfertigt ist. Schon die Mutter warnt in ihrem Brief den Sohn: „Was machen die Mädchen? Sieh Dich vor.“ (Ebd., 46) Und auch Labude wird von der Frau, die er heiraten will, hintergangen. Insgesamt kann man sagen, dass „durchweg alle

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weiblichen Personen mit Ausnahme der Mutter zu einer Form der Prostitution übergehen“ (Möllenberg 2008, 121), was dafür sprechen könnte, dass Kästner in einem eher alten Frauenbild gefangen ist, das die Dichotomie von Hure und Heiliger (Mutter) figuriert. Plausibler ist aber, dass hier konsequent ein Abbau traditioneller Liebessemantiken stattfindet, indem deren Basis von aktiv (männlich) – passiv (weiblich) als obsolet gezeigt wird. Ähnliches ist auch bei neusachlichen Autorinnen zu finden, besonders konsequent umgesetzt bei Marieluise Fleißer, die in ihrer Erzählung Abenteuer aus dem Englischen Garten von 1925 die Begegnung eines Arbeiters mit einem sozial höherstehenden ,Fräulein‘ schildert, das sich den Erwartungen des Mannes von Treue und Beständigkeit nicht fügen will. Hilflosigkeit zeigt das männliche Individuum nicht nur dort, wo es mit der handelnden, selbstbezogenen Frau konfrontiert ist, sondern auch dort, wo ihm eine andere Form aggressiver Weiblichkeit entgegen tritt, die erotische. Während die direkt sexuelle Seite in der Beziehung zu Cornelia fast ganz ausgespart wird, gibt es innerhalb des Romans immer wieder Signale einer grellen, den Erzähler irritierenden, auf das Körperliche reduzierten Sexualität. So etwa bei den Frauen in öffentlichen Lokalen oder halböffentlichen Treffpunkten, die ihre Sexualität mehr oder weniger direkt anbieten. Gezeigt wird dies vor allem an den Stätten der Unterhaltungsindustrie, etwa in Haupts Sälen, wo jeden Abend das Angestelltenvergnügen eines inszenierten Strandfestes stattfindet; das Bild der sich hier zeigenden Weiblichkeit wirkt auf den Voyeur Fabian eher abstoßend: „Die eine Frau war dick und blond, und ihre Brust lag auf dem Plüsch, als sei serviert. Die andere Person war mager, und ihr Gesicht sah aus, als hätte sie krumme Beine.“ (Kästner 1997, 55) Fette, nackte und alte Frauen bieten sich auch in Fabians Traum im 14. Kapitel dar. Und wiederholt tritt Irene Moll ins Bild, die den Prototyp der sexuell fordernden, aktiven Frau darstellt: Im 2. Kapitel macht sie Fabian das Angebot des Partnertauschs, als Betrunkene während der Orgie in Haupts Sälen fordert sie ein Männerbordell, das sie dann gründet und mit einem Angebot an Fabian verbindet, schließlich – im Zug auf der Heimreise Fabians – bietet sie ihm an, mit ihr nach Budapest zu gehen. Die Beschreibung der Moll ist nicht sehr subtil, sie ist in einem fast Wedekind’schen Sinne, nur vulgärer: Das ,Urbild des Weibes‘ wird verglichen mit der alttestamentarischen Verführerin Josefs, der Frau Potiphars (s. ebd., 58), und psychopathologisch ist sie mit den Zügen der Nymphomanin ausgestattet. In der dichotomischen Welt des Romans, in der eine reine Form der weiblichen Liebe nur in der „Gnadeninstanz“ (Lethen 1995a, 389) der Mutter vorgeführt wird, verliert sich jede Anständigkeit auf einem „Viehmarkt“ (Kästner 1997, 56) der primitiven Zurschaustellung des Sinnlichen, an dem Fabian lediglich als Zuschauer Anteil hat: Die Liebe ist illusionär, die Sexualität zerstörerisch, die Frauen sind fordernd und untreu. Dieses recht schlichte, deutlich misogyne Bild des Geschlechterverhältnisses würde Kästners Roman dominieren, wäre nicht auch der männliche Held Fabian eine fragwürdige Figur, die über ein gewisses Maß an moralischer Selbstgenügsamkeit hinaus keine eigene Position bezieht und so letztlich Teil des verfaulten Systems bleibt, in dem der Conferencier eines Nachtlokals nicht zufällig den Namen des dekadenten spätrömischen Kaisers Caligula trägt. Immerhin zeigt sich Cornelia Battenberg als handlungsmächtig, und selbst Irene Moll reflektiert in der Traum-

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sequenz Fabians Weltverhältnis korrekt (vgl. Hanuschek 1999, 208f.). Diese Darstellungsform ist immer wieder psychologisch auf die Biographie des Autors Kästner und seine starke Mutterbindung zurückgeführt worden. Eine Angst vor der autonomen Lust der Frauen wurde nicht allein der Romanfigur Fabian, sondern ebenso ihrem Schöpfer unterstellt. Insgesamt erscheint das Bild geprägt von einem misogynen Blick auf die Kultur der Weimarer Republik, aus der Perspektive des letzlich konservativen Mannes, der die Zumutungen der Modernität – in diesem Fall die Rollenveränderung des weiblichen Geschlechts – nicht aushält, sondern sich weiterhin an die selbstlose, mütterliche Frau klammert, während die ,kastrierende Frau‘ ihm Angst macht (vgl. Delabar 2004, 78; Schwarz 1993, 239; Tworek 1999). Bei allem schwülen Sex und der Erhitzung an den öffentlichen Vergnügungsorten erscheint das Bild der Frau als ,Kältemaschine‘, hier gezeigt an Cornelia, doch übermächtig, der gegenüber der Mann hilflos und passiv bleibt (vgl. Lethen 1995a, 389). Überhaupt ist im Roman desjenigen Mannes, der seine Autonomie nur in der Schwundstufe der Abgelöstheit von anderen und der Passivität bewahren kann, die Sexualität eigentlich nur als durch die Halbwelt angebotene Perversion präsent oder als zeitweilige Fluchtmöglichkeit aus der Tristesse der Existenz (vgl. dazu Lethen 1970, 150). Kästner selbst hat einer bestimmten Interpreationsrichtung Vorschub geleistet, die das im Roman gezeigte Bild der Weimarer Moderne als Sodom und Sündenbabel betont. (Darauf beruht etwa die stark rezipierte Analyse von Schwarz 1993; Kästner hatte neben dem Titel Der Gang vor die Hunde auch Sodom und Gomorrha in Erwägung gezogen, vgl. Hanuschek 1999, 208.) Durch diese Ausrichtung wurde dann allerdings die objektivistischfaktographische Ausrichtung in den Hintergrund gedrängt. Kästner, der ohnehin eine starke Tendenz zur Kommentierung der eigenen Werke, zu ,Gebrauchsanweisungen‘ hatte, schrieb zwei einander recht ähnliche kürzere explizierende Texte zu seinem Roman: „Fabian und die Sittenrichter“ wurde 1931 in der Weltbühne publiziert, der zweite, „Fabian und die Kunstrichter“ erschien erstmals 1998 in der von Franz Josef Görtz herausgegebenen Werkausgabe (Bd. III). Schon im publizierten Aufsatz, der als Nachwort in die Erstausgabe des Fabian aufgenommen werden sollte, setzt sich der Autor in ironischer Weise gegen die Vorwürfe obszöner oder gar pornographischer Darstellung der ,Sittenrichter‘ zur Wehr, indem er betont: „Ich bin ein Moralist!“ (Kästner 1998, Bd. 3, 200) Als Intention seines Romans gibt er gerade nicht die fotografische Abbildung an, sondern die Wiedergabe der „Proportionen des Lebens“ (ebd.), um damit dem Fortschreiten der Vernunft zu nützen – ähnlich wie im zweiten Text, wo das Zufällige des Handlungsverlaufs betont wird. Die Verbindung zum aufklärerischen Denken und speziell die Berufung auf Lessing ist zentral im Roman wie in Kästners Werk überhaupt: Allerdings siegt die Vernunft hier gerade nicht. Fabians Freund Labude habilitiert sich über den Aufklärer, dessen Porträt an der Wand Labudes Vater zerschlägt, weil er es mit dem Freitod seines Sohnes in Verbindung bringt (vgl. ebd., 196). Da Vernunft und Moral im Leben des Protagonisten ebenso wie im Makrobereich des Gesellschaftlichen unterliegen, könnte davon gesprochen werden, dass Kästner die neusachliche Position des neutralen Beobachters aufgegeben hat (so Ladenthin 1988, 67). In jedem Fall verschiebt sich innerhalb des Romanverlaufs der Fokus der Darstellung immer deutli-

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cher von einer neutral-sachlichen Berichtform auf eine die inneren Vorgänge betonende Sichtweise des Helden. Fabian wächst von einer bloß wahrnehmenden zur reflektierenden Figur, wodurch der Roman eine stärker existentielle, aber auch parabelhafte Aussage erhält. Die Traumsequenz bildet den Übergang zu dieser subjektiveren und gleichzeitig verallgemeinernden Erzählform (vgl. dazu R. Müller 2008, 144). Kästners Beziehung zur Aufklärung und auch zu einer von deren wichtigsten Prosaformen – der Moralsatire – bleibt freilich ambivalent, denn Fabian ist ein Rationalist, der nicht an die Kraft der Vernunft glaubt, und ein Moralist, dem die moralischen Maßstäbe verloren gegangen sind. Gegenüber der im Untertitel genannten Qualifizierung „Moralist“ bringt der Roman durchaus Distanzierungssignale, da Fabian seinen eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird – und die eklatanteste Distanzierung ist offensichtlich die an einen kollektiven Adressatenkreis gerichtete Überschrift des letzten Kapitels: „Lernt schwimmen!“ (Ebd., 231) Trotz dieses Appells sind sich Kästner und sein Held in ihren Grundpostionen recht ähnlich; der Traum von der Erziehbarkeit des Menschengeschlechts wird durch die Wahrnehmung des Tatsächlichen nicht gestützt, weshalb der Schritt zur Praxis versperrt bleibt (vgl. Lethen 1970, 153). Kästner lenkte in seinem Vorwort zur Neuauflage des Fabian 1950 die Leseraufmerksamkeit auf die Form der Satire und verband damit die aufklärerische Grundabsicht: Das vorliegende Buch […] ist kein Poesie- und Fotografiealbum, sondern eine Satire. Es beschreibt nicht, was war, sondern es übertreibt. Der Moralist pflegt seiner Epoche keinen Spiegel, sondern einen Zerrspiegel vorzuhalten. Die Karikatur, ein legitimes Kunstmittel, ist das Äußerste, was er vermag. Wenn auch das nicht hilft, dann hilft überhaupt nichts mehr. Daß überhaupt nichts hilft, ist – damals wie heute – keine Seltenheit. Eine Seltenheit wäre es allerdings, wenn das den Moralisten entmutigte. Sein angestammter Platz ist und bleibt der verlorene Posten. (Kästner 1997, 10) Wiederum schafft Kästner den Sprung zum Vereinbaren des Unvereinbaren: Zwar will der Satiriker mit der Zeichnung eines Zerrbildes auf die Realität im positiven Sinne einwirken, er bleibt aber skeptisch ob der Möglichkeit oder Unmöglichkeit. Eben dieses Schwanken, das der Autor auch seinem Helden mitgegeben hat, macht die Festlegung im inhaltlichen wie formalen Sinne so schwierig, ließ aber Kästners Roman für eine breite Leserschaft reizvoll erscheinen. Aufgegeben wird in Kästners Vorwort nun jeder Anspruch auf objektive Realitätswiedergabe, die die neusachliche Romanform legitimierte. Aber die Vielzahl an karikaturistischen, grotesken und satirischen Elementen, die Fabian enthält, rückt den Roman teilweise in die Nähe jenes neusachlichen Realismus, wie man ihn etwa bei George Grosz findet, der die Sozialtypen der Zeit verzerrte, um ihre Substanz hervorzuheben. Das ,Gomorrha‘ der lesbischen Salons und Edelbordelle, die ausgestellte üppige Weiblichkeit, die lockend aggressive Figur der Frau Moll, die Freakshow des Varietés, die opportunistischen Zeitungsschreiber, dies alles ist in einigen Punkten überzeichnet und grell (vgl. Möllenberg 2008, 114f.), aber doch meist recht nah am real Vorstellbaren.

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft Als Mascha Kalékos erstes Buch Das lyrische Stenogrammheft 1933 bei Rowohlt erschien, das heute noch vom Verlag als der „erfolgreichste deutsche Lyrikband des 20. Jahrhunderts“ beworben wird, war die Verfasserin bereits sehr bekannt. Sie gehörte – mit Irmgard Keun, Vicki Baum, Gabriele Tergit oder auch Marieluise Fleißer – zu einer Generation neuer schreibender Frauen, die sich persönlich wie literarisch im Großstadtflair der 1920er Jahre entfalten konnten. Jung, anziehend, selbstbewusst, produzierend für den sich erweiternden Markt massenkompatibler Printerzeugnisse und für ein größer werdendes, überwiegend weibliches Publikum, das sich für die traditionellen ,Frauenthemen‘, für Liebe und Mode, aber auch für das Zeitgeschehen interessierte. Mascha Kaléko nimmt eine Sonderstellung in der literarischen Szene der 1920er Jahre ein, vor allem deshalb, weil sie nicht erst wie die anderen Autoren nach 1933 zur Fremden im eigenen Land wird, sondern weil sie sich bereits als Ankommende so fühlt und diese grundsätzliche Fremdheit auch nie ganz überwindet. Geboren 1907 in Galizien nahe Auschwitz, zog sie 1914 mit ihren Eltern nach Deutschland. Ab 1918 lebte sie in Berlin, arbeitete in den späten 20er und frühen 30er Jahren für die maßgebenden großstädtischen Blätter, für die Vossische Zeitung, den Querschnitt, Die Weltbühne und das Berliner Tageblatt. 1938 musste sie vor den Nazis flüchten und begann ein ruheloses Leben, das sie zunächst nach New York und dann nach Jerusalem führte. Ihr recht schmales lyrisches Werk wurde hochgeschätzt von Kollegen und Freunden, etwa von Franz Hessel, der sie zum Rowohlt-Verlag brachte, wo sie mit dem Lyrischen Stenogrammheft ihren größten Bucherfolg hatte, von Hermann Hesse, der auf die Verwandtschaft zu den Gedichten von Heinrich Heine hinwies, oder von Walter Mehring, dem sie zur Flucht vor den Nazis verhalf (vgl. zur Biographie Rosenkranz 2007, bes. 23–70). Noch heute gibt es – wie nicht zuletzt die Internet-Beiträge zeigen – viele Leser, die Kalékos Gedichte aus der Weimarer Zeit offenbar durchaus zeitgemäß finden. Auch Autoren der Gegenwart sind unter den Kaléko-Verehrern, so Horst Krüger, der die Autorin 1974 bei einer Lesung traf und ausführlich über sie schrieb, vor allem aber Literaturkritiker, etwa Elke Heidenreich, die durch Auswahlausgaben und Lesungen auf Mascha Kaléko aufmerksam machte, und nicht zuletzt Marcel Reich-Ranicki, der sich für die Lyrikerin immer wieder einsetzte, durch Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und die Aufnahme in die Frankfurter Anthologie (vgl. Horst Krügers Bericht über die Tage des Zusammenseins in Berlin, in: Kaléko 2003). Reich-Ranicki fand die Ursachen ihres Erfolgs in dem, was er „authentische Naivität“ (ebd.) nannte, eine Mischung aus sachlichen alltäglichen Beobachtungen, aus Nüchternheit und Wehmut ebenso wie aus einer spezifisch weiblichen Sensibilität, die gerade für Leserinnen offenbar ein hohes Identifikationspotenzial hat. Reich-Ranicki wies auch auf den Widerspruch von einem weiterhin anhaltenden Leser-Interesse und einer Vernachlässigung der erst im September 1938 nach New York und später nach Palästina emigrierten Autorin seitens der Literaturkritik und der Öffentlichkeit hin. Die Erfolglosigkeit im Exil teilte die Lyrikerin mit Dichterkollegen, nicht zuletzt mit Else Lasker-Schüler, mit der sie manchmal verglichen wird, die allerdings im Gegensatz zu ihr

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Die populäre Außenseiterin

schon eine alte Frau war, als sie 1933 Deutschland verlassen musste. Kaléko reiste 1955 erstmals wieder nach Deutschland, 1956 erschien wiederum im Rowohlt Verlag eine Neuauflage des Lyrischen Stenogrammhefts. Diese Neuausgabe war sehr erfolgreich, bereits drei Monate nach dem Erscheinen wurden etwa vierzigtausend Exemplare verkauft. Die Isolation vom Literaturbetrieb aber blieb bestehen, verstärkt noch dadurch, dass Mascha Kaléko 1959 die Annahme des Fontane-Preises der Berliner Akademie der Künste verweigerte, weil Hans Egon Holthusen Mitglied der Jury war, ein in den fünfziger Jahren einflussreicher Publizist, der in der NS-Zeit der NSDAP und der SS angehört hatte. Trotz der Verkaufserfolge und auch ihrer Aufnahme ins PEN-Zetrum deutschsprachiger Autoren im Ausland fühlte sich Mascha Kaléko in Deutschland nicht hinreichend gewürdigt. Ein Gefühl, das sie mit zahleichen emigrierten Autoren teilte, auch mit Erfolgsschriftstellern wie Erich Maria Remarque, den sie während eines Urlaubs in Ascona traf (vgl. Rosenkranz 2007, 134ff., bes. 157). Von der Literaturwissenschaft wurde Mascha Kaléko über lange Zeit so gut wie gar nicht beachtet: Stärker noch als Vicki Baum, Remarque oder Fallada galt sie als eine Trivialautorin, die nur für den Tag geschrieben habe, Lyrik zum schnellen Verbrauch. Noch 1999 stellte Reich-Ranicki fest, dass sie nicht einmal in Kindlers Literaturlexikon verzeichnet war (Reich-Ranicki 1999, 193). Einsam steht eine frühe Arbeit gegen dieses Schweigekartell, die Doktorarbeit von Irene Astrid Wellershoff, die das lyrische Werk der Kaléko erstmals ausführlicher untersuchte (1982). Nach Veröffentlichungen der mit Kaléko befreundeten Schauspielerin Gisela Zoch-Westphal, die auch Teile des Nachlasses herausgab, sind in den letzten Jahren einige Arbeiten mit wissenschaftlichem Anspruch entstanden, so die gründliche Biographie von Jutta Rosenkranz und eine Studie von Andreas Nolte. Immer noch gibt es keine zuverlässige Edition der Werke, auch der Nachlass ist zu großen Teilen nicht systematisch gesichtet. Bis heute ist die Tendenz zur Ausblendung in literaturwissenschaftlichen Publikationen nicht überwunden (der Name Kaléko fehlt etwa bei Streim 2009 und überraschenderweise auch in Beckers Grundlagenwerk, 2000a). Die Unterschlagung der Lyrikerin Kaléko in der Literaturwissenschaft hat mit der Vertreibung durch die Nationalsozialisten zu tun, aber nicht nur damit. Offensichtlich galt zumindest über lange Zeit, was Eva Demski über die Dichterin schrieb: „[…] verehrt wird in Deutschland, was möglichst dunkel daherkommt.“ (Demski 2006, 161) Die Kluft zwischen Publikumsreaktionen und Beurteilung durch professionelle Instanzen ist bis heute – trotz des Lobes von prominenten Kritikern wie Polgar, Kesten oder Pinthus – festzustellen, wenn die Zuordnung zum Kunsthandwerk implizit gegen einen reinen Dichtungsbegriff gestellt wird (vgl. Delabar 2010, 97; Brittnacher 2006, 116). Ihre Abseitsstellung nahm Mascha Kaléko selbst wahr, und sie lieferte einen lyrischen Kommentar in der ihr eigenen ironischen Art. Das späte Gedicht heißt „Kein Neutöner“: Gehöre keiner Schule an Und keiner neuen Richtung, Bin nur ein armer Großstadtspatz Im Wald der deutschen Dichtung.

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

Weiß Gott, ich bin ganz unmodern. Ich schäme mich zuschanden: Zwar liest man meine Verse gern, Doch werden sie – verstanden! (Kaléko 2003, 17) Kaléko kokettiert hier mit ihrer Außenseiterposition innerhalb der Lyrik der Zeit. Der Text ist, selten bei ihr, direkt autoreflexiv und demonstriert zugleich Merkmale ihrer Gedichte: die ungeschützte und zugleich doch ironisch verhüllende Präsentation des lyrischen Ich. Auch hier findet sich die eher eingängige strophische Form, die Konventionalität der Bilder. Und die immer wieder von den Interpreten hervorgehobene Durchsichtigkeit der Aussage: „Kalékos Gedichte bedürfen kaum der Interpretation, sie mystifizieren nichts, sie meinen, was sie sagen.“ (Brittnacher 2006, 118) Zugleich ist Kalékos Form, die Großstadtlyrik, um 1930 populär und sie selbst ein Star in dieser Szene, zusammen mit Autoren wie Tucholsky, Mehring und vor allem Kästner. Andererseits: Trotz dieser Einbettung in eine führende Strömung ist ihr Gefühl von Einsamkeit und Einzigartigkeit nicht falsch: Von Herkunft und Grundgefühl blieb sie eine Fremde. Und obwohl sie in den Literatencafés saß und die wichtigen Autoren traf, blieb sie doch in gewisser Weise unliterarisch, was aber ihren Erfolg bei den breiten Gruppen der angestellten Zeitungs- und Magazinleser, die diese Szenen nur von außen kannten, erst fundierte (vgl. Reich-Ranicki 1999, 193). Die nicht nur von Kaléko, sondern auch etwa von Brecht, Mehring, Ringelnatz u.a. aufgenommenen Formen des Schlagers, der Couplets, der Kabarettlieder und Bänkelsongs waren Ausdruck des Metropolensounds: Pfiffig wie der Spatz, eingängig, gut verständlich – sie boten aber auch Möglichkeiten einer Verfremdung und zitathaften Verwendung. Kaléko erfindet für die Literatur der Weimarer Republik eine zur Zeitprosa analoge Form, eine Poesie für den Alltag, die auf dem Weg ins Büro oder zurück nach Haus gelesen werden konnte, auch die lyrische Reportage, die Erich Kästner mit noch nachhaltigerem Erfolg schuf (vgl. ReichRanicki 1999, 194). Gerade zu diesem in den verschiedenen Sparten wohl erfolgreichsten Literaten sind Affinitäten in Thematik wie sprachlicher Gestaltung auszumachen. Ein Gedicht wie „Großstadtliebe“ lässt sich an die Seite von Kästners berühmter „Sachlicher Romanze“ (aus dem Band Lärm im Spiegel von 1929) stellen. Parallelen gibt es auch bezüglich der Position im Literaturgeschäft: Kaléko nahm 1931 ein Angebot der Wochenzeitung Welt am Sonntag an, in jeder Montagsausgabe ein Gedicht zu veröffentlichen, Kästner war dort ihr Vorgänger. Ironisch, aber nicht ohne Grund, bezeichnete Kaléko sich als lyrische Unternehmerin, Kästner lässt das lyrische Ich in seinem autobiographischen Gedicht „Kurzgefaßter Lebenslauf“ aus der 1931 erschienenen Sammlung Ein Mann gibt Auskunft sagen: „Nun bin ich zirka 31 Jahre / Und habe eine kleine Versfabrik.“ (Kästner 1998, Bd. 1, 136) Hier wie dort wird das Gedicht zum Teil alltäglicher Praxis und somit in eine Gegenstellung gebracht zur mitunter sakral-feierlichen Lyrik eines George, Rilke, Loerke oder Lehmann (vgl. Rosenkranz 2007, 39f.). In den Jahren seit 1929 ist Kaléko höchst aktiv: Neben den Montags-Gedichten, die sie ungefähr ein halbes Jahr lang gut dotiert liefert, ist sie auch auf anderen Feldern tätig: Sie schreibt Werbetexte, arbeitet für den Rundfunk und das Kabarett, produziert Chansontexte für Stars der Zeit, wie Claire Wal-

Öffentliche Präsenz

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doff oder Rosa Valetti, und sie tritt auch selbst auf, liest ihre Gedichte im Künstler-Kabarett in der Budapester Straße (vgl. Rosenkranz 2007, 41; Nolte 2003, 68; die gesammelten Chansontexte wurden unter dem Titel Ich bin von anno dazumal erst 1984 herausgegeben.). Und dort berlinert sie auch: Mascha Kaléko war in Polen geboren worden, hatte dort die ersten sieben Jahre ihres Lebens verbracht und war erst 1918 mit ihrer Familie nach Berlin gezogen, aber sie war anpassungsfähig und schaffte es schnell, das Berliner Idiom – den Witz, die gut gesetzten Pointen – in Gedichten und auch im mündlichen Vortrag zu adaptieren. Auch darin ist sie eine Großstadtautorin, und eine neusachliche dazu, wenn Reich-Ranicki auch irrt, der meint, sie sei „die einzige Frau unter den Autoren der […] ,Neuen Sachlichkeit‘“ (FAS 2007) gewesen. Ein Vergleich mit Else Lasker-Schüler, der großen Lyrikerin des Expressionismus, kann nur auf der Ebene der öffentlichen Repräsentanz vorgenommen werden: Diese war einer breiteren Öffentlichkeit wohl bekannt, aber als Teil einer abgesonderten Bohème-Szene, außergewöhnlich, exotisch und fremd – ganz abgesehen von den Welten, die ästhetisch und stilistisch zwischen den beiden Autorinnen liegen. Zwar besuchte auch Kaléko Umschlagplätze der literarischen Diskurse wie das Romanische Café, aber hier traf sie einen neuen Autorentypus, der ihr ein Stück weit ähnlich war: Kästner, Brecht, Ringelnatz oder Klabund, Literaten, die sich mitten ins Leben begaben, die Alltagswelt genau beobachteten und für die Magazine ebenso selbstverständlich schrieben wie für ein im engeren Sinne literarisches Publikum. Bei Kaléko ist dies besonders ausgeprägt: Sie veröffentlichte ihre Gedichte zunächst ausschließlich in Zeitungen und Magazinen, erst 1933 – als sie bereits eine deutschlandweit bekannte Schriftstellerin war – erschien das erste Buch. Ihre Entwicklung weist Ähnlichkeiten mit einigen ihrer neusachlichen Kolleginnen auf: Sie heiratet recht früh, vor allem aber: Sie kennt nicht nur das, worüber sie schreibt, das Leben als Büroangestellte. Darüber hinaus behält Kaléko ihre Stelle bei einer jüdischen Organisation in Berlin bei, auch dann noch, als sie rein finanziell gesehen sich eine Existenz als freie Autorin schon hätte leisten können (vgl. Rosenkranz 2007, 36). Auch Vicki Baum war als erfolgreiche Autorin noch Angestellte – wenn auch beim Ullstein-Verlag in privilegierter Position –, auch sie heiratete relativ früh und führte eine Doppelexistenz als Künstlerin und recht konventionell lebende Frau. Irmgard Keun war wie Kaléko zeitweise als Stenotypistin tätig, Gabriele Tergit hatte eine feste Stelle als Gerichtsreporterin. Durch die Weiterführung ihrer beruflichen Tätigkeit behielt Mascha Kaléko den direkten Kontakt zu der Sphäre und den Menschen, über die sie schrieb, auch eine gewisse finanzielle Absicherung gegenüber der von Moden und Trends abhängigen Medienszene. Schon mit 17 Jahren hatte Kaléko ihre Lehre begonnen, und in ihrem kurzen Prosatext „Mädchen an der Schreibmaschine“ (aus: Kleines Lesebuch für Große) schildert sie genau und pointiert die Arbeit der Sekretärinnen, das Verhalten des Chefs, den Druck und die autoritären Strukturen – und die Gefühle der Arbeitenden: Und das Mädchen hinter der Schreibmaschine hat es gründlich satt. Macht ein Gesicht, das durchaus nicht zu dem lustigen Rot der neuen Bluse vom letzten Ausverkauf paßt. Und tut, als ob das immer so wäre. Und als säße es auf einer Insel mitten im Unglücksmeer, ganz allein mit

