Depression und Gesellschaft: Zur Erfindung einer Volkskrankheit [1. Aufl.] 9783839419304

How and why did depression become an epidemic disease? Based on a conceptual history of melancholy and depression, Konst

220 42 2MB

German Pages 370 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Abstract
Vorwort
EINFÜHRUNG
Einleitung
Überblick über den Gang der Untersuchung
INTERPRETATIONEN DER VOLKSKRANKHEIT DEPRESSION
Europäische Analysen der Depression
Psychoanalyse und Depression
Alain Ehrenbergs erschöpftes Selbst
Peter Sloterdijk: Wie der Wohlfahrtsstaat als „Mutterprothese“ Depression erzeugt
Eva Illouz: Depression als Lebensstil einer therapeutischen Gesellschaft
Exkurs: Die neue Sicht auf Selbsthilfe und Depression
Byung-Chul Han: Die „Müdigkeitsgesellschaft“
Marxistische Diagnosen
Depression als antikapitalistische Strategie: der Analytiker Piere Fédida
Eine feministische Sicht: Lisa Appignanesi
IDEENGESCHICHTE DER MELANCHOLIE UND DEPRESSION
Von der Antike in die Moderne
Hippokrates
Aristoteles/Theophrast
Acedia
Protestantismus
Robert Burtons Anatomie der Melancholie
Auf dem Weg zur Aufklärung: Utopie und Melancholieverbot
Bürgerliche Melancholie im Deutschland des 18. Jahrhunderts
Von Griesinger zu Kraepelin
Wilhelm Griesinger
Degeneration: Bénédict Augustin Morel
Der Paradigmenwechsel in der Medizin
Emil Kraepelin – ein deutscher Anstaltspsychiater
Volkskrankheit Neurasthenie und Zweiklassenbehandlung
Die Entwicklung der Psychotherapie aus der Neurologie
USA: Religiöse Wurzeln der Volkskrankheit Depression
Moral Treatment
Die Entstehung der therapeutischen Erzählung der Selbsthilfe aus dem Geist der Erweckungsbewegungen
Exkurs: Von den „Neurotics Anonymous“ zu den „Emotions Anonymous“
Adolf Meyer und die Demokratisierung der Depression
Militärische und politische Wurzeln der Volkskrankheit Depression
Tavistock: Die Entwicklung der Selbsthilfe aus dem Geist der Militärpsychiatrie in Großbritannien
US-amerikanische Militärpsychiatrie
Kybernetik, die Macy-Konferenzen und Public Mental Health
Exkurs: Sozialer Konstruktivismus: Encounter- und Marathongruppen
Exkurs: Mental Health und Scientology
USA: Der Weg in die depressive Gesellschaft
„Nervousness“ in der US-amerikanischen „consumer culture“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts
David Riesmanns „Die einsame Masse“
Schocktherapien: Die Entstehung der neuen biologischen Psychiatrie
Die Entwicklung des Diagnostical and Statistical Manual (DSM)
Die Weiter- und Sonderentwicklungen des Verständnisses von Depression und Psychotherapie in Deutschland
Weimarer Republik
Depression in Nazi-Deutschland: Euthanasie und Miesmacher
Depression, Suizid und Psychotherapie in der DDR
Exkurs: Suizid in Bayern
Von Tellenbach und v. Gebsattel zur Psychiatrie-Enquête
Antipsychiatrie
Ideengeschichte der antidepressiven Psychopharmaka
Pharmakopsychologie
Patentmedizinen und Konsum der (psychischen) Gesundheit in den USA des 19. Jahrhunderts
Der Beginn der modernen Pharmakotherapie
Die Geschichte der Antipsychotika und Antidepressiva
Die Erfindung der Antidepressiva
Hirnchemie
Die Entwicklung der selektiven Serotonin iederaufnahmehemmer
Die Prozac®-Story
Psychoenhancement und Prozac – die chemische Gesellschaftsverbesserung
Kritik des Prozacismus
Die „Gesundheitsgesellschaft“
„Gesundheitsbewegung“ und Selbsthilfe
Gesundheit als Geschäftsfeld
Protoprofessionalisierung: Die Volkskrankheit als Zivilisationsfortschritt
SCHLUSSFOLGERUNGEN
Warum psychische Krankheiten nicht zunehmen
Resümee
Literatur
Index
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Depression und Gesellschaft: Zur Erfindung einer Volkskrankheit [1. Aufl.]
 9783839419304

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Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft

Sozialtheorie

Konstantin Ingenkamp (Dr. phil.), Diplom-Soziologe, ist Leiter der Selbsthilfekontaktstelle Berlin Friedrichshain-Kreuzberg und Heilpraktiker für Psychotherapie.

Konstantin Ingenkamp

Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Konstantin Ingenkamp Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1930-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Abstract | 9 Vorwort | 11

E INFÜHRUNG Einleitung | 15

Überblick über den Gang der Untersuchung | 20

I NTERPRETATIONEN DER V OLKSKRANKHEIT DEPRESSION Europäische Analysen der Depression | 29

Psychoanalyse und Depression | 29 Alain Ehrenbergs erschöpftes Selbst | 38 Peter Sloterdijk: Wie der Wohlfahrtsstaat als „Mutterprothese“ Depression erzeugt | 45 Eva Illouz: Depression als Lebensstil einer therapeutischen Gesellschaft | 51 Exkurs: Die neue Sicht auf Selbsthilfe und Depression | 58 Byung-Chul Han: Die „Müdigkeitsgesellschaft“ | 60 Marxistische Diagnosen | 61 Depression als antikapitalistische Strategie: der Analytiker Piere Fédida | 63 Eine feministische Sicht: Lisa Appignanesi | 65

I DEENGESCHICHTE DER MELANCHOLIE UND DEPRESSION Von der Antike in die Moderne | 73

Hippokrates | 75 Aristoteles/Theophrast | 78 Acedia | 86

Protestantismus | 90 Robert Burtons Anatomie der Melancholie | 91 Auf dem Weg zur Aufklärung: Utopie und Melancholieverbot | 100 Bürgerliche Melancholie im Deutschland des 18. Jahrhunderts | 109 Von Griesinger zu Kraepelin | 111

Wilhelm Griesinger | 111 Degeneration: Bénédict Augustin Morel | 112 Der Paradigmenwechsel in der Medizin | 114 Emil Kraepelin – ein deutscher Anstaltspsychiater | 116 Volkskrankheit Neurasthenie und Zweiklassenbehandlung | 131 Die Entwicklung der Psychotherapie aus der Neurologie | 136 USA: Religiöse Wurzeln der Volkskrankheit Depression | 141

Moral Treatment | 141 Die Entstehung der therapeutischen Erzählung der Selbsthilfe aus dem Geist der Erweckungsbewegungen | 145 Exkurs: Von den „Neurotics Anonymous“ zu den „Emotions Anonymous“ | 150 Adolf Meyer und die Demokratisierung der Depression | 152 Militärische und politische Wurzeln der Volkskrankheit Depression | 159

Tavistock: Die Entwicklung der Selbsthilfe aus dem Geist der Militärpsychiatrie in Großbritannien | 159 US-amerikanische Militärpsychiatrie | 164 Kybernetik, die Macy-Konferenzen und Public Mental Health | 166 Exkurs: Sozialer Konstruktivismus: Encounter- und Marathongruppen | 184 Exkurs: Mental Health und Scientology | 188 USA: Der Weg in die depressive Gesellschaft | 193

„Nervousness“ in der US-amerikanischen „consumer culture“ der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts | 193 David Riesmanns „Die einsame Masse“ | 196 Schocktherapien: Die Entstehung der neuen biologischen Psychiatrie | 204 Die Entwicklung des Diagnostical and Statistical Manual (DSM) | 210 Die Weiter- und Sonderentwicklungen des Verständnisses von Depression und Psychotherapie in Deutschland | 223

Weimarer Republik | 223

Depression in Nazi-Deutschland: Euthanasie und Miesmacher | 226 Depression, Suizid und Psychotherapie in der DDR | 230 Exkurs: Suizid in Bayern | 236 Von Tellenbach und v. Gebsattel zur Psychiatrie-Enquête | 238 Antipsychiatrie | 242 Ideengeschichte der antidepressiven Psychopharmaka | 249

Pharmakopsychologie | 249 Patentmedizinen und Konsum der (psychischen) Gesundheit in den USA des 19. Jahrhunderts | 257 Der Beginn der modernen Pharmakotherapie | 259 Die Geschichte der Antipsychotika und Antidepressiva | 262 Die Erfindung der Antidepressiva | 269 Hirnchemie | 280 Die Entwicklung der selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer | 285 Die Prozac®-Story | 293 Psychoenhancement und Prozac – die chemische Gesellschaftsverbesserung | 297 Kritik des Prozacismus | 309 Die „Gesundheitsgesellschaft“ | 317

„Gesundheitsbewegung“ und Selbsthilfe | 319 Gesundheit als Geschäftsfeld | 322 Protoprofessionalisierung: Die Volkskrankheit als Zivilisationsfortschritt | 331

S CHLUSSFOLGERUNGEN Warum psychische Krankheiten nicht zunehmen | 335

Resümee | 338 Literatur | 345 Index | 361

Abstract

Die Volkskrankheit Depression ist Resultat des Erfolges einer „therapeutischen Erzählung“. Ihre Wurzeln liegen einerseits in den Glaubensinhalten und Strategien der protestantischen Erweckungsbewegungen des 19. Jahrhunderts in den USA, andererseits in den Erfolgen der britischen und US-amerikanischen Militärpsychiatrie zwischen den beiden Weltkriegen und nach dem Zweiten Weltkrieg, die beide, wie anhand der Ergebnisse der „Macy-Konferenzen“ gezeigt wird, aus strategisch-politischen Gründen die Entwicklung einer öffentlichen Förderung der seelischen Gesundheit bewirkten. Durch den neuen Massenwohlstand in den sechziger Jahren und die dadurch ausgelöste Mentalitätskrise fiel diese neue therapeutische Erzählung der Selbsthilfe auf fruchtbaren Boden und der Weg war frei für eine „Volkskrankheit Depression“. Seitdem besteht eine „zunehmend geringere Bereitschaft, psychisches Unwohlsein zu ertragen, sowie eine erhöhte Hilfserwartung gegenüber einer medizinischen bzw. psychosozialen Versorgung.“1 In den seit Anfang der achtziger bzw. neunziger Jahren gültigen Diagnosekriterien DSM-IV und ICD-10 wird – auf Emil Kraepelin zurückgreifend – festgestellt, dass die Krankheit Depression die Summe ihrer Symptome ist. Damit ist ein sich ständig ausweitender Depressionsbegriff vorprogrammiert. Gleichzeitig wird in dieser Zeit die schon vorher entwickelte Medikamentenklasse der Antidepressiva populär. Der Mythos entsteht, dass die Depression über einen Serotoninmechanismus im Gehirn so gut behandelbar sei „wie ein Beinbruch.“2 In der „Gesundheitsgesellschaft“, in der, entsprechend der WHO-Definition von Ottawa (1986), mehr Gesundheit immer möglich ist, wird Depression nun in Form der therapeutischen Erzählung, z.B. in Selbsthilfegrup-

1

Klaus Lieb, Sabine Frauenknecht et al.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie, München 2008, S. 149.

2

Dr. med. Michael Prang im Interview „Depression“. Apothekenmagazin Linda, Oktober 2009, 21/2009.

10 | D EPRESSION UND GESELLSCHAFT

pen, entgegen der Intention sie zu bekämpfen, immer stärker in der Gesellschaft verankert. Grundlage der vorliegenden Untersuchung ist eine Reflexion der ca. 2500 Jahre umfassende Ideengeschichte der Depression/Melancholie und ihrer Therapien im Abendland sowie ein Überblick über die derzeit gängigen kulturwissenschaftlichen Analysen zur gegenwärtig diagnostizierten „Volkskrankheit Depression“.

Vorwort

Seit Juli 2000 arbeite ich in einer Selbsthilfekontaktstelle, einer Einrichtung, die Menschen unterstützt, die eine Selbsthilfegruppe suchen oder eine gründen möchten. Von Anfang an war ich über die starke Nachfrage nach Selbsthilfegruppen zur Krankheit Depression erstaunt. Vorher – ich hatte in Berlin Soziologie studiert und habe als Rettungssanitäter und Taxifahrer gearbeitet – war mir die Bedeutung dieser Krankheit nicht aufgefallen, sie war kein Thema. Anfangs meiner Tätigkeit in der Kontaktstelle begann ich zu glauben, dass die Anforderungen der moderne Gesellschaft depressiv machen. Nur inwiefern? Handelt es sich um eine Pathologisierung sozialer Missstände oder ist die Volkskrankheit Ergebnis eines großen Massenwohlstandes? Ich bemerkte, dass die Volkskrankheit Depression ein relativ junges Phänomen ist. In Deutschland wird sie massiv erst seit dem Jahr 2001 thematisiert; in diesem Jahr wurde das erste von mittlerweile knapp 70 „regionalen Bündnissen gegen Depression“ gegründet. In den USA war die Depression schon ca. 12 Jahre länger Volkskrankheit, spätestens seit der Markteinführung von Prozac® (Fluoxetin) im Jahr 1988. Auch für Kollegen, die wesentlich länger als ich in dem Job waren, war die Volkskrankheit neu. Es gab Fortbildungen für Mitarbeiter von Selbsthilfe-Kontaktstellen, auf denen uns die gängige (und zumindest sehr stark vereinfachende) SerotoninHypothese über Depression näher gebracht wurde, wonach die Depression eine Art Stoffwechselstörung ist, vergleichbar der Diabetes. In der Arbeit mit Gruppen und Betroffenen fiel mir auf, dass die Menschen unter sehr unterschiedlichen Symptomen litten, jedoch trotzdem von ihrem Arzt die Diagnose „Depression“ gestellt bekamen. So kann z.B. Appetitmangel ein Symptom für Depression sein, das Gegenteil, Heißhungerattacken aber auch. Gewichtsabnahme, Gewichtszunahme, zu wenig Schlaf, zu viel Schlaf, gar nicht mehr aus dem Bett kommen bis zu morgendlichen Früherwachen und Bettflucht. Weiterhin gibt es Arten der Depression, die per definitionem nicht mehr als solche zu erkennen sind, wie die larvierte (maskierte) und subthreshold-Depression

12 | D EPRESSION UND GESELLSCHAFT

(unterschwellige D.), die atypische und die agitierte Depression und das „SissiSyndrom“. Dass Depression bei Männern ein komplett anderes Verhalten erzeugt als bei Frauen, ist mittlerweile common-sense: Männer können aggressiv werden, tendieren zu exzessiven Sporttreiben etc. während Frauen passiv werden, sich zurückziehen. Mich erstaunte, dass Menschen mit so unterschiedlichen Symptomen an ein und derselben Krankheiten leiden sollen. Warum gab es im Sommer 2000 nur 10 Selbsthilfegruppen zur Depression, im Sommer 2010 93 Selbsthilfegruppen, im Herbst desselben Jahres 102 und zu Beginn des Jahres 2011 bereits 114 Selbsthilfegruppen zu diesem Thema in Berlin? Mehr Selbsthilfegruppen gibt es zu keiner anderen Erkrankung, und dabei sind die Selbsthilfegruppen, die sich ausschließlich dem eng verwandten Thema der Angsterkrankungen und dem „positiven Denken“ im Allgemeinen widmen, noch gar nicht mitgezählt. Ich stellte mir die Frage, ob Selbsthilfe bzw. die „therapeutische Erzählung“ unterstützende Sozialarbeiter und Psychologen aktiv zu einer weiteren Verbreitung der Volkskrankheit beitragen.

Einführung

Einleitung

„Die Depression ist eine der größten Volkskrankheiten. Dies wurde sehr eindrücklich durch eine weltweit durchgeführte Studie der WHO (Global burden of disease) bestätigt.“1 Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die diese Sätze formuliert, ist die Dachorganisation des Forschungsverbundes Kompetenznetz Depression, Suizidalität und des gemeinnützigen Vereins Deutsches Bündnis gegen Depression e.V.. Diese Organisationen und ihre Untergliederungen sorgen dafür, dass Depression in Deutschland als „Erkrankung“ thematisiert wird. Depression ist also von vornherein als Feld für Ärzte und Psychologen definiert. Doch war das schon immer so? Ist Depression nicht auch eine Erscheinung, die durch die Jahrhunderte und in verschiedenen Kulturen völlig unterschiedlich auftaucht? Depression bzw. Melancholie wird kulturabhängig erzählt: „Eine ausgeprägte Depression wird in hinduistischen und buddhistischen Kulturkreisen oft nicht als Krankheit, sondern vielmehr als besondere spirituelle Einsicht und Erfahrung angesehen.“2 Auch der abendländischen antiken Melancholie lag eine völlig andere Erzählung zugrunde; in der Antike war die Melancholie Adelsprädikat. Erst mit dem mittelalterlichen Christentum wird sie zur Sünde der Acedia. Robert Burton in der frühen Neuzeit nach der Reformation sieht sie dann wieder als Fluch oder Gunst, die Aufklärung kann als Melancholievertreibungsprogramm verstanden werden, die Romantik wendet sich wieder der Melancholie zu. Erst im 19. Jahrhundert mit Wilhelm Griesinger und Emil Kraepelin wird die Melancholie als Depression zu einem Fall für den Arzt. Und erst seit Ende der achtzi-

1

http://www.deutsche-depressionshilfe.de/ (01.04.2011) Die zitierte Studie stammt aus dem Jahr 2001 und besagt, dass in diesem Jahr die Depression die „Volkskrankheit“ mit den schwersten Auswirkungen war.

2

Stefan Weinmann: Mythos Psychopharmaka. Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen. Bonn 2008, S. 55. Vgl. auch: Mikkel Borch-Jacobsen: Making Minds and Madness. From Hysteria to Depression. Cambridge 2009, S. 205.

16 | E INFÜHRUNG

ger Jahre des 20. Jahrhunderts wird Depression langsam aber sicher zur Volkskrankheit. „Depressionen gehören nicht nur zu den häufigsten psychiatrischen Krankheitsbildern, sondern auch zu den häufigsten Volkskrankheiten.“3 Wie und warum sie dazu wurde, ist Thema dieses Buchs. Unstrittig ist der Zeitpunkt der Geburt der Volkskrankheit in Deutschland: Im Jahr 1992 wurde im Kapitel Psychische und Verhaltensstörungen des ICD-10 (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems), der von der WHO herausgegebenen Gesundheitsklassifikation, der auch Deutschland folgt, weitgehend die aus dem Jahr 1980 stammende US-amerikanische Definition des DSM-III (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) aufgenommen.4 Davor war die Depression eine relativ seltene Erkrankung. Die Entwicklung der Depression (bzw. ihrer Vorgängerstörungen wie Melancholie, Neurasthenie und Neurosen) zur medizinisch zu bekämpfenden Volkskrankheit und die Verwirrung über das Wesen dieser Störungen setzt mit der Geburt der modernen Medizin Ende des 19. Jahrhunderts ein. Emil Kraepelin definierte in den 90er Jahren des 19. Jahrhunderts die Depression als erster als Geisteskrankheit, als affektive Psychose. Er führte auch die Bezeichnung Depression für das ein, was damals noch Melancholie genannt wurde. So wie die Tuberkulose oder die Syphilis, deren Krankheitserreger zu Kraepelins Zeiten entdeckt wurden und deren Entdeckung einen Paradigmenwechsel in der Medizin herbeiführten, und bei denen die körperlichen Symptome sehr vielgestaltig sind, und doch niemand an der Krankheitseinheit zweifelt, so soll man nach Kraepelin auch die verschiedenen Ausdrucksformen der Depression beurteilen: „Vielmehr stellen alle Zustandsbilder [des manisch-depressiven Irreseins, KI] nur die wechselnden Erscheinungsformen eines und desselben grundlegenden Krankheitsvorganges dar, die sich in der mannigfachsten Weise miteinander verbinden und ineinander übergehen können.“5

3

Michael Bauer, Anne Berghöfer et al. (Hg.): Akute und therapieresistente Depressionen. Pharmakotherapie – Psychotherapie – Innovationen. Heidelberg 2005, Klappentext. Vgl. auch: Gabriela Stobbe, Anke Bramsfeld et al. (Hg.): Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. Berlin 2006.

4

E. Wittcher: Klinische Psychologie und Psychotherapie, Berlin 2006, S. 36 f. Zum DSM-III vgl. das entsprechende Kapitel hier.

5

Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. Leipzig 1913. S. 1321. Vgl. auch Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch. Depression. Eine sozialwissenschaftliche Studie zu Geschichte und gesellschaftlicher Bedeutung einer Diagnose. Diss. Uni Gießen, FB Gesellschaftswissenschaften 2005 http://geb.unigiessen.de/geb/volltexte/2006/2711/pdf/JurkCharlotte-2006-02-13.pdf, S. 51.

E INLEITUNG

| 17

Das Problem dabei ist bis heute, dass die Depression die Summe ihrer vorher definierten Symptome ist. Die Depression ist nicht wie Infektionskrankheiten durch einen bestimmten identifizierbaren Krankheitserreger hervorgerufen. Sie ist auch nicht durch die Identifizierung eines Erregers diagnostizierbar. Deshalb unterliegt sie nicht der Logik dieser Krankheiten und der gegen diese Krankheiten gerichteten „Magic Bullets“. Und es kommt zur Konfusion: Wo fängt die Depression an? Ist normal frustriertes, der gegenwärtigen krisenhaften Welt durchaus angemessenes Verhalten bereits depressiv also krank und behandlungsbedürftig? Dysthymie (leichte Depression, zu Kraepelins Zeiten „Neurasthenie“) soll seit Kraepelin genau wie die affektive Psychose (mit Wahn verbundene Depression) Ausdruck ein und derselben Krankheit, der Depression, sein. Das gilt auch für den Burnout oder die Anpassungsstörung. Alle Formen sind heute medizinisch behandlungsbedürftig, so der Konsens. Nicht jeder, der hustet, muss zum Arzt, sagt man. Aber leichte Depressionen gehören medizinisch behandelt. Der österreichische Psychiater Siegfried Kasper, der Leiter der psychiatrischen Abteilung der Universitätsklinik in Wien, meint in diesem Sinn, es gäbe „leichte, mittelschwere und schwere Depressionen […] Die meisten Menschen leiden an einer leichten Depression, die gleichwohl behandelt gehört.“6 Was aber ist eine Depression? Der schweizer Psychiater, Gründer der Pharmafirma „affectis“ und Direktor des Münchner Max-Planck-Institutes für Psychiatrie, Florian Holsboer, meint, dass Depression möglicherweise nicht eine bestimmte Krankheit ist: „Unsere Forschung zeigt, dass hinter der Depression ganz unterschiedliche krank machende Mechanismen stecken. Irgendwann kommen wir vielleicht zu dem Ergebnis, dass es nicht eine Depression gibt, sondern zehn Unterformen. Weil es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein einziges Molekül eine so komplexe Erkrankung hervorruft, gehen wir mit unseren Messungen über das gesamte Genom und alle Proteine.“7

Diese Verwirrung ist nicht neu. Für die phänomenologisch-anthropologische deutschsprachige Vor- und Nachkriegspsychiatrie (Ludwig Binswanger, Karl Jaspers, Viktor von Gebsattel) ist das Thema der Depression wie für die Psychoanalyse der Verlust. Wie die Psychoanalyse lehnte auch die anthropologische

6

Aus: Katja Timochomirowa: Verfinsterte Seele. Tagesthema „Winterdepression“ in

7

Weltformel der Seele. Spiegelgespräch mit Florian Holsboer. In: Der Spiegel

der Berliner Zeitung vom 13./14.12.2008. 27.04.2009.

18 | E INFÜHRUNG

Psychiatrie es ab, von „Depression“ zu sprechen. Ludwig Binswanger schrieb 1960, also zu einer Zeit als die Depression noch lange keine Volkskrankheit war: „Wenn wir das Wort Depression so weit als immer möglich vermeiden, so deswegen, weil dieser Begriff heute so verschiedenartige Bedeutungen hat, ja so verwaschen ist, dass er nicht mehr zum Ausgangspunkt einer phänomenologischen Untersuchung gemacht werden kann.“8 1976 meinte der Psychiater R.-E. Kendell an der Universitätsklinik Edinburgh: „In den letzten 50 Jahren, besonders in den letzten zwanzig Jahren [das heißt seit Erfindung der Antidepressiva, K.I.] wurden zahllose Klassifikationen für die Krankheit ‚Depression‘ vorgeschlagen. […] Die Grenzen zwischen Depression und Traurigkeit, depressiver Krankheit und Angstzuständen, affektiver Psychose und Schizophrenie, rekurrenter Depression und Persönlichkeitsstörung sind völlig willkürlich und schlecht definiert.“9

1990 meinte der niederländische Psychiater Herman van Praag: „Seit über 30 Jahren herrscht Verwirrung in der Klassifikation der Depression. […] überlegt man es sich genau, dann hat sich die Situation verschlechtert. Damals wussten die Psychiater wenigstens, dass diagnostisches Chaos herrscht. […] Heute ist dieses Chaos kodifiziert und die Verwirrung gut versteckt.“10 Dieses Chaos herrscht bis heute, trotz oder gerade wegen vieler Bemühungen der Standardisierung, Objektivierung und Reliabilisierung wie in den neuen Auflagen des DSM seit 1980. Man weiß wenig über Depression. Man kann sie nicht definieren. Und noch weniger weiß man, wie sie zu kurieren ist: „Aus klinischen Studien weiß man, dass nur 60% der antidepressiv behandelten depressiv erkrankten Patienten auf eine erste Behandlung mit einem Antidepressivum ansprechen. Von diesen Patienten erreichen ca. 50% keine Remission, sondern zeigen Residualsym-

8

Ludwig Binswanger: Melancholie und Manie. Phänomenologische Studien. Pfullingen 1960, S. 10.

9

R.-E. Kendell: The classification of depression: a review of contemporary confusion. British Journal of Psychiatry, Nr. 129. S.15 ff. (Zit. nach Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004, S. 85 f.).

10 H. M. van Praag: The DSM-IV depression: classification: to be or not to be? Journal of Nervous and Mental Diseases, Bd. 78, Nr. 3, März 1990, S. 148 f. (Zit. nach Alain Ehrenberg, ebda. S. 86).

E INLEITUNG

| 19

ptome. In der Konsequenz entwickeln viele dieser Patienten einen chronischen Verlauf der Depression.“11

Das ist vor allem deshalb ein Problem, weil die Depression volkswirtschaftlich teuer ist: „Untersuchungen zu den Kosten depressiver Erkrankungen liegen vor allem aus den USA und Großbritannien vor. Diese gesundheitsökonomischen Untersuchungen haben gezeigt, dass depressive Erkrankungen ernorm hohe Kosten verursachen, vor allem wenn das Ansprechen auf die Behandlung nur unzureichend ist. Angesichts der finanziellen Belastungen, welche durch die ansteigenden Kosten verursacht durch depressive Erkrankungen in den vergangenen Jahren entstanden sind, spielen in der Gesundheitspolitik ökonomische Gesichtspunkte bei der Evaluation von Behandlungsmöglichkeiten der Erkrankung eine zunehmend große Rolle.“ (Schietsch, ebda.)

Ein wichtiger Grund für die Thematisierung der Depression als Volkskrankheit ist das Erscheinen vermeintlich neuer, wirksamer Antidepressiva, der selektiven Serotonin Wiederaufnahmehemmer (SSRI), auf dem deutschen Markt. 1990 wird Fluctin® (Fluoxetin), amerikanischer Handelsname Prozac®, in Deutschland zugelassen – zwei Jahre nach seiner Zulassung in den USA. 1997 erscheint in Deutschland das erste Buch eines Betroffenen „Ich hatte Depressionen.“ Zitat: „Ich selbst habe nur mit Medikamenten aus der Gruppe der Antidepressiva gute Erfahrungen gemacht. Sie haben die Eigenschaft, oft erst nach mehreren Wochen zu wirken. Anfängliche Nebenwirkungen gehen in der Regel vorüber und sollten vom Kranken überstanden werden. Diese Medikamente greifen direkt in die depressive Erkrankung ein und machen nicht süchtig.“12

Das ist exakt die Botschaft, die bis heute von offizieller Seite wiederholt wird. Antidepressiva vertreiben die Depression. Depression ist demnach heute „wie

11 Kathrin Christine Schietsch: Objekt-Metadaten. Algorithmusgestützte Behandlung stationärer Patienten mit depressiven Erkrankungen im Vergleich zur Behandlung nach freier Arztentscheidung: Eine gesundheitsökonomische Betrachtung des Berliner Algorithmusprojekts. Diss. Berlin Charité 2006. http://www.diss.fu-berlin.de/diss/ receive/FUDISS_thesis_000000002442. 12 Karl Kulitza: Ich hatte Depressionen. Aus der Einsamkeit zu neuer Lebensfreude. Ein Betroffener berichtet. Berlin 1997, S. 152.

20 | E INFÜHRUNG

ein Beinbruch“ (Prang, a.a.O.) behandelbar. Das Problem: Wenn die Medikamente so gut wirken, warum ist die Depression dann so häufig? Die meisten Forscher erklären eine Depression heute laut Ärzteblatt vom 14.01.201013 durch das Zusammentreffen von belastenden Lebensereignissen mit prädisponierenden biologischen Faktoren. Dabei arbeiten Pharmakotherapie, Verhaltenstherapie und IPT (interpersonelle Therapie) Hand in Hand. Stressige Lebenssituationen können nach dieser Vorstellung sowohl psychotherapeutisch als auch pharmakotherapeutisch behandelt werden. Einfach ausgedrückt: Ist der Mensch lange Zeit solchen Lebenssituationen ausgesetzt, so kann das Auswirkungen auf sein Gehirnstoffwechsel haben, der dann mittels Medikamenten ins Lot gebracht wird. Man kann aber auch trainieren, mit den Lebenssituationen besser umzugehen (Verhaltenstherapie) oder seine „soziale Kompetenz“ zu steigern (Interpersonelle Therapie).

Ü BERSICHT

ÜBER DEN

G ANG

DER

U NTERSUCHUNG

Wenn also die Zahl der an Depression erkrankten Menschen ständig steigt, dann kann das nur daran liegen, dass sowohl „stressige Lebenssituationen“ als auch die Vulnerabilität für diese Krankheit zunehmen. Diese „stressigen Lebenssituationen“ werden von vielen Soziologen als Merkmal einer neuen Kultur der Autonomie gesehen. An die Stelle von Gehorsam und Disziplin sind demnach in der modernen Gesellschaft Entscheidungsfähigkeit und persönliche Initiative getreten. Das Individuum wird an Tatkraft und Initiative gemessen, die es somit immer unter Beweis zu stellen hat. Dies bewirke einen erschöpften, depressiven Zustand vieler Menschen. Das ist die These des französischen Soziologen Alain Ehrenberg14 („Das erschöpfte Selbst“) und seiner deutschen Adepten wie der Soziologin Charlotte Jurk15 („Der niedergeschlagene Mensch“) oder der Psycholo-

13 Warum Antidepressiva nicht immer wirken. In: Ärzteblatt, 14.01.2010. http://www. aerzteblatt.de/nachrichten/39675/Warum_Antidepressiva_nicht_immer_wirken.htm. 14 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004. 15 Charlotte Jurk: Der niedergeschlagene Mensch. Depression, eine sozialwissenschaftliche Studie zu Geschichte und gesellschaftlicher Bedeutung einer Diagnose. Giessen 2005 (Diss. FB Gesellschaftswissenschaften) http://geb.uni-giessen.de /geb/volltexte/ 2006/2711/pdf/JurkCharlotte-2006-02-13.pdf.

E INLEITUNG

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gin Elisabeth Summer16 („Macht die Gesellschaft depressiv?“). Diese These ist die in Deutschland am stärksten wahrgenommene. Aber es gibt auch andere Ansätze. Die britische Autorin Lisa Appignanesi behauptet in ihrem Werk „Mad, Bad and Sad. A History of Woman and the Mind Doctors from 1800 until Today“ (2007), Depression sei überhaupt keine zeittypische Erkrankung. Unter einem feministischen Blickwinkel hält sie die Störungen oder Krankheiten Magersucht und PTBS (posttraumatische Belastungsstörung) für zeittypischer. Eine weitere herausragende Ausnahme aus dem Mainstream der kulturellen Interpretationen der Depression ist die These des 2002 verstorbenen marxistischen französischen Psychoanalytikers Pierre Fédida, dass Depression etwas positives, im Grunde antikapitalistisches sei, eine störende Strategie. Dementsprechend hat er ein „Lob der Depression“ verfasst. Dieser Gedanke wird im linksrevolutionären Manifest des „unsichtbaren Komitees“ von 2007 aufgegriffen. Auch der Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han plädiert für ein Zulassen der Depression in Form einer „Müdigkeitsgesellschaft“ als Alternative zu einer erschöpften Gesellschaft. Für zeitgenössische marxistische Theoretiker ist die Volkskrankheit Depression ein Ausdruck des gegenwärtigen Neoliberalismus und letztlich im Kapitalismus essentiell angelegt. Depression fällt unter den Begriff der fortschreitenden Entfremdung. Peter Sloterdijk sieht im Gegensatz dazu die zunehmende Depression als Zeichen eines dekadenten Wohlfahrtsstaates, der ein Zuviel an Gleichheit und „Massenwohlstand“ geschaffen habe. Dieser erzeuge Neid und der führe in die „soziale Depression“. Der israelischen Soziologin Eva Illouz gelingt es, ein Buch über Depression zu schreiben, in dem der Begriff Depression kein einziges Mal erwähnt wird. Ihr geht es um die hinter der Sensibilisierung für Depression stehende „therapeutische Kultur der Selbsthilfe“. Ich werde im ersten Teil alle diese zeitgenössischen kulturwissenschaftlichen und überwiegend psychoanalytisch geprägten Interpretationen der Volkskrankheit Depression vorstellen. Fast alle – bis auf die Analyse von Lisa Appignanesi – übernehmen das katastrophierende Denken in Bezug auf Depression, wonach sich heute die wahre Klimakatastrophe in den Seelen der Menschen abspielt. Dies ist aber ein Mythos, wie ich zeige. Depression oder Melancholie hat es schon immer gegeben, sie sind notwendiger Begleiter des „zivilisierten Menschen“. Deshalb beginnt mein Überblick über Reflexionen der Depression im zweiten Teil deutlich früher. Die Ideengeschichte setzt ein mit der Erfindung der Psy-

16 Elisabeth Summer: Macht die Gesellschaft depressiv? Alain Ehrenbergs Theorie des „erschöpften Selbst“ im Licht sozialwissenschaftlicher und therapeutischer Befunde. Bielefeld 2008.

22 | E INFÜHRUNG

chotherapie in der vorhippokratischen Medizin Griechenlands. Ausgeblendet bleiben die biblischen Stellen, die von Melancholie oder Depression handeln, die Geschichte vom depressiven König Saul und seinem „Musiktherapeuten“ David und das Buch Hiob17, sowie die Heilpraxis des angeblich archaischen „Schamanismus“. Dieser ist heute als Teil der hier zu untersuchenden therapeutischen Erzählung in der esoterischen Szene im Westen wieder modern. Hippokratische Vorstellungen, die Lehre vom Gleichgewicht der vier Säfte, bestimmen die Geschichte der Medizin bis ins 19. Jahrhundert hinein; die Alternativ- und Naturmedizin beruft sich auch heute noch auf Hippokrates, auch die populäre Hirnmythologie von Serotonin und Dopamin, also Säften, die im Ungleichgewicht sein können, ist nicht weit davon entfernt. Die mittelalterliche Acedia wird vorgestellt und ihre Unterschiede zur antiken, aristotelischen Melancholie herausgearbeitet. Darauf folgt eine Darstellung des Klassikers von Robert Burton aus dem 17. Jahrhundert sowie ein kurzer Überblick über Melancholie im Protestantismus, in der Aufklärung und als Reaktion darauf in der Romantik. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts verfolge ich die Entwicklung in Deutschland und in den USA getrennt. Ich unterscheide zwischen einer kontinentalen (deutschen) Tradition in der Folge von Griesinger und Kraepelin und einer durch religiöse Erweckungsbewegungen inspirierten psychotherapeutischen US-amerikanischen Tradition, die sich, nachdem sie sich mit der Psychoanalyse verbunden hat, nach dem Zweiten Weltkrieg weltweit durchgesetzt hat und die seit der Etablierung des DSM-III im Jahr 1980 zu großen Teilen auf die Ideen Kraepelins bezieht und nicht mehr auf die Psychoanalyse. Die Schwerpunkte der Ideengeschichte liegen auf der Darstellung der wichtigen auslösenden Strukturen für das Entstehen einer Volkskrankheit Depression. In meiner Sicht: • Die Entstehung des positiven Denkens und die ersten evangelikalen Mental

Health-Bewegungen in den USA. • Die Verknüpfungen dieser Bewegungen mit der populären US-amerikanischen Kultur und der kapitalistischen Geschäftmacherei in Form der Vermarktung von Patentmedizinen. • Die Ideen Kraepelins und deren Wirkungen.

17 Vgl. dazu: Gary Greenberg: Manufacturing Depression. The Secret History of a Modern Disease. London 2010. Zur Übersetzung von Zitaten: Alle deutschsprachigen Zitate von Greenberg, Healy, Whitacker, Heims, Horwitz/Wakefield, Hirshbein etc. sind von mir aus dem amerikanischen Original übersetzt.

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• Die britische und US-amerikanische Militärpsychiatrie nach dem Ersten Welt-

• • • •

krieg und die Entdeckung der Wirksamkeit der Gesprächspsychotherapie in Gruppen für die posttraumatische Belastungsstörung. Die Macy-Konferenzen nach dem Zweiten Weltkrieg und die „Mental-HealthIdeologie“ als Alternative zum Sozialismus. Die Entwicklung des DSM-III und die Rückkehr zu Kraepelin. Die Entwicklung von patentierbaren Drogen auf Grundlage der organischen Chemie. Die Entwicklung der „Gesundheitsgesellschaft“.

Die Ideengeschichte der Psychopharmaka behandelt die Entwicklungsgeschichte der antidepressiven Psychopharmaka und ihre (pop-) kulturelle Reflexion in den USA. Denn erst die Möglichkeit, die Stimmung pharmakologisch aufzuhellen, macht eine „Volkskrankheit Depression“ sinnvoll und möglich. Tatsächlich wurden die ersten „Antidepressiva“ ausgehend von Nebenwirkungen konstruiert: in einem Fall war man auf der Suche nach Antihistaminika, in einem anderen nach einem Mittel gegen Tuberkulose. So fand man Iproniazid und Imipramin. Das Mittel Iproniazid beruhte auf Hydrazin, einer Stickstoffverbindung, die von der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg als Treibstoff für die „V2“Rakete verwendet wurde. Iproniazid wurde von seinem Entdecker, Nathan Kline, gerne als „Pep-Pill“ bezeichnet. Auch die Erfindung des berühmten Prozac®, zugelassen in den USA im Jahr 1988, in Deutschland 1990, war, wie zu zeigen ist, keineswegs ein gradliniger Weg zum antidepressiven Ziel. Laut dem Psychiater und Pharmakritiker David Healy gab es in den 70er Jahren starke Hinweise darauf, dass die Substanz Fluoxetin möglicherweise ein Bluthochdruckmittel ist, so wie die Beta-Blocker. Und Bluthochdruck war – wie heute auch noch – eine der meist verbreiteten Krankheiten in der westlichen Welt und also für die Pharmaindustrie lukrativ. Es gab damals noch keinen Markt für Antidepressiva. Prozac war auch nicht die erste Substanz, die selektiv nur auf die SerotoninTransporter an den Synapsen ihre Wirkungen entfalten, also ein sogenannter selektiver Serotonin Wiederaufnahme Hemmer, englisch Abkürzung: SSRI. Das erste selektiv serotonerg wirksame Antidepressivum hieß Zimelidin (Handelsname: Normud®). Dieses Medikament wurde im Jahr 1971 in Großbritannien, Schweden und Belgien patentiert – als Mittel gegen Depression. Das Mittel hatte allerdings schwere Nebenwirkungen; es war nur 18 Monate lang auf dem Markt. Auch das 1984 in der Schweiz eingeführte SSRI Fluvoxamin (Handelsnamen: Fevarin® (D), Floyfral® (A, CH)) schuf sich keine Nachfrage und schaffte es nicht zu einem mythischen Status wie Prozac. Als Prozac auf den Markt kam,

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war die Zeit reif für ein Antidepressivum, das die Volkskrankheit Depression bekämpft, für ein „Volksantidepressivum“. Ich werde in dem den Antidepressiva gewidmeten Teil nicht nur auf die Geschichte der modernen Medikamente eingehen, sondern sie in den Kontext einordnen, in den sie gehören: in den der Drogen und Rauschmittel. Wer bestimmt, ob eine Substanz Droge bzw. Rauschmittel (recreational drug) oder Medikament bzw. Arzneidroge (ethical drug) ist? Seit der Patentierbarkeit von bewusstseinsverändernden Substanzen – was Stimmungsaufheller zweifellos sind – bestimmt dies weitgehend die Pharmaindustrie. Um das ethische Niveau ihrer Drogen zu beweisen benötigt sie entsprechende Krankheiten wie z. B. die Volkskrankheit Depression oder auch die „soziale Phobie“, also Schüchternheit, die man bekanntlich auch mit Alkohol bekämpfen kann. „Die Pharmaindustrie“ hat die Volkskrankheit Depression aber nicht erfunden. Wie zu zeigen ist, führten viele Wege zu diesem Ziel, auf denen die Pharmaindustrie natürlich dankbar und aktiv mitmarschierte. Eine davon ist eine spezielle Gesundheitsvorstellung, man kann sagen Gesundheitsideologie, die ich auf die „Neu-Geist-Bewegung“ des Heilpraktikers Phineas Parkhurst Quimby aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückführe. Die Vorstellung einer ärztlich und psychotherapeutisch zu behandelnden Volkskrankheit Depression ist Teil einer „therapeutischen Erzählung“. Ihre Wurzeln lassen sich bis weit ins 19. Jahrhundert zu den ersten, noch evangelikalen Selbsthilfebewegungen in den USA wie z.B. dem Emmanuel Movement zurückverfolgen. Alle Übel und Krankheiten im Leben der Menschen sind nach diesen Vorstellungen Folgen negativen Denkens. Zementiert und kanonisiert wurde diese Glaubensgrundlage der frühen evangelikalen „Mental-Health-Bewegung“ auf den Macy-Konferenzen in den USA nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Volkskrankheit Depression ist somit auch ein Ergebnis des kalten Krieges. Es wird gezeigt, dass eine „Mental-Health-Ideologie“ als Alternative zum Kommunismus ausgearbeitet wurde. Mentale Gesundheit für alle wurde zu einem erstrebenswerten gesellschaftlichen Ziel. Nicht das Sein sollte das Bewusstsein bestimmen wie in der sozialistischen Ideologie, der umgekehrte Weg sollte den Massen nahegebracht werden: Das „positive Denken“ mache reich und glücklich. Diese Ideologie hat sich unhinterfragt durchgesetzt und bestimmt heute neben der esoterischen Szene weite Teile der Politik und Sozialarbeit in Form des „Public Health“. Die Aufblähung der normalen Depression oder Melancholie zur Volkskrankheit dient geschäftlichen Zwecken. Im Teil „Die Gesundheitsgesellschaft“ versuche ich auf die Gefahren dieser Entwicklung hinzuweisen. Der letzte Teil befasst sich deshalb mit der im Entstehen begriffenen Gesundheitsgesellschaft, die die Menschen zu mentaler Gesundheit überredet, indem über die Hebel der Selbst-

E INLEITUNG

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hilfe die Ansprüche auf mentale Gesundheit nach dem Modell der Gouvernementalität bzw. Protoprofessionalisierung in die Menschen hinein transferiert werden. In der Wissenschaft der öffentlichen Gesundheit (Public Health) ist es Konsens, dass Gesundheitschancen erhöht werden müssen, um gesellschaftliche Teilhabe zu garantieren. Im Umkehrschluss heißt das nichts anderes, als dass der „sozial Schwache“, der Arbeitslose, krank sein muss, also zu behandeln ist. Dies geschieht heute durch sozialarbeiterische, vortherapeutische auf „Selbsthilfe“ abzielende Interventionen. Beängstigend ist, dass die WHO-Definition der Gesundheit unhinterfragt allgemeine Deutungshoheit gewonnen hat. Mehr Gesundheit ist demnach immer möglich. Die Gesundheit des Menschen ist laut Weltgesundheitsorganisation ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen („Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity“18). Alles, was „vollständiges Wohlergehen” behindert, ist nun ein Problem der Gesundheit und also über ärztliches Handeln bzw. sozialarbeiterische Prävention zu beseitigen. Gesellschaftliche Lösungswege sind damit ausgeschlossen. In diesem Teil wird gezeigt, wie diese Idee über die „Selbsthilfe“ und deren institutionelle Förderung verstetigt wurde und wird. Am Beispiel der Firma „Healthways“ zeige ich, wie der Selbsthilfegedanke zu einem Teil der kommenden gigantischen Gesundheitsindustrie wird, die letztlich ihren Gewinn daraus zieht, Krankheiten zu heilen, die sie selbst erfunden („disease mongering“ bzw. „condition branding“) hat.

18 http://www.searo.who.int/LinkFiles/About_SEARO_const.pdf

Interpretationen der Volkskrankheit Depression

Europäische Analysen der Depression

P SYCHOANALYSE

UND

D EPRESSION

In diesem Teil werden die wichtigsten zeitgenössischen europäischen1 Interpretationen der Volkskrankheit Depression vorgestellt. Ihnen gemeinsam ist, dass sie, bis auf die marxistischen Analysen, alle psychoanalytisch inspiriert sind und die Volkskrankheit Depression, bis auf eine Ausnahme, als gegebene Tatsache nehmen. Erstaunlicherweise ist aber gerade die Depression die psychische Störung, die sich der psychoanalytischen Behandlung am meisten entzieht, weil die von ihr Befallenen nach psychoanalytischen Vorstellungen in einem vorkonflikthaften Stadium, in der oralen Phase, stehengeblieben sind. Zentraler unbewusster Konflikt bei Depression ist laut psychoanalytischer Theorie der Gegensatz von Anklammerungswünschen und Ablösungstendenzen, der in der oralen Phase (bis zum zweiten Lebensjahr) liegt. Damit ist der Konflikt schwer bewusst zu machen oder aufzudecken, die Erinnerung reicht häufig nicht bis in die auslösende Zeit zurück. Es ist also in der psychoanalytischen Behandlung schwer, einen der Störung zugrundeliegenden Konflikt aufzuspüren, sie also adäquat zu behandeln. Für die psychoanalytisch inspirierte Gesellschaftstheorie gilt das aber nicht. Sie kann sehr wohl Ursachen für den Anstieg der Depression nennen. Die gesellschaftstheoretische Psychoanalyse, wie sie z.B. vom Siegmund-Freud-Institut in Frankfurt/M. vertreten wird, gibt sich gesellschaftskritisch und meldet sich mit eben solchen Themen gerne medienwirksam zu Wort. In der Allianz mit der Frankfurter Schule der Soziologie (Institut für Sozialforschung, Frankfurt/M.), heute hauptsächlich vertreten durch Axel Honneth, werden gerne psychoanalytisch eingefärbte Theorien zur Depression wie die von Alain Ehrenberg oder Eva Illouz in die deutschsprachige Öffentlich-

1

US-amerikanische Interpretationen beziehen sich eher auf das Phänomen Prozac und werden deshalb im zweiten Teil behandelt.

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keit gebracht. Das Leitthema lautet dabei wie folgt: Seit den Tagen der 68erBewegungen hat sich aus Traditionsbeständen der Romantik, Einflüssen der Rockmusik, Wirkungen der elektronischen Medien und dem Wandel der Arbeitswelt ein neuer Individualismus gebildet.2 Anfangs noch emanzipatorisch gestimmt, verdichteten sich dessen Motive im Laufe der Entwicklung immer mehr zu einem Anspruchssystem, das sich gegenüber den Einzelnen verselbstständigte. Die Lust der Selbstverwirklichung wurde immer mehr zur auferlegten Last. Der Freiheit sich zu binden, steht die ständige Gefahr des Verlustes von partnerschaftlichen und familiären Beziehungen und die Mühsal einer Single-Existenz, auf ständiger Suche nach Bindung und Halt gegenüber. Von den Medien und der Werbung werden unerreichbare Selbstbilder und Lebensmuster vorgeführt, die prägenden Charakter annehmen und zum Nacheifern anstacheln. Dadurch wird die Unruhe des eigenen Lebensentwurfs immer in Gang gehalten und die lineare Gemächlichkeit und Vorhersagbarkeit klassischer Existenzen der bürgerlichen Gesellschaft außer Kraft gesetzt. Die Tugenden individueller Verantwortung, persönlicher Einsatzbereitschaft usw. greifen also fortschrittliche Forderungen des bürgerlichen Persönlichkeitsideals auf, verwandeln sie aber in Anforderungen, deren Nicht-Erfüllung die Berufskarriere, die vorher selbstverständliche Grundlage politischer Teilhabe und persönlicher Teilnahme war, nachhaltig gefährdet. Der seit Mitte der 1950er Jahren herangewachsene Individualismus der Selbstverwirklichung habe sich durch Instrumentalisierung, Standardisierung und Fiktionalisierung inzwischen in ein emotional erkaltetes Anspruchsystem verkehrt, unter dessen Folgen die Subjekte zu leiden scheinen. Axel Honneth schließt die Vermutung an, diese Verwicklungen und Verkehrungen der Bedürfnisse in äußere Ansprüche würden in den Individuen Spuren hinterlassen. Es seien deutliche Zeichen neuartiger Formen sozialen Unbehagens und Leidens zu beobachten. (Busch, ebda., S. 202) Damit ist die „Volkskrankheit Depression“ gemeint. Die mittlerweile in einer Minderheitenposition sich befindenden Psychoanalytiker benutzen diese Überlegungen zur Volkskrankheit Depression, um zu zeigen, dass ein gesellschaftlicher Wandel die Menschen depressiv macht und dass Psychoanalyse hier die Antwort ist. Auf den Punkt bringt es Marianne Leuzinger-Bohleber, die Direktorin des Siegmund-Freud-Instituts. Sie zieht die Legitimation für die Therapieform der Psychoanalyse aus der Existenz der Volkskrankheit Depression:

2

Vgl.: Hans Joachim Busch: Spätmoderne Gesellschaft und Depression. In: Stefan Hau et al.: Depression: Zwischen Lebensgefühl und Krankheit. Göttingen 2005, S. 201.

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„Der französische Soziologe Alain Ehrenberg erklärte die Depression zur Krankheit der zeitgenössischen (westlichen) Gesellschaften, deren Verhaltensnormen nicht mehr, wie etwa noch zu Freuds Zeiten, auf Schuld und Disziplin gründen, sondern auf Verantwortung und Initiative. Das spätbürgerliche Individuum scheint abgelöst durch ein Individuum, das die Vorstellung hat, ‚alles ist möglich‘, und geprägt ist von der Angst um seine Selbstverwirklichung, die sich leicht zum Gefühl der Erschöpfung steigern kann. Der ständige, oft nicht bewusste Wunsch, ein ganz besonderes, originelles, von anderen bewundertes und möglichst in den Medien beachtetes Leben zu führen, wird zu einem Druck zur Individualisierung, der in Versagens-, Scham- und Insuffizienzgefühle und schließlich in depressive Symptome münden kann. Die Depression wird so zur Tragödie der Unzulänglichkeit. Depressiven Patienten in tragenden therapeutischen Beziehungen zu Einsichten in die Hintergründe ihres subjektiven Leidens an solcherart empfundenen Unzulänglichkeiten zu verhelfen und sie dadurch von unbewussten Zwängen und Einschränkungen zu emanzipieren, gehört nach wie vor zu den wesentlichen Zielen psychoanalytischer Behandlungen. Analytiker und Analysand versuchen gemeinsam, die Symptome zu entschlüsseln, die den Depressiven mit ungelösten Konflikten seiner Vergangenheit verbinden und unbewusst sein Denken, Fühlen und Handeln mitbestimmen.“3

Ähnlich denkt die französische Psychoanalytikerin Elisabeth Roudinesco in „Wozu Psychoanalyse?“ (Stuttgart 2001) Ihr zufolge leben wir in einer depressiven Gesellschaft, denn psychisches Leiden trete heute vor allem in der Form der Depression auf. Eine innere Leere, trotz aller äußeren Betriebsamkeit, bestimme das Lebensgefühl. Der politischen Hoffnungslosigkeit nach dem Ende der großen gesellschaftlichen Utopien entspricht nun eine private Hoffnungslosigkeit des Einzelnen, der sich ein sinnerfülltes Leben nicht mehr vorzustellen vermag. Und so kämpft er mit den Symptomen seiner Verzweiflung statt mit ihren Ursachen. In den liberalen, westlichen Gesellschaften erträgt man keine Konflikte mehr, obwohl es sie in heftiger Form gibt. Man will sie sofort lösen und die Leute beruhigen, was die Konflikte natürlich noch verstärkt, meint Roudinesco.4 Die Angst vor dem Konflikt entspreche der Angst vor politischen Auseinandersetzungen. So versuche man, die Symptome medikamentös zu bändigen, statt den Ursachen nachzugehen – was bedeutet, sich den Konflikten zu stellen – wozu die Psychoanalyse verhelfen kann. Die unauffällige, konfliktarme, depressive Per-

3

Marianne Leuzinger-Bohleber: Psychoanalytische Erkundungen zu Depression und Hyperaktivität. In: Psychoanalyse aktuell. Onlinezeitung der deutschen psychoanalytischen Vereinigung http://www.psychoanalyse-aktuell.de/therapie/ depression.html.

4

Elisabeth Roudinesco: Wozu Psychoanalyse. TV-Sendung am 22.5.2002 in 3sat kulturzeit http://www.3sat.de/kulturzeit/themen/33038/index.html.

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sönlichkeit ist laut Roudinesco ein sehr modernes Phänomen. Als man sich Ende des 19. Jahrhunderts systematisch der Erforschung psychischer Krankheiten zuwandte, stand eher das auffällige, häufig peinliche Verhalten gestörter Damen („Hysterie“) im Vordergrund. „Was die klinische Seite angeht, so war am Ende des 19. Jahrhunderts das Modell der Neurose die Hysterie: das heißt, die Revolte der Frauen gegen die sexuelle Unterdrückung in der bürgerlichen Gesellschaft“, so Roudinesco. Heute sei das Paradigma der Neurose die Depression, die sich ausdrücke in der Abwesenheit jeglichen konflikthaften Begehrens und der gleichzeitigen Abwesenheit selbst des sexuellen Begehrens. Den Weg aus der Verzweiflung kann laut Roudinesco nur eine Methode weisen: die Psychoanalyse. Diese verteidigt sie in ihrem Buch „Wozu Psychoanalyse?“ gegen jene, die sie zum Auslaufmodell einer vergangenen Epoche erklären wollen. Die Psychoanalyse steckte ihrer Meinung nach allerdings schon immer in der Krise. „Ich frage eher, was die Gründe dafür sind, dass sie heute derartig attackiert wird“, sagt sie. „Ich glaube, das liegt daran, dass sie den Forderungen unserer liberalen depressiven Gesellschaft nicht entspricht. Sie entspricht ihnen nicht, weil sie davon ausgeht, dass der Mensch eine tragische Existenz hat. Sein Begehren ist immer schuldbehaftet und er erreicht nie die Befriedigung all seiner Wünsche.“ (Ebda.) Dieses Bild des Menschen im permanenten Konflikt widerspricht der zeitgenössischen Ideologie schneller Befriedigung aller emotionalen Bedürfnisse – wenn nötig auch mit Psychopharmaka. Der Aufschwung der psychoaktiven Medikamente seit den 50er Jahren habe, so Roudinesco, gemeinsam mit der Entwicklung der Hirnforschung das Bild der menschlichen Seele verändert. Diese werde wie eine Maschine gesehen, deren Fehlfunktionen es möglichst rasch zu beheben gelte. Die Psychoanalyse konnte sich in einer Zeit und innerhalb einer Schicht entwickeln, in der man genügend Muße und finanzielle Mittel hatte, die eigene Seele jahrelang mehrere Stunden pro Woche auf vergangene Verletzungen abzuklopfen. Heute verlangt man von der Therapie die schnelle Wiederanpassung des Patienten an die Norm. Die Psychoanalyse gilt da als zu aufwendig und ineffizient. Dem widerspricht Roudinesco: „Wenn man die Patienten fragt, ob es ihnen hinterher besser geht, sagen zwischen 80 und 90 Prozent der Befragten, ja, es gehe ihnen nach einer Psychotherapie besser. Aber sie würden auch sagen, dass es ihnen nach einem Golfspiel besser geht oder dass, was auch immer sie tun, ihnen mehr hilft als gar nichts zu tun.“ Es könne keine objektive Messung der Effizienz geben, da man auf subjektive Einschätzungen angewiesen sei. „Also ist es eine Illusion und eigentlich Scharlatanerie, die Effizienz von Therapien messen zu wollen.“ (Ebda.) Mit ihrer Absage an naturwissenschaftliche Effizienzkriterien versucht Roudinesco, Freud unangreifbar zu machen. Wirkliche Heilungserfolge durch die

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Psychoanalyse lassen sich zwar nicht nachweisen. Doch das mache nichts, so ihr Argument, gelte gleiches doch auch für andere Therapieformen. Dafür sei Freud der einzige, der Philosophie und Seelenkunde miteinander verbunden habe. Seine Psychoanalyse könne die Erstarrung der depressiven Gesellschaft auflösen, weil sie dem Patient dazu verhelfe, den eigenen Seelenzustand zum gesellschaftlichen Zustand ins Verhältnis zu setzen. Die Psychoanalyse fördere das Denkvermögen, meint Roudinesco. „Das macht intelligent, weil man über sich selbst nachdenkt, statt sich suggestiven Psychotechniken auszuliefern. Denn bei allen anderen Therapien gibt es einen Moment – sei es der Hypnose, sei es der Suggestion, sei es der Verhaltenstherapie –, bei dem man nur versucht, das Symptom zu heilen, ohne über die Bedeutung der Symptome nachzudenken. Ich will nicht sagen, dass sie die Leute verdummen – aber die Psychoanalyse macht sie intelligenter.“ (Ebda.)

Psychoanalyse ist und war ein Steckenpferd des gehobenen, aufgeklärten und intellektuellen Bürgertums. Seit dieses im Verschwinden begriffen ist, sinkt auch unaufhaltsam der Stern der Psychoanalyse. Klassische, hochfrequente Psychoanalyse ist als Therapie zu aufwendig und zu teuer. Deshalb wird sie gegen andere Therapieformen keine Chance haben und vielleicht als eine Art Geheimwissenschaft überleben. Interessant ist, dass bereits Freud genau das geahnt hat. Freud selbst hielt kurz vor Ende des Ersten Weltkriegs eine Ansprache vor Kollegen, in der er sich pessimistisch über die Zielgruppe der Psychoanalyse und deren finanzielle Möglichkeiten und damit auch implizit über die Zukunft der Psychoanalyse im Kapitalismus äußerte: „Gegen das Übermaß von neurotischem Elend, das es in der Welt gibt und vielleicht nicht zu geben braucht, kommt das, was wir wegschaffen können, quantitativ kaum in Betracht. Außerdem sind wir schon durch die Bedingungen unserer Existenz auf die wohlhabenden Oberschichten der Gesellschaft eingeschränkt. […] Für die breiten Volksschichten, die ungeheuer schwer unter den Neurosen leiden, können wir derzeit nichts tun.“

Freud zweifelt an der Bereitschaft des Armen, auf seine Neurosen zu verzichten, „weil das schwere Leben, das ihn erwartet, ihn nicht lockt, und das Kranksein ihm einen Anspruch mehr auf soziale Hilfen bedeutet.“5

5

Siegmund Freud, Gesammelte Werke, Bd. 12, Werke aus den Jahren 1917–1920, Frankfurt/M. 1999, S. 192; hier zit. nach Eva Illouz: Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe, Frankfurt/M. 2009, S. 259.

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Freud ist Zeitgenosse von Emil Kraepelin, dem Begründer der biologischen Psychiatrie und einem der Erfinder der Depression als (biologischer) psychiatrischer Krankheit. Beide wurden im Jahr 1856 geboren. Freud spricht in einem bekannten Aufsatz von Melancholie, die er von der Trauer abgrenzt, meint aber nach modernem Verständnis Depression. Diese Melancholie ist von der Trauer nur graduell abgrenzbar. Melancholie ist nach diesem Verständnis keine Geisteskrankheit. Vielmehr ist Melancholie nach psychoanalytischem Verständnis a priori ubiquitär, ein Ergebnis des „Unbehagens in der Kultur“. Also sind die neuen Erkenntnisse der Psychoanalytiker über die „Volkskrankheit Depression“ gar nicht so neu. Freud beschäftigte sich mit der Frage, wie die Kultur den Destruktionstrieb kontrollieren könne. Er ging davon aus, dass dies mittels „Introjektion“ geschehen kann. Introjektion beschreibt einen Vorgang, bei dem eine äußere Realität (Objekte, Objektqualitäten) nach dem Vorbild körperlicher Einverleibung in das seelische Innere hineingelangt. Die natürlichen Aggressionen richten sich dann nicht mehr nach außen, sondern nach innen, gegen das eigene Ich. Dann äußern sich die Aggressionen als Melancholie bzw. Depression. Depression ist demnach in jeder Zivilisation wahrscheinlich. Freud unterscheidet zwischen zwei Aspekten der „Unlust“ (nach Ehrenberg 2004, S. 145), auf der einen Seite die Angst und auf der anderen Seite die Depression (oder Melancholie). Beide Affekte haben nicht denselben Ursprung. Die Angst beruht auf einem Konflikt: sie wird immer durch eine Gefahr oder durch die Übertretung eines Verbots hervorgerufen. Der depressive Defekt wird aber passiv erlebt und durch einen Verlust erzeugt. Freud hat seine Lehre der Melancholie aus der Trauer entwickelt: „Bei der Trauer ist die Welt arm und leer geworden, bei der Melancholie das Ich selbst. Der Kranke schildert uns sein Ich als nichtswürdig, leistungsunfähig und moralisch verwerflich.“6 Das Problem: da kann die Psychoanalyse nicht wirklich helfen. Es handelt sich nach Freud um einen inneren Schmerz, den man mit äußerem Schmerz vergleichen kann. „Bei körperlichem Schmerz entsteht eine hohe, narzisstisch zu nennende Besetzung der schmerzenden Körperstelle, die immer mehr zunimmt und sozusagen entleerend auf das Ich wirkt.“ (Ebda.) Den Objektverlust kann die Psychoanalyse nicht richtig einordnen, denn in diesem Fall sind die Konflikte „präödipal“ (Ehrenberg 2004, S. 146). Diese Patienten sind laut Psychoanalyse also in einem Stadium stehen geblieben, das der Identifikation mit den Elternbildern vorausgeht. Der Kranke befindet sich noch im symbiotischen Stadium mit der Mutter. Das Subjekt kann keine Objektbeziehung aufbauen. Depression ist also kein neurotisches

6

Siegmund Freud: Trauer und Melancholie. Gesammelte Werke, Frankfurt/M. 1999, Bd. 10, S. 431.

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Symptom7, es fehlt der Konflikt. Diese depressive Störung wird psychoanalytisch auch „narzisstisch“ genannt, weil der Betroffene in einem derart idealen Bild seiner selbst gefangen ist, das ohnmächtig macht und lähmt. Diesen Zug der Depression findet man auch in der berühmten „Typus-melancholicus-Figur“ von Hubertus Tellenbach. Diese Personen brauchen fortwährend Bestätigung durch die anderen und sie können davon abhängig werden. (Ehrenberg 2004, S. 147) Es ist klar, dass psychotherapeutische Gruppentechniken wie die in Selbsthilfegruppen ausgeübten diese Struktur verstärken und begünstigen können. Der depressiven Persönlichkeit gelingt es nicht, erwachsen zu werden und die Frustrationen, die das Leben bereithält, kann sie nicht akzeptieren. Das sind keine „guten“ Patienten für die Psychoanalyse. Bei ihnen dominiert ein Gefühl von Unsicherheit und Labilität. Es fehlt die „Schuld“, die notwendig ist, um einen Bezug zum „Gesetz“ herzustellen, das wiederum Angst erzeugt. Ohne diese Schuld, die Angst erzeugt, ist aber nach psychoanalytischer Vorstellung die Herausbildung von Identität, also eines stabilen und permanenten Selbstgefühls nicht möglich. Daher rührt die besondere Schwierigkeit der Depressiven, Leiden zu ertragen und die fortwährende Suche nach Wohlbefinden. Deshalb ist die depressive Persönlichkeit nach psychoanalytischer Vorstellung auch besonders anfällig für Sucht. Die Depression ist hier in der Terminologie der „strukturellen Störungen“ der neueren psychoanalytischen Literatur8 beschrieben. Damit ist vor allem die „Borderliner-Störung“ gemeint, nach ICD-10-Kategorisierung eine Persönlichkeitsstörung. Dieser liegt nach psychoanalytischer Theorie eine mangelnden „Angsttoleranz“ zugrunde. Vorherrschende Abwehrform ist die Spaltung und nicht die Verdrängung. Borderliner-Persönlichkeiten leben im „Hier und Jetzt“, verleugnen also die Zeitlichkeit und sind deshalb schwer (analytisch) zu therapieren bzw. sehen dazu keine Veranlassung: „Die Spaltung bewirkt also ein Leben im ‚Hier und Jetzt‘ und entpuppt sich unversehens als Ermöglichung eines heute viel gepriesenen Lebensideals, das Befreiung von den Belastungen und Einschränkungen verspricht, die sowohl die Vergangenheit wie die Zukunft der jeweiligen Gegenwart auferlegen.“9

7

Ehrenberg 2004 (S. 120) beschreibt die Depression an anderer Stelle deshalb auch als „Borderliner-Störung“.

8

Vgl. z.B.: Otto F. Kernberg: Borderliner-Störungen und pathologischer Narzissmus.

9

Alice Holzhey-Kunz: Daseinsanalyse. In: Alfried Längle, Alice Holzhey-Kunz: Exis-

Frankfurt/M. 1983 tenzanalyse und Daseinsanalyse. Wien 2008 (Hervorhebung i.O.). Hier ist also die Abwehrform der Spaltung „heute besonders zeitgemäß“, geschuldet der Forderung

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Die Psychoanalytiker können also den Borderliner- wie den depressiven Patienten kaum helfen10, sie geben daher eher globale, also soziologisch-philosophische Erklärungen für die Zunahme der depressiven Persönlichkeit ab. Demnach gibt es zu wenig Verbote, daraus resultiert ein Fehlen jedes Kampfes. Aber wer nicht kämpft kann auch nicht gewinnen, es kann also keinen „objektbezogenen Sieg auf der Ebene der Wirklichkeit des Ödipus“ (Ehrenberg 2004, S. 151) geben. Das Fehlen eines solchen Sieges droht die Genussfähigkeit deutlich zu verringern und die Betroffenen auf eine Dialektik von Depression-Antidepression zu beschränken. Die Psychoanalyse ist also auch direkt von der antiautoritären Revolution der späten 60er Jahre betroffen: Ihr gehen die Patienten aus. Die Psychoanalyse nach der Kinderanalytikerin Melanie Klein betrachtet den Narzissmus als den maßgeblichen Unterschied zwischen Trauer und Depression. Die Grundlage für Depression liegt auch hier in der frühen Kindheit. Die Bedürfnisse des Kindes werden in der oralen Phase nicht hineichend oder übergebührend befriedigt. Das Baby bekommt von seiner Mutter die Brust um Nahrung aufzunehmen. Wenn die Mutter das Kind von der Brust nimmt und es noch Hunger hat, so schreit es. Üblicherweise setzt die Mutter das Kind dann wieder an die Brust und das Kind kann weiter trinken. Diese kurzzeitige Frustrationsphase, während das Kind schreit, und die darauf folgende Zuwendung trainiert das Kind. Es lernt in diesen und ähnlichen Situationen, dass, auch wenn es kurzzeitig frustriert ist, dennoch alles gut wird. Es ist niemals ganz verloren. Das schafft ein Vertrauen zu seiner Bezugsperson. Dieses Vertrauen löst sich in der weiteren Entwicklung von der Bezugsperson in eine Allidentität, unabhängig von einer bestimmten Person. Dieser innere Schatz ist das Urvertrauen. Im späteren Leben mit einem Objektverlust (Tod, Trennung etc.) konfrontiert, kann die Person darauf zurückgreifen. Eine Realisierung des Verlustes ist möglich, da das Urvertrauen den Menschen von innen stützt und ihn wissen lässt, dass er auch ohne das geliebte Objekt noch lebensfähig und sich selbst genug ist. Erfährt der Mensch in der oralen Phase keine Zuwendung oder lernt nicht, auch ohne Zuwendung zu existieren, bleibt er in der oralen Phase stehen. Er ist weiterhin von der Triebbefriedigung abhängig, die für diese Phase typisch ist, er braucht immer

nach immer mehr „Flexibilität“ und die Borderline-Störung eine neue „Volkskrankheit“. 10 „Kaum“ heißt, sie können schon durch „psychoanalytische Kurztherapie“, die aber eher eine „interpersonelle Therapie“ (IPT) ist. Bei Depressionen spielt die Kurzzeittherapie dann eine Rolle, wenn begrenzte Krisen, wie zum Beispiel eine Trennung, der Auslöser sind. Es geht dann, nach ICD-10, um eine Anpassungsstörung.

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die Zuwendung anderer Personen, da das Ich in der oralen Phase nicht erfahren hat, dass es auch alleine Krisen meistern kann. Das Ich ist in seiner Selbstachtung immer abhängig von anderen Personen (so wie es in der oralen Phase abhängig von der Fürsorge einer Bezugsperson war). Und genau deshalb gibt es so viele Selbsthilfegruppen zum Thema Depression. Die Mutterbindung und damit die Mutter ist nach Klein also an allem schuld. Die Mutter ist das verlorene Objekt, das in der Depression betrauert wird. Männer und lesbische Frauen haben es nach der Theorie am einfachsten, sie können sich eine Ersatzmutter (eine andere Frau) beschaffen, für heterosexuelle Frauen ist das schon schwieriger. Deshalb sind sie laut psychoanalytischer Theorie auch häufiger als Männer von Depression betroffen. Frauen (und schwule Männer) müssen immerhin erst einmal die Leistung vollbringen, ihren Mann als eine Art Ersatzmutter zu sehen. Für Mann und Frau stellt der Verlust der Mutter normalerweise eine biologische und psychische Notwendigkeit dar, die erste Stufe der Autonomisierung. Die Psychoanalytikerin Julia Kristeva schreibt dazu: „Der ‚Muttermord‘ ist unsere Lebensnotwendigkeit, conditio sine qua non unserer Individuierung. Vorausgesetzt wird, er erfolgt auf optimale Weise und kann erotisiert werden: sei es, dass das verlorene Objekt als erotisches Objekt wiedergefunden wird (im Fall der männlichen Hetero- und der weiblichen Homosexualität), sei es, dass das verlorene Objekt kraft unerhörter und nur zu bewundernder symbolischer Anstrengung in der/das Andere (das andere Geschlecht im Fall der heterosexuellen Frau) erotisiert wird oder in der die kulturellen Konstruktionen in ein ‚sublimiertes‘ erotisches Objekt verwandelt werden.“11

Wenn das nicht gelingt, kommt es zur Depression: Das je nach Individuum und Toleranz des umgebenden Milieus mehr oder minder Gewalttätige des muttermörderischen Impulses führt im Fall seiner Hemmung zur Inversion auf das Ich: Da das mütterliche Objekt introjiziert ist, folgt statt des Muttermordes der depressive oder melancholische Mord am Ich. „Um Mama zu schützen, töte ich mich…“ (Kristeva, ebda., S. 36 f.) Beim Depressiven kommt es dann zu einem spektakulären Zusammenbruch des Sinns. Den Depressiven mutet sein Sprechen wie eine fremde Haut an. Der Melancholiker ist ein Fremder in seiner Muttersprache. Er hat den Sinn für seine Muttersprache – ihren Wert – verloren, da er die Mutter nicht verloren (bzw. überwunden) hat. Die tote Sprache, die er spricht und die seinen Selbstmord ankündigt, kaschiert, so Kristeva, das lebendig begra-

11 Julia Kristeva: Schwarze Sonne. Depression und Melancholie. Frankfurt/M. 2007, S. 36.

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bene Ding. Depression kann psychoanalytisch darüber hinaus aber auch als eine auto-sadistische Reaktion verstanden werden. Sie kann deshalb mit Lustgefühlen besetzt sein. Die Selbstquälerei ist genießbar. Psychoanalyse in konservativer Weise auf die Gesellschaft bezogen kann man auch so beschreiben: der Sozialstaat ist die nährende Mutter, das nicht zu verlierende Objekt. Die Individuierung, Abnabelung vom Sozialstaat gelingt vielen nicht. Und diese verfallen der Depression. Tatsächlich ist das der Kern der konservativen Ursachenzuschreibung für die Volkskrankheit Depression. Hauptproblem ist deshalb der Sozialstaat. Dieser gehört nach diesem Verständnis abgeschafft. Diese Meinung wird z.B. von Peter Sloterdijk (s.u.) vertreten.

ALAIN E HRENBERGS „ ERSCHÖPFTES S ELBST “ „Die Depression ist eine gesellschaftlich akzeptable Störung, dafür verliert sie aber ihre medizinische Bedeutung. Sie wird zu einem semantischen Attraktor.“ (Ehrenberg 2004, S. 114) Aber wer ist die Gesellschaft? Es gibt nichts dergleichen! Es gibt einzelne Männer und Frauen, es gibt Familien, und keine Regierung kann etwas ohne die Menschen tun, und Menschen denken in erster Linie an sich selbst. Es ist unsere Pflicht, zuerst an uns selbst zu denken, und danach auch unseren Nachbarn zu helfen. Das Leben ist eine wechselseitige Angelegenheit, aber die Menschen denken vor allem an ihre Ansprüche, weniger an ihre Pflichten […]. ( Margret Thatcher: Interview mit Women’s Own, 23.9.1987)

Das Buch des französischen Soziologen Alain Ehrenberg ist vielleicht das erfolgreichste soziologische Fachbuch über Depression in Deutschland, seine soziologische Theorie zum Thema die am meisten rezipierte.12 Das ist erstaunlich,

12 Alain Ehrenberg: Gesellschaftlicher Kontext. In: Gabriela Stobbe, Anke Bramsfeld et al. (Hg.): Volkskrankheit Depression? Bestandsaufnahme und Perspektiven. Berlin 2006.

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denn die französische Psychiatrie hat sich anders entwickelt als die amerikanische oder die deutsche: „Kraepelins Forschungsergebnisse, die weltweit anerkannt wurden, stießen in Frankreich auf reservierte Reaktionen.“13 Mit Jacques Lacan und seiner Schule ist die Psychoanalyse in Frankreich viel stärker verwurzelt als in den USA oder in Deutschland. Ende der 60er Jahre, so Ehrenberg, strahlt die Psychoanalyse hell in die französische Psychiatrie. „Viele Ärzte machten eine Analyse und viele von ihnen wurden später zu führenden Persönlichkeiten der französischen Psychiatrie.“14 In den USA war zu dieser Zeit der Stern der Psychoanalyse in der Psychiatrie schon im Sinken begriffen. Ehrenberg meint, dass es bis heute zwei Traditionen der Psychiatrie gebe – eine psychoanalytische und eine „neo-kraepelinsche“ (Ehrenberg. ebda., S. 120). Das gelte für Frankreich weit stärker als etwa für die USA oder Deutschland, wo es nur die neo-kraepelinische gebe. Nach Ehrenberg ist die depressive Persönlichkeit Ausdruck des zeitgenössischen Sozialcharakters. Das depressive Syndrom als Persönlichkeitsmerkmal (oder -störung) ist für Ehrenberg weder neurotisch noch psychotisch, es liegt genau auf der Grenze und ist dementsprechend eine „Borderline-Störung“. (Ebda., S. 120) Der Neurotiker ist ein Konfliktmensch, der Depressive ist unfähig seine Konflikte auszutragen. Dies ist auf die gesellschaftliche Individualisierung zurückzuführen. Die Depression wird für Ehrenberg wie für konservative Gesellschaftstheoretiker durch den Überfluss in den Konsumgesellschaften hervorgebracht. Man beobachtet die Depression seit den „goldenen 30er Jahren“ – wohlgemerkt immer in Frankreich. Zum Massenphänomen wird sie in den 60ern. Sie wird zu „einer Grammatik des Inneren für die Massen“. Verantwortlich sei ein therapeutischer Stil, der sich von Amerika kommend in Frankreich ausbreite. „Er verspricht inneres Wohlbefinden durch Abschaffung äußerer Zwänge.“ (Ebda., S. 136) Gemeint sind damit Praktiken wie die Gruppentherapien, die Urschreitherapie oder Bioenergetik, gemeint, aber nicht ausgesprochen sind auch die auf der humanistischen Psychologie beruhenden Techniken der Selbsthilfegruppen. Es gibt in Frankreich – sehr im Unterschied zu den USA und Deutschland – kaum eine gewachsene Kultur der Selbsthilfegruppen. Erst seit kurzer Zeit gibt es im Zusammenhang mit dem „Guerre des psys“ „patient advocacy groups.“15

13 Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2005, S. 65. 14 Alain Ehrenberg: Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart. Frankfurt/M. 2004, S. 108. 15 Borch-Jacobsen 2009, S. 220 ff . Seit Mitte der nuller Jahre machen Patientengruppen gegen die Übermacht der Psychoanalyse in Frankreich mobil und fordern eine „demo-

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Die gesellschaftliche Aufgabe der Gruppentherapien besteht laut Ehrenberg darin, die Vorstellung in der Praxis zu verankern, dass die Gesellschaft das Mittel zur Verfolgung persönlicher Ziele sei. Es geht um Emanzipation: Man hat von den psychischen Konflikten nichts zu erwarten und es gibt nichts zu verstehen. Es geht darum: wie kann man voll und ganz leben? Die neuen Therapien vermitteln durch die Beziehung zur Gruppe Ersatznormen. So will man einerseits selbstständig leben, andererseits ist man auf der ständigen Suche nach Anerkennung durch die anderen. Ehrenberg kritisiert den auch in der Selbsthilfe und von vielen therapeutischen Richtungen vertretenen Glauben, man könne sich selbst vervollkommnen, ständig weiterentwickeln und irgendwann zu einer von dem Psychologen und Begründer der humanistischen Psychologie Carl R. Rogers postulierten „fully functioning personality“ werden („Aktualisierungstendenz“). Wer so denkt, der pathologisiere unfreiwillig alles, was nicht optimal ist, auch sich selbst. Auch deshalb gebe es in unserer Kultur viel mehr psychisches Leid als früher. Die neuen Therapien und vor allem die Therapien im Zusammenhang mit objektivierendem, rationalen Wirtschaftsdenken tragen ihren Teil dazu bei. Gefühle werden zu Objekten gemacht, die man ausdrücken, rechtfertigen und gegebenenfalls verändern kann. Damit setzt man Emotionen rationalen Standards aus, wodurch man sie in ihrer Eigenständigkeit verkennt. Parallel zu Gruppentherapien und „New-Age-Therapien“ spielt in Frankreich immer noch die Psychoanalyse eine starke Rolle. Diese in ihr Recht zu setzen ist Ziel Ehrenbergs. Seine Arbeit erschien zuerst 1998 in Frankreich, übersetzt 2004 dann in Deutschland. Das Buch wurde in vielen deutschen Feuilletons besprochen und gefeiert und die grüne Parteistiftung „Heinrich-Böll-Stiftung“ (18.01.2008) hat den Autor eingeladen, um mit ihm über seine Thesen zu sprechen. Viele deutsche Autoren, die sich kritisch zur Depression äußern, beziehen sich überwiegend auf ihn (Charlotte Jurk, Stefan Hau etc.) oder sogar ausschließlich (Elisabeth Summer). Das ist erstaunlich, denn Ehrenberg sieht den Siegeszug der Depression als späten Triumph des französischen Philosophen und Psychiaters Pierre Janet (1859–1947) über die Psychoanalyse Freuds. Der in Deutschland relativ unbekannte Janet gilt als Vorläufer und Quelle Freuds, er hat den Begriff des Unbewussten geprägt. Was Ehrenberg mit diesem Vergleich zeigen will, ist, dass das Konzept der Depression und die Ubiquität der Depression ein Rückfall von der Aufklärung (Freud) in die (unaufgeklärte) Zeit davor ist. Ehrenberg ergreift Partei für Freud und die Psychoanalyse: Sigmund Freuds Entdeckung des Unbewussten und der kindlichen Sexualität hatte zu Beginn des

kratische Psychotherapie“. Vgl.: Tobie Nathan: La Guerre des psys: manifeste pour une psychothérapie démocratique. Paris 2006.

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20. Jahrhunderts das Verständnis des menschlichen Seelenlebens (und seiner Erkrankungen) grundlegend revolutioniert. Jeder Mensch, so Freud, hat im Verlaufe seiner Entwicklung das ganze Drama der menschlichen Zivilisation noch einmal durchzuspielen. Er muss seine Triebe in den Griff bekommen und sich mit seiner Kastrationsangst arrangieren. Die psychoanalytische Therapie sollte den Patienten bei der Aufarbeitung schlecht bewältigter Konflikte unterstützen, damit dieser zu einem selbstbestimmten Leben frei von neurotischen Zwangshandlungen, Ängsten und inneren Blockaden findet; damit er zum autonomen Subjekt wird. Ehrenberg beschreibt, wie diesem „Konfliktmodell“ der menschlichen Entwicklung (und ihrer Irrwege) schon vor Freuds Zeit Konkurrenz seitens eines viel einfacher konstruierten Modells psychischer Erkrankungen erwuchs: Das ältere auf Janet zurückgehende „Defizitmodell“ der medizinischen Psychiatrie und der Verhaltenspsychologie begreift den Menschen als eine Maschine. Wenn sie nicht mehr funktioniert, muss sie entweder neu aufgeladen oder geflickt werden. Freud will aufklären, Janet will reparieren. Geschichte vergegenwärtigen will der eine, sie vergessen machen der andere. Die Schuld ist für Freud die zentrale Kategorie, und also geht es ihm um einen aktiven Patienten, der seine Konflikte zu bearbeiten lernt. Für Janet ist es die Funktionsstörung, also versteht er den Patienten als einen, der den Arzt als Mechaniker braucht. Janets Auffassungen werden die europäische Geschichte der Depression prägen, meint Ehrenberg. Aber häufig ohne Verweis auf ihn. In den USA und in Deutschland wird Emil Kraepelin als Erfinder oder Gründervater der biologischen, defizitorientierten Psychiatrie benannt. Freuds Subjekt hingegen kommt unter die Räder. Die Bewältigung der Angst, man selbst zu werden, die später auch für den Analytiker Jacques Lacan im Zentrum steht, wird als Konzept von den Reparaturkünsten verdrängt. Seit den 70er Jahren wird die Depression in Frankreich zur verbreiteten Krankheit. (Ehrenberg 2004, S. 123) Zugleich erleben die Menschen eine erhebliche Verbesserung der Lebensbedingungen. Die hierarchische Konzeption des Lebens befindet sich auf dem Rückzug. Die Regeln des Gehorsams gegenüber moralischen oder religiösen Kanons weichen zugunsten von Modellen, die der Interpretation und Überwindung innerer Probleme dienen. Die Medien befreien ihre Leser von Schuldgefühlen und liefern die Worte zur Formulierung psychischer Probleme. Sie bereiten dem Psychischen einen öffentlichen Raum und prägen den Stil einer Psychologie für die breite Masse. Denn die Innenwelt ist nicht nur in den Köpfen der Menschen, sie ist zugleich deren gemeinsame Welt: Sie setzt Akteure voraus, die eine Sprache sprechen, die jeder versteht und sich aneignen kann, um auszudrücken, was er in seinem Inneren fühlt. Die Wahrnehmung des Inneren verändert sich dadurch. Es ist nicht mehr nur der Ort des Ge-

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heimnisses, dessen, was einen selbst angeht oder der Gewissensfreiheit, es wird zu dem, was es ermöglicht, sich von einem Schicksal zu befreien und sich sein Leben aussuchen zu können. Ehrenberg begründet seine Beobachtungen empirisch mit einer Inhaltsanalyse von Frauenzeitschriften. Früher wurde autoritär und präskriptiv beraten. Das ist ihr Problem und das müssen Sie tun. Man erklärte der Leserin, wie sie eine institutionalisierte Rolle zu spielen habe, z.B. als Gattin, Mutter, in Gesellschaft etc.. Es ist die Zeit der häuslichen Disziplin. Um 1970 änderte sich dies, beobachtet Ehrenberg. Der Leserinnenschaft wird in Marie Claire erklärt, dass das Gleichgewicht einer Frau von den guten Beziehungen zu sich und zu ihrer Umgebung abhänge. Durch Psychoanalyse, aber auch Psychodrama und Gruppendynamik könne die Person ihre frühesten Erlebnisse, die ihre Beziehungen zu sich selbst und zu ihrer Umgebung strukturieren, noch einmal erleben: „Man entdeckt dabei, als schaue man von außen zu, wie sich die eigenen Reaktionen mit denen der anderen verwirren. Man geht allmählich aus sich und seinem geheimen Gefängnissen heraus. Tastend schafft man sich neue Beziehungen und man sieht, wie sich das eigene Leben verändert.“ (Ehrenberg 2004, S.124) Die Frauenzeitschrift Marie Claire gibt also ähnlich einem Selbsthilfehandbuch Anleitung, man selbst zu sein und sich selbst zu verwirklichen. Jetzt, so scheint es, ist alles möglich. Diese so erlangte oder aufoktroyierte Freiheit, meint Ehrenberg, fordert ihren Preis – denjenigen der Überforderung, der inneren Leere, der Depression. Die Subjekte tun alles, um nicht depressionsbedingt aus dem Rennen zu scheiden. Die Selbsthilfe-Bewegung, die gegenwärtig im Gange ist, sei deshalb nicht auf Protest und Weigerung aus; sie sage vielmehr der Depression den Kampf an. Dass heute allerorten von Depression die Rede ist, habe auch den Sinn einer innergesellschaftlichen Feinderklärung. Depression wird zum lästigen Störenfried, der wie Stress-Kopfschmerz in pharmakologischer Eigenbehandlung vertrieben werden kann. Die Pharmaindustrie arbeitet, wie Ehrenberg meint, maßgeblich an einem Menschenbild mit, demzufolge wir uns über naturwissenschaftliche Techniken selbst steuern. Schönheit, Gesundheit, Leistungsfähigkeit, Potenz, Jugend und Gut-drauf-sein, all diese vom präsentativen Selbst angestrebten Eigenschaften verspricht uns die moderne Pharmaindustrie. Der dafür benutzte Begriff lautet „Enhancement“ (s.u.). Doch es kommt anders: Ausgelaugt vom unaufhörlichen Druck, sich als Selbst auf dem Markt anzubieten, verliert das Subjekt seine Motivation, von Antriebslosigkeit, von Müdigkeit befallen, man selbst zu sein, droht es in die Depression zu versinken. Ehrenberg vergleicht Depression am Ende des Buches mit Science-Fiction-Filmen von David Cronenberg. Die Depression lehrt uns demnach dasselbe über die Gesellschaft wie die

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Filme David Cronenbergs: „Die Herrschaft über die Körper bedeutet nicht die Beherrschbarkeit der Körper.“ In einem Interview mit der taz (13.07.2009) antwortet Ehrenberg auf die Frage: F: „Sie sagen, die Depression sei die typische Pathologie des demokratischen Menschen. Heißt das, dass Depression die notwendige Kehrseite des Lebens in Demokratien ist? A: Ja. Die Melancholie war die Krankheit des Ausnahmemenschen. In der Demokratie soll nun jeder prinzipiell ein Ausnahmemensch sein können. Mit dieser Demokratisierung verliert die Melancholie aber ihre heroischen Momente, sie wird zur Depression, zu einer bloßen Krankheit. F: Ist das also der Preis, den wir zahlen müssen? A: Natürlich muss man einen Preis für die Autonomie zahlen. Aber ich würde das nicht überbewerten. In jedem Gesellschaftstyp gibt es bestimmte Probleme, die die Kehrseite der positiven Werte bilden. Sorgen sind ein Bestandteil menschlichen Lebens – unsere sind auf die Ideale unserer Gesellschaft bezogen; Gesellschaften, in denen andere Werte als die Autonomie im Vordergrund stehen, haben andere Sorgen. Ein nur glückliches Leben kann man sich nicht vorstellen.“

Die Volkskrankheit Depression ist für Ehrenberg – wie für andere Soziologen (vgl. Stw. Protoprofessionalisierung) – auch ein „Zivilisations-Marker“, so etwas wie ein notwendiges Übel auf dem Prozess der Zivilisation. Man kann aber auch zu einer gegenteiligen Ansicht kommen. Die Journalistin Elisabeth von Thadden z.B. sieht inspiriert durch Ehrenberg eine Gefährdung der Demokratie durch die Volkskrankheit Depression. Sie schreibt in ihrem Aufsatz „Der Souverän dankt ab“: „Ehrenbergs Impuls ist eine Sorge um die europäische Demokratie, wie sie bisher nicht formuliert wurde: Mit der Selbstbestimmungsfähigkeit des depressiven Individuums ist auch jene Souveränität gefährdet, die doch weithin als Grundlage sowohl der Staatsbürgerlichkeit als auch der Menschenrechte gilt. Souveränität, die sich darin äußert, auf der sozialen und politischen Ebene handlungs- und konfliktfähig zu sein. Wer nicht mehr entscheiden kann, ohne sich selbst in die Abhängigkeit von Chemikalien zu bringen, hat als Souverän abgedankt. Demokratien, die diesen Weg tolerieren, warnt Ehrenberg, seien in ihren Grundlagen labil. Aber gerade demokratische Wohlstandsgesellschaften seit 1945 bringen die Depression hervor – in allen Altersklassen und Schichten, zunehmend auch bei Männern, stark zunehmend bei denen, die keine 40 sind. Allein in Deutschland gelten jährlich, das ist die niedrigste Schätzung, vier Millionen Depressive als behandlungsbedürftig. Staat und Gesellschaft stehen also vor der neuen Aufgabe, den Einzelnen Wege

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aus der Unmündigkeit zu ebnen. Während das Individuum sich um sein Glück müht, arbeiten die Ärzte seit den dreißiger Jahren an der Differenzierung der Krankheitsbilder, an der Erprobung von Wirkstoffen, und einig sind sie sich nur darin, dass sowohl eine Psychotherapie als auch Medikamente zum Einsatz gebracht werden sollten. Die Klügsten unter den Forschern sprechen bis in die Gegenwart von kodifiziertem Chaos.“16

Ähnlich auch die zweimalige Bundespräsidentschaftskandidatin Gesine Schwan in einer Gedenkrede zum Aufstand am 17. Juni 1953 in der DDR im Jahr 2010. Sie warnt vor aktuellen Gefahren für die Demokratie: „[…] die Menschen richten ihre Wut gegen sich selbst, werden angstvoll depressiv. Depression ist heute vor Krebs- und Herzerkrankungen die am meisten verbreitete Volkskrankheit.“17 Ob die Depression nun die Demokratie gefährdet, oder umgekehrt, ob die Demokratie die Depression als Volkskrankheit hervorbringt, soll hier nicht weiter verfolgt werden. Klar ist, dass es zwischen dem Boom der Volkskrankheit und der zunehmenden „Politikverdrossenheit“ zumindest eine Korrelation gibt. Ehrenbergs Thesen sind in der Soziologie nicht unumstritten. Umstritten ist, ob die Formen der neuen Projektarbeit oder die Forderung nach ständiger Anpassung, nach Flexibilität, nach lebenslangem Lernen etc. depressiv machen. Neuere Studien18 zeigen, dass es so einfach nicht ist. Es gibt demnach zwar einen deutlichen Zusammenhang zwischen („objektiv bewerteter“) Arbeitsintensität und Depression bzw. zwischen Stress bei der Arbeit und der Krankheit Depression bzw. „Erholungsunfähigkeit, vitaler Erschöpfung und Bluthochdruck“ (ebda. S. 117). Die Datenlage für den Zusammenhang zwischen dem „Tätigkeitsspielraum“, der sich auf „Freiheitsgrade“ der Tätigkeit, also auf ihre Flexibilität bezieht, sei aber „heterogen“ (ebda, S. 20). Tatsächlich weisen viele Studien daraufhin, dass Fließbandarbeit oder repetitive Teilarbeit mit keiner Selbstverantwortung viel eher depressiv macht als moderne, flexible Projekttätigkeit mit hohem Freiheitsgrad und Selbstverantwortung. (Überblick ebda.) Dem widerspricht aber wiederum das Aufkommen der Volkskrankheit Depression im „postfordistischen“ Zeitalter.

16 Elisabeth von Thadden: Der Souverän dankt ab. Zeit online 42, 2004, S. 75. 17 Zit. nach Welt online, 17.06.2010, „Die Gedenkrede von Gesine Schwan im Wortlaut“. 18 Renate Rau, Niklas Gebele et al.: Untersuchungen arbeitsbedingter Ursachen für das Auftreten von depressiven Störungen. Dortmund/Berlin/Dresden 2010. Herausgeber: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin.

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P ETER S LOTERDIJK : W IE DER W OHLFAHRTSSTAAT ALS „M UTTERPROTHESE “ D EPRESSION ERZEUGT Der Philosoph Peter Sloterdijk ist kein Psychoanalytiker. Seine Argumentation bezüglich einer depressiven Überflussgesellschaft fußt trotzdem auf psychoanalytischen Grundannahmen – wie bereits der Begriff der Mutterprothese zeigt. Sloterdijk geht in seinem Hauptwerk „Sphären“19 von einer Überflussgesellschaft aus. Diese mache die Menschen träge und depressiv. Erst der Mangel könne „die Habenichtse“ aus ihrer Trägheit erlösen. Das bedeutendste Ereignis in den letzten Jahren ist für ihn der materielle und geistige massenmediale Überfluss in den Industriegesellschaften. Es ließe sich nicht leugnen, dass die Irritationen der gegenwärtigen Gesellschaft, also auch die Volkskrankheit Depression, fast ausnahmslos von ihrem Reichtum erzeugt werden, so Sloterdijk. Die „von sich selbst nicht überzeugte Gesellschaft im Überfluss“, von ihm auch „Verwöhnungsgesellschaft“ (Sloterdijk 2004, ebda. S. 682) genannt, benutze scharf eingestellte Mangel-Optiken, um sich zu beobachten. Jede Verfehlung der Norm werde registriert: Wer von ihr andere Beschreibungen anzufertigen wagt, als die üblichen, politisch und humanistisch korrekten Krisenbilanzen, mache sich als Zyniker verdächtig. Es gebe heute wesentlich mehr freie Zeit als früher. Das bedeutet für Sloterdijk, dass die einzelnen, solange sie der Depression entgehen wollen, sich wichtig nehmen müssen. Wichtig nehmen heißt, sich als Selbstzweck zu setzen; für die meisten bedeutet es, sich zu amüsieren. Es kommt zur Ausprägung von Luxuserscheinungen, wie Zeitluxus (Engagement als Form der Zerstreuung), Modeluxus, Tafelluxus, Mobilitätsluxus und Morbiditätsluxus (also Krankheit als etwas, was man sich leisten kann und demonstrativ vorzeigt) in allen gesellschaftlichen Schichten. Der soziotechnische Kern der Moderne bestehe in der „expliziten Prothetisierung von Mutterleistung“. Der Staat, laut Sloterdijk auf die Politik der Verwöhnung verpflichtet, fungiere seit seinem Umbau zur Wohlfahrts- und Betreuungsagentur als Metaprothese, die den konkreten mutterprothetischen Konstrukten, den sozialen Hilfsdiensten, den Pädagogen, den Therapeuten und ihren zahllosen Organisationen die Mittel zur Erfüllung ihrer Aufgaben in die Hand gibt. Durch seine komplexe Aufgabe als Erziehungsstaat, Komfortstaat, als therapeutischer Staat, als allzuständiger Bereitsteller von Infrastrukturen, Hintergrundsicherheiten und der „wärmenden distributiven Illusion“ allen zu geben, was er hat, wecke der politische Apparat der Überflussgesellschaft in unzähligen passiv-aggressiv gemachten Einzelnen die Empfindung, es falle „in-

19 Peter Sloterdijk: Sphären, Teil III. Schäume. Frankfurt/M. 2004.

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mitten allgemeiner Fülle und universalisierter Kleptokratie“ ausgerechnet für sie nichts ab. (Sloterdijk 2004, S. 804) Das ist eine konservative Interpretation der psychoanalytischen Verlust-Theorie der Depression. So, wie die Bedürfnisse des Kindes nach psychoanalytischer Lesart in der oralen Phase entweder nicht hineichend oder übergebührend befriedigt werden, wodurch es zu depressiven abhängig-fordernden Verhaltensweisen kommt, so können in der „Neidgesellschaft“ die Bedürfnisse aller nicht befriedigt werden, weil alle immer mehr (als ihr Nachbar) haben wollen und – durch den Wohlfahrtsstaat – auch ohne Gegenleistung bekommen können. Dies fördert nach Sloterdijk die Volkskrankheit Depression. Aber nicht nur das: In der Freizeit, verstanden als neuartiger Zeitluxus, habe sich neben dem Mobilitätsluxus, der puren selbstbezüglichen Bewegung, ein System des Morbiditätsluxus (ebda. S. 838) von beispiellosem Umfang ausdifferenziert. Neben der puren selbstbezüglichen Bewegung sei Kranksein die geläufigste Interpretation der Freizeit geworden. Zu diesem Befund tragen die Zivilisationskrankheiten nicht weniger bei als die Psychopathologien, die Suchtleiden und die Sportunfälle. Also ist auch die Volkskrankheit Depression Ausdruck dieses „Morbiditätsluxus“. Auch wo die Krankheit nicht den modus vivendi schlechthin definiere, bleibe sie als ständig ansprechbare Hintergrundmöglichkeit allgegenwärtig – ohne sie sei die Fitnessszene, die Wellness- und Diätkulturen, kurzum eine umfassende „therapeutische Erzählung“ nicht vorstellbar. Das Gespräch über Neurosen und Lebenswiderstände erbringe für Zahllose den Lohn des Problematischseins – meint Sloterdijk. Ist Depression also nur Ergebnis des Luxus in der Wohlstandsgesellschaft? Nicht nur. In dem in sich widersprüchlichen Theoriegebäude Sloterdijks ist Depression auch ganz klassisch-soziologisch der Preis für Individualisierung – von Sloterdijk „Verschäumung“ genannt. Und dies in einem durchaus tragischen Sinn. Heute finde ein akuter Weltkrieg der Lebensformen (alle gegen alle) statt. Wo alles Zentrum geworden ist, gebe es kein gültiges Zentrum mehr; wo alles sende, verliere sich der vermeintlich zentrale Absender im Gewirr der Botschaften. Sloterdijk geht in seiner Weltbeschreibung von Folgendem aus: Das von ihm konstruierte morphologische Leitbild der polysphärischen Welt, die wir bewohnen, ist nicht mehr die Kugel (wie früher, eine Gesellschaft unter einem Leitbild, Gott, Nationalstaat), sondern der Schaum. Die aktuelle erdumspannende Vernetzung – mit all ihren Ausstülpungen ins Virtuelle – bedeute daher strukturell nicht so sehr eine Globalisierung, sondern eine Verschäumung, also eine Auflösung. In Schaum-Welten werden die einzelnen Blasen nicht wie im metaphysischen Weltgedanken in eine einzige, integrierende Hyperkugel hineingenommen,

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sondern zu unregelmäßigen Bergen zusammengezogen. Schäume, Haufen, Schwämme, Wolken und Wirbel dienen ihm als amorphologische Metaphern, die helfen sollen, den Fragen der Innenweltbildungen, Zusammenhangsschöpfungen und Immunitätsarchitekturen im Zeitalter technischer Komplexitätsentfesselung nachzugehen. Was gegenwärtig in allen Medien als die „Globalisierung“ ausgelobt werde, sei in morphologischer Sicht der „universalisierte Krieg der Schäume“. Sloterdijk konstruiert eine zeitgenössische Pathologie der Sphären mit einem dreifachen Fokus: einen politologischen: insofern Schäume tendenziell unregierbare Strukturen sind, die zur morphologischen Anarchie tendieren; einen kognitiven: insofern in Schäumen lebende Subjektverbände und Individuen es zu keiner ganzen Welt mehr bringen können, da ja die Idee der ganzen Welt selbst, in ihrer charakteristisch holistischen Betonung, unverkennbar dem abgelaufenen Zeitalter der metaphysischen Total-Einschlusskreise oder Monosphären angehört; und einem psychologischen: insofern vereinzelte Individuen in Schäumen tendenziell die Kraft zur psychischen Raumbildung verlieren und zu isolierten depressiven Punkten einschrumpfen, die in ein beliebiges Ringsum, Umwelt genannt, versetzt sind; sie leiden an jener Immunschwäche, die durch den Verfall der Solidaritäten ausgelöst wird, an der Depression. Für die sphärenschwache Privatperson wird ihre Lebensspanne zu einem selbstgestalteten Vollzug von Einzelhaft; ausdehnungslose, aktionsblasse, an Teilhabe arme Iche starren durchs Medienfenster in bewegte Bildlandschaften hinaus. Für die akuten Massenkulturen ist es typisch, dass die bewegten Bilder um vieles lebendiger geworden sind als die meisten unter ihren Betrachtern; für Sloterdijk: Wiederholung des Animismus auf der Höhe der Modernität. (Sloterdijk 2004, S. 802) „Du musst dein Leben ändern“ Was das für die Menschen bedeutet, welche Konsequenzen sie ziehen sollten, beschreibt Sloterdijk in seinem Werk „Du musst dein Leben ändern.“20 Dieses Buch lässt sich auch als Selbsthilferatgeber lesen. Sloterdijk gibt im zweiten Teil Tipps, wie man erleuchteter werden kann. Ein Beispiel: „Während der gewöhnliche Depressive durch Vereinsamung in den Abgrund seiner Bedeutungslosigkeit versinkt, kann der gut organisierte Eremit von einem Beachtlichkeitsprivileg profitieren, da ihm sein nobler Beobachter [also er selbst, K.I.] fortwährend mit

20 Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechniken. Frankfurt/M. 2009.