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

seinen paar lumpigen Stenogrammen und seinem elenden Klapperkasten. (Kaléko 2001, 129) Der Text ist kritisch: Als nur scheinhafter Ausweg aus der Ödnis des Alltags wird im letzten Absatz die Perspektive des Wochenendes vorgestellt: „Montag bis Freitag findet Alltag statt. – Sonnabend Mittag um zwei aber fängt der Sonntag an.“ (ebd.) Es gibt nur – so signalisiert Kaléko – die kleinen Fluchten, kein Entkommen aus Gedrücktsein, Einsamkeit und Unsicherheit, der Kehrseite weiblicher Emanzipation in der Weimarer Zeit. Die „Versachlichung der lyrischen Ausdrucksformen“ (Becker 2000a, 247) meint keineswegs die Verdrängung des Gefühls aus dem Gedicht, eher im Gegenteil die Erzeugung einer immanenten Spannung zwischen den Polen der nüchternen Wahrnehmung und emotionalen Besetzung. Denn das neusachliche Gedicht „bietet den Emotionen einen weiten Resonanzraum“ (Pietzcker 1997, 50), in die schlichte Tatsachenbenennung sind Textsignale eingelagert, die auf die Betroffenheit des lyrischen Ich deuten. Auch Erich Kästner, im Meta-Textuellen eher zu Hause als Kaléko, hatte dies als Problem beschrieben: In seinem Aufsatz „Lyriker ohne Gefühl“ von 1927 sprach er von der Notwendigkeit, einen neuen lyrischen Gefühlsausdruck zu finden, der nicht mehr in der Art Rilkes, Georges oder der Expressionisten sein könne. Die neue Lyrik sei indirekt, also ,männlich‘ (vgl. Becker 2000b, 243). Freilich ist dies nicht in einem geschlechtsspezifischen Sinne gemeint, sondern als Ausdruck der Gegenwartserfahrung einer Generation, aber auch von deren Zeichnung durch Krieg und Revolution, denn die Scham verbiete dem Autor den ungehemmten Ausdruck. Sachlichkeit ist also Reaktion auf eine kollektive Erfahrung, zugleich aber auch strategisch-rhetorisches Mittel, denn ihre Wirkung beruht gerade auf der Verdeckung, die dem Leser eine verstärkte Aktivierung des Gefühlswerts möglich macht. Gerade an den Gedichten Mascha Kalékos ist diese Tendenz des Indirekten zu sehen: Sie spart meist die großen Themen der Zeit, die die Gedichte von Kästner, Tucholsky und dann wieder von Brecht ansprechen, aus. Ihre Gedichte sind reduziert auf private Schicksale, aber in der indirekten Form zeigen sie teilweise sehr präzise soziale Probleme: Immer wieder die der im Berufsleben wie in ihrem Liebesausdruck unterdrückten jungen Frauen – allen Parolen von der selbstbewussten Neuen Frau zum Trotz (vgl. Veth 1995, 461). Die knappen Sozialskizzen aus dem Umkreis der schlecht bezahlten, oft möbliert wohnenden Fräuleins bilden die Basis für subjektive Beziehungsporträts, in denen die Angst vor dem Verlassenwerden, der Abschied, die wehmütige Langeweile, das Alleinsein, die Frage nach den Gefühlen, ihrem Entstehen und Vergehen thematisiert werden. Die Gedichte variieren Topoi der Tradition, wie die Frage des jungen Goethe „Ob ich dich liebe, weiß ich nicht.“ Das versehrte, verletzte oder bedrohte Ich in Kalékos Gedichten findet zu einem natürlichen und unverkrampften Gefühlsausdruck, diese Normalität des Sprechens erleichtert die identifikatorische Rezeption (vgl. Reich-Ranicki 1999, 194): Abschied Jetzt bist du fort. Dein Zug ging neun Uhr sieben. Ich hielt dich nicht zurück. Nun tut’s mir leid.

Keine Richtung – aber neusachlich?

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– Von dir ist weiter nichts zurückgeblieben Als ein paar Fotos und die Einsamkeit. Noch hör ich leis von fern den D-Zug pfeifen. In ein paar Stunden hält er in Polzin. Mich ließest du allein in Groß-Berlin, Nun werde ich durch laute Straßen streifen Und mißvergnügt in mein Möbliertes gehen, Das mir für dreißig Mark Zuhause ist, Und warten, daß ein Brief von dir mich grüßt, Und abends manchmal nach der Türe sehen. … Ich kenn das schon. Und weiß, es wird mir fehlen, Daß du um sechs nicht vor dem Bahnhof bist. – Wem soll ich, was am Tag geschehen ist, Und von dem Ärger im Büro erzählen? Jetzt, da du fort bist, scheint mir alles trübe. Hätt ichs geahnt, ich ließe dich nicht gehn. Was wir vermissen, scheint uns immer schön. Woran das liegen mag … Ist das nun Liebe? Das regnet heut! Man glaubt beinah zu spüren, Wies Thermometer mit der Stimmung fällt. Frau Meilich hat die Heizung abgestellt, Und irgendwo im Hause klappern Türen. Jetzt sitz ich ohne dich in meinem Zimmer Und trink den dünnen Kaffee ganz allein. – Ich weiß, das wird jetzt manches Mal so sein. Sehr oft vielleicht … Beziehungsweise: immer. (Kaléko 2001, 11) Dieses vielleicht bekannteste Gedicht Kalékos findet sich in der ersten Sektion des Lyrischen Stenogrammheftes, die überschrieben ist mit „Von Montag früh bis Wochenend“ und Gedichte zum Thema des Alltags sammelt, zur Welt der Berufstätigkeit, zur Verlorenheit in der Großstadt oder auch zum Schicksal als Patient – und natürlich immer wieder zur Liebe in ihren verschiedenen Schattierungen. Mit dem Titel „Abschied“ klingt schon an, dass eines der großen Themen aufgenommen wird, die gleichnamigen Gedichte von Goethe und Eichendorff stehen als besonders bekannte Beispiele im Hintergrund. Ordnet sich das Gedicht so in eine romantisch-klassische Tradition ein, so ist es im Text ganz Ausdruck moderner Großstadterfahrung. Explizit wird schon am Ende der ersten Strophe der evozierte Gefühlszustand genannt, klar ist auch der Ort des Abschieds und seine Folgen für das Ich: Groß-Berlin wird kontrastiert zu Polzin, einer Kleinstadt in Westpommern, wodurch die häufig bei Kaléko thematisierte und selbst erfahrene Spannung zwischen den Polen Metropole und Provinz bereits aufscheint. Die Explizitheit der Beschreibung verbindet sich mit der Aussagekraft von oft gegenständlichen Details und sachlichen Informationen, die bestimmte Assoziationsfelder im Leser aktivieren. Das Thermometer, klappernde Türen, die Nachbarin – dies wirft zugleich ein

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

Streiflicht auf die persönliche Lebenssituation des lyrischen Ich: das möblierte Zimmer für dreißig Mark Miete, die Arbeitsstätte, das Büro. Besonders diese Informationen lassen eine konkrete Vorstellung des lyrischen Ich entstehen, denn die Bürotätigkeit verbindet sich mit der modernen Form von Weiblichkeit, die Wohnung deutet auf den sozialen Status einer jüngeren, allein lebenden, finanziell schlecht gestellten Frau. Auch wenn es nicht direkt gesagt wird, so ist doch das lyrische Ich als ein weibliches auszumachen. Dieses Ich redet von sich zugleich im Modus des Dialogischen, in der direkten Ansprache eines vertrauten Gegenübers, das aber abwesend bleibt. Charakteristisch ist ebenso die Gegensatzstruktur: Das Alleinsein vollzieht sich im Gedränge und wird untermalt von der Lautstärke der Großstadtstraßen, die Vereinzelung wird erfahrbar in der Masse, die Stille der Einsamkeit im Lärm. Zugleich bildet, wiederum konventionell ausgedrückt, das Äußere (Wetter) den Spiegel des Innern: Die trübe Stimmung korrespondiert dem fallenden Thermometer und dem Regenwetter. Auch wenn das Gedicht einen inneren Zustand entfaltet, tritt es im anvisierten Rezeptionsmodus dazu in einen Gegensatz: Es setzt auf rasche Verständlichkeit und allgemeine Zugänglichkeit: den klagenden Ausdruck eines verlassenen Großstadtmenschen, der offensichtlich nicht nur den Liebes-, sondern auch den einzigen Kommunikationspartner verloren hat („Wem soll ich, was am Tag geschehen ist, / und von dem Ärger im Büro erzählen?“). Die Kommunikations- und Verkehrsmittel der Großstadt – der Brief, das Foto – schaffen Verbindung, drücken aber auch Trennung aus: der D-Zug, der in die Ferne führt und die Verbindung abschneidet. Der Schnellzug fungiert auch als Ort eines Begehrens wie in „Schienen-Sehnsucht“, einer Hoffnung, die aber bereits in der letzten der drei Strophen zerplatzt, da keiner am Ankunftsort auf das hier vorgestellte Ich wartet. Kaléko greift hiermit auf einen Bildbereich zurück, der bereits im Expressionismus eine Rolle gespielt hatte, allerdings eine andere: Züge und Bahnhöfe deuteten auf die Gewalt und die Lautstärke der Moderne hin, die Metropolenbahnhöfe wirkten noch als Faszinosum und mitunter als Schreckbild. Der Zug als Bild für die Beweglichkeit des Individuums in der Moderne und zugleich für seine Einsamkeit ist bereits zur Entstehungszeit des Gedichts eher Teil der Unterhaltungs- als der Hochlyrik. (Bis heute kommen die Metaphern von Zügen, Bahnhöfen und Wartesälen bevorzugt in Song- und Schlagertexten vor.) In der Verwendung des Zugsymbols als Zeichen des sich entfernenden Anderen weicht Kaléko gerade ab von der schrillen Form, in der die Eisenbahn in Geräusch und Bildhaftigkeit (Dampf) sonst vor allem im Film eingesetzt wurde. Hier hört das Ich den Zug nur ,leis‘ und von ,fern‘ pfeifen, Ausdruck der Tendenz zum Außen in der Empfindung einer eher passiven Privatheit. Überhaupt steht die Direktheit der Nennung einer psychischen Befindlichkeit in Kontrast zur Zurückgezogenheit des Ich, das sich in der letzten Strophe dem Zustand des depravierten Alleinseins zu fügen scheint. Die Wirkung des Gedichts und überhaupt der lyrischen Ausdruckssprache Kalékos beruht auf diesem Ineinander von Nähe und Ferne, Konkretion und Verallgemeinerung, Deutlichkeit und Unsicherheit. Der Text verlangt, da haben die häufig etwas ratlosen Interpreten Recht, eigentlich keine Dechiffrierung wie formalästhetisch hochverdichtete, symbolisch konzentrierte Gedichte. Seine Wahrnehmung lässt sich mit der Großstadtbewegung synchronisieren, etwa in der Rezepti-

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Liebe

onssituation einer flüchtigen Zeitungslektüre, durch wenige Unbestimmtheitsstellen öffnet er aber doch einen Assoziationsraum, der jeweils spielerisch gefüllt werden kann. So gerade auch am Schluss, als im Vagen gelassen wird, ob der Zustand des Alleinseins ein temporärer oder ultimativer sein wird. Zumal hier – auch dies nicht selten als Stilmittel bei Kaléko zu finden – ein Wort aus der Sprache des Büros eingesetzt wird: „beziehungsweise“, eine disjunktive Konjunktion, die beiden Möglichkeiten schließen sich also eigentlich aus. Zugleich signalisiert das Wort im Kontext eines Beziehungsgedichts das eigentliche Thema, nämlich die Art und Weise, wie eine Beziehung funktioniert – oder auch nicht. Der Zusammenhang von scheinbarer Klarheit und dahinter stehender Unsicherheit wird auch in der fünften Strophe deutlich durch die redensartliche Wendung „Was wir vermissen, scheint uns immer schön.“ (Andreas Nolte hat eine der wenigen systematischen Untersuchungen – parömiologisch – gerade dieser bei Kaléko in der Tat auffälligen Tendenz zum Sprichwörtlichen und Sentenzhaften gewidmet; vgl. Nolte 2003.) Um die Allgemeingültigkeit der Aussage zu betonen, wechselt das Ich an dieser Stelle in die plurale Kollektivform. Die eher trivial klingende Sentenzhaftigkeit wird aber bereits im nächsten Vers gebrochen durch den Fragemodus. Dadurch wird zwar die Wertigkeit der ersten Aussage nicht außer Kraft gesetzt, aber es wird eine andere Frage aufgeworfen, die im Kontext des Gedichts nicht beantwortet werden kann: „Ist das nun Liebe?“ Fast alle Gedichte Mascha Kalékos kreisen um die Liebe, ihre Intensität wie Flüchtigkeit, im Status des Unglücklichseins, der Suche und als Sehnsuchtspunkt, selten als Erfüllung (vgl. Nolte 2003, 59ff.). Sie sind so persönlich gefasst, dass man fast von einer Identität des lyrischen Ich mit der Verfasserin sprechen kann, und dies auch getan hat. Wieder macht den Reiz der Gegensatz von einfacher Präsentation und Ausweitung in eine Unbestimmtheit aus, oft durch die Frageform oder tastende Formulierungen. Liebe als notwendig warmes oder heißes Gefühl ist fraglich geworden im Kältestrom der Neuen Sachlichkeit, aber sie ist da und muss neu erkundet werden. Diese Erprobungsform bildet sich in Kalékos Gedichten ab, die eben doch nur scheinbar einfach und klar sind. Sie haben ihre Voraussetzung in der neuen Situation der Frau, der Lockerung moralischer Restriktionen und dem Zuwachs an Möglichkeiten der beruflichen Entfaltung und auch des erotischen Kontakts. Dem gegenüber stehen aber Fragilität und Unsicherheit des Geschlechterverhältnisses, eine neue Unübersichtlichkeit, die sich in der Liebeslyrik der Neuen Sachlichkeit immer wieder zeigt. Wie Kaléko in „Abschied“ so entfaltet Kästner in seinem berühmten Gedicht „Sachliche Romanze“ die Grundsituation, dass es die beiden (ehemals) Liebenden einfach nicht fassen können, dass die Liebe nun vorbei sein soll, keine Erklärung für die Tatsache des Abschieds finden, den sie als solchen dann passiv hinnehmen müssen: „Das Gedicht inszeniert desillusionierend den Verfall der Vorstellung inniger und dauernder Liebe und betont ihr Zerbrechen. Zugleich inszeniert es aber auch die Trauer hierüber und lässt seine Leser in stummer Faszination genießen.“ (Pietzcker 1997, 50) Was Pietzcker resümierend über das Kästner-Gedicht schreibt, ließe sich auch auf Kalékos „Abschied“ übertragen. Allerdings ist die Ausgangssituation hier eine andere: Nicht die Schwundstufe der Liebeskommunikation, wie ratlos im Café zu sitzen, steht am Beginn, sondern die schon vollzogene Trennung, die Einsamkeit des lyri-

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

schen Ich, das nur noch resignierend an eine vielleicht verpasste Möglichkeit des Haltens denken kann („Hätt ich's geahnt, ich ließe dich nicht gehen.“). In Kalékos Gedicht zeigt sich, dass nicht die Entsubjektivierung in der Berichtsform der Großstadtlyrik im Vordergrund stehen muss, sondern eine Konzentration auf ein lyrisches Ich stattfinden kann, das sich eher ratlos und passiv den es umgebenden Situationen gegenüber verhält. Kaléko findet hier zu einem authentischen Ausdruck von Weiblichkeit, der nicht im bereits klischierten Bild der Neuen Frau oder des Girls aufgeht. Zugleich bleibt es nicht bei den Konstellationen, die sich in Kästners „Sachlicher Romanze“ finden, wo zwar eine Symmetrie der Liebenden in ihrer Ratlosigkeit hergestellt wird, aber dann doch ein typisierter Reaktionsunterschied der Geschlechter auftaucht: „Da weinte sie schliesslich. Und er stand dabei.“ (Kästner 1998, Bd. 1, 65) Dies bestätigt vielleicht Roeblings These, dass das Frauenbild der meisten (männlichen) neusachlichen Autoren „erschreckend traditionell“ (Roebling 2000, 31) bleibe. Bei Kaléko geht es nicht primär um Fragen der moralischen Position oder um die Einordnung in noch bestehende familiale oder soziale Systeme, vielmehr steht das weibliche Subjekt mit seinem Bedürfnis nach Gemeinsamkeit, Wärme und Kommunikation allein und kann zwar seine Befindlichkeit, aber keinen allgemeinen Begriff von Liebe ausdrücken. Die Liebe selbst kann nur indirekt gefasst werden, verbunden mit den Attributen einer geschäftsmäßigen, auf Verkehr und Transaktion fixierten Großstadtmoderne. Die romantische Liebesvorstellung, die in der Avantgarde-Literatur schon länger ausgedient hatte, ist zwar in der Gefühlswelt des weiblichen lyrischen Ich bei Kaléko noch präsent, aber in einer gewissen Schwundstufe, da an die Dauerhaftigkeit dieses Ideals nicht mehr zu glauben ist. Dass Mascha Kaléko nicht so unpolitisch ist, wie häufig angenommen, zeigen nicht nur die späteren Gedichte und Teile des Nachlasses, soweit er bisher zugänglich ist, sondern findet sich auch in einem Gedicht wie „Chor der Kriegswaisen“. Das Gedicht benutzt durchgängig die Kollektivform des ,wir‘ und enthält in der Darstellung der Verlassenheit der „Kinder der ,Eisernen Zeit‘“ (Kaléko 2001, 71) ein bei Kaléko seltenes direktes Bekenntnis zur pazifistischen Anschauung, wie vor allem die letzte Strophe sagt: „Wir spüren noch heute auf Schritt und Tritt / Jener ,Herrlichen Zeichen‘ Vermächtnis. / – Und spielt ihr Soldaten, wir machen nicht mit; / Denn wir haben ein gutes Gedächtnis!“ (Ebd.) Dieses Gedicht hatte die Autorin bereits – geringfügig verändert – am 8.2.1932 unter ihren regelmäßigen Gedichten in der Zeitung Die Welt am Montag veröffentlicht. Es erschien dann allerdings erst als Schlussgedicht in der Neuausgabe des Lyrischen Stenogrammheftes von 1956. Ernst Rowohlt war die Aufnahme in die Erstausgabe der Sammlung wohl zu riskant gewesen (vgl. Nolte 2003). Allerdings schließt auch schon die erste Ausgabe mit einem für Kaléko eher untypischen Gedicht, das ein allgemeines gesellschaftlichen Problem behandelt, die Verarmung ehemals wohlhabender „,Herrschaftliche[r] Häuser‘“, und das mit dem Satz schließt: „Das ist das Ende…“ (Kaléko 2001, 70). Hierin einen möglichen subtextuellen Hinweis auf die sich verschärfende politische Lage zu entdecken, wie Rosenkranz es tut, erscheint dann doch zu spekulativ (vgl. Rosenkranz 2007, 47). Abgesehen von diesen gelegentlichen direkt politischen Positionsäußerungen lassen sich Kalékos Texte als Liebesgedichte in ihrer Wirkung als

Das Politische der Unpolitischen

Ungebrochene Wirkung

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Formierte Weiblichkeit

Transportmittel von Stimmungen erfassen. Ihre schlichte Form, das regelmäßige Strophen- und Reimschema, die konventionelle Bild- und Spruchhaftigkeit, verbunden jeweils mit kleinen Unregelmäßigkeiten in der Form und subtilen Beobachtungen aus dem Alltagsleben, ermöglichen ihre leichte Zugänglichkeit für einen entsprechend gestimmten Leserkreis, sie lassen sich außerdem gut laut lesen und vortragen. Trotz tiefgreifender Veränderungen in der Sozialstruktur und den Rezipientengewohnheiten scheint diese Wirkung, ähnlich wie bei Kästner, bis heute anzuhalten – vielleicht noch zuzunehmen, wie Eva Demski vermutet: „Sie wird noch entdeckt werden […], ich zweifle nicht daran, daß sie junge Freunde und Freundinnen finden wird.“ (Demski 2006, 162) Heute schon ist diese Neuentdeckung erkennbar, nicht zuletzt an den zahlreichen Hörbüchern, auf denen Schauspieler Gedichte Kalékos vortragen. Wie in bedeutungsvoller Literatur meist so verbindet sich auch in Kalékos besten Gedichten eine gewisse Zeitlosigkeit mit einem Verhaftetsein in der Aktualität und den Gegenwartsproblemen. Und eben hierin ist Kaléko eine wirkliche und immer noch unterschätzte Vertreterin der Neuen Sachlichkeit. Denn sie bietet in ihrer Alltagspoesie zunächst und vor allem Sozialporträts von (meist weiblichen) Angestellten und schafft damit in gewisser Weise ein lyrisches Pendant zu den Reportagen Kischs und Kracauers, auch zu den Erzähltexten Braunes, Kästners, Fleißers oder Keuns. Analog dazu funktionieren auf dem Gebiet der Fotografie die Ständeporträts August Sanders, die 1929 mit einem Vorwort von Alfred Döblin unter dem Titel Antlitz der Zeit veröffentlicht wurden. Zahlreiche Gedichte in Kalékos Debütband bieten solche Porträts von Angestellten, wobei diese nicht immer im Büro beschäftigt sein müssen, sondern auch noch modernere Berufstypen repräsentieren, wie die Mannequins oder den Liftboy. Im siebenstrophigen Gedicht „Randbemerkungen eines Liftboys“ sind die Gefühle des Zurückgesetztseins und gleichzeitig die Zukunftshoffnungen eingehüllt in die Bewegung des Aufzugs, der in den Zwischenzeilen jeweils auf die Stockwerke verweist: „,Dritter: Frisier- und Erfrischungsraum‘“ (Kaléko 2001, 18). Jeweils – und dies ist typisch für die ,Berufspoesie‘ der Kaléko – wird eine Entfremdung gezeigt, bzw. eine Fremdheit, die zwischen der beruflich zugewiesenen Rolle und dem Denken und Fühlen der zunächst nur anonym genannten Personen besteht. Die Reduktion auf die körperliche Ausstrahlung zeigt „Mannequins“, ein Gedicht, in dem die andere Seite des Schönheitskults und der GirlImages vorgeführt wird, nämlich als Produkt einer industriellen Verwertung von Weiblichkeit. „Die Beine, die sind unser Betriebskapital / und Referenzen. / Gehalt: so hoch wie die Hüfte schmal. / Logische Konsequenzen …“ (Kaléko 2001, 10) Was Kaléko über die Mannequins aussagt, könnte genauso auf die Tänzerinnen der Revuen bezogen werden, teilweise auch auf die weiblichen Filmstars, die die Illustrierten und Magazine im erotisierten Bild vorführten. Dass hier ein hartes ökonomisches Gesetz der „Zuchtwahl“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 230) herrsche, hatte Kracauer in seiner Reportageserie Die Angestellten bereits festgestellt, indem er den Andrang zu den Schönheitssalons und Sportstätten auch auf den Existenzkampf der Angestellten untereinander zurückführte: „Aus Angst, als Altware aus dem Gebrauch zurückgezogen zu werden, färben sich Damen und Herren die Haare, und Vierziger treiben Sport, um sich schlank zu erhalten.“ (Ebd.) Ähnlich

2. Mascha Kaléko: Das lyrische Stenogrammheft

wie der Sport spielt nun auch die Kosmetik für die Neue Frau eine immer mächtigere Rolle, die zwanziger Jahre können als „Zeitalter der Massenkosmetik“ (Sloterdijk 1983, Bd. 2, 882) betrachtet werden. Auch wenn Kracauer diesen Zwang für beide Geschlechter konstatiert, so sind doch die Frauen direkter und stärker betroffen davon, ist ihre Körperlichkeit oft ein Mittel zur Steigerung des Marktwerts. Allerdings wurde die „Indienstnahme weiblicher Attraktivität“ (Frevert 1990, 19) in der Realität von den Frauen wohl nicht nur als Unterwerfung unter das Diktat der Ökonomie verstanden, sondern gleichzeitig auch als Möglichkeit, neues Selbstbewusstsein vorzuführen, eine Ambivalenz, die sich auch in Kalékos Lyrik zeigt. Mascha Kaléko gehörte selbst zu den neuen, selbstbewussten Frauen, die sich dieser Konkurrenzsituation durchaus bewusst waren und die auch körperliche Attraktivität für ihre Interessen einzusetzen wussten – dabei war sie zweifellos am Ende der Weimarer Republik privilegiert und auch finanziell erfolgreich. Wo sie in diesen Jahren auftritt inmitten der Berliner Feuilleton- und Verlagswelt, da werden ihre Schönheit und ihre Jugend ebenso gerühmt wie ihr Charme. Auf einem bekannten Foto (zu finden u.a. in der Biographie von Rosenkranz) von einem Urlaub in Hiddensee 1930 steht sie breitbeinig, die Arme in die Hüften gestemmt, in einem weißen Hosenanzug, selbstbewusst und offensiv in die Kamera blickend, Verkörperung eben jener Neuen Frau, die so in ihrer Lyrik kaum vorkommt. Denn dort gibt es viel Wehmut, Schmerz und Trauer, auch Enttäuschung über wirtschaftliche Not, Entwurzelung und Verlassenheit. Und es sind nicht allein die jungen Frauen, die mit ihren Sorgen vorkommen, auch der Arbeitslose wird genannt, der seiner Freundin mitteilen muss, dass er ihr den bescheidenen Luxus nicht mehr wird bieten können („Zeitgemäßer Liebesbrief“), auch die „Kassen-Patienten“ erscheinen, die von einem arroganten Arzt mechanisch abgefertigt werden, die Einsamkeit des Alleinstehenden wird in „Lediger Herr am 24. Dezember“ beschrieben, und es gibt auch kleine, boshafte Porträts vom Spießerleben wie das Gedicht „Der Herr von Schalter neun“. Aber letztlich führen Kalékos Gedichte fast immer zurück auf das Thema Liebe und die Unfassbarkeit dieses unausweichlichen Phänomens. So in „Zwischen Frühstückspause und amerikanischem Journal“, wo das weibliche Ich sich die immer wiederkehrende Frage stellt und sie mit ihrer augenblicklichen Situation im Beruf verbindet: „– Lieb ich dich eigentlich? / Sicher ist diese Frage banal. / Aber zwischen Frühstückspause und amerikanischem Journal / Fällt einem inbetreff ,Liebe‘ Komisches ein, / Wenn man allein / Mit der Schreibmaschine und dem Hausapparat acht / Sich Gedanken privaten Charakters macht.“ (Kaléko 2001, 28) Typisch hier der Versuch, die Liebesreflexion mit dem Berufsalltag zu koordinieren, als Brücke zwischen den getrennten Bereichen fungiert etwas Drittes, Mediales, das „amerikanische Journal“, das man sich als eine Art Lifestyle-Magazin für die Frau vorstellen kann, wie sie in Mode kamen (Scherl’s Magazin oder Die elegante Welt) und die wegführten aus der Welt der immer gleichen Routinen. Es ist also auch hier eine Frage der Koordination des Sachlichen mit dem Emotionalen. Wenn auch ein planer „Binarismus von Fremd- und Selbstbestimmung“ (Barndt 2003, 19) bei den Repräsentationen der Neuen Frau nicht angenommen werden kann, so stellt sich doch die Reflexivität des genannten Gedichts aus diesem widersprüchlichen Zusammenhang her, denn die Frage

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

ist, wie immer bei Kaléko, ob und inwieweit innerhalb der verplanten zweckrationalen Welt der ökonomischen Anforderungen und bei allen Angeboten in Unterhaltung und Lebensführung wirklich Wahlmöglichkeiten und Entfaltungsspielräume für die Frau bestehen. Allerdings – und dies ist ein Spezifikum der Lyrik Kalékos – beteiligt sich die Autorin nicht an den Versuchen einer Situierung der Neuen Frau in der diskursiv hergestellten Ordnung, sondern belässt es bei momenthaften Aufnahmen von Gefühlszuständen, die jeweils zwischen den verschiedenen Polen changieren und damit Flächen für Projektionen und Imaginationen eröffnen.