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der Empfindung versorgt, in guter, ja bester Gesellschaft zu sein, freilich auch unter strenger Aufsicht.“ (Sloterdijk 2009, S. 363)

Das steht im Kapitel mit dem Titel: „Einsamkeitstechniken: Sprich mit dir!“ Für Sloterdijk ist in diesem Werk die moderne „therapeutische Erzählung“ nichts Neues: „Die zahllosen psychotherapeutischen Systeme, die sich im Laufe des 20. Jahrhunderts entfaltet haben, [haben] die antiken Praktiken der übenden Introspektion wieder zum Leben erweckt, in der Regel, ohne sich der Verwandtschaft mit den alten Modellen bewusst zu sein.“ (Ebda. S. 333) Es gehe heute zunehmend um eine Rückkehr von der „Arbeitslogik zum Exerzitium“ (ebda.). Die neuen therapeutischen Ideologien übernehmen unbewusst das Übungsbewusstsein aus antiken Quellen. Gemeint ist die antike Selbstsorge. Die unterschiedlichen antiken Modelle der Philosophie als Sorge um sich bzw. Lebenskunst haben die Bildung einer selbstbeherrschten, tugendhaften, glücklichen und harmonischen Persönlichkeit zum Ziel und binden die Kenntnis der Wahrheit, vor allem die Selbsterkenntnis des Subjekts, an die lebenslange und gesellschaftliche Praxis der Selbstsorge. Die durch askesis – geistige und körperliche Übungen – angestrebte Wahrheit des Selbst ist eine allgemeine, allen Subjekten gemeinsame: bei Platon z. B. die Ideen des Guten, der Gerechtigkeit etc., bei den Stoiker oder Epikureern das gesellschaftliche Wissen über Krieg, Tod, Gerechtigkeit, kosmische Ordnung, Sexualität, Verhaltensregeln usw., Wahrheiten, die vom Einzelnen gelernt und übernommen werden müssen.21 Im Gegensatz zur Antike, so Sloterdijk, die im Zeichen des Exerzitientums stand, steht (oder besser: stand) die Moderne im Zeichen der Arbeit. (Ebda. S. 330) Das gelte aber für die Postmoderne nicht mehr. Sloterdijk nimmt ein Ende der Arbeit bzw. der Bedeutung der Arbeit an. Dies sei ein Epochenwechsel. Die Wiederentdeckung des übenden Lebensmodus setze genau zu dem Zeitpunkt ein, in dem die Vergötzung der Arbeit ihren Höhepunkt erreicht habe. Gemeint ist das letzte Drittel des 19. Jahrhunderts, für das Sloterdijk Beschreibungen wie „athletische Renaissance“ und „Entspiritualisierung der Askese“ im wesentlichen durch Sport, aber auch durch Jugendbewegungen und die Geburt eines neuen esoterischen Bewusstseins (Helena Blavatsky) vorschlägt.

21 Vgl.: Klaus Puhl: Philosophie als Lebenskunst und Selbstsorge von der Antike bis Michel Foucault. Handout 2 zur Ringvorlesung Uni Graz 2009/2010 (14.1.2010, Klaus Puhl) http://philo.at/wiki/images/MuD09_PuhlHandout2.pdf

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Was rät Sloterdijk seinen Lesern? Sie sollen „das Basislager verlassen und sich auf zum Gipfel machen.“22 Vorbild ist dabei der artistische Übermensch, ein Seiltänzer, der über den Dingen schwebt. Er hat seine Sehnsucht nach Transzendenz, nach Übersteigen gestillt, ihm sollen die normalen Menschen nacheifern. Das ist aber nicht ungefährlich. Was für den einen Höherentwicklung bedeutet, verheißt aber – weil sie es nicht schaffen – für viele andere den Absturz in die Depression. Mit Melancholie verhielt es sich, so Sloterdijk, umgekehrt. Früher, in vorpostmodernen Zeiten, wurde dem Seiltänzer Melancholie unterstellt, Weltferne und Weltabgewandtheit, ja, Weltverachtung. In der postmodernen Demokratie hat jeder zu können und zu wollen. Wo es nicht reicht, bleibt Depression. Depression ist so gesehen ein Preis der Freiheit. Das ist die Wendung, die auch Ehrenberg beschreibt. Das wichtigste geistes- und körpergeschichtliche Ereignis des 20. Jahrhunderts war laut Sloterdijk (2009, S. 264) „die Emanzipation des Übens von den Zwangsstrukturen der alteuropäischen Askese“. Damit ist eine Individualisierung oder Entsäkularisierung der Askesen gemeint, die man jetzt um ihrer selbst willen betreibe und nicht mehr um Gott zu gefallen. Der Marathonlauf oder das Training für diesen habe den sonntäglichen Kirchgang ersetzt, man meditiere nicht mehr um Gott nahe zu sein, sondern um „Ich-los“ zu werden. Das Dasein der Moderne trage deshalb heute Züge einer globalen Fitnessübung, bei welcher der intensive Appell zur Erhöhung des Lebens im Unterschied zu vormodernen Zeiten in einen universell adressierten und vielfältig beantworteten metanoetischen oder absoluten Imperativ (der da lautet: „Du musst dein Leben ändern!“) verwandelt werde. Dessen Übermittler sind in erster Linie der neuzeitliche Staat und die Schule. Der aktuelle Schlüsselbegriff dafür heißt Enhancement, ein Wort, das „wie kein anderes den Akzentwechsel von der vormaligen übendasketischen Selbstintensivierung zur chemischen, biotechnischen und chirurgischen Erhöhung individueller Leistungsprofile zum Ausdruck bringt“. (Ebda. S. 530) Diese Möglichkeiten des Enhancement bedeuten: Durch die Entlastung vom Ich wird die Suggestion unterstützt, es sei für den einzelnen möglich und wünschenswert auf sein Leben wie auf ein äußeres Datum zurückzugreifen, ohne dass er sich bequemen müsste, sein Dasein selbst-übend zu gestalten. Ein Blick auf die jüngsten Effekte der weltweit operierenden Enhancement-Industrie – mit ihren Sektionen plastische Chirurgie, Fitness-Management, Wellness-Service

22 Dieser therapeutische Vorschlag ähnelt der Viktor Frankls Logoanalyse, nach der der Mensch nur im „Psychophysikum“ erkranken kann, im noetischen Geistesbereich jedoch immer gesund bleibe und sich deshalb im Geistesbereich über sein Psychophysikum erheben kann.

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und systemisches Doping – lasse rückwirkend die Vermutung aufkommen, die Übungen der Modernen hätten möglicherweise seit jeher insgeheim auf nichts anderes gezielt als auf die vollendete Veräußerlichung der Sorge um sich und die Umgehung des Subjekts bei der Fitness-Frage. Wo der Enhancement-Gedanke dominiert, wird die Erhöhung des Leistungsniveaus wie eine Dienstleistung in Anspruch genommen, bei der die Eigenanstrengung des Einzelnen sich nur auf den Hinzukauf der aktuellsten Prozeduren beschränkt. An die Stelle des klassischen Übungssubjekts, das sich in langwierigen Askesen an das Gesetz des Kosmos assimilieren wollte oder durch Ent-Selbstung in seinem Inneren für Gott Platz schuf, tritt das Lifestyle-Subjekt, das auf die gängigen Attribute zur Darstellung von existenzieller Souveränität nicht verzichten will und dies mittels „Enhancern“, also chemischen Mitteln wie z.B. Antidepressiva, erreicht. Was heute fehle, um der Falle des blinden Enhancements bzw. der Depression zu entgehen, sei „Passivitätskompetenz“. Die Figur einer von „Eigentätigkeit unterspannten Passivität“ sei als für die Moderne konstitutive Ausprägung von Gelassenheit zu kennzeichnen, falls es gelänge, die „pietistischen Konnotation des Ausdrucks fernzuhalten“. (Ebda. S. 594) Gelassenheit sei auch das, was Heidegger empfehle. Dieser empfehle Gelassenheit, damit der vom eigenen Tunkönnen benommene Mensch der Moderne sich erneut der Behandlung durch das Sein selbst aussetze. Gelassenheit, so Sloterdijk, meine Passivitätskompetenz. Zu viel Passivität führe nämlich geradewegs in die Depression, in ihrer Ausprägung als „erlernte Hilflosigkeit“. Deshalb muss Gelassenheit trainiert werden: „In Wahrheit gehört das passivitätskompetente Verhalten zur Spielintelligenz von Menschen in einer entfalteten Netzwelt, in der man keinen eigenen Zug machen kann, wenn man nicht zugleich mit sich spielen lässt. Gelassenheit ist Kennzeichen der Akteure, die sich nicht mehr als Subjekte verstehen, die in der Mitte ihrer Handlungskreise residieren. An ihre Stelle treten deshalb Konzepte für operiert-operierende Agenten, Prosumenten und Benutzer technischer Oberflächen. Bazon Brock hat die Figur Passivitätskompetenz auf dem Gebiet der Kunstbetrachtung schon vor Jahrzehnten vorweggenommen, als er seit 1968 seine berühmten ‚Besucherschulen‘ auf der Kasseler Documenta einrichtete, die er inzwischen zum Vierfach-Konzept des Diplomkonsumenten, des Diplompatienten des Diplomwählers und des Diplomrezipienten fortentwickelte.“ (Sloterdijk 2009, S. 596f.)

Das müsste dann auch für den „Diplomdepressiven“, den – im Ehrenbergschen Sinne – Teilnehmer an Gruppentherapien gelten.23 Passivitätskompetenz wird

23 Tatsächlich werden von Sozialarbeitern und Psychologen Fortbildungen für Mitglieder von Selbsthilfegruppen angeboten, die dieses Ziel verfolgen.

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besonders dann benötigt, wenn die Menschen sich selbst behandeln. Diese autooperative Rückbeziehung artikuliert sich seit dem 18. Jahrhundert in dem extensiven Gebrauch, den „aufgeklärte Europäer“ von Stimulanzien, also Drogen machen. Deren Anwendung steigert sich seit dem 20. Jahrhundert bis zum massiven Einsatz von Dopingmitteln in allen möglichen Disziplinen. Sloterdijk berichtet von den Extremen des Pendelns Jean Paul Sartres zwischen Alkoholismus und Amphetaminismus. „In diesen Fällen kam es offensichtlich immer darauf an, was die Stimulierten aus dem machten, was die Stimulanzien aus ihnen machten.“ (Ebda. S. 597) Sloterdijks Reflexion endet mit einem Ausblick „am Vorabend der großen Katastrophe“: „Die Vernunft der Nationen erschöpft sich noch immer in dem Bemühen, Arbeitsplätze auf der Titanic zu erhalten.“ (Ebda. S. 708) Es wird zu einem Crash kommen: „Die Crash-Lösung ist auch deshalb wahrscheinlich, weil sie einen hohen psychoökonomischen Kostenvorteil mit sich bringt: Sie brächte die Erlösung von den chronischen Spannungen, die infolge der globalen Evolution auf uns einwirken. Die Auftürmung des Mount Improbable zu den Höhen einer operativ integrierten Weltgesellschaft wird bloß von den glücklicheren Naturen als ein Projekt erfahren, an dem mitzuwirken sie vitalisiert. Sie allein erfahren das Dasein in der Gegenwart als ein stimulierendes Privileg und möchten zu keiner anderen Zeit gelebt haben. Weniger glückliche Naturen haben den Eindruck, noch nie habe In-der-Welt-Sein so müde gemacht. Was liegt da näher als die Formel der Massenkultur: der Unterhaltung den Vorrang zu geben und im übrigen damit zu rechnen, dass kommt, was kommen muss?“ (Ebda.)

Das ist ein klares Bekenntnis zur Unvermeidlichkeit der Volkskrankheit Depression – und zur Klassengesellschaft. Beide sind notwendig, um der glücklicheren Elite ihr wahrhaft stimulierendes Privileg zukommen zu lassen. Es handelt sich um eine aristokratische Argumentation, die in der Tradition des Aristoteles steht (s.u.).

E VA I LLOUZ : D EPRESSION ALS L EBENSSTIL EINER THERAPEUTISCHEN G ESELLSCHAFT Eine Analyse des therapeutischen Diskurses einer (depressiven) Gesellschaft im Geiste Freuds hat Eva Illouz, israelische Kultursoziologin, vorgelegt. Ihrer eigenen Beschreibung nach betreibt sie eine „amoralische Kultursoziologie“: „Der Zweck einer Kulturanalyse ist nicht, kulturelle Praktikern daran zu messen, wie

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sie sein sollten oder angeblich einmal waren, sondern zu verstehen, wie sie zu dem wurden, was sie sind.“24 Illouz schreibt ein Buch über das Massenphänomen Depression, ohne den Begriff Depression überhaupt nur einmal zu erwähnen. Sie untersucht einen „therapeutischen Diskurs“, der zu einer Emotionalisierung der westlichen Gesellschaften führt. Gefühle werden seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ausgesprochen und eben auch schlechte Gefühle, also Depression. Dies besagte auch die sogenannte Informalisierungsthese25 der Zivilisationstheorie der westdeutschen Kultursoziologie der achtziger Jahre im Rahmen der Reflexion des Zivilisationsdiskurses nach Norbert Elias. Verantwortlich für die Emotionalisierung ist nach Illouz die Popularität Freuds Psychoanalyse. Freud war ihr zufolge ein charismatischer Führer, sozusagen eine Art Religionsstifter, der quasi im Alleingang diesen therapeutischen Diskurs in Gang gesetzt hat. Der therapeutische Diskurs sei heute vor allem in der Massenkultur, Ratgeberliteratur, Filme und Werbung, zu finden. Diese Kulturprodukte emotionalisieren uns, machen mithin also auch depressiv. Illouz übersieht dabei, dass Freud in Deutschland und anderen Ländern Europas erst einmal nicht anerkannt wurde. Als Freud nach Amerika ging – 1909 zu seiner ersten Vorlesungsreihe – stieß er dort, wie in der Ideengeschichte beschrieben wird, auf einen schon vorhandenen therapeutischen Diskurs. Es gab also schon eine „therapeutische Bewegung“, auf die die Psychoanalyse (wenn auch gegen Freuds Willen) nur noch aufspringen musste. Illouz bestreitet, dass der moderne Kapitalismus depressiv macht. Es sei nicht so, schreibt sie, dass der Kapitalismus „unsere Fähigkeit, Bedeutung zu stiften und dauerhafte soziale Beziehungen zu pflegen, ernsthaft bedroht.“ (Illouz, S. 105) Die zeitgenössische Kultursoziologie hätte ein wesentlich differenziertes Bild gezeichnet als die früheren Soziologen. Sie zitiert den Soziologen Jeffrey Alexander: „Weil sowohl das Handeln als auch seine Umwelt unauslöslich vom Nichtrationalen durchdrungen sind, kann es eine […] rationale Welt nicht geben.“ (Ebda. S. 104) Die Kultursoziologie gehe deshalb davon aus, dass die kapitalistische Wirtschaft bzw. die ihr zugrunde liegende Zweckrationalität die Gefühle eben nicht verarmen lasse, sondern im Gegenteil: Die Kultursozio-

24 Eva Illouz, Die Errettung der modernen Seele. Therapien, Gefühle und die Kultur der Selbsthilfe. Frankfurt/M. 2009, S. 14. 25 Vgl.: Jürgen Gerhards: Soziologie der Emotionen. Fragestellungen, Systematik, Perspektiven. Berlin 1988. Die Informalisierungsthese bezieht sich auf zunehmende Lockerungen von Verhaltensstandards, größere Freiheiten und Unbefangenheiten im Umgang der Menschen miteinander als Folge des „Zivilisationsprozess“. (Vgl. auch unten, Stw. Protoprofessionalisierung).

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logie habe sich um den Nachweis bemüht, „dass wirtschaftliche Transaktionen in kulturelle Beziehungen eingebettet sind und zwischenmenschliche emotionale Transaktionen nicht nur nicht marktwidrig sind, sondern durch den Markt sogar gefördert werden können.“ (Illouz, S. 106) Sie meint, dass durch Psychologie Akteure und Markt miteinander kompatibel gemacht wurden. Jeder ist also seines Glückes Schmied, hier einmal in apologetischer Form. Aber es gibt eben nicht nur positive „emotionale Transaktionen“, sondern auch negative, depressive, und also trägt der Kapitalismus doch ein wenig Mitverantwortung für den Boom der Depression. Freud habe in seinen Vorlesungen im Jahr 1909 an der Clark Universität in Worcester auch praktisch die Selbsthilfe erfunden, so Illouz: „In seinen Clark Lectures stellte Freud noch eine weitere Idee vor, die man in seinen ‚europäischen‘ Schriften nicht findet; mit dieser Idee brachte er Verdachtshermeneutik und eine einflussreiche amerikanische Erzählung des Selbst zur Deckung, nämlich das meritokratische und voluntaristische Narrativ der Selbsthilfe.“ (Ebda., S. 86 f.) (Verdachtshermeneutik: etwas, ein Traum z.B., sagt etwas anderes aus als es tatsächlich erzählt etc. meritokratisch: jemand wird aufgrund seines Verdienstes ausgewählt, voluntaristisch: der Wille hat Vorrang vor dem Verstand.) Illouz schreibt, dass es mittlerweile parallel zum „kulturellen Kapital“ auch „emotionales Kapital“ gebe, das bei der gesellschaftlichen Schichtung oder Differenzierung eine Rolle spiele. So seien besonders Manager der unteren und mittleren Ebene gefordert, ihre Gefühle markttechnisch einzusetzen, sie also zu zeigen oder zurückzuhalten. Unter jüngeren Männern würde es auf der emotionalen Ebene zu neuen Vergesellschaftungen kommen; es entstünde der „Neue Mann“. Zu diesem gehört Depressivität als Distinktionsmerkmal. In einem Beispiel, das sie für den „neuen Mann“ gibt, wird das erste und einzige Mal überhaupt in dem Buch „Depression“ (als „deprimiert sein“) erwähnt. Depression wird hier als emotionales Distinktionsmittel eingesetzt. Eine Interviewerin spricht mit einem 28-jährigen Israeli namens Eyal, der einen Magister in Sozialwissenschaften hat und als Kulturexperte in einer politischen Organisation arbeitet. „Eyal: Für eine bestimmte soziale Gruppe, ein bestimmtes soziales Milieu bin ich typisch. Interviewerin: Wie meinen Sie das? E: Ich meine, dass emotionale Kompetenz ein Muss ist, um ein bestimmtes soziales Terrain zu betreten, um zu bestimmten Gruppen gehören zu können. I: Können Sie mir eine – bekannte oder unbekannte – Persönlichkeit nennen, die für Sie diese emotionale Kompetenz verkörpert? E: Das wäre der Film Der Stadtneurotiker. Ich habe diesen Film vielleicht dreißig mal gesehen. Dieser Film hat mich und andere stark geprägt.

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I: Ich möchte noch einmal auf etwas zurückkommen, was Sie eben gesagt haben, dass Männer, oder zumindest die Männer, die Sie kennen, auf eine bestimmte Art ihre Gefühle ausdrücken müssen, um zu einer bestimmten sozialen Gruppe zu gehören. Habe ich Sie richtig verstanden? E: Absolut. Definitiv. Das gehört zur ‚Zulassungsprüfung‘. Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Meine Frau, Liora, ist klinische Psychologin. Sie hat eine Schwester, die in Jerusalem lebt. Ihr Mann ist so eine Art Prolet. Er kommt aus einer Moshav [einer landwirtschaftlichen Siedlung]. Er ist ein Moshavnik, wie er im Buche steht. Er hat nicht den geringsten Gefühlsausdruck. Er hat keine Gefühle. Und wir machen uns über ihn lustig, alle drei, ich, meine Frau. Und die Schwester meiner Frau, genau darüber, dass er keine Gefühle hat. Er sehnt sich niemals nach etwas oder vermisst etwas oder ist deprimiert. Er kennt das Konzept „deprimiert sein“ nicht. Wo hat man so etwas schon einmal gesehen? Das ist also das Kriterium. Als ich mich noch mit Frauen verabredete, wenn sie nicht wussten, was ‚deprimiert sein‘ heißt – ich meine keine große klinische Depression, sondern eine ganz normale, gewöhnliche Depression – , dann kam sie nicht in Frage. Sie war keine potentielle Kandidatin. Nie im Leben.“ (Illouz, S. 368)

Deprimiert sein ist also ein bestimmter Lebensstil, der seine Träger nicht benachteiligt – im Gegenteil. Dadurch sind sie etwas Besonderes und grenzen sich von der Masse ab. Von Freud zur therapeutischen Kultur der Selbsthilfegruppen Der hawaiianische Neuropsychologe Paul Pearsall warnt vor den meisten Selbsthilfegruppen: „Meiden Sie die meisten Selbsthilfegruppen. Mit anderen über gemeinsame Probleme zu sprechen mag hilfreich sein. Viele Selbsthilfegruppen wurden jedoch zu Pseudogruppentherapien, die absichtlich oder unabsichtlich letztendlich auf die Verfestigung destruktiven Verhaltens herauslaufen, statt den Teilnehmern zu helfen, individuelle Verantwortung für schwierige und langfristige Veränderungen zu übernehmen. Wer einen Haufen von selbsternannten Bulimikern, Kleptomanen und Sexsüchtigen zusammentrommelt, damit sie ihre Leiden diskutieren, muss damit rechnen, dass sich die Gruppe in ihren Problemen verrennt, anstatt nach deren Wurzeln zu suchen.“26

26 Paul Pearsall: Denken Sie negativ, unterdrücken Sie Ihren Ärger und geben Sie anderen die Schuld. Warum Sie auf Lebenshilferatgeber verzichten können. München 2006, S. 262.

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Illouz erklärt, wie es zu dem Boom dieser „Pseudogruppentherapien“ kommt. Demnach läuft die humanistische Psychologie darauf hinaus, eine neue Kategorie von Menschen zu definieren: Wer hinter den psychologischen Idealen der Selbsterfüllung zurückbleibt, ist nun krank im Sinne von Pearsall, ein selbsternannter Kranker. Sie zitiert einen der Begründer der humanistischen Psychologie, Abraham Maslow: „Krank nennen wir die Menschen, die nicht sie selbst sind, die Menschen, die alle möglichen neurotischen Barrieren dagegen errichtet haben, menschlich zu sein.“27 Oder anders formuliert: „Der Begriff der schöpferischen Kraft und der Begriff der gesunden, sich selbst verwirklichenden, voll und ganz menschlichen Person scheinen sich immer weiter einander anzunähern und laufen am Ende vielleicht auf ein und dasselbe hinaus.“ (Ebda. S. 57) Damit war der Zuständigkeitsbereich der Psychologie und Psychiatrie enorm ausgeweitet. Gesundheit und Selbstverwirklichung werden Synonyme. Das hat zur Folge, dass die meisten Menschen sich nicht als völlig selbstverwirklicht sehen (dann könnten sie nicht mehr „an sich arbeiten“), also als krank. Diese Grundidee bildet den Kern des unheimlichen Erfolgs des Therapeutischen. Freud machte nach Eva Illouz die Psychoanalyse zum einzigen Weg der Rettung der Seele. Damit implizierte er, „dass die Selbsthilfe nicht auf moralischer Beständigkeit, Tugend und Willenskraft aufbauen konnte, da das Unbewusste die Entscheidungen des Bewusstseins auf vielen raffinierten Wegen auszutricksen vermochte“. (Illouz, S. 259) In den 50er Jahren dann aber, so Illouz, verbinden sich Selbsthilfe und Psychoanalyse in Form der humanistischen Gruppentherapien und es entsteht eine „dämonische Erzählung“ (Illouz, S. 296). Wie ist deren Erfolg zu erklären? Kulturelle Institutionen stellen „kulturelle Kohärenz“ nicht in erster Linie dadurch her, dass sie Gleichförmigkeit schaffen, sondern dadurch, dass sie Verschiedenheit organisieren, managing diversity, wie es neudeutsch heißt. Institutionen „sind unentwegt damit beschäftigt, Praktiken und Bevölkerungsteile, die nicht dem offiziellen Ideal entsprechen, nicht nur zu normalisieren oder zu homogenisieren, sondern auch zu hierarchisieren, abzukapseln, auszuschließen, zu kriminalisieren, zu unterwerfen oder zu marginalisieren.“28 Was die therapeutische Überzeugung vielleicht zu etwas historisch Einzigartigem macht, so Illouz, ist, dass sie ein Selbst mittels einer Verschiedenheit institutionalisiert hat, die durch das wissenschaftliche und moralische Ideal der Gesundheit und Normalität hervorgebracht wird. Es gibt also viele Wege zur

27 Abraham Maslow: The Father Reaches of Human Nature. New York 1993, S. 52. 28 Vgl.: William H. Sewell Jr. The Concept of Culture. In: Victoria E. Bonell et al. (Hg) Beyond the Cultural Turn: New Directions in the Study of Society and Culture, Berkeley 1999, S. 56. Zit. nach Illouz, a.a.O., S. 296.

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Selbstverbesserung, die zwar miteinander konkurrieren, aber das gleiche Ziel verfolgen. Nachdem ein undefiniertes und grenzenloses Ideal der Gesundheit postuliert war (die erfolgreiche Selbstverwirklichung kann es per definitionem nicht geben, also ist man nie ganz gesund) ließen sich im Umkehrschluss schlichtweg alle Verhaltensweisen als pathologisch, krank, neurotisch, depressiv, dysfunktional etc. abstempeln. Die therapeutischen Erzählschablonen der Selbsthilfe geben Normalität als Ziel der Erzählung des Selbst vor, doch wird diesem Ziel niemals ein klarer positiver Inhalt zugeordnet, so dass sie tatsächlich eine Vielzahl von nichtselbstverwirklichten und somit kranken Menschen hervorbringen. „Die Erzählung der Selbsthilfe ist daher kein Heilmittel gegen Scheitern und Not; vielmehr bringt das Gebot, nach höheren Niveaus an Gesundheit und Selbstverwirklichung zu streben, seinerseits Leidensgeschichten hervor.“ (Illouz, S. 297) Die Erzählung, die die Selbsthilfe anpreist, ist gerade die Erzählung der Krankheit und des seelischen Leidens. Weil sich kulturelle Schemata auf neue Situationen übertragen lassen, gebrauchten und übersetzten Feministinnen, Vietnamkriegsveteranen, Gerichte, staatliche Einrichtungen und die Experten des seelischen Gesundheitswesens alle dasselbe Schema der Krankheit und Selbstverwirklichung, um das Selbst zu organisieren. Auf diese Weise verwandelten sie die Erzählung der Selbstverwirklichung in eine „wahrhaft derridasche Entität, die das, was sie auszuschließen vorgibt, nämlich Krankheit, Leid und Schmerzen, zugleich in sich einschließt und in Kraft setzt“. Diese Erzählung, so Illouz, sei von Anfang an in der Psychoanalyse enthalten. Aber nicht erst da, muss hinzugefügt werden, man findet sie auch schon in den amerikanischen Vorläufern der Psychoanalyse wie dem Emmanuel-Movement (s.u.). Die dämonische Erzählung lokalisiere die Ursache eines Leidens in einem bösen Prinzip, das sich außerhalb des Subjekts befinde, sei dies Satan oder ein traumatisches Ereignis. Diese Form des Bösen zeichne sich dadurch aus, heimtückisch ins Innere einer Person zu gelangen. Das Böse ist in der Person, bleibe aber Beobachtern und dem Blick des Subjekts selbst verborgen. So wie der Teufel die Kontrolle über jemanden übernehmen könne, ohne dass es derjenige bemerke, könne auch ein Trauma seine zerstörerischen Spuren hinterlassen, ohne dass der oder die Betroffenen sich dessen bewusst werden. Es ist vor diesem Hintergrund kein Wunder, dass Illouz Beispiel für ihre Thesen nicht die Depression, sondern die posttraumatische Belastungsstörung, PTBS, bzw. deren harmlosere Variante, die Anpassungsstörung, ist. Es gibt so viele Selbsthilfegruppen, schreibt Illouz, zu so verschiedenen Themen, dass man sie nicht nach ihren Inhalten definieren kann. Diese Vielfalt an Themen lasse darauf schließen, dass die Gruppen eine tiefere kulturelle Struktur gemeinsam haben. „Zwar wurde viel über sie geschrieben, aber nur selten hat

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jemand den schlichten Umstand bemerkt, dass Selbsthilfegruppen die Struktur therapeutischer Erzählungen mobilisieren und inszenieren.“ (Illouz, S. 313) Das heißt nichts anderes, als dass u.a. die Selbsthilfebewegung die Volkskrankheit Depression inszeniert. Die Kommunikation in Selbsthilfegruppen zeichnet sich dadurch aus, dass sie aus privaten Geschichten öffentliche kommunikative Akte macht. Der Mechanismus, der die Übersetzung des Privaten ins Öffentliche ermöglicht, ist der therapeutische Mechanismus. Wenn man die Selbsthilfegruppen als kulturellen Rahmen versteht, dann wird deutlich, dass es bei ihnen um eine Art und Weise geht, gesellschaftliche Erfahrung zu organisieren, den Abstand zwischen Selbst und anderen auszuhandeln und Grenzen zwischen privatem und öffentlichem Selbst zu ziehen. Was machen die völlig unterschiedlichen Themen, Anliegen, Krankheiten, Störungen etc. von Menschen zu Problemen einer Selbsthilfegruppe? Es ist das Zusammenspiel von drei Kategorien von Erzählungen: einer allgemeinen, die Gattung definierenden Erzählung, der zufolge das Selbst der Entwicklung und /oder Wiedergutmachung bedarf, und die das Selbst auffordert, die Gegenwart durch Gedächtnisarbeit neu zu gestalten: einer thematischen Erzählung über Dinge wie Depression oder Alkohol etc., die von allen Mitgliedern der Gruppe geteilt wird und ihren zentralen Gegenstand ausmacht; und drittens einer persönlichen, individuell zugeschnittenen Erzählung für jedes Mitglied. Mit Hilfe dieser drei Erzählkategorien strukturieren Selbsthilfegruppen ihre Gruppensitzungen und die Art und Weise, wie ihre Mitglieder ihre Geschichten erzählen. Illouz meint, dass sich die therapeutische Erzählung, verstanden als ein Bündel von Techniken zur Präsentation und Inszenierung des Selbst, in der Gesellschaft ausbreiten konnte, weil sie eine standardisierte therapeutische Erzählung – die auf Männer und Frauen, Jugendliche und Erwachsene, normale und neurotische und pathologisch dysfunktionale Personen anwendbar war – „mit einer hochindividualisierten Erzählung verband, in der sich die Lebensumstände des Betroffenen spiegelten“. (Illouz., S. 324 f) Das Modell der Selbsthilfegruppen ist wegen ihres Erfolgs zunehmend, z.B. in der Form des Workshops, kommerzialisiert worden.

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E XKURS : D IE NEUE S ICHT AUF S ELBSTHILFE UND D EPRESSION Im Sommer 2011 gibt es 113 Selbsthilfegruppen zum Thema Depression in Berlin.29 Mehr Selbsthilfegruppen gibt es zu keiner anderen Erkrankung, und dabei sind die Selbsthilfegruppen, die sich ausschließlich dem eng verwandten Thema Angsterkrankungen30 widmen, noch gar nicht mitgezählt. Das war – wie bereits im Vorwort beschrieben – nicht immer so. Ein Artikel im „Selbsthilfejahrbuch 2008“ der DAG SHG e.V.31 ist Ausdruck der offensichtlichen Bedeutungserweiterung der Begriffe Depression und Selbsthilfe.32 Der Artikel behandelt eigentlich den Meinungswandel eines Psychiaters, Manfred Wolfersdorf, und zweier Psychologinnen, alle im Depressionszentrum des Bezirkskrankenhauses Bayreuth tätig, zum Thema Depression und Selbsthilfe. War Wolfersdorf für lange Zeit der Meinung, dass Selbsthilfegruppen depressiv Erkrankter die Symptomatik der Krankheit verschlimmern, so ist er jetzt zur gegenteiligen Ansicht gelangt. Zusammen mit zwei Psychologinnen hat er für das Jahrbuch den Artikel mit dem Titel: „Selbsthilfegruppen für depressiv kranke Menschen: Selbsthilfe: finden wir gut. Erkenntnisse aus psychiatrischer, psychotherapeutischer und psychologischer Sicht“, verfasst. Der Artikel hält nicht das, was er verspricht. Er wiederholt fast wortwörtlich die „Gruppenregeln“ aus der humanistischen Psychologie der 50er Jahre (themenzentrierte Interaktion, Ruth Cohn), die die DAG

29 www.sekis-berlin.de, Zugriff 11.08.2011. Sekis Berlin ist die zentrale Selbsthilfekontaktstelle der Stadt. Wie im Vorwort beschrieben, gab es im Winter 2011 in Berlin eine Gruppe mehr. Berlin muss die Menschen besonders depressiv machen. In anderen deutschen Großstädten ist die Zahl der Selbsthilfegruppen zu diesem Thema geringer. In Hamburg werden von KISS (zentrale Selbsthilfeunterstützungseinrichtung) Hamburg 11 Gruppen gemeldet, in München laut SHZ-München 10 Gruppen und in Köln laut KISS-Köln 9 Gruppen. 30 Dies sind, laut www.sekis.de, im Sommer 2011, noch einmal – allerdings mit vielen Überschneidungen – 84 Gruppen in Berlin. 31 Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. Der 1982 gegründete bundesweite Fachverband zur Unterstützung von Selbsthilfegruppen und Menschen, die sich für Selbsthilfe interessieren: www.dag-selbsthilfegruppen.de. 32 Andrea Heindl, Ulrike Rupprecht, Manfred Wolfersdorf: Selbsthilfegruppen für depressiv kranke Menschen. Selbsthilfe: finden wir gut. Erkenntnisse aus klinischer, psychiatrischer, psychotherapeutischer und psychologischer Sicht. In: Selbsthilfegruppenjahrbuch 2008, Hg: Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e.V. Gießen, 2009.

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SHG e.V. schon seit drei Jahrzehnten Selbsthilfegruppen in Form von Broschüren zur Verfügung stellt. Interessant ist allerdings die Vorgeschichte des Anlasses für den Artikel im Selbsthilfegruppenjahrbuch: „1976 wurde im damaligen Psychiatrischen Landeskrankenhaus Weissenau, Abteilung Psychiatrie I der Universität Ulm die erste Depressionsstation als Spezialstation für die Behandlung schwer depressiv kranker Menschen gegründet. Wenige Jahre später musste M.W. (Manfred Wolfersdorf) zwei studentische Selbsthilfegruppen, die für depressiv kranke Menschen an der benachbarten Fachhochschule für Pädagogik gegründet worden waren, auflösen und einen Teil der Studentinnen und Studenten als Patienten wegen akuter Suizidalität stationär aufnehmen. Damit war für mindestens ein Jahrzehnt eine negative Einstellung zu Selbsthilfegruppen für Depressive bei M.W. zementiert. Das Vorurteil, dass depressiv Kranke sich im stationären Rahmen gegenseitig in ihrer Depressivität noch verstärken, hat M.W. zeitlebens erfolgreich bekämpft […]. Dass Mitglieder von Selbsthilfegruppen sich nicht gegenseitig verstärken, sondern sich entlasten und fördern können, war M.W. vor dem Hintergrund der genannten Erfahrung (noch) nicht nachvollziehbar. 30 Jahre später, nach Besuchen bei verschiedenen Selbsthilfegruppen für Depressive und bei der Selbsthilfe-Kontaktstelle KISS in Hamburg, gehört die Säule ‚Selbsthilfe‘ zur Standardbehandlung der Depression.“ (Heindl et al., S. 94)

Was genau den Sinneswandel bewirkt hat, wird nicht bekannt. Wolfersdorf beschreibt stationäre Patienten, die ohne Hilfe mit ihren Depressionen nicht fertig werden und sich deshalb ins Krankenhaus begeben. Ausgerechnet bei diesen Patienten soll Selbsthilfe funktionieren? Diese Frage zeigt die Absurdität des Begriffes „Selbsthilfe“ in seiner therapeutischen Verwendung auf: Kranke kommen als Patienten ins Krankenhaus, sie suchen also Hilfe; im Krankenhaus sollen sie sich aber selbst helfen. Das wird ohne therapeutische Begleitung nicht gehen. Und es geht auch nicht: die Selbsthilfegruppen Depression sind fast alle (laien-) therapeutisch begleitet. Und so ist Selbsthilfe heute in diesem Zusammenhang das, was früher Gruppentherapie genannt wurde. Diese Selbsthilfe ist eine Form der Psychotherapie. Im Weiteren wird in dem Artikel der Aufbau von Selbsthilfegruppen in einem Krankenhaus beschrieben. Zwei Psychologinnen haben diese dort gegründet. Eine einzige der gegründeten Selbsthilfegruppe besteht von 2005 bis 2008. Das Bestehen dieser Selbsthilfegruppe nehmen die Psychologinnen und der Psychiater als Evidenz dafür, dass Selbsthilfe bei Depression funktioniert. Und das stimmt natürlich nicht: Wenn Menschen nach einer Behandlung in einem Krankenhaus in Therapiegruppen zusammenkommen, sind dies keine „Selbsthilfegruppen von Depressiven“, sondern therapeutische Patientengruppen nach einer

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Behandlung. Diese können nicht mit Selbsthilfegruppen verglichen werden, in denen die Patienten natürlich nicht vorher gemeinsam behandelt – und also auf den gleichen Wissensstand und vermutlich auf einen ähnlichen Erfahrungsstand (Pharmakotherapie, Psychotherapie etc.) gebracht wurden. Für die gilt das Zitat von Paul Pearsall, wonach es sich häufig um selbst ernannte Kranke handelt, die in Pseudogruppentherapien zusammenkommen. Oder es sind Gruppen, in denen man das Konzept des „Deprimiertseins“ im Sinne des oben zitierten Eyal erlernen kann.

B YUNG -C HUL H AN : D IE „M ÜDIGKEITSGESELLSCHAFT “ Auch der Karlsruher Philosoph Byung-Chul Han33 beobachtet eine gewisse Art dämonischer Erzählung. Er beschreibt sie als einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel: Eine Gesellschaft der Negativität werde ersetzt durch eine Gesellschaft, die vor allem durch ein Übermaß an Positivität beherrscht ist. Die „Disziplinargesellschaft“ sei Vergangenheit, wir befinden uns in der „Leistungsgesellschaft“. In ihr spiele jeder eine Doppelrolle: Das gegenwärtige Subjekt übernehme freiwillig seine eigene Ausbeutung. Das wird mit Michel Foucault auch als „Gouvernementalität“ bezeichnet. Die Disziplinargesellschaft wurde von Verboten geprägt, die Leistungsgesellschaft vom Gedanken alles zu können. Während die Disziplinargesellschaft Verrückte und Verbrecher produzierte, verursache die Leistungsgesellschaft bei ihren Mitgliedern Depressionen und Burnout: „Neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeits-Hyperaktivitätsstörung, Borderline-Persönlichkeitsstörung oder Burnout-Syndrom bestimmen die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologischen Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind.“ (Byung-Chul Han, ebda., S. 5)

Byung-Chul Han bezeichnet diese neuronale Gewalt als „Terror der Immanenz“, weil sie eine Art Autoimmunerkrankung darstellt. Neu ist diese Beobachtung nicht. So wurde bereits Ende der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts „Aids als Metapher“ (Susan Sontag, Alexander Garcia Düttmann) für eben diesen Prozess beschrieben.

33 Byung-Chul Han: Müdigkeitsgesellschaft. Berlin 2010.

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Byung-Chul Han bezieht sich auch auf Alain Ehrenberg. Zur Depression führe vor allem die zunehmende Bindungsarmut und der zunehmende Leistungsdruck in der modernen Gesellschaft, was Ehrenberg übersehe. Aber auch ein Aspekt des Sloterdijkschen Überflusses führe zur Depression: Das Übermaß an Positivität äußere sich als Übermaß an Reizen, Informationen und Impulsen. Das moderne „Multitasking“ stelle keinen Zivilisationsfortschritt, sondern einen Regress dar. Es sei die Verhaltensweise von Tieren in der freien Wildbahn und somit eine Überforderung. Und hier setzt auch Byung-Chul Hans Lösungsvorschlag ein: Er plädiert für die „Müdigkeitsgesellschaft“ und gegen die „erschöpfte Gesellschaft“. Jene habe gegenüber dieser den Vorteil, kontemplative Aufmerksamkeit zuzulassen, die Voraussetzung für Fortschritt in Kultur und Philosophie sei. „Die ‚fundamentale Müdigkeit‘ ist alles andere als ein Erschöpfungszustand, in dem man unvermögend wäre, etwas zu tun. Sie wird vielmehr als ein besonderes Vermögen dargestellt. Sie inspiriert. Sie lässt den Geist entstehen.“34 Dieses Zur-Ruhe-und-Reflexion-Kommen kann als Therapievorschlag verstanden werden, der sich an einer phänomenlogisch-anthropologischen Psychotherapie des Verstehens orientiert.

M ARXISTISCHE D IAGNOSEN Für Marxisten ist die kapitalistische Wirtschaftsordnung Ursache der Volkskrankheit Depression; insbesondere die strukturelle Arbeitslosigkeit. So schreibt der marxistische Soziologe Werner Seppmann: „Ständig steigt der Druck in der Arbeitswelt; wer nicht uneingeschränkt leistungsfähig ist, wird ins Abseits gedrängt. Allein schon als ökonomisches Realitätsprinzip wäre Arbeitslosigkeit skandalös genug; jedoch gravierender als die wirtschaftlichen Funktionsdefizite, deren Ausdruck sie ist, sind die von ihr verursachten psychischen Leiden. Die Ausgrenzung raubt den Menschen soziale Sicherheit, sie zerstört ihr Selbstbewusstsein und lähmt ihre Widerstandskraft. Auch Armut bedeutet Ausgrenzung von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben, begleitet von Formen geistiger und emotionaler Entfremdung. Wer der Armutserfahrung ausgesetzt ist, entwickelt oft quälende Versagensängste und irrationale Weltfluchtbedürfnisse, nicht selten auch aggressive Einstellungen gegenüber Schwächeren. [...] Das Leiden an den gesellschaftlichen Zuständen hat gravierende Ausmaße erreicht. Sozial erzeugte Angst ist zur prägenden Erfahrung geworden. Jedoch ist es ein stil-

34 Ebda. S. 57. Hervorhebungen im Original. Byung-Chul Han bezieht sich auf Peter Handkes „Versuch über die Müdigkeit“. (Hervorhebungen i.O.)

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les (unpolitisches) Leiden, weil aufgrund der herrschenden ideologischen und politischen Bedingungen die Zurückstufung als eigenes Versagen erlebt wird. Statt ihren Unmut zu äußern, fressen die Menschen die Zumutungen und Demütigungen in sich hinein [...]. Die Vergesellschaftung über den Markt vereinzelt die Menschen und vermittelt ihnen das Gefühl hilflos gegenüber einem übermächtigen „System“ zu sein. Diese Ohnmachtsgefühle wirken als ideologisches Gift, durch das die Menschen ruhiggestellt werden“.35

Depression sei Normalzustand in der imperialistischen Kultur, meint der emeritierte Professor für Literaturwissenschaften an der Uni Bremen, Thomas Metscher.36 Den Imperialismus definiert er als sterbenden Kapitalismus, als Formation einer gesellschaftlichen Endzeit. Der Kapitalismus sei bis auf die Knochen geprägt von der völligen Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der einzelnen. Eine Gesellschaft, die solche Zustände hervorbringe, und zwar notwendig und massenhaft hervorbringe, kann, so Metscher, nicht anders als eine „pathische“ Gesellschaft beschrieben werden: als faulend und krank. Ihre Analyse hat den Charakter einer Pathologie, ihre Herkunftsgeschichte den einer Pathogenese. Der pathischen Gesellschaft entspricht ein pathisches Bewusstsein, entspricht die Erkrankung der Seele, des Körpers, des Intellekts. Im entwickelten Imperialismus ist die Psychose der anthropologische Normalzustand. Die marxistischen Vorstellungen können sich auch gegen die „psychisch Kranken“ wenden, die durch ihre Krankheit zum Funktionieren des Kapitalismus beitragen und die sich in gewisser Weise selbst zum Opfer machen. In seiner „Kritik der Psychologie“ schreibt Albert Krölls: „In seiner Generalschuldzuweisung erweist sich der ‚psychisch Kranke‘ als bekennender Propagandist der bürgerlichen Konkurrenzideologie. Ungeachtet der ständigen Erfahrungen des Misserfolges in der Welt des Berufes, der Geschlechterzuneigung etc., ist er nämlich davon überzeugt, dass der eigene Wille (modern: die Ich-Stärke) und der Glaube des Subjekts an sich selbst (positiv denken) und seine Fähigkeiten der Garant des Erfolges in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft sind und folglich auch zu sein haben.“37

35 Werner Seppmann: Negative Vergesellschaftung. In: Junge Welt, Beilage Marxismus, 14.03.2008, S. 3. 36 Thomas Metscher: Imperialismus und Kultur. Das Alte stirbt. Das Neue kann nicht geboren werden: Der gesamte Prozess der Zivilisation ist in der Krise. In: Junge Welt Beilage Marxismus, 20. Mai 2009. 37 Albert Krölls: Kritik der Psychologie. Das moderne Opium des Volkes, Hamburg 2006, S. 142.

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Der „psychisch Kranke“ ist nach diesen Vorstellungen eben nicht psychisch krank, sondern Opfer krankmachender gesellschaftlicher Verhältnisse. Das versteht er nur nicht. Da ist er „verblendet“. Revolutionäre Marxisten müssen also den psychisch Kranken klarmachen, dass sie ihre Krankheit revolutionär gegen das System einsetzen können. „Patienten aller Länder vereinigt euch!“ ist demnach auch das Motto des Sozialistischen Patienten Kollektivs SPK (siehe Kapitel Antipsychiatrie).

D EPRESSION ALS ANTIKAPITALISTISCHE S TRATEGIE : DER ANALYTIKER P IERE F ÉDIDA Die Verbreitung der Depression muss nicht nur bejammert werden. Depression kann psychoanalytisch und marxistisch auch als revolutionärer Akt der Verweigerung oder des „in den Untergrund Gehens“ interpretiert werden. So ist für den französischen Psychoanalytiker Pierre Fédida die Depression eine antikapitalistische Strategie. Fédida (1934–2002) meint wie Ehrenberg, dass die Ausbreitung der Depression auf eine sich schnell ändernde Gesellschaft zurückzuführen sei, die „performance et enterprise“ auf allen Ebenen fordere und in der sowohl die Technologien als auch die „Codes der Liebe“ sich schnell ändern. In einer solchen Gesellschaft sei Depression ein Weg „in den Untergrund“ zu gehen. Die Depression hält einen im „Ruhestrom“, erlöst einen vom Zwang zur „Performance“ und auch das Begehren wird gebremst. Fédida hat dementsprechend die „Vorteile der Depression“ herausgearbeitet.38 Fédida schreibt, dass die Depression heute bekämpft werde wie die Pest und sich ausbreite, weil sie ihrer Sinnhaftigkeit beraubt sei. Seit der Antike bis zu Robert Burton habe die Melancholie einen Doppelsinn gehabt. Melancholie als Ausdruck eines „Wohlbefindens in der Traurigkeit“ konnte entweder als Quelle von Schöpfungen oder im Gegenteil als Ausgangspunkt der Vernichtung von Gedanken und Kreativität dienen. Auch für psychoanalytische oder phänomenologische psychotherapeutische Schulen hat Depression durchaus Sinn. Freud trennte zwar die Trauer von Melancholie. Beide haben es jedoch mit einem „ver-

38 Pierre Fédida: Les bienfaits de la dépression. Eloge de la psychothérapie. Paris 2001. Vgl. auch: Rezension von Elisabeth Roudinesco, J E P – Journal of European Psychoanalysis – Number 14, Winter–Frühling 2002 http://www.psychomedia.it /jep/ num ber14/ fedida.htm.

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lorenen Objekt“ zu tun und beide sorgen dafür, dass das Subjekt, das diesen Verlust erfahren hat, sich mit seiner Umwelt neu arrangiert. Die exzessive Gabe von Psychopharmaka verhindere genau diesen Prozess der Neuorientierung in einer nach einem Verlust veränderten Welt und trage so selbstverstärkend dazu bei, dass die Zahl der Depressiven, die Zahl der Rückfälle etc. immer weiter steige. Fédida unterscheidet zwischen Depression und Depressivität. Depressivität ist für das Seelenleben notwendig, um Kreativität auf der Basis der tragischen menschlichen Existenz zuzulassen. Depression ist eine dem menschlichen Dasein innewohnende Erscheinung, die das Subjekt selbst mit dem Todestrieb identifiziert. Depression kann also durchaus sinnvollen Nutzen haben, um das Individuum vor „melancholischer Annihilation“ zu schützen. Das ist paradox, denn es sagt nichts anderes, als dass Depression antidepressiv wirken kann. Und tatsächlich sieht Fédida die Aufgabe der Psychotherapie darin, die Depression therapeutisch wirksam werden zu lassen. Dies könne aber nur auf psychoanalytischem Wege geschehen. Es gehe dabei darum, dem Patienten zu helfen, die Depression in eine positive Erfahrung umzudeuten, wenn er dies alleine nicht kann. Depression ist also insbesondere eine Herausforderung für die Psychoanalyse, denn der Boom der Depression zwingt die Psychoanalyse zur Konfrontation mit anderen Richtungen der Psychotherapie. Was allen Psychotherapien gemein ist, sei die Heilkraft der Imagination. Hier könne die Psychoanalyse zeigen, dass sie die einzige Methode sei, die diese Forderung bewusst erfüllt, weil sie unbewusste Kausalität berücksichtige. Dadurch ermögliche sie „Übertragung“, also das Phänomen der unbewussten Umlenkung von Gefühlen von früheren Bezugspersonen auf andere. In der Übertragung richtet der Klient bestimmte Gefühle, Erwartungen oder Wünsche auf seinen Therapeuten, die nicht dem Therapeuten als Person gelten, sondern als Gefühle aus früheren Beziehungserfahrungen des Klienten herrühren und so verarbeitet werden. Auf diese Weise kann die Psychoanalyse die Menschen mit der Depression konfrontieren und die Depression für die Menschen nutzbar machen. Die Psychoanalyse müsse das psychotherapeutische Feld besetzen in der selben Art und Weise wie die Depression heute die Subjekte besetzt, um eben diese Subjekte vor der „depressiven Besetzung“ zu schützen. Nur so sei eine „Rettung vor einem Ertrinken in Banalität“ gewährleistet. Es geht also darum, Melancholie nicht nur wieder zuzulassen, sondern sie willkommen zu heißen, um sich dem Leben zu stellen, anstatt mittels Drogen (Psychopharmaka) der Realität zu entfliehen. Fédida übersieht bei seiner Argumentation, dass der therapeutische Mechanismus der Übertragung (unausgesprochenerweise) nicht nur fast allen psychotherapeutischen Richtungen, sondern auch vielen alltäglichen Interaktionen eigen ist. Was diese Arten der Übertragung von der Übertragungsanalyse psychoanalytischer Provenienz unterscheidet,

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ist, dass sie unbewusst bleiben. Diese Bewusstmachung ist jedoch kein Alleinstellungsmerkmal der Psychoanalyse. In jüngerer Zeit erregt ein im Internet kursierendes neueres linkes Manifest unter dem Titel „Der kommende Aufstand“, verfasst von einem „unsichtbaren Komitee“, Aufsehen. Dort knüpft man offensichtlich an Fédidas Thesen an: „Wir sind nicht deprimiert, wir streiken. Wer sich weigert, sich zu verwalten, für den ist die ‚Depression‘ kein Zustand, sondern ein Übergang, ein Auf-Wiedersehen, ein Schritt zur Seite hin zur Aufkündigung einer politischen Zugehörigkeit. Davon ausgehend gibt es keine andere Schlichtung als die medikamentöse und die polizeiliche. Genau deswegen scheut sich diese Gesellschaft nicht, ihren zu lebhaften Kindern Ritalin aufzuzwingen, zu jeder Gelegenheit Laufleinen pharmazeutischer Abhängigkeiten zu flechten, und vorzugeben, schon bei Dreijährigen ‚Verhaltensstörungen‘ festzustellen. Weil die Hypothese des Ich überall Risse bekommt.“39

Die Depression als „Waffe“ gegen das System einzusetzen erinnert an das Vorgehen des „Sozialistischen Patienten Kollektivs“ (SPK, s.u.) der 70er Jahre. Wie weiter unten gezeigt wird, läuft man aber mit dieser Strategie Gefahr, durch die bloße Thematisierung einer angeblich allgegenwärtigen Depression diese auf der politischen Agenda zu halten – auch zum Nutzen anderer politischer Kräfte.

E INE

FEMINISTISCHE

S ICHT : L ISA APPIGNANESI

Die britische Autorin und (psychoanalytisch inspirierte) Feministin Lisa Appignanesi40 beschreibt in ihrem Buch „Mad, Bad and Sad“ die spezifischen Konstruktionen weiblicher seelischer Ungesundheit. In dem Teil, der sich der jüngsten Epoche widmet, sieht sie erstaunlicherweise nicht die Depression als das dominante Thema der psychischen Frauengesundheit, sondern den (sexuellen)

39 Unsichtbares Komitee: Der kommende Aufstand. http://media.de.indymedia.org/ media/2010/07//286489.pdf S. 1: „Der Inhalt des 2007 erschienenen und 2009 überarbeiteten Pamphlets bezieht sich auf Unruhen, Demonstrationen und Aufstände in den letzten Jahren, zum Beispiel in Griechenland und Frankreich. Die Autoren sehen in den Revolten ‚Symptome des Zusammenbruchs der westlichen Demokratien‘ und proklamieren als Alternative eine Gesellschaft von föderierten Kommunen und selbstverwalteten lokalen, ökonomischen Organisationen.“ (Wikipedia) 40 Lisa Appignanesi: Mad, Bad and Sad. A History of Women and the Mind Doctors from 1800 to the Present, London 2008.

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Missbrauch und die Essstörungen. Damit ist Appignanesi eine große Ausnahme unter den Autoren, die sich kulturwissenschaftlich mit psychischen Erkrankungen oder Störungen befassen. Der Missbrauch ist das Thema gerade der feministischen Gesundheitsbewegung in den späten 80er und den 90er Jahren gewesen – allerdings mehr in den angelsächsischen Ländern. Auch außerhalb der feministischen Szene ist diesbezüglich der Klassiker von Susan Brownmiller „Gegen unseren Willen“ bekannt, in dem die Autorin behauptet, dass männliche Sexualität, wenn sie sich auf Frauen beziehe, eigentlich immer Vergewaltigung sei, und dass die menschliche Kultur ganz wesentlich auf Vergewaltigung beruhe. Ein 1988 erschienenes erfolgreiches und bis heute auch in Deutschland immer wieder aufgelegtes Buch, „The Courage to Heal“ (Ellen Bass, Laura Davis, deutsch: „Trotz allem. Wege zur Selbstheilung für Frauen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben“), behauptet, dass praktisch alle psychischen Symptome, unter denen Frauen leiden, von Essstörungen, Alkoholismus, Drogenmissbrauch über Depressionen hin zu Psychosen, auf erlittenem sexuellen Missbrauch beruhen. Auch der Psychiater Ty C. Colbert meint in seinem Buch „Das verwundete Selbst“ (München 1999), dass psychische Störung oder Krankheit keine biologische Ursache habe, sondern umweltabhängig sei. Konkret sei in den meisten Fällen sexueller Missbrauch in der Kindheit Ursache der psychischen Störung. Warum das nicht allgemein so gesehen wird, begründet er mit Rückgriff auf Freud. Ursprünglich ging Freud davon aus, dass Hysterie durch ein sexuelles Trauma ausgelöst wird. Am 21. April 1896 hielt er vor seinen Kollegen der Gesellschaft für Psychiatrie und Neurologie einen Vortrag über „Die Ätiologie der Hysterie“. Dort behauptete er, dass der Ursprung aller Neurosen in sexuellen Verletzungen läge. Freud gründete seine Behauptung auf das, was seine Patientinnen ihm erzählten. Viele, die schwerste Symptome zeigten, hatten davon berichtet, als Kind sexuell missbraucht worden zu sein, häufig vom eigenen Vater. Freud nannte seine Theorie „die Verführungstheorie,“ weil er glaubte, dass diese frühen Erfahrungen real waren, und die Betroffenen ein Leben lang unter dem angerichteten Schaden litten. Nachdem Freuds Entdeckung bzw. Behauptung von der Fachwelt nicht gebilligt und er deshalb geschnitten und zunehmend isoliert wurde, geriet er, wie Colbert es darstellt, in einen Konflikt mit seinem Ehrgeiz und seinem wissenschaftlichen Gewissen. Wie meist unterlag auch hier das Gewissen und Freud widerrief seine Entdeckung im Jahre 1905 öffentlich.41 Der Psychoanalytiker Jeffrey M. Masson, 1980 von Anna Freud als Projektleiter einer Neuausgabe des Briefwechsels zwischen Freud und seinem Freund,

41 Vgl. auch Lieb et al., a.a.O., S. 278 f.

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dem Berliner HNO-Arzt Wilhelm Fließ eingesetzt, stieß bei seiner Recherche auf einige unterdrückte Briefe und andere wichtige Quellen, die seiner Meinung nach diese ganze Ungeheuerlichkeit belegten, und die er in dem Buch Was hat man Dir, Du armes Kind, getan? (1984)42 veröffentlichte. Die meisten seiner psychoanalytischen Kollegen sahen dies jedoch anders. Seine Enttäuschung und Erschütterung über diese Reaktion war so groß, dass er den Beruf des Psychoanalytikers aufgab und sogar Die Abschaffung der Psychotherapie (1988 Against Therapy) forderte. Für eine feministische Reflexion der Bedeutung psychischer Krankheit steht also häufig der sexuelle Missbrauch als Ursache an erster Stelle. In engem Zusammenhang mit dem Missbrauch steht die posttraumatische Belastungsstörung. PTSD (Post-Traumatic-Stress-Disorder). Diese begann ihre Karriere wie die Depression im Jahr 1980 mit ihrer Beschreibung im DSM-III. Für das DSM-IV (1994) wurden die Kriterien für eine PTBS so erweitert, dass Frauen nach einem Missbrauch entsprechend diagnostiziert werden konnten. Das führt Appignanesi auf die Psychiaterin und Frauenrechtlerin Judith Herman zurück. Nach dieser Erweiterung seien die Diagnosen für PTBS um 50 Prozent gestiegen. Auch die mit der PTBS häufig verwandte Borderlinestörung und das Phänomen der „multiplen Persönlichkeit“ behandelt Appignanesi vor der Depression. Sie hält die Essstörungen unter feministischen Gesichtspunkten für ebenfalls bedeutender und zeittypischer als die Depression. Dabei handele es sich um eine „Epidemie“. Das könne man an der Prominenz in den Medien und an den preisgekrönten Erinnerungen vieler „Überlebender“ ablesen. Zwar verzeichne Google bei der Suche nach Depression mehr Treffer, die Essstörungen seien aber im Gegensatz zur Depression fast ausschließlich reine Frauenleiden. Appignanesi meint, dass diese Krankheit ihre Ursache in den spezifischen Bedingungen der bürgerlichen Familie habe: Relativer Überfluss, die sexualisierte Arbeitsteilung, in der der Mann arbeite, die Frau für den Haushalt zuständig sei; dass Mädchen im Gegensatz zu Jungen lange infantilisiert, in Abhängigkeit gehalten werden und ihre Sexualität ignoriert werde, während sie gleichzeitig auf den Wettbewerb bei der Partnersuche und Heirat vorbereitet werden. Diese Voraussetzungen führten dazu, dass eine schlanke Figur und eine gewisse „spirituelle Askese“ nützliche Eigenschaften einer jungen Frau seien. Asketismus und Reinheit werden belohnt – das führe zur Anorexia nervosa und anderen Essstörungen. Dem Thema Depression nähert sich die Autorin über zwei Biographien von depressiven Frauen, die in ihren Aufzeichnungen aber nicht die Tatsache beto-

42 Vgl. Rudolf Sponsel: Der Widerruf der Missbrauchstheorie („Verführungstheorie“) durch Siegmund Freud , http://www.sgipt.org/th_schul/pa/misbr/wideru.htm.

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nen, dass sie unter einer Depression leiden oder litten, sondern die die segensreiche Wirkung der neue Wunderdroge Prozac® in den Vordergrund stellen; Elizabeth Wurtzel (1994): Prozac Nation43; deutsch: Verdammt schöne Welt. Mein Leben mit der Psychopille (1999), und Lauren Slaters (1999) Prozac Diaries aus den USA. Beide Biographien sind Verherrlichungen von Prozac. Prozac wird als Lifestyle-Droge und nicht als Medikament behandelt (siehe dazu unten, Kapitel „Prozac as a way of life“). Demzufolge betrachtet Appignanesi Depression auch nicht als Krankheit. Zu der modernen Begründung, Depression werde durch den Hirnstoffwechsel ausgelöst und sei also eine Stoffwechselkrankheit, sagt sie, dass diese Feststellung ungefähr den selben Erkenntniswert habe, wie wenn man feststelle, Menschen haben einen Körper. Erstaunlich findet sie auch die Prophezeiungen der WHO, die besagen, dass Depression bald die zweithäufigste Ursache hinter koronaren Herzerkrankungen für ernsthafte Behinderungen sei. Sie könne auch so verstanden werden, dass entweder der Zustand der gegenwärtigen Welt (Kriege, Armut, Ungleichheit, Politik, Terror) oder die Biologie (genetische Vererbung, Bevölkerungswachstum) zunehmend die Menschen in Krisen stürzt, die dann als „mood disorders“, Stimmungsstörungen, bezeichnet werden. Diese Stimmungsstörungen hätte es aber schon immer gegeben. Sie zitiert den deutschen „Weltschmerz“44 als Beleg. Dass Depression heute als Krankheit verstanden wird, hat – so Appignanesi – damit zu tun, dass Drogen gefunden wurden, die diese heute als negativ wahrgenommenen Stimmungen beseitigen. Und nach der derzeit herrschenden Logik muss das, worauf ein Medikament wirkt, also die negative Stimmung, eine Krankheit sein, z.B. eine Depression. Wenn ein Antidepressivum hilft, die Affektivität ins Positive zu wenden, dann muss wohl eine Depression zugrunde gelegen haben. Warum sind aber doppelt so viele Frauen von Depression betroffen wie Männer? Das sei gar nicht in Wirklichkeit so, Frauen gingen nur öfter zum Arzt als Männer. „It’s a fact, as the old adage has it, that women go to doctors where men go to the pub.“ (Appignanesi, ebda., S. 514) Frauen nehmen Pharmazeutika, wo Männer sich mit Alkohol und Straßendrogen kurieren. Dass Frauen häufiger den Arzt konsultieren, läge an der „reproduktiven Funktion“, die sie erfüllen. In den westlichen Gesellschaften und in allen Gesellschaften mit einem Wohlfahrtssystem gehen Frauen mit Beginn ihrer Menstruation zum Arzt und gewöh-

43 2001 verfilmt von Erik Skjoldaerg. 44 1823 von Jean Paul geprägter Begriff für ein Gefühl der Melancholie, das jemand über seine eigene Unzulänglichkeit hegt, die gleichzeitig Teil der Unzulänglichkeit der Welt ist. In vielen Sprachen als deutsches Lehnwort verwendet.

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nen sich so an die Regelmäßigkeit des Arztbesuchs, z.B. um sich Verhütungsmittel verschreiben zu lassen, Frauen begleiten ihre Kinder zum Arzt etc.. Teil des Frauseins in der modernen Welt sei es, zum Arzt zu gehen und Pillen zu schlucken. Aber die Autorin macht auch darauf aufmerksam, dass der größte Anteil sowohl unter den Männer als auch unter den Frauen (abgesehen von alten Menschen), die zum Arzt gehen, diejenigen sind, die keine regelmäßige Arbeit haben oder die Handarbeiter sind. Dieser Bevölkerungsgruppe geht es am schlechtesten und bei ihnen werde auch überdurchschnittlich häufig eine Depression diagnostiziert. Appignanesi stellt auch treffend fest, dass erst mit der Klassifizierung der psychischen Krankheiten durch das DSM III Selbsthilfegruppen für z.B. „Depression“ oder „PTBS“, „Angst“ etc. möglich wurden. Vorher wurden die Diagnosen individuell gestellt. Jede Persönlichkeit entwickelte eine mehr oder weniger eigene – idiosynkratische – Idiotie. Die Psychiatrie wurde durch das auf Kraepelins Beobachtungen und Klassifizierungen zurückgehende DSMSchema „wissenschaftlicher“, die statistische Reliabilität, also die Zuverlässigkeit einer Diagnose wird erhöht, die „Kranken“ werden zu objektiv wiedererkennbaren Klassen zusammengefasst. Wenn eine bestimmte Anzahl von Symptomen positiv bei einem Patienten abgefragt werden kann, dann fällt er in die Klasse der Depressiven. Ihr Abschlusskapitel heißt „die chemische Gesellschaft“. Hier sagt sie noch einmal explizit, dass die SSRI genau wie viele Straßendrogen Stimmungsaufheller seien. Der leicht manische („hypomanische“) Zustand, in den die Pillen ihre Konsumenten versetzen, der „better than well“-Zustand ist von vielen „Arbeitgebern“ im Kapitalismus explizit gewollt und dementsprechend von den Beschäftigten anzustreben. Die Pharmaindustrie und die Straßenhändler, die legalen und die illegalen Drogenhändler, lassen der „human possibility“ wenig Raum zwischen seelischer Störung und Kriminalität. Lisa Appignanesis ist die einzige psychoanalytisch argumentierende Interpretin der Depression, die deren Charakter als Volkskrankheit anzweifelt. Ihre Argumentation wird in vorliegender Darstellung geteilt. „Negative Gefühle“, Weltschmerz, Depression hat es immer schon gegeben. Um zu zeigen, wie Depression bzw. Melancholie zur Volkskrankheit wurde, folgt nun ein Überblick über die Geschichte dieser „Störung“ und ihrer Therapien. In dem Teil der Geschichte, der sich mit der Entwicklung der Depression in den USA auseinandersetzt, werden weitere nicht-psychoanalytische Theorien der Depression, auch Theorien der Konstruktion der Depression, vorgestellt.

Ideengeschichte der Melancholie und Depression

Von der Antike in die Moderne

Als älteste beobachtete psychische Störung gilt die Hysterie. Bereits in der ägyptischen Hochkultur wurden Phänomene, die heute unter dissoziative, somatoforme oder psychosomatische Störungen fallen, mit einem krankhaften Herumwandern des Uterus im Körper der Betroffenen erklärt. Hysterie war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine medizinische Metapher für alles, was Männern am anderen Geschlecht rätselhaft und unkontrollierbar erschien. (Lieb et al., a.a.O., S. 278) Die Melancholie – als Merkmal für zuerst nur das männliche Geschlecht – galt demgegenüber lange nicht als „psychische Störung“ sondern auch als Ausweis besonderer Fähigkeiten. Der Beginn der abendländischen Auseinandersetzung mit Psychotherapie und Melancholie wird vom Psychiater und Psychiatriehistoriker Werner Leibbrand1 in der vorsokratischen Philosophie der griechischen Klassik verortet. Die Pythagoreer (6. Jh. v. Chr.) waren bereits zur archaischen Zeit Initiatoren einer psychotherapeutischen Technik. Die späteren Sophisten haben diese weiterentwickelt. Der griechische Schriftsteller Plutarch (45–125 n. Chr.) berichtet in seiner „Vitae decem oratorum“ (Leben der zehn Redner, Kapitel 1, Antiphon) von dem um 400 v. Christus lebenden älteren Sophisten Antiphon und seiner „Depressions-Therapie“: „Man erzählt, er habe Tragödien geschrieben, auch zusammen mit dem Tyrannen Dionysios. Außerdem habe er eine Kunst der Leidlosigkeit ersonnen in der Weise, wie es die Kunst der Ärzte bei den Kranken macht. In Korinth hat er in der Nähe des Marktes ein Haus gebaut und mit der Aufschrift versehen des Inhalts, dass er imstande sei, die Depressiven (Lypoumenoi) durch Worte zu behandeln, und wenn er so die Ursachen erfahren ha-

1

Werner Leibbrand, Annemarie Wettley: Wahnsinn. Geschichte der abendländischen Psychopathologie. Erftstadt 2005, zuerst 1961.

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be, redete er den Kranken zu. Er hielt aber diese Methode für unter seiner Würde und kehrte zur Rhetorik zurück.“ (Zit. nach Leibbrand, S.21)

Lypoumenoi kann auch mit „Schmerz“ oder „Leid“ im Gegensatz zu „Freude“2 übersetzt werden. Auch der Vorsokratiker Demokrit, genannt der lachende Philosoph (ca. 460–370 v. Chr.), hat ein psychotherapeutisch interessantes Fragment hinterlassen: „Denn dem Menschen wird Wohlgemutheit (Euthymia) zuteil durch Mäßigung (Metriotes) und des Lebens rechtes Maß (Symmetrie). Mangel und Überfluss pflegen umzuschlagen und große Bewegungen in der Seele zu verursachen. Die in großem Pendelschlag sich bewegenden Seelen sind weder wohlanständig noch wohlgemut. Auf das Mögliche also muss man den Sinn richten und mit dem Vorhandenen sich begnügen, ohne der Beneideten und Bewunderten viel zu achten und mit dem Gedanken ihnen anzuhaften; vielmehr muss man auf die Lebensschicksale schauen der Trübsalbeladenen und sich dabei wirklich vergegenwärtigen, was sie leiden, auf dass dir deine Lage und dein Besitz groß und beneidenswert erscheine und es dir nicht mehr begegne, weil du nach mehr begehrst, Übel zu erleiden in der Seele.“ (Zit. nach Leibbrand, ebda., S. 23)

Mit diesen Hinweisen ist Demokrit den meisten heutigen gängigen Therapierichtungen, wie z.B. der kognitiven Verhaltenstherapie oder der interpersonellen Therapie sehr nahe. Demokrits Psychologie ist materialistisch: Die Seele besteht aus feinsten Teilchen, die im ganzen Körper verteilt sind. Die Auflösung des Körpers nach dem Tod führt somit auch zur Auflösung der Seele, da sie vom Körper getrennt nicht existieren kann, was wiederum ein Leben nach dem Tode unmöglich macht. Demokrit verfasste Schriften zur Ethik, in denen er Glückseligkeit durch „euestó“ (Wohlbefinden der Seele) als höchstes Gut pries. Auch deshalb bekam er den Beinamen „der lachende Philosoph“. Das Ziel menschlichen Strebens ist nach Demokrit die rechte Verfassung der Seele, die in Ausgeglichenheit und Ruhe besteht und durch Vernunft, Halten des Maßes, Zurückhaltung im sinnlichen Genuss und der Hochschätzung geistiger Güter erlangt wird. In einem Fragment schrieb er: „Der Geist soll sich gewöhnen, seine Freuden aus sich selbst zu schöpfen.“ Demokrits Ideen setzten sich in der Antike nicht durch, nur die Epikureer hielten daran fest. Die christliche Kirche verbot seine Lehren. Demokrit hatte großen Einfluss auf Aristoteles (s.u.). Der römische Historiker Claudius Aelianus (170–220) berichtet,3 Hippokrates soll bei seiner ersten Un-

2 Vincent Farenga: Citizen and Self in Ancient Greece. Cambridge 2006, S. 405. 3 Claudius Aelianus: Bunte Geschichte. Leipzig 1990.

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terhaltung mit Demokrit zu dem Eindruck gekommen sein, dieser sei verrückt, nach näherem Kennenlernen aber sei er sein glühender Verehrer geworden. Es heißt, Hippokrates habe, obwohl er Dorer war, Demokrit zuliebe seine Werke in ionischem Dialekt geschrieben. Nach der Beschreibung des Hippokrates war Demokrit ein kleiner und schwächlicher Mensch von sehr melancholischem Gemüt – wie gesagt, der lachende Philosoph. Auch Robert Burton bezieht sich auf ihn.

H IPPOKRATES Der Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Melancholie wird allgemein mit Hippokrates von Kos (ca. 460–370 v. Chr.) verbunden. Dieser lokalisiert die Geisteskrankheiten einerseits ganz modern im Hirn, andererseits im Blut. Die Bluttheorie sollte für die nächsten Jahrhunderte bis ins 19. Jahrhundert hinein in Form der 4-Säfte-Lehre die Bedeutendere werden. Das Wort Melancholie bedeutet schwarze Galle, ist also zunächst keine Symptombeschreibung, sondern die Beschreibung der Ursache vieler Krankheiten, die durch ein Übermaß schwarzer Galle erzeugt werden. Schwarze Galle ist eine fiktionale Flüssigkeit. „Der Körper des Menschen enthält in sich Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle und diese Säfte machen die Natur seines Körpers aus. Und wegen dieser Säfte ist er krank oder gesund.“ (Leibbrand S. 29) Entsprechend den „vier Elementen“ der klassischen griechischen Naturwissenschaft (Feuer, Erde, Wasser und Luft) gibt es vier Säfte im Körper des Menschen. Blut (Sanguis) entspricht dem Element Luft. Gelbe Galle (Cholus) entspricht dem Feuer, Schleim (Phlegma) ist dem Wasser zugeordnet und schwarze Galle (melan cholus) der Erde. In der abendländischen Tradition sind Temperamente und Krankheiten nicht wesenhaft voneinander getrennt. So ist deutlich darauf hinzuweisen, dass Melancholie keine Krankheit ist und ein Melancholiker kein „Depressiver“. Melancholie (Schwarzgalligkeit) als Ausdruck einer Geisteskrankheit gibt es im Corpus Hippokraticum nur insofern, als innerhalb der melancholischen Krankheiten ein Spezialfall von Schwarzgalligkeit besteht, der mit Furcht (Phobos) und Verstimmtheit (Dysthymia) einhergeht und nur kurz erwähnt wird: „Wenn Furcht und Traurigkeit lange Zeit anhalten, ist dies ein melancholischer Zustand (liegt schwarze Galle zugrunde).“ (Leibbrand, S. 43) Das ist alles, was sich zunächst aus dem Corpus Hippocraticum über Depression bzw. Melancholie in unserem Sinne als Schwermut herauslesen lässt. Viele andere Krankheiten haben ebenfalls eine schwarzgallige Ursache: Schlaganfall, spastische Lähmung, Schuppenflechte, Schmerzen in der Magengegend, Flatu-

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lenz, Frostfieber, Wurmbefall. Nach damaligen Vorstellungen: alle Krankheiten, die vor allem im Herbst auftreten. Diese werden auf die Witterungsbedingungen, die zu dieser Jahreszeit herrschen, zurückgeführt, die herbstliche Feuchte und Kälte löst so die melancholischen Kräfte im Körper aus (bzw. verstärkt das schwarzgallige Viertel). Außerdem heißt es: „Die Stammler und Stotterer sind schwarzgallig, überernährt.“ Therapeutisch wird für diejenigen, die sich das Leben nehmen wollen, Mandragora (Alraune) empfohlen: „Die Geplagten und Kranken und diejenigen, die sich erdrosseln wollen, sollen morgens Mandragorawurzel trinken, aber nur so viel, dass sie nicht zu rasen beginnen […].“ (Leibbrand, S. 45) Mandragora ist der lateinische Namen für Alraunen, ein toxisches Gewächs. Die Wurzel der Alraune wirkt stark beruhigend bis berauschend und halluzinogen. Außerdem hat sie eine schmerzstillende und abführende Wirkung. Hippokrates empfiehlt also Pharmakotherapie. Auch die Therapie durch Schocks findet sich bei Hippokrates in Bezug auf die Geisteskrankheiten: „Förderlich für die Genesung: den Kranken in Jähzorn zu bringen, um seine gesunde Farbe herzustellen und seiner Säftemischung nachzuhelfen. Ebenso sind Aufmunterung und Furchterregung und dergleichen wirksam.“ (Leibbrand, S. 52) Über die Temperamente schreibt Hippokrates in einem Brief an einen seiner Patienten, den König von Macedonien, Perdiffas: „Woher es kommt, dass einige Menschen gleichsam immer lachen, andere wieder traurig sind, diese Ursache rührt nach unserer Meinung aus den Grundstoffen her. Die, welche nämlich reines Blut haben, lachen immer, sind blühend von Aussehen am Körper und von heller Farbe. Die aber gelbe Galle haben, die pflegen träge, kleinmüthig, scheu und schwach zu sein. Die schleimigen sind träge und kalt.“4

Hippokrates macht in diesem Brief keine Aussage über das Temperament des Melancholikers, also über den Menschentyp, in dessen Körper schwarze Galle vorherrscht. Eine wirklich klare Beschreibung der einzelnen Temperamente ist in den hippokratischen Schriften nicht zu finden. Wie genau wird die Melancholie im Corpus Hippokraticum eingeführt? „Das Wort Melancholie begegnet uns zuerst im Corpus Hippocraticum, und zwar findet sich der früheste Beleg in der Schrift Über Luft, Wasser und Ortslagen, die allgemein zu den ältesten, im letzten Drittel des 5. Jahrhunderts entstandenen Bestandteilen der hippokratischen Schriftensammlung gerechnet wird, wenn es auch zweifelhaft ist, ob als ihr

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Christian-Friedrich Uppmann: Hippokrates sämtliche Werke. Band 3, Berlin 1847, S. 369.

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Verfasser Hippokrates selbst gelten kann. In dieser Schrift, deren Thema der Einfluss des Klimaablaufs auf Gesundheit und Krankheit des Menschen ist, heißt es im 10. Kapitel (p.66, 20ff.): ‚Wenn auf einen rauen im Zeichen des Nordwindes stehenden Sommer ein ebenfalls im Zeichen des Nordwindes stehender trockener Herbst folgt, so ist dieser nützlich für die Schleimtypen und die feuchten Naturen, aber sehr schädlich für die Galletypen, denn diese werden zu stark ausgetrocknet, bekommen Augenentzündungen, heftige und langwierige Fieber, einige sogar Melancholien. Die Begründung ist folgende: Das Feuchte und Wässrige der Galle wird ausgetrocknet und aufgezehrt, das Dicke und Beißende bleibt zurück‘.“5

Dem Text lassen sich dem Altphilologen Hellmuth Flashar folgend drei Beobachtungen entnehmen: • Die Melancholie wird angesehen als eine Krankheit, die unter bestimmten Be-

dingungen einen bestimmten Typ befallen kann aber nicht muss. • Dieser Typ heißt Galletyp, nicht etwa der Schwarzgallige (also Melancholi-

ker), wie man zunächst erwarten müsste. • Der Text verrät nichts über das Krankheitsbild der Melancholie. Aber die Ur-

sachen der Krankheit werden bezeichnet: Eindickung der Galle, Austrocknen ihrer feuchtwässrigen Bestandteile. Es wird eine somatische Ursache beschrieben, wobei aus dem Text nicht hervorgeht, ob mit dieser Krankheit auch eine psychische Störung verbunden ist.6 Nur der Begriff des Melancholikers geht auf Hippokrates zurück, nicht aber der Begriff der Melancholie im Sinne der Depression oder das Krankheitsbild: „Überhaupt kommt das Substantiv Melancholie im Corp. Hipp. relativ selten vor, erheblich häufiger hingegen der Melancholiker, der nun ein fester Begriff ist. […] Überblickt man die Zeugnisse, so fällt auf, dass dem Melancholiker sowohl manische als auch depressive Ausschwingungen zugeschrieben werden, wobei manche Einzelheiten beobachtet werden, die später festgehalten und dann zum typischen Charakteristikum des Melancholikers werden [….] Desöfteren werden ekstatische Anfälle des Melancholikers erwähnt.

5

Hellmut Flashar: Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike. Berlin 1966, S. 21f.

6

Anmerkung Flashars an dieser Stelle: Dass an die spätere Verbindung von Melancholie und Epilepsie hier zu denken sei, sei unwahrscheinlich, denn die ungefähr gleichzeitig entstandene Schrift „Über die heilige Krankheit“ (= Epilepsie) schließe diese Beziehung ausdrücklich aus.

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[…] Was die manischen Erregungen betrifft, so wird der Melancholiker bzw. das melancholische Leiden mit Manie und Epilepsie zusammengestellt, aber nicht identifiziert.“ (Flashar, S. 46)

Umgekehrt werden aber auch Depressionen mit der Melancholie in Verbindung gebracht. Bezeichnend dafür ist die bereits zitierte Angabe: „Wenn Furcht und Missgunst lange anhalten, so ist dies melancholisch“. Der Eindruck entsteht, dass die verschieden gerichteten Affektäußerungen sich etwa im Sinne „unserer zirkulären Psychose“, so Flashar im Jahr 1966, bereits für die hippokratischen Ärzte zum Bilde des Melancholikers vereinen.

ARISTOTELES /T HEOPHRAST Der geschichtliche Ursprung der kulturellen Bedeutung des Begriffs der Melancholie liegt in einem der Problemata Physica, die mit dem Corpus Aristotelicum überliefert sind (XXX, 1). Dieser Text stammt nach heutigem Kenntnisstand nicht von Aristoteles (384 – 322 v. Chr.), sondern ist ein Exerpt von dessen Schüler Theophrast (371 – 287 v. Chr.). Das neuartige an dem Text zeigt sich bereits mit der überraschenden Leitfrage: „Warum sind alle überragenden Männer Melancholiker?“ In zeitlicher Nähe zu Aristoteles (bzw. Theophrast) hat Platon (428 – 348 v. Chr.) in seinem Buch „Phaidros“ den ersten konsistenten Be griff von Wahnsinn, Mania, entworfen.7 Möglicherweise begreife Theophrast deshalb, so der Philosoph Michael Theunissen, bei aller Aufmerksamkeit für depressive Erscheinungen, die Melancholie von der Manie, vom rasenden Wahnsinn her. Mit Sicherheit verarbeite Theophrast Platons These, durch Wahnsinn würden uns die größten Güter zuteil. Aber er streicht den Zusatz, wonach das nur für den von Göttern verordneten Wahnsinn gilt. Der ganze Text der Problemata verfolge eine Strategie der Enttheologisierung und Naturalisierung, die eine Absage an Platon bedeute. Aristoteles bzw. Theophrast schreibt: „Warum sind alle hervorragenden Männer, ob Philosophen, Staatsmänner, Dichter oder Künstler, offenbar Melancholiker gewesen? Und zwar einige in solchem Maße, dass sie sogar unter den von der schwarzen Galle verursachten krankhaften Anfällen litten, wie in der Heroensage von Herakles berichtet wird. […] Wein in großer Menge genossen versetzt offensichtlich Menschen in solche Zustände, wie wir sie bei Melancholikern finden,

7

Vgl.: Michael Theunissen: Vorentwürfe von Moderne. Antike Melancholie und die Acedia des Mittelalters. Berlin 1996, S. 4.

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und ruft bei den Trinkenden die verschiedensten Charakterzüge hervor, indem er sie zum Beispiel jähzornig, menschenfreundlich, rührselig oder draufgängerisch macht; doch weder Honig noch Milch, noch Wasser, noch etwas anderes dieser Art hat eine derartige Wirkung. Dass der Wein bei den Menschen die verschiedensten Charakterzüge hervorbringt, kann man auch sehen, wenn man beobachtet, wie er die Trinkenden allmählich verändert: Diejenigen, welche am Anfang, im nüchternen Zustand, kühl und schweigsam waren, macht er, wenn sie nur ein wenig zuviel getrunken haben, geschwätziger; trinken sie noch ein wenig mehr, macht er sie großsprecherisch und übermütig und, wenn sie fortfahren, draufgängerisch. Trinken sie noch mehr, so macht er sie frevelhaft und schließlich rasend. Ein allzu großes Übermaß jedoch erschöpft sie und macht sie stumpfsinnig wie jene, die von Kindheit an Epileptiker waren oder deren Zustand an extreme Melancholie grenzt.“8

Als Melancholiker werden die Menschentypen beschrieben, die sich in nüchternem Zustand so verhalten, wie ein „normaler Mensch“ während eines Bacchanals, in großem Facettenreichtum: „Wie nun der einzelne Mensch seinen Charakter ändert beim Trinken, je nach der Menge des Weines, die er zu sich genommen hat, so gibt es – entsprechend jeder solchen temporären Verhaltensweise – gewisse Menschentypen, die sie verkörpern. Denn so wie der eine in diesem Augenblick der Trunkenheit ist, so ist der ein anderer von Natur: der eine geschwätzig, der andere erregbar, der dritte stets den Tränen nahe […] Manchmal werden sie auch rührselig oder grausam oder stumm. Denn einige versinken in völliges Schweigen, und zwar besonders Melancholiker, die zu Verzückungen neigen […]. Wein bringt nun die Menschen in einen außergewöhnlichen Zustand, nicht für lange Zeit, sondern nur kurz, die Naturanlage aber für immer, auf Lebenszeit, denn die einen sind tollkühn, andere schweigsam, andere mitleidig, wiederum andere feige, von Natur.“ (Ebda., Hervorhebung: KI)

Es gibt also nicht die Melancholie oder den Melancholiker. Melancholiker werden als Ausnahmemenschen beschrieben. Die medizinische Begründung für die Ähnlichkeit zwischen Trunkenheit und dem melancholischen Temperament stützt Theophrast auf die Elementenlehre in Verbindung mit der Erkenntnis, dass alle Dinge durch Wärme reguliert werden. Wein, schwarze Galle und das melancholische Temperament sind „lufthaltig“. Wein erzeugt nämlich Schaum und die

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Zitiert nach: Raymond Klibansky, Erwin Panowsky, Fritz Saxl: Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst. Frankfurt/M. 1992, S. 59 ff.

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Ärzte rechnen Blähungsbeschwerden sowie Unterleibsbeschwerden zu den melancholischen Krankheiten. Der dunkle Wein erzeugt mehr Luft, also Schaum, weil er wärmer ist. Aus diesem Grund erregt Wein „Liebesverlangen in den Menschen“. Und auch die meisten Melancholiker sind wollüstig.9 „Der Geschlechtsakt ist nämlich mit der Erzeugung von Luft verbunden. […] Noch bevor sie Samen auswerfen können, haben Knaben, die kurz vor der Pubertät stehen, ein gewisses Lustempfinden, wenn sie in unbeherrschter Weise ihr Glied reiben. Das hat offenbar seinen Grund darin, dass die Luft durch die Poren entweicht, durch die sich später die Flüssigkeit ergießt. Die Ergießung des Samens und sein Herausschleudern wird offenbar bewirkt durch das Nachstoßen der Luft.“ (Ebda.)

Hier muss man sich die Frage stellen, ob Frauen nach dieser Theorie überhaupt melancholisch sein können. Vermutlich eher nicht, denn sie verfügen ja nicht über ein solches pneumatisches System. Heute leiden doppelt soviel Frauen wie Männer unter Depression. Pneumatisch erläutert Theophrast weiter: „Daraus [aus dem Nachstoßen der Luft] ergibt sich, dass diejenigen Speisen und Getränke den Geschlechtstrieb anregen, welche die Gegend um die Geschlechtsorgane mit Luft ausfüllen.“ (Ebda.) Das gilt auch für den Wein: „Dabei bringt auch der dunkle Wein die Menschen in dieselbe Verfassung, in der sich die Melancholiker befinden.“ (Ebda.) Depression im heutigen Sinne lässt sich schwerlich mit Be- bzw. Angetrunkensein vergleichen. Den meisten Melancholikern kann man nach Aristoteles/Theophrast auch ansehen, dass sie Luft enthalten: „Dass diese Luft enthalten, wird an einigen Symptomen deutlich: die meisten Melancholiker sind nämlich mager und haben hervortretende Adern; die Ursache dafür ist aber nicht die Menge des Blutes, sondern die der Luft. Warum aber nicht alle Melancholiker mager sind und nicht alle dunkel sind, sondern nur die, welche besonders schlechte Säfte in sich tragen, das gehört in eine andere Untersuchung.“ (Ebda.)

Solche Typen gelten heute als „sehnig“ und „durchtrainiert“. Melancholiker können an Depressionen leiden: „Die schwarze Galle ist von Natur aus kalt, wenn sie zu kalt wird, kann sie Schlagflüsse, Lähmungen Depressionen oder Angstzustände hervorrufen.“ (Ebda., Hervorhebung KI) Wenn die schwarze Galle zu warm wird, bewirkt sie übersteigertes „Hochgefühl, Sangesfreude, Ekstase, Aufbrechen von Wunden und dergleichen.“ (Ebda.) Oft wurde gesagt, dass hier

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Eine Nebenwirkung aller zeitgenössischen Antidepressiva besteht in der Verminderung der Libido.

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das „manisch-depressive Irresein“ bzw. die bipolare Störung beschrieben wird. Nur wenn die Galle zu extrem temperiert ist, kommt es zu krankheitswertigen Ausschlägen: „Diejenigen jedoch, bei denen die übermäßige Wärme auf ein Mittelmaß abgeschwächt ist, die sind dann zwar Melancholiker, aber besonnener und weniger exzentrisch, in vieler Hinsicht anderen überlegen, sei es durch geistige Bildung, sei es durch künstlerische Begabung, sei es durch staatsmännische Fähigkeiten.“ (Ebda.) Hier liegt die Begründung für den frühneuzeitlichen (wie er z.B. in Dürers bekanntem Bild sich darstellt) und späteren z.B. romantischen melancholischen Geniekult. Die Wirkung schwarzer Galle und ihrer Temperierung ist auch für normale Menschen nachvollziehbar. In jedem Menschen befindet sich schwarze Galle. Jeder Mensch kann also nach dieser Vorstellung melancholisch werden, nicht nur der Melancholiker: „Ähnlich verhält es sich mit den alltäglichen Depressionen, denn wir sind ja oft in einer traurigen Stimmung, aber ‚warum‘, das können wir nicht sagen.“ (Ebda.) Genau diese alltäglichen Depressionen, die für Theophrast kein Merkmal der Melancholie sind, sollen heute Krankheitswert haben. Hier liegt der große Unterschied zwischen der Melancholieauffassung Theophrasts und unserem Verständnis von Depression als einer Krankheit. Tatsächlich ist in dieser, unserer Vorstellung, ein Melancholieverbot enthalten. Melancholiker neigen nach Theophrast erst dann, wenn sie sich nicht in Acht nehmen, zu den melancholischen Krankheiten. Diese können Epilepsie, Schlagfluss (Schlaganfall), starke Depressionen und Angstzustände sein. Dies sind die Krankheiten der „hervorragenden Männer“. Es ist möglich, dass sich Tollkühnheit anstatt der Krankheiten zeigt. Wenn die schwarze Galle bei Melancholikern zu stark abgekühlt ist, kommt es zu schweren Depressionen. „Einige Melancholiker verfallen nach dem Trinken in Depressionen; die Wärme des Weins bringt nämlich die natürliche Wärme zum Erlöschen. Wärme in der Region des Körpers, in der wir denken und hoffen, macht uns wohlgemut; deswegen sind auch alle Menschen geneigt, bis zur Berauschtheit zu trinken.“ (Ebda.) Nach dem Trinken kann man depressiv im Sinne von missgestimmt sein, aber: „Auch werden nach dem Geschlechtsverkehr die meisten Menschen etwas missgestimmt. […] Sie werden missgestimmt, denn sie erkalten nach dem Geschlechtsverkehr, weil von notwendigen Stoffen ihnen etwas abhanden kommt, was sich daran zeigt, dass nicht viel Ausfluss stattgefunden hat.“ (Ebda.) Die Lehre kurz zusammengefasst: „Wenn nun die schwarzgallige Mischung zu kalt wird, ruft sie, wie gesagt, verschiedenartige Depressionen hervor; wird sie aber wärmer, Heiterkeit […] Da es möglich ist, dass

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die variable Mischung gut ausgewogen ist und sich in gewisser Weise günstig erweist, das heißt, dass sie, je nachdem es nötig ist, in einen wärmeren oder wiederum kälteren Zustand ist, oder umgekehrt, weil er zum Übermaß neigt, deshalb sind alle Melancholiker hervorragende Menschen, nicht durch ihre Krankheit, sondern durch ihre Naturanlage.“ (Ebda.)

Melancholiker können sich also offenbar in verschiedene Gemütszustände versetzen. Der Melancholiker ist nicht der Depressive unserer Tage. Eher im Gegenteil: Klibansky et al. kommentieren: „So ist es kein Zufall, wenn späterhin der arabische Ausdruck für ‚schwarz‘ oder ‚melancholisch‘ sich zum Synonym für Leidenschaft entwickeln sollte.“ (Ebda., S. 85) Theophrast, so Theunissen, löst die Melancholie aus der 4-Säfte-Lehre heraus. Damit sei er im eigentlichen Sinne modern. Hippokrates (bzw. Polybos) spreche erstmals klar aus, dass Gesundheit in der gleichmäßigen Mischung der Säfte, Krankheit hingegen im Übermaß eines einzelnen Saftes bestehe. Theophrast setzte diese Mischung in die Melancholie selbst. Diese Verselbstständigung der Melancholie bedeute die epochale Behauptung einer natürlichen, nicht krankhaften Melancholie, die es in unserer postmodernen Gesellschaft so nicht mehr geben darf. Ursprünglich, so Theunissen im Gegensatz zu Flashar, wurde unter Melancholie nichts als eine Krankheit oder eine Verhaltungsstörung verstanden. Das Ursprungskonzept der Melancholie lässt sich also mit dem von der Depression als Krankheit im Sinne einer Stoffwechselstörung vergleichen. Der Beitrag der Ärzte bestand in der Erklärung des krankhaften Benehmens durch eine Verdickung der schwarzen Galle. Theophrast grenzt von der krankhaften Melancholie eine natürliche ab, weil er in ihr die Quelle überragender Leistungen zu finden hofft. Mit den Überragenden wird zwangsläufig auch der Durchschnitt zum Thema, lassen sich die Überragenden doch nur vor dem Hintergrund des Durchschnitts erfassen. Die Frage, die sich stellt, lautet also, wie sich Melancholiker zu gewöhnlichen Menschen verhalten. Auf diese Frage gibt Theophrast eine revolutionäre Antwort: Es ist überhaupt niemand denkbar, der nicht wenigstens ein bisschen von dem in sich hätte, was Menschen zu Melancholikern macht. Melancholie wird in den Gegenstandbereich einer allgemeinen Anthropologie überführt. Das ist in der Tat auch vor der Folie des heutigen Depressionsbegriffs revolutionär. Denn heute ist der Depressive in jedem Fall ein Fall für den Arzt, auch leichte Depressionen müssen behandelt werden, sie können sich zu schweren auswachsen. Nur wer nicht depressiv ist, ist gesund. Melancholie, so Theophrast dagegen, gehört zum menschlichen Dasein dazu. In ihrer natürlichen Form kann Melancholie sowohl ein Nährboden für Krankheit sein, als auch eine Pflanzstätte großer Leistungen, weil sie virtuell beides in sich

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birgt, das Seltene und das Seltsame. Theunissens Interpretation: Die Melancholie widerstreitet dem Eigentlichen, dem eindeutig Natürlichen. Der Begriff der Natur wird zweideutig und löst sich in letzter Konsequenz auf. Indem das Widernatürliche in das eindringt, was als natürlich gilt, bleibt von der reinen Natur am Ende nichts übrig. Melancholie ist also nicht mehr nur „natürlich“ eine Krankheit. Damit steht sie im Gegensatz zur heutigen Volkskrankheit Depression: Bei Theophrast entsteht aus Melancholie Kultur. In dieser Hinsicht, so Theunissen, enthält der Text den Keim zu einer Entwicklung, die in die Moderne führt. Theophrasts Text ist als Text über Wesen und Ursprung der Genialität gelesen worden. Alle Überragenden waren Melancholiker, also ist die Melancholie das Geheimnis der Genialität. Die Melancholie ist ein anzustrebender Zustand, um schöpferisch-genialisch zu wirken. Dies galt nach dem Mittelalter von der Renaissance bis ins 19. Jahrhundert. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts, zu der Zeit, als der Depressionsbegriff heraufdämmerte, klingt der melancholische Geniekult allmählich ab. Theophrast sieht auch, dass die Melancholiker nicht nur ungleich mit anderen sind, sie sind auch ungleich mit sich und ungleich mit sich ist auch die schwarze Galle. Die Melancholiker müssen sie selbst werden. Nehmen sie sich nicht in Acht, so verfallen sie in die ihrem Temperament entsprechenden Krankheiten. An dieser Stelle wird die Somatologie zur Diätik. Die melancholische Konstitution gibt den Boden ab für die Krankheit der Manischen und Depressiven wie auch für die Produktivität der Kulturschaffenden. Allen Menschen ist etwas von dieser Potenz beigemischt. Die Frage nach der Ursache für die Universalität einer latenten Melancholie beantwortet Theophrast im Blick auf psychosomatische Erkrankungen. Ausgehend von den Stimmungen, die die Melancholiker scheinbar grundlos überfallen, stellt er fest, dass in kleinem Maße wir alle derartigen Schwankungen ausgesetzt sind. Dies führt er darauf zurück, dass es im Grunde keinen Menschen gibt, bei dem die schwarze Galle nicht wenigstens etwas von ihrer natürlichen Temperatur abweicht. Wir sind alle Melancholiker, so wie wir alle vermutlich auch Depressive sind. Es wird gesagt, dass diese Wesenart normal ist, sie reiche über die Grenzen der melancholischen Krankheit hinaus. Damit stellt sich das Problem, ob es für sie überhaupt noch einen Maßstab gibt. Diese Melancholie hat nichts mit unserer Depression zu tun. Vielmehr ist es die mittelalterliche Acedia die mit dem Boom der Depression fröhliche Wiederauferstehung feiert. Wie kommt Theophrast in der Nachfolge des Aristoteles auf eine solche Definition von (ermöglichender) Melancholie? In Aristoteles Ethik ist Glückseligkeit das höchste Gut. Tugend, der Weg zur Glückseligkeit, steht zwischen zwei Extremen, sie ist die goldene Mitte. Mut steht so z.B. zwischen Feigheit und

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Tollkühnheit. Der Philosoph Bertrand Russell10 kritisiert Aristoteles Ethik als undemokratisch. Soziale und politische Gleichheit spiele für Aristoteles in unserem heutigen Sinne keine Rolle. Nicht die Gleichheit (vor dem Gesetz z.B.) bedinge Gerechtigkeit, sondern das rechte Verhältnis, das nur bisweilen Gleichheit ist. „Beim Herrn oder Vater sieht die Gerechtigkeit anders aus als beim Bürger, denn ein Sohn oder Sklave ist Eigentum, und dem Eigentum gegenüber kann es keine Ungerechtigkeit geben.“ (Russel, ebda., S. 195) Der Sklave ist ein „beseeltes Werkzeug“. Jeder soll nach seinem Wert geliebt werden, es ist daher richtig, dass der Geringere den Höheren mehr liebt als umgekehrt. Frauen, Kinder, Untertanen sollen für ihre Männer, Eltern und Lehrer mehr Liebe empfinden als diese für sie. Der Idealmensch soll nach der Auffassung des Aristoteles etwas ganz anderes als ein christlicher Heiliger sein. Er soll Selbstbewusstsein besitzen und die eigenen Vorzüge nicht unterschätzen. Er soll also „stolz“ sein, Russel übersetzt diesen Stolz mit „Seelengröße besitzen“. Die Charakteristik der Seelengröße ist interessant und lässt nach Russell den Unterschied zwischen heidnischer und christlicher Ethik erkennen; es erklärt sich daraus auch, was Nietzsche berechtigte, das Christentum für eine Sklavenmoral zu halten, außerdem zeigt es, was heroische, übermenschliche Melancholie von depressiver Melancholie unterscheidet. Wer Seelengröße besitzt, muss sittlich gut sein: „Wer Seelengröße (Stolz) besitzt, muss, wenn er das Höchste beanspruchen darf, ein vortrefflicher Mensch sein. Also muss, wer wahrhaft Seelengröße besitzt, sittlich gut sein. […] Seelengröße ist also gewissermaßen die Krone aller Tugenden, denn sie steigert diese und kann ohne sie überhaupt nicht bestehen. Darum ist es schwer, Seelengröße zu erlangen; denn ohne vollkommene Tüchtigkeit ist es nicht möglich.“ (Aristoteles, Nikomachische Ethik, zit. nach Russell, S. 196).

Das ist eine zirkelschlüssige aristokratische Argumentation, die das Bestehende bewahren möchte. Sehr viele dieser Menschen wird es in einem Staat nicht gegeben haben. Diese wenigen (Über-)Menschen von Seelengröße sind von Aristoteles bzw. Theophrast als Melancholiker gekennzeichnet worden. Russell stellt die Frage: Können wir einen Staat für moralisch befriedigend halten, dessen Verfassung im wesentlichen die besten Dinge nur einigen wenigen vorbehält, während sie der großen Mehrheit zumutet, sich mit dem zweitbesten zu begnügen? Aristoteles und Platon bejahen diese Frage und Nietzsche und

10 Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. Europa Verlag Zürich 1992 (1950).

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wohl auch Peter Sloterdijk stimmen mit ihnen überein. Stoiker, Christen, Demokraten und Marxisten verneinen sie. Glück besteht für Aristoteles in tugendhafter Betätigung und vollkommene Glückseligkeit in der besten Betätigung, in der Kontemplation. Hier wird der (scheinbare) Widerspruch zwischen Melancholie und Glück aufgelöst: Die Bewertung von Tatenlosigkeit, die heute als negativ erlebt und bewertet wird, ist kulturabhängig. Der in Kontemplation Versunkene, der keinerlei praktischer Fähigkeit nachgeht, ist zwar melancholisch, aber das wird anders als heute in westlichen Ländern (und ähnlich wie in östlichen, buddhistisch geprägten Ländern) nicht negativ wahrgenommen, sondern als erstrebenwert gesetzt. Die Kontemplation ist jeder praktischen Tätigkeit vorzuziehen, denn sie gestattet Muße, und Muße ist für das Glück wesentlich. Der Mensch kann zwar nicht ganz in der Kontemplation aufgehen, soweit ihm das jedoch gelingt, hat er Teil am göttlichen Leben. Von allen menschlichen Wesen ist der Philosoph in seiner Betätigung am gottähnlichsten, und daher ist er der Glücklichste und Beste. Kontemplation, Gebrauch der Vernunft, Grübeln, die zeitgenössischen Verstärker der Depression machen den Philosophen gottähnlich, aber auch melancholisch. In der Melancholie ist er den Göttern ähnlich, denn auch diese haben Sorge um unsere menschlichen Dinge. Russel zitiert den Abschluss der aristotelischen Ethik: „Wer aber denkend tätig ist und die Vernunft in sich pflegt, mag sich nicht nur der allerbesten Verfassung erfreuen, sondern auch von der Gottheit am meisten geliebt werden. Denn, wenn die Götter, wie man doch allgemein glaubt, um unsere menschlichen Beziehungen irgendwelche Sorge haben, muss man vernünftigerweise urteilen, dass sie an dem Besten und ihnen Verwandtesten Freude haben – und das ist unsere Vernunft – und dass sie denjenigen, die dasselbe am meisten lieben und hochachten, mit Gutem vergelten, weil sie für das, was ihnen lieb ist, Sorge tragen und recht und löblich handeln: Es ist aber unverkennbar, dass dies alles vorzüglich bei dem Weisen zu finden ist. Mithin wird er von der Gottheit am meisten geliebt; wenn aber das, so muss er auch der Glückseligste sein. Somit wäre der Weise auch aus diesem Grunde der Glückseligste.“ (Russell, ebda., S. 202f.)

Die griechischen Philosophen glaubten ursprünglich aus religiösen Gründen, jede Sache oder Person habe ihre eigene Sphäre, die zu überschreiten „ungerecht“ sei. Manche Menschen haben dank ihres Charakters oder ihrer Fähigkeiten eine größere Sphäre als andere. Daher ist es auch nicht ungerecht, wenn sie sich eines größeren Teils des Glücks erfreuen. „Die sogenannte Güte oder Menschenfreundlichkeit“ so Russell (ebda., S.205) „fehlt bei Aristoteles fast völlig. Die Leiden der Menschen lassen ihn, so-

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fern er sich ihrer überhaupt bewusst wird, ganz unberührt; er hält sie verstandesmäßig für ein Übel; nirgends aber merkt man, dass er darunter leidet, wenn die Betroffenen nicht gerade seine Freunde sind.“ Ganz allgemein sei die aristotelische Ethik durch eine Gefühlsarmut gekennzeichnet. Mit unangemessener behaglicher Selbstzufriedenheit spekuliere Aristoteles über menschliche Dinge; alles, was die Menschen zu leidenschaftlichem gegenseitigem Interesse anregt, scheine er zu übersehen. Was er zu sagen habe, sei nützlich für bequeme Menschen mit schwachem Temperament; wer aber von einem Gott oder Teufel besessen sei oder wen äußeres Missgeschick zur Verzweiflung treibe, dem könne er nichts bieten. Aus diesem Grund, so schließt Russell, entbehre die Ethik, so berühmt sie ist, der wirklichen Bedeutung. Depression ist vor diesem Hintergrund tatsächlich eine „demokratische Krankheit“ – oder besser: die Krankheit demokratischer Massengesellschaften. Es steht das Mitleid mit den von dieser Krankheit gepeinigten Menschen im Vordergrund; ihnen ist zu helfen, denn schließlich kann es jeden treffen. Der Gedanke der Gleichheit verbietet die Vorstellung, dass Melancholie wie in der aristotelischen Vorstellung die einen, „Auserwählten“, zu Genies macht, die Masse aber zu Opfern. Sloterdijk sieht das, wie beschrieben, anders.