3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter Die Rportage als journalistische und literarische Form

Die Reportage im heutigen Sinne ist „eine mit dem modernen Journalismus verbundene und durch ihn verbreitete Darstellungsform, die sich wesentlich auf den Augenzeugen stützt.“ (Haller 2006, 17) Ihre Kennzeichen sind: Dokumentation, Authentizität, Glaubwürdigkeit, Unmittelbarkeit, Redlichkeit (vgl. ebd., 26). Als Augenzeugenbericht hat die Reportage eine sehr lange Tradition, die bis in die Antike zurückreicht und durch das persuasive Moment eng mit der Rhetorik verbunden ist. Trotz der grundsätzlichen Unterscheidung von Fiktions- und Berichtsform bereits bei Aristoteles gab es immer wieder Überschneidungen zu literarischen Genres. Die Reportage entwickelte sich im Konnex mit dem Aufkommen von Kultur- und Länderberichten, mit der Reise- und Entdeckerliteratur insgesamt (z.B. Herodot) und begann in ihrer neuzeitlichen Form im Spätmittelalter (vgl. Haller 2006, 18). Ebenfalls ist die Entwicklung des Romans als Prosanarrativ mit Reportageelementen verknüpft. Autoren wie Defoe (A Journal of the Plague Year, 1722) oder Cervantes, in Deutschland Forster, Schnabel u.a. vermittelten neben Erfundenem auch Tatsachenberichte. Die Funktion des Faktographischen verlor der Roman spätestens mit der fortschreitenden Ausdifferenzierung der Printmedien in Informationskanäle und Unterhaltungs- bzw. Belehrungsformen. Im 18. Jahrhundert vollzieht sich eine grundlegende Autonomisierung des Ästhetischen parallel zur Abwertung der Tatsachenschilderung, eine Entwicklung, die sich im Großen und Ganzen über die Romantik bis zum Expressionismus fortsetzte. Allerdings enthielt die Literatur des poetischen Realismus und besonders des Naturalismus durchaus Reportageelemente (ausführlich zur Geschichte vgl. Geisler 1982, 135ff.), Theodor Fontane etwa war lange Zeit als Berichterstatter tätig und verfasste reportagehafte Artikel, jedoch muss hier von ,unechter Reportage‘ gesprochen werden, da der Autor – in Berlin lebend – häufig als nur fiktiver Augenzeuge über britische Ereignisse informierte. Vom späten 19. Jahrhundert an ist eine Blüte des Feuilletons und auch ein Aufschwung der Zeitungsreportage zu beobachten, aber im literarischen Bereich vertiefte sich die Trennung der Ebenen eher noch, die Reportage blieb für die Öffentlichkeit eine „subliterarische, journalistische Gattung“ (Kaes 1993, S. 483). Die wirkliche Konjunktur der Reportage und der Reportageliteratur setzte erst mit und nach dem Ersten Weltkrieg ein. Dies hängt mit der Entwicklung hin zu neuen Formen der Massenpresse zusammen, aber auch mit einem wachsenden Bedürfnis nach Information über den Krieg, über wirtschaftli-

3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter

che Zusammenhänge oder auch politische Verläufe. In dieser Zeit globalisierte und beschleunigte sich das Informationswesen rapide: Reportagen und Berichte aus anderen Erdteilen, schnell von den jeweiligen Brennpunkten in die Redaktionen telegraphiert, trafen auf breite Resonanz. Die Reportage wird für die Neue Sachlichkeit zur zentralen Gattung. Die Annäherung des literarischen an das publizistische Schreiben ist mit einer Tendenz zur Entfiktionalisierung verbunden, dahinter steht ein komplexes Wechselspiel um die Wertigkeit von dokumentarischer und fiktionaler Wahrheit (vgl. Becker 2000a, 154). Der Autor verliert seine Aura als autonome Schöpfungskraft, er wird mehr zum Konstrukteur und Monteur von Beobachtungselementen, aber auch schon medial übermittelten Informationen. Mit dieser Entwicklung wird zugleich die Frage nach der Objektivität virulent, dies zeigen insbesondere die Auseinandersetzungen im Kontext der Kritischen Theorie und innerhalb der kommunistischen Parteistrategie gegen Ende der Weimarer Zeit und noch in der ersten Phase des Exils. Aber die Diskussion geht weit über diesen engen politischen Rahmen hinaus. Das Faktographische erscheint bei literarischen Produzenten wie Kritikern als mögliche Lösung der Krise der Literatur und des Buches, vor allem des Romans. Die neue Reportageliteratur wird nun unterstützt von Verlegern wie Ernst Rowohlt, die sich davon vor allem neue Absatzmöglichkeiten versprechen. Zugleich hat der expandierende Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt einen großen Bedarf, und die führenden Autoren jeder politischen Couleur – wie Erwin Egon Kisch, Joseph Roth, Leo Lania oder Heinrich Hauser – arbeiten für diese Blätter. Von Neuigkeitswert waren besonders Reisereportagen über die Sowjetunion, dort waren nicht nur die spöttisch ,Weltanschauungsreisende‘ genannten Parteigänger des Kommunismus unterwegs, sondern auch interessierte Skeptiker wie Joseph Roth (1926) und Oskar Maria Graf, der 1934, schon als Exilierter, auf Einladung zum Unionskongress der Sowjetschriftsteller in Moskau fuhr und die Beobachtungen und Einschätzungen später in seinem Buch Reise in die Sowjetunion niederlegte (vgl. Schütz 1995b, 575ff.). Seit Mitte der zwanziger Jahre traten immer mehr weibliche Autoren mit Reportagen hervor, etwa Maria Leitner, Gina Kaus und Vicki Baum, die Kurzreportagen im Uhu veröffentlichten. Gabriele Tergit machte Karriere als Berichterstatterin über Vorkommnisse in Groß-Berlin und mit Gerichtsreportagen – ein aufblühendes Genre, in dem der Jurist Martin Beradt, vor allem aber Paul Schlesinger unter seinem Pseudonym Sling in der Vossischen Zeitung brillierten. Zunehmend berichteten die Reporter auch aus den dunklen Kontinenten der eigenen Kultur: dem Fabrik-, Arbeiter- und Angestelltenleben (Kracauer), der Welt des Verbrechens und der Prostitution, bevorzugt aber auch aus den dynamischen Bereichen der Technik. Tempo, Effektivität, Rationalität wurden zu Fetischen der Zeit, meist enthusiastisch – wenn auch nicht unkritisch – einem aufgeschlossenen Publikum nahe gebracht. Eine Tendenz zur Hochschätzung der Technik zeigen vor allem die Reportagen des Autors und Fotografen Heinrich Hauser, der neben vielen Reisereportagen auch Berichte über industrielle Prozesse schrieb, so etwa Schwarzes Revier (1930) über das Ruhrgebiet und 1928 das schon im Titel programmatische Friede mit Maschinen, in dem er versucht, einen Ausgleich von Mensch und Maschine zu antizipieren, eine Versöhnung, die in anderer Weise Fritz Lang in seinem Film Metropolis thematisierte (vgl. Mörchen 1983, 181f.).

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Die Vorliebe für Gegenständlichkeit, Tempo und Funktionalität konnte sich – weitgehend unabhängig von den politischen Standortbestimmungen – gerade auf der Beschreibungsebene der Faktographie entfalten, oft komplementär zu den visuellen Medien, vor allem der immer differenzierter arbeitenden Fotografie (vgl. Schütz 2007, 371). Deshalb sind in zahlreichen Reportagebänden der Zeit Bild-Text-Kombinationen zu finden, was auf den Versuch hindeutet, den alten Literaturbegriff auch durch die Einbeziehung der neuen, technisch-visuellen Medien zu überwinden (vgl. Segeberg 2003, 57). Wenn auch Frauen zunehmend als Reporter aktiv waren, so galt das Genre prinzipiell doch als Domäne der Männer, die in dieser Form ihre Idealprojektionen von Virilität, Härte und Aktivität narrativ umsetzen konnten (vgl. ebd.). Propagiert wurde so ein neuer Typ des Autors, der als Parteigänger ins Geschehen einbezogen war, der „Protokoll-führende und propagandistisch lockende Arbeiter-Schriftsteller“ (Becker 2000b, 251), wie Ludwig Marcuse mit einer Mischung aus Skepsis und Bewunderung über einen Auftritt des Sowjetautors Sergej Tretjakow schrieb, der 1931 die Berliner Linksintelligenz begeisterte, als er seine Berichte über Landreform und Saatkampagnen in der Sowjetunion vortrug. Die Reportageform wurde als Gegenentwurf zur herkömmlichen Literatur etwa von Bernard von Brentano, Mitarbeiter der Frankfurter Zeitung und Verfasser zahlreicher Berichte und Kommentare, in seinem Buch Kapitalismus und Schöne Literatur (1930) begründet. Der Handlungsaufbau des traditionellen Romans sei obsolet, meinte Brentano in seiner Rezension zu Jakob Wassermanns 1928 erschienenem Bestseller-Roman Der Fall Maurizius: „Seit 50 Jahren […] kümmern sich die Schriftsteller um die Charaktere. Mögen sie sich von jetzt an nur fünfe um die Zustände kümmern.“ (Zit. n. Becker 2000b, 158f.) Erik Reger, der den Ausdruck ,Präzisisonsästhetik‘ in die Diskussion eingebracht und mit dem Industrieroman Union der festen Hand, ein „Kernstück neusachlichen Schreibens“ (Schütz 1995b, 91) geliefert hatte, argumentiert in einem Artikel im Scheinwerfer ausgerechnet gegen Döblins Berlin Alexanderplatz, dem er „Pseudoexaktheit“ (zit. n. Schütz/Vogt 1986, 281) vorwirft. Die Einmontierung von Zeitungsmeldungen, Statistiken und Fachliteratur verberge nur die Beliebigkeit des Vorgehens und das Verharren in alten Erzählmustern. Hinter Döblins Text stehe gerade nicht der Autor als gegenwartszugewandter „Beobachter mit dem kalten Blick“ (ebd.). An Kisch kritisiert Reger als Kenner des Ruhrgebietes die Flüchtigkeit und fehlende Informationsbasis seiner Reportagen aus dem Revier. Gegenüber einer technisch vermittelten Sehweise – „Das dritte Auge des Reporters“ als Kamera – wird die ,natürliche‘ propagiert, die allein eine sachliche Darstellung ermögliche. Regers eigener Roman Union der festen Hand beschreibt die aktuellen Machtverhältnisse des Ruhrgebiets. Der Untertitel Roman einer Entwicklung zeigt eher die Rücknahme des psychologisch subjektzentrierten Romans an, es geht um die „Analyse von Zuständen und ,Systemen‘“ (Schütz/Uecker 1995, 100) und um einen operativ-publizistischen Umgang mit den Fakten, obwohl Titel und Grundeigenschaften der Romanform beibehalten werden. Der Bereich der Reportage wurde ausgeweitet auf solche analytisch-deskriptiven Narrationen, die unter dem Terminus Reportageroman zu einem eige-

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nen Genre wurden. Ernst Ottwalt sprach in der Auseinandersetzung mit der Position Georg Lukács’ von „Tatsachenroman“ (Becker 2000b, 148), in dem es möglich schien, einen hohen Grad an Objektivität – oder Sachtreue – zu erreichen und zugleich damit eine parteiliche Perspektive zu vermitteln. Die Literatur konnte auf diese Weise, glaubte man, endgültig als bürgerliches Medium der Kontemplation, der Ablenkung und des folgenlosen Genusses abgelöst werden von einem operativen Verständnis, das sie als Teil der sozialen Kämpfe begreift. In Verbindung mit den so genannten Arbeiterkorrespondenten und als Reaktion auf die verschärfte Situation nach Beginn der Weltwirtschaftskrise entstanden gegen Ende der Weimarer Republik Romane dieses Typs wie Willi Bredels Maschinenfabrik N & K (1930), Hans Marchwitzas Sturm auf Essen (1930) oder Barrikaden am Wedding – Roman einer Straße aus Berliner Maitagen (1929) von Klaus Neukrantz. Alles Romane über die Situation in Berlin und im Ruhrgebiet, in denen die Arbeitsverhältnisse in Fabriken und zugleich die meist KPD-gesteuerten Aktionen im Dokumentarstil vorgeführt wurden. Die Reportageform strahlte bis ins Theaterleben aus, hier besonders bei Zeitstücken, in die – wie etwa in Wolfs Cyankali – dokumentarische Partien (Statistiken, Ausschnitte aus Zeitungsartikeln u.Ä.) eingearbeitet wurden, oder auch bei Peter Martin Lampel, der sein Zeitstück Alarm im Arbeitslager (UA 1932) auf sein Reportagebuch Packt an! Kameraden! stützte, das ebenfalls 1932 im Rowohlt Verlag erschienen war. Nach 1930 nahm die Kritik an der Reportageform zu, diese sei nicht in der Lage, das Wesen der Dinge, das sich dem rein Beobachtbaren entziehe, zu erfassen. In diesem Sinne schrieb Alfred Kantorowicz 1929: „Ein guter Reporter sein, daß [sic] heißt allenfalls eine Vorstufe zum guten Chronisten erklommen haben, aber erst jenseits des Chronisten beginnt der Epiker.“ (Zit. n. Becker 2000b, 339) Kracauer distanziert sich in den Angestellten von der „üblichen Reportage“ (Kracauer 1971–2002, Bd. 1, 222), die gespeist sei von einem „Hunger nach Unmittelbarkeit, der ohne Zweifel die Folge der Unterernährung durch den deutschen Idealismus ist“ (ebd.). Einem platt reproduktiven Begriff der Reportage stellt er die Wirklichkeit als eine Konstruktion entgegen, die einen Zusammenhang, einem Mosaik gleich, zwischen den gesammelten Einzelelementen herzustellen habe. Kritik an der Reportageform kam auch von Vertretern der literarischen Avantgarde wie Hermann Broch, der in seinem Vortrag „Das Weltbild des Romans“ (1933) gegen die einseitige Fixierung auf das Gegenständlich-Reale argumentierte, oder Gottfried Benn, der 1928 auf die Frage des Berliner Tageblatts „,Dichtung der Tatsachen‘?“ für die ,reine Dichtung‘ des Lyrikers optierte: Dieser „vermag mit den Ereignissen des Tages, der Empirie des Vorgangs, der journalistischen Tatsache überhaupt nichts anzufangen“ (Becker 2000b, 332). Sehr unterschiedliche und meist differenzierte Antworten gaben prominente Autoren wie Leonhard Frank, Heinrich Mann, Max Brod oder Emil Ludwig auf die Frage der Literarischen Welt von 1926: „Wird die Dichtung, insbesondere die epische Kunstform, von der neuen Sachlichkeit der Reportage entscheidend beeinflußt werden?“ (Vgl. Becker 2000b, 165–171) Die beteiligten Schriftsteller redeten nicht einer reinen Faktographie das Wort, sondern plädierten für die Einarbeitung von im engeren Sinne literarischen Elementen. So entstanden für die Neue Sachlichkeit typische Zwischenprodukte, die „zwischen Literatur und Reportage, zwischen fiktionalem Text und doku-

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mentarischem Bericht“ variierten (Becker 2000a, 160). Hermann Kesten, der in seiner 1929 erschienenen Anthologie von Kurzprosa jüngerer deutscher Autoren 24 neue deutsche Erzähler neusachliche Autoren wie Ernst Glaeser, Erich Kästner, Ludwig Renn und Marieluise Fleißer berücksichtigte, begründete im Vorwort die Auswahl in eher pathetisch gestimmtem Ton gerade nicht aus den Polaritäten, die die Debatten über die Reportageform bestimmten, sondern mit ihrer Gemeinschaft, die letztlich durch das Erleben des Weltkriegs fundiert sei: Dies Buch einigt kein Schlagwort, keine literarische Generation, kein Stilgrundsatz, es wurde nach keiner Richtung, nach keinem literarischen Paß gefragt, sondern auf die Gemeinschaft eines Schicksals wurde geschaut, auf die sichtbaren Wundmale und Zeichen einer aufgelösten Zeit gesehen […]. (Kesten 1929, 8f.) Literat und Reporter: Egon Erwin Kisch

Der rasende Reporter, Kischs bekannteste Reportagesammlung, erschien 1925, und der Autor wurde zu einem Star der Literaturszene der 1920er Jahre, was mit seinem ungewöhnlichen Leben, mit seinen vielen Unternehmungen, mit seinem schriftstellerischen Talent und Geschäftssinn zu tun hat, nicht zuletzt aber auch damit, dass er die Gattung repräsentierte, die dem faktographischen Ideal der Neuen Sachlichkeit am meisten entsprach: die Reportage. Eine konsistente Theorie dieser Form entwickelte Kisch nie, aber zu Beginn seiner Sammlung legte er in einem kurzen Vorwort seinen Begriff der Reportage dar. Hierbei geht er von einem Satz aus Schopenhauers Werk Parerga und Paralipomena von 1851 aus: Ganz gewöhnliche und platte Menschen können vermöge des Stoffs sehr wichtige Bücher liefern, indem derselbe gerade nur ihnen zugänglich war, z.B. Beschreibungen ferner Länder, seltener Naturerscheinungen, angestellter Versuche, Geschichte, deren Zeuge sie gewesen oder deren Quellen aufzusuchen und speziell zu studieren sie Mühe und Zeit verwendet haben. (Kisch 1993, Bd. 6, 637) Kisch baut seine weitere Argumentation auf diesen Satz auf, allerdings lässt er den bei Schopenhauer folgenden weg, in dem dieser die Form anspricht: „Hingegen wo es auf die Form ankommt, indem der Stoff jedem zugänglich oder gar schon bekannt ist, wo also nur das Was des Denkers über denselben der Leistung Wert geben kann, da vermag nur der eminente Kopf etwas Lesenswertes zu liefern.“ Diese Auslassung weist auf das hin, worauf es Kisch ankommt: das Stofflich-Thematische, nicht die ästhetisch-formale Gestalt eines Textes. Kisch will – gegenüber dem Hochgebildeten – den einfachen, „platten“ Menschen in sein Recht als Autor einsetzen. Gerade die Entfernung von der Zeit und der Aktualität sei es, die kein klares Bild von der Gegenwart zulasse. Polemisch richtet sich dies gegen „Memoiren und Rechtfertigungen“ (ebd., 637) der großen Männer der Vergangenheit, und gedacht ist nicht zuletzt an die Kriegsschriften von Politikern und Generälen. In seinem Artikel „Wesen des Reporters“ von 1918 hatte er demgegegenüber ausgeführt, dieser von Schopenhauer so genannte „platte“ oder ,gewöhnliche‘ Mensch sei nicht in der Lage, etwas zur Sache Gehöriges zu sagen, selbst wenn er sie selbst gesehen habe (vgl. Kisch 1991, 348f.).

3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter

Wenn Kisch postuliert: „Der Reporter hat keine Tendenz, hat nichts zu rechtfertigen und hat keinen Standpunkt.“ (ebd.), so steckt darin die Wendung gegen eine alte subjektivistische und verklärende Literaturauffassung. Der gute Reporter brauche neben der reinen Faktenwahrnehmung noch etwas anderes, nämlich „Erlebnisfähigkeit zu seinem Gewerbe, das er liebt“ (ebd.). Diese Erlebnisfähigkeit mache ihn zu einem Teil der Masse, denn auch der einfache Mensch besitze sie, aber zugleich schaffe er ein Werk, das wegen der spezifischen Form der Stoffverarbeitung besonders wichtig sei. Erstmalig verwendet Kisch hier programmatisch den Wahrheitsbegriff für die Reportageform im berühmten, später immer wieder zitierten Diktum: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit.“ (Kisch 1993, Bd. 6, 638) Die konstruierte Dichotomie soll den endgültigen Bruch mit dem idealistischen Kunstbegriff zusammenfassen: Wollte die fiktionale Literatur immer mit dem Ungewöhnlichen überraschen, manchmal auch schockieren – Goethe spricht von der Novelle als Darstellung einer ,unerhörten‘ Begebenheit –, also durch Neues, Ungewöhnliches verblüffen, führte sie aus dem Bereich des Alltagslebens in eine davon entfernte fiktionale Welt („exotisch“). Wurde die Imagination als Kern der Literatur betrachtet, so werden diese Grundlagen des Ästhetischen nun im Begriff der Sachlichkeit revidiert. Mit der Negation der alten Ästhetik wird aber zugleich ein neuer Anspruch erhoben: Die sachliche Reportage wird anschlussfähig gemacht an die fiktionale Literatur, ja sie übernimmt gar deren Stelle. Kisch sieht sich zwar, wie das Vorwort zum Rasenden Reporter von 1925 zeigt, als der Objektivität und Tatsachentreue verpflichtet, keineswegs jedoch als neutraler Beobachter. Etwas Drittes kommt noch hinzu: Er will, nach nur begrenzt erfolgreichen Jahren in Prag, Wien und Berlin, nach der Teilnahme an den revolutionären Kämpfen 1918/19, nach Theater- und Pressearbeit in den frühen zwanziger Jahren, als Autor reüssieren und damit zugleich dem revolutionären Kampf nützen, dem er sich seit Ende des Ersten Weltkriegs verschrieben hat. So werden die Jahre 1924/25 für ihn entscheidend: Durch den Rasenden Reporter, 1925 bei Erich Reiss in Berlin erschienen, wird er bekannt und zum Bestsellerautor. In diesem Jahr tritt er der KPD bei und ist auch in der Folge in vielen parteinahen Organisationen tätig, nicht zuletzt ab 1928 im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller. Von daher hat es durchaus seine Berechtigung, wenn er die schriftliche Fassung eines Teils seiner Rede auf dem Pariser Kongress zur Verteidigung der Kultur 1935 unter das Motto „Reportage als Kunstform und Kampfform“ stellt. Die immer wieder in der späteren Weimarer Republik geäußerte Kritik, die Mitgliedschaft in KPD und BPRS lasse sich nicht mit der Unabhängigkeit und Tendenzlosigkeit des Reporters vereinbaren, kontert Kisch damit, eine solche Neutralität sei ohnehin illusionär, da sämtliche Erscheinungen, einschließlich des kulturellen Überbaus, von der ökonomischen Entwicklung und vom Stand der Klassenkämpfe abhängig sei (vgl. Geissler 1982, 60). Dass der Titel von Kischs erfolgreichstem Buch, das auch sein öffentliches Bild festlegte, eher aus Marketing-Gründen gewählt war, dass es, trotz des Vorworts, für die Massen der Käufer eben doch um Abenteuerliches und Exotisches ging, ist von Hans Albert Walter gezeigt worden (vgl. Walter 1988, 8). Der bewusst reißerische, wohl aber hochironisch gemeinte Titel

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war zwar nicht grundlos gewählt – Kisch hatte tatsächlich viel Ungewöhnliches erlebt und große Teile der Welt bereist –, aber er camouflierte doch das, was den Schriftsteller Kisch nach Aussagen vieler Freunde und Beobachter gerade auszeichnete: ein geradezu skrupulöser Umgang mit dem Wort, eine hohe Sensibilität für den sprachlichen Ausdruck. Und davon zeugt auch der Schaffensprozess: Immer wieder nahm Kisch alte Texte und arbeitete sie um. Walter zeigt dies an der Analyse der Reportage „Bei den Heizern des Riesendampfer“, die in einer neuen Fassung in den Band Der rasende Reporter aufgenommen wurde, aber zurückgeht auf einen Zeitungsartikel, den Kisch in der Prager Zeitung Bohemia am 12. Juni 1914 veröffentlicht hatte. Die überarbeitete Fassung nach zehn Jahren ist, wie Walter nachweist, von einer speziellen literarischen Brillanz, die auf die formale, aber auch die politische Entwicklung des Autors deutet (vgl. Walter 1988, 9ff.). Dass Kisch ein Schriftsteller von hohen Graden war, steht außer Zweifel. Er wird bis in die Gegenwart gelesen, auch wenn die Reportage als Form in der Literatur heute, nach einer gewissen Renaissance in den sechziger und siebziger Jahren (etwa bei Wallraff, Runge u.a.), keine Konjunktur mehr hat und die Erinnerung an die Ereignisse wie auch die soziale und politische Kritik des Autors Kisch verblasst sind. Geehrt wurde Kisch immerhin durch den 1977 vom Stern-Herausgeber Henri Nannen gestifteten renommierten Journalistenpreis. Kisch repräsentierte ja in seiner Person den modernen Reporter „als ein Amalgam aus anderen Berufen“ (Patka 1997, 100): Er schrieb einen Roman Der Mädchenhirt (1924), er war kurzzeitig Dramaturg am Theater, besuchte eine Journalistenschule in Berlin, verkehrte als Großstadtliterat mit seinesgleichen im Romanischen Café, war Entdeckungsreisender, Historiker, Filmschaffender – er übernahm eine Rolle in der Produktion Die Frauengasse von Algier (1927) an der Seite von Camilla Horn – und immer wieder Reporter. Dass er dabei seinem eigenen Anspruch auf Faktentreue nicht immer gerecht wird, sondern gern fabuliert und ausschmückt, das ist nicht erst durch Spezialuntersuchungen klar geworden, das hatte Kisch selber in der Rückschau seines Buches Marktplatz der Sensationen (1942) mit entwaffnender Offenheit angesichts seines Berichts über den Brand der Schittkauer Mühlen 1912 in Prag ausgesprochen. Er beschreibt hier in teilweise komisch-unterhaltsamer Weise, wie ihm als Reporternovizen mangels Fakten nichts anderes übrig blieb als den angeforderten Bericht weitgehend zu erfinden. In seinem Resümee gelangt er zur Gegenüberstellung von Bericht und Erfindung: Entweder man nimmt das Ereignis zum Ausgangspunkt für ein Phantasieprodukt (was ich gestern beim Mühlenbrand getan) oder man bemüht sich, die Zusammenhänge und Details so zu ermitteln, daß das Ergebnis mindestens in gleichem Maße interessant ist wie das Phantasieprodukt. (Kisch 1978, 285) Kisch besteht schließlich auf der zweiten Möglichkeit, entfaltet aber in seinem Text auch deren Problematik. Ebenso zeigt sich auch der immer wieder postulierte Anspruch auf die Freiheit von Tendenz als nicht durchzuhalten. Darauf wies schon Kurt Tucholsky in seiner Rezension hin, die unter dem Pseudonym Peter Panter am 17.2.1925 in der Weltbühne erschien. Tucholsky stößt sich – wie andere Rezensenten – am Vorwort. Den Anspruch der Tendenz- und Standpunktlosigkeit lehnt er klar ab:

3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter

Das gibt es nicht. Es gibt keinen Menschen, der nicht einen Standpunkt hätte. Auch Kisch hat einen. Manchmal – leider – den des Schriftstellers, dann ist das, was er schreibt, nicht immer gut. Sehr oft den des Mannes, der einfach berichtet: dann ist er ganz ausgezeichnet, sauber, interessant – wenngleich nicht sehr exakt, nicht sachlich genug. (Tucholsky 1975, Bd. 4, 48) Trotz der Ablehnung des weitergehenden Anspruchs sieht Tucholsky Kisch als Faktographen grundsätzlich positiv. Allerdings wendet er sich gegen dessen Anspruch, literarische Qualitäten mit dem Berichteten kombinieren zu können. Gerade der Versuch Kischs, aus dieser Kombinatorik eine „Literarisierung und Literarizität des Genres“ (Becker 2000a, 168f.) zu erreichen, misslingt im kritischen Blick Tucholskys. Es bleiben hier Vorbehalte, die schon in der zeitgenössischen Diskussion geäußert wurden, und Fragen: Wie vermochte Kisch diesen Spagat von Kunst und Bericht durchzuhalten, wie konnte eine bis heute faszinierende „Aktualität aus Widersprüchen“ (Schütz in Kisch 1978, 309) entstehen? Gerade wenn es um die eigene Biographie geht, ist Kisch bekanntlich kein sehr zuverlässiger Chronist, er hat zweifellos die Tendenz, diese „auszufabeln“ (Schlenstedt in Kisch 1991, 23). Kisch wurde in der Weimarer Zeit zu einer ,Marke‘, und mit sicherem Instinkt passte er sein Image den Erwartungen des Publikums nach einem hektischen Reporter und Abenteurer an, dies in einer merkwürdigen Mischung aus Kontinuität und Anpassung an neue Gegebenheiten: Wer die zahllosen Bilder der zahlreichen Stationen von Kischs Leben […] betrachtet, macht eine merkwürdige Beobachtung. Kisch ist sich in gewisser Weise immer gleich geblieben – schon die Zigarette, die auf unzähligen Bildern schräg aus seinem Mundwinkel hängt, zeugt dafür. Auf der andern Seite hat er sich fast wie ein Chamäleon verändert, seinen Themen angeglichen in einer Mimikry, zu der nur ein genialer Beobachter, also anteilnehmender Reporter fähig ist. (Karasek in Patka 1998, 7) Die Konkurrenzsituation zwischen der traditionellen und der ,neuen‘ literarischen Gattung, zwischen Roman und Reportage, taucht schon im Titel des Aufsatzes auf, den Kisch 1929 zunächst in der Prager Zeitschrift Cin publiziert hatte und der später aus dem Tschechischen rückübersetzt und im Sammelband Läuse auf dem Markt als Band 11 der Gesammelten Werke in Einzelausgaben veröffentlicht wurde. Kisch wagte in diesem Text eine kühne Zukunftsprojektion, die sich als unrichtig erwiesen hat: „Der Roman hat keine Zukunft. Es wird keine Romane geben, keine Bücher mit ausgedachter Handlung. Der Roman ist die Literatur des vergangenen Jahrhunderts!“ (Kisch 1993, Bd. 11, 43f.) Kisch hält den psychologischen Roman des 19. Jahrhunderts für unzeitgemäß, unmodern, vor allem uninteressant für junge Leser. Von den älteren Schriftstellern dieser Art lässt er lediglich Balzac, Zola und Stendhal gelten, aber nur, weil diese schon mit der „Reportagetechnik“ (ebd.) gearbeitet hätten. Von hier fortschreitend sei in der Gegenwart aber eine neue Form entstanden, die er „die reine Reportage, die Reportage an sich“ (ebd.) nennt. Der wesentliche Grund für das Obsoletwerden der älteren psychologischen Romanliteratur liegt für Kisch in der kollektiven Erfah-

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rung des Ersten Weltkrieges, die für die gewöhnlichen Menschen Konflikte und Probleme von einer Gewalt gebracht hätte, die in den Konfliktszenarien der Romane des 19. Jahrhunderts undenkbar gewesen wäre. Wie bei anderen neusachlichen Autoren erscheint auch hier der Krieg nicht nur als historische Zäsur, sondern als Startpunkt einer Moderne, die veränderte Ausdrucksformen hervorbringt. Im letzten Teil seines Artikels kommt es zu einer Wendung ins Politische, Kisch unterscheidet jetzt die Reportage als Modeerscheinung von denjenigen, die von ,Revolutionären‘ verfasst wurden, und hier nennt er die Namen ausländischer Autoren: John Reed, Larissa Reisner, Henri Barbusse, Arthur Holitscher, Agnes Smedley, Albert Londres und Upton Sinclair. Schon 1923 hatte Kisch eine Anthologie mit vorbildhaften Artikeln unter dem Titel Klassischer Journalismus – Die Meisterwerke der Zeitung herausgegeben. Wie bereits im Vorwort zum Rasenden Reporter so operiert Kisch auch im Aufsatz von 1929 mit einem nicht weiter hinterfragten Wahrheitsbegriff, der für ihn aber verbindlichen Charakter hat, weshalb es in einer eher pathetischen Schlusswendung heißt: „Der wahrhaftigen und mutigen, weitherzigen Reportage gehört die Zukunft!“ (Ebd., 438) Interessanter als dieser – mit der kommunistischen Generallinie der Zeit abgestimmte – Wahrheitsbegriff ist die Konstellation, die der Antithese von Roman vs. Reportage unterliegt: Denn in keiner Zeile des Artikels ist vom wirklich modernen Roman der Zeit die Rede, also vom Bewusstseinsroman eines Joyce oder Proust, vom Avantgarderoman Brochs oder Musils, auch nicht vom gerade aktuellen Montage- und Großstadtroman des Typus Döblin, geschweige denn von der Romanform Thomas Manns, der mit dem Zauberberg 1924 einen der meistdiskutierten und breit rezipierten Romane der Weimarer Zeit vorgelegt hatte. Offensichtlich ist Kisch wie andere marxistische Autoren (etwa Lukács oder Balázs) in einem geschichtstypologischen Denken befangen, das die Moderne, hier als Reportageform, zwar alternativ zur bürgerlichen Tradition, aber doch in gewisser Weise als deren Fortsetzung mit anderen Mitteln versteht. Den guten Reporter zeichnen für den kommunistischen Parteigänger – wie die Rote Fahne am 13. Juni 1928 als Zusammenfassung eines Radioprogramms schrieb – drei Eigenschaften aus: „Der Wille zur Sachlichkeit, ein starkes soziales Gefühl und der Wille, den Unterdrückten zu helfen“ (zit. n. Patka 1998, 109). In seinem frühen Zeitungsartikel „Wesen des Reporters“, der 1918 im Literarischen Echo erschien, ist die Grundrichtung von Kischs Reportageverständnis bereits konturiert, wenn auch noch die parteipolitisch-ideologische Sicherheit eines verbindlichen Wahrheitsbegriffs fehlt. Im Ansatz entfaltet Kisch hier bereits sein Sachlichkeitsverständnis, und wiederum werden Maßstäbe der realistischen Romanliteratur des 19. Jahrhunderts implizit als Maßstab angelegt. An den Beispielen Flaubert und Zola expliziert er die Wichtigkeit der „Milieustudie“ (Kisch 1991, 346) für jeden Schriftsteller und setzt diese dann mit der Reportage gleich. Allerdings ist dieser Text stärker auf die journalistische Dimension im engeren Sinne fokussiert, denn als Gegenspieler der Reportage wird hier nicht der psychologische Roman ausgemacht, sondern das Feuilleton als eine Form, die es mit der Wahrheit nicht genau nehme. In der Tat bestand eine Rivalität zwischen dem primär vom Schreibtisch aus arbeitenden reflexiven Feuilletonisten und dem Reporter, dessen Recherchearbeit für Kisch „die ehrlichste, sachlichste, wichtigste“

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(ebd., 346) ist. Über die reine Tätigkeit des Registrierens hinaus benötige der Reporter auch die Fähigkeit, die Einzelbeobachtungen zu verknüpfen, von Kisch als „logische Phantasie“ oder als das Ziehen einer „Wahrscheinlichkeitskurve“ (ebd., 347) bezeichnet. Streng genommen reicht dies über den rein sachlich-faktualen Reportagebegriff schon hinaus und zeigt Kisch als im Kern konstruktivistischen Autor. Auch die Vorstellung eines anzustrebenden Medienwechsels trägt diese Tendenz, wenn er meint, eine Übersetzung von Schillers „Die Kraniche des Ibykus“ in die Reportageform sei relativ einfach möglich, denn: „Der Berichterstatter ist der Prosaist der Ballade.“ (Ebd., 346) Die Literarizität von Kischs Reportagen legt bereits eine flüchtige Lektüre offen. Wie Freunde und Zeitgenossen immer wieder bezeugt haben, war der rasende Reporter, aus großbürgerlich-jüdischem Milieu in Prag stammend, zeitlebens ein Bildungsbürger und Literat, ein Bohemien, der sich gern in den Literatencafés Prags oder Berlins aufhielt und Kontakt zu fast allen Größen des geistigen Lebens der Zeit hatte. Zudem wird Kisch als ein lebendiger Erzähler geschildert, der ein Publikum stundenlang unterhalten konnte, zugleich als ein kontemplativer Literatentyp, hoch belesen und kenntnisreich. Der Berichterstatter ist immer auch ein Fabulierer, der zwar nahe am Geschehen ist, dieses jedoch nicht nur sachlich wahrnimmt, wie es im Kriegstagebuch zum Aufschreibeprozess heißt: „Meist mitten im Abenteuer, niemals aber später denn vierundzwanzig Stunden nach dem Erlebnis.“ (Kisch 1930, 8) Von seinem persönlichen Habitus her entspricht er – ebenso wenig wie Joseph Roth – dem Bild eines rein sachlichen Reporters, der das Ohr am Puls der Zeit hat (zum Verhältnis zu Roth vgl. Patka 1997, 276ff., der das gemeinsame Ironiepotenzial betont). Die Mystifikationen, die Kisch um seine Berichte herum und auch um die Geschichten bei der Entstehung der Reportagen aufbaut, gehören zum Wesenskern der von ihm geschaffenen literarischen Form. Der Widerspruch von Sachlichkeit und Imagination enthüllt sich also letztlich als ein produktiver: als dynamisierende Spannung von Fiktion und Wiedergabe, Phantasie und Faktentreue. Diese Literarizität und Kombinatorik in der Anordnung der Einzelteile schufen den Massenerfolg und machen die Texte Kischs bis heute lesenswert, jenseits aller politischen Vereinnahmungen und ideologischen Dogmatisierungen. Die Tendenz zur medialen Überschreitung und Kombinatorik, die das neusachliche Schreiben insgesamt prägt, führt bei Kisch zum Eindruck einer „kinematographischen Revue“, der sich Alfons Paquet angesichts der wochenschauartig strukturierten Zusammenstellung aufdrängte (vgl. Segeberg 2003, 64). Die Reportage vom Typus Kisch zeigt ihre Modernität gerade auch in einer größtmöglichen Annäherung des Wortes an das Bild – anders gesagt: als Film mit Worten. Kisch hat Mitte der zwanziger Jahre vier Reportagesammlungen zusammengestellt, die alle Verkaufserfolge wurden: neben dem Rasenden Reporter (1925) waren dies Hetzjagd durch die Zeit (1926), dann Wagnisse in aller Welt und das Kriminalistische Reisebuch (beide 1927). Das Prinzip aller vier Bände ist ähnlich: Kisch sammelt bereits erschienene Reportagen, die er in seltenen Fällen unverändert übernimmt, meist aber für die Buchpublikation überarbeitet. Die Wandlungsfähigkeit Kischs in der öffentlichen Präsentation machte es auch möglich, dass er sehr unterschiedlich positionierte Medien bedienen konnte, die kommunistische Linkskurve ebenso wie bürgerliche

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Tageszeitungen. Bei den Buchfassungen veränderte der Autor die Reportagen im Sinne einer Neukontextualisierung, aber auch in der internen Textstruktur. Die wahrgenommenen Fakten wurden in Sachberichte, aber auch in Anekdoten, überraschende Pointen, Einzelfälle und subjektive Erfahrungen übersetzt, alles Literarisierungen, die vor allem das Unterhaltungsbedürfnis der Leser ansprechen sollten (vgl. Siegel 1973, 153). Die thematische Verteilung der 53 Reportagen zeigt die Schwerpunktbildung Kischs (nach ebd., 154): 1. Soziologische Themen, Milieustudien, Stadtrundgänge (19) 2. Ökonomische, technische und industrielle Themen (10) 3. Krieg (10) 4. Historisch-literarische Sujets (7) 5. Kriminal-Reportagen (6) 6. Aktuelle Berichte (1) Der literarische Anspruch des Rasenden Reporters wie auch der anderen Reportagebände zeigt sich in der Anordnung der einzelnen Teile, auch in der Einarbeitung verschiedener literarischer Genres wie Dramolett, fiktiver Dialog, Essay und feuilletonistischen Passagen (vgl. Patka 1997, 97). Ebenso zeigt sich der Anspruch in der – ganz im Gegensatz zum selbst etablierten Klischee – langsamen, akribischen, die Texte immer wieder für den Verwendungszweck prüfenden Arbeitsweise (vgl. Schütz in Kisch 1978, 317), vor allem jedoch in der narrativen Finesse der Einzeltexte, die bereits Ernst Bloch und Georg Lukács erkannten, in der montageartigen „spot-light-Technik“ (Siegel 1973, 153), die – wie der Film – vor allem bestrebt ist, durch ständigen Szenenwechsel, aber zugleich durch Wiedererkennungssignale die Aufmerksamkeit des Rezipienten zu sichern. Variabilität zeigt sich auch in den jeweils genannten Erzählerfiguren: Dies kann ein ,Ich‘ ebenso sein wie ein ,Wir‘ – oder aber, wie in elf der Reportagen – der Berichterstattende bleibt anonym. Kisch führt in diesen Reportagen durch viele Teile der Welt, er schreibt über die sozialen Verhältnisse (gleich in der ersten über die „Obdachlosen von Whitechapel“), über Reisen, Fahrten und Abenteuer („Die Weltumseglung des ,A. Lanna 6‘“, „Erkundungsflug über Venedig“), immer wieder über Arbeitsbedingungen, sei es bei Hopfenpflückern oder im Bochumer Stahlwerk und über Börse und Handel. Er schreibt aber auch über jüdische Themen, in denen er durch Kindheit und Jugend bewandert war, etwa in „Jiddisches Literaturcafé“ oder auch – recht ausführlich – „Dem Golem auf der Spur“, ein Prager Stoff, der seit der Romantik immer wieder und u.a. 1915 im erfolgreichen Roman Der Golem sowie in mehreren Stummfilmen von Paul Wegener behandelt wurde, wovon Der Golem, wie er in die Welt kam (1920) der bekannteste war. Schon die Überschriften der einzelnen Teile haben oft spannungsbildenden Charakter und richten sich auf die Leserbedürfnisse nach Abenteuer und Exotik, die in den entsprechenden Büchern dieses Genres der Weimarer Zeit auf großes Interesse stießen: „Bombardement und Basarbrand von Skutari“, „Streifzug durch das dunkle London“, „Ada Kaleh – Insel des Islam“, sie alle fungieren häufig als eye catcher, wie auch „Buchstabe ,n‘ und die Weltgeschichte“ (zur Reiseliteratur der Weimarer Zeit vgl. Schütz 1995b). Speziell die literarische Darstellung von Abenteuern erlebt in dieser Zeit eine Hochkonjunktur (bei Traven u.a.), und gerade sie hob sich

3. Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter

mit ihren Ansprüchen auf Tatsachentreue und Authentizität, die freilich durchaus nicht immer eingehalten wurden, ab von der Phantasieliteratur eines Karl May. Kisch führt die Leser in der Zusammenstellung der Texte von Ort zu Ort, und keine Szenerie taucht zweimal hintereinander auf. Die einzelnen Texte des Bandes genügen dem Anspruch des Reporters insofern, als sie faktengesättigt sind und sich unmittelbar auf das geschilderte Geschehen fokussieren. Zugleich aber haben sie meist eine hochgradige ästhetische Verdichtung, was durch den gezielten Einsatz einer Vielzahl von poetischen Mitteln, Bildern, Leitmotiven und ein Geflecht von Anspielungen bewirkt wird. Walter hebt mit Recht das oft verkannte „Mehrdeutige und Doppelbödige seiner Argumentation, die Kunst seiner Komposition, das Spielerische und Artistische seiner Formulierungen, auch das jüdische ,Umdie-Ecke-denken‘“ (Walter 1983, 390) hervor. Die Brillianz seiner Formulierungen überdeckt teilweise auch eine suggestive, im Extrem gar „demagogische“ Tendenz (so Walter ebd., 409). Die bisher kaum untersuchte ausgeprägte Rhetorizität der Texte Kischs ist ein zentrales Wirkmoment, das die Objektivitätsbehauptung unterläuft, aber die persuasive Wirksamkeit verbürgt. Mit den genannten Mitteln des Genres arbeitet auch die in den 1920er Jahren aufkommende Sportreportage, die Kisch in besonderer Weise nutzt. Schon der Titel Elliptische Tretmühle ist mysteriös, regt aber zur weiteren Lektüre an. Und die Thematik hängt eng mit dem Phänomen des Urbanen, Massenhaften und mit den Vergnügungen der Metropole zusammen, mit dem Sechstagerennen im Sportpalast an der Potsdamer Straße in Berlin, das, wie gleich im ersten Satz, gesagt wird, „wütet“ (Kisch 1993, Bd. 6, 227), also personifiziert als gewaltsames Phänomen erscheint. Kischs Reportage ist einerseits durchaus genau, manchmal gar überexakt, etwa wenn er von der Überbietung des Weltrekords spricht, „als in sechs nächtelosen Tagen von 1914 zu Berlin die Kleinigkeit von 4260,960 Kilometern zurückgelegt wurde“ (ebd.). Die reine Sachschilderung reicht Kisch aber nicht, im gesamten Bericht ist der Wille erkennbar, die atmosphärische Dichte und Intensität der Veranstaltung als Massenspektakel zu vermitteln. Das „wahnwitzige Karussell“ (ebd.), das der Beobachter toben sieht, soll vor allem in seinen zentralen Elementen vermittelt werden: Tempo, Druck, Vielfalt der Geschehnisse und Eindrücke. Kisch kommt in dieser Reportage durch die Verwendung der Simultantechnik der filmischen Schilderung so nahe wie sonst fast nie (vgl. Siegel 1973, 164). In der Art einer Parallelmontage, die an die filmischen Großstadtdokumentationen der Zeit denken lässt, weitet der Erzähler das sportliche Geschehen aus: Sechs Tage und sechs Nächte. Draußen schleppen Austrägerinnen die Morgenblätter aus der Expedition, fahren die ersten Waggons der Straßenbahnen aus der Remise, Arbeiter gehen in die Fabriken, ein Ehemann gibt einer jungen Frau den Morgenkuß, ein Polizist löst den anderen an der Straßenecke ab, ins Café kommen Gäste, jemand überlegt, ob er heute die grau-schwarz gestreifte Krawatte umbinden soll oder die braun gestrickte, der Dollar steigt, ein Verbrecher entschließt sich endlich zum Geständnis, eine Mutter prügelt ihren Knaben, Schreibmaschinen klappern, Fabriksirenen tuten die Mittagspause, im Deutschen Theater wird

Sport als Thema: Elliptische Tretmühle

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

ein Stück von Georg Kaiser gegeben, das beim Sechstagerennen spielt. […] Menschen werden geboren und Menschen sterben, eine Knospe erblüht und eine Blüte verwelkt, ein Stern fällt und ein Fassadenkletterer steigt eine Häuserwand hinauf […] , die Botschafterkonferenz faßt Beschlüsse, ein Mühlenrad klappert und Unschuldige sitzen im Kerker, der Mensch ist gut und der Mensch ist schlecht […]. (Kisch 1993, 228f.) In relativ einfach strukturierten parataktischen Wendungen wird das Geschehen vom begrenzten Raum der Sporthalle ausgeweitet auf das Leben in der Stadt, in alltägliche Tätigkeiten und Routinen, aber auch ins Naturhafte (Kreislauf des Lebens) und Moralische (gut oder schlecht). Zudem wird eine intertextuelle Beziehung hergestellt: Georg Kaisers Theaterstück Von morgens bis mitternachts war bereits 1912 entstanden, aber erst 1917 uraufgeführt worden und hatte durch die Verfilmung von Karlheinz Martin mit Ernst Deutsch in der Hauptrolle 1920 Bekanntheit erlangt. Zwar ist das Werk in Form eines typisch expressionistischen Stationendramas gebaut, aber es enthält tatsächlich eine Szene, die während eines Sechstagerennens spielt, und zeigt den Helden bei seiner vergeblichen Suche nach dem Glück in der Großstadt. Kaisers Stück hat also thematisch einen klaren Bezug zu Kischs Reportage, und es fungiert in gewisser Weise als pessimistischer Subtext zu Kischs Zeichnung einer vergnügungssüchtigen Gesellschaft. Der Titel erscheint später ohne Markierung als Kunstwerk: „Von morgens bis mitternachts ist das Haus voll, und von mitternachts bis morgens ist der Betrieb noch toller.“ (Ebd., 230) Kischs Reportage ist detailversessen und bringt an mehreren Stellen Aufzählungen von Personen und Dingen, z.B.: Im Innenraum sind zwei Bars mit Jazzbands, ein Glas Champagner kostet dreitausend Papiermark, eine Flasche zwanzigtausend Papiermark. Nackte Damen in Abendtoilette sitzen da, Verbrecher im Berufsanzug (Frack und Ballschuhe), Chauffeure, Neger, Ausländer, Offiziere und Juden. (Ebd.) Die soziale Schichtung der Gesellschaft wird beispielhaft vorgeführt, ebenso die politische Ausrichtung der Zuschauer und ihre Herkunft aus den verschiedenen Berliner Bezirken. Von den Einzelheiten, aus denen sich das Panorama der Großstadt ergibt, schweift der epische Blick dann aber auch in kosmische Dimensionen, mit denen das Treiben in der Sporthalle in Beziehung gesetzt wird und worauf sich der Titel der Reportage bezieht: Gleichmäßig dreht sich die Erde, um von der Sonne Licht zu empfangen, gleichmäßig dreht sich der Mond um der Erde Nachtlicht zu sein, gleichmäßig drehen sich die Räder, um Werte zu schaffen – nur der Mensch dreht sich sinnlos und unregelmäßig beschleunigt in seiner willkürlichen, vollkommen willkürlichen Ekliptik, um nichts, sechs Tage und sechs Nächte lang. (Ebd., 229) Die Reportage vom Sechstagerennen, die Kischs Verfahrensweise recht extrem, aber charakteristisch vorführt – auch die Lust an Pointen und Wortspielen oder Umkehrungen, etwa: „Gott denkt, aber der Mensch lenkt […].“ (ebd.) –, zeigt vor allem, dass die Sachlichkeit des Reporters nur ein Teil sei-

4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

nes Zugriffs ist, dass es für Kisch keinen Widerspruch bedeutet, über die Faktographie hinaus Bezüge durch Bilder, rhetorische Figuren und Parabeln zu schaffen, um gesellschaftliche Mechanismen und anthropologische Gesetzmäßigkeiten aufzudecken.

4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues In einem Artikel zu Remarques Roman schreibt Günter Blöcker, Jahrgang 1923, wie er als 15-Jähriger die Veröffentlichung erlebte:

Entstehung und Kontext

Es waren aufregende Wochen, als die Vossische Zeitung im Spätherbst 1928 Erich Maria Remarques Im Westen nichts Neues als Fortsetzungsroman veröffentlichte. […] ich erinnere mich gut, mit welcher Ungeduld wir alle Tage auf die nächste Folge warteten. (Blöcker 1996, 194) Remarques Erfolg war einzigartig: Nachdem die Buchausgabe Anfang 1929 erschienen war – viele Vorbestellungen lagen schon vor –, wurde innerhalb eines Jahres etwa eine Million Exemplare verkauft, der Roman erreichte schließlich eine Weltauflage von ca. acht Millionen. In der Gegenwart fällt der Titel Im Westen nichts Neues fast zusammen mit dem Genre des (Anti-) Kriegsromans, während die meisten der anderen einst bekannten Autoren und Werke vergessen sind. Das Buch wird mehr als achtzig Jahre nach seinem erstmaligen Erscheinen noch 400.000 bis 500.000 mal jährlich verkauft und ist in fast alle Sprachen übersetzt. Remarques Roman, der das Kriegsschicksal einer Gruppe von Gymnasiasten schildert und dabei einen individuellen Erzähler, den Soldaten Paul Bäumer, heraushebt, lud offensichtlich zur Identifikation ein: Millionen von Überlebenden, Soldaten, die im Krieg noch halbe Kinder waren oder in der Mitte ihres Lebens standen, konnten sich wiederfinden in den hier in einfacher Sprache geschilderten Ereignissen und die Schrecken eines Geschehens nachempfinden, das die Beteiligten ohne jede Vorwarnung überfallen hatte. Der Autor, als Erich Paul Remark 1898 in Osnabrück geboren und aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stammend, hatte den Ersten Weltkrieg ab 1916 aktiv miterlebt als Soldat an der Westfront, wo er die Hoffnungslosigkeit und Brutalität der Aktionen schnell persönlich erfuhr, während in der Heimat vielfach noch von Sieg und Erneuerung geträumt wurde. Remarque war nur kurz im Felde, bereits sechs Wochen nachdem er im flandrischen Ham-Lenglet angekommen war, wurde er an der Ypern-Front so schwer verwundet, dass er im Lazarett in Duisburg längere Zeit behandelt werden musste. Er hatte während seines kurzen Kriegseinsatzes eine eher geschützte Position, wurde weder bei Grabenkämpfen noch in Sturmangriffen eingesetzt, geriet aber doch oft in Gefahr während der Arbeit an zerstörten Eisenbahnstrecken und im Telefondienst (vgl. von Sternberg 1998, 77). Im Unterschied zur zentralen Romanfigur Paul Bäumer, der sich, wenn auch auf Druck des militaristischen, deutschtümelnden Klassenlehrers, ,freiwillig‘ zur Wehrmacht meldet, war Remark gezogen worden. Nach Kriegsende nahm er das vorher bereits begonnene Lehrerstudium wieder auf und war bis 1920 an einigen Schulen in der Nähe Osnabrücks als Volksschullehrer tätig. Danach begann, zunächst eher zögerlich, seine journalistische und im engeren

Von Remark zu Remarque

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Dokument oder Fiktion

Sinne literarische Laufbahn, mit Die Traumbude, einem jugendlich-schwärmenden und epigonalen Roman von gestern, wie der Untertitel andeutet. Der freudlosen Existenz als Aushilfslehrer entflieht Remarque durch das Verfassen von kleinen Artikeln, vor allem Theaterrezensionen für die Osnabrücker Tages-Zeitung. Bald schreibt er auch Werbetexte und arbeitet ab 1924 als Reporter für die im Scherl Verlag erscheinende erste deutsche Sportzeitschrift Sport im Bild, und damit ergibt sich für ihn die Möglichkeit, von der norddeutschen Provinz in die Hauptstadt zu wechseln. Remarque veröffentlicht hier zunächst in Fortsetzungen 1927/28 einen Rennfahrerroman Station am Horizont, wieder ein erfolgloses Werk, aber durch die journalistische Arbeit und die ersten literarischen Versuche hat er, der keineswegs in Berührung mit den führenden kulturellen Kreisen Berlins ist, seinen Stil modernisiert (vgl. von Sternberg 1998, 145). Dies bedeutet die Hinwendung zum aktuellen Reportagestil und, wenn auch noch eher tastend und unsicher, zu einem Massenpublikum. Remarque hat also ähnliche Voraussetzungen wie andere, dem neusachlichen Schreibstil zuzurechnende Autoren, wie Baum, Tergit oder Kästner: die Erfahrung in journalistischer Tagesarbeit, die Kontakte zu einem der großen Pressekonzerne der Weimarer Zeit, den Willen auch, sich nicht in den Nischen der Avantgarde einzurichten, sondern für ein breites Publikum zu schreiben. Mit Im Westen nichts Neues gelang dies erstmals. Der Roman erschien zunächst als Vorabdruck vom 10.11. bis 9.12.1928 in der Vossischen Zeitung, dann als Buchausgabe Anfang 1929 im Propyläen Verlag. Es steht in einer Gruppe mit anderen Romanen über den Ersten Weltkrieg – vor allem Ludwig Renns Krieg und Ernst Glaesers Jahrgang 1902 – die ebenfalls erfolgreich waren, wenn auch nicht im selben Ausmaß wie Remarques Buch. Aus heutiger Perspektive stellt sich bei der Betrachtung von Remarques Im Westen nichts Neues ein Problem, das auf die Entstehungsgeschichte des Textes zurückverweist, nämlich dass „ein fiktional konzipierter Text für die Öffentlichkeit in ein authentisches Dokument verwandelt wurde, um dann wieder zumindest teilweise in einen fiktionalen zurückversetzt zu werden“ (Schneider 2003, 221). Der Roman kann kaum isoliert verstanden werden von den Verlagsstrategien, die der Veröffentlichung voraus gingen, und den darauf folgenden Formen der massenhaften Rezeption. Denn offensichtlich ist die ursprüngliche Fassung, dies zeigen die nach und nach ausgewerteten Dokumente, nicht, wie von Verlag und Autor angegeben, „in sechs Wochen abends nach Büroschluß ohne Korrekturen niedergeschrieben und in dieser Form auch publiziert worden“ (ebd., 219). Stattdessen deuteten die durch das Typoskript dokumentierten Korrekturen des Autors darauf hin, daß er und der Ullstein-Konzern den Text im Hinblick auf die Publikumserwartungen und die Zuordnung zum Genre der nicht-fiktionalen Kriegserinnerungsliteratur konzipiert und verändert hatten – in verblüffender Übereinstimmung mit den Werbemaßnahmen, zu denen gezielte Fehlinformationen zur Biographie Remarques zählten (ebd.). Es ergibt sich daraus ein für die neusachliche Literatur, zu der Remarques Text im Allgemeinen gerechnet wird, wesentliches Problem: Die Annahme

4. Erich Maria Remarque: Im Westen nichts Neues

eines dokumentarischen Gehalts, auf der die spontane massenhafte Rezeption basierte, also die Überzeugung der Leser, es mit einem authentischen Erfahrungsbericht zu tun zu haben, wird nach Kenntnis der Autor- und Verlagsstrategien fragwürdig. Remarques Roman gehört zweifellos zum Genre des Zeitromans, der auf die Form des realistischen Romans zurückgreift, um in der Behandlung einer aktuellen Thematik den Eindruck von Authentizität zu erwecken, er ist jedoch auf Auktorialität festgelegt und zeigt damit strukturell eine Horizontbeschränkung. In der Erzählperspektive des einfachen Soldaten, die dem Roman zugrunde liegt, ist das Potenzial einer massenhaften Identifikation enthalten, Erkenntnisgewinn und Geschehensüberblick bleiben aber limitiert. Die Breitenwirkung des Romans wurde vom Autor im Vorwort sowie auch von den meisten Rezensenten auf die Direktheit des Zugriffs zurückgeführt. So schrieb Axel Eggebrecht in seiner Rezension für die Weltbühne, Im Westen nichts Neues unterscheide sich von den früheren Kriegsbüchern vor allem dadurch, dass es weder Anklage noch Bekenntnis sein wolle, also nicht die subjektiven Elemente in den Vordergrund stelle, sondern allgemein nachvollziehbare Aussagen. Der Rezensent beschreibt den Autor als einfach und redlich, sein Buch als simpel strukturierten Text: „Es ist ohne Umschweife, ohne kunstvollen Aufbau, ohne jeden Anspruch auf ewige Geltung entworfen […].“ (Zit. n. Becker 2000b, 92) Immer wieder wurde der Frage nachgegangen, inwieweit der Roman auf reinem Faktenmaterial beruhe, erst in der 1957 im Kiepenheuer & Witsch Verlag erschienenen Ausgabe wird durch die Gattungsbezeichnung Roman die Fiktionalität eingestanden (vgl. Schneider 2003, 221). Direkt nach dem Erscheinen wurde Im Westen nichts Neues leidenschaftlich diskutiert und geriet schnell in den Strudel der politischen Meinungskämpfe zu Ende der Weimarer Zeit, wobei es in den Stellungnahmen, Pamphleten, Parodien und Gegendarstellungen vor allem um die Frage ging: Handelt es sich um den Bericht eines einfachen Soldaten, der aus der Perspektive des Erleidenden und Augenzeugen spricht, oder um ein frei erfundenes Geschehen, das geschickt so erzählt wird, dass dadurch eine bestimmte pazifistische, anti-deutsche Haltung entstehen soll – ist also Im Westen nichts Neues ein Tendenzroman? Remarque äußerte sich in der Debatte zunächst gar nicht, dann aber in einem Interview, das Axel Eggebrecht für die Literarische Welt (14.6.1929) führte. Der Autor wendet sich zunächst gegen die vorherrschende Rezeptionsweise, die in dem Roman eine politische Stellungnahme zur Kriegsfrage sehen wollte. „[…] es ist unpolitisch. Und sein Eindruck war auch anfangs völlig unpolitisch. Erst durch seinen Erfolg wurde es in die politische Debatte gezogen.“ (Kaes 1983, 514) Remarque begründet seine Meinung damit, dass der Roman nicht die Totalität des Krieges widerspiegele, also keine Gesamtschau biete, sondern sich bewusst auf einen Ausschnitt beschränke und auch auf eine reduzierte Perspektive, die des Bäumer und einer kleinen Gruppe von Jugendlichen. Implizit, ohne dass Remarque jemals in die großen ästhetischen Debatten der Zeit eingegriffen hätte, scheinen doch die Positionen der Kontroverse auf, die auf der marxistischen Seite geführt wurde und die vor allem im Gegensatz von Reportage (Ottwalt, Bredel, auch Brecht) und Gestaltung (Lukács) zum Ausdruck kommen: Die Reportage verfehle notwendig das Ganze und müsse, so Lukács, beim Einzelfall stehen bleiben (vgl. Becker

Kontroversen

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2000a, 285). Bei seinem Rückzug von weiter gehenden Ansprüchen auf diese Reduktion bleibt Remarque durchaus im Kontext der neusachlichen Auffassung. Zugleich aber gibt es einen übergreifenden Gesichtspunkt, der – Remarque zufolge – jenseits von Politik und Glauben liegt: die verbindende Generationenzugehörigkeit, die auch schon in der Vorbemerkung angesprochen wird, in der es heißt, das Buch nehme sich vor, „über eine Generation zu berichten, die vom Kriege zerstört wurde – auch wenn sie seinen Granaten entkam“ (Remarque 1997, 5). Die Beglaubigung für die Gültigkeit des Beschriebenen liege im Erlebnis des Einzelnen, das allerdings mit dem einer ganzen Generation von jungen Deutschen zusammengehe. Dieser eigentlich widersprüchliche Zusammenhang ist bereits auf dem Titelblatt der Erstausgabe von 1929 ausgedrückt, auf dem oben der Verfassername steht, unter dem Titel dann aber ein auf Kollektivität deutender Satz Walter von Molos: „Remarques Buch ist das Denkmal unseres unbekannten Soldaten. Von allen Toten geschrieben.“ Im Sinne dieser generationellen Erfahrungssubstanz kann Remarque im Interview für sich eine sachliche Repräsentativität in Anspruch nehmen: „Die Situationen in meinem Buche sind wahr und erlebt, sie sind weder nach der einen noch der anderen Seite hin übertrieben oder überspitzt.“ (Zit. n. Kaes 1983, 515) Der Versuch, die Entstehung des Romans als Ausdruck einer Stellvertreterposition, aber auch als eine Art Selbsttherapie zu präsentieren und jede politische Tendenz abzustreiten, entsprach der Strategie der Ullstein-Verlagswerbung (vgl. Stockhorst 2008, 99). Vom Verlag in die Welt gesetzte Mythen bestimmten von Anfang an die Rezeption des Buches. Der Verfasser habe den Text in fieberhafter sechswöchiger Arbeit fertig gestellt; in Wahrheit begann der Prozess schon 1927, und Mitte 1928 legte Remarque eine Fassung bei S. Fischer vor (vgl. Schrader 1992, 10). Durch die Reduktion des Schreibenden auf den bloß Registrierenden, seine Sprachrohrfunktion, wurde der Produktionsprozess des Buches massiv verfälscht, wie aus Textvergleichen inzwischen ganz klar geworden ist: Es gab mehrere Fassungen des Manuskripts, bis es schließlich vom Propyläen-Verlag angenommen wurde, und die verschiedenen Textstufen zeigen Eingriffe und Glättungen: Eliminiert wurden direkt kritische Eintragungen bezüglich der Kirchen und staatlichen Autoritäten sowie „allzu drastische Formulierungen über die Unsinnigkeit des Krieges“ (Schrader 1992, 11). Ziel der Eingriffe in das Originalmanuskript für die Buchausgabe war eine möglichst weitgehende „Entpolitisierung […] hin zu einem offenen Kriegsbuch, in dem alle Haltungen zum Krieg, ob affirmativ oder kritisch, wiedergefunden werden können“ (Schneider 2003, 226). Auf diesem Wege löste sich noch vor 1933 die Rezeption des Buches mehr und mehr von seinem literarischen Gehalt ab und wurde zur Affirmation bestimmter Haltungen benutzt (vgl. ebd. 231). Der Krieg war eben noch nicht wirklich historisiert, deshalb bestand nach wie vor das Interesse einer breiten Öffentlichkeit nach direkter authentischer Verarbeitung. Der Roman konnte diesen Anspruch erfüllen, weil er die Momente des Authentischen inszenierte und gemäß den Lesererwartungen ,verkünstlichte‘. Im Westen nichts Neues thematisiert Orientierungslosigkeit und Pessimismus dieser Generation in der Entstehungszeit des Buches. Aus der Rückschau hat Remarque selbst dies auch so gesehen, in einem Fernsehgespräch mit Friedrich Luft 1963 sagte er:

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Mein eigentliches Thema war ein rein menschliches Thema, daß man junge Menschen von 18 Jahren, die eigentlich dem Leben gegenübergestellt werden sollten, plötzlich dem Tode gegenüberstellt. Und was würde mit ihnen geschehen? Aus dem Grunde habe ich auch Im Westen nichts Neues eher als ein Nachkriegsbuch angesehen als ein Kriegsbuch. (Remarque 1994, 121; vgl. auch Schneider 2003, 223) Remarque hatte das Projekt ursprünglich als Trilogie angelegt, in deren nachfolgenden beiden Teilen die Probleme der Beteiligten nach Kriegsende thematisiert werden sollten. Dies wurde dann für den Roman Der Weg zurück (1931) zusammengefasst, die Einheit des Projekts ging jedoch in der auf Teil 1 zentrierten Rezeption weitgehend verloren. Den in der Durchführung geschrumpften, eigentlich zentralen Generationsaspekt hatte bereits Eggebrecht in seiner zeitgenössischen Rezension gemeint, der sich selbst als 18Jähriger noch 1917 freiwillig zum Kriegsdienst gemeldet hatte, wenn er den Roman als „Rehabilitierung unserer Generation“ verstand (n. Westphalen, in: Remarque 1998, 213). In der Ich-Erzählung eines nur mit wenigen individuellen Zügen versehenen Soldaten konnte sich der einfache Weltkriegsteilnehmer tatsächlich wiederfinden; diese Verallgemeinerungsmöglichkeit meint auch Carl Zuckmayer, Jahrgang 1896 und ebenfalls Kriegsfreiwilliger: „Das ist der Krieg, wie wir ihn in der Front gelebt haben […].“ (Zit. n. Schrader 1992, 22) Die angebliche Kunstlosigkeit des Buches, die Eggebrecht preist, bietet allerdings anderen Beobachtern Anlass zur Kritik, etwa einem rechts-völkischen Autor wie Richard Euringer, der den sachlichen Gestus des Buches als ,ungeistig‘ und ,verantwortungslos‘ sieht: „[…] man will sich nicht anklagen, sondern sachlich, rein sachlich sein“ (n. Westphalen, in: Remarque 1998, 222). Remarques Roman ist insofern intentional ein Nachkriegsbuch, als es die psychischen Folgen des Krieges für die daran Beteiligten beschreibt, was wiederum Aufschluss über seine Erfolgsstrategie gibt: Es zeigt den Formationsprozess einer Alterskohorte, die durch die Kriegserfahrung ihre Naivität, ihre Kindlichkeit, die gleichwohl in regressiven Schüben erzählerisch vergegenwärtigt wird, verliert, die desillusioniert wird (Zerfall der traditionellen Werte, Abwirtschaften der Vätergeneration), die einen Prozess der Ernüchterung durchmacht, auch der Verrohung, die weder Klarheit hat über die Ursachen des Krieges noch eine mögliche Zukunft. Eine Gruppe von jungen Leuten, die nur noch rudimentäre Verhaltensregeln kennt, die sich in der Gruppe als Kameradschaftsgefühl zeigen. Diese teilweise hoch gesteigerte Haltung äußert sich vor allem in der Bereitschaft zu selbstloser Hilfe: „Wir sind Brüder und schieben uns gegenseitig die besten Stücke zu.“ (Remarque 1997, 92) Wie fragil diese Bereitschaft aber ist, wie gebunden an die komfortable Situation der Etappe, zeigen Kommentare aus dem Kampfgeschehen: „Wir haben alles Gefühl füreinander verloren, wir kennen uns kaum noch, wenn das Bild des andern in unseren gejagten Blick fällt.“ (Ebd., 110) Gerade die Vagheit des Erkenntnisstandes im Roman ist charakteristisch auch für die Nachkriegsbefindlichkeit. So können die jungen Männer im Gespräch keine Ursache für den Krieg herausfinden, sondern nur mutmaßen und sich in Floskelhaftigkeit flüchten. Allgemein und dürftig sind auch die subjektiven sprachlichen Äußerungen, das Erkenntnisniveau des Ich-Erzäh-

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Ein neusachlicher Roman?

lers erhebt sich nur selten über den situativ gegebenen Rahmen. Es gibt keine Formen von innerem Monolog oder überhaupt differenzierter Innensicht, die Erzählinstanz bleibt der Berichtsform verpflichtet, die mit einigen reflektierenden Passagen unterlegt wird (vgl. Schneider 2003, 223). Remarques Roman ist Zeugnis einer lost generation, wie sie auch in Hemingways Roman The Sun Also Rises (1926) auftrat (vgl. dazu Schneider 2004, 1) und zeigt insgesamt ähnliche Erzählstrategien wie andere bekannte Kriegsromane, so etwa schon Henri Barbusses Le feu (1916) (vgl. Schneider 2004, 3). Remarques Roman wurde unmittelbar nach seinem Erscheinen nur selten unter ästhetisch-stilistischen Gesichtspunkten gelesen, Tucholsky urteilte aber ohne nähere Begründung in der Weltbühne vom 31.12.1929: „Das Buch ist kein großes Kunstwerk, aber ein gutes Buch.“ (Tucholsky 1975, Bd. 9, 283) Später legte der immense Publikumserfolg, ähnlich wie bei Baum, Fallada und anderen, a priori einen „Trivialitätsverdacht“ nahe (so noch bei Bornebusch 1983, 142). Remarques Roman ist immer mit der Neuen Sachlichkeit in Verbindung gebracht worden. Dies gilt auch für andere Kriegsromane, etwa Köppens Heeresbericht, dem Becker ebenfalls „neusachliche Elemente“ (Becker 1995, 9) attestiert. Lethen sprach – in Anlehnung an die Kritik von Max Horkheimer – vom Versuch, mit Hilfe einer auf Tatsachen basierenden Literatur eine liberale Öffentlichkeit zu erreichen und zur Veränderung motivieren zu wollen (vgl. Lethen 1970, 100f.). Die Darstellung des Krieges in der Weimarer Republik stellte die Autoren verschiedenster Couleur vor Probleme: Als meist aktiv Beteiligte schrieben sie mit dem ideologischen und biographischen Ballast einer reduzierten, aber intensiven Nahperspektive. Außerdem geriet die literarische und publizistische Beschäftigung mit dem Krieg bereits unmittelbar nach Kriegsende und durchgängig bis zur NS-Machtübernahme unter einen gewaltigen politischen und ideologischen Legitimations- und Rechtfertigungsdruck, direkt also auch in die publizistischen, machtpolitischen und künstlerischen Auseinandersetzungen der Rechten wie Linken. War es, pauschal gesagt, den Rechten darum zu tun, die deutsche Seite möglichst weitgehend zu exkulpieren und zugleich die Taten der deutschen Soldaten zu rechtfertigen, die Niederlage also den feindlichen Kräften im Inund Ausland zuzuschieben (Dolchstoßlegende), so ging die Linke in ihren diversen Schattierungen von einem antibellizistischen Standpunkt aus, der sich mit mehr oder weniger radikaler Kritik an den herrschenden und für den Krieg verantwortlichen Kräften des ,alten‘ Deutschland verband. Zudem wurde die Weltkriegsfrage durchgängig instrumentalisiert, direkt politsch, aber auch in Fragen der Ethik und Moral. Bei der Rückschau auf den Krieg beanspruchten dabei alle Beteiligten, die Wahrheit zu sagen, die vor allem an die adressiert wurde, die das Geschehen nicht mehr persönlich miterlebt hatten, an die nachwachsende Jugend, um deren Unterrichtung es ging, die man aber vor allem auch mit mehr oder weniger suggestiven Mitteln auf die eigene Seite ziehen wollte (vgl. bezüglich Renns Krieg Jäger 1995, 163). Für die im neusachlichen Kontext schreibenden Autoren – weder Renn noch Remarque bekannten sich dazu – ging es darum, veristische Darstellungsformen zu finden, die nicht dem Ideologieverdacht, aber auch nicht Manipulationsvorwürfen ausgesetzt waren, und in mehr oder minder dokumentarischem Sinne verstanden werden konnten. Im Zeitalter der Mediali-

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sierung der Information – durch Fotodokumentationen, Wochenschauen und Spielfilme, später auch Hörspiele – wurde der Krieg als Gegenstand neusachlicher Abbildung diskutiert. Pinthus betrachtete die Kriegsromane von Renn und Remarque in seinem grundsätzlichen Artikel von 1929 als Beispiele für eine ,männliche‘, d. h. für ihn: neusachliche, Literatur, da sie einen „objektivierten Tatsachenbericht, gleich entfernt von Heroisierung wie von verzweifelter Empörung“ (zit. n. Becker 2000b, 40) böten. Während er diese angenommene Beschränkung auf das Tatsächliche positiv sieht, stellt Balázs in direkter Reaktion auf Pinthus eben diese Haltung, ohne spezielle Autoren zu nennen, als unzureichend dar, da die Tatsächlichkeit, die Wirklichkeit, nicht über einen „bloß registrierenden Bericht“ (zit. n. Becker 2000b, 401) zu erlangen sei, ein Vorwurf, der sich implizit natürlich vor allem gegen ein Buch wie das von Remarque richtet, das sich als einfacher Bericht gibt. Remarque bestritt in allen Stellungnahmen eine irgendwie geartete politische oder aber auch analytische Absicht. Er habe sich „nicht berufen gefühlt, über den Krieg selbst zu argumentieren“ (Remarque 1994, 56), wollte den Krieg „lediglich durch die schmale Perspektive des Frontsoldaten“ (ebd., 55) zeigen, nur „meine spontanen Erinnerungen an den großen Krieg“ (ebd., 62) wiedergeben. Der Krieg nötigt der in Remarques Roman exponierten Gruppe von noch jugendlichen Soldaten durch die Reglementierungen, den allgemeinen Verhaltenskodex und die Sachlogik bestimmte Verhaltensweisen auf, die als überlebenswichtig, zugleich aber auch als zweifelhaft und moralisch doppelbödig erscheinen. Dies zeigt sich schon in den ersten beiden Kapiteln, vor allem in der Kemmerich-Episode. Die Gruppe besucht ihren schwer verletzten Kameraden im Lazarett, und allen ist bei seinem Anblick klar, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Die begehrlichen Blicke heften sich nun auf die nagelneuen, wertvollen Stiefel Kemmerichs. Der Erzähler fragt sich wenig später, ob der von Müller unternommene Versuch, sich die Stiefel anzueignen, moralisch verwerflich sei, und kommt zu dem Ergebnis: „Kemmerich wird sterben, einerlei, wer sie erhält. Warum soll deshalb Müller nicht dahinter her sein, er hat doch mehr Anrecht darauf als ein Sanitäter! Wenn Kemmerich erst tot ist, ist es zu spät. Deshalb paßt Müller eben jetzt schon auf.“ (Remarque 1997, 24) Die situative Handlungslogik ist kaum zu bestreiten, kontextuell geht es aber um die weitergehende Frage nach einem gerechtfertigten und begründbaren Verhalten in der extremen Kriegssituation, mit der die Soldaten unvorbereitet konfrontiert werden. Es siegt, trotz durchaus vorhandener moralischer Maßstäbe, eine Haltung der Kälte und des Eigennutzes, die – wie der Erzähler deutlich macht – durch die Konzentration auf Fakten legitimiert erscheint: „Nur die Tatsachen sind richtig und wichtig für uns. Und gute Stiefel sind selten.“ (Ebd.) Eine solche pragmatische, den Erfordernissen der Realität und den Überlebensnotwendigkeiten nachkommende Verhaltensweise ist Teil eines Begründungszusammenhangs, der drei Faktoren umfasst: die Gegenwart des Krieges, die Verwurzelung in der Vergangenheit und das Zwischenstadium, in dem sich die jugendlichen Kriegsteilnehmer befinden. Denn kurz vorher sagt der Erzähler im typischen WirGestus, der auf die Gruppe wie auf einen größeren Generationszusammenhang hindeuten kann, sie seien „verroht“, „ergriffen“ und „weggeschwemmt“ vom Krieg: Die Metaphorik aus dem Bereich des Organischen

Sachliche Haltungen?