ACEDIA Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit ändert sich die Bewertung der Melancholie langsam aber sehr nachhaltig. In einer frühneuzeitlichen Darstellung wird die Trunkenheit des melancholischen Temperaments dargestellt durch die Figur eines Affen. Auf einem Einblattdruck des 16. Jahrhunderts11 wird das trunkene melancholische Temperament ganz im Sinne Theophrasts als heiter dargestellt. Man sieht einen Mann, der mit einem Becher auf dem Kopf tanzt. Man muss aber wissen, dass der Affe in der mittelalterlichen Tiersymbolik ein negatives Symbol war: Der Affe ist Symboltier des bösen, arglistigen, lasterhaften Menschen, auch der Wollust, der Torheit, des Neides oder der Eitelkeit. Hier erkennt man – vor christlichem Hintergrund – eine Negativbewertung der Melancholie. Zum Vergleich: Der Phlegmatiker übergibt sich auf dem Bild, sein Symboltier ist das Schwein. Der Choleriker ist auf Streit aus, zieht sein Schwert. Sein Symboltier ist der Bär, manchmal auch der Hund. Der Sanguiniker schließlich ist nachdenklich, philosophisch, sinnend, sein Symboltier ist das Schaf. Tatsächlich

11 In: Hasso Spode: Die Macht der Trunkenheit. Kultur- und Sozialgeschichte des Alkohols in Deutschland. Oldenburg 1993, S. 80.

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entspricht unserem heutigen Verständnis von Depression wohl am ehesten die Darstellung des phlegmatischen Temperaments. Der heutige Depressive ist nicht mehr „böse“, er ist schwach und kraftlos. Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme schreibt, dass die Negativbewertung der Melancholie im Mittelalter beginnt.12 In der christlichen Einfärbung der Temperamentenlehre wird die Melancholie zur Sünde: Unter dem Namen „Acedia“ bezeichnet sie die Todsünden der Tücke, der Trauer, des Stumpfsinns und der Herzensträgheit, der Verhärtung gegenüber der Gnade. Es sind dies Revolten gegen die göttliche Ordnung und die Schöpfung, deren Schönheit und sinngesättigte Ordnung der Melancholiker zu verneinen scheint. Die bestehende theologische (und damit gesellschaftliche) Ordnung erweist sich beim Melancholiker als wirkungslos. Der Melancholiker verkörpert das Temperament, an dem die verbindlichen Sinnangebote und Werte der Gesellschaft abprallen. Mit der Hartnäckigkeit seiner schwarzen Gesinnung, so Böhme, seinem ungläubig in die leere Ferne schweifenden Blick, mit der Düsternis seiner Gefühle stört er das Sinn- und Normengefüge der Kultur. Der Melancholiker ist Störenfried, weil er den gesellschaftlichen Konsens stört, er ist Sünder, weil an ihm der göttliche Kosmos zu zerbrechen scheint. Böhme sieht in dieser Abwertung der Melancholie einen der großen gesellschaftlichen Abwehrmechanismen, die seit dem christlichen Mittelalter in allen Gesellschaftsformen wiederkehren: Jede Ordnung erhalte sich durch Ausgrenzung dessen, was als Unordnung gilt. Darum werde im Mittelalter der Melancholiker nicht als Leidender oder Opfer ins soziale Mitgefühl eingeschlossen. Vielmehr wird der, dem kein Glück dieser Gesellschaft, dem kein Wissen, kein Beruf, kein Vergnügen und keine Hoffnung seine schwarzen Gedanken vertreiben, zum Außenseiter gemacht, zum Träger eines unsichtbaren Stigmas, das ihn, so passiv, schweigsam und duldend er leben mag, inmitten allen Lebens und aller Freuden zum Einsamen stempelt. Die abendländische Einsamkeit wurzelt im melancholischen Temperament; wer nicht dazugehört, nicht von den kodifizierten Zielen des Handelns – Gottgefälligkeit, Glück, Erfolg, Reichtum – getragen scheint, macht sich verdächtig. Tendenziell ist jeder Melancholiker auch ein Häretiker oder Dissident. Sein Denken und seine Gefühle schweifen in Zonen des Tabus, der Sünde, der Unmoral, der Normlosigkeit (Anomie). Das ist ein Gedanke, der sich bis in unsere Tage erhalten hat. Der Soziologe Wolf Lepenies hat dazu seine Dissertation verfasst (s.u.). Man kann also die Frage stellen: Ist der Melancholiker womöglich für die bestehende Ordnung gefährlich? Wird „die Depression“ heute deshalb so gnadenlos verfolgt?

12 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988; http://www.culture.huberlin. de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/melancho.html.

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Michael Theunissen vergleicht die Acedia anhand Thomas von Aquins Buch De Acedia mit der Melancholieauffassung Theophrasts und bemerkt gleich zu Beginn, dass die beschriebenen Phänomene so verschieden sind, dass man bezweifeln kann, ob sie überhaupt miteinander vergleichbar seien. Vom Standpunkt der Melancholie aus erscheint die Acedia, wie auch die postmoderne Depression als etwas rein Negatives. Schon der Name, eine latinisierte Version des griechischen akedia, zeigt etwas Negatives an: a-kedia negiert Kedos, Sorge. Die in dem Namen angesprochene Sorglosigkeit ist aber nicht die von Jesus zugelassene, sondern eine Unbekümmertheit um das, worum wir uns kümmern müssen, eine Art Abfall vom Glauben. Das Belastende, von dem sie sich distanziert, kehrt in ihr als eine Form von Beschwernis wieder. Thomas von Aquin definiert sie als eine Form von Traurigkeit. Acedia potenziert die Traurigkeit als eine beschwerende, die Lust an geistlichen Werken raubende, letztlich in die Ohnmacht treibende Kraft. Acedia war auch als „Mönchskrankheit“ bekannt. Vorwegnehmend kann man hier schon einmal zwei Bezüge zwischen dieser Mönchskrankheit und unserer „Volkskrankheit Depression“ herstellen; einmal zum Soziologen Alain Ehrenberg und einmal zum Philosophen Martin Heidegger. Depression ist nach Ehrenberg, wie berichtet, eine Krankheit, die nicht auf Schuld, sondern auf dem Unvermögen basiert, sich selbst eine authentische Identität aufzubauen. Depression verkörpert ihm zu Folge die Spannung zwischen dem Bestreben, man selbst zu sein und der Schwierigkeit dieses Projekt zu verwirklichen. Hier ist die Parallele zur Acedia: Das Unvermögen, ein gottgefälliges Leben zu führen, entspricht dem Unvermögen ein selbstbestimmtes, „authentisches“ Leben zu führen. Depression ist die heutige Mönchskrankheit, anstelle Gottes steht das Selbst. Wer an Acedia leidet, wird Gottes überdrüssig, deshalb war Acedia eine Todsünde. Wer heute an Depression leidet wird sich selbst überdrüssig, deshalb ist Depression eine Volks-Krankheit die dringend diagnostiziert und behandelt werden muss. Acedia offenbart auch das, was Heidegger den „Lastcharakter des Daseins“ nennt. Acedia äußert sich in einem Widerwillen, der bis zum Ekel gehen kann und endet oft in einer Schlaffheit, die in Stumpfsinn übergeht. So ähnlich verhält es sich mit den leichten und mittleren Depressionen. Die psychopathologische Relevanz der Acedia liegt im Gegensatz zu der Melancholie einzig und allein auf der Depression. Sie ist Depression im wörtlichen Sinne einer Niedergeschlagenheit, der sich nichts Erhebendes mehr zugesellt. In der Philosophie hat Heidegger die Acedia als Depression modernisiert, und zwar in seiner Lehre von der Erschließungsfunktion der Stimmung, einem Hauptstück seiner Fundamentalontologie. Als belastend wird in ihr das je eigene Dasein empfunden, und zwar deshalb, weil auf ihm die Last des Seins selbst

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liegt. Dieses ursprünglich Lastende ist für den, der in Acedia versinkt, der ihn beanspruchende Gott. Heidegger hat Gott weggestrichen. Acedia oder Depression taucht in Sein und Zeit unter dem Namen des Überdrusses auf, als Paradigma für die alltäglichen Indifferenzgefühle, die Heidegger unter dem Begriff der „fahlen Ungestimmtheit“ subsumiert: „Dass Stimmungen verdorben werden und umschlagen können, sagt nur, dass das Dasein je schon immer gestimmt ist. Die oft anhaltende, ebenmäßige und fahle Ungestimmtheit, die nicht mit Verstimmung verwechselt werden darf, ist so wenig nichts, dass gerade in ihr das Dasein ihm selbst überdrüssig wird. Das Sein des Da ist in solchen Verstimmungen als Last offenbar geworden.“13

Dies ist eine Beschreibung der postmodernen Depression, die heute Krankheitswert haben soll, bei Heidegger aber eine philosophische Grunderfahrung ist. Die Stimmung ist die ursprüngliche Seinsart des Daseins. Ist sie nicht da, oder ungestimmt, wird dem Menschen (dem „Dasein“) sein Leben zur Last. Allerdings erschließt diese Ungestimmtheit das je eigene Dasein und das Seiende im Ganzen, und zwar als sinnlos. Der Überdruss am göttlichen Gut in der Acedia breitet sich aufs Ganze aus. Die Psychoanalytikerin Angelika Ebrecht schreibt dazu: „Dass Langeweile und (Vergnügungs-)Sucht zwei Grundstimmungen der Moderne darstellen und einen Teil ihres depressiven Lebensgefühls ausmachen, ist ebenfalls bei Heidegger angedeutet. Heidegger führt die ‚Verunsicherung unserer heutigen Lage‘ darauf zurück, dass die Menschen sich selbst ‚unbedeutend‘, gleichgültig und langweilig geworden seien.“14

Tatsächlich entspricht die Acedia unserem heutigen Bild der Depression. Diese ist heute eine zu vermeidende „Sünde“, wie das Rauchen, man kann von beidem loskommen, beides ist „gut behandelbar“, man muss nur die Hilfsangebote annehmen. Volkskrankheit war die Acedia nicht, sie war, wie gesagt, Mönchskrankheit.. In der Renaissance entwickelte sich eine Alternative zur mittelalterlichkatholischen Vorstellung der Acedia. Die mittelalterliche Wertung von Acedia (und in diesem Sinne Melancholie) als Todsünde hatte im 15. Jahrhundert der

13 Martin Heidegger: Sein und Zeit. Tübingen 1923, S. 134. 14 Angelika Ebrecht: Auf der Suche nach dem verlorenen Objekt. Die Funktion der Stimmung im depressiven Lebensgefühl der Moderne. In: Stephan Hau et al. (Hg.): Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit. Göttingen 2005, S. 240.

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Florentiner Neuplatoniker Marsilio Ficino korrigiert, indem er das antike Bild des genialen Melancholikers wiederbelebt hatte. Ficino (1433–1499) war ein Florentiner Humanist und Philosoph. Mit seinen Übersetzungen und Kommentaren trug er maßgeblich zur Kenntnis Platons und des Platonismus in seiner Epoche bei und machte dem lateinischsprachigen Publikum Schriften antiker griechischsprachiger Autoren zugänglich. Kein Wunder, dass unter den berühmten Zeitgenossen des 15. Jahrhunderts zahlreiche Melancholiker waren: Michelangelo, Montaigne oder Rudolf II sind nur einige Beispiele. Auch Albrecht Dürers bekannter Kupferstich „Melencholia I“ aus dem Jahr 1514 kann als Beitrag der Renaissance gelten, die antike Vorstellung von Melancholie wieder zu entdecken

P ROTESTANTISMUS Im Protestantismus des 16. Jahrhunderts erfuhr die Melancholie dann eine Umdeutung: Sie galt nicht mehr in erster Linie als zu vermeidende Sünde, sondern als eine Versuchung des Teufels, die der Gläubige wie eine Prüfung bestehen muss. Das zeitweise Versinken in Verzweiflungszuständen erschien vor diesem Hintergrund als eine Bestätigung der Ernsthaftigkeit des eigenen Glaubens.15 Auf der anderen Seite erkannte man auch eine zerstörerische Kraft der Melancholie und empfahl als Therapie geistliche Mittel wie Gebete oder geistliche Lieder und weltliche Zerstreuung durch Musik und heitere Gesellschaft. Dabei spielte auch die persönliche Erfahrung Luthers, der häufig von Schwermut überfallen wurde, eine Rolle. Luther und seine Nachfolger aus der protestantischen Orthodoxie des 16. Jahrhunderts haben sich in zahlreichen Trostschriften mit der Melancholie auseinandergesetzt. In der ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts einsetzenden Propaganda der Gegenreformation wurde die Melancholie deswegen häufig als typische Krankheit der Protestanten bezeichnet. Dass der Teufel seine „feurigen Pfeile“ abschießt und dadurch die Seele des Menschen in Brand setzt wie Soldaten eine belagerte Stadt, scheint für die Menschen des konfessionellen Zeitalters eine vollkommen plausible Vorstellung gewesen zu sein. Im 16. Jahrhundert wurde Melancholie zur Modeerscheinung. Davon berichtet Robert Burton. Im elisabethanischen England war die Krankheit so verbreitet,

15 Die Radikalisierung dieser Vorstellung zeichnet den depressiven US-amerikanischen Calvinismus des frühen 19. Jahrhunderts aus und ist Grundlage für einen „dialektischen Umschlag“ hin zu dem „positiven Denken“ der neuen protestantischen Erweckungsbewegungen – das hier als eine Wurzel der Volkskrankheit Depression betrachtet wird.

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dass man sie als „the Elisabethean malady“ bezeichnete (wie später die Rachitis); Shakespeares Hamlet zeigte genauso melancholische Züge wie der Zyniker Jaques in „As you like it“. Melancholie wird im Zuge der Reformation verweltlicht und individualisiert. Melancholie wird rationalisiert. Melancholie ist kein Schicksal mehr, an dem man sich dauerhaft laben kann (wie in der Antike) und auch keine Sünde mehr. Melancholie wird zu einer Art Prüfung. Man muss sich mit der Melancholie auseinandersetzen, um Gott zu finden. Das ist der Kern des Protestantismus. Die US-amerikanische Publizistin Barbara Ehrenreich meint, dass in dem von den ersten weißen Siedlern aus England mitgebrachten radikalen puritanischen Kalvinismus die Wurzeln der amerikanischen Depression liegen. „Der Kalvinismus machte die Menschen krank“. (Ehrenreich, a.a.O., S. 91). Sie zitiert Robert Burtons „Anatomie der Melancholie“ als Zeugnis für diesen krank und depressiv machenden Kalvinismus. Sie bezieht sich auf die von Burton angeprangerte „rasende Selbsterforschung, diese müßigen Spekulationen, das fruchtlose Grübeln über das Auserwähltsein“ (ebda.) der Puritaner.16

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Eine besondere Stellung in der Geschichte der Melancholie/Depression nimmt Robert Burtons Anatomie der Melancholie ein. Es ist das erste Selbsthilfebuch zu dem Thema. Robert Burton (1577–1640) war englischer Schriftsteller und anglikanischer Geistlicher und Gelehrter. Burton verbrachte fast sein ganzes Leben als Erwachsener als Geistlicher und Gelehrter am Christ-Church-College in Oxford. Er schrieb zunächst wenig erfolgreiche Dramen und Lyrik. Erst sein Buch The Anatomy of Melancholy, das fünf ständig erweiterte Auflagen zu Lebzeiten und eine postume Auflage erlebte, wurde ein großer Erfolg. Und das deshalb, weil es vielleicht das erste Selbsthilfebuch war – obwohl Burton explizit von Selbsthilfe abrät. Das Buch war also ein Bestseller und wuchs bis zum Tod des Verfassers mit jeder der zahlreichen Neuausgaben an. 1621, als die erste Auflage des Buches erschien, herrschte in England eine Zeit der sozialen Umbrüche. Auf dem Kontinent tobte der Dreißigjährige Krieg, von England aus wurden die neuen Kolonien in Amerika besiedelt, die Nachwirkungen der Reformation bereiteten den englischen Bürgerkrieg vor – es war durchaus eine Phase der Globalisierung.

16 Siehe dazu ausführlich unten das Kapitel „Die Entstehung der therapeutischen Erzählung aus dem Geist der Erweckungsbewegungen.“

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Melancholie ist für Burton mehr als Depression: Melancholie kann Fluch oder Gunst des Schicksals sein. Als von der Renaissance beeinflusster Gelehrter steht Burton auch in aristotelischer Tradition in Hinsicht auf sein Thema. Nach den alten hippokratischen Prinzipien führt das Vorherrschen der kalten, zähflüssigen, sauren Schwarzgalle im Flüssigkeitshaushalt oder „Temperament“ des Menschen entweder zu pathologischer Niedergeschlagenheit und zum Wahnsinn oder zur „Erkenntnis und Schöpferkraft, einer überlegenen Betrachtung, die den mörderischen Aktionismus der modernen Welt als den wahren Wahnsinn begreift.“17 Der denaturierten Melancholie, also der Depression und dem Wahnsinn steht die sublimierte Melancholie im Zeichen des Saturn gegenüber: Sie wird zum Adelsprädikat des Geistes. In seiner satirischen Vorrede zu dem Buch, die er mit Democritus Junior unterschreibt, ist Burton der Meinung, dass die ganze Welt „verrückt, melancholisch und vernarrt“18 sei. Als ein Hauptproblem seiner Zeit beschreibt er den religiösen Wahn. Kurzum, die Welt ist „völlig verrückt“, ein „Irrenhaus (domicilium insanorum).“ Das höchste Gut sei Besitz und die Göttin, die angebetet werde, heiße „Dea Moneta“, Königin Geld, „ihr opfern wir täglich, sie lenkt unsere Herzen, Hände, Sinne, unser ganzes Wesen […] sie gilt als alleinige Befehlshaberin all unserer Taten.“ (Burton, ebda. S. 59) Logischerweise ist sie dann auch Schuld daran, dass die ganze Welt an melancholischem Wahn leidet. Jedoch würden wir keinerlei Notiz von dieser Krankheit des Geistes nehmen. So beginnt – satirisch – die Vorrede mit dem Titel „Democritus Junior an den Leser“ zu Burtons Anatomie. Auch wenn Burtons Vorwort satirisch ist, ist es einer der wichtigsten Abschnitte des Buches, weil die christliche Melancholievorstellung hier satirisch verkleidet von einem antiken Standpunkt aus kritisiert wird. Nach dem Vorwort geht es in Burtons Werk seriös weiter: Wie es sich für einen Theologen gehört, führt Burton nun alle Übel und Krankheiten, auch die Melancholie, auf die „Urbzw. Erbsünde“ zurück. Der Oberbegriff der Melancholie ist „Narrheit, Unsinnigkeit und Unvernunft“. (Burton, S. 79) Hier scheint das „Böse“ der Acedia durch. Erworbene Narrheit, die chronisch ist, ist ein Merkmal der Melancholie selbst. Wahnsinn lässt sich definieren als heftige Narrheit oder Raserei ohne Fie-

17 Werner von Koppenfels: Nachwort. In: Robert Burton: Die Anatomie der Melancholie. Ihr Wesen und Wirkung, Herkunft und Heilung, philosophisch, medizinisch, historisch offengelegt und seziert. Mainz 2001, S. 325. 18 Robert Burton: Die Anatomie der Melancholie. Ihr Wesen und Wirkung, Herkunft und Heilung, philosophisch, medizinisch, historisch offengelegt und seziert. Mainz 2001, S. 43.

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ber, in ihren Äußerungen viel gewaltsamer als Melancholie, oft begleitet von Wut und Geschrei. Melancholie ist entweder eine Veranlagung oder eine angenommene Gewohnheit. Als Veranlagung ist sie jene „flüchtige Schwermut, die da kommt und geht.“ (Burton , S. 82) In diesem Sinn nennt er denjenigen melancholisch, der trüb, traurig, träge, missgelaunt, eigenbrötlerisch oder in irgendeiner Weise verstimmt und verärgert ist. „Und von diesen melancholischen Stimmungen ist kein Mensch auf der Welt verschont.“ (Burton, S. 82) Und es sei höchst lächerlich, wenn die Sterblichen in diesem Dasein eine ununterbrochene Dauer des Glücks erwarten. Die Welt muss standhaft ertragen werden: „Es gibt keine Aussicht, ihr aus dem Weg zu gehen, es sei denn, du wappnest dich mit Geduld und Herzensstärke, um dich ihr entgegenzustellen, Drangsal zu leiden als guter Soldat Christi (wie Paulus rät) und sie standhaft zu ertragen.“ (Burton , S. 83) Aber nur wenige können diesen Rat befolgen. Die anderen lassen sich von ihren Trieben hinreißen „wie das dumpfe Vieh“, sie unterwerfen sich willig der Welt und stürzen so in ein Labyrinth von Schmerz, Leid und Elend. Sie geben ihre Seele schutzlos preis und so geschieht es häufig, „dass diese Anlage zur Gewohnheit wird und (wie Seneca bemerkt) viele Affekte sich durch Vernachlässigung in Krankheit verwandeln.“ (Burton, S. 84) Melancholie leitet sich von dem Begriff für schwarze Galle ab. Ob diese eine Ursache oder Wirkung, eine Krankheit oder ein Symptom ist, will Burton nicht entscheiden. Die gängige Definition zitiert er wie folgt: „Eine Art von unfiebrigem Wahnzustand, begleitet in der Regel von Angst und Niedergeschlagenheit ohne ersichtlichen Anlass.“ (Burton, S. 86) Ein Unterschied zur heutigen Prävalenz von „Depression“ besteht auch bei Burton darin, dass Männer häufiger von Melancholie befallen werden. Aber wenn Frauen daran erkranken, sind sie weit schlimmer und heftiger gepeinigt. Gott ist einer der Urheber von Melancholie, aber auch „Geister“, denen ein umfangreiches Kapitel gewidmet ist, können Urheber sein. Andere Gründe liegen in der Ernährung, in der Zeugung und der Vererbung. Rindfleisch z.B. gilt ihm als Verursacher von Melancholie, weil es dickflüssiges, schwarzgalliges Blut hervorbringe. Schlechte Luft sei auch ein Grund für Melancholie, wobei Luftveränderung dann logischerweise eine Therapie darstellt. Übermäßige Beschäftigung sowie Trägheit sind ebenfalls Gründe für Melancholie. Er zitiert Jean François Fernel, auch Johannes Fernelius genannt, einen von 1497 bis 1558 lebenden französischen Astronomen und Physiologen, der sagte „dass viele und ermüdende Beschäftigung Lebensgeister und Substanz aufzehrt, und den Leib auskühlt, sie rührt jene Säfte zur Raserei auf, die die Natur sonst zu einem Gebräu vermischt und entschärft hätte.“ (Burton, S. 122) Auch Trägheit, das Merkmal der besitzenden Stände, ist Ursache allen möglichen Unheils und außerdem eine Todsünde. Und sie ist der „wahre Grund

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dafür, dass so viele hohe Herren, Damen und Fräulein in Stadt und Land an diesem Leiden laborieren; denn Müßiggang ist des adligen Standes Anhang.“ (Burton, S. 125) Übermäßige Einsamkeit und willentliche Absonderung sind ebenfalls die „Vertrauten der Schwermut.“ Auch Denker oder Philosophen sind so Zielscheibe der Melancholie. Zunächst genießen es die melancholisch Gestimmten, ganze Tage im Bett zu verbringen, ihr Zimmer nicht zu verlassen, in einem einsamen Hain zu wandeln etc., um dort über einen angenehmen, ergötzlichen Gegenstand nachzusinnen, der sie besonders bewegt. Diese phantastischen Vorstellungen setzen ihnen aber heimlich, stark empfunden, dringlich und beständig zu, lenken sie dann so stark ab, dass sie ihre wichtigsten Geschäfte vernachlässigen; „unfähig zum Widerstand und zur Selbstbefreiung brüten sie ewig vor sich hin, melancholisieren und lassen sich treiben.“ (Burton, S. 127) Weitere Gründe werden aufgezählt: Ehrgeiz, Eigenliebe, Liebe zur Gelehrsamkeit und übermäßiges Studium. Über die Gelehrten und Dichter wird eine Brücke zur Armut geschlagen. Poesie und Bettelei seien zwillingsgeborene Bastarde und unzertrennliche Weggefährten, das ist ein Grund, weshalb hier Melancholie oft auftritt, ein weiterer Grund ist die Kontemplation, die „das Hirn austrocknet und die natürliche Wärme auslöscht, denn während die Lebensgeister oben im Kopf in angestrengte Betrachtung versunken sind, liegen Leber und Magen verwaist.“ (Burton, S. 140) Das deutet auch darauf, dass Melancholie ihre Ursache nicht nur im Kopf, sondern auch im Magen hat. Armut und Mangel als Ursachen der Melancholie widmet Burton ein eigenes Kapitel. Wenn einer arm ist, so hat er nie einen guten Tag, er lebt im hintersten Winkel, trostlos, verstoßen und verlassen, arm am Beutel, krank am Herzen. „Denn arm sein heißt, ein Spitzbube, ein Narr, ein Schuft, ein verruchter und widerwärtiger Bursche sein, ein Dorn im allgemeinen Auge – wer arm sagt, hat alles gesagt.“ (Burton, S. 164) Melancholie kann also jeden befallen, egal ob arm oder reich. Weitere Ursachen, die Burton beschreibt sind: Verlust weltlicher Güter sowie Furcht und Neugier. Melancholie ist also allgegenwärtig, man sollte sich mit ihr arrangieren. Zu ihr gehören körperliche Symptome wie Kälte und Trockenheit aber auch Hitze und Trockenheit. Er zitiert Hippokrates: „Die Patienten sind ausgezehrt, welk, hohlwangig, vorzeitig gealtert, verrunzelt, mit viel Wind, Kolik und Bauchweh im Leib geplagt, rülpsen viel, der Stuhl trocken und hart, niedergeschlagen die Miene, schlaff hängender Bart, Ohrensausen, Schwindel, Wirrköpfigkeit, schlafen nicht oder nur wenig und mit Unterbrechungen, schreckliche Alpträume.“ (Burton, S. 175)

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Geistige Symptome sind Wahnsinn und Trauer. Trauer wird erst als zweites Merkmal genannt. Die Ausprägung des Wahnsinns oder der Narrheit fällt unterschiedlich aus; es gibt „unter Tausend kaum zwei, die in gleicher Weise närrisch sind“. Trauer ist erst das zweite Kennzeichen der Schwermut. Hier wird noch einmal der Unterschied zur „Depression“ deutlich. Melancholie bezeichnet offenbar eher so etwas wie Verwirrung. Trauer ist zwangsläufiges „Beiwerk“ dieser Verwirrung. Selbstquäler sind die melancholischen Menschen, im Geiste gestört von rast- und ruhelosen Gedanken. Aber es bleibt dabei – und das ist ein bedeutender Unterschied zur Depression: Die Melancholie ist zu Beginn höchst wohltuend, eine sehr willkommene Ausschweifung des Geistes. Die krankhafte Melancholie, unter der man leidet, ist dann für Burton offenbar so etwas wie eine Strafe. Wenn man der Verlockung der melancholischen Ausschweifung widersteht, entgeht man also auch der Strafe. Melancholie ist zunächst also eine ungemein lustvolle Stimmung: „Man ist allein, wohnt allein, wandelt allein, versenkt sich ins Nachsinnen, liegt tagelang zu Bett, träumt sozusagen im Wachen und formt sich tausend phantastische Vorstellungen.“ (Burton, S. 178) Wenn der Patient eine kräftige Konstitution hat, kann er jahrelang so weitermachen. Doch irgendwann passiert folgendes: „Jäh wechselt die Bühne, Furcht und Trauer ersetzen all die einschmeichelnden Vorstellungen, Argwohn, Missmut und ewige Angst nehmen ihren Platz ein, mit Hilfe der Schuhlöffel Müßiggang und selbst gewählte Einsamkeit wird der wüste Teufel Melancholie angezogen.“ (Ebda.) Zusammenfassend rechtfertigt sich Burton für seine Darstellung: Er möchte die Melancholiker nicht mit Spott bedenken, er empfindet eher Mitleid mit ihnen, es geht ihm darum, zu zeigen, dass selbst der beste und gesündeste „von uns allen in großer Gefahr schwebt.“ (Ebda.) Das ist kein Wunder, denkt man an seine Ausgangsprämisse: Die Welt ist ein Narrenhaus. Da kann immer etwas hängenbleiben. Auch deshalb ist die Melancholie für Burton „die Königin aller Krankheiten.“ (Burton, S. 186) Die Krankheit führt nur selten zum Tode, es sei denn, die Betroffenen legten selbst Hand an sich, was nicht selten vorkomme. Der erste Teil des Werkes, Bestimmung, Ursachen und Symptome der Melancholie, endet mit einem: „Gott sei uns allen gnädig“. (Burton ist damit recht nahe am modernen Depressionsalarmismus). Der zweite Teil widmet sich der Heilung der Melancholie. Und es kann gesagt werden, dass alles das, was als Melancholie auslösend beschrieben wird, wie z.B. das Studieren, auch zu ihrer Heilung beitragen kann. Zur Heilung erforderlich auf Seiten des Patienten ist, dass dieser die eigene Gesundheit will, und dies nicht erst in ferner Zukunft. Außerdem muss der Patient die Erwartung ha-

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ben, dass sein Arzt ihm helfen kann – ein Dilemma für einen zweifelnden Melancholiker. Derjenige, der die Krankheit heilen will, soll, so schreibt Burton zustimmend, nach Paracelsus Meinung zugleich Magier, Alchemist, Philosoph und Astrologe sein. Von „Selbsthilfe“ rät Burton ab: Der Patient soll nicht munter an sich selbst herumdoktern oder gleich ein Rezept ausprobieren, dessen Beschreibung er in einem Buch gelesen hat. Burton gibt dann natürlich Tipps zur Selbsthilfe, so berichtet er über mögliche Diäten und über die Bereinigung der Luft bzw. den Ortswechsel. Dabei schweift er gehörig ab. (Kapitelüberschrift: „Die Bereinigung der Luft. Mit einer gehörigen Abschweifung“, Burton, S. 200). Die Abschweifung reflektiert die verschiedenen Klimata, ihre Vor- und Nachteile in den verschiedenen Weltgegenden. Natürlich ist es nicht immer möglich, zu verreisen oder gleich den Wohnsitz zu wechseln (wozu er rät). Dann hilft ein Spaziergang in der frischen Luft (heute wird Joggen empfohlen). Auch das, was heute als „Feng Shui“ bekannt ist, hat Burton im Programm: Es ist sehr darauf zu achten, wie wir unsere Fenster, Lichtquellen und Behausungen platzieren, wie wir die umgebende Luft einschließen oder ausschließen. Grundsätzlich gibt es bei Burton drei Behandlungswege. Dies hat sich bis heute nicht geändert: Diaetica, Pharmaceutica und Chirurgica, also Behandlung durch Einwirkung auf Diät oder Lebensweise, durch Medikamente und schließlich durch ärztliche Eingriffe. Damals wie heute ging es darum, dass die „Körpersäfte“ – heute sind dies Stoffwechselprozesse im Gehirn – wieder ins Gleichgewicht kommen. Damals geschah das hauptsächlich durch Aderlass. Zu den Diaetica fasst Burton zusammen: Vielfältige Betätigung, Beschäftigung, Gegenstände, Klimata und Orte sind vorzügliche Mittel gegen diese Krankheit und alle sonstigen. Stete Bewegung tut not. Das lehre uns die Natur, die auch nicht stillstehe. Doch leider gebe es den Adel, die müßige Klasse, die ein schlechtes Vorbild darstelle. Deshalb grassiere die Melancholie gerade unter „unseren Großen“. Gegen die Untätigkeit verschreibt Burton Leibesübungen. Er zählt Möglichkeiten von Sport und Erholung auf, die zu seiner Zeit favorisiert wurden: „Glockenläuten, Kugelschieben, Bogenschießen, Kegeln, Krocket, Ringewerfen, Ballschleudern, Barrenturnen, Hockey, Springen, Rennen, Fechten, Paradieren, Schwimmen, Prügelspiel, Degen, Fußball, Ballonspiel, Quintanenrennen [ein Ritterspiel zu Pferde gegen eine Figur oder einen Metallring], Reiten, Ringestechen und Lanzenbrechen, Turnieren, Pferderennen, Wildgänsejagen. […] Doch der allerbeste Frischluft-Zeitvertreib ist: in gefälliger Gegend zu lustwandeln, ein kleiner Spaziergang“. (Burton, S. 246)

Burtons Ziel ist es, „die niedergeschlagenen Geistes sind, aufzuhelfen“: damit auf der einen Seite die übermäßig Angestrengten sich zu erholen, und anderer-

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seits die übertriebenen Müßigen sich zu beschäftigen lernen. Deshalb empfiehlt er im Folgenden jetzt das Studieren, nachdem er im ersten Teil vor dem übermäßigen Studieren gewarnt hat. Nun heißt es: „Unter den häuslichen Übungen oder Erquickungen des Geistes jedoch ist keine so allumfassend […], so dazu geschickt und geschaffen, Müßiggang und Melancholie zu vertreiben, wie die des Studierens.“ (Burton, S. 239) Diese Erkenntnis ist kein Wunder, hat sich Burton doch in seiner Vorrede geoutet: Er leidet selbst an Melancholie und die (intellektuelle) Beschäftigung mit dieser Krankheit ist ihm Therapie. Nach dem Sport also empfiehlt er das Lesen und die Beschäftigung mit Wissenschaft, Literatur und weiteren Künsten. Es gilt: „Wer immer demnach von Einsamkeit überwältigt, oder von lockender Melancholie und eitlen Einbildungen besessen, aus Mangel an Tätigkeit nicht weiß, wie er seine Zeit verbringen soll, oder aber von weltlichen Sorgen gepeinigt wird, dem kann ich kein besseres Heilmittel verschreiben als eben das Studium: Er bequeme sich dazu, eine Kunst oder Wissenschaft zu erlernen. Voraussetzung ist freilich, dass das Leiden nicht ausgerechnet vom übermäßigen Studium herrührt, denn in solchen Fällen gießt er Öl ins Feuer, und nichts könnte verderblicher sein.“ (Burton, S. 247f.)

Frauen-Emanzipation gab es damals noch nicht und deshalb gilt für die Frauen: „Was nun die Frauen betrifft, so haben sie statt mühseliger Studien ihre komplizierten Stickereien und Schneidereien, ihr Spinnen, Klöppeln […].“ (Burton, S. 252) Nachdem er diese Aktivitäten empfohlen hat, wendet er sich der Heilung von Schlaflosigkeit zu. Sein Rezept ist Bier mit Muskat. Außerdem empfiehlt er in biblischer Tradition Musik, um ein betrübtes Gemüt wieder aufzuhellen. Viele Mittel hätten Doktoren und Philosophen verschrieben, um betrübte Gemüter aufzuhellen, „doch nach meinem Urteil ist keines so wirksam, so unwiderstehlich, wie ein Becher mit kräftigem Trunk, Lustigkeit, Musik und muntere Gesellschaft.“ Hier liegt auch ein deutlicher Unterschied zum modernen Depressiven: Das Gemüt des Melancholikers kann durch solche Aktivitäten aufgehellt werden, beim Depressiven geht das nicht mehr. Der moderne Depressive ist angeblich nicht mehr aufzuheitern, ja, es wird sogar vor dem Versuch, dies zu tun, gewarnt. Tatsächlich geht Burton so weit, dass er empfiehlt, Melancholie durch Melancholie zu heilen: „Viele werden beim Anhören von Musik melancholisch, aber es ist eine lustvolle Melancholie, die so entsteht; und deshalb ist sie für Menschen im Zustand von Unzufriedenheit, Schmerz, Angst, Sorge oder Niedergeschlagenheit ein sehr probates Heilmittel: Es vertreibt den Kummer, wandelt den betrübten Geist und hilft im Augenblick.“ Gegen Ende des zweiten Teils stellt Burton eine „tröstliche Betrachtung über die Melancholie selbst“ an. Ein

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Melancholiker jammere zwar mehr als ein anderer, doch verglichen mit anderen Krankheiten seien die Symptome der Melancholie weniger grausam als sie erscheinen. Man erinnert sich: Die Melancholie wurde von Burton auch als die Königin der Krankheiten bezeichnet. Genau genommen sei sie aber nicht so schlimm. Denn: „Ist das Leiden neu, und durch Anlage erworben, so tritt es gemeinhin milde auf und kann gebessert werden; wenn eingefleischt aus alter Gewohnheit, so gibt es doch wenigstens lichte Augenblicke, manchmal geht es gut, dann wieder schlecht.“ Schließlich sind sogar tröstliche Umstände mit der Melancholie verbunden: Sie ist nicht ansteckend, sie ist für andere in keiner Weise anstößig (wie Lepra oder Pest). Die Kranken sind in der Regel verschüchtert, argwöhnisch, einsam und drängen sich folglich nicht so auf wie andere, auch das sei ein angenehmer Nebeneffekt der Melancholie. So sind sie wenigstens keine „Schmarotzer, Übervorteiler, Schleicher, Festschmausschnüffler, Betrüger, Zuhälter, Parasiten, Kuppler, Säufer, Hurentreiber. Not und ihre Unzulänglichkeit nötigen sie zu einem ehrlichen Leben.“ (Ebda., S. 261) Furcht und Sorge zwingen sie zu Mäßigung und Nüchternheit. Auch das wird heute nicht mehr so gesehen: Hinter vielen „Suchterkrankungen“ stehe eine Depression wird oft vermutet. Der „Narrheit“ gewinnt Burton positive Seiten ab: „Manche glauben, dass Narren und Wirrköpfe am glücklichsten leben […] Nichtwissen ist die angenehmste Lebensweise […] Unwissenheit ist ein ordentliches Allheilmittel […] Vollkommene Idioten haben es am besten, sie zerfleischen sich nicht vor lauter Sorge, quälen sich nicht ab mit Furcht und Schrecken wie die Weisen, denn (wie einer sagte) wenn Torheit wehtäte, könntet ihr im Vorübergehen auf der Straße aus jedem Haus heulen, brüllen und jammern hören […].“ (Ebda., S. 262f.)

Auch wenn das satirisch gemeint ist, so steckt doch der Glaube darin, dass die Melancholie, die ja aus Traurigkeit und Narrheit besteht, sich selbst heilen kann, nämlich dann, wenn die Narrheit überwiegt. Oder so herum: Die Melancholiker, die überwiegend närrisch sind, leiden nicht an ihrer Melancholie, und das sind, wie das letzte Zitat zeigt, die meisten. Melancholie mit überwiegender Trauer ist also auch bei Burton ein Adelsprädikat. Im letzten Teil des zweiten Teils schließlich geht es um Heilmittel, darunter Saudistel, Zichorie, Sennesblätter, Endivien, Löwenzahn, Hopfen, Frauenhaar, Erdrauch, Ochsenzunge, Boretsch und – Tabak. Der dritte Teil der Abhandlung beschäftigt sich mit der Melancholie der Liebe und ist mit der heutigen Krankheit Depression nicht zu vergleichen, eher mit der Zwangskrankheit. Hier zeigt sich auch sehr deutlich, dass unsere Depression

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nur einen kleinen Ausschnitt aus dem Spektrum der Melancholie darstellt. Melancholie wird in Zusammenhang mit Lust und Leidenschaft gebracht: „Allein unsere Liebe ist maßlos und ungeordnet und nicht in Grenzen zu halten; will nicht das Band der Ehe achten noch an ihrem Gegenstand ihr Genüge finden, sondern will wandern, ausschweifen; eine unbeherrschte, beherrschende Leidenschaft, und lässt nicht mit sich reden, sondern zerstört. Bisweilen tobt diese brennende Lust nach der Ehe und heißt dann mit Recht Eifersucht; bisweilen auch vor der Ehe und heißt dann heroische Schwermut.“ (Ebda., S. 282)

Die Liebe macht die Menschen verrückt. Auch diese doch eher aktivierende Verrücktheit zählt zur Melancholie – ohne eine Spur von Trauer. Diese kann sich einstellen, muss jedoch nicht. So ist dann auch die beste Kur der Liebesmelancholie: „Lasst sie ihren Willen haben: Die letzte Zuflucht und sicherste Medizin, wenn alle anderen Mittel versagen, bleibt: sie zusammenzubringen und sie einander genießen zu lassen.“ (Ebda., S. 314) Burton beendet sein Werk, indem er den Leser neugierig macht auf ein Mittel gegen Eifersucht und Liebesmelancholie, dieses aber nicht nennt. Nicht etwa, weil er ein Quacksalber sei, der sein Geheimnis aus Gewinnsucht schützt, nein, er habe andere Motive, verrate sie aber nicht. Aber er tröstet den Leser und verspricht, ihm das Geheimnis das nächste Mal, wenn er ihn träfe, ins Ohr zu flüstern. Er wüsste dem Leser keinen besseren Rat zu geben. Der letzte Satz der Abhandlung lautet: „Gott bewahre uns vor Unglauben, Schwermut und Eifersucht“. Robert Burtons Motiv, so meinen z.B. Wolf Lepenies und Hans-Joachim Busch19 sei nicht in erster Linie die Auseinandersetzung mit der eigenen Melancholie. Das Vertrautsein mit dieser Materie – und das Motiv, die eigene Melancholie zu bekämpfen – seien vielmehr die Voraussetzung für eine gleichsam sozialpsychologische Streitschrift mit aktuellem politischem Bezug. Burton attestiere dem politischen System seiner Zeit eine Erstarrung und sehe in der herrschenden Melancholie den Ausdruck einer Sozialpathologie, einer Krankheit des Staates. Dem sich ausbreitenden Pessimismus gelte es, etwas entgegenzusetzen. Und so entwickele Burton als „Gegengewicht gegen die herrschende Melancholie“20 eine Utopie, einen „antimelancholischen utopischen Gesellschaftsentwurf.“

19 Hans Joachim Busch: Spätmoderne Gesellschaft und Depression. In: Hau; Busch; Deserno (Hg.): Depression – zwischen Lebensgefühl und Krankheit. Göttingen 2005, S. 195–213. Zu Lepenies siehe unten. 20 Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/M. 1998, S. 20.

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(Lepenies 1998, S. 26) Dieser soll die Lähmung bekämpfen und Engagement und Lebendigkeit wiedererwecken (s. S. 104).

AUF DEM W EG ZUR AUFKLÄRUNG : U TOPIE UND M ELANCHOLIEVERBOT Melancholie ist bis zur Aufklärung keine Kategorie oder Abteilung des Wahnsinns oder der psychischen Krankheit. Diese systematische Kategorisierung der Depression führt erst Kraepelin ein. Michel Foucault behauptet, dass die Renaissance dem Wahnsinn gastfreundlich gegenübertrat: „Diese Welt vom Anfang des siebzehnten Jahrhundert ist auf eigentümliche Weise gastfreundlich gegenüber dem Wahnsinn. Er ist im Herzen der Dinge und der Menschen, ironisches Zeichen, das die Wegzeichen zwischen Wirklichkeit und schimärischer Welt versetzt, die Erinnerung an die großen tragischen Drohungen kaum bewahrend – mehr verwirrtes als beunruhigendes Leben, lächerliche Bewegtheit in der Gesellschaft, Beweglichkeit der Vernunft.“ 21

Das erste dramatische Ereignis der Ausgrenzung, die so genannte „Große Gefangenschaft“, also den Beginn der Entdeckung des Wahnsinns, lokalisiert Michel Foucault für Frankreich zeitlich in der Mitte des 17. Jh., als die Wahnsinnigen – gemeinsam mit anderem „arbeitsscheuen Gesindel“ – in die hôpiteaux généraux eingekerkert wurden. (Foucault 1973, S. 71 ff . ) Bis zu diesem Zeitpunkt wurden laut Foucault zwar der Wahnsinn und die Wahnsinnigen an den Rand der Gesellschaft gedrängt, waren jedoch in der Gesellschaft, in der sie sich bewegten, weit verbreitet. Nach diesem Zeitpunkt sei der Wahnsinnige nicht länger als „eschatologische Gestalt an den Grenzen der Welt“ betrachtet worden, womit der Dialog mit der Unvernunft abgebrochen und der Wahnsinn als das radikal Andere in Bezug auf eine aufgeklärte Vernunft verstanden wurde. Ob Foucault damit richtig liegt, ist allerdings umstritten.22

21 Michel Foucault: Wahnsinn und Gesellschaft. Frankfurt/M. 1973, S. 67. 22 Shorter, a.a.O., S. 17, schreibt dazu: „Vor dem Aufkommen der Heilanstalten gab es kein Goldenes Zeitalter […]. Wer etwas anderes behauptet, der phantasiert, so auch Michel Foucault.“ Und, ders., ebda., S. 36: „Wenn die Psychiatrie ihre wesentlichen Anfänge in privaten Irrenhäusern hatte, denen Familien aus der oberen Mittelschicht

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Jetzt wird nach und nach auch die Melancholie zur Krankheit. Im Jahr 1780 erscheint eine für Seelsorger bestimmte Schrift über Melancholie, die bereits moderne Züge trägt. Autor ist der Prediger und Seelsorger Benjamin Fawcett: „Observations on nature, causes and cure of Melancholy especially of that which is commonly called religious Melancholy.“ 1785 wurde die Schrift ins Deutsche Übersetzt: „Über Melankolie, ihre Beschaffenheit, Ursachen und Heilung, vornämlich über die so genannte religiöse Melankolie. Aus dem Englischen übersetzt von Joachim Friedrich Lehzen“ (Leipzig Weidmanns Erben und Reich, 1785). Diese Schrift, die sich auf bekannte Ärzte der Zeit stützte, vor allem auf Simon-Auguste Tissot und Robert Whytt (ein Zeitgenosse von William Cullen, dem Erfinder des Begriffs der Neurose), aber auch auf Robert Burtons „Anatomy of Melancholy“ von 1624, führte die Melancholie auf körperliche Krankheiten zurück, die sich dem Gefühl mitteilten. (Vgl. Leibbrand, a.a.O., S. 651) Fawcett bezeichnet sie als Nervenkrankheiten. Hauptsymptome sind Selbstvorwürfe und Furchtsamkeit; dabei besteht Irrereden ohne Fieber. Die mildere Form zeige sich in Niedergeschlagenheit, die sich zur Angst vermehrt oder auch bis zur Verzweiflung reiche. Der Kranke erscheine traurig ohne Ursache, freue er sich, züchtige ihn sein Herz dafür. Im Zustand der Verzweiflung sinne er darauf, sich das Leben zu nehmen. Eigentliche Ursache sei „eine besondere Anlage im Bau, Bildung und Zustand des Körpers.“ Fawcett bezeichnet diese Krankheit als Melancholie, wenn der Gegenstand der Unruhe das gegenwärtige Leben und die Welt betreffe; sei ihr Inhalt die Religion, handele es sich um religiöse Melancholie. In therapeutischer Absicht schlägt Fawcett die folgenden Regeln vor: „Man nehme an ihrem Zustand herzlich teil; Man bemühe sich, sie zu überzeugen, es sei die körperlich Krankheit, die auf ihre Seele wirkt; Man verbessere und berichtige ihre irrigen Vorstellungen von diesem oder jenem Religionssatze; Man warne vor anderen Dingen, die ihre Krankheit vermehren und verlängern könnten; Man nenne ihnen Leute, die von einem ebenso schlimmen Zustand wiederhergestellt sind“. (Zit. nach Leibbrand, S. 651)

und Aristokratie riesige Summen zahlten, damit sie ihnen ihre verrückten Verwandten abnahmen – was bleibt dann noch von Foucaults großer Gefangenschaft?“

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Das ist Gesprächs-Psychotherapie, wie sie heute gepflegt wird. Sie setzt sich zusammen aus Wertschätzung, Psychoedukation und positivem Denken bzw. „Korrektur verzerrter Kognitionen.“ Die europäische Aufklärung kann als Feldzug gegen die Melancholie verstanden werden, schreibt der Professor für neuere deutsche Literatur HansJürgen Schings.23 Es scheint, als sollte Saturn, der ferne Regent der ingeniösen Melancholie, noch einmal gestürzt werden. Die Autorität der „pseudoaristotelischen Tradition“ (Schings) wird rigoros gebrochen. Nur eigenwillige Außenseiter wie Johann Georg Hamann, der eben darum zum Vater der melancholischen Genies im „Sturm und Drang" wird, wagen es, die Linie Marsilio Ficinos gegen das Unisono der aufgeklärten Geister weiterzudenken. Der Kulturphilosoph Hartmut Böhme schreibt über die Geschichte des Melancholieverbots: „Melancholie tritt in Gegensatz zur Utopie. Seit den großen Gesellschaftsutopien der Renaissance besteht geradezu ein Melancholie-Verbot. Dass nämlich die Theologie in der Melancholie eine Sünde wider die göttliche Ordnung sieht, liegt auf einer Linie mit dem Verbot, welches die absolutistischen Herrscher am Hofe über die Melancholie verhängen. Beide Male glaubt sich die Ordnungsmacht bedroht. Der Melancholiker, wie er im I7. Jahrhundert für die Salons des entmachteten, vom politischen Handeln abgeschnittenen französischen Adels typisch ist, setzt sich dem Verdacht aus, ein Frondeur gegen den König zu sein. Melancholie wird zum Privileg des Souveräns, der melancholische Untertan zum stillgestellten Rebell. Dies beschreibt Lepenies.“24

Das Melancholieverbot Der Soziologe Wolf Lepenies verortet bereits in Burtons Anatomy ein utopisiertes, modernes Melancholieverbot. Lepenies denkt in seiner wissenssoziologischen Abhandlung Gesellschaft von der „Anomie“ her. Anomie ist ein Zustand, der so etwas wie Gesellschaft unmöglich macht, sozusagen das Gegenteil von Gesellschaft, „Entropie“, informationstheoretisch ausgedrückt: Unordnung, weißes Rauschen. Melancholie ist für Lepenies so ein weißes Rauschen, das den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden kann. Im Vorwort von 1998 zum Buch heißt es:

23 Hans-Jürgen Schings: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. 24 Hartmut Böhme: Natur und Subjekt. Frankfurt/M. 1988. http://www2.culture. huberlin.de/hb/static/archiv/volltexte/texte/natsub/melancho.html.