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deutet auf den Krieg als Naturereignis, ein Sturm, der mit sich reißt, was noch keine Festigkeit hat: „Wir waren noch nicht eingewurzelt.“ (Ebd.) Als Gegenbild dazu fungiert die Vorkriegsexistenz der Jugendlichen, die mit idealistisch-romantischen Attributen versehen wird (vgl. ebd., 25). Thematisch berührt sich Remarques Roman gerade durch die Mischform der vorgestellten Haltungen und Denkfiguren mit zahlreichen anderen Werken der Neuen Sachlichkeit. Dies betrifft vor allem die Kommunikationsformen und die Stellung zur eigenen Emotionalität, zentrale Themen neusachlicher Haltungen und Beschreibungsformen. Beide Fragen werden im gesamten Handlungsverlauf immer wieder indirekt oder direkt durch Figurenäußerungen aufgeworfen. Betont sachlicher Gestus im Umgang der Agierenden, Vorrangstellung von Fakten und Objektnotwendigkeiten ziehen sich durch den Text, immer wieder überlagert von einer identifikatorischen Darstellung des Jugendlichen und sogar Kindlichen, das auch die Gespräche der Gruppenmitglieder prägt. Ein Grund dafür liegt in der Unbestimmtheit der Erzähllagen: Unklar bleibt oft, wer eigentlich spricht und von welchem Standort aus dies geschieht, ebenso, ob es sich um ein Ich oder um das meist vorherrschende kollektive Wir handelt. Dies zeigt sich zum Beispiel in der Kemmerich-Episode dadurch, dass die Erinnerungsbewegung von der Gegenwart, der Erwachsenenexistenz als Rekruten, zurückschweift in die Jugendzeit: „Wir sind dann keine Soldaten mehr, sondern beinahe Knaben […].“ (Ebd., 32) Diese Unbestimmtheit der Sprecheridentifizierung reicht bis zum angeschlossenen Appell, bei dem auch die Adressaten nicht eindeutig sind: „Das ist Franz Kemmerich, neunzehneinhalb Jahre alt, er will nicht sterben. Laßt ihn nicht sterben.“ (Ebd.) Dass die neusachliche Idealvorstellung einer exakten Tatsachenwiedergabe erzählstrategisch konsequent unterlaufen wird, zeigt sich auch an zahlreichen anderen Merkmalen: Es fehlen weitgehend konkret fassbare Zeit- und Ortsangaben, ein linearer, zielgerichteter Aufbau ist nicht festzustellen, sondern eher eine Episodenstruktur in Form einer Wellenbewegung (vgl. dazu ausführlich die Strukturanalyse bei Rüter 1980, 65ff.). Die Vorgabe einer Allgemeinverbindlichkeit, Kollektivität und Evidenz des Geschehens, zugleich der Generationenbezogenheit kann durch die wechselnden Perspektiven, Erzähl- und Kommunikationsformen zwar immer wieder episch ausgefüllt, aber nicht eindeutig festgeschrieben werden, was durch die Reduktionen von Erzählerbericht und -erleben bedingt ist. Der Erzähler Bäumer springt vom Ich- in den Wir-Modus, verlässt die vorherrschenden sachlichen Erzählebenen immer wieder durch Signale emotionalen Erlebens, durchbricht mitunter auch die typisierenden Personencharakteristiken durch Einzelbeobachtungen (vgl. ebd., 69). Dass der Erfolg von Im Westen nichts Neues nicht zuletzt in der Erzählweise begründet liegt, wird in den unmittelbaren Reaktionen immer wieder hervorgehoben: Von der großen Erschütterung ist die Rede, die die Lektüre gerade wegen der Einfachheit des Erzählablaufs und der verwendeten Mittel, wie Präsens, häufige wörtliche Rede etc., hervorrufe (vgl. Rüter 1980, 153), da hiermit die kollektiven Erfahrungen der Weltkriegteilnehmer aktiviert würden. Der Zusammenhang von Gegenstandsbezogenheit und Sachlichkeit bei gleichzeitig angestrebter starker affektiver Wirkung zeigt die Nähe von Remarques Scheiben zum journalistischen Stil. Allerdings finden sich

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im Roman auch immer wieder sprachlich überhöhte, lyrisierende Passagen wie die Beschreibung der Erde nach dem Gefecht: Der Abendsegen beginnt. Die Nacht kommt, aus den Trichtern steigen Nebel. Es sieht aus, als wären die Löcher von gespenstigen Geheimnissen verhüllt. Der weiße Dunst kriecht angstvoll umher, ehe er wagt, über den Rand hinwegzugleiten. (Remarque 1997, 112) Nach dem ironischen Eingangssatz gewinnt die angstbesetzte Trichterlandschaft in der Personifikation eine Intensität, die unwillkürlich an DrosteHülshoffs Ballade „Der Knabe im Moor“ denken lässt. Überhaupt stehen bei Remarque gegen distanzierende Elemente immer auch wieder solche, die Identifikation schaffen, etwa bei der Beschreibung der Kameradschaftsformen. Es werden starke Kontraste eingesetzt, etwa die zwischen der harmonisch erfahrenen Vergangenheit und der kriegerischen Gegenwart (vgl. Remarque 1997, 56), der friedvollen Landschaftsidylle und der Erde als durch den Krieg blutgetränkt oder der „Gedanken an Mädchen, an blühende Wiesen, an weiße Wolken“ (ebd., 35). Mit fast expressionistischem Pathos wird die Anrufung der Erde als Rettungsmacht gegen die verschlingende Saugkraft der Zerstörung eingesetzt: Erde – Erde – Erde –! Erde, mit deinen Bodenfalten und Löchern und Vertiefungen, in die man sich hineinwerfen, hineinkauern kann! Erde, du gabst uns im Krampf des Grauens, im Aufspritzen der Vernichtung, im Todesbrüllen der Explosionen die ungeheure Widerwelle gewonnenen Lebens! (Ebd., 54f.) Auch die Schilderung der brutalen Kampfhandlungen ist durchaus nicht nur realistisch, sondern, z.B. in der Angriffsszene auf dem Friedhof (Kap. 4), zum Teil durchsetzt mit wirkungskräftigen Mitteln aus dem Horrorarsenal. „Mit einem Krach saust etwas Schwarzes zu uns herab. Hart neben uns schlägt es ein, ein hochgeschleuderter Sarg. […] Der Sarg ist dem vierten in unserem Loch auf den ausgestreckten Arm geschlagen.“ (Ebd., 66; vgl. Vollmer 2003, 33, 38). Die einfach präsentische Berichtsform, die auch in der Duval-Episode im 9. Kapitel zunächst vorherrscht, hat als Subtext eine andere Bewegung: die von Beliebigkeit und Anonymität, also Kälte zu Personalisierung und Emotionalisierung, also zu Wärme. Diese Bewegung zeigt sich in der Fokussierung auf aussagekräftige Details, die kontrastiert werden. Dies ist beim bewegungslosen ,stillen‘ Körper der Fall, der gegen die ,schreienden‘ Augen steht, wobei, wie häufig, die Gefühle explizit gefasst werden: „schrecklichen Grausen vor dem Tode, vor mir“ (Remarque 1997, 197). Die Personalisierung und Emotionalisierung steigert sich nach dem Tode Duvals zur Familiarisierung, als der Erzähler an dessen Frau denkt (vgl. ebd., 200). Von der anonymen Maschinerie, in der der Erzähler lediglich ein Teil ist, von der Zufälligkeit des Tötens gelangt er zur völkerverbindenden Nähe: Der fremde französische Soldat, der Feind, wird zum ,Kameraden‘, zum ,Bruder‘, er erhält einen Namen, was implizit als politisches Statement in der Entstehungszeit des Romans verstanden werden kann. In der nun affektiv stark verdichteten Diktion ist von der kalten Berichtssprache der Sachlichkeit nichts mehr zu finden: „Sein Name aber ist ein Nagel, der in mir eingeschlagen wird und

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Erinnerungspolitik

nie mehr herauszubringen ist.“ (Ebd., 202) Der Appell an die Humanität, der sich mit Schuldgefühlen verbindet und zum Entschluss führt, der Familie des Toten zu helfen, leitet über zum Gedanken an eine Nachkriegszeit, die schemenhaft vor dem Erzähler liegt und die ihn in seiner „Verwirrung“ (ebd., 204) den Entschluss fassen lässt, auch Buchdrucker zu werden, also eine imaginäre Einheit mit dem ehemaligen Feind zu bilden. Die neusachliche Kritik an Remarques Buch ist Teil einer großen „erinnerungspolitischen Auseinandersetzung“ (Streim 2009, 81), die unmittelbar nach dem Erscheinen des Buches begann und nach den Filmaufführungen wieder aufgenommen wurde. Dabei geht es implizit um politische Positionierungen, aber auch um Fragen der literarischen Darstellung, die an diesem besonders umstrittenen Punkt von großer Brisanz waren. Die neusachliche Kritik führte Erik Reger an, in einem Scheinwerfer-Artikel von 1929 mit dem Titel „Mobilmachung der Sänger des großen Krieges“ (unter dem Pseudonym Heinrich Schmitz), ähnlich auch Rolf Nürnberg 1930 mit seinem Aufsatz „Das Wesen des Kriegsbuches“. Die klar kriegskritische Tendenz von Remarque stand für die beiden Kritiker nicht in Frage. Schwieriger war es mit dem weiter gehenden Anspruch, den Reger/Schmitz und Nürnberg stellten, den nach einer adäquaten literarischen Darstellung der Katastrophe. Eine wirklich fundierte Stellung sei, so Reger, erst dann zu beziehen, wenn „zuvor in minutiöser Detailarbeit geklärt wird, wie es überhaupt in diesem Krieg aussah“ (Schütz/Vogt 1986, 327). Mit anderen Worten, Reger fordert – über atmosphärische und gesinnungsbestimmte Schilderung hinaus – ein gültiges „Dokument“ (ebd., 328) über den Krieg, das aber zugleich, wie aus dem Kontext klar wird, eine spezifisch literarische Form hat, die, so Nürnberg, der „Geschichte des größten Krieges“ (ebd., 339) der Menschheitsgeschichte gerecht wird. Remarques Roman hatte, trotz der Bescheidenheitsfloskeln des einfachen Soldaten, letztlich beansprucht – und wurde entsprechend rezipiert –, all dies zu sein: faktographisches Dokument des Geschehens, Spiegelung der Kriegsgeschichte an markanten Punkten, Porträt einer ganzen Generation, repräsentativer Ausschnitt durch die Heraushebung von Einzelschicksalen. Eben hierdurch entsteht jedoch auch die Mischform und entwickelt sich die Mehrdeutigkeit des Gattungscharakters (vgl. Rüter 1980, 75), da diese vielfachen Aufgaben nur durch Stilwechsel, Episodenhaftigkeit, Brüche etc. erfüllt werden können, vor allem aber dadurch, dass der mit dem Agierenden identifizierten Erzählerfigur mehrfache Rollen zugemutet werden: Sie ist Typus, soll aber darin nicht aufgehen, sie ist Repräsentant, der aber so weit individualisiert sein muss, dass er als Projektionsfläche und Identifikationsfigur funktionieren kann – also ein Mensch mit Widersprüchen und Handlungsirritationen, wie sie an der Duval-Episode, im Kontakt mit den Kameraden oder dem Liebeserlebnis mit den französischen Frauen vorgeführt werden. Deutlich wird, dass gerade dieses Sujet mit Ansprüchen überfordert wird, die sich in der Erzählung selbst kaum einlösen lassen. Die Unentschiedenheit und Überfrachtung mit divergenten Elementen, die in der Kritik als Mängel des Buches wahrgenommen wurden, wirkten sich freilich für das Leserinteresse stimulierend aus und schufen Möglichkeiten individuell-imaginativer Ausfüllung, die systematischer aufgebaute Kriegsromane nicht hervorzurufen vermochten. So ist es erklärlich, dass zwar viele der spontanen Leser-

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äußerungen enthusiastisch waren und auch politischer Zuspruch erfolgte, dass aber dort, wo neusachlich theoretisch argumentiert wurde, die ablehnenden Meinungen überwogen, wie bei den Rezensionen zu Renns Krieg. Bemerkenswerterweise wird die politische Ausrichtung hier der poetologischen untergeordnet: Für Reger ist Ernst Jüngers Buch In Stahlgewittern (1920), trotz des Autors nationalkonservativer kriegsfaszinativer Grundhaltung, eher der Neuen Sachlichkeit zugehörig als Remarques Im Westen nichts Neues, und so kommentiert er Jüngers Absichtserklärung, einen sachlichen Bericht über das Kriegsgeschehen liefern zu wollen, positiv – mit Seitenhieb auf Remarque: „Jawohl, akkurat, das wollen wir wissen, denn es war ein Krieg der berühmten Regimenter und kein Krieg der pazifistischen Schriftsteller.“ (Schütz/Vogt 1986, 328) In Remarques Roman entdeckt er zu viel Theatralik und Sentimentalität, Rhetorik statt klarer Beschreibung: „Welches aber ist der Grad der Sachlichkeit bei Remarque? In seinem ganzen Roman gibt es nicht eine Stelle, wo nicht die Schärfe der Beobachtung vom Wunsch nach dramatisch zugespitzten Visionen verdrängt würde.“ (Ebd., 329) Der Leutnant Jünger erscheint dagegen beinahe als Idealbild des neusachlichen Autors, als „Typus des schriftstellernden Fachmanns“ (ebd. 331), der den Krieg selbst mit Objektivitätsanspruch abschildert und nicht, wie Remarque, menschliche Einzel- oder Gruppenschicksale in den Vordergrund schiebt und damit, wie Reger meint, den Krieg auf eine Kulissenfunktion reduziert. Diese Position ist – vom heutigen Verständnis der Neuen Sachlichkeit ausgehend – natürlich problematisch, zweifelhaft besonders, Jüngers ideologisch angereicherte Schilderung des Kampfes als inneres Erlebnis, die er als ,heroischen Realismus‘ versteht, dem neusachlichen Schreiben zuzuordnen. Die Ich-Erzählweise, hier zur Selbststilisierung und Kampfesüberhöhung eingesetzt, wird in den neusachlichen Antikriegsromanen der späten zwanziger Jahre funktional different eingesetzt, nämlich „aufgrund ihrer Authentizität verbürgenden Implikationen“ (Becker 2000a, 63). Allerdings ist gerade dem Authentizitätsanspruch mit Vorbehalt zu begegnen, nicht nur weil der Begriff selbst kein genuin literaturwissenschaftlicher ist (vgl. Vollmer 2003, 86). Wie gesehen sind die mit dieser Ambition geschriebenen Berichte über den Krieg, auch Remarques Roman, keineswegs Ausfluss direkten Erlebens, sondern „lediglich Repräsentationen der Interpretation des Krieges zum Zeitpunkt der Abfassung und Publikation dieser Texte, die nahezu keinerlei Rückschlüsse auf das ,Kriegserlebnis‘ zulassen“ (ebd. 7), sie sind Authentizitätskonstruktion durch Autor und Verlag. Die inzwischen gesicherte Erkenntnis, dass Remarques Roman weder autobiograpisch noch dokumentarisch, sondern rein fiktional ist (vgl. insbesondere Schneider 2003, 222), steht allerdings gegen eine jahrzehntelange, inzwischen verselbständigte Rezeptionsform, die gerade auf der Fiktionalisierung der Textgenese beruhte. Auch wenn Reger, Nürnberg und andere neusachliche Kritiker zu Recht die dokumentarischen Grundlagen anzweifelten, ist doch nicht zu bestreiten, dass Im Westen nichts Neues erzählerisch Stärken besitzt, die eine gewisse Modernität verbürgen: vor allem die Vielzahl von Formen, Genres und Techniken, die trotz der reduzierten Perspektivierung in die Schilderung eingingen. Eine Nähe zum neusachlichen Romantyp liegt vor allem im durchgängig angewendeten Montageprinzip, der Aneinanderreihung kurzer Sze-

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Politischer Kampf um Roman und den Film All Quiet On The Western Front

nenfolgen und der imaginative Leerräume schaffenden Fragmentierungstechnik, etwa bei den Kampfszenen (vgl. Rüter 1980, 66 u. 77). Allerdings funktioniert die Montagetechnik hier nicht wie etwa in Edlef Köppens wesentlich ausgeprägter neusachlichem Roman Heeresbericht, in dem Dokumentareinschübe in Kontrast zur Haupthandlung um den Protagonisten gebracht werden. Dieses teilweise an Döblins Berlin Alexanderplatz erinnernde Verfahren der Unterbrechung von Handlungszusammenhängen durch sichtbare Schnitte widerspricht der Schreibweise von Remarque, dem es gerade darauf ankommt, die Illusionswirkung zu erhalten und der deshalb auch immer wieder symbolisch und leitmotivisch, etwa durch Essensrituale, Gegenstände etc., Übergänge und Zusammenhänge schafft, so dass die Einzelepisoden einen Zusammenhang bilden. Remarques Roman, der nicht zuletzt aus der apolitischen Prätention seine Breitenwirkung bezog, geriet trotzdem schnell in den Strudel der sich verschärfenden politischen Auseinandersetzungen, die um den Umgang mit Krieg, Schuld und Kriegsfolgen kreisten und durch die aktuelle ökonomische und soziale Krisenhaftigkeit noch befeuert wurden. Von konservativer, deutschnationaler und völkisch-nationalsozialistischer Seite wurde Im Westen nichts Neues folgerichtig direkt nach dem Erscheinen vehement angegriffen. Auch von dieser Seite wurde die Wahrheitsfrage ins Spiel gebracht, der Kampf um die korrekte Erinnerung entbrannte wieder einmal. Dies steht in engem Zusammenhang mit möglichen Wirkungen auf die nachfolgenden Generationen, wiederum ein Signal, dass Remarques Roman substantiell kein Kriegs-, sondern ein Nachkriegsbuch ist. Eine radikale Kritik legte im Völkischen Beobachter Hans Zöberlein vor, ehemaliger Freikorps-Aktivist und früher NS-Parteigänger, der selbst einen erfolgreichen, chauvinistischen Kriegsroman veröffentlicht hatte, Der Glaube an Deutschland (1931), versehen mit einem Geleitwort von Hitler persönlich, 1934 unter dem Titel Stoßtrupp 1917 verfilmt: Am ungeheuerlichsten ist aber, daß es [= das Buch] kaum ein Dutzend Jahre nach dem Krieg, angesichts hunderttausender Frontsoldaten, die Geschichte des Krieges fälscht und noch einmal fälscht! Unsere Kinder sollen so von ihren Vätern verächtlich denken lernen: sie können es nicht einmal gegenbeweisen, denn sie waren ja nicht dabei. (Zit. n. Remarque 1998, 238) Wiederum geht es, auch von dieser Seite, um Authentizität des Erlebens versus Tendenz. Entweder, so Zöberlein, „war Remarque gar nicht an der Front, was dem plumpen Blödsinn nach wahrscheinlich ist, oder er lügt mit frecher Stirn aus einem bestimmtem Grund“ (ebd., 237), also mit dem Ziel der Geschichtsfälschung. Verschärfte politische Auseinandersetzungen entwickelten sich aus Anlass der international erfolgreichen Verfilmung des Romans durch das UniversalStudio in Hollywood, wo 1929 auf Anregung des aus Deutschland stammenden Präsidenten Carl Laemmle als A-Movie eine Filmfassung mit dem Titel All Quiet On The Western Front unter der Regie des aus Osteuropa eingewanderten Regisseurs Lewis Milestone gedreht wurde. Der Film wurde mit erheblichem finanziellen Aufwand und Einsatz von teilweise neuartiger

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Technik realisiert, mit flexiblen Kamerafahrten, Schwenks, Bewegungen, die das Kampfgeschehen dramatisiert abbildeten. Die deutsche Uraufführung fand am 4.12.1930 im Mozartsaal am Nollendorfplatz Berlin in Anwesenheit von Kulturprominenz statt, und auch hier waren die Rezensionen überwiegend positiv. Siegfried Kracauer schrieb in seinem Bericht für die Frankfurter Zeitung von der „Ergriffenheit“ (vgl. Schrader 1992, 109) des Premierenpublikums und hob die „Wirklichkeitstreue“ (ebd.) hervor, die der Film durch die avancierte Aufnahme- und Regietechnik erreicht habe. Allerdings dehnt Kracauer seine Kritik des Buches auf den Film aus, die Ursachen des Kriegs, die es eigentlich aufzudecken gelte, blieben im Dunkeln; der Film dringe „genau so wenig wie das Buch von Remarque über die Stimmung hinaus bis zum Kern vor“ (ebd., 110). Implizit lebt damit Kracauers Ablehnung der einfachen neusachlichen Reportageform als Oberflächenreproduktion wieder auf, mit der der Realität nicht analytisch beizukommen sei, geschweige dass man sie daraus folgend verändern könne. Der dann folgende Skandal um den Film ist nur vor dem Hintergrund der Weltwirtschaftskrise und dem Erstarken der rechtsextremen Kräfte, vor allem der NSDAP, verständlich, die eine massive Hetzkampagne gegen den Film durchführten und, angeführt vom Berliner Gauleiter Goebbels und seiner Zeitung Der Angriff, die nächste Aufführung durch Flugblätter, Gejohle, Stinkbomben u.Ä. verhinderten. Diesen Kräften nachgebend widerriefen die Prüfstellen schließlich die Zulassung des Films und verboten ihn mit Beschluss vom 11.12.1930. Nach weiteren Auseinandersetzungen kam es schließlich zu einer begrenzten Freigabe für geschlossene Vorstellungen (die sog. ,Lex Remarque‘), bis die NS-Regierung nach ihrer Machtübernahme Remarques Buch unverzüglich ebenso verbot wie den Film (vgl. zu den Vorgängen und für eine ausführliche Darstellung der Ereignisse und ihrer Hintergründe Beller 1991; Schrader 1992).

5. Friedrich Wolf: Cyankali Während Friedrich Wolf nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in der DDR zu einer öffentlich hoch geehrten Persönlichkeit des Kulturlebens aufstieg, war er in der Bundesrepublik fast vergessen. Galt er im Osten als vorbildhafter Repräsentant eines gewünschten sozialistischen Realismus und parteilicher Literatur, so führte gerade dies im Westen zur Abwertung. In die tagespolitischen Auseinandersetzungen geriet der in allen Genres versierte Schriftsteller bereits in der Weimarer Zeit, als er vor allem als Theaterautor erfolgreich, aber auch umstritten war. Wolf wurde am 23.12.1888 in Neuwied im Rheinland in eine wohlhabende jüdische Kaufmannsfamilie geboren. Er war noch Angehöriger jener Altersgruppe von Autoren großbürgerlicher Herkunft, die dann als expressionistische Generation bezeichnet wurde, und seine frühen literarischen Werke stehen im Zeichen dieser Richtung. Wolf verfolgte zunächst einen typisch bürgerlichen Bildungsweg mit dem Abitur am Königlichen Gymnasium in Neuwied 1899 und dem Studium der Medizin in Heidelberg, Tübingen, Bonn und Berlin, das er 1912 mit einer Doktorarbeit zum Thema „Über multiple Sklerose im Kindesalter“ abschloss.

Biographischer Hintergrund

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Der Kampf gegen den Abreibungsparagraphen 218

Im Ersten Weltkrieg, dessen Schrecken ihn rasch zum überzeugten Kriegsgegner werden ließen, arbeitete er als Lazarettarzt, nach dem Krieg dann als Stadtarzt in Remscheid, er wurde Kassen- und Landarzt in Hechingen, ab 1927 praktizierte er in Stuttgart. Die ärztliche Tätigkeit bot dem zunächst idealistisch gesinnten Wolf nicht nur intensive Einblicke in die soziale und gesundheitliche Problematik der unteren ländlichen und städtischen Bevölkerungsschichten, sie ließ ihn über die rein humanitäre praktische Hilfe hinaus auch über tiefgreifende Änderungsnotwendigkeiten nachdenken. Dies schlug sich etwa in einem 1927 erschienenen allgemeinverständlich geschriebenen medizinischen Handbuch mit dem Titel Die Natur als Arzt und Helfer nieder, das zahlreiche Auflagen erlebte, vor allem aber in Wolfs Engagement beim Kampf um die Abschaffung des Abtreibungsparagraphen 218. Neben dem literarischen und medizinischen Interesse ist es vor allem die politische Situation der Zeit, die ihn motivierte und ihn in eine radikal linke Richtung trieb, eine Entwicklung, die ihn 1928 der KPD und dem Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller beitreten ließ. Bertolt Brecht, den von Wolf trotz ähnlicher Grundüberzeugung sowohl in literarisch-programmatischer als auch politischer Hinsicht vieles trennte, nannte ihn einen „Kämpfer für einen neuen Humanismus“ (zit. n. Müller 2009, 11). Trotz einer politisch eher dogmatischen Haltung, die sich stets an der Parteilinie der KPD orientierte, blieb dem Autor nach den Aussagen von Bekannten und Zeitgenossen etwas Schwärmerisch-Idealistisches bis in seine letzten Lebensjahre erhalten. Im Verlaufe der zwanziger Jahre und angesichts der offenkundigen Krisenhaftigkeit der neuen Republik klang der jugendbewegte reformerische Grundton ab, der noch sein expressionistisch inspiriertes Drama Das bist du (UA 1919 Dresden) geprägt hatte. Wolf wandte sich zunehmend dem politischen Tageskampf und einer realistischen, die drängenden sozialen Themen fokussierenden Literatur zu. Wegen seiner ,kommunistischen Agitation‘ gehörte Wolf früh zu den von den Nationalsozialisten am heftigsten attackierten Gegenwartsautoren, so war ein Artikel des Völkischen Beobachters vom 27.2.1931 mit „Der Jude als Verführer“ überschrieben (vgl. Müller 2009, 60). Wolf ging bereits im März 1933 ins Exil, das ihn schließlich nach Moskau führte, kam 1937 auf dem Wege zur Teilnahme am Spanischen Bürgerkrieg nach Frankreich und wurde dort 1939 im Lager Le Vernet interniert. Er kehrte unmittelbar nach Kriegsende nach Deutschland zurück und wurde sofort politisch aktiv in kulturellen Institutionen und später u.a. auch als Botschafter der DDR in Polen. Die Illegalität der Schwangerschaftsunterbrechung ist eines der zentralen Themen der zeit- und aktualitätsbezogenen Literatur ab Mitte der 1920er Jahre, nachdem sich der Kampf der Frauenbewegung bereits vor dem Ersten Weltkrieg gegen die strafrechtlichen und sozialen Folgen der Abtreibung für Frauen gerichtet hatte und auch schon damals literarische Darstellungen zu dieser Problematik erschienen waren. Nach dem Krieg veröffentlichte Bruno Schönlank 1921 das Drama Verfluchter Segen, 1923 wurde dann das Stück eines proletarischen Hamburger Autorinnenkollektivs mit dem Titel § 218 – Unter der Peitsche des Abtreibungsparagraphen aufgeführt (vgl. Theesfeld 2006). Für die Abschaffung des Paragraphen kämpften die reformistische wie radikale Linke (SPD, KPD), darüber hinaus aber auch Teile der bürgerlichen und liberalen Parteien und die verschiedenen Fraktionen der Frauenbe-

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wegung, die sexualreformerischen Gruppen, etwa um Magnus Hirschfeld, und große Teile der demokratischen Öffentlichkeit (Einstein, Freud u.a.) sowie Publizisten wie Tucholsky und Ossietzky. Etablierte Autoren behandelten die Thematik, so Arnold Zweig, der in seinem Roman Junge Frau von 1914 in einer die Öffentlichkeit schockierenden Weise eine Abtreibung beschrieb, oder Alfred Döblin, selbst Arzt, der die Frage in seinem „Gebrauchsdrama“ (zit. n. Becker 2007, 3) Die Ehe aufnahm, das 1931 wegen angeblicher kommunistischer Propaganda verboten wurde. Das rigide Abtreibungsverbot, das bis 1927 jede Form der Schwangerschaftsunterbrechung mit Zuchthausstrafen bedrohte, wurde vor allem wegen der veränderten sozialen Bedingungen und der neuen Rolle der Frau zu einem zentralen Punkt des politischen Kampfes. Durch die Realität und die Folgen des Krieges war die Position der Frauen in der gesellschaftlichen Hierarchie partiell gestärkt worden, sie nahmen nun Stellungen im gesellschaftlichen Leben ein, die zuvor ausschließlich Männern vorbehalten waren. Obwohl einige dieser Errungenschaften im Verlauf der Weimarer Republik wieder rückgängig gemacht und die meisten Frauen wiederum in subalternen Positionen gehalten wurden, ergab sich doch teilweise die Möglichkeit eines eigenständigen Lebensentwurfs, wodurch auch die Eheinstitution gelockert und in ihrem Geltungsbereich eingeschränkt wurde. Eine – wiewohl eher ,fragwürdige‘ – Frau sagt in Kästners Fabian: „Ich war zweimal verheiratet, das genügt vorläufig. Die Ehe ist nicht die richtige Ausdrucksform für mich.“ (Kästner 1997, 15) Das gestiegene Selbstbewusstsein der Frauen führte dazu, dass sie vielfach Ehe und Familie nicht mehr als ausschließlich mögliche Lebensform ansahen und begannen, Sexualität und Fortpflanzung zu trennen, was durch neue Methoden der Verhütung und Geburtenkontrolle erreichbar schien (vgl. Theesfeld 2004, 9ff.). Gerade junge Mädchen und Frauen aus den urbanen Angestelltenmilieus planten analog zur typisch männlichen Sozialisation zunächst eine Phase des sich Auslebens, die häufig durch sexuelle Freizügigkeit gekennzeichnet war. Die medialen Bilder und Vorbilder in Massenmedien und Film etablierten Rollenmuster, die in den weiblichen Filmstars der Zeit personifiziert erschienen, etwa Marlene Dietrich, die durch ihre laszive Interpretation des Schlagers „Ich bin von Kopf bis Fuß auf Liebe eingestellt“ von Friedrich Hollaender aus der Heinrich Mann-Verfilmung Der blaue Engel (1929/30) ein sexualisiertes Frauenbild repräsentierte. In der Realität waren Ehelosigkeit oder späte Heirat jedoch selten eine freie Entscheidung der Frau, jedenfalls bei Arbeitern und kleinen Angestellten. In Unterschichtfamilien war – vor allem wegen des seit Kriegsende herrschenden Frauenüberschusses oder auch der Arbeitslosigkeit der Männer – häufig die Mutter die einzige Verdienerin. Gerade hier konnte eine ungewollte Schwangerschaft existenzbedrohende Folgen haben, da sie den Verdienst minderte oder gar den Verlust des Arbeitsplatzes nach sich zog (vgl. Halft 2007, 112). Die Gesetzeslage bezüglich der Abtreibung änderte sich nach Kriegsende zunächst nicht, weiterhin waren Zuchthausstrafen bis zu fünf Jahren, beim Vorliegen mildernder Umstände Gefängnis nicht unter sechs Monaten, vorgesehen (vgl. Halft 2007, 109). Allerdings war eine Diskrepanz zwischen der schweren Strafandrohung und der polizeilichen wie gerichtlichen Praxis erkennbar, faktisch waren scharfe Urteile eher die Aus-

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nahme (vgl. ebd., 114). Eine Veränderung ergab sich durch ein höchstrichterliches Urteil des Reichsgerichts, nach dem im Falle einer medizinischen Indikation der Schwangerschaftsabbruch straflos blieb. Gerade die Diskrepanz zwischen hoher Strafandrohung, die dann natürlich eine Kriminalisierung zur Folge hatte, und de facto wesentlich milderer Verurteilung führte nach langwierigen juristischen, politischen und publizistischen Debatten schließlich zu einer Teilreform des Paragraphen: Die Abtreibung blieb weiterhin strafbar, sie wurde aber auf eine Gefängnisstrafe reduziert (Beschluss des Reichstages vom 7.5.1926, vgl. ebd., 123). Die leidenschaftlich geführten Kontroversen um den § 218 berührten die weltanschaulichen, gesellschaftspolitischen und religiösen Grundfragen der Zeit. Es ging um das Verhältnis der Geschlechter allgemein, vor allem auch um die Kontrolle des weiblichen Körpers und der Reproduktionsfähigkeit durch den Mann, den Macht ausübenden Arzt oder auch Ehegatten. In den späteren 1920er Jahren wurde dann die Schwangere „zur Krisenikone schlechthin“ (von Keitz 2005, 13), wie vor allem die bildkünstlerischen Darstellungen von Kollwitz und Zille zeigen, aber auch viele Filme, Fotos und literarische Werke. Die konservativen Kräfte sahen in den Bestrebungen zur Abschaffung oder Lockerung des Abtreibungsparagraphen ein Symptom für Sittenverfall und die Auflösung aller Werte, auch für eine zunehmende Amerikanisierung und Kommerzialisierung der deutschen Gesellschaft und die Auslieferung der im wilhelminischen Deutschland noch weitgehend gültigen Normen an den großstädtischen Geist der Dekadenz und enthemmten Lustfixierung. Die Kirchen wiederum fürchteten, ein Monopol zu verlieren, da im Verlaufe der Säkularisierung ihr Machtbereich ohnehin bereits stark eingeschränkt war und nun noch mehr ihrer Kontrolle zu entgleiten drohte. Den liberalen und linken Fraktionen der Frauenbewegung und den sexualreformatorischen Bestrebungen wiederum war der Paragraph ein Symbol für die frauenfeindliche juristische, soziale und ökonomische Praxis der patriarchalischen Instanzen. Mit besonders großer Vehemenz, wenn auch keineswegs mit einer einheitlichen Linie, wurde der Kampf um die Abschaffung des § 218 von den sozialistischen und kommunistischen Kräften geführt. Die vielfältigen Berichte und Reportagen aus der Praxis scheinen zu belegen, dass es sich hier um ein Klassenproblem handelte, denn es waren vor allem Frauen aus den unteren sozialen Schichten, die von der Verfolgung und Kriminalisierung betroffen waren. Die Massenhaftigkeit des Problems machen etwa folgende Zahlen deutlich: Für die Zeit der Weimarer Republik liegt – nach konservativen Schätzungen – die Zahl der durchgeführten Schwangerschaftsabbrüche bei ca. 400.000, der deutsche Ärztetag gab in einer Erhebung von 1926 die Zahl von etwa 800.000 an, die Schätzung des Nationalökonomen Julius Wolf von 1931 liegt bei 1,2 Millionen (vgl. ebd. 114). Ende der zwanziger Jahren wurde also nach diesen Schätzwerten etwa jede zweite Schwangerschaft künstlich beendet (vgl. Halft 2007, 114). Frauen aus dem Arbeitermilieu hatten meist weder die finanziellen Mittel noch die Verbindungen, um mittels des entsprechenden Gutachtens eines Arztes zu einer ,legalen‘ Abtreibung zu kommen oder jedenfalls den Eingriff unter ärztlicher Aufsicht durchzuführen. Häufig blieb nur der Gang zur ,Engelmacherin‘ oder Quacksalbern, die unsachgemäß und unhygienisch mit diversen Instrumenten und Chemikalien den Abort einleiteten und damit das Leben der be-

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troffenen Frau aufs Spiel setzten. Nach Schätzungen wurden pro Jahr 125.000 Frauen in Kliniken wegen hohen Fiebers im Anschluss an einen unsachgemäß durchgeführten Abbruch behandelt, ca. 40.000 trugen erhebliche Folgeschäden davon, etwa 50.000 verloren bei Eingriffen von Kurpfuschern ihr Leben. Zudem war in den Massenmedien der Zeit immer wieder die Rede vom Selbstmord verzweifelter Arbeiterfrauen, die keinen anderen Ausweg mehr sahen als sich das Leben zu nehmen. Als Reaktion auf die repressiven Mechanismen und gesellschaftlichen Stigmatisierungen lässt sich in den zwanziger Jahren ein weit aufgefächerter Abtreibungsdiskurs beobachten, der alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchzieht. Dabei wird von den verschiedenen Gruppen der Betroffenen und auch Außenstehenden eine Vielzahl von Vorschlägen zu einer Reform entwickelt. Auch in der Ärzteschaft lässt sich das gesamte Spektrum an Haltungen finden. Zwar setzten sich zahlreiche Ärztinnen und Ärzte in den Fürsorgeeinrichtungen und entstehenden Sexualberatungsstellen engagiert für das Anliegen der Arbeiterfrauen ein; mehrheitlich verfolgten die Ärzte und ihre Standesorganisationen aber eine konservative Linie und unterstützten die Beibehaltung des strafbewehrten Verbots (vgl. Jung-Hoffmann 1999, 281). Friedrich Wolf fand schon in den frühen 1920er Jahre zur Zeitdramatik, eine Entwicklung, die parallel zu seiner politischen Bewusstseinsbildung verlief. Als durchgehendes Merkmal seiner Dramenproduktion nannte er in der Abhandlung „Warum schrieb ich die ,Matrosen von Cattaro‘?“ aus dem Exil 1935 das eigene Erleben des Themas und seine aktuelle Ausgestaltung: Ich glaube, daß ein realistischer Dramatiker keinen Stoff zur Bearbeitung anfassen darf, den er nicht bis in die Fingerspitzen – bis ins kleinste Detail – beherrscht. Von meinem ,Armen Konrad‘ an über ,Kolonne Hund‘, den ,Bauer Baetz‘, „Mamlock‘, ,Cyankali‘, ,Matrosen von Cattaro‘ bis jetzt zu ,Floridsdorf‘ habe ich das Material meiner Stücke stets selbst erlebt, bin ich jahrelang vorher bis über die Knie in dem Material herumgewatet. (Zit. n. Rühle 1972/73, Bd. 2, 817f.) In dieser kurzen Übersicht über die Dramenproduktion von 1923 bis 1934 formuliert Wolf seine Bindung an das Literaturverständnis der Neuen Sachlichkeit, die den Autor als ,Fachmann‘, Rechercheur und Operateur innerhalb eines Themengebietes sah. Allerdings kommt bei Wolf noch das Moment der Parteilichkeit hinzu, damit die explizite Wendung gegen jede Art von l’art pour l’art-Konzeption. Aus neusachlicher Faktographie wird Tendenz-Literatur, wobei Wolf, wie andere marxistische Autoren, dies nicht als Gegensatz sah. Die Prinzipien seiner im Dienste der kommunistischen Sache eingesetzten Kampfdramatik verallgemeinert er in seiner Rede „Kunst ist Waffe! Eine Feststellung“, die 1928 auch als Broschüre vom KPD-nahen Arbeiter-Theater-Bund Deutschlands herausgegeben wurde. Diese Organisation wurde vom kommunistischen Schauspieler und Regisseur Gustav von Wangenheim geleitet und fasste ab 1928 die verschiedenen Agitprop-Truppen zusammen. In der Gegenwart ist Wolf zufolge jede wirkliche Kunst notwendig Teil der sozialen Kämpfe:

Kunst ist Waffe

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Ein Dichter, der heute noch l’art pour l’art: die ,Kunst um des ästhetischen Spieles willen‘ vollführt, dieser Verse- und Szenenbastler, er ist in unserer Zeit der Arbeitslosenheere, der Mütterselbstmorde und Abtreibungsparagraphen, der Wohnungsnot, Grubenunfälle und Eisenbetongerüste ein Ziseleur, ein Filigranschmied … aber kein Dichter, der unseren Tagen etwas zu sagen hat! (Wolf 1979, 442f.) Damit bindet Wolf dichterische Gegenwärtigkeit an den politischen Kampf, während in der traditionellen Auffassung politische Tendenz und künstlerischer Wert antinomisch gesehen werden. Wolf definiert eine aktuelle Kunst bewusst und ausschließlich „aus dem Geist der Arbeiterbewegung und dem Geist der Arbeiterkämpfe“ (Wolf 1979, 446) heraus. Neben das Bild der Waffe, das schnell zum Schlagwort reduziert von verschiedenen Seiten in negativer wie positiver Weise benutzt wurde, tritt das des „Scheinwerfers“ (ebd., 447), womit der Anschluss an die Diskussionszusammenhänge der Neuen Sachlichkeit hergestellt ist. Scheinwerfer hieß bekanntlich auch jene wichtige neusachliche Zeitschrift (1927–1933), die in ihrem Titel den Bezug zu Theater und Film ausdrückte, aber auch die Konzentration auf die wichtigen Themen der Zeit. Ein weiteres neusachliches Element ist der Verweis auf die Zeitungslektüre als Dramenstoff. In diesem Abschnitt bringt Wolf eine Reihe von statistischen Angaben zur gegenwärtigen sozialen Lage in Deutschland, u.a. auch Informationen zur Zahl der Abtreibungen, die in anderer Form dann in Cyankali wieder auftauchen. Auch hierin ist er ein typischer Vertreter der Neuen Sachlichkeit, die sich häufig als äußerst zahlengläubig und statistikfixiert zeigt (vgl. das spätere Gespräch Wolfs mit Brecht ebd., 472–476). Ironisch gebrochen erscheint diese Obsession in Feuchtwangers Gedicht „Statistik“, das Teil des ,amerikanischen Liederbuches‘ Pep ist und erstmals 1928 erschien. Während Wolf in seinem Aufsatz auf diese und andere Referenzen hinweist, insbesondere auf die Vorbildhaftigkeit von Eisensteins Film Panzerkreuzer Potemkin, bleiben Fragen des Aufbaus und der Komposition des Dramas weitgehend unerörtet (vgl. Mörchen 1983, 186f.). Wolfs Anschauung ist insofern konform mit den entsprechenden Bestrebungen Brechts und Piscators in den zwanziger Jahren, als er die neuen Medien für die politische Überzeugungsarbeit einsetzen will. Er bleibt aber, wie sich später zeigen wird, traditionell aristotelisch bezüglich des Aufbaus und der Komposition sowie der Figurengestaltung. Die Kritik an Wolfs Konzept, das er in seinen Zeitstücken der Weimarer Zeit exemplarisch verwirklicht, ist deshalb auch nicht nur politisch, es wird ihm, wie der sozialistischen Dramatik insgesamt, ästhetischer Konservatismus vorgehalten. Julius Bab etwa schrieb 1930 in der Volksbühne zur Zeitdramatik allgemein und Wolf im Besonderen: „In diesen Stücken ist nun die neue Sachlichkeit vom guten alten Naturalismus wirklich nicht mehr ein bisschen zu unterscheiden. […] Ein besonderes Geschick im Zusammenreißen szenischer Wirkungen aus solchen tendenziösen Milieustudien entfaltet Friedrich Wolf.“ (Zit. n. Becker 2000b, 43) Zu Cyankali heißt es: „Seine Machart aber unterscheidet sich in nichts von der der gröberen Theaterstücke, die um 1890 im Gefolge des Naturalismus erschienen.“ (Ebd.) Das Zeitstück der Weimarer Zeit war Podium für die Aktualität, Auseinandersetzung mit Zeitfragen, inszenierter Leitartikel und Versuch gesellschaft-

5. Friedrich Wolf: Cyankali

licher Einflussnahme. Die Autoren wussten zumeist, wovon sie sprachen. Dies gilt für Lampel und Rehfisch genauso wie für Wolf. Neben seiner ärztlichen Tätigkeit prädestinierten ihn auch seine literarischen und politischen Vorerfahrungen für die Produktion eines Zeitstücks. Immerhin hatte er schon einige beachtete Dramen verfasst und als politischer Aktivist konzentrierte er sich auf die Wirkungsmöglichkeiten der Form und ihre Einsetzbarkeit in den ideologischen und politischen Auseinandersetzungen. Wolf hatte sich, bevor er das schließlich in einer Bühnenfassung erschienene Stück schrieb, bereits länger mit der Thematik und deren literarischer Verarbeitung auseinandergesetzt, zum Teil in Zusammenarbeit mit sozialistischen Theaterkollektiven. Es existiert eine in Versform geschriebene Fassung Fabriklegende und eine erste überlieferte vollständige Version Alltagslegende (vgl. von Keitz 2002, 41), weitere Pläne liegen vor für ein Agitpropstück unter dem Titel Die Fabrik hat ein Kind bekommen (ebd. 42). Wolfs Drama Cyankali war nur einer der zahlreichen literarischen Versuche, die Abtreibungsproblematik zu gestalten und zugleich zu einer Veränderung der sozialen wie juristischen Situation zu gelangen, es war aber mit Sicherheit der öffentlichkeitswirksamste, obwohl auch hierdurch keine Abschaffung des § 218 erreicht wurde. Durch den Konflikt wurde die tiefe Spaltung der Gesellschaft evident, und die harten staatlichen Reaktionen gerade auf Wolfs Drama sind Folge der radikalen Position, die von ihm im Stück vertreten wird, aber auch der Zeitstückform, denn dieser exemplarische Konflikt wurde durch „eine sozial engagierte Zeit-Dramatik ohne die üblichen Distanzierungsästhetiken in zugespitzter Form“ (von Keitz 2002, 39f.) aufgegriffen. Als Arzt war Wolf, der auf den verschiedenen Stationen seines medizinischen Wirkens immer die sozialen Hilfsaktivitäten in den Vordergrund gestellt hatte, mit der Thematik seit langem vertraut. Er machte sich die Positionen der KPD zu eigen, die mit der Betonung des Kampfes ein doppeltes Ziel verfolgte, denn neben der direkten Agitation zur Abschaffung des Paragraphen versuchte sie, „gegen die Gesellschaftsordnung insgesamt mobil zu machen“ (Halft 2007, 151). Während der Schwangerschaftsabbruch auch von marxistischer Seite prinzipiell durchaus für problematisch gehalten und die Mutterschaft auch in proletarischen Schichten überhöht wurde, forderte man angesichts der krisenhaften und für diese Schichten existenzbedrohenden Verhältnisse der späten Weimarer Republik ein Menschenrecht auf Abtreibung. Dass auch unter den kommunistischen Ärzten ein ideologischkonservatives Verständnis der Mutterschaft anzutreffen war, zeigen Äußerungen der Berliner Aktivistin Martha Ruben-Wolf u.a. (vgl. von Keitz 2002, 40f.). An Wolfs Idee eines Zeitstücks über den Paragraphen fanden kommunistische Funktionäre wie Paul Signer, Sekretär des Arbeiter-Theater-Bundes Deutschlands, Gefallen und drängten auf eine schnelle Realisierung, um das Drama für die propagandistische Arbeit einsetzen zu können (vgl. ebd., 152). Wolf schrieb das Stück 1929 in Eltville und Stuttgart, und er war überzeugt, dass Cyankali in der sprachlich-stilistischen Gestaltung einen Neuanfang bedeutete: „Ich weiß jetzt erst, was Sprache unsrer Zeit ist. ,Der Arme Konrad‘ war übernommene, ,Kolonne‘ war meine, ,Cyankali‘ wird die der Menschen von heute sein […].“ (Brief v. 6.5.1919, Wolf 1968, 30) Die Uraufführung von Cyankali fand am 16. September 1929 am Berliner Lessingtheater in der Regie von Hans Hinrich statt, durchgeführt vom Thea-

Entstehung des Stücks und Auseinandersetzung um Cyankali

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Die Uraufführung

terkollektiv Gruppe junger Schauspieler. Interesse hatte es auch von anderer Seite gegeben: Piscator wollte Cyankali an seiner neu gegründeten Bühne inszenieren, aber Wolf hatte dem Kollektiv bereits die Zusage für eine Option erteilt, und zu einer Zusammenarbeit der beiden Gruppen kam es nicht mehr. Piscator brachte stattdessen Carl Credés Abtreibungsstück Gequälte Menschen – § 218 im Herbst 1929 in Mannheim heraus, es handelt sich also durchaus um „Konkurrenzunternehmen“ (von Keitz 2002, 44). Zwischen Credé und Wolf gibt es biographische Parallelen, beide waren Ärzte und früh politisch engagiert, Credé allerdings später bei der Sozialdemokratie. Auch er hatte unter starken Anfeindungen zu leiden, wegen illegalen Schwangerschaftsabbruchs wurde er zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt. Ein weiteres Zeitstück zum Problem hatte Hans José Rehfisch 1928 mit Der Frauenarzt vorgelegt, ein Drama, das sich auf das Schicksal eines bereits wegen Schwangerschaftsabbruchs vorbestraften Arztes bezog. Die Erstinszenierung von Cyankali – § 218 am 6. September 1929 im Berliner Lessingtheater war ein großer Publikumserfolg, das Stück wurde danach noch etwa 300 mal, auch auf Gastspielreisen im In- und Ausland, aufgeführt. Wie beeindruckend das Drama wirkte, vermerkte die Presse nach der Premiere sofort, so der Kritiker Rolf Nürnberg von der Neuen Berliner Zeitung: „Ein Riesenerfolg! Am Schluß tosender, minutenlanger, und […] ehrlicher Beifall. In die letzte Szene hinein donnern dauernd Applaussalven, nach dem letzten Fallen des Vorhanges verläßt kein Mensch das Theater, alles bleibt stehen, hingerissen erregt oder doch wenigstens interessiert.“ (Zit. n. Wolf/Hammer 1978, 127) Auch Herbert Ihering im Börsen-Courier sah das Stück, wie auch andere Titel des Zeittheaters, positiv in seinem Wirkungsgehalt, wenn der große Beifall „nur zur Änderung des Paragraphen 218 beiträgt und gesetzliche Maßnahmen herbeiführt, so hat das Theater seinen Zweck erfüllt“, schreibt er. Bei Ihering wie auch bei anderen Vertretern der etablierten Kritik ist die Trennung offensichtlich, die sie zwischen der Wirkung und dem künstlerischen Wert des Zeittheaters machen, denn Stück und Aufführung seien letztlich unliterarisch und „primitiv“ (zit. n. ebd., 131). Auch Erich Kästner bezeichnet in seiner Cyankali-Rezension, die am 14.10.1929 in der Neuen Leipziger Zeitung erschien, das Stück, ebenso wie Lampels Revolte, als „kunstlos“ (zit. n. ebd., 135), lobt es aber wegen seiner Tendenzhaftigkeit und Wirkung, die gerade aus dem Dilettantismus der Aufführung resultiere: „In einer Stadt mit mehr als dreißig staatlichen, städtischen und privaten Theatern, mietet sich eine Gruppe stellungsloser junger Darsteller eine Vorstadtbühne und erobert, ohne Mätzchen, nur mit Charakter und Ernst behaftet, das verwöhnte, gelangweilte Publikum.“ (Zit. n. ebd., 137) Wie zu erwarten, fielen die Reaktionen der ,Arbeiterkorrespondenten‘, die in der kommunistischen Rote Fahne gesammelt und abgedruckt wurden, noch enthusiastischer aus (vgl. ebd., 137–140). Radikale Kritik kam dagegen von rechts und aus klerikalen Kreisen, wie eine Stellungnahme katholischer Verbände zeigt, die – ähnlich wie bei der Aufführung der Münchner Kammerspiele – ein Verbot der Aufführung verlangten: „,Wir erheben […] schärfsten Protest gegen einen solchen Missbrauch einer staatlichen Bildungsanstalt gegen eine derartige Entwürdigung der Kunst und Verwirrung der elementarsten sittlichen Begriffe.‘“ (Zit. n. ebd., 232; zu den Vorgängen um die Münchner Aufführung und die Zensureingriffe vgl. von Keitz 2002, 48–50.)

5. Friedrich Wolf: Cyankali

Wolfs Cyankali entspricht in Konzeption, Handlungsaufbau, Konfliktentwicklung und sprachlich-stilistischen Merkmalen zu großen Teilen dem Zeitstücktypus, wie er in den 1920er Jahren entstanden ist. Das Drama war, wie hier kurz skizziert, von Beginn integriert in eine umfassende und parteipolitisch gelenkte Informations- und Aufklärungskampagne. Es zeigt, obwohl Handlungsverlauf und Personal fiktional sind, Züge des Dokumentarischen und Journalistischen, zugleich dient es der „Politisierung und Funktionalisierung literarischer Texte“ (Becker 2000a, 211). Beides wird jedoch von Wolf nicht als Gegensatz verstanden, da er von der Objektivität, d.h. Wissenschaftlichkeit, seiner politischen Anschauungen zum Problemkomplex Abtreibung überzeugt ist. In genuin neusachlicher Manier bietet Wolfs Cyankali faktische wie auch kontextuelle Informationen. Immer wieder baut er in die Szenen Angaben aus Zeitungen ein. Die Zeitung ist hier funktional verwendete Requisite, die eine Extension zur allgemeinen, objektiven Problematik herstellt, intern aber auch immer wieder das Gespräch der Beteiligten stimuliert. Die für die Handlung selbst eher dysfunktionale Kommentarfigur des Kuckuck stellt als Informationsträger medial eine Verbindung zur Außenwelt her. Im 2. Bild referiert Kuckuck auf einen Bericht im Lokalanzeiger, nach dem in Deutschland jährlich 800.000 Abtreibungen stattfinden. Aber auch andere Figuren werden in dieser Information streuenden Funktion eingesetzt: Im 4. Bild erzählt der Arzt Dr. Möller Hete, die von ihm konkrete Hilfe erwartet, von den Verhandlungen des Deutschen Ärztetages und referiert generell zum § 218, und im 8. Bild wird dies zusammenfassend wieder aufgenommen, als Dr. Möller mit den anderen Bewohnern in Kontakt tritt. Informationen vermittelt das Stück auch über die illegalen und für die Gesundheit der Schwangeren höchst riskanten Abtreibungstechniken, die Wolf genau kannte. Zusätzliche Informationen wurden durch das Programmheft und Artikel des Autors vermittelt (vgl. Halft 2007, 160). Über die direkte Informationsvermittlung hinaus ist das Stück insofern diskursiv angelegt, als durch die jeweilige Figurenrede die soziale Lage der Beteiligten offengelegt wird, und gleichzeitig durch die Dialoge, die oft Debattencharakter haben, Handlungsoptionen ins Spiel kommen und die verschiedenen Positionierungen im Kontext der zunächst verborgenen gesellschaftlichen Grundkonflikte und Lösungsmöglichkeiten vorgeführt werden. So wird im 8. Bild vom Arzt die Möglichkeit einer Volksabstimmung ins Spiel gebracht, die in der aktuellen politischen Diskussion der Zeit immer wieder vertreten wurde. Wolf verwendet hier differenzierte Abbildungsformen, um die Abstufungen auch innerhalb von Figurengruppen deutlich zu machen: Die für die Reform eintretenden fortschrittlichen Ärzte waren keineswegs alle uneingeschränkt für die Legalisierung der Abtreibung, so trat der „Verein sozialistischer Ärzte“, dem Wolf angehörte, lediglich für die Möglichkeit einer sozialen Indikation und die Entkriminalisierung der solche Unterbrechungen durchführenden Ärzte ein. Der Erfolg von Wolfs Stück wurde dadurch möglich, dass es durch die geschickte dramaturgische Anlage trotz dieses Debattiercharakters nicht in Gefahr kam, zum abstrakten Thesenstück zu degenerieren. Dies vor allem deshalb, weil Wolf die einzelnen Figuren zwar typisiert, gleichzeitig aber auch mit individuellen Zügen versieht und nicht die gesamte Personenentwicklung im übergreifenden Konflikt aufgehen lässt. So wird das durchaus schwankende Verhältnis des Paares Hete und Paul auf einer subjektivierten

Objektivismus und Rhetorizität – der Appellcharakter des Stückes

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Wolfs Cyankali als Beispiel aristotelischen Theaters

Ebene gestaltet, was gerade in der Angst Pauls vor der Notwendigkeit, den Eingriff vorzunehmen, gezeigt wird. Auch die anderen weiblichen Figuren gewinnen ein eigenständiges Profil und der Hausverwalter Prosnik wird eindeutig negativ als sexistisch-männlicher Unterdrücker gezeigt, der versucht, aus Hetes Notlage sexuellen Nutzen zu ziehen und dabei auch vor Erpressung nicht zurückschreckt, zum Schluss aber auch als seinerseits Unterdrückter, als „verprügelter Hund“, gekennzeichnet. Der Zusammenhang von Individualisierung und zugleich sozialer Determiniertheit scheint auch in der durchgängig dialektalen Färbung der Figurenrede und in vielen umgangssprachlichen Wendungen auf. Gerade im zentralen 4. Bild bei der Unterhaltung von Hete und Dr. Möller, wo die Asymmetrie der Kommunikationssituation offenkundig ist, macht Wolf die Verbindung von Persönlichem und Allgemeinem durchsichtig. Der Arzt agiert hier in zwei Rollen: als mit hohlen Phrasen operierender, autoritärer und der jungen Frau gegenüber arroganter Machthaber, zum Schluss aber mit einem Anflug von väterlicher Zuwendung: „Machen Sie keine Dummheiten, Mädchen!“ (Wolf 2004, 128) Im Unterschied zur Konzeption des epischen, anti-aristotelischen Theaters bei Brecht und auch zu den verfremdenden Elementen in Piscators Dramaturgie sind gerade die Zeitstücke der politisch engagierten Autoren auf unmittelbare Breitenwirkung hin geschrieben, weshalb identifikatorisch-appellative Mittel vorherrschen und auf experimentelle Formen weitgehend verzichtet, zum Teil sogar eine Minderung des künstlerischen Gehalts in Kauf genommen wird (vgl. Halft 2007, 141). Brecht hatte den begrenzten Wert der aristotelischen Einfühlung, die er selbst später unter den Bedingungen des Exils in einem Drama wie Die Gewehre der Frau Carrar nutzte, erkannt: In seinem Text „Unmittelbare Wirkung aristotelischer Dramatik“ erwähnt er Wolfs Stück und die positiven Wirkungen, die es auf die Politik der Krankenkassen hatte. Die Nützlichkeit aristotelischer Wirkungen sollte nicht geleugnet werden; man bestätigt sie, wenn man ihre Grenzen zeigt. Ist eine bestimmte gesellschaftliche Situation sehr reif, so kann durch Werke obiger Art eine praktische Aktion ausgelöst werden. Solch ein Stück ist der Funke, der das Pulverfaß entzündet. (Brecht 1988–2000, Bd. 22, 394) Wie Brecht weiter meint, würde eine epischere Gestaltung wegen der größeren Differenziertheit und Abstraktion in diesem Falle die gewünschte Aktion verzögern. Diese Wirkung wird auch durch die historische Rückschau auf die Rezeption bestätigt: „[…] aufwühlender hat kein Zeitstück gewirkt als ,Cyankali‘, immer wieder verboten, freigekämpft, der Autor […] angeklagt, mit Gefängnis bedroht.“ (Rühle 2007, 550) Zugleich ist innerhalb von Brechts Konzept eines ,Theaters des wissenschaftlichen Zeitalters‘ der Genussaspekt von entscheidender Bedeutung. Eben diese Unterhaltungsfunktion wird auch in Wolfs Stück durchaus bedient, indem die Spannung auf den Ausgang durch zahlreiche retardierende Momente und Verwicklungen bis zum Schluss beibehalten wird. Hierbei wurde dann ein ästhetischer Konservatismus oder gar Anachronismus akzeptiert, der sich nach Hans Mayer als „Permanenz des expressiven Idealismus“ (Mayer 1967, 300) aus Wolfs expressionistischer Frühphase bis in die Zeit der Politisierung zieht und der „stets innere Entscheidungen und Wandlungen in geschlossenen Dramenfor-