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„Am Anfang der europäischen Moderne steht der welterschließende Zweifel Descartes, an ihrem Ende steht die weltabgewandte Melancholie. […] Die Melancholie der Intellektuellen wird zum europäischen Topos erst von dem Augenblick an, da mit dem Siegeszug von Kapitalismus und protestantischer Ethik die vita activa zum allgemein akzeptierten Verhaltensideal wird und die vita contemplativa in der bürgerlichen Gesellschaft unter Rechtfertigungszwang gerät. In diesem Sinne versteht sich die kapitalistische Wirtschaftsgesinnung schon früh als ein Heilmittel gegen die Melancholie […] Das heute drohende Verschwinden der Erwerbsarbeit wird daher massenhaft melancholische Dispositionen freisetzen, deren Kontrolle die Freizeitindustrie vor ungeheure Aufgaben stellt: Anstelle von Entspannung, die Mühe und Arbeit kompensiert, müssen in Zukunft vermehrt Spannungen aufgebaut werden, deren Bewältigung den von Arbeit freigesetzten Menschen als Handlungsersatz dienen.“25

Das ist Ausdruck bürgerlicher Angst vor der Volkskrankheit Depression. Diese könnte theoretisch auch zu einer Freisetzung von revolutionärer Energie führen. Lepenies These lautet: Melancholie ist Ausdruck von Unordnung.26 Damit fangen aber die Schwierigkeiten erst an: Was heißt eigentlich Melancholie für Lepenies? Depression jedenfalls gab es 1969 als Kategorie für Lepenies nicht und auch 1998 redet er von der „Freisetzung melancholischer Dispositionen“. Rückgreifend auf die Sozialtypologie des Soziologen Robert K. Merton versucht Lepenies zu zeigen, dass Melancholie Rückzugsverhalten bedeutet, englisch retreatism. Personen, die sich derart verhalten, lehnen sowohl die Ziele als auch die von der Gesellschaft zu deren Erreichung positiv sanktionierten Mittel ab. Diese Personen verhalten sich „anomisch“. Der auf Émile Durkheim zurückgehende Begriff der Anomie ist ein Lieblingsbegriff der frühen bundesdeutschen Soziologie. Anomie bezeichnet in der Soziologie einen Zustand fehlender oder geringer sozialer Normen, Regeln und Ordnung. Anomie ist ein Begriff der bürgerlichen Soziologie – einer Soziologie, die nur die bürgerliche Gesellschaft kennt und die deshalb Verhalten, was in dieser Gesellschaft nicht konform ist, als „anomisch“ beschreibt. Der amerikanische Soziologe Robert M. MacIver schilderte im Jahr 1952 z.B. den Kunststil „Dada“ und den Existenzialismus als künstlerische bzw. philosophische Ideologien anomischer Situationen. (Zit.bei Lepenies, ebda., S. 18)

25 Wolf Lepenies: Melancholie und Gesellschaft. Mit einer neuen Einleitung: Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt/M. 1998, S. XIX f. 26 Diese Beschreibung widerspricht dem ordnungsverliebten „Typus Melancholicus“ von Tellenbach; s.u.

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Die Realfüllung der Kategorie der retreats ist bei Merton, so berichtet Lepenies, besetzt mit folgenden Typen: „Psychotiker, Autisten, Parias, Verstoßenen, Landstreicher, Vagabunden, Tramps, chronische Säufer und Süchtige […] Unzählige Psychiater haben sich mit ihr in Form von Apathie, Melancholie oder ‚anhedonia‘ beschäftigt.“ (Lepenies, S. 12) Zentral in Mertons Soziologie ist der Ordnungsbegriff, dieser ist dem Begriff des Systems ähnlich. Anpassung an diese Ordnung ist Voraussetzung für ihr Funktionieren. Darum geht es in der Gesellschaft laut Merton, aber auch nach anderen strukturfunktionalistischen Soziologen wie Talcott Parsons oder Niklas Luhmann. Diese Theorien werden deshalb mit einigem Recht als „konservativ“ bezeichnet. Wie kommt jetzt die Melancholie ins Spiel? „Am Ordnungsstandard als Maßeinheit orientiert, erscheinen dann Verhaltensweisen als angemessen oder nicht – je nachdem ob sie Ordnung stützen oder Un-Ordnung hervorrufen.“ (Lepenies, S. 17) Zu den letzteren Verhaltensweisen gehört die Melancholie. Die „Retreats“, die Zurückgezogenen, befinden nach dieser Logik zwar in der Gesellschaft (formale Orientierung), aber sie gehören nicht zu ihr (inhaltliche Orientierung). Melancholie lässt sich so als Ordnungsverlust, als Nicht-Ordnung, als Non-Konformität, Un-Ordnung auffassen. Erstaunlicherweise sieht Lepenies in Robert Burton „Anatomie der Melancholie“ eine ähnliche Melancholiekonzeption wie bei Merton. Das ist allerdings sehr konstruiert: In der satirischen Einleitung zu seinem Buch, die auch als Utopie gelesen werden kann, beklagt sich Burton über den Zustand der Welt. An dieser Welt könne man nur verzweifeln, meint er. Das bedeutet, dass Burton gerade nicht konform geht mit der Welt, die er beschreibt. Das sieht Lepenies auch und erklärt deshalb die Satire zur Utopie: Burton möchte, weil er vom Zustand seiner gegenwärtigen Welt angeekelt ist, eine neue Gesellschaft bauen, eine Gesellschaft mit Melancholieverbot – eine Gesellschaft der äußersten Konformität mit „Glückseligkeitsgarantie“. Dies ist aber bei Burton mehr Satire als Utopie. Burton will keine Utopie schreiben – er sieht vielmehr die Beschreibung der Unausweichlichkeit des Verrücktwerdens als Therapie für sich selbst an. Insofern ist das Buch eine Selbsthilfeanstrengung und keine politische Utopie oder gar ein Gesellschaftsentwurf. Burton schreibt in diesem Zusammenhang: „Ich aber will zu meiner eigenen Freude und zu meinem Vergnügen mein eigenes Utopia bauen, ein neues Atlantis, mein eigenen Commonwealth, in dem ich frei herrschen kann, Städte bauen, Gesetze machen, Statuten aufstellen – alles, was ich selber anführen möchte.“ (Burton, S. 27) Burtons Utopie ist deutlich sati-

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risch: Burton beschreibt einen Operettenstaat27 mit verschiedenen Graden der Nobilität, die verliehen werden können, einen Staat in Glanz und Herrlichkeit. Das jedoch genügt Lepenies um zu schließen, dass die Melancholie das negative Abziehbild liefert, das sich von der Utopie „durch Aufstellung der Gegensätze lösen lässt.“ (Lepenies, S. 28) So kommt Lepenies darauf, dass Burton eine Ordnung entwirft, die im Gegensatz steht zur herrschenden Melancholie und die ihrerseits dann, wenn sie verwirklich ist, ein Melancholieverbot enthält. Burton aber kennt als ausgebildeter Theologe und praktizierender Pfarrer (wozu Lepenies bezeichnenderweise kein Wort verliert) nur eine Utopie: die christliche der Erlösung. Und so wie Hildegard von Bingen, die Lepenies auch zitiert, geht Burton davon aus, dass Melancholie (im Sinne der Verrücktheit der Welt) eine Strafe für die Erbsünde ist. Lepenies schreibt: „Den Ordnungsgedanken mit der Melancholie zu verknüpfen liegt nahe. Entstanden aus einem ‚Ordnungswissen‘, nämlich der kosmologischen Elemente-Spekulation der Pythagoreer und dann des Empedokles, erscheint Melancholie schon in der antiken HumoralPathologie als Un-Ordnung: Die richtige und ordentliche Verteilung der Körpersäfte wird als Gesundheit ausgegeben; die Unordnung, das heißt das Überwiegen eines der drei Säfte: Schleim, gelber oder schwarzer Galle, erscheint als Krankheit.“ (Lepenies, S. 30)

Ganz so stimmt das nicht – schwarze Galle wird durchaus, bei Aristoteles (Theophrast) z.B., als Bestandteil von Genialität und Größe gesehen. Und es gibt vier Säfte, nämlich noch das Blut, was in einer (symmetrischen) Ordnung, die aus vier Elementen besteht, auch eine Rolle spielen muss, nach Lepenies tut es dies aber nicht. Interessant ist, dass Lepenies darauf hinweist, dass die Anatomie der Melancholie zu einer Zeit erschien, in der die „Elisabethanische Krankheit“ zum Allgemeinbefinden geworden ist. Das Thema der „universellen Narrheit“ (Lepenies) hatten bereits viele andere Autoren dieser Zeit bearbeitet. Lepenies meint darin die Symptome einer instabilen Gesellschaft zu entdecken – so wie heute, worauf er ja im neuen Vorwort von 1998 eingegangen ist.

27 An anderer Stelle skizziert Lepenies mit einem Zitat Jacques Offenbachs die Operette als ein „Melancholie-Vertreibungsprogramm“, eine „Versicherungsgesellschaft auf Gegenseitigkeit zur Bekämpfung der Langeweile.“ (Lepenies 1998, S. 95)

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Melancholie als Ordnungsüberschuss im Absolutismus Nachdem er versucht hat zu zeigen, dass Melancholie als Un-Ordnung aufgefasst werden kann, versucht Lepenies nun im Weiteren zu zeigen, dass Melancholie auch aus „Ordnungsüberschuss“ über den Umweg der Langeweile erzeugt werden kann. Er bleibt der Zeit Burtons treu, wechselt aber den Schauplatz, dieser ist jetzt das Ancien Regime in Frankreich, die Zeit der sog. Fronde im Übergang zum Absolutismus. Die Fronde (dt. die Schleuder, Bündnis von französischen Adeligen im 17. Jahrhundert) hatte ihre Ursachen in den sozialen und politischen Entwicklungen in Frankreich während der Regierungszeit König Ludwigs XIII. (1601–1643), als dessen erster Minister seit 1624 Kardinal Richelieu (1585– 1642) fungierte. Richelieu verfolgte zunächst das Ziel, die Zentralgewalt der Krone zu stärken und danach zu einer aggressiveren Außenpolitik überzugehen. Für beide Zwecke benötigte er in erster Linie ein stabiles Finanzsystem. Das alte System zur Steuereintreibung durch die hochadeligen Gouverneure der Provinzen hatte sich als uneffektiv erwiesen. Richelieu entsandte deshalb im Jahr 1634 sogenannte Intendants in die Provinzen, welche der Krone direkt unterstanden und über alle Vollmachten zur Steuereintreibung verfügten. Obwohl die Intendants die Gouverneure ergänzen und nicht ersetzen sollten, hatte ihre Einrichtung zur Folge, dass die Bureaux des finances jeder Provinz, welche die finanziell-administrativen Aufgaben bisher wahrgenommen hatten, bis August 1642 sukzessive aufgelöst wurden. Der in ihnen beschäftigte Amtsadel verlor damit nicht nur seine Funktion, sondern auch an Prestige und Einkommen und wurde zu einem erbitterten Gegner der Politik der Krone. Und er wurde „melancholisch“. Der Adel hatte keine Funktion mehr, aber traditionell einen stark formalisierten Habitus (Etikette, Benimmvorschriften etc.). Dies bezeichnet Lepenies als Ordnungsüberschuss, der Langeweile erzeuge und wiederum zur Melancholie führe. Melancholie ist nun kein Weltschmerz mehr, sondern wird der Langeweile, dem Ennui zugerechnet. Langeweile ist das Gefühl, dass die Zeit ungewöhnlich langsam vergeht, hervorgerufen durch völlige Untätigkeit und mangelnde Ablenkung. Lepenies soziologische Erklärung für die Tatsache, dass die Adeligen nichts mehr zu tun haben, lautet folgendermaßen: „Für die Langeweile des alten Schwertadels, die unter der Herrschaft König Ludwigs XIII. immer mehr anwächst, […] ist die Beziehung vom primären zum sekundären Ordnungssystem von entscheidender Bedeutung.“ (Lepenies, ebda., S. 51) Primäre Ordnung meint die institutionelle Verteilung realer Macht- und Einflussmöglichkeiten, sekundäres Ordnungssystem meint ein „Derivat hoch formalisierter, starr verbindlicher und hierarchischer Vorschriften“ wie sie in der Etikette zusammengefasst sind. Ludwig der XIII. habe es durch seine neue Steuer- und Finanzpolitik unter-

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lassen, so Lepenies, das primäre Ordnungssystem in Gang zu halten. Die Folge ist zunächst ein Abflauen des Handlungszwanges für die betreffende gesellschaftliche Schicht und schließlich Langeweile. Ennui bedeutet in dieser Zeit Verlust an Entfaltungsmöglichkeiten im ersten Ordnungssystem und das Bewusstwerden dieses Verlustes. Um diesen Verlust zu kompensieren, kommt es zur Herausbildung der adeligen Salons (zweites Ordnungssystem). Lepenies Hauptzeuge für die Melancholie des Adels ist der Schriftsteller Françoise de La Rochefoucauld (1613–1680). Er zählt in Frankreich zu den sogenannten Moralisten, wobei Moralistik eine philosophisch/soziologische Literaturgattung bezeichnete, deren Vertreter die Sitten und Handlungsweisen ihrer Mitmenschen reflektieren. Und La Rochefoucauld ist schwer melancholisch, er zeigt sogar Anzeichen einer schweren Depression. (Lepenies im Jahr 1969: „exogene Melancholie.“28) Er berichtet davon, dass man ihn seit drei oder vier Jahren kaum hat lachen sehen. Die Salons, in denen La Rochefoucauld verkehrte, beschreibt Lepenies als eine Art Selbsthilfegruppe für den sich langweilenden Adel: „In den Salons verfestigt sich der Zwang, Emotionen mit anderen zu teilen und in der Gruppe abzureagieren. Darin liegt ihre unschätzbare Bedeutung.“ (Ebda. S. 59) Im Salon wird – genau wie in einer Selbsthilfegruppe – der eigene Affektzustand gesellschaftlich vermittelt und kommunizierbar gemacht („découvrir lު intérieur“). Für die Melancholie heißt das aber nicht, dass sie in den Salons als Normalzustand propagiert wird. Im Gegenteil: Es geht darum, die Affekte des einzelnen unter Kontrolle zu bringen. Es durfte allerdings – auch am königlichen Hofe – geweint werden: „Weinen dagegen war am Hofe gestattet, und zumal in Gegenwart des Monarchen an der Tagesordnung: die offenen Affekte bieten eben keine Gefahr, weil hier die Abfuhr von jedem beobachtet werden kann; sie unterstehen öffentlicher Kontrolle.“ (Ebda. S. 65) Verbindlich für diese Zeit war folgende Verhaltensregel: „Zu Hause bleiben und seine Affekte auf Dauer zu dämpfen und zurückzuhalten, oder in den Krieg zu ziehen und sich auszuleben.“ Diese Dichotomie des Verhaltens wurde unter König Ludwig XIV. institutionalisiert. So zog man jedes Jahr im Frühling in den Krieg und schuf so einen Vorrat an Aktion, der die restlichen Monate des „ennui“ über aushaltbar machen sollte.

28 Lepenies 1998, S. 55. Exogene psychische Erkrankungen nach dem alten deutschen psychiatrischen (triadischen) Klassifikationssystem sind durch fassbare organische Veränderungen ausgelöst, z.B. Demenz und Delir. Von Lepenies gemeint ist hier „endogen“. Nach dem triadischen System vermutet man hier körperliche Ursachen, kann sie aber (noch) nicht nachweisen. Zu den endogenen Erkrankungen gehören die Schizophrenie und die manisch-depressiven Psychosen.

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Der Ehrenmann wird unbedingter Gesellschaftsmensch und „Zuchtwesen“. In dieser Entwicklung ist die Tendenz zur Langeweile vorhanden: „Der frühere ungestüme, übermütige Edelmann wird zum zahmen, wohlerzogenen Höfling. Das bunte, abwechslungsreiche Bild von einst weicht einer allgemeinen Melancholie.“ (Lepenies, S. 60) Der Adel sitzt in den Salons oder bei Hofe und langweilt sich – und versucht, die Langeweile auszuhalten. Allerdings gibt es einen großen Unterschied zwischen den Salons und dem Hof. Die Salons sind als Gegenbewegung gegen den Hof zu verstehen. Bei Hofe darf man zwar weinen, aber man darf nicht melancholisch sein. „Der König hasste die Kranken und die Melancholiker.“ (Ebda., S. 64) (Muss er ja auch nach Lepenies Theorie, allein aus Interesse am „Ordnungserhalt“.) Bei Hofe galt der Müßiggang als Feind des Ruhmes, die Langeweile als gefährlich, und die Melancholie entsprach nicht dem Ideal des Ehrenmannes. Zerstreuung war nicht nur gestattet, sondern geradezu gefordert. Melancholisch konnte man nur in den Salons sein. Beides aber – Zerstreuung und „melancholisch sein“ – sind Formen der demonstrativen Muße. Für den US-amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen (1857–1929) war die demonstrative Muße neben dem demonstrativen Konsum Distinktionsmerkmal der herrschenden Klasse generell. Für Lepenies ist die Langeweile oder Melancholie (die beiden Begriffe werden in diesem Kapitel synonym verwandt, nämlich als „resignatives Verhalten“) Ergebnis eines Zuviels an Ordnung – damit meint er die Etikette. Die Beweisführung ist nicht schlüssig. Vielmehr ist der Grund für die Langeweile nicht in einem „Zuviel an Ordnung“ zu suchen, sondern darin, dass für den Adel nach der Reform des Finanzwesen nichts mehr zu tun war. Der Adel war seiner Privilegien beraubt, konnte keine Beute mehr machen (Steuern eintreiben; dies war nun Privileg des Königs) und musste nun überflüssig in den Salons sitzen und melancholisieren. Auch ist der Unterschied zwischen Resignation und Melancholie nicht deutlich: „Resignation und Melancholie bedeuten dabei verschiedene Punkte auf einem Kontinuum menschlichen Verhaltens, das sich von ‚Welt‘ abwendet. Resignation ist das Ergebnis der Vermissung, Enttäuschung und der Niederlage; Melancholie der auf Dauer gestellte emotionale und affektive Zustand, der diesem Moment der Resignation folgt.“ (Ebda., S. 73)

Aber nicht jede Resignation führt zur Melancholie. Wenn es wirklich so ist, wenn Melancholie die Folge von Resignation ist, dann ist die Menschheit so wie Burton es beschreibt, im ganzen melancholisch. Lepenies spricht hier vielmehr von etwas, was man heute mit dem Begriff Frustration bezeichnen würde. Frustration ist jedoch ein relativ alltägliches Gefühl, das keineswegs zwangsläufig

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Melancholie oder Depression auslöst. Eigentlich beschreibt er in diesem Kapitel nichts weiter als das Überflüssigwerden einer Klasse.

B ÜRGERLICHE M ELANCHOLIE IM D EUTSCHLAND DES 18. J AHRHUNDERTS Im Fortgang seiner Untersuchung geht es bei Lepenies um den Ursprung der bürgerlichen Melancholie in Deutschland im 18. Jahrhundert. Es geht darum, zu zeigen, wie die nach Herrschaft strebende, aber (noch) von ihr ausgeschlossene Bourgeoisie diese Aussperrung verarbeitet. Die Antwort: durch Eskapismus und Verherrlichung der Einsamkeit, kurz: durch die Entwicklung melancholischer Züge. Dabei bezieht sich Lepenies auf die Epochen der Klassik, des Biedermeier und der Romantik. Im 18. Jahrhundert sei die Melancholie des Bürgertums, die sich vor allem in der Literatur finde, ein Ausdruck einer bestimmten gesellschaftlichen Situation. Die Begründung für Lepenies ist wieder der „Ordnungsverlust“: „Gegenüber dem 17. Jahrhundert zeigt sich im 18. Jahrhundert ein gewisser Ordnungsverlust.“ (Lepenies, S. 82) Unter dem Druck der ökonomischen Entwicklung (ein sich langsam entfaltender Kapitalismus) verlagert sich das wirtschaftliche Gleichgewicht, das im Absolutismus zwischen bürgerlichen Kaufleuten und Herrschern der (deutschen) Kleinstaaten noch vorhanden war. Die Kaufmannschaft wird zunehmend reicher, bleibt aber politisch einflusslos. Gleichzeitig bleibt der größte Teil des Kleinbürgertums von ökonomischer Expansion ausgeschlossen. So wächst der „Stachel der Resignation.“ Die im wirtschaftlichen Bereich durch das Aufkommen von Geld-Bourgeoisie (und -Adel) in Bewegung geratene Ordnung stabilisiert sich wieder im Beamtenapparat. Dieser umschließt die Länder wie ein starres Korsett; der Staat wird „verbürokratisiert“. Es kommt in der Verwaltung zu einer Vorliebe für Erlasse und Verordnungen und zu einer allgemeinen Tendenz zur Reglementierung des öffentlichen und privaten Lebens. Im Gegensatz zu Frankreich, wo der Beamtenadel neben den Hof- und Landadel tritt, wird in Deutschland die Aristokratie selbst zum Beamtenadel, und das Bürgertum muss sich mit den subalternen Positionen bescheiden. Daher rührt seine Passivität, seine Resignation, sein Weltschmerz, seine Hypochondrie, seine Melancholie. Diese Passivität greife auf das gesamte Kulturleben über und führe zur „fatalen Trennung von Privatheit und Politik.“ (Ebda, S. 83) Weltschmerz und Einsamkeit sind die Themen der Zeit. Melancholie oder Langeweile seien aber nicht bloß das Ergebnis einer (gefühlten) Erniedrigung, sondern auch deutliches Distinktionsmittel gegenüber den unter dem Bürgertum stehenden Klassen. „Denn der gemeine Mann kennt weder Lange-

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weile noch Einsamkeit. Diese aristokratoide Auffassung werden Leopardi, Schopenhauer und Nietzsche aufnehmen und verstärken.“ (Ebda.) Zu Beginn des 19. Jahrhunderts im Werk des französischen Philosophen Maine de Biran (1766–1824) entdeckt Lepenies eine Wende: Melancholie und Langeweile sind von nun an Kategorien des Einzelnen. Melancholie hat sich individualisiert. Erst durch die Individualisierung, die gekennzeichnet ist durch die Auflösung traditioneller Kulturen und fixierter Herrschaftsverhältnisse, wird es möglich, Langeweile und Melancholie als „Existenziale“ aufzufassen, also als etwas, was im Menschen steckt. Melancholie wird jetzt zu einem „psychologischen“ Problem. Das bedeutet aber auch, dass Melancholie vorher etwas anderes gewesen sein muss – nur was? Lebensstil einer Klasse, kollektives Grundgefühl einer Klasse, Distinktionsmittel einer Klasse? War Melancholie davor tatsächlich nicht psychologisch konnotiert? Ein Blick in Burtons Anatomy legt ein anderes Urteil nahe. Bei Maine de Biran ist Melancholie allerdings keine Krankheit – ganz im Gegenteil. Langeweile und Melancholie als Existenzialien anerkannt zu haben, gilt für ihn als eine der tiefsten Erkenntnisse über den Menschen. Das sei ähnlich wie in der Existenzphilosophie. Lepenies beschreibt in seiner Studie keine Volkskrankheit Depression. Wie gesehen bringt er diese erst in seinem neuen Vorwort (von 1998, die Arbeit stammt aus dem Jahr 1967) mit Massenarbeitslosigkeit in Verbindung. Spätaristokratische und bürgerliche Melancholie ist bei ihm, wie der Verweis auf Leopardi, Schopenhauer und Nietzsche zeigt, Attitüde des intellektuellen Außenseiters. Die Depression wird erst mit Einsetzen der Industrialisierung zu einer großen Geisteskrankheiten erklärt. (Vgl. z.B. Jurk, S. 23) Anfang des 19. Jahrhunderts spezialisieren sich die vormaligen Arbeitshäuser sozusagen vorbereitend auf den Wahnsinn. Auf der anderen Seite scheint Anfang des 19. Jahrhunderts die Melancholie als Lebensgefühl in der Kunst so weit verbreitet, dass der Eindruck entstehen kann, sie werde geradezu gesucht. Dafür stehen die Romantiker des späten 18. und 19. Jahrhunderts, Caspar David Friedrich, Novalis, Kleist, aber auch Büchner, Hölderlin, Lenz und Lenau bis hin zu Schlegel, Kierkegaard und Nietzsche.

Von Griesinger zu Kraepelin

W ILHELM G RIESINGER Die Theorien Wilhelm Griesingers und Emil Kraepelins sind für das Verständnis einer Volkskrankheit Depression wichtiger als die Siegmund Freuds. Der Begriff der Depression als systematisiertes Krankheitsbild wurde von Deutschland aus in der psychiatrischen Welt etabliert. In Deutschland betont der 1817 geborene Wilhelm Griesinger einen neuen naturwissenschaftlichen Standpunkt der Psychiatrie. Die Erscheinungen, die man „psychisch“ nennt, stehen ihm zufolge wegen ihres „Organisch-Seins“ allein dem Naturforscher zu. Griesinger ist also der Urahn der heutigen biologischen Psychiatrie. Psychische Bewegungen, also Empfindungen, Gedanken etc. hängen ab von einem „psychischen Tonus“; dieser entspricht dem Charakter oder Gemüt. Das psychische Leben wird nach dieser Vorstellung von einer Reflexaktion beherrscht. Griesinger stellt die Analogie auf, die Strebung, der Tonus verhalte sich zur Vorstellung im Gehirn wie die Bewegung zur Empfindung im Rückenmark. Griesinger ist nach Werner Leibbrand der erste in Deutschland, der mit dem Begriff Depression arbeitet. Depression ist das Gegenteil von gesteigertem Selbstgefühl. Sie ist Ausgangspunkt für weitere Veränderungen, die den Wahnsinn konstruieren. Wer zu Depression neigt, kann also ganz schnell auch richtig verrückt werden. „Ursprünglich ist der Wahnsinn ein Zustand von Übelbefinden, Angst, Leiden, ein Schmerz, aber ein moralischer, intelligenter, zerebraler“ (Leibbrand, a.a.O., S. 513), also eine Depression. Aller Wahnsinn geht von der Depression aus – diesen Gedanken findet man auch bei Kraepelin. Depression als primärer Zustand des Wahnsinns ist für Griesinger Gesetz. Das hat Kraepelin übernommen, und hier liegt einer der Gründe für die moderne Vorstellung der Melancholie als einer Volkskrankheit, die zu bekämpfen ist. Auf Griesinger beruft sich die neue Angst vor der Melancholie. Energetischphysikalisch besteht Depression in einem Hemmungszustand; gehemmt ist die

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normale Zerstreuung der Vorstellung und ihr Übergang in „Strebung“. Diese Hemmung ist organische Nötigung. Die zweite Grundform des Wahnsinns ist für Griesinger der entgegen gesetzte Zustand, die Manie. Sie ist charakterisiert durch erhöhte Zerstreuung mit erleichtertem Übergang von der Vorstellung in die „Strebung“. Damit ist Griesinger direkter Vorläufer der Ideen von Kraepelin und also unserer heutigen biologischen Psychiatrie.

D EGENERATION : B ÉNÉDICT AUGUSTIN M OREL Mitte des 19. Jahrhunderts werden – auch wegen der Einflüsse Darwins – die Themen Vererbung und (viel mehr noch) Entartung in der Psychiatrie relevant. Die bekannteste Auswirkung dieses Themas sind die Alkohol-Prohibitionen, die es in einigen Ländern in abgeschwächter Form noch heute gibt. Sie wurden (und werden) damit begründet, dass Alkohol als Zellgift zu einer Keimschädigung und damit zur „Degeneration“ führt. Begründer der psychiatrischen Entartungstheorien war der französische Psychiater Bénédict Augustin Morel (1809–1873). Morel gab unabhängig von Darwin Erklärungen für somatische und psychologische Anomalien oder Pathologien, die er als „Degenerationen“ bezeichnete. Morels Degenerationsschema hatte auf die Psychiatrie der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine starke Wirkung. Demnach sollen Pathologien von Generation zu Generation zunehmen. Die erste Generation leidet an nervösem Temperament und Ausschweifungen, die zweite an Schlaganfällen, Epilepsie, Hysterie und Alkoholismus, die dritte Generation schließlich neigt zum Selbstmord, zu Psychosen und Geistesschwäche und endlich kommt es in der Vierten zu angeborenen Blödsinnszuständen und Missbildungen. Die letzte Stufe der Entartung sei immer die Sterilität. Den Entarteten erkenne man an den Stigmata der Entartung: „Asymmetrien der Gesichtshälften oder sonstiger korrespondierender Körperteile, ferner Anomalien des Schädelbaues, abstehende oder ungleiche Ohren, angewachsene Ohrläppchen, Schielen, Stottern, Missbildung der Zähne, fehlende oder überzählige Gliederteile, Verkümmerung oder abweichende Bildung der Geschlechtsorgane.“1

Dabei handelt es sich offensichtlich um eine Theorie, die „jeder Tertianer [...] an Hand der historischen Genealogien hätte Lügen strafen können.“ (Eugen Bleuler,

1

Erwin H. Ackerknecht: Kurze Geschichte der Psychiatrie, Stuttgart 1985 Stichwort: „Prägung des Degenerationsgedankens durch die französische Psychiatrie“ .

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zit. ebda.) In Deutschland wurden trotzdem bedeutende Psychiater wie Wilhelm Griesinger und Richard von Krafft-Ebing und auch Emil Kraepelin Anhänger Morels. Die deutsche Psychiatrie stand für Jahrzehnte unter seinem Einfluss. Krafft-Ebing (1840–1902) entwickelte die Idee von Psychoneurosen, die er als Übergangszustand zur Entartung ansah. Er war es auch, der eine Vielzahl von sexuellen Normabweichungen als Entartungsphänomene einordnete. Er war der Ansicht, die moderne Zivilisation stelle enorme Anforderungen an das Nervensystem und verursache damit „Trieb-Fehlfunktionen". Die Prädisposition zu Nervenkrankheiten (Neurasthenie) lasse sich zwar vererben, nicht aber die Nervenkrankheiten selbst. Die Erklärung von Pathologien durch erbliche Degeneration geht nicht nur bei Krafft-Ebing, sondern auch anderen Größen der Psychiatrie im Deutschland des 19. Jahrhunderts, auch bei Emil Kraepelin, mit antisemitischen rassistischen Vorstellungen einher: Besonders Juden seien als Rasse erblich degeneriert und in größerem Maße zu Schwachsinn disponiert. So schreibt etwa Theodor Kirchhoff (1853–1922) in seinem Lehrbuch für Medizinstudenten von 1893: “Perhaps the Jews exhibit a comparatively greater predisposition to insanity, but this may be explained by another peculiarity apart from race, viz., the fact that the Jews intermarry very often in close family circles, the crossing is insufficient, and heredity thus gives rise, by inbreeding, to a rapidly increasing predisposition to insanity.“2

Der Geist der „Entartungstheorien“ ist in anderer Form noch lebendig. In der Entartungstheorie ist eine der Wurzeln für den Glauben an die immer häufiger auftretende Krankheit Depression zu sehen. Dabei spielt es keine Rolle, wem die „Schuld“ für die zunehmende Häufigkeit gegeben wird, wichtig ist, dass die Depression dabei als Bedrohung des „Volkes“, als Volkskrankheit gesehen wird. Wie hier darzulegen ist, gibt es keine steigende Häufigkeit von Depression. Schon Burton beschrieb, wie gesehen, die Melancholie in gewisser Weise als Volkskrankheit. Vielmehr kommt und geht diese Sensibilisierung für ein menschliches Phänomen wellenförmig. Und derzeit hat diese Sensibilität Konjunktur.

2

Handbook of Insanity for Practitioners and Students by Dr. Theodore Kirchhoff, Physician to the Schleswig Insane Asylum an Privatdocent at the University of Kiel, Illustrated with Eleven Plates New York 1983, S. 24 http://www.archive.org/stream/hand bookofinsani00kircuoft/handbookofinsani00kircuoft_djvu.txt.

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D ER P ARADIGMENWECHSEL

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Der Waliser Psychiater und Psychiatriehistoriker David Healy meint, dass in der früheren „traditionellen“, gleichgewichtsorientierten Medizin, also z.B. der abendländischen Humoralpathologie, aber auch in der traditionellen chinesischen Medizin und in der ayurvedischen Medizin, die Frage nach dem Warum einer Krankheit im Vordergrund stand: „Warum passiert das, warum mir? Warum jetzt?“3 Diese Frage sei heute ersetzt durch die Frage: Wie funktioniert die Krankheit? Healy formuliert also eine „Entzauberungs-These“. Ein gesellschaftlicher Rationalisierungsprozess funktionalisiert Gesundheit. Healy bezweifelt grundsätzlich den Krankheitswert von „Depression“. Diese sei keine Abweichung von der Gesundheit mit Organpathologie (disease) sondern eine Abweichung vom (subjektiv erlebten) Wohlbefinden (illness) und deshalb zwar möglicherweise behandlungsbedürftig, aber im Fall von Depression eben nicht pharmakologisch sondern psychotherapeutisch. Illness meint das vom Patienten erlebte Leid mit Einschränkung seiner sozialen Funktion, Disease die vom Arzt diagnostizierte und behandelte Krankheit im Sinne einer Organpathologie.4 Das klassische Gleichgewichtsmodell der Medizin blieb auch in der abendländischen Medizin bestimmend. Erst zu Beginn der Neuzeit wurde es allmählich von einer anderen Leitvorstellung abgelöst. Endgültige und umwälzende neue Vorstellungen setzten sich aber, so Healy, erst zusammen mit der liberalen bürgerlichen kapitalistischen Gesellschaftsordnung ab ca. Anfang/Mitte des 19. Jahrhunderts durch. In der Hippokratischen oder Galenschen Medizin glaubte man, der ganze Körper sei von einer Krankheit betroffen. Es gab die Idee einer spezifischen Krankheit nicht. Die Symptome, die die Patienten schilderten, wurden auf ein Ungleichgewicht der Körpersäfte zurückgeführt. Durch eine spezielle Diät und Lebensführung konnte das alte Gleichgewicht der Körpersäfte wiederhergestellt werden. Erst die Entdeckung der Bakteriologie hob diese Weltsicht aus ihren Angeln. Die Isolation des Tuberkel-Bazillus 1882 durch Robert Koch und die Isolierung des Choleraerregers zwei Jahre später stellte einen Paradigmenwechsel dar. Endgültig besiegelt wurde dieser Paradigmenwechsel durch den Erfolg von Paul Ehrlichs Seitenkettentheorie, für die er 1908 den Nobelpreis erhielt. Die Seitenkettentheorie begründet sich auf der Annahme, dass jede Zelle eiweißhaltige Substanzen und eine Serie von Seitenketten oder Rezeptoren besitzt, die Nähr-

3

David Healy: The Antidepressant Era. Harvard 2003, S. 7.

4

Inga Wetermilies: Ärztliche Handlungsstrategien im Umgang mit ausländischen Patienten. Freiburg 2004 (Diss.), S. 44.

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stoffe sowie bestimmte giftige Substanzen (Antigene) aufnehmen. Ehrlich vermutete, dass diese spezifischen Seitenketten, die durch die dauerhafte Verbindung mit dem Antigen unbrauchbar wurden, zum Ersatz von der Zelle neu produziert und als freie „Antikörper“ ins Blut abgegeben würden, und so gegen die Antigene wirken. Die Fremdkörper werden nach dem Schlüssel-Schloss-Prinzip gebunden. Diese Reaktion kann man nutzen, um Antikörper gegen bestimmte Krankheiten zu züchten und weiterzugeben. Diese Substanzen können dann als „Magic Bullet“ gegen bestimmte Krankheitserreger eingesetzt werden. Ehrlich erhielt für diese Theorie 1908 den Nobelpreis für Medizin. Für Ärzte wurde es nun schick, dabei gesehen zu werden, wie sie durch ein Mikroskop sahen. Aber es gab auch Gegenstimmen, die bekannteste ist wohl die von Max von Pettenkofer. Dieser behauptete, dass Cholera nicht nur durch den isolierten Erreger ausgelöst wird, sondern dass bestimmte Umweltbedingungen dazu kommen müssen, damit Cholera ausgelöst wird. Damit meinte er Bodenbeschaffenheiten, Einflüsse der Jahreszeiten und Konstitution des Infizierten. Zum Beweis schluckten er und einige Mitarbeiter Cholerakulturen und erkrankten nicht. Pettenkofers Vorstellung setzte sich nur bei „Dissidenten“, z.B. bei den sog. „Aids-Dissidenten“ durch. Diese werden jedoch nicht ernst genommen. Vielmehr kam es im Zuge der Entdeckung der Bakteriologie zu einem völlig neuen Verständnis von Krankheit. In englischen Begriffen lässt sich sagen, dass die großen Erfolge der Bakteriologie (deutliche Senkung der Kinder- und Säuglingssterblichkeit z.B.) ein spezifisches „disease model“ erst formten. Demnach sind Krankheiten nur noch effektiv von auf bestimmte Organe spezialisierten Ärzten zu behandeln. Fieber wurde vorher als Manifestation eines Ungleichgewichts der Körpersäfte oder einer nervösen Schwäche gesehen und mit entweder Abführmitteln, Aderlässen oder Aufputschmitteln behandelt. Jetzt wurde jede der 18 Bakterien, die bis 1887 identifiziert waren, mit einer eigenen speziellen Krankheit in Verbindung gebracht. Jede dieser Krankheiten verlangte ein bestimmtes Management. Exakt in dieser Zeit entstand auch die Vorstellung, dass es spezifische psychische Krankheiten (diseases) gibt (Griesinger, Kraepelin). Diese Vorstellung interpretiert Healy als Folge eines Paradigmenwechsels in der Medizin hin zur eindeutig überprüfbaren Wissenschaftlichkeit. Tatsächlich jedoch seien die Kategorien, in die psychische Krankheiten eingeteilt wurden und werden, zu häufig geändert worden, um von einem wissenschaftlichen, auf der Erfahrung beruhenden Kategoriensystem zu sprechen.

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E MIL K RAEPELIN – E IN DEUTSCHER ANSTALTSPSYCHIATER 1896 schlug Emil Kraepelin vor, die psychischen Krankheiten in manischdepressive Krankheiten und in Dementia-Praecox zu gruppieren. DementiaPraecox ist wenig später vom schweizer Psychiater Eugen Bleuler umbenannt worden in Schizophrenie. Dies sind bis heute die beiden Hauptabteilungen des Irreseins, das sich in affektiven oder schizophrenen „Psychosen“ äußert. Die Schizophrenie wird stärker vererbt, das manisch-depressive Irresein weniger. Das wird auch heute noch so gesehen. Der Psychiatriehistoriker Edward Shorter meint, dass diese (biologische) Psychiatrie, deren Wurzeln bei Kraepelin und Bleuler lägen, zu Recht eine unglaubliche Karriere hinter sich habe und heute unangefochten die Psychiatrie repräsentiere – im Gegensatz zu Psychoanalyse, Sozialpsychiatrie und Antipsychiatrie. Es gibt natürlich auch andere Meinungen. Für den Psychotherapeuten Gary Greenberg oder die Soziologen Horwitz und Wakefield ist es ein Unglück, dass sich dieser an der Ätiologie der Krankheiten wenig interessierte „therapeutische Nihilismus“ durchsetzte und zu einem „Verlust der Traurigkeit“ führte. Was wusste man zu Kraepelins Zeit über Melancholie? Den populärwissenschaftlichen Stand der Melancholieforschung zur Zeit Kraepelins fasst Meyers Konversationslexikon5 von 1883 zusammen: „Melancholie (griech., Melancholia, ‚schwarze Galle‘, s. v. w. Schwermut, Tiefsinn) bedeutete in der Heilkunde früher mancherlei Krankheiten, Ernährungsstörungen, bösartige, schwarzpigmentierte Geschwülste etc., deren Entstehung man dem vierten der damals angenommenen Kardinalsäfte des Körpers, der schwarzen Galle, zuschrieb. Heute bezeichnet M. eine ganz bestimmte Form der Geisteskrankheit (s. d.), deren wesentliches Symptom in einer traurigen, niedergedrückten Gemütsstimmung besteht, die aber frei ist von Sinnestäuschungen und Wahnideen. Die M. kommt in etwa gleicher Häufigkeit bei Männern und Frauen vor, bevorzugt ist das jugendliche Alter von 17–25 Jahren und das eigentliche Greisenalter. Als Ursachen gelten vor allem erbliche Anlage, Altersschwund des Gehirns, bei Frauen zuweilen Schwangerschaft und Geburtsakt, ferner anhaltende niederdrückende Seelenstimmungen, übermäßige Anstrengung mit geistiger Arbeit etc. Die Symptome der M. sind äußerst auffällige. Blick und Mienen des Melancholischen sind traurig, leidend, ängstlich, kläglich, scheu oder verdrießlich, mürrisch und finster. Alle körperli-

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Meyers Konversationslexikon, Verlag des Bibliographischen Instituts, Leipzig und Wien, Vierte Auflage, 1885–1892 zusammen. 11. Band: Luzula–Nathanael.

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chen Bewegungen geschehen langsam, stockend und haben den Charakter der Zaghaftigkeit, Niedergeschlagenheit und Unentschlossenheit. Der Kranke ist geneigt, stunden- und tagelang vor sich hinbrütend zu beharren, ist stets mehr oder weniger eigensinnig, störrisch und hartnäckig und widerstrebt jeder Aufforderung, aus sich herauszugehen und sich mit anderen als den eigenen Gefühlen und Ideen zu beschäftigen. Das Wesentliche dieser krankhaften Gemütszustände besteht in krankhafter Herabstimmung des Selbstgefühls und Mangel an Selbstvertrauen. Die Kranken häufen gegen sich die schwersten Anklagen, sie glauben verhungern zu müssen, suchen aus ihrer Vergangenheit unbedeutende Ereignisse hervor, denen sie den Wert schwerer Missethaten beilegen, sie halten sich für unwürdig ihrer Familien, glauben diesen zur Last zu sein und quälen sich unablässig mit Selbstvorwürfen.“

Dieser Artikel erschien vier Jahre vor der ersten Auflage von Kraepelins berühmten „Lehrbuch“. Wie im Kapitel „Kraepelins Depressionsbegriff“ beschrieben wird, hat Kraepelin dieser Diagnose einen neuen Namen verpasst (Depression als Teil des manisch depressiven Irreseins), sonst aber wenig an ihr geändert. Er hat sie in sein Klassifikationssystem integriert. Kraepelins Leistung liegt in der Kategorisierung von Krankheiten, in der Nosologie. Vorbild Kraepelins war dabei auch Karl Linné, der im 18. Jahrhundert die Grundlagen der botanischen Taxonomie schuf. Kraepelins Philosophie Kraepelin war ein Konservativer, wenn nicht ein Reaktionär mit pessimistischem Weltbild. Emil Kraepelin sieht, nach Darstellung Leibbrands, in dem durch das Industriezeitalter sich steigernden Lebenskampf mit seinem immer stärker wachsenden Wettbewerb einmal einen Antrieb des Menschen, aber auch eine daraus resultierende Überbeanspruchung und Erschöpfung. Er erleide darüber hinaus einen Verlust seiner inneren Freiheit, der eine verhängnisvolle Rolle spiele. (Leibbrand, S. 543) Die „unbekümmerte Sorglosigkeit des Naturmenschen“ sei verloren gegangen, die freie Tätigkeit des Menschen zugunsten der Gesellschaft immer mehr abgeschnitten. Mit dieser Einengung der Person hänge das häufige Auftreten von Angstzuständen zusammen; anstelle freier Willenstätigkeit stehe Dressur. Leibbrand zitiert ein Beispiel des Versagens des Willens bei Kraepelin, es ist die „gezüchtete traumatische Neurose, bei der geistiges Siechtum aus dem künstlich befestigten Gefühl hervorgehe, der Arbeit nicht gewachsen zu sein.“ (Leibbrand, ebda.). Aus heutiger Sicht wird hier der „Burnout“ beschrieben. Die Vorgänge bei der Zweifel- und Grübelsucht, bei den Phobien, bei der Erwartungsneurose und der Arbeitsunfähigkeit der Nervösen seien ähnlich anzusehen.

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All dies kenne man bei den Naturvölkern nicht, auch sei es bezeichnend, dass die genaueste Kenntnis der Entartungserscheinungen aus Frankreich komme, „in dem Anzeichen einer kulturellen Entartung am deutlichsten ausgesprochen sind.“ (Ebda.) Ein zweiter ungünstiger Einfluss entwickele sich aus der „einseitigen Züchtung seelischer Anlagen“. Die Kehrseite davon sei die Vernachlässigung des Körpers und seiner Leistungen. Die bis zur Spitze getriebene Spezialisierung im Sinne der Züchtung führe dazu, dass sich schließlich keiner mehr mit dem anderen verstehe. Die wichtigste ungünstigste Wirkung der Kulturentwicklung aber gehe aus der Domestikation hervor. Sie bedeute Abkehr von der Natur und sie ist Ursache für eine „Verweichlichung“. „Nur im Kampfe wächst der Mensch“ meint Kraepelin, ohne „Willensstachel“ geht der Mensch oft zugrunde. Die „Entarteten“, die hier entstehen, sind die willensschwachen Müßiggänger, die oberflächlichen Genussmenschen und gewissenlosen „Wüstlinge“. Ihr gehäuftes Auftreten ist Zeichen alternder Völker. Folge dieser Erscheinungen sei die „Abschwächung der natürlichen lebens- und arterhaltenden Triebe“. Die Zunahme der Selbstmorde sei Ausdruck der Schwächung des Willens zur Selbsterhaltung, Schwächung des Arterhaltungstriebes begünstige Onanie, geschlechtliche Verirrungen und ertöte den Muttertrieb bei der Frau. Diese pessimistische Kulturbetrachtung teilt Kraepelin mit den Entartungstheoretikern seiner Zeit, die aber bekanntlich nicht nur im medizinischen Kontext sich äußerten. Kraepelin folgert: „Nimmt man hinzu, dass wir unter Keimschädigungen mehr zu leiden haben als die meisten Naturvölker […], und dass die einmal entstanden Entartungen die Neigung haben, sich fortzupflanzen, so werden wir es verstehen lernen, warum wir mit einer Zunahme der psychischen Störungen bei uns zu rechnen haben.“ (Zit. nach Leibbrand, S. 544) Das ist ein klarer Fall von selbsterfüllender Prophezeiung. Nach dieser Logik müssten längst alle depressiv oder geisteskrank sein. Hier wird die Volkskrankheit erfunden. Sie beruht auf den Entartungstheorien Morels. In Kraepelins Lebenserinnerungen, die erst 1983 veröffentlicht wurden, fallen vor allem die nationalistischen und kriegsverherrlichenden Wendungen auf.6 Zur Zeit des Ersten Weltkriegs schloss er sich der „Vaterländischen Partei“ unter General Tirpitz an und schrieb in „geradezu lyrischen Tönen“ (Berndt) über die Kriegsproduktionen der Firma Krupp:

6

Heide Berndt: Die Entwicklung von Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. In: Alice: Wissenschaft 1/2004, Berlin, 2004, S. 8 f. http://uhura.asfh-berlin.de/ uploads/media/alice_wissen_1_2004.pdf.

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„Ich sah das Walzen mächtiger Panzerplatten, die Herstellung von Torpedorohren und Granathülsen, das Ausbohren riesiger Schiffskanonenrohre, die Herstellung von Drehtürmen, die Zubereitung und Verarbeitung von Gußstahl, das elektrische Schweißen, die Formung des Stahls durch hydraulische Pressen und vieles andere.“7

Diese Kriegsbegeisterung war bei Freud weit weniger ausgeprägt. Doch sollte ausgerechnet das „Kriegsneurotikerproblem“, das Kraepelin als Simulation abtat, interessanterweise der Psychoanalyse, und zwar in Gestalt der Gruppenpsychoanalyse in der britischen Klinik Tavistock nach dem Ersten Weltkrieg zu ihrem (vorläufigen) Durchbruch verhelfen. Ihrem Erfolg ist es zu verdanken, dass Kraepelin als schrulliger deutscher Anstaltspsychiater bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts abgemeldet blieb. Erst mit dem dann einsetzenden erneuten Siegeszug der biologischen Psychiatrie kam er wieder zu Ruhm und Ehre. (Vgl. dazu das entsprechende Kapitel unten.) Trotz seiner Kriegsbegeisterung meldete sich Kraepelin nicht an die Front. Seine chirurgischen Kenntnisse schienen ihm nicht gut genug und als Psychiater konnte er besser hinter der Front wirken, um die „Kriegsneurotiker“ wieder kriegstauglich zu machen. Kraepelin äußerte sich wenig empathisch über die „Kriegszitterer“. Er schrieb: „Wir Irrenärzte waren alle einig in dem Bestreben, der freigebigen Rentengewährung entgegenzuwirken, weil wir dadurch ein rasches Anwachsen der Krankheitsfälle und Ansprüche fürchteten. Trotzdem ließ das Unheil sich nicht verhüten. Namentlich, dass mit der längeren Dauer des Krieges immer mehr auch minderwertige Persönlichkeiten in das Heer eingestellt werden mussten und die allgemeine Kriegsmüdigkeit zunahm, wirkte die Tatsache verhängnisvoll, dass allerlei mehr oder weniger ausgeprägte nervöse Krankheitserscheinungen nicht nur die langfristige Überführung in ein Lazarett, sondern auch die Entlassung aus dem Heeresdienst mit reichlich bemessener Rente herbeiführen konnten. Dazu kam das öffentliche Mitleid mit den anscheinend schwer geschädigten Kriegszitterern, die auf den Straßen die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen und reichlich beschenkt zu werden pflegten. Wie eine Flutwelle verbreitete sich unter diesen Umständen die Zahl derer, die durch einen ‚Nervenschock‘, besonders aber durch ‚Verschüttung‘ das Anrecht auf Entlassung und Versorgung erworben zu haben glaubten.“ (Kraepelin 1983, Lebenserinnerungen, S. 191)

7

Emil Kraepelin: Lebenserinnerungen, Hg. von H. Hippius, D. Ploog, P. Hoff, A. Kreuther. Berlin/Heidelberg 1983, S. 205.

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Der Psychiater Kraepelin leugnete indirekt die Tatsache, dass Soldaten oft tagelang in den Schützengräben bleiben mussten und bei anhaltenden Detonationen der Granaten tatsächlich unter Erdmassen begraben waren, indem er Verschüttung ebenso in Anführungsstriche setzte wie Nervenschock. Das suggeriert, dass Verschüttung und Nervenschock nicht echt waren. Diejenigen, die psychische Schäden davon trugen, kennzeichnete er folgendermaßen: „Auf den ersten Blick zeigte es sich, dass man es fast durchweg mit minderwertigen, unfähigen, vielfach auch böswilligen Persönlichkeiten zu tun hatte.“ (Ebda., S. 191) Kraepelin gibt hier mit dem Begriff „minderwertig“ das Stichwort, das von den Nationalsozialisten zur biologischen Minderwertigkeit erklärt wurde, gegen die man sich nur durch gewaltsame Unfruchtbarmachung und schließlich Ermordung der Minderwertigen wehren konnte. Der Wirtschafts- und Sozialhistoriker Dirk Blasius bezeichnet es als „das Verhängnis der deutschen Psychiatrie“, dass sich diese „1914 in den Geleitzug des nationalen Aufbruchs einordnete“. Dadurch habe sie ihre „ethische Grundorientierung“ verloren. Zweifellos sei Kraepelin die „zentrale Figur“ der Psychiatrie vor dem Ersten Weltkrieg gewesen, mit ihm begann die Einordnung in den „nationalen Aufbruch“. Sein Schüler Ernst Rüdin „war auch in vornationalsozialistischer Zeit derjenige, der mit nie erlahmendem Eifer der Politik die Rassenhygiene als nationale Heilslehre andiente. Ein zunächst machtloses Wissen über Erbanlagen und Vererbungsvorgänge erlangte Macht, weil es den Legitimationsbedürfnissen einer Politik entsprach, die sich von der Sterilisierung Pflegebedürftiger Kostenentlastung im Fürsorgebereich versprach.“8

Das Wissen über Vererbung und Erbanlagen war aber nicht nur „machtlos“, sondern es wurde auch bewusst falsch benutzt. Für eine Zwangssterilisierung reichte z.B. die Diagnose „chronischer Alkoholismus“ aus. Auch in der BRD nach dem Zweiten Weltkrieg blieb Kraepelins Ansicht über die „Kriegszitterer“ herrschende Meinung. Erst in den 1980er Jahren steht es in der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit und Psychiatrie zunehmend außer Frage, dass durch Krieg und Verfolgung Belastete durch tiefgreifende psychische Leiden für ihr Leben gezeichnet sein können. Noch in den 70er Jahren war dies eine „Charakterfrage.“ 9 Für Soldaten gilt, dass erst seit dem Jahr 2002,

8

Dirk Blasius: Deutsche Erinnerung – Wegstrecken der Psychiatriegeschichte, in: Wollschläger, Martin (Hg.): Sozialpsychiatrie, Entwicklungen – Kontroversen – Perspektiven, Tübingen 2001, S. 35.

9

Vgl. Svenja Goltermann: Die Gesellschaft der Überlebenden. Deutsche Kriegsheimkehrer und ihre Gewalterfahrungen im Zweiten Weltkrieg. München 2009.

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seitdem deutsche Soldaten in Afghanistan zum ersten Mal nach dem Zweiten Weltkrieg im Krieg kämpfen, die posttraumatische Belastungsstörung (ICD-10 F43.1) der Kriegsheimkehrer ein öffentliche Thema ist. Im Jahr 2009 erlitten 300 deutsche Soldaten eine PTBS, der Anteil sei aber immer noch deutlich geringer als bei US- oder britischen Soldaten.10 Kraepelins Klassifikationssystem Wissenschaftsgeschichtlich ist Kraepelin zusammen mit der Karriere der Krankheit Depression, also mit der Veröffentlichung des DSM-III im Jahr 1980 bedeutend geworden. „Kraepelin, nicht Freud, ist die zentrale Figur der Psychiatriegeschichte“ schreibt Edward Shorter. (Shorter 2003, S.156) Kraepelin hat die moderne, auf statistischen und diagnostischen Handbüchern beruhende Diagnostik der Psychiatrie vorbereitet. Die Idee, Krankheiten anhand ihres Verlaufs zu klassifizieren, hat allerdings vor Kraepelin ein anderer von der Psychiatriegeschichte vernachlässigter Arzt vorgeschlagen, Karl Kahlbaum (1828–1899). Kahlbaum hat gesehen, dass es nicht die „Einheitspsychose“ also den Wahnsinn gab, an den damals viele glaubten. Auf Kahlbaum geht die auch heute gebräuchliche Klassifizierung der „Hebephrenie“, des jugendlichen Irrseins und der „Katatonie“ (heute beides Unterformen der Schizophrenie) zurück. Andere Ärzte haben in Frankreich Mitte des 19. Jahrhunderts festgestellt, dass Manie und Depression oft nicht isoliert, sondern in Kombination auftraten und von da an als „zirkuläres Irresein“ bezeichnet (Jean-Pierre Falret und Jules Baillarget). Kraepelin hat das zirkuläre Irreseine in manische Depression umgetauft, heute heißt die Krankheit in Deutschland „bipolare affektive Störung“ (in USA: „bipolar disorders“ DSMIV 296.80, ICD-F.31). Kraepelin arbeitete mit Karteikarten und verstaute diese im sogenannten Diagnosekasten. Nach ausgiebiger Beobachtung eines Patienten vervollständigte er dessen Karte und trug die ständig revidierte Diagnose unter dem Namen des Patienten in eine separate Liste ein. Wurde der Patient entlassen, vermerkte er dort ihre abschließende Beurteilung. Auf diese Weise, so Shorter, war Kraepelin in der Lage festzustellen, welche Diagnose falsch gewesen und aus welchen Gründen er zu der falschen Diagnose gelangt ist. Es handelt sich dabei um ein induktives Vorgehen, das schon im Entstehen die Gefahr in sich birgt, dass die psychiatrische Diagnostik immer mehr erweitert wird; dass

10 Laut einer Pressekonferenz zu einer Studie der TU Dresden am 06.04.2011. „Traumatische Ereignisse, PTBS und psychische Störungen bei Soldaten mit und ohne Auslandseinsatz: Erste Ergebnisse.“ Hans-Ulrich Wittchen und Sabine Schönfeld. http: //tu-dresden. de/aktuelles/news/soldatengesundheit_pk.

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also die psychiatrische Diagnostik Lebensbereiche erschließt, die dieser Diagnostik nicht bedürfen. Aber: Die Schlussfolgerungen aus Symptomen, Syndromen, Verlaufen erlaubten Vorhersagen über den Krankheitsverlauf, Prognose und Behandlung. Das war neu. Kraepelin veröffentlichte ein Lehrbuch – jedes Jahr in einer neuen Auflage mit Änderungen und Erweiterungen. In der sechsten Revision von 1899 nahmen Kraepelins Ideen dann ihre endgültige Form an, und zwar mit jener Klassifikation von Krankheiten, die zur Grundlage für das spätere Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders der American Psychiatric Association und des ICD-10 (International Catalogue of Diseases 10. Ausgabe), dessen psychiatrischer Teil sich am DSM orientiert, wurde. Im Vorwort dieser Ausgabe wandte sich Kraepelin von der Ursachenforschung ab und der Klassifizierung, die eine Vorhersage über den Verlauf erlaubte, zu. Genau so verfährt die moderne Diagnostik – und wird zur Recht wegen ihres Verzichts auf Ursachenforschung kritisiert. Denn ohne Ursachenforschung kann jede Art von Traurigkeit, auch normale und nicht-krankhafte Traurigkeit über den Verlust eines geliebten Menschen etc. als Depression gewertet werden. Trauer, eine normale und hilfreiche menschliche Emotion wird so in unserer Gesellschaft pathologisiert. Der Kraepelinsche Verzicht auf Ursachenforschung wird auch als „therapeutischer Nihilismus“ (Gray Greenberg) bezeichnet. Unschwer ist zu erkennen, dass hier, vor über 110 Jahren, die Wurzeln für das zeitgenössische Verständnis der Depression gelegt wurden. Nach Kraepelin und den Autoren des DSM besteht der Wert einer Diagnose in der psychiatrischen Arbeit darin, dem Patienten einen verlässlichen Blick in die Zukunft zu gestatten. Aber grenzt das nicht an statistische Kaffeesatzleserei? Kraepelin beschloss, alle psychischen Krankheiten in dreizehn große Gruppen einzuteilen. Viele davon waren bekannt wie Fieberwahn und Demenz. Doch zwei Gruppen waren neu, weil Kraepelin damit all die unzähligen Psychosen (Monomanien) ohne erkennbare organische Ursache in zwei deutlich voneinander unterschiedene Lager einteilte: Krankheiten mit einer affektiven Komponente und solche ohne affektive Komponente. Affekt bedeutet seelische Verstimmung in Form von Depression, Manie oder Angst. Die Verdichtung nahezu aller Affektstörungen zu einer einzigen Krankheit rechtfertigte Kraepelin mit der Aussage, er habe sich im Laufe der Jahre immer stärker davon überzeugen könne, dass alle periodisch wiederkehrenden Psychosen und Manien letztlich nur Manifestationen eines einzigen Prozesses seien, nämlich des „manischdepressiven Irreseins“. Mit dieser Aufteilung in zwei große Gruppen wurde eine Diagnose relativ einfach. War der Patient melancholisch oder euphorisch, weinte er unentwegt, war er ständig grundlos müde oder zeigte andere Anzeichen von

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Depression oder Manie, gehörte er zur Kategorie manisch-depressiv. War er psychotisch ohne affektive Komponente, so litt er unter Dementia Praecox (Schizophrenie). „Damit hatte Kraepelin 1899 die beiden schweren, nichtorganischen (funktionellen) Psychosen bipolare Störung und Schizophrenie – an die Spitze der Pyramide befördert, wo sie in nur leicht modifizierter Form bis zum heutigen Tag als Objekt psychiatrischer Forschung geblieben sind.“ (Shorter 2003, 166) Kraepelin ordnet auch leichte Formen von Hypomanie und Depression, affektive Temperamente und Reinformen der Depression in das breite Spektrum bipolarer Stimmungsstörungen ein – und er bringt erstmals alle Stimmungsstörungen miteinander in Beziehung. Kraepelins Depressionsbegriff Im Jahr 1887 erscheint die erste Auflage von Kraepelins Psychiatrie. Im selben Jahr wird das erste Mal Amphetamin durch Lazăr Edeleanu an der FriedrichWilhelms-Universität in Berlin synthetisiert. In der 6. Auflage 1899 dieses Lehrbuchs führt Kraepelin den Begriff der „Depression“ als Teil des „manischdepressiven Irreseins“ in die psychiatrische Diskussion und in „die Gesellschaft“ ein. Die Definition aus seinem Lehrbuch: „Das manisch-depressive Irresein, wie es in diesem Abschnitt geschildert werden soll, umfasst einerseits das ganze Gebiet des sogenannten periodischen und zirkulären Irreseins, andererseits die einfache Manie, den größten Teil der als ‚Melancholie‘ bezeichneten Krankheitsbilder und auch eine nicht unerhebliche Anzahl von Amentiafällen. Endlich rechnen wir hierher gewisse leichte und leichteste, teils periodische, teils dauernde krankhafte Stimmungsfärbungen, die einerseits als Vorstufe schwererer Störungen anzusehen sind, andererseits ohne scharfe Grenze in das Gebiet der persönlichen Veranlagungen übergehen. Im Laufe der Jahre habe ich mich mehr und mehr davon überzeugt, daß alle die genannten Bilder nur Erscheinungsformen eines einzigen Krankheitsvorganges darstellen.“11

Interessant ist die Darstellung der leichten Formen der Depression, denn hier an dieser Stelle wird von Kraepelin das Tor für eine Volkskrankheit Depression weit aufgestoßen:

11 Emil Kraepelin: Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 8. vollständig umgearbeitete Auflage. JA Barth, Leipzig 1913, S. 1260.

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„Die leichtesten Formen der Depressionszustände sind gekennzeichnet durch das Auftreten einer einfachen psychischen Hemmung ohne Sinnestäuschungen und ohne ausgeprägte Wahnideen. Dem Kranken wird das Denken schwer, eine Störung, die er in den mannigfaltigsten Wendungen schildert. Er kann die Gedanken nicht sammeln, nicht zusammennehmen; sie sind wie gelähmt, gehen nicht weiter. Der Kopf ist ihm eingenommen, ganz dumm, als ob ein Brett sich vorgeschoben hätte; alles geht durcheinander.“ (Kraepelin 1913, S. 1260)

Der Psychotherapeut Gary Greenberg (2010, S. 76) meint, dass nach heutigen Maßstäben hier Hospitalismus und keine Depression beschrieben werde. Das perfide daran: Wenn jemand lange genug in einer Kraepelinschen Anstalt sei, entwickele er automatisch Anzeichen von Hospitalismus. Das war dann für Kraepelin der Beweis, dass er unter einen leichten Depression litt, weshalb er (manisch-depressiv) irre sei. Zeugnis dafür legt auch Dorothea Bucks (s.u.) Bericht ab. Eine Volkskrankheit Depression konstruierte Kraepelin, indem er Goethes Werther eine krankhafte Depression unterstellte. Goethes Werther war zu seiner Zeit „Popkultur“ und fand viele Anhänger, die dann wohl auch unter krankhafter Depression leiden mussten. In Werther erkennt Kraepelin die leichte Form der Depression, wenn er sagt: „‚O, wenn da diese herrliche Natur so starr vor mir steht wie ein lackiertes Bildchen und alle die Wonne keinen Tropfen Seligkeit aus meinem Herzen herauf in das Gehirn pumpen kann‘ und ‚Ich stehe wie vor einem Raritätenkasten und sehe die Männchen und Gäulchen vor mir herumrücken und frage mich oft, ob es nicht ein optischer Betrug ist. Ich spiele mit, vielmehr ich werde gespielt, wie eine Marionette, und fasse manchmal meinen Nachbar an der hölzernen Hand und schaudere zurück‘. Die Stimmung des Kranken wird bald durch eine tiefe innere Mutlosigkeit und trübe Hoffnungslosigkeit, bald mehr durch unbestimmte Angst und Unruhe beherrscht.“ (Kraepelin 1913, S. 1260 f.)

Die Veröffentlichung von Goethes Werther 1774 führte bekanntlich zu einem Anstieg der Selbstmordrate unter jungen Leuten. Vor allem unter den Jugendlichen brach ein regelrechtes Werther-Fieber aus, das Werther zu einer Kultfigur werden ließ. Es gab die Werther-Mode (gelbe Hose, gelbe Weste, blauer Rock), eine Werther-Tasse und sogar ein Eau de Werther. Szenen aus „Werthers Leiden“ schmückten Tee- und Kaffeekannen, Tassen, Keksschalen und Teedosen. Die Nachahmungen der Werther-Figur im realen Leben führte zu Suizidversuchen und Suiziden und brachte eine Diskussion über Medienwirkungen in Gang, die bis heute geführt wird. Seit den 1970er Jahren befasst sich die Psychologie

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mit dem Phänomen von „medial vermittelten Nachahmungs-Suiziden“, das unter dem Namen Werther-Effekt bekannt ist. Durch Quellen belegt sind heute lediglich eine zweistellige Anzahl von Suiziden, die nachweislich in Zusammenhang dieser Buchpublikation standen.12 Durch den Verweis auf Goethes Werther bietet Kraepelin dem Bürgertum die Krankheit zur Identifikation gleichsam an. Jetzt kann man verstehen, was krankhafte Depression ist – nichts anderes als Werthers Melancholie nämlich. Diese ist recht häufig, man findet sie unter den Namen „Überarbeitung, Nervosität, Neurasthenie, Hysterie usf.“ (Kraepelin 1913, S. 1319 f.) Die leichten Formen der Depression gehören aber nichts desto trotz zur Klasse des „manischdepressiven Irreseins“. Bei Kraepelin beginnt die Umdefinierung der normalen Trauer zur krankheitswertigen Depression: „Namentlich stellen sich die Anfälle nicht selten nach Erkrankungen und Todesfällen naher Angehöriger ein. Unter 49 derartigen Beobachtungen wurden 24 Mal Anfälle auch ohne Anlass beobachtet. Eine Frau erkrankte dreimal an Depression, nachdem je ihr Mann, ihr Hund und ihre Taube gestorben waren. […] Von sonstigen Ereignissen werden gelegentlich noch Streit mit den Nachbarn oder Angehörigen, schwebende oder drohende Prozesse, Schreck über einen Unglücksfall, Zerwürfnisse mit dem Geliebten, unglückliche Liebe, Aufregung über Untreue, Zahlungsschwierigkeiten, Verluste, Käufe, Verkäufe, Umzüge, anstrengende Krankenpflege angeführt; auch Verlobungen und der erste Geschlechtsverkehr geben bisweilen den Anstoß zur Erkrankung.“ (Kraepelin 1913, S. 1368 f.)

Wie kommt es zur Depression nach Kraepelin? Es hat bei ihm etwas mit Hirnernährung, bzw. -elektrizität zu tun, in einem nicht mehr aktuellen Vokabular: „Über das Wesen des manisch-depressiven Irreseins sind wir noch gänzlich im unklaren. Sowohl die häufige Wiederkehr der Anfälle wie der eigentümliche Wechsel zwischen Erregung und Hemmung sind durchaus rätselhafte Tatsachen. Wir können vorerst nur darauf verweisen, daß in unserem Nervengewebe die Neigung zu periodischem Ablaufe der Hemmungs- und Erregungsvorgänge auf den verschiedensten Gebieten wiederkehrt. Meynert hat die Erklärung für den Wechsel gegensätzlicher Zustände in periodischen Störungen der vasomotorischen Innervation gesucht. Infolge von gesteigerter Reizbarkeit des Gefäßzentrums soll sich ein verstärkter Spannungszustand im gesamten Arteriengebiete mit gleichzeitiger Hirnanämie als Ursache der depressiven Verstimmung entwickeln. Ge-

12 W. Ziegler, U. Hegerl: Der Werther-Effekt – Bedeutung, Mechanismen, Konsequenzen. In: Der Nervenarzt, Vol. 73, Nr.1 Springer-Verlag 2002, S. 41–49.

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rade die so entstandene mangelhafte Ernährung des vasomotorischen Zentrums soll dann weiterhin eine Lähmung desselben, Erweiterung der Gefäße und Hyperämie des Gehirns herbeiführen, als deren Ausdruck die Entwicklung der manischen Erregung betrachtet wird.“ (Kraepelin 1913, S. 1370 f.)

Kraepelin ist sich bewusst über seine „außerordentliche Erweiterung unseres Krankheitsbegriffes“ (1913, S. 1383 ): „Die leichteren und leichtesten Gestaltungen des manisch-depressiven Irreseins gehen ganz unmerklich in die von uns früher geschilderten Formen der krankhaften Veranlagung über. Bei den cyklothymischen Formen können die Zeiten grundloser Verstimmung oder ungestümer Ausgelassenheit lange Zeit für einfache Launen gehalten und mit allerlei Zufälligkeiten in Verbindung gebracht werden. Derartige Kranke, die vielleicht niemals in die Hände des Irrenarztes kommen, werden, wie Hecker sehr zutreffend betont hat, von den behandelnden Ärzten vielfach lediglich nach ihren Verstimmungszuständen beurteilt und als Hypochonder oder Neurastheniker aufgefaßt, da sie in den zugehörigen manischen Zeiten für gesund gelten. Sie haben jedoch in der Depression, die sie zum Arzte treibt, recht häufig selbst ein deutliches Gefühl für die Krankhaftigkeit der Erregung, die sie bisweilen sehr fürchten. Es gelingt daher meist leicht, den Wechsel der Zustände, die Wiederkehr der einzelnen Abschnitte und damit die Natur des vorliegenden Leidens aufzudecken. Die einfache, ohne Anlaß hereinbrechende Entschluß-Unfähigkeit ist so eigenartig, daß sie oft ohne weiteres den richtigen Schlüssel für die Deutung des Zustandes liefert. Solche Fälle sind ungemein häufig und finden sich überall in den Sanatorien, wo sie die verschiedensten Kuren durchmachen. Trifft dann die Kur gerade mit dem Umschlage der Stimmung zusammen, so erzielt sie einen glänzenden Erfolg, der nun ihr zugeschrieben wird, aber leider ausbleibt, wenn der Kranke das nächste Mal schon im Beginne des Anfalles von ihr Heilung erhofft. Auch hier kann übrigens die Umgebung jederzeit einmal durch einen schweren Anfall überrascht werden, wenn auch meistens das Leben in einem Wechsel zwischen allerlei tollen Streichen und der vermeintlichen Reue darüber, zwischen fieberhafter Unternehmungslust und den anscheinenden Nachwehen der Überarbeitung hinzufließen pflegt.“ (Kraepelin 1913, S. 1385)

Emil Kraepelin ist also einer der Väter des heutigen Depressionsalarmismus, er stößt das Tor zur Volkskrankheit weit auf. Im nächsten Zitat wird der therapeutische Nihilismus Kraepelins deutlich. Dieser unterscheidet ihn von seinen Nachfolgern heute: „Eine ursächliche Behandlung des manisch-depressiven, tief in der Persönlichkeit wurzelnden Irreseins, gibt es nicht. […] Wie weit es möglich ist, den einzelnen drohenden Anfall im Entstehen zu unterdrücken, wissen wir

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noch nicht.“ (Kraepelin, S. 1391) In der Schilderung seiner Methoden zur „Behandlung“ entspricht er der Darstellung von Dorothea Buck (s.u.): „Bei sehr starker Erregung empfiehlt sich […] das Dauerbad, das hier geradezu als das spezifische Behandlungsmittel bezeichnet werden darf. Seine wohltätige und beruhigende Wirkung ist ungemein überraschend. Alle die sonst so gefürchteten Übelstände, die Isolierung, das Schmieren, Zerstören, die Gewalttätigkeit lassen sich durch diese Maßregel [!] ganz oder doch nahezu ganz vermeiden. Alle anderen Schlaf- und Beruhigungsmittel werden ziemlich entbehrlich, wenn man die Bäder auch nachts fortsetzen kann; andernfalls wird man hie und da zu Paraldehyd, Trional, Veronal Lumina1 oder dgl. greifen müssen. Bei Herzschwäche sind unter Umständen vorsichtige Gaben von Coffein oder Digitalis angezeigt. Nach Abnahme der Erregung läßt sich die Badebehandlung recht gut mit zeitweiligem Aufenthalte im Freien verbinden.“ (Ebda., S. 1392)

Er arbeitet mit Freiheitsberaubung, die in Folter übergeht und Pharmakotherapie. Das Mittel der Wahl ist für ihn – wie seit Jahrhunderten (s. u.) – Opium: „In den Depressionszuständen pflegt man Bromsalze, gelegentliche Schlafmittel, ferner abendliche Bäder mit kühlen Überrieselungen in Anwendung zu ziehen; bei lebhafterer Angst gibt man Opium mit oder ohne Verbindung mit Brom. Man steigt mit dem Opium rasch von dreimal täglich 10 bis zu 30 oder 40 Tropfen der Tinktur; von höheren Gaben habe ich keinen Nutzen mehr gesehen; unter Umständen scheinen sie erregend zu wirken. Nach eingetretener Beruhigung geht man langsam wieder herunter, um nach Bedarf von neuem rasch zu steigern.“ (Kraepelin 1913, S. 1394f.)

Am besten bleiben Depressive für immer in der Anstalt: „Große Vorsicht ist bei deprimierten Kranken hinsichtlich der Entlassung aus dem Schutze der Anstalt anzuraten, da gerade in der Genesungszeit die Selbstmordgefahr nicht selten besonders groß ist. Oft entstehen hier erhebliche Schwierigkeiten durch das triebartige Heimweh, das sich bei den Kranken entwickelt und die Angehörigen veranlaßt, gegen alle Mahnungen des Arztes die Entlassung durchzusetzen. Rasche, sehr erhebliche Verschlechterungen, ja Selbstmordversuche sind oft genug die Folge. […] Manche Kranke verlangen auch nur deswegen aus der Anstalt fort, um draußen ihre Selbstmordabsichten ausführen zu können; sie wissen dabei ihre wahre Stimmung oft mit großem Geschick vor Arzt und Angehörigen zu verbergen. Erst dann, wenn das ungeduldige Drängen verschwindet, volle Krankheitseinsicht und gleichmäßig ruhige Stimmung besteht, die Ernährung auf den früheren Stand zurückgekehrt und der Schlaf ungestört ist, kann man die Heilung als vollen-

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det und die Zeit der Entlassung als gekommen ansehen. Ausnahmen sind nur unter besonders günstigen Bedingungen ratsam.“ (Kraepelin 1913, S. 1395)

Nach der Kraepelinschen Theorie, die ja heute wieder gültig ist, ist ein Mensch jenseits von Depression manisch und ein Mensch jenseits von Manie depressiv. Es gibt so gesehen keine gesunden Menschen. Kraepelin wendet sich explizit gegen die Psychoanalyse, die er offensichtlich für Nonsens hält. Auch damit ist er schon „postmodern“. Kraepelin berichtet über einen Fall von Kleptomanie: „Eine meiner Kranken mußte triebartig allerlei für sie wertlose Dinge stehlen, die sie dann nicht weiter verwendete. Sie gab an, sie habe sich nicht anders helfen können; es sei ein Trieb gewesen, gerade als ob sie Durst gehabt hätte; sie war beunruhigt, wenn sie dem nicht nachgeben konnte. [Der Psychiater] Gross ist auf Grund der ‚Psychoanalyse‘ hier zu dem Ergebnisse gekommen, daß der Stehltrieb, der Drang, heimlich Verbotenes zu tun, ‚heimlich etwas in die Hand zu nehmen‘, eine Umwandlung durch den impotenten Liebhaber nicht befriedigter geschlechtlicher Gelüste bedeute, die noch durch die Frage eines Geistlichen in der Beichte beeinflußt worden sei, ob sie beim Geschlechtsverkehr das Glied selbst eingeführt habe. Wir dürfen diese zwangsmäßigen Befürchtungen und Antriebe wohl als den Ausdruck einer gewissen, auch durch andere Gründe gestützten Verwandtschaft des manisch-depressiven Irreseins mit dem Entartungsirresein betrachten.“ (Kraepelin 1913, S. 1261)

Kraepelins Behandlungsmethoden Wie sahen Kraepelins Behandlungsmethoden vor dem Hintergrund seines „therapeutischen Nihilismus“ konkret aus? Die 1917 geborene Autorin, Bildhauerin und Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes Psychiatrieerfahrener, Dorothea Buck, beschreibt die Methoden Kraepelins. Mit 17 Jahren erkrankte sie an Schizophrenie und wurde 1936 in die v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel eingewiesen. Dort lernte sie erstmals die menschenverachtenden, in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts üblichen Praktiken der Psychiatrie kennen – unter anderem Dauerbäder und Kaltwasserkopfgüsse zur „Disziplinierung“. Als besonders erniedrigend empfand sie jedoch die „völlige Sprachlosigkeit“: Die Patienten untereinander hatten Sprechverbot, Gespräche zwischen Personal und Patienten waren unüblich. Sie berichtet: „Ich bin Dorothea Buck und 90 Jahre alt, das, was man eine ‚Zeitzeugin‘ nennt. Das Thema meines Referats heißt: 70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miter-

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lebt […] Nun erlebte ich ein ganz anderes Bethel, als ich es aus dem ‚Boten von Bethel‘ kannte. Auf der hellgrünen Wand meinem Bett gegenüber stand in großer Schrift das Jesuswort ‚Kommet her zu mir, Alle, die Ihr mühselig und beladen seid. Ich will Euch erquicken‘. Und womit wurden wir erquickt? Mit Kaltwasserkopfgüssen, mit Dauerbädern unter einer über die Wanne gespannten Segeltuchplane, in deren steifem Stehkragen mein Hals 23 Stunden – von einer Visite zur nächsten – eingeschlossen war, mit den ‚nassen Packungen‘ und mit Paraldehyd-Betäubungsspritzen. Bei der ‚nassen Packung‘ wurde man in kalte, nasse Tücher so fest eingebunden, dass man sich nicht mehr bewegen konnte. Die Tücher wurden durch die Körperwärme warm, dann heiß. Ich schrie vor Empörung über diese unsinnige Fesselung in den heißen Tüchern. Ich fand es unglaublich, dass die selbstverständliche Hilfe durch Gespräche und Beschäftigung durch diese quälenden ‚Beruhigungsmaßnahmen‘ ersetzt wurden. Denn natürlich wurden wir ohne eine Beschäftigung und Abwechslung, ohne ein einziges Gespräch, nicht einmal ein Aufnahmegespräch, nur in den Betten liegend, obwohl wir körperlich gesund waren, unruhig. Wie sollten wir dieses unsinnige Verhalten der Ärzte und Schwestern als ‚Hilfe‘ erkennen können. Es waren die Methoden von Emil Kraepelin, der von 1856 bis 1926 lebte, und unsere deutsche Psychiatrie bestimmte. Der Chefarzt unseres Betheler ‚Hauses für Nerven- und Gemütsleiden‘, wie es damals hieß, war einer seiner letzten Schüler gewesen. Emil Kraepelin hatte die Gespräche, die seine Vorgänger, wie Wilhelm Griesinger von 1817 bis 1868 und Carl Wilhelm Ideler von 1795 bis 1860 noch mit ihren Patienten geführt hatten, durch die gesprächslose Beobachtung von Symptomen ersetzt, durch die ‚Krankheitsbilder – oder nosologische‘ Psychiatrie. Darum konnte er seine Patientinnen und Patienten auch nicht mehr als Mitmenschen erkennen, wie es nur durch Gespräche möglich ist. Die beobachteten Symptome traten an die Stelle des Menschen mit seinen Erfahrungen. Kraepelin forderte ein rücksichtsloses Eingreifen gegen die erbliche Minderwertigkeit, das ‚Unschädlichmachen‘ der psychopathisch Entarteten mit Einschluss der Sterilisierung.“13

Es ist wahrlich nicht rühmlich, wenn sich die moderne, auch oft „zweite“ genannte biologische Psychiatrie auf Emil Kraepelin als ihren Stammvater beruft.

13 Hauptvortrag vom 7. Juni 2007 von Dorothea Buck, Ehrenvorsitzende des Bundesverbandes Psychiatrie-Erfahrener (BPE) e.V., beim Kongress „Coercive Treatment in Psychiatry: A Comprehensive Review”, veranstaltet von der World Psychiatric Organisation in Dresden vom 6. bis 8. Juni 2007: Dorothea Buck , 70 Jahre Zwang in deutschen Psychiatrien – erlebt und miterlebt. http://www.bpe-online.de /verband/ rundbrief/2005/3/ interview_dorothea.htm.

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Kraepelins Wirkung Das Kraepelinische System der Kategorisierung von Geisteskrankheiten, ist, wie bereits mehrfach erwähnt, als Basis moderner psychiatrischer Diagnostik in DSM-III und ICD-10 eingeflossen. Da die französische Schule der Psychiatrie sich der Kraepelinschen Nomenklatur der manisch-depressiven Psychose nicht angeschlossen hat, wird die Depression im Französischen traditionell mit „mélancholie“ bezeichnet. Als 1980 das DSM-III erscheint, hat sich Kraepelin international durchgesetzt. Die psychischen Krankheiten werden ab sofort nach seiner Methode eingeteilt. Der Aufstieg der Depression zur Volkskrankheit beginnt. Das ist eigentlich mehr als erstaunlich, denn noch im Jahr 1956 schrieb der schweizer Psychiater Jakob Wyrsch zur Bedeutung von Kraepelin: „[Der deutsche Psychiater] Kurt Schneider sagt, in Amerika spreche man von Kraepelin, wenn überhaupt, mit Verachtung: Auch bei uns gilt er mehr und mehr als Großvater, ja schon Urgroßvater, dessen Zeit eben vorbei ist. Soweit geht Hans Gruhle zwar nicht: Ich begrüße es geradezu, daß neben allen den kleinen vorübergehenden Einzelgesichtspunkten die großzügige Kraepelinsche Einteilung übrig bleibt. Aber über diesen vielen kritischen Bemerkungen, die diesem Satz vorangehen oder ihm folgen, könnte ein flüchtiger Leser das Lob übersehen. [...]. Kurz, Kraepelins Werk ist seit 1926, dem Todesjahr seines Schöpfers, historisch geworden, und Mann und Werk scheinen uns getrennt [...]. Als Neuerer und Revolutionär lebt Freud in seinem Nachruhm fort, während Kraepelin als Bewahrer und allenfalls als Vollender, als Abschluss einer Epoche, und darum klar umrissen, aber als historisch, in unserer Vorstellung steht.“14

Das hat sich im Laufe der Jahre grundlegend geändert. Konträr sieht der schweizer Psychiater Jules Angst im Jahr 1993 Kraepelins Bedeutung. Jules Angst analysiert in seiner Festrede „Todayު s perspective on Kraepelinު s nosology on endogenous psychoses“ anlässlich der Verleihung der Emil-Kraepelin-Medaille an ihn im Jahre 1993 die Stellung der modernen Psychiatrie zu Kraepelins Werk. Angst hält es für „bemerkenswert“, dass Kraepelins Einteilung immer noch weltweit in Gebrauch ist und stellt fest, dass die Psychiatrie nicht weit über ihren „Meister“ hinausgewachsen ist:

14 Jakob Wyrsch: „Über die Bedeutung von Freud und Kraepelin für die Psychiatrie“. In: Der Nervenarzt, Vol. 27, 1956, S. 529–535. Zitiert nach: Ulrich Palm: Auseinandersetzung mit Kraepelins Werk in den Jahren 1900 bis 1960 (Diss.). München 2006, S. 86. http://edoc.ub.uni-muenchen.de/5315/1/Palm_Ulrich.pdf.

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„Today, more than 60 years later, the question arises, where we stand. Today, more than 60 years later, it is noteworthy that this classification is still valid worldwide. Psychiatry did not grow much beyond her master. Does this mean that psychiatry, despite carefully preserving Kraepelin´s heritage, did not develop any further? “ (Nach Palm, S. 106)

Die Pharmafirma Lilly betreibt die Webseite „www.bipolare-erkrankungen.de“. Dort fordert sie: „‚Mehr Mut zu Kraepelin!‘ in Deutschland, möchte man sagen angesichts der hochaktuell anmutenden programmatischen Äußerungen Kraepelins in der Einleitung des Lehrbuchs von 1913. Kraepelins Bedeutung für die Psychiatrie war schon zu seinen Lebzeiten nicht zu überschätzen. Zahlreiche Schüler trugen zur Verbreitung seiner psychiatrischen Auffassungen weltweit bei. Insbesondere in den USA gibt es mindestens seit etwa dreißig Jahren eine Anhängerschaft von Kraepelins Gedankengut, die unter der Bezeichnung ‚Neokraepelinians‘ geführt wird. Vielleicht hat diese Kraepelin-Rezeption mit dazu beigetragen, dass die amerikanische Psychiatrie heute international führend ist.“15

Es ist deutlich, dass die Kraepelinsche Psychiatrie, trotz ihres ursprünglichen therapeutischen Nihilismus, im Interesse der Pharmaindustrie ist. Die Leitfrage für die weitere Untersuchung lautet: Wie ist es zu diesem Wandel in der Bewertung Kraepelins und zum Erfolg der Kraepelinschen Theorie gekommen? Um das zu verstehen, bietet es sich an, den US-amerikanischen Weg zur Volkskrankheit Depression zu analysieren. Zunächst aber soll die Modekrankheit aus Kraepelins Zeiten, die Neurasthenie sowie die Entstehung der Psychotherapie aus der Neurologie reflektiert werden.

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UND

Mode- oder Volkskrankheit der Zeit des ausgehenden 19. Jahrhunderts, und damit in gewisser Weise unserer Depression vergleichbar, war sowohl in Deutschland als auch in den USA und anderen industrialisierten Ländern die Neurasthenie.16 Melancholiker galten damals, anders als die heutigen Depressiven, als Irre,

15 http://www.bipolare-erkrankungen.de/infothek/kraepelin/lebenswerk.html (25.07.2011). 16 Die Neurasthenie wird heute zu den somatoformen Krankheiten (körperliche Symptome, psychische Ursache) gezählt, das Schwergewicht wird also heute auf die kör-

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als geisteskrank. Und ein Fall für die Irrenanstalt wollte man damals wie heute nicht sein. Neurasthenie war keine psychiatrische Erkrankung, sondern eine neurologische. Die Neurastheniker hatten es „mit den Nerven“. Sie galten nicht als irre – im Gegenteil, die Diagnose „Neurasthenie“ deutete auf einen Angehörigen des Bürgertums hin. Es war sogar etwas vornehm, neurasthenisch zu sein; gelegentlich in Ohnmacht zu fallen war z.B. bei höheren Töchtern durchaus modern. Durch einen enorm schnellen technologischen und kulturellen Wandel nach 1871 fühlten sich in Deutschland und andern Industrieländern weite Teile der Gesellschaft überfordert. „Das Zeitalter der Nervosität“ (München 1998) betitelte Joachim Radkau, Professor für neuere Geschichte, sein Buch über den Zeitgeist der Epoche, deren großes Thema die fortwährende Beschleunigung war. „Tempo“ war das universale Modewort, und die Neurasthenie, die übermäßige Erregbarkeit, stieg auch in Deutschland zur Volkskrankheit auf. Die Begriffe „Neurasthenie“ und „Nervosität“ hatten in Europa zwischen 1880 und dem Ersten Weltkrieg nirgends so sehr Konjunktur wie in Deutschland, so Radkau. Lange Zeit sei die Affektbändigung das Ziel aller Lebensweisheit gewesen, doch zu Beginn des technisch-industriellen Zeitalters wurde zunehmend die Klage über den Verlust der „echten“ Gefühle laut. Über Nerven zu reden war um 1880 nicht neu, doch bis dahin galten sie als Muskeln: „nervig“ war gleichbedeutend mit muskulös. Mit dem neuen Begriff der Neurasthenie konnten die Symptome der reizbaren Schwäche, „ein halb hypochondrisches, halb somatisches Wollen-undnicht-Können“ (Radkau), scheinbar auf einen Nenner gebracht werden. Dank des neuen Begriffs konnte man jetzt über psychische Deformationen sprechen, ohne als verrückt denunziert zu werden. Der Neurastheniker hatte ein immenses Mitteilungsbedürfnis, dem er oft in seitenlangen Selbstanalysen frönte, so Radkau. Wilhelm Erb (1840–1921), der deutsche führende Neurologe jener Zeit, machte für die Neurasthenie die „ins Unangemessene gesteigerte Konkurrenz“ verantwortlich. Bürger wie Nationen seien „zu gewaltig vermehrten Anstrengungen im Kampfe um ihr Dasein genötigt.“ (Radkau, ebda.) Im Jahr 1869 veröffentlichte der US-amerikanische Neurologe George Miller Beard den Aufsatz „Neurasthenia or Nervous Exhaustion“ im „Boston Medical an Surgical Journal“. Hier taucht dieser Begriff das erste Mal auf. Beard selbst begann seine Karriere als „Elektrotherapeut“ im Jahr 1866. Die von ihm erfundene Methode nannte er „General Electrization“. Die Elektrotherapie war eigentlich eine Wiederentdeckung, sie hatte schon einmal eine große Zeit, Ende des 18. Jahrhunderts. Benjamin Franklin, der auch als Erfinder des Blitzableiters gilt,

perliche Erschöpfbarkeit gelegt, für die es aber keine körperlichen und also auch, laut ICD 10, keine in der Umwelt liegenden Gründe gibt. (ICD 10 F 48.0).

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war ein Anhänger dieser Therapie. Die Behandlung dauerte 10 bis 20 Minuten. Die Patienten saßen vor einem eindrucksvollen Generator. Sie mussten sich bis auf die Unterwäsche ausziehen und wurden dann an den Generator angeschlossen: Die Kathode wurde am Steißbein oder unter den Füßen befestigt, der Pluspol war ein feuchter Schwamm oder die Hand des Doktors, die über den Oberköper und Kopf geführt wurde. Die Behandlung konnte schmerzhaft sein, und weil viele der Patienten sehr empfindlich waren, floss oft auch gar kein Strom,17 dann wurde durch Handauflegen geheilt (was unter verschiedenen Namen auch heute eine beliebte „therapeutische“ Methode ist). Um diese Methode besser zu verkaufen, kreierte Beard den Begriff der Neurasthenie und fasste Symptome der Abgespanntheit unter diesem Begriff zusammen. Abgegrenzt wurde die Neurasthenie von der Hysterie. Alle Symptome, die nicht hysterisch sind, waren nach dieser Logik neurasthenisch. Die Psychiatrie teilt sich also bereits spätestens hier – lange vor Freud – in zwei Behandlungsstränge: einen für die Reichen, einen für die Armen. „Die Psychiatrie hat sich zweigeteilt: in die für die subalternen Klassen, die auf dem Irrenhaus basiert und die für die Privilegierten, die auf der Psychotherapie basiert.“18 Die Erfindung der Neurasthenie war in gewisser Weise eine Selbsthilfemaßnahme der Oberschicht. Die Symptome, die auch bei einer Depression bzw. Melancholie auftreten und die auch als Zeichen einer schweren Geisteskrankheit gewertet werden können, werden in diesem Fall als „auf äußeren Einflüssen“ beruhend beschrieben. Der Depressive der Oberschicht ist also nicht verrückt, er ist überarbeitet. Weil die Psychiatrie des 19. Jahrhunderts auch ein Instrument der Segregation und Umprogrammierung von Unangepassten aus der Unterschicht war, musste sie eine Erklärung für vergleichbare Symptome bei denjenigen finden, die nach der eugenischen Logik nicht von einer „Geisteskrankheit“ befallen sein konnten. Diese waren eben „neurasthenisch“, überarbeitet. Heute werden diese Symptome auch gerne mit „Umwelteinwirkungen“ erklärt, und die Neurasthenie wird zum CFS, Chronic Fatigue Syndrome. „Mangelnde Belastbarkeit und Müdigkeitserscheinungen in kaum vorstellbarerer Weise“ (aus dem Flyer einer Selbsthilfegruppe) sind die Hauptsymptome dieser Krankheit. So unterschieden sich die psychischen Krankheiten: Traten sie bei Angehörigen der Oberschicht auf, handelte es sich um Auswirkungen eines Lebensstils;

17 Vgl.: Edward M. Brown: An American Treatment for the American Nervousness: George Miller Beard and

General Electrization. Presented to the American

Association of the History of Medicine. Boston 1980 http://bms.brown.edu/ HistoryofPsychiatry/Beard.html. 18 G. Jervis: Die offenen Institution. Frankfurt/M. 1979, S. 145.

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sie waren Folgen von Überarbeitung oder einer besonders schädlichen Umwelt. Traten sie dagegen bei Angehörigen der Unterschicht auf, wurden sie als bedrohlich wahrgenommen. Sie beruhten auf Degeneration und waren gegebenenfalls auch gegen den Willen des Betroffenen zu behandeln – mit den beschriebenen Zwangsmethoden der Anstalt. Für Kraepelin allerdings litten, wie gesehen, auch Neurastheniker an einer leichten Form des manisch-depressiven Irreseins – er äußerte sich aber sehr verständnisvoll über diese: „Die Häufigkeit, mit der sich die verschiedenen, hier geschilderten klinischen Gestaltungen des manisch-depressiven Irreseins in einer größeren Beobachtungsreihe vorfinden, ist natürlich sehr verschieden. Die leichten Formen scheiden aus einer solchen Betrachtung von vornherein aus, da sie nur selten in Anstalten gelangen, vielmehr in der Familie oder in allen möglichen Sanatorien behandelt zu werden pflegen. Ihre Zahl ist außerordentlich groß; es gibt keine ‚Nervenheilanstalt‘, die ihrer nicht dauernd eine ganze Reihe beherbergte, allerdings meist unter den Bezeichnungen Überarbeitung, Nervosität, Neurasthenie, Hysterie usf.“ (Kraepelin 1913, S. 1319 f.)

Kraepelin nennt die Neurasthenie „Krankheit unserer Zeit“: Der Einzelne komme durch das rasche Steigen der Arbeitsanforderungen und den hastigen Fortschritt immer häufiger in einen Zustand akuter Überarbeitung. „[…] Das Anwachsen der großen Städte und der in ihnen herrschende Wettbewerb bedingen für einen großen Teil des Volkes eine Erhöhung der zu bewältigenden Anforderungen, zugleich eine größere Zersplitterung der Tätigkeit, Unrast und Unregelmäßigkeit der Lebensführung.“19 Betroffen seien besonders die „begabteren und lebhafteren, ferner die gebildeteren und pflichttreuen Menschen.“20 Im Jahr 1891 gab es laut Shorter (2003, S. 210) in Deutschland 202 öffentliche Irrenanstalten (für die „Irren“) und 200 private „Nervenkliniken“, die den Neurasthenikern und „Nervösen“ vorbehalten waren. Diese Nervenkliniken lösten die „Wasserheilanstalten“ des 19. Jahrhunderts ab und erfreuten sich großen Zuspruchs. Die Ärzte, die dort praktizierten, galten als Neurologen. Das Sanatorium Friedrichshöhe zu Wiesbaden warb im Jahr 1910 mit der Behandlung von

19 Emil Kraepelin. Zit. nach: Hans-Georg Güse, Norbert Schmacke: Psychiatrie zwischen bürgerlicher Revolution und Faschismus. Kronberg 1976, S. 106. Hier zit. nach: Jurk, a.a.O., S. 50. 20 Kraepelin, zit. nach Güse et.al., ebda., S. 151f., hier zit. nach Jurk, ebda., S. 62.

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„Schilddrüsenfehlfunktionen, Veitstanz, peripheren und zentralen Lähmungen, Schwindsucht, Nervosität, Neurasthenie, Hysterie, Hypochondrie und depressive Melancholie. [Es gebe] Wassertherapien, Thermalbehandlungen, Kiefernadelbäder ebenso wie Elektrotherapien, Massagen und Physiotherapien. Das klang wundervoll organisch, vor allem, wenn auch noch ausdrücklich hinzugefügt wurde, dass die Aufnahme von Geisteskranken ausgeschlossen war.“ (Shorter 2003, S. 210)

Das Krankheitskonzept richtet sich vor allem an das wohlhabende Bürgertum, denn der Aufenthalt in den Privatkliniken musste von diesen bezahlt werden. Freud schreibt 1893 an seinen Freund Wilhelm Fließ: „Ich sehe jetzt soviel Neurasthenien, dass ich die Arbeit ganz wohl im Verlauf von zwei bis drei Jahren auf Patienten dieses Typs beschränken kann.“21 Die Zweiklassenbehandlung des vorletzten Jahrhunderts findet man auch heute wieder. In der Zeitschrift „Psychologie heute“22 beklagt einer der Väter der Reformpsychiatrie in der BRD, Asmus Finzen, eine neue Zweiklassenpsychiatrie. Die „armen Irren“ kommen in die Psychiatrie, die „pflegeleichten und gutsituierten Patienten picken sich die psychosomatischen Kliniken heraus.“ (Finzen, ebda., S. 42) Durch die Umbenennung der medizinischen Fachdisziplin „Psychotherapeutische Medizin“ in „Psychosomatische Medizin und Psychotherapie“ im Jahr 2003 sei die Einheit der Psychiatrie bedroht. Diese medizinische Disziplin könne sich im Gegensatz zur Psychiatrie ihre Patienten auswählen: „Die Konkurrenz zwischen psychosomatisch-psychotherapeutischer Medizin und Psychiatrie ist vergiftet. Sie bedroht die Psychiatrie in ihren Grundfesten. Dadurch, dass die Psychosomatik über rund 25.000 Klinikbetten gebietet und fast alle Rechte, aber nicht die Pflichten der Versorgungspsychiatrie hat, wird die psychiatriepolitische Entwicklung in mancher Hinsicht auf den Stand vor der Reform zurückgeworfen, wird die Diskriminierung und Stigmatisierung bestimmter Patienten- und Bevölkerungsgruppen gebahnt.“ (Finzen, ebda.)

Das ist also offenbar eine sich ständig wiederholende Epoche in der Geschichte der Psychiatrie: Da diese an sich „stigmatisiert“ ist, trachten und trachteten besser situierte Fälle (und deren Angehörige) danach, gesondert von den „Patienten der Klapsmühle“ behandelt zu werden.

21 Edward Shorter: Moderne Leiden. Zur Geschichte der psychosomatischen Krankheiten. Hamburg 1994, S. 373. 22 Asmus Finzen: Die neue Zweiklassenpsychiatrie. In: Psychologie heute, Februar 2010 (2/2010).

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D IE E NTWICKLUNG DER P SYCHOTHERAPIE AUS DER N EUROLOGIE Von der Psychiatrie deutlich zu unterscheiden ist die Psychotherapie und ihre Geschichte. Die moderne Psychotherapie entwickelte sich nicht aus der Psychiatrie, sondern aus der Neurologie. Patienten fanden es bereits Anfang des 19. Jahrhunderts wesentlich beruhigender, unter einer Störung des Nervensystems zu leiden, als gesagt zu bekommen, dass sie irre seien. Diese Trennung zwischen Psychotherapie und Psychiatrie wird häufig übersehen. Tatsächlich waren es Neurologen, die die Psychotherapie entwickelten, der bekannteste Neurologe unter ihnen war sicher Siegmund Freud. Diese Spaltung ist interessant für die Sozialgeschichte der Psychiatrie. Die Entscheidung zwischen Neurologie und Nervenkrankheit auf der einen und Psychiatrie und Irresein auf der anderen Seite hatte – wie gesehen – mit der Herkunftsklasse der Patienten zu tun. Mediziner ließen sich bis zum Sieg der Psychoanalyse in der Psychiatrie in den 1940er Jahren (in den USA!) auf die „Mär“ (Shorter 2003) ein, dass schwere (psychotische) als auch leichte (neurotische) psychische Erkrankungen nervlicher Natur seien. Das hatte einen ökonomischen Grund: Den Neurologen und Psychiatern eröffnete sich damit die Gelegenheit, den Irrenhäusern zu entkommen und lukrative Privatpraxen für das gehobene Bürgertum einzurichten. Und die Patienten bekamen im Gegenzug die Chance, der Schmach des Irreseins und dem Ruch von Erbkrankheit und Degeneration zu entgehen. Denn im Gegensatz zu einer psychischen Krankheit hielt man Nervenkrankheiten im Prinzip nicht für erblich und empfand sie daher auch nicht als Stigmatisierung. Dazu kamen Horrorberichte aus den überfüllten Einrichtungen, die bereits im Deutschland des frühen 20. Jahrhunderts zur Entstehung einer „antipsychiatrischen“ Bewegung23 beigetragen haben. Im Gegensatz zu allgemeinmedizinischen Patienten betrachteten Psychiatriepatienten ihren Arzt nicht als Freund sondern als Feind. (Shorter, 2003, S.179) Shorter zitiert den deutschen Psychiater Alfred Hoche ( 1920 der Autor von: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Ihr Maß und ihre Form): „Der psychisch Kranke lehne die Vorstellung krank zu sein und einen Doktor zu brauchen, jedoch ab, weshalb er Ärzte zu seinen Feinden erkläre.

23 Gemeint ist die „Irrenrechtsreformbewegung“, die sich gegen „schlechte Behandlung, ungerechtfertigte Internierungen angeblich Geisteskranker, Entmündigungsangelegenheiten etc.“ wandte. Im Jahr 1909 erschien deren Zeitschrift „Die Volkstümliche Zeitschrift des Bundes für Irrenrechtsreform und Irrenfürsorge.“ Heinz Schott, Rainer Tölle: Geschichte der Psychiatrie: Krankheitslehren, Irrwege, Behandlungsformen. München 2006, S. 270.

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Hoche fügte noch die interessante Anmerkung hinzu, dass dies weit weniger auf Kliniken zuträfe, die ‚Nervenkranke‘ behandelten.“ (Shorter, ebda. S. 179) Zur Herstellung von Arzt-Patient-Compliance, die zur Heilung von leichteren psychischen Störungen unerlässlich ist, war es also besser, sich auf die Nerven zu beziehen. Es ist deshalb kein Wunder, dass nicht die Psychiatrie, sondern die Neurologie der Gesprächspsychotherapie, die auf Compliance angewiesen ist, zum Durchbruch verholfen hat. Während die Patienten glaubten, dass ihre nervlichen Probleme durch Überanstrengung oder ein Ungleichgewicht der Körpersäfte hervorgerufen seien (erstere Vermutung überwog im Bürgertum, letztere in der Unterschicht), meinten die Ärzte, dass die Ursachen in der natürlichen Anlage eines Patienten zu suchen seien und eine erbliche Komponente haben. Heute gilt beides als richtig. Es gibt ein Ungleichgewicht von Körpersäften im Gehirn, das möglicherweise auf die natürliche Veranlagung oder auch auf Stress zurückgeführt werden kann und das auch erblich sein kann. Jedenfalls sind die Körpersäfte, die heute Serotonin und Dopamin etc. heißen, in der populärwissenschaftlichen Vorstellung noch immer im Ungleichgewicht. Und es sind auch die Nerven, die gestört sind, es geht um Substanzen, die in den Synapsen ausgeschüttet werden oder nicht, und Synapsen sind Verknüpfungspunkte von Nerven. Das Gehirn schließlich ist nichts anderes als ein großes Nervenknäuel. Die „nerventheoretische Sichtweise“ hat zumindest in popularisierenden Darstellungen gewonnen. Auch in neueren Lehrbüchern wird die Entwicklung so beschrieben. Demnach differenzierte sich die Medizin von der vorwissenschaftlichen Humoralpathologie in der Moderne in einen verstehenden und einen erklärenden Teil. In der „Postmoderne“ werde diese Unterteilung wieder verwischt: „Schließlich liegt mit der Psychoneuroimmunologie ein Arbeitsfeld vor, welches ebenfalls einem humoralpathologischen Paradigma folgt, in dem die Grenzen zwischen psychischmentalen und körperlichen Vorgängen zunehmend überwunden werden. […] Während früher psychosomatische Symptome durch unterschiedliche psychologische Theorien erklärt wurden, gilt es nun, Ergebnisse aus Molekularbiologie, Neuroimmunologie, Bildgebung, klinischen Studien, Sozialwissenschaften und Komplementärmedizin zu berücksichtigen. An die ‚cartesianische‘ Teilung von Leib und Geist tritt eine integrative und systemische Betrachtungsweise von Körper, Verstand, Geist und Umwelt.“ 24

24 K. Lieb, S. Frauenknecht et al:. Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. München 2009, S. 393.

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Auch Shorter sieht, dass heute ähnliche Strategien am Werk sind, er nennt das Beispiel „Stress“. Und er begründet das folgendermaßen: „Mediziner standen schon immer unter dem Druck, ihren Patienten zu sagen, was diese hören wollten. Und das trifft auf Psychiater in besonderer Weise zu, da ihre Behandlung (ihr Geschäft) zu einer Stimmungsaufhellung führen soll.“ (Shorter 2003, S. 180) George Bernhard Shaw schrieb in diesem Zusammenhang 1911 über das Arzt-Patient-Verhältnis: „Der Arzt mag dem Patienten ganz despotische Vorschriften machen in Fragen, über die der Patient keine Meinung hat, aber wenn der Patient ein Vorurteil hat, muss der Arzt das entweder unterstützen oder er wird seinen Patienten verlieren. Wenn die Leute davon überzeugt sind, dass die Nachtluft gesundheitsgefährlich sei und die frische Luft Erkältungen zur Folge habe, wird es dem Arzt, der Ventilation verschreibt, nicht möglich sein, seinen Lebensunterhalt durch eine Privatpraxis zu verdienen […] Im allgemeinen lernt der Arzt also erkennen, dass er ein ruinierter Mann ist, falls er sich seinen abergläubischen Patienten überlegen zeigt. Infolge dessen trachtet er instinktiv danach, sie an Aufklärung nicht zu übertreffen.“25

Nervenkrankheiten traten Mitte des 19. Jahrhunderts fast ausschließlich in oberen Gesellschaftsschichten auf. Auch in Frankreich sprach man zu dieser Zeit nicht mehr von Melancholie – eine Diagnose, die einen ins Irrenhaus bringen konnte – sondern von „nervösem Erethismus“, eine Formulierung, die alle Arten von Reiz- und Erregbarkeit sowie emotionale Instabilität und Depression abdeckte. Ein Anstieg dieses Erethismus, so wurde behauptet, sei vor allem unter den Luxus gewöhnten Großstädtern zu verzeichnen. (Shorter 2003, S. 181) In Deutschland ließ sich die Umetikettierung an den Namen der Heilanstalten ablesen. So hieß z.B. die 1847 gegründete „Privat-Anstalt für Irre und Schwachsinnige“ in Bendorf am Rhein zehn Jahre später „Privatanstalt für Hirnund Nervenkrankheiten“. Daraus kann man ersehen, dass „psychische Krankheit“ durchaus unterschiedlich beurteilt wird – je nachdem was geldversprechender ist, d.h. welche Patienten Zielgruppe sind. Die frühen Neurologen waren weniger an den „Nerven“ interessiert als an den neurologischen Implikationen, die bei Krankheiten wie Schilddrüsenfehlfunktion, Beriberi, Schlaganfall, Nierenversagen etc. auftreten. Doch irgendwann, so Shorter, sahen sie sich gezwungen, sich mit „den Nerven“ zu befassen, weil „Nervenstörungen“ wesentlich häufiger und auch lukrativer waren als etwa die neurologischen Komplikationen von Urämie. Das Unbehagen der Patienten

25 George Bernhard Shaw: Des Doktors Dilemma, Frankfurt/M. 1969, S. 60 f.

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an allem, was nach Psychiatrie roch, führte die Neurologen, ob sie es wollten oder nicht, in die Welt der Psychoneurosen. Der Journalist Robert Whitacker begründet das „Eindringen“ der Neurologen in das Feld der Psychiatrie, wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist, etwas anders. Die neue Psychotherapie ist eng mit der „moralischen Behandlung“ der frühen US-amerikanischen Asyle (s.u.) verwandt. Psychotherapie und Moral Treatment beinhalten im wesentlichen Beruhigung und Ablenkung des Patienten. Eigentlich ist Psychotherapie damit ein Unterhaltungsangebot. Das gilt auch für die Psychoanalyse. Die psychisch kranke Unterschicht wurde verwahrt, die psychisch kranke Oberschicht wurde unterhalten. Zusammenfassend lässt sich mit Shorter sagen: „In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg triumphierten die Neurologen; sie waren es, die sich als Psychotherapeuten niederließen. Die privat praktizierte Psychotherapie, die Basis der psychiatrischen Praxis unsere Zeit, wurde von Neurologen ins Leben gerufen, nicht von Psychiatern.“ (Shorter 2003, S. 220) 1913 wagte der Professor für Neurologie am Cornell Medical College von New York, Charles Dana, einen Blick in die Zukunft: „‚Der Neurologe […] bekommt es mit subjektiven Zuständen und der Bedeutung des Umfeldes, der Erziehung […] des Charakters, des Temperaments und der sozialen Umstände für die Neurosen seiner Patienten‘ zu tun. Und warum? Weil ‚Nervenkrankheiten weitgehend sozial bedingt sind‘. Deshalb sei es am besten, wenn der Neurologe seine Patienten von Jugend an begleite, ‚sie in Ehefragen berate, sie manchmal sogar selbst eheliche und ihnen Ratschläge zur Kindererziehung gebe‘. Wahrlich eine gewaltige Aufgabe für Mediziner, die noch kurz zuvor allein auf die Sektion des Rückenmarks spezialisiert waren! ‚Er muss eine Art Supermann sein‘‚ schlussfolgert Dana, ‚der höhere Ideale hat, auf überzeugende Weise zurückhalten, lebensklüger und vorausschauender ist als jene, die er anzuleiten versucht‘.“ (Zit. bei Shorter, ebda.)

Der Neurologe bzw. Psychotherapeut wird zum Seelsorger und die Psychotherapie zur Religion. Dieses Versprechen ist durch die Psychoanalyse wahr geworden. Tatsächlich bestimmte der Neurologe Freud mit seiner Theorie und der daraus abgeleiteten Methode die psychiatrischen Methoden der Wahl bis zur „chemischen Revolution“ ab den 1950er Jahren.

USA: Religiöse Wurzeln der Volkskrankheit Depression

M ORAL T REATMENT Entsprechend der Darstellung des Journalisten und antipsychiatrischen Aktivisten Robert Whitacker1 gab es in den USA eine ursprüngliche, gute Tradition der „Irrenbehandlung“, die auf die Quäker zurückging, und als „Moral Treatment“ bezeichnet wurde. Die Qäker sind eine Erweckungsbewegung, die sich nach dem englischen Bürgerkrieg gebildet hat und die sich in den USA aufgrund der dortigen Religionsfreiheit entfaltete. Als Erweckungsbewegungen werden Strömungen im Christentum bezeichnet, die die Bekehrung des Einzelnen und praktische christliche Lebensweise besonders betonen. Die derart motivierten Quäker wurden nach dem amerikanischen Bürgerkrieg durch „Neurologen“, damit meint Whitacker durch diesen Bürgerkrieg arbeitslos gewordene „Schmerzdoktoren“, abgelöst. Diese Neurologen, also frühe Anstaltspsychiater, medikalisierten die Psychiatrie, die davor nicht in medizinischer Hand gewesen sei und führten dadurch die Zwangspsychiatrie ein. Die Neurologen lassen sich bei Whitacker nicht von den Psychiatern unterscheiden, die historische „neurologische Phase“ geht in die psychiatrische über. In York, England, eröffneten die Quäker 1796 ihr erstes Hospital. Die Patienten wurden gut behandelt und verpflegt. Es gab aber immer die Möglichkeit, Patienten in einer dunklen Kammer einzusperren. Allerdings soll das selten vorgekommen sein. Whitacker berichtet jedenfalls, dass selten mehr als zwei Personen sich in dieser Kammer befanden. Die Methode der Quäker bestand (ähnlich wie die des französischen Psychiaters Philippe Pinels, 1745–1826) darin, „to assist nature“, also den Dingen in einem geschützten Rahmen ihren Lauf zu lassen. 1

Robert Whitacker: Mad in America. Bad Science, Bad Medicine and the Enduring Mistreatment of the Mentally Ill. Cambridge 2002.

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Diese Methoden zeitigten nach Whitacker gute Ergebnisse. In den ersten 15 Jahren in York konnten 70% der Patienten, die weniger als ein Jahr krank waren, als geheilt entlassen werden. (Whitacker, S.24) Pinel in Frankreich und die Quäker in den USA humanisierten nach dieser Auffassung – die im Gegensatz zu Michels Foucaults These von der Aussperrung des Wahnsinns durch Pinel steht – Ende des 18. Jahrhunderts den Umgang mit psychisch Kranken. Es gab keine klar definierten Standards für diese Asyle. Es war deutlich, dass sie nicht zu groß sein, also nicht mehr als 250 Patienten aufnehmen sollten. Sie lagen meist im Grünen und waren mit parkähnlichen Anlagen geschmückt. Pflanzenzucht war eine Beschäftigungstherapie für die Patienten. Der Direktor sollte jemand sein, der „vernünftig menschlich, ausgeglichen, würdig, milde und höflich einfühlsam“ (ebda. S. 26) ist. Der Leiter musste nicht unbedingt Arzt sein. Täglich wurden Aktivitäten für die Patienten angeboten, heute würde man von Tagesstrukturierung reden. Es gab Theatergruppen, Gärtnereien, Lesezirkel, abendliche Vorführungen der Laterna magica oder Vorträge, es wurden Zeitungen erstellt usw. Das sind Merkmale der „therapeutischen Gemeinschaft“, die sich auch in anderen Einrichtung, wie denen Philippe Pinels in Paris zu Beginn des 19. Jahrhunderts oder Ludwig Binswangers d. Ä. (Mitte des 19. Jahrhunderts in Kreuzlingen, CH) und in der der Gruppentherapie in Tavistock nach Joshua Bierer (s.u.) fanden. Die Patienten der Quäker-Asyle trugen wie die Aufseher/Pfleger – oder sollte man besser von „Anleitern“ reden – zivil. In dieser Umgebung wurde Zwang als letzter Ausweg gesehen. Allerdings gab es sozialen Druck: Es existierte ein Belohnungssystem für gutes Verhalten: Wer sich gut führte, durfte in den oberen Stockwerken wohnen, wo sich auch das soziale Leben abspielte. Außerdem erhielten diese Patienten weitere Vergünstigungen. Die „Unartigen“ mussten im Erdgeschoss wohnen. Dieses Zwei-Klassen-System beschreibt Whitacker als erfolgreich. Es funktionierte nach dem Prinzip „Zuckerbrot und Peitsche“. Es war ein System der Konditionierung, nur eben vorwiegend der positiven Konditionierung. Ziel war die „Self-Gouvernance“, also die Selbstbeherrschung oder Selbstsorge der Einsitzenden. Methode war die „Hilfe zur Selbsthilfe“. Die „Kranken“ sollten sich an die Gesellschaft anpassen. Die Asyle waren keine Inseln einer besseren Welt, sondern Anstalten zur Erziehung oder Besserung von Unangepassten bzw. Kranken. Es wurde bereits erwähnt, dass die Asyle in den USA gute Resultate erzielten. So war es auch kein Wunder, dass Ärzte sich für die Methoden und Erfolge der Quäker-Asyle zu interessieren begannen. Die Quäker hatten ja ihre Asyle nicht als Konkurrenz zu den bestehenden Angeboten gedacht, sondern als Ergänzung und Alternative. Trotzdem bedeutete das Interesse der Ärzte den Anfang vom Ende des „Moral Treatment“. Nach und nach wurden immer mehr Ärzte Leiter der Asyle. So wurden

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die Asyle zu explizit medizinischen Einrichtungen. In der Folge kam es zur Entwicklung einer „Asyl-Medizin“. Allerdings brauchte man natürlich eine medizinische Theorie, die besagte, warum die Irren medizinisch behandelt werden müssen. Pinels und der Quäker „nicht-organische Theorie“, die die Ursachen für den Wahnsinn in der sozialen Umgebung der Patienten sah, war da hinderlich. Und so wurde nach Whitacker in der Medizin die Theorie der „abgenutzten Nerven“ entwickelt. Die erschöpften Nerven sollten nach dieser Theorie fehlerhafte Impulse zum Gehirn oder von einer Hirnregion zur anderen senden. Dies sollte zu Halluzinationen und Persönlichkeitsstörungen führen. Die moralische Behandlung der Quäker wirkte nach dieser Erklärung also medizinisch, genau deshalb, weil sie die irritierten Nerven durch Gestaltung der Umgebung und Beschäftigung beruhigte. Die medizinische Begründung für die Beschäftigungstherapie war geboren. Die Umgebung, die Aktivitäten und die warmen Bäder waren medizinische Wirkkräfte. Und auch die früheren Methoden der Psychiatrie wurden von den Ärzten verteidigt: Früher, als die Medizin noch barbarisch war, also im 18. Jahrhundert, lebten die Menschen noch näher an der Natur. Sie wurden deshalb krank, weil sie einen Überschuss an Energie hatten. Dieser wurde damals mit den entsprechenden, „heroischen“ Methoden geheilt. Mitte des 19. Jahrhunderts jedoch werden die Menschen krank wegen der Zivilisation. Die Anforderungen der Zivilisation strapazieren ihre Nerven, und sie müssen eher beruhigt werden. „Geisteskrankheit ist der Preis, den wir für die Zivilisation zahlen müssen“, wurde schon damals erkannt. (Whitacker 2002, S.30) Genau diese Vorstellung lag dann später der Neurasthenie zugrunde, heute der (Erschöpfungs-)Depression und dem Burnout. Mitte des 19. Jahrhunderts zeichnete sich der Anfang vom Ende der moralischen Behandlung ab. Ende des Jahrhunderts wurde sie als hoffnungslos naiv bezeichnet. Das System scheiterte nach Whitacker an seinem Erfolg. Die Insassenzahl der Asyle erhöhte sich von 2.561 psychisch Kranken im Jahr 1840 auf 74.000 Patienten 50 Jahre später (ebda. S.34). Die Anzahl der öffentlichen und privaten Anstalten erhöhte sich von 18 im Jahr 1840 auf 139 im Jahr 1880. In diesen Anstalten wurden alle möglichen (Geistes-)Krankheiten behandelt, also auch Syphilis, Altersdemenz und Alkoholismus. Im Schnitt hatten die Asyle im Jahr 1874 432 Patienten, ein Drittel hatte mehr als 500 Patienten und einige mehr als 1000 Patienten. Bei diesen Größenordnungen war die moralische Behandlung nicht mehr gewährleistet. Aktivitäten zur Erholung, Vorführungen der magischen Laterne und Erziehungsprogramme verschwanden. Die Hospitäler wurden wieder zu Verwahranstalten. Es gab auch, ganz so wie heute, ein finanzielles Problem. Die Löhne, die für Aufseher gezahlt wurden, waren sehr niedrig, so dass man nehmen musste, was kam – und das war kein „moralisches“

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Personal. Den letzten Stoß für die totale Medikalisierung des Umgangs mit Irren (und der Psychotherapie) gab nach Whitacker die neu entstehende Zunft der Neurologen. Der plötzliche Boom der Neurologie hatte ihm zufolge etwas mit dem amerikanischen Bürgerkrieg und mit der Behandlung der durch Schussverletzung entstandenen Kriegsverletzungen und dadurch hervorgerufenen Schmerzen zu tun. Nach dem Krieg – und den mit Betäubungsmitteln kurierten Schmerzen – hatten die „Schmerzdoktoren“ zunächst wenig Patienten – bis sie ihren Führungsanspruch auf dem Gebiet der psychischen Krankheiten anmeldeten. Die Neurologen (z.B. die New York Neurological Association) bliesen zum Angriff auf die alten, der moralischen Behandlung verhafteten Leiter der Asyle. Denen warfen sie Unwissenschaftlichkeit vor. Die Neurologen waren Experten in Anatomie und Physiologie; die alten Superintendenten der Asyle seien bessere Gärtner und Bauern gewesen, so argumentierten sie. Moralische Behandlung war in ihren Augen Scharlatanerie. Die Neurologen beeinflussten die damalige AMSAII (die 1844 gegründete Association of Medical Superintendents of American Institutions for the Insane). So setzte sich ein neues, medizinischneurologisch-wissenschaftliches Paradigma durch. Psychische Krankheit wird demnach durch kranke Nerven oder ein krankes Gehirn erzeugt. Psychische Krankheit ist seitdem eine Krankheit des Gehirns. Die alten Superintendenten der Asyle konnten nicht lange Widerstand leisten. Dem Argument, dass die neurologische Behandlung deshalb besser sei, weil sie wissenschaftlich sei, eine wissenschaftliche Grundlage habe, konnten sie nichts entgegensetzen. Die moralische Behandlung hatte keine explizite wissenschaftliche Grundlage, sie basierte auf empirischer Beobachtung und ethischer Haltung. Warum psychische Krankheit durch moralische Behandlung geheilt werden konnte, konnte nicht schlüssig erklärt werden – schließlich wurden auch weitaus nicht alle Patienten geheilt. Mit dem neuen neurologischen Paradigma verband sich nun das Versprechen, alle psychischen Krankheiten heilen zu können, denn man hatte ja die Ursache dieser Krankheiten, eben die kranken Nerven gefunden – oder besser: konstruiert. Das Wirken der Quäker und anderer Erweckungsbewegungen setzte sich aber außerhalb der Asyle in der Gesellschaft fort und führte zur Entstehung der heutigen therapeutischen Erzählung der Selbsthilfe. Für Mikkel Borch-Jacobsen zeigt sich hier der erste Pendelausschlag der modernen Psychiatrie zwischen „Psychikern“ und „Somatikern“. Nachdem die „Somatiker“ das erste Rennen gemacht haben, setzten sich in Form der Psychoanalyse im 20. Jahrhundert zunächst wieder die „Psychiker“ durch. Sie wurden

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dann im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts abgelöst durch die „Somatiker“ der biologischen Psychiatrie.2

D IE E NTSTEHUNG DER THERAPEUTISCHEN E RZÄHLUNG DER S ELBSTHILFE AUS DEM G EIST DER E RWECKUNGSBEWEGUNGEN Die Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts neu entstehende Bewegung des „positiven Denkens“ und ihre Kehrseite, die Volkskrankheit Neurasthenie, kann auf das Wirken und den Einfluss protestantischer Erweckungsbewegungen in den USA im 19. Jahrhundert zurückgeführt werden. Diese Erweckungsbewegungen oder „Neugeist-Bewegungen“ können ihrerseits als Reaktion auf den Kalvinismus mit seiner starren Prädestinationslehre und Gnadenwahl verstanden werden. Diese Lehre ist bereits in ihren Grundzügen deprimierend: Gott hat demnach die Menschen in eine Gruppe der Auserwählten und eine der Nicht-Auserwählten geteilt. Für die Auserwählten hat Gott die Auferstehung vorhergesehen. Die Übrigen bleiben unwissend bezüglich Gottes und des Evangeliums. Laut Calvin sind sie von Gott verdammt auf dem Weg in die ewige Hölle. Diese Entscheidung sei noch vor der Schaffung des Universums getroffen worden und somit erst recht vor der Geburt des einzelnen Menschen sowie vor irgendwelchen Entscheidungen, die der Mensch in seinem Leben trifft. Die Gründe, warum Gott einige erwählt hat, sind unbekannt. Gegen diese grausame Lehre wenden sich die Erweckungsbewegungen, zu denen u.a. die Quäker zählen. Während man im streng ausgelegten Kalvinismus bzw. Puritanismus – der ursprünglichen Religion der ersten US-amerikanischen europäischen Siedler – überhaupt keine Möglichkeit hat, seinen Gnadenstand gegenüber Gott zu verändern, räumen die Erweckungsbewegungen gerade diese Möglichkeit ein. Es leuchtet ein, dass diese Möglichkeit für religiöse Menschen einen erheblichen Zuwachs an Freiheit und Selbstbestimmungsmöglichkeiten bedeutet. Positives Denken und seine Beförderung, die Bekämpfung der Melancholie, ist in den USA traditionell eine Domäne der Religion. Nach Barbara Ehrenreich gründeten sich Mitte des 19. Jahrhunderts zahlreiche Sekten um die sogenannte „Neu-Geist-Bewegung“. Phineas Parkhurst Quimby und Mary Baker Eddy werden von Barbara Ehrenreich als die Begründer des „positiven Denkens“ in den USA vorgestellt. Die damalige Modekrankheit Neurasthenie, so Ehrenreichs Version, sei vor allem ausgelöst durch die puritanische Arbeitsethik und die Ge-

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Mikkel Borch-Jacobsen 2009, S. 188. Das Modell ist stark vereinfachend.

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fühlsfeindlichkeit des Kalvinismus. Die Menschen, die nicht arbeiten durften, Frauen und Geistliche, seien deshalb am meisten von dieser Krankheit betroffen gewesen, eben weil sie von ihrer Religion keine Wertschätzung erfuhren, weil sie nicht (produktiv) arbeiteten: „Da die übliche Medizin das Leiden nicht kurieren konnte und viele Behandlungen sogar fatale Auswirkungen hatten, fanden Heiler aller Art ein breites Betätigungsfeld. Hier kommt Phineas Parkhurst Quimby ins Spiel, der, wie gesagt, gemeinhin als Begründer des ‚neuen Denkens‘ und somit Urvater des heutigen positiven Denkens gilt.“ (Ehrenreich 2010, S.100).

Nach Quimbys (1802–1866) Tod setzte seine ehemalige Patientin Mary Baker Eddy sein Werk fort. Quimby war ein US-amerikanischer Heilpraktiker, der im Zuge der Erweckungsbewegung in den Südstaaten der USA die NeugeistBewegung vertrat. Er bezog sich auf den Geist Gottes als heilenden Allgeist, den er als alles beseelendes Prinzip von Harmonie und Güte auffasste. Übel und Krankheit im Leben des Menschen seien Folgen negativen Denkens.3 Nur richtiges, Gott bejahendes, Denken könne Körper und Seele heilen. Damit nahm Quimby zentrale Glaubenssätze der heutigen Esoterik und des „positiven Denkens“ vorweg. Mary Baker Eddy (1821–1910) ist um einiges bekannter geworden als Quimby, sie ist Stifterin der „Kirche Christi, Wissenschaftler“. In den 1860ern zeigte sie starkes Interesse an den Methoden des Heilers Quimby, bei dem sie in Behandlung war. Baker Eddy verknüpfte mit Quimbys Lehre die Hoffnung, einen Zugang zum „biblischen Heilen“ gefunden zu haben. Quimbys Autosuggestions-Künste brachten ihr zunächst Linderung und sie forschte nach den Ursachen dafür. Allerdings fand sie schnell heraus, dass sich ihre christliche Grundüberzeugung deutlich von der suggestiven Heilungspraxis Quimbys unterscheidet. Sie lehnte besonders Quimbys Praxis des magnetischen Reibens des Kopfes des Patienten als Praxis eines tierischen Magnetismus, und damit unchristlich, ab. Baker Eddy entdeckte 1866 nach eigenen Worten die göttlichen Gesetze von Leben, Wahrheit und Liebe und nannte ihre Entdeckung „Christian Science“. Sie entwickelte in den folgenden Jahren ihre Theologie, veröffentlichte 1875 ihr Hauptwerk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift und gründete die weltweit operierende Christian-Science-Church. Ent-

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Zeitgenössische Vertreter dieser Art von Lehre kann man mittlerweile auch in Deutschland bei „Bibel-TV“ erleben, nicht-christliche Vertreter der Lehren der „positiven Energie“ bei „Astro-TV“.

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sprechend ihrer Lehre soll eine vergeistigte Auffassung von Gott als dem absolut Guten Heilung in die menschliche Erfahrung bringen. Das Emmanuel-Movement 1906 wurde in der Folge der Neugeist-Bewegung die für eine Geschichte der Verbreitung der „therapeutischen Erzählung“ und der Selbsthilfegruppen bedeutsame Emmanuel-Bewegung in der Emmanuel-Kirche in Boston4 von Elwood Worcester gegründet. Worcester studierte Psychologie, u.a. in Leipzig bei Wilhelm Wundt und Theodor Fechner. In seiner Autobiografie schreibt Worcester, dass die liberale Tradition an der deutschen Hochschule, „which tends to weaken and remove the false opposition which has grown up between the things of the mind and the things of the spirit,“5 Auslöser war, das Emmanuel-Movement zu begründen. 1891 wurde Worcester Kaplan und Professor für Psychologie und Philosophie in Bethlehem, Pennsylvania. Worcester entschied sich schließlich für das geistliche Amt in einer Gemeinde in Philadelphia. Dort lernte er den Psychiater S. Weir Mitchell kennen, mit dem er sich anfreundete und von dem er viel über „Tiefenpsychologie“ lernte. Nach acht Jahren ging Worcester an die Emmanuel-Kirche in Boston. Boston war damals Zentrum einer lokalen „medizinischen Psychotherapie.“ Diese geht zurück auf die von dem Philosophen und Psychologen William James und anderen entwickelten Techniken zur Linderung von psychischen Problemen. 1894 bis 1895 war er Präsident der Society for Psychical Research, ebenso war er Mitglied der Theosophischen Gesellschaft Adyar (der Helena Blavatsky, der Begründerin der esoterischen Weltanschauung). Elwood Worcester kümmerte sich erst um Tuberkulosekranke. Ermutigt von den Ergebnissen, die er im Wesentlichen durch die Propagierung gesunder Lebensweise (Ernährung, Frischluft) erzielte, wandte er sich über lokale Neurologen an „nervous and morally diseased“, also neurasthenische Patienten. Allerdings nicht ohne den Neurologen zu versichern, dass er keineswegs vorhabe, eine neue Lehre zu begründen. Man traf sich von nun an wöchentlich in der Kirche: Patienten, Ärzte und Mitglieder des Klerus. Die Treffen wurden „Weekly Health Conferences“ genannt. Hierbei handelte es sich vielleicht um die erste moderne Selbsthilfegruppe der Welt. Und es zeigt sich: Schon historisch ist die Selbsthilfebewegung eng mit der esoterischen Bewegung verwandt. Die Treffen dienten der Erbauung. Jedes Treffen begann mit Gesang und Predigt, gefolgt von einem medizinischen Vortrag. In diesen Vorträgen ging es um die Kraft der

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In Boston steht auch die „Mutterkirche“ der Christian Science Church.

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Elwood Worcester: Life’s Adventure. New York 1932.

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Suggestion und Autosuggestion, also um positives Denken. Im formalen Programm folgte darauf eine Stunde für die Betroffenen, die sich reihum äußern duften – mit einer Einschränkung: Es war verboten, über Krankheit zu sprechen. Das erste Buch über die Bewegung erschien im Jahr 1908: „Religion and Medicine, The Moral Control of Nervous Disorder“, von Elwood Worcester und Samuel McCombs. Das Buch erlebte neun Auflagen allein im ersten Jahr seines Erscheinens. Das Emmanuel Movement hatte fünf Gliederungen: die Kirche (Klerus), die Medizin (Ärzte), die Laientherapeuten, die Freiwilligen und natürlich die Patienten. Die Kirche war Träger einer Klinik, in der auch, und das war neu, Laientherapeuten wirkten. Dies waren ehemalige Betroffene. Freiwillige, also Patienten, die aber keine Laientherapeuten waren, besuchten Kranke zu Hause. Worcester behauptete übrigens immer, dass er mit seinem Modell funktionelle oder psychogene Störungen behandele, keine organischen Krankheiten. Von Kritikern wurde die Bewegung als Teil der von Mary Baker Eddy gegründeten „Kirche Christi, Wissenschaftler“ bezeichnet, wovon man sich jedoch scharf abgrenzte. Im Jahr 1909, dem Höhepunkt der Berichterstattung über die Bewegung, besuchte Siegmund Freud das erste und einzige Mal die USA und dabei auch Boston. In einem Interview mit dem Boston Evening Transcript vom 11. September 1909 sagte Freud, dass er wenig über die Emmanuel-Bewegung wisse, aber dass „this untertaking of a few men without medical, or with very superficial medical training seems to me at the very least of questionable good.“6 Es erscheint ihm also zumindest fraglich, was dort getan wird, weil die Helfer keine medizinische Ausbildung haben. Freud lehnte den dort verwirklichten Selbsthilfegedanken also ab. Das ist interessant, weil Freud später verneinte, dass Psychoanalytiker unbedingt eine medizinische Ausbildung haben müssen. Genau diese Auffassung, dass Analytiker Ärzte sein müssen, setzte sich aber gegen Freuds Willen in den USA durch. Auch die Anonymen Alkoholiker wurden im Umfeld der Emmanuel-Bewegung gegründet. Ernest Jacoby, ein Geschäftsmann und Emmanuel-Gemeindemitglied, war der eigentliche Gründer der Anonymen Alkoholiker (und nicht die legendären „Bill und Dr. Bob“). Er organisierte ab 1909 wöchentliche Treffen für Männer mit Alkoholproblemen. Später wurde die Gruppe beworben als „A Club for Men to Help Themselves by Helping Others.“ Es ging nicht darum, eine neue Temperenzler-Bewegung aufzubauen, es ging darum, „to see that careful scientific treatment by qualified physicians and clergymen is adminis-

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Nathan G. Hale: Freud and the Americans: The Beginnings of Psychoanalysis in the United States, 1876-1917. S. 226. New York 1995.

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tered to those who need it.“ In erster Linie war es aber eine Gruppe Betroffener, die sich gegenseitig halfen, also eine Selbsthilfegruppe. Der „Jacoby Club“ blieb aktiv durch die 20er und 30er Jahre und stellte den ersten Treffen der Anonymen Alkoholikern Räume zur Verfügung. Schließlich fusionierte der Jacoby Club mit den Anonymen Alkoholikern.7 Der Historiker Charles Rosenberg meint, dass in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „therapeutische Revolution“ stattfand, als deren Ergebnis das Emmanuel-Movement gesehen werden kann. Vor dieser Revolution sei alle Medizin mehr oder weniger psychosomatische Medizin gewesen.8 Durch die Einführung spezifisch wirkender Mittel und deren Erklärung (z.B. die Seitenkettentheorie), habe sich die Psychotherapie von der somatischen Medizin getrennt. Aber erst im Emmanuel-Movement sei ein direkter Vorläufer der heutigen „therapeutischen Erzählung“ zu erkennen. Mary Baker Eddy und Phineas Parkhurst Quimby stünden noch in der Tradition der klassischen abendländischen Medizin, die auch körperliche Krankheiten – in hippokratischer Tradition – genauso wie psychische Krankheiten durch ein Ungleichgewicht der Körpersäfte erklärte. Erst nach Freud und – unabhängig davon – nach US-amerikanischen psychotherapeutischen (religioiden) Bewegungen wie dem Emmanuel-Movement war der Weg frei, jedes Lebensproblem zu einem Fall für einen psychotherapeutischen (besser: psychotechnischen) Spezialisten zu machen. Von Anfang an ist diese Bewegung sehr eng mit bestimmten protestantischen und esoterischen Bewegungen verbunden gewesen. Beiden ist ein Heilsversprechen im Hier und Jetzt eigen. Das begründet nach Mikkel Borch-Jacobsen die strukturelle Ähnlichkeit, die zwischen den Methoden und dem Auftreten vieler psychotherapeutischer und esoterischer Schulen und religionsähnlichen Sekten herrscht. Für BorchJacobsen stellt das Emmanuel-Movement wegen seiner engen Verzahnung mit „Glauben“ und wegen seiner Bezugnahme auf ausschließlich (psychische) Lebensprobleme den „Beginn der modernen Psychotherapie in den USA“ (ebda., S. 208) dar. Bereits 1907 begannen Samuel McCombs und seine Kollegen regelmäßige Kolumnen in der Frauenzeitschrift „Good Housekeeping“ zu verfassen, die sich mit der „Psychopathologie des Alltagslebens“ (Borch-Jacobsen) befass, ten. Beispiele sind „house-keeper s anxiety“, „fear of failure“, „business after the business hours“, „the education of children“, „sleepnessless“ und „artistic temperament“. (Ebda. S. 208) Sowohl David Riesman (in den 50er Jahren in den USA) als auch Alain Ehrenberg (in den 1990ern in Frankreich) beziehen in ihren

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Vgl. Richard M. Dubiel: The Road to Fellowship: The Role of the Emmanuel Movement in the Development of Alcoholics Anonymous. S.l.: Iuniverse Inc, 2004.

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Vgl. Mikkel Borch-Jacobsen 2009, S. 206.

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epochalen Untersuchungen der Angst bzw. der Depression Inhaltsanalysen der therapeutischen Erzählungen aus Frauenzeitschriften ein. Es entsteht also kurz nach der Jahrhundertwende in den USA eine therapeutische Erzählung, deren neues und wichtiges Merkmal die „self direction“ ist, im Gegensatz zum „medical absolutism“ (ebda.). Resultat dieser Entwicklung, so Borch-Jacobsen, ist, „that we unduly pathologize existential problems for which there exists no cure one can properly speak of, and that we continue to offer, conversely, profoundly inadequate treatments for genuine mental pathologies such as autism and melancholic depression.” (Ebda. S. 210)

E XKURS : V ON DEN „N EUROTICS ANONYMOUS “ ZU DEN „E MOTIONS ANONYMOUS “ Die Geschichte des Emmanuel-Movement lässt sich über die Anonymen Alkoholiker nahtlos weiter verfolgen zu den ersten Selbsthilfegruppen für „Neurotiker“, Neurotics Anonymous, abgekürzt NAIL. Diese Abkürzung deshalb, um sie von den Narcotics Anonymous, einer Selbsthilfegruppe für Drogensüchtige, zu unterscheiden. Die Neurotics Anonymous gehen auf den Mitbegründer der Anonymen Alkoholiker, William Griffith Wilson (1895–1971), bekannt als Bill W., zurück. Dieser schrieb an einen Leidensgenossen na_mens „Ollie“ in Kalifornien (i. e. Jesuitenpater Ed Dowling) am 4. Januar 1956: „The idea would be to extend the moral inventory of AA to a deeper level, making it an inventory of psychic damages, reliving in conversation episodes, etc. I suppose someday a Neurotics Anonymous will be formed and will actually do all this.“9 Der 4. Schritt innerhalb des 12–Schritte–Programms10 der Anonymen Alkoholiker ist die „Inventur“ (moral inventory) oder „Bestandsaufnahme“. Dabei geht es darum, sich selbst wirklich kennen zu lernen, also eine auto-psychoanalytische Bestandsaufnahme durchzuführen. In einem späteren Brief an Ollie im Juni meinte Bill W., dass eine Bestandsaufnahme bei allen psychischen Krankheiten als gemeinsamen Nenner Minderwertigkeitsgefühle, Schuld, Scham und Angst beinhalte. Und er meinte, dass die Entdeckung dieser Gemeinsamkeit wohl vielen Betroffenen helfen könnte. (Fitzgerald, ebda. S. 42) Acht Jahre später, am 3. Februar 1964, werden in Washington DC von Grover Boydson die

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Robert Fitzgerald: The Soul of Sponsorship: The Friendship of Fr. Ed Dowling, S.J. and Bill Wilson in Letters. Minnesota 1995, S. 40.

10 Das spirituelle Abstinenz-Unterstützungsprogramm der AA. Vgl.: www.anonymealkoholiker.de.

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Neurotics Anonymous gegründet. Boydson war AA - Mitglied, neurotisch und Psychologe. Er glaubte, dass die Mitglieder aller 12 - Schritte - Gruppen eine gemeinsame Neurose haben „self - centeredness,“11 also Egozentrismus: „All of us are, indeed, brothers, and the variations in detail are no more than if one of us likes chocolate ice cream, and the other likes vanilla.“ Grover bat die AA um Erlaubnis, das Konzept der AA für Neurotiker benutzen zu dürfen und das Wort Alkohol in den 12 Schritten durch den Begriff „our emotion“ zu ersetzen. Die Erlaubnis wurde ihm gegeben. Grover schaltete nun eine Anzeige in einer Lokalzeitung und organisierte das erste Meeting. Es gab eine Resonanz der Medien, das „Parade - Magazine“ berichtete über die Gruppe, es folgte eine Pressemeldung der „United Press International“, daraufhin gründeten sich international NAIL -Gruppen. So die Darstellung Boydsons. Als Gründerin von EA, Emotions Anonymous, der heute noch international existierenden Selbsthilfegruppenvereinigung für psychische Störung auf Basis des 12 - Schritte - Programms der Anonymen Alkoholiker, gilt Marion Flesch12 (1911–2004). Sie war eine approbierte Suchtberaterin, die unter Angststörungen und Panikattacken litt. Sie gründete im Jahr 1966 einen Ableger von NAIL in Minnesota. Aber es kam zu Meinungsverschiedenheiten mit der NAIL-Zentrale und so spaltete sie ihre Gruppe unter dem Namen Emotions Anoymous ab. Auch sie bekam die offizielle Erlaubnis der Anonymen Alkoholiker, auf Basis der 12 Schritte zu arbeiten. Der Zeitgeist war auf Seiten der Abspaltung aus Minnesota. Im Jahr 1974 kam die Psychoanalyse langsam aber sicher aus der Mode. In den USA arbeitete man an den Vorbereitungen für das DSM-III, das eine vollständige Abkehr von psychoanalytischen Begriffen dokumentierte. Der Begriff der Neurose war nicht mehr up to date. Die Bedeutung des Begriffs der Neurose veränderte sich in der englischen Sprache in den USA. Er wurde nun mehr und mehr in abwertender und nicht mehr in medizinisch/diagnostischer Weise gebraucht. Allerdings gibt es NAIL-Gruppen in Südamerika bis heute und seit 2007 auch wieder in den USA: als Selbsthilfegruppen spanischsprachiger Menschen.13 1972 entstanden in Deutschland die ersten anonymen Neurotiker-Gruppen, die sich 1974 unter dem Namen Emotions Anonymous (EA) – Selbsthilfegruppen

11 Grover Boydston: A history and status report of Neurotics Anonymous, an organization offering self-help for the mentally and emotionally disturbed. (Ed.M thesis). Miami, 1974. 12 Karen Mead, A History of Emotions Anonymous. Emotions Anonymous International, 1999. 13 Vgl. engl. Wikipedia, Stichwort „emotions anonymous”, 01.06.2010.

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für seelische Gesundheit überregional organisierten. 1978 waren es schon über 50 lokale Gruppen.14 Auch in Deutschland kann man also auf die evangelikale Kontinuität von Selbsthilfegruppen hinweisen. Evangelikale sind der Überzeugung, dass zum Christentum eine klare persönliche Willensentscheidung (Bekehrung) und eine persönliche Beziehung zu Jesus Christus gehören. Genau das ist auch Forderung der 12-Schritte-Gruppen. Jesus Christus ist ersetzt durch eine höhere Macht, und die Bekehrung bzw. Willensentscheidung besteht im Bekenntnis zur Sucht bzw. psychischen Erkrankung. Diese Gruppen haben ihre Wurzel in der EmmanelBewegung aus Boston der vorletzten Jahrhundertwende. Sie sind also nicht das Ergebnis eines sozialen Wandels in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihre gesellschaftliche Thematisierungsfunktion für psychische Krankheiten ist deutlich älter. Heute beliebt sind die sog. „CoDa-Gruppen“, eine Abkürzung für „Codependents Anonymous“. Koabhängigkeit ist hier aber nicht im Kontext von Drogenabhängigkeit zu verstehen. Es geht in den Gruppen vielmehr darum, „gesunde Beziehungen“ zu sich selbst und anderen aufzubauen. Die gemeinsame Schwierigkeit der Teilnehmer besteht darin, „zu erkennen, was sie fühlen“.15 Der Einfluss der christlichen Erweckungsbewegungen ist, verstärkt durch die frühe populäre Kultur und den Aufschwung der Entwicklung der Massenmedien im US-amerikanischen Kapitalismus, so stark gewesen, dass er auch heute noch die „Kultur der Selbsthilfe“ bzw. die „therapeutische Erzählung“ befördert.

ADOLF M EYER UND DIE D EMOKRATISIERUNG DER D EPRESSION Der führende amerikanische Psychiater der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war Adolf Meyer (1866–1950), ein Emigrant aus der Schweiz, der Kraepelin gut kannte und zeitweise auch mit ihm zusammen gearbeitet hat, und zwar 1896 in Heidelberg für drei Monate. So gesehen beeinflusste Kraepelin implizit schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts die amerikanische Psychiatrie. Gary Greenberg schreibt, Meyer habe Kraepelins Depressionsbegriff demokratisiert und dazu beigetragen, dass Depression zu einer echten Volkskrankheit wurde. Echte

14 Lukas Michael Moeller: Selbsthilfegruppen. Reinbek 1978. Zit nach: Brigitte Runge, Fritz Vilmar: Handbuch Selbsthilfe Frankfurt/M. 1988, S. 147 f. 15 www.coda-deutschland.de Im August 2011 gibt es in Berlin acht EA-Gruppen und sechs Coda-Gruppen.

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Volkskrankheit bedeutet populäre, allgemeinverständliche und allgegenwärtige Krankheit, die z.B. mittels Selbsthilfe und positivem Denken etc. gut zu behandeln ist. Dem schweizer Emigranten Meyer behagte die vorgefundene amerikanische Sitte nicht, dass die Beschreibung psychischer Krankheit eher generellen subjektiven Eindrücken folgte und nicht fest definierten und präzisen Kriterien einer Kraepelinschen Nosologie. Meyer lehrte seine Kollegen die „Kunst, die Geschichte des Patienten zu erfahren, direkte Beobachtungen von Symptomen zu machen und akkurate Diagnosen zu stellen.“ (Greenberg 2010, S. 85) Was ihn allerdings fundamental von Kraepelin unterschied, war der amerikanische Optimismus und Pragmatismus, den er übernahm. Der therapeutische Nihilismus Kraepelins passte nicht zu dem uramerikanischen Versprechen des pursuit of happiness. Mit diesem war die von Kraepelin angenommene Unveränderlichkeit der psychischen Krankheit nicht vereinbar. Es kann nicht sein, dass es eine Klasse von Menschen gibt, die „Irren“, denen nicht geholfen werden kann und die sich nicht selbst helfen kann. Meyer fügte den Selbsthilfegedanken den Kraepelinischen Vorstellungen hinzu: Menschen können mit Hilfe von außen an sich arbeiten und so ihre psychische Gesundheit verbessern. Die englische Wikipedia führt ihn überdies als Begründer des biopsychosozialen Modells von psychischer Gesundheit, das auch heute noch gültig ist. Meyer wurde beeinflusst durch die „Chicagoer Schule“ des Pragmatismus um John Dewey, Charles Peirce und William James. Inspiriert durch diese drei, so Greenberg, erklärte Meyer, dass der Job eines Psychiaters darin bestehe, Menschen in ihrem natürlichen „Setting“ zu verstehen und es ihnen zu ermöglichen, sich an dieses anzupassen. Heute heißt das nicht mehr Psychiatrie, sondern „soziallagenbezogene Gesundheitsförderung“ und bezieht alle Menschen mit ein. Tatsächlich ist die u. a. auf Meyer zurückgehende „Mental Health“ zu einer alles beherrschenden Ideologie geworden, die (marxistisch gesprochen) die gesellschaftlichen Widersprüche verdeckt. Ihre Wurzeln hat diese Ideologie in der US-amerikanischen Psychiatrie der vorletzten Jahrhundertwende. Während Kraepelin der Meinung war, dass Geisteskrankheit aus der Gesellschaft auszuschließen und durch Sterilisation auszurotten sei, war Meyer der Meinung, dass auch psychisch belastete Menschen sich selbst neu erfinden können, und dass Psychiater ihnen dabei helfen können. Diese Vorstellung ist natürlich um einiges humaner. Auch beobachtete bereits Meyer einen Glauben der Amerikaner an Medikamente. Im Jahr 1895 schrieb er an den Gouverneur von Illinois, er habe festgestellt, dass die Menschen in den USA an „Drugs“, also Medikamente, glauben, und dass sie der Meinung seien, dass die Verschreibung

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solcher das Ziel und das Ende medizinischer Behandlung sei.16 Im selben Jahr besuchte Meyer das „Battle Creek Sanatorium“ des Dr. Kellog. Das im Jahr 1866 von Siebten-Tags-Adventisten, einer protestantischen Erweckungsbewegung, gegründete Battle Creek war eines der größten Sanatorien der Welt. Es handelte sich von Anfang an um eine Einrichtung mit Behandlung auf der Basis von Naturheilkunde bei gleichzeitiger strikter Umsetzung strenger Diätvorschriften: Fleisch, Alkohol, Tabak und Kaffee waren verboten, die Heilkraft von Frischluft wurde betont und strikte vegetarische Ernährung standen auf dem Programm. John Harvey Kellog (1852–1943) hatte als frisch promovierter Arzt die Leitung des Sanatoriums im Jahr 1876 übernommen. Die von ihm und seinem Bruder entwickelten Cornflakes (ursprünglicher Name: Granose) waren das zufällige Produkt der Suche nach einer Alternative zu Brot. Die Cornflakes gesellen sich zu den überaus erfolgreichen US-amerikanischen Produkten bzw. Marken wie Coca-Cola, 7up, Dr. Pepper und Pepsi, die alle ihre Wurzeln im Gesundheitsmarkt haben. Dass die Gesellschaftsform des Kapitalismus also sehr „gesundheitsfreundlich“ ist, ist nicht überraschend. Ärzte – keine Psychiater sondern häufig Neurologen – behandelten in Battle Creek nervöse Leiden. Der Autor TC Boyle hat diesem Sanatorium mit seinem Roman „Willkommen in Wellville“ (The Road to Wellville) ein humorvolles Denkmal gesetzt. Meyer sah dort Ärzte allerhand Kuren für ihre Patienten anbieten: Von der Bettruhe über Einläufe, Stärkungsmitteln (Tonics), Beckenmassagen, Elektrotherapie bis zur Verschreibung großer Mengen Cornflakes. Battle Creek war das Zentrum des damaligen Gesundheitswahns der Oberschicht, ein Aufenthalt dort war ein Statussymbol. Meyer sah also, dass die Neurologen die lukrativen, hoch angesehenen Geschäfte machten, während die Psychiater die „Irrenärzte“ waren. Die amerikanischen Neurologen von Battle Creek waren noch erfolgreicher als ihre europäischen Kollegen. Ihnen gelang es, eine regelrechte Industrie um das Krankheitsbild der „Neurasthenie“ aufzubauen. Das Buch, die Bibel der Bewegung, „American Nervousness“ von George Beard, dem Erfinder des Begriffs Neurasthenie, bezeichnet Greenberg als das „Listening to Prozac“ (s.u.) seiner Zeit. Patienten in Battle Creek waren u.a. William James, Theodore Roosevelt, Frederic Remington, Emma Goldman. W.E.B. DuBois usw.. Neurasthenie wurde als physische Krankheit gesehen, mit Psychologie hatte sie wenig zu tun. In seinen „Principles of Psychology“ erwähnt der von ihr betroffene William James die Neurasthenie aus genau diesem Grund kein einziges Mal. Die Psychiatrie war in der Folge in den USA zugunsten der Neuro-

16 Adolf Meyer: The Commonsense Psychiatry of Dr. Adolf Meyer, edited by Alfred Lief. New York 1948, S. 57. Zit. nach Greenberg, S. 90.

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logie zunehmend kaltgestellt. Zu Beginn des ersten Weltkriegs war sie nur noch eine medizinische Randdisziplin, zuständig für Anstaltsmedizin. Es war u.a. Adolf Meyer, der die Psychiatrie rettete, indem er, so Greenberg, die Depression der Neurasthenie ähnlich machte. Meyer begründete die „Common Sense Psychiatrie“ als Alternative zur Kraepelinschen strikt naturwissenschaftlichen Psychiatrie. Meyers Psychiatrie war soziologischer. Es ging darum, herauszufinden, ob die Menschen gut an ihre Umgebung angepasst sind und wenn nicht, wie man ihnen dazu verhelfen kann – nämlich mittels Psychotherapie. Das war ein großer Unterschied zum therapeutischen Nihilismus Kraepelins, der sich im Wegsperren und Ausrotten erschöpfte. Psychische Krankheit musste nicht mehr mit „Irresein“ identifiziert werden. Meyer „entstigmatisierte“ psychische Krankheit und ermutigte die Menschen dazu, sich zu ihrer psychischen Krankheit zu bekennen, schärfer formuliert, sich eine solche zuzulegen. Die Entstigmatisierung der psychischen Krankheit ist also über hundert Jahre alt, trotzdem steht sie heute immer noch als neue Idee auf der Agenda. Meyer meinte: Kraepelin’s manic-depressive insanity and dementia praecox ” […] do exhaust the material that presents itself to us […] There, are, for instance, many depressions which are common to our attention without belonging to the above group.“ (Meyer, Common Sense Psychiatry, S. 163) Das ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis der Volkskrankheit Depression in den USA. Das „pessimistische Temperament“ wird zu einer behandlungsbedürftigen Krankheit. Behandelt wird sie mittels Empathie, Interesse am Patienten und Interpretation des Gehörten; alles Mittel, vor denen Kraepelin gewarnt hatte. Meyer führte das in die US-amerikanische Psychiatrie ein, was in Europa zwei Neurologen, Freud und Charcot, mit großem Erfolg anboten: Psychotherapie. Obwohl Meyer Großes für die amerikanische Psychiatrie geleistet hat, und der einflussreichste Psychiater in den ersten 50 Jahren des 20. Jahrhunderts in den USA war, ist sein Name heute vergessen. Das liegt neben der Tatsache, dass er keine Bücher schrieb, an der merkwürdigen Taxonomie (Ergasiologie, wie er sie nannte) der psychischen Krankheiten, die er aufstellte mit Kategorisierungen wie Thymergasia und Kakergasia. Edward Shorter bezeichnet Meyer als „second rate thinker and verbose writer“. (Shorter nach Greenberg 2010, S. 99) Dadurch, dass die US-Psychiatrie sich normalen Lebensproblemen ohne Krankheitswert zuwandte, verwandelte sie sich in die Mental-Health-Industrie, wie wir sie heute kennen, mit ihren vielen Verästelungen in die Sozialarbeit und Psychologie. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Tatsächlich führen z.B. Shorter und auch die Soziologen Jerome Wakefield und Alan Horwitz (s.u.) die Psychiatrisierung der Depression seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts darauf zurück, dass die Psychiater das von Sozialarbeitern, Psychologen und

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Psychotherapeuten eroberte Terrain der Bewältigung alltäglicher seelischer Probleme ohne Krankheitswert beanspruchen. Psychohygiene Adolf Meyer trug auch dadurch zu einer Demokratisierung und Popularisierung von psychischen Störungen bei, weil er zusammen mit dem ersten PsychiatrieBetroffenen-Aktivsten Clifford Beers (1876–1943) den Begriff der „Mental Hygiene“ (Psychohygiene) prägte. Der Beginn der modernen Psychohygiene in den USA wird in der Literatur mit Erscheinen des Buches von Clifford W. Beers (USA) „A mind that found itself“17 (1908, dt. 1941) festgemacht. Das Buch war ein Bestseller mit neun Auflagen bis 1921. Es beruhte auf seinen eigenen Erfahrungen als Patient. Beers litt an einer – so würde man heute sagen – bipolaren Störung. Beers gründete 1909 gemeinsam mit Adolf Meyer das National Committee for Mental Hygiene, um eine Reform der Behandlung von als geisteskrank geltenden Personen einzuleiten. Die von C. W. Beers und Adolf Meyer 1908 postulierten Hauptaufgaben der Psychohygiene sind demnach: • • • •

Sorge für die Erhaltung der geistigen Gesundheit, Verhütung von Geistes- und Nervenkrankheiten und Defektzuständen, Vervollkommnung der Behandlung und Pflege der psychisch Kranken, Aufklärung über die Bedeutung der psychischen Anomalien für die Probleme der Erziehung, des Wirtschaftslebens, der Kriminalität und überhaupt der menschlichen Verhaltensweisen.

Diese Aufgaben sollten erfüllt werden durch Förderung der sozialen Fürsorge und Zusammenwirken mit öffentlichen und privaten Wohlfahrtseinrichtungen. In dieser Kooperation von Meyer mit Beers ist eine der Wurzeln für die institutionelle Förderung von Betroffenen- und Selbsthilfebewegungen zu sehen. Die Entdeckung der Psychohygiene zielt auf Compliance, auf das Miteinander von Psychiater/Therapeut und Patient. Der Antipsychiater Thomas Szasz nannte das „konterrevolutionär.“18 Tomas Szasz beschreibt die Haupteigenschaft dieser von

17 Volltext von Clifford W. Beers: A Mind that Found Itself: http://www.gutenberg.org/ files/11962/11962-h/11962-h.htm. 18 Jan Pols, The Politics of Mental Illness. Myth and Power in the Work of Thomas S. Szasz, Internetausgabe http://www.janpols.net/Chapter-2/3.3.html ISBN