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men darzubieten gewillt war“ (ebd.). Was hier unter modernistischem Kunstwollen als Scheitern interpretiert wird, fügt sich andererseits bruchlos in Wolfs Konzept der Kunst als einer Waffe im sozialen Kampf. Entsprechend dem aristotelischen Grundkonzept ist die Personalisierung der Konflikte bei aller sozialen Determiniertheit offenkundig, diese werden, in der Traditionslinie des Bürgerlichen Trauerspiels, als persönlich-intime ausgetragen, was sich besonders an der Entwicklung des Liebesverhältnisses von Hete und Paul zeigt. Ebenfalls in konventioneller Weise steuert der Spannungsbogen auf eine Klimax in den letzten Szenen hin, die klar auf kathartische Wirkungen hin konzipiert sind. Neben gesellschaftlichem Zwang und aufkeimenden Formen der Klassensolidarität exponiert Wolf wirkungsvoll eine gewissermaßen naturalisiert verstandene Kraft der Partnerliebe. So nimmt Mutter Fent am Schluss des 7. Bildes ihre Tochter wieder auf mit den Worten: „[…] deine Mutter will dir helfen, hilft dir, laß sie erst zu Atem kommen … du bist doch mein Kind!“ (Wolf 2004, 150) Wolf nannte Cyankali unspezifisch ein Schauspiel und verzichtete auf eine Akteinteilung, er gliederte das Stück stattdessen in acht Bilder. Dennoch lässt sich subtextuell auf eine Gliederung im Sinne der traditionellen Tragödienstruktur schließen (vgl. von Keitz 2002, 56). Die Exposition mit der dialogischen Entwicklung der sozialen Situation der Protagonisten liegt in den beiden ersten Bildern, hier ist auch schon vom Abtreibungsmittel Cyankali sowie vorausweisend vom Tod einer Schwangeren die Rede. Eine Steigerung bringen das 3. und 4. Bild, als sowohl die Arbeitslosigkeit auf alle der verarmten Schicht zugehörigen Personen ausgedehnt als auch durch den Schwenk auf die Praxis von Dr. Möller die privat fast hoffnungslose Situation von Hete offenbar wird. Wiederum ist jetzt – in der Warnung des Arztes – von Cyankali die Rede, wie überhaupt, bezogen auf die weiblichen Figuren, immer eine Verbindung von Gift, Selbstmord oder Tod durch Kindbettfieber hergestellt wird. Die kontinuierliche Verstärkung der Gefahr – durch den Besuch bei der Engelmacherin, die Flucht Pauls, aber auch die erpresserischen Angebote Prosniks – bestimmt das Geschehen bis zum Ende des 7. Bildes, am Schluss des 6. Bildes erhält Hete die Kapsel mit dem Gift, dessen fatale Wirkungen dann in den beiden letzten Bildern gezeigt werden, in denen immer wieder direkt und indirekt Hetes Hilferuf ertönt. Das letzte Bild ist, wie schon das erste, in der Küche der Mutter Fent situiert. Dieser Raum fungierte vorher bereits als Diskursfläche für die beteiligten Figuren, jetzt wird dies allerdings sozial ausgeweitet, indem der Arzt und der Kriminalkommissar als Vertreter der gehobenen Schicht bzw. der Staatsgewalt auftreten. Durch dieses Zusammenbringen der für die Handlung, aber auch den Problemkomplex insgesamt wichtigen Figuren vermag Wolf seine Absicht zu erreichen, die Bühne zum Tribunal zu machen, wobei die Sympathien eindeutig verteilt sind. Dies zeigt sich in der Differenz der kalt-sachlichen und bürokratischen Sprache des Arztes und des Polizeibeamten zum affektiv bestimmten, dialektal gewärmten Duktus der Unterschichtpersonen. Zur Steigerung der Identifikation der Zuschauer mit den Unterdrückten wird am Schluss noch ein individuell ,heroischer‘ Akt gesetzt, das Schuldeingeständnis der Mutter Fent, die bei ihrem initialen Auftritt am Ende des 1. Bildes noch Illusionen über die Folgen einer gesetzestreuen Haltung gezeigt hatte – „Redlichkeit nährt jederzeit […]“ –,

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V. Einzelanalysen repräsentativer Werke

Drama und Film

sich nun aber zur Tat und zu ihrer Verantwortung als Mutter bekennt. Hier wie an zahlreichen anderen Stellen des Dramas amalgamiert Wolf geschickt politische und persönlich-moralische Motive. Zum Schluss wird die aristotelische Bauform in ein Agitprop-Modell überführt, wenn Paul seinen leidenschaftlichen Schlussappell an den Arzt, aber auch an das Publikum richtet. Zwar ist der Aufruf zur Beseitigung des Gesetzes eindeutig, aber eine positive Alternative wird nur allgemein ausgesprochen, wenn Paul dem Arzt zuruft: „S i e müßten das zu ändern versuchen, Sie, der Arzt, müßten den Mut haben, da ihre Stimme zu erheben …“ (Ebd., 159) Das Schlusswort Hetes verallgemeinert das private Elend ins kollektive Schicksal, jedoch auch eher unbestimmt fragend und auf ihr persönliches Schicksal verweisend: „Tausende … müssen … so sterben … […] Hilft … uns … denn niemand?“ (Ebd., 162) Wolfs Zeitstück wurde bereits 1930 verfilmt, in der Regie von Hans Tintner, mit Grete Mosheim in der Hauptrolle von der Atlantis-Film GmbH produziert. Mosheim, 1905 in Berlin geboren, hatte sich als Schauspielerin am Deutschen Theater und am Lessingtheater bereits einen Namen gemacht und war seit 1924 im Stummfilm aufgetreten. Bei der Cyankali-Adaption handelt es sich um einen Teil-Tonfilm, einige der ursprünglich stumm mit Zwischentiteln gedrehten Sequenzen wurden nachträglich mit Tonsequenzen unterlegt. Gegen das von Tintner verfasste Drehbuch für die Filmversion brachte Wolf Einwände vor, die sich auf die teilweise melodramatische Symbolik des Films, vor allem auf das Todessymbol, das zu Beginn die Mütter hinmäht, beziehen. Wolf beharrte demgegenüber auf der Realistik, die im Drama affektiv aufgeladene Szenen immer wieder durchbricht (vgl. Halft 2007, 158; von Keitz 2002, 53). Wie die Analyse des Films (vgl. von Keitz 2002, 57) zeigt, verstärkte man dort tatsächlich die emotionalen Momente zugunsten des Milieurealismus des Dramas und wurden auch die Akzentuierungen auf die einzelnen Figuren anders gesetzt, so dass zum Beispiel der Arzt sympathischere Züge erhielt. Wie im Falle von Remarques Im Westen nichts Neues so waren auch bei Cyankali die Anti-Reaktionen der rechten reaktionären Kräfte bei der Filmversion heftiger als beim Originaltext bzw. der Theateraufführung, was die von dieser Seite früh erkannte Macht der Bilder zeigt. Die Brisanz des Themas führte zu aggressiven Protestreaktionen bei den völkischen, restaurativen und klerikalen Gruppierungen, die darauf folgenden massiven Zensureingriffe brachten verstümmelte Fassungen in Umlauf, bis heute ist keine wirklich authentische Version zugänglich. Die Bayerische Landesregierung, unterstützt von den Regierungen Badens und Württembergs, stellte einen Verbotsantrag gegen den Film. In der Begründung finden sich all jene Argumente, die auch später in der Verbotsdebatte immer wieder vorgebracht wurden: Der Film zeige eine verzerrte und übertriebene Darstellung der Verhältnisse und wirke so auf ein breites Publikum verrohend, damit sei eine Störung der öffentlichen Ordnung gegeben (vgl. zu den juristischen Vorgängen Halft 2007, 187–189). In Berlin wurde die ursprüngliche Freigabe des Films durch einen Entscheid der Film-Oberprüfstelle vom 29.8.1930 widerrufen. Auch wenn, so heißt es in dem Beschluss, die Tendenz des Films zur Abschaffung des § 218 als solche nicht inkriminierend sei, so doch die Art der Darstellung:

5. Friedrich Wolf: Cyankali

Die Schilderung dieser Verhältnisse ist so erschütternd und roh, die Wirkung der Gesetze auf sie so brutal, mit den Tatsachen geradezu in Widerspruch stehend, die Tätigkeit der Beamten eine so unmenschliche und mitleidlose, dass die Gesamtdarstellung nicht nur entsittlichend und verrohend wirkt, sondern auch die öffentliche Ordnung und Sicherheit gefährden muss. (Zit. n. http://www.deutsches-filminstitut.de/filme/ f015298.htm; Zugriff: 5.5.2010) Als besonders gefährlich wurde die affektive Kraft eingeschätzt, die die Einarbeitung von Tonsequenzen erzeuge, wodurch der Film „zu besonders krasser Wirkung“ (ebd.) komme. Eine bereits zensierte Fassung des Films wurde – mit einer Einleitung von Wolf – am 23.5.1930 im Babylon-Kino Berlin aufgeführt (vgl. Keitz 2002, 55). Gegen die Versuche, Filmaufführungen von Cyankali zu verhindern, entstanden – stärker noch als bei den Theateraufführungen – Protestbewegungen. Liberale Publizisten wie Hans Flemming – unter dem Titel „Zensur schießt einen Bock“ – im Berliner Tageblatt vom 7.9.1930 nahmen eindeutig Stellung: Wie bereits gemeldet, hat die Film-Oberprüfstelle auf Antrag Bayerns, Badens und Württembergs den Film CYANKALI, der seit Monaten mit großem Erfolg läuft, jetzt verboten. Die Entscheidung ist haarsträubend. […] Es dreht sich um den Paragraphen 218. Aber die Filmstelle betont, dass nicht die Debatte um die Abtreibung zum Verbot geführt habe, sondern die entsittlichend und verrohend wirkende Szenenführung. Wolfs Cyankali-Projekt hatte persönliche Konseqenzen für ihn selbst und auch für seine Kollegin Else Kienle. Beide wurden wegen Verstoßes gegen den § 218 verhaftet. Komitees zur Freilassung der Ärzte und zum Kampf gegen den Paragraphen entfalteten Massenwirkung, so etwa auf einer Kundgebung im Wallnertheater in Berlin, auf der u.a. Bertolt Brecht sprach (vgl. Wolf/Hammer 1978, 278). Wolf wurde schließlich gegen eine Kaution freigelassen, ebenso wie seine Kollegin, die dies durch einen Hungerstreik erreichte, nach der Entlassung untertauchte und später in die USA emigrierte, wo sie sich eine neue Existenz aufbaute.

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Personenregister (Autoren im Umkreis von Neuer Sachlichkeit und Weimarer Republik) Arnheim, Lotte 57 Bab, Julius 126 Balázs, Béla (i.e. Herbert Bauer) 40f., 67, 104, 115 Barbusse, Henri 104, 114 Baum, Vicki (i.e. Hedwig Baum) 10, 15, 17, 20, 31–33, 35, 37, 49, 63, 65–67, 69, 74, 85f., 88, 97, 110, 114 Becher, Johannes R. 39 Benjamin, Walter 22, 40f., 43, 57, 59, 69, 70f., 78 Benn, Gottfried 10, 38f., 50f., 54, 63, 99 Beradt, Martin 97 Berges, Grete 57 Beumelburg, Werner 29 Bloch, Ernst 106 Braun, Alfred 71 Braune, Rudolf 37, 49f., 94 Brecht, Bertolt 10, 21f., 26, 39f., 44–46, 51f., 54, 59, 64, 66, 69, 70f., 75, 78, 87–89, 111, 122, 126, 130, 133 Bredel, Willi 99, 111 Brentano, Bernard v. 69, 98 Broch, Hermann 38, 99, 104 Brod, Max 34, 48, 99 Bronnen, Arnolt 13f., 30, 34, 49, 69 Bruckner, Ferdinand (i.e. Teoodor Tagger) 31, 46, 55 Brück, Christa Anita 37, 49f. Brunngraber, Rudolf 22 Bucovich, Mario von 23 Canetti, Elias 38 Credé, Carl (i.e. Carl Credé-Hoerder) 46, 128 Diebold, Bernhard 57, 64 Döblin, Alfred 21, 23, 26, 38f., 48, 64, 68, 70–74, 94, 98, 104, 120, 123 Dos Passos, John 73 Dreyfuss, Carl 25 Drummond-Hay, Lady Grace 32 Durian, Wolf 55–57 Dwinger, Edwin Erich 29 Edschmid, Kasimir (i.e. Eduard Schmid) 49, 67 Eggebrecht, Axel 34, 111, 113 Ehrenburg, Ilja 68 Einstein, Carl 47 Euringer, Richard 113 Fallada, Hans 15, 17, 49f., 74, 86, 114 Feuchtwanger, Lion 17, 52, 61, 65, 126 Finck, Werner 39

Fischer, Samuel 48, 112 Flake, Otto 34 Fleißer, Marieluise 32f., 37, 49, 55, 66, 82, 85, 94, 100 Flemming, Hans 133 Flex, Walter 29 Frank, Leonhard 29, 31, 48, 99 Frank, Rudolf 29 Friedrich, Ernst 31 Geiger, Theodor 25 George, Stefan 10, 38, 51, 87, 89 Giese, Fritz 28, 36, 43 Glaeser, Ernst 17, 28f., 49, 55, 100, 110 Glass, Frieda 25 Goll, Yvan (i.e. Isaac Lang) 51, 66 Graf, Oskar Maria 17, 54, 97 Grimm, Hans 29 Grossmann, Stefan 7 Grosz, George (i.e. Georg Ehrenfried Groß) 49, 84 Haas, Willy 42 Halfeld, Adolf 37 Harbou, Thea von 35 Hartlaub, Georg Friedrich 13 Hartwig, Mela 37 Hauser, Heinrich 97 Hauptmann, Gerhart 38f. Hemingway, Ernest 114 Hesse, Hermann 55, 85 Hessel, Franz 34, 49, 59, 85 Heym, Georg 50 Hilgers, Gertrud 10 Hindemith, Paul 64, 70 Hinrich, Hans 127 Hirschfeld, Magnus 123 Hoddis, Jakob v. (i.e. Hans Davidsohn) 50 Hörbrand, Marie 25 Hoffstätter, Robert 25 Hohrath, Clara 57 Holitscher, Arthur 104 Holthusen, Hans Egon 86 Horkheimer, Max 114 Horváth, Ödön v. 52, 56, 64 Huebner, Friedrich Markus 34 Ihering, Herbert 21, 59, 128 Jacobs, Monty 59 Jacobsohn, Siegfried 59 Janowitz, Hans 64

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Personenregister Jaspers, Karl 19 Jessner, Leopold 44, 70 Johannsen, Ernst 29, 71 Johst, Hanns 14, 39, 46 Joyce, James 73, 104 Jünger, Ernst 13, 30, 119 Jung, Franz 49 Kästner, Erich 10, 20–22, 31f., 37, 40, 48–53, 55–57, 59, 67, 73–84, 87–89, 92–94, 100, 110, 123, 128 Kafka, Franz 38 Kaiser, Georg 44, 108 Kaléko, Mascha (i.e. Golda Malka Aufen) 8, 10, 15, 17, 21, 32, 51, 53, 55, 85–96 Kantorowicz, Alfred 99 Kasack, Hermann 21, 54, 66 Kayser, Rudolf 36 Kaus, Gina (i.e. Regina Wiener) 32, 37, 55, 97 Kemény, Alfred 40 Kerr, Alfred (i.e. Alfred Kempner) 59 Kessel, Martin 49, 59, 78 Kesten, Hermann 21, 48, 74, 86, 100 Keun, Irmgard 15, 17, 20, 32, 35, 37, 49, 55, 64, 66f., 74, 85, 88, 94 Kiaulehn, Walther 23, 51 Kisch, Egon Erwin 7, 17, 21f., 26, 28, 39, 48, 71, 94, 96–109 Kische, Dorothea 25 Klabund (i.e. Alfred Henschke) 88 Kläber, Kurt 31 Klaus, Albert 49 Köppen, Edlef 30, 49, 114, 120 Kolb, Richard 71 Kollwitz, Käthe 124 Kracauer, Siegfried 24, 25–28, 36, 49f., 58, 60, 63, 68, 94f., 97, 99, 121 Krenek, Ernst 63f. Kreuder, Ernst 54 Küpper, Hannes 14, 54, 65 Kuhnert, A. Artur 54 Lampe, Friedo 54 Lampel, Peter Martin (i.e. Joachim Friedrich Martin Lampel) 46, 55, 68, 99, 127f. Lange, Horst 54 Langgässer, Elisabeth 33, 54 Lania, Leo (i.e. Lazar Herman) 45, 97 Lasker-Schüler, Else 32, 85, 88 Laven, Paul 71 Lederer, Joe 49 Lehmann, Wilhelm 51, 87 Leitner, Maria 32, 97 Leonhard, Rudolf 21 Lewis, Sinclair 49 Lichey, Georg 29 Lichtenstein, Alfred 50 Lindgren, Astrid 56 Loerke, Oskar 51, 87 Londres, Albert 104

Loos, Anita 37 Ludwig, Emil (i.e. Emil Cohn) 99 Lukács, Georg 40f., 73, 99, 104, 106, 111 Lucka, Emil 34 Luckner, Felix Graf von 29 Luft, Friedrich 112 Mann, Erika 32 Mann, Heinrich 38, 99, 123 Mann, Klaus 32 Mann, Thomas 10, 38f., 55, 104 Marchwitza, Hans 99 Marcuse, Ludwig 98 Marinetti, Filippo Tommaso 39, 52 Mehring, Walter 40, 51, 85, 87 Molo, Walter v. 112 Mühsam, Erich 52 Müller, Oscar 18 Musil, Robert 38, 75, 104 Nelissen-Haken, Bruno 49 Neukrantz, Klaus 99 Neumann, Robert 10 Nürnberg, Rolf 118f., 128 Oestreich, Paul 55 Ossietzky, Carl v. 123 Otten, Karl 68 Ottwalt, Ernst (i.e. Ernst Gottwalt Nicolas) 41, 55, 99, 111 Palitzsch, Otto Alfred 70 Panizza, Oskar 43, 52, 64 Paquet, Alfons 45, 105 Pinthus, Kurt 29, 39, 53, 66, 86, 115 Piscator, Erwin 45f., 126, 128, 130 Plessner, Helmuth 7,12f.,19 Plievier, Theodor 16, 29 Plüschow, Gunther 29 Polgar, Alfred (i.e. Alfred Polak) 36, 59, 70, 86 Proust, Marcel 104 Raschke, Martin 54 Reed, John 104 Reger, Erik (i.e. Hermann Dannenberger) 13, 49, 52, 98, 118f. Rehfisch, Hans José 46f., 127f. Reinacher, Eduard 71 Reinhardt, Max 44 Reisner, Larissa 104 Remarque, Erich Maria (i.e. Erich Paul Remark) 13, 15, 29f., 49, 55, 71, 86, 109–121, 132 Renn, Ludwig (i.e. Arnold Friedrich Vieth von Golßenau) 13f., 29, 49, 55, 71, 100, 110, 114, 119 Reuter, Gabriele 33 Richthofen, Manfred von 29 Rilke, Rainer Maria 10, 38, 51, 73, 87, 89 Ringelnatz, Joachim (i.e. Hans Gustav Bötticher) 29, 87f. Roth, Joseph 17, 21, 28, 42, 59, 71, 97, 105

Begriffsregister Rowohlt, Ernst 93 Ruben-Wolf, Martha 126 Rühle-Gerstel, Alice 25 Sanzara, Rahel (i.e. Johanna Bleschke) 33 Sarnetzki, Detmar Heinrich 18 Scharrer, Adam 29 Schauwecker, Franz 29, 31 Schickele, René 64 Schirokauer, Arno 71 Schlesinger, Paul (Sling) 97 Schmitt, Carl 13 Schnack, Friedrich 57 Schnitzler, Arthur 7, 38 Schönlank, Bruno 122 Schönstedt, Walter 55 Scholz, Hermann 25 Seidel, Ina 33 Simmel, Georg 73 Sinclair, Upton 49, 104 Smedley, Agnes 104 Sochaczewer, Hans 56 Sombart, Werner 61 Speier, Hans 25 Speyer, Wilhelm 55, 57 Süskind, W. E. (Wilhelm Emanuel) 55 Stadler, Ernst 54 Stanislavskij, Konstantin Sergejewitsch 46 Stinnes, Clärelore 32 Stratz, Rudolf 49 Suhr, Susanne 25 Tasiemka, Hans 48 Tergit, Gabriele (i.e. Elise Reifenberg) 20, 28, 32, 35, 49, 55, 59, 78, 85, 88, 97, 110

Thiess, Frank 34 Toller, Ernst 17, 39, 46, 47 Traven 106 Tretjakow, Sergej 98 Trier, Walter 56 Tucholsky, Kurt 21, 40f., 51, 59, 89, 102f., 114, 123 Viebig, Clara 33 Vierath, Willy 64 Vogt-Wenzel, Thea 46 Wangenheim, Gustav v. 125 Wassermann, Jakob 98 Wedekind, Frank 43, 52, 55, 64, 82 Wedekind, Kadidja 57 Weill, Kurt 60, 64, 66, 70 Weiß, Ernst 17 Welk, Ehm (Emil) 45 Wells, H. G. (Herbert George) 79 Werfel, Franz 38 Whitman, Walt 54 Winsloe, Christa 55 Witsch, Josef 25 Wolf, Friedrich 44, 46f., 71, 99, 121–133 Zech, Paul 54 Zoch-Westphal, Gisela 86 Zöberlein, Hans 120 Zola, Émile 103, 104 Zucker, Wolf 70 Zuckmayer, Carl 113 Zweig, Arnold 29, 49, 123 Zweig, Stefan 7, 63

Begriffsregister Agitprop 64, 125, 127, 132 Aktivismus 40 Amerikanismus 19f., 28, 36f., 42, 51f., 63–65, 124 Angestellte 16, 18, 20, 22, 24–28, 47, 49f., 53, 67, 82, 94 Arbeiterkorrespondenten 99 Arbeiter-Theater-Bund Deutschlands 125, 127 Augenzeugenbericht 96 Avantgarde 8, 15–17, 24, 39, 48, 51, 60, 77, 79, 93, 99, 104, 110 Behaviorismus 13 Bericht 9, 22, 42f., 57, 72, 97, 102f., 111 Berlin-Romane 248 Bohème 24, 88 Buchgemeinschaften 47

Bürgerliches Trauerspiel 131 Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) 21, 101, 122 Dada(ismus) 16 Dawesplan 16 Dokumentarismus 9, 29–31, 42, 49, 96, 110, 114, 118, 129 Dresdner Kreis 54 Expressionismus 7, 11, 13-16, 18, 21f., 24, 32, 35, 38–40, 42, 47, 50f., 54f., 73, 88f., 91, 96, 108, 117, 121f., 130 Faktographie 98f., 103, 125 Feuilleton 18, 58f., 96, 104

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Begriffsregister Film 7, 20, 22f., 27, 35, 43, 48f., 50, 57, 60, 67–70, 74, 91, 105f., 120, 123, 126, 132 Fin de Siècle 34, 38, 52 Flaneur 75 Flapper 36 Fordismus 16, 19, 36, 56 Fotografie 31, 34, 58f., 67f., 83, 94, 98, 115 Frauenbewegung 122, 124 Frauenroman 49 Freikorps 19, 55, 120 Futurismus 39, 52

Naturalismus 17, 38, 41, 47, 96, 126 Naturlyrik 51, 53f. Neue Frau 18, 24, 32–37, 66, 80, 89, 93, 95f.

Garçonne 36 Gebrauchsanweisung 52f., 83 Gebrauchslyrik 43, 50 Gebrauchswert 14, 20, 22, 43f., 52–54, 61 Generationenromane 47, 113 Girl 20, 33, 36f., 67, 93, 94 Großstadtlyrik 87 Großstadtroman 73f., 104 Gruppe 1925 21

Radio 22, 48, 50, 57, 69–71 Realismus 15, 17, 26, 39, 47, 54, 57f., 96, 119 Reportage, Reportageroman 9, 16, 18f., 21f., 26, 28, 41–43, 47f., 58f., 71, 96–100, 103f., 110 Revue 20, 26f., 36, 61, 63, 94 Romantik 18, 38, 93, 96

Hörspiel 29, 71f., 115 Impressionismus 54 Indirekte Lyrik 52, 76, 89 Jazz 61, 63f. Kabarett 43, 52, 64, 87 Kälte 11f., 26f., 39f., 53, 69, 83, 92, 98, 115, 117, 131 Kinder- und Jugendliteratur 15, 55 Kolportage 37, 58, 61 Krieg 28–31, 57, 71, 96, 100, 106, 109–121 Lost generation 29, 55, 114 Magischer Realismus 51, 54 Melodram 36, 68 Metropole, Metropolisierung 18f., 22–24, 90 Metropolenroman 73 Moderne, Modernität, Modernisierung 7, 15, 17, 27, 30, 38, 50, 83, 91, 104f., 119 Montage 48f., 71, 73f., 104, 106, 108, 119 Moral(satire) 76, 83f.

Oberfläche 7, 53f. Paragraph 218 78, 122–125 Physiognomik 13 Politisches Theater 45 Präzisionsästhetik 8, 98 Presse, Presseroman 47, 58, 78

Schlager 61, 63, 87 Sekretärinnen, Sekretärinnenromane 24, 28, 33, 47 Sport 27, 48, 53, 59, 64–67 Sprachexperiment 50 Stabilisierung, relative 8, 15f. Stationendrama 108 Symbolismus 38 Tanz 20, 37, 61, 63 Tatsachenroman 41, 99 Taylorisierung 19, 36 Technik, Technifizierung 20, 31, 39, 54, 57, 59 Tendenzstück 45 Trivialliteratur, -roman 8, 15, 50, 64 Umfragen 59 Unterhaltung 7, 19, 22, 60–63, 65, 82 Urbanität 14, 56, 66 Varieté 24, 28, 35f., 43, 52, 61, 64 Verismus, veristisch 43, 68, 114 Zeitoper 63 Zeitroman 20, 22, 43, 47, 50, 55, 61, 63f., 74, 111 Zeitstück 15f., 20, 25, 43, 45f., 55, 63, 68, 121–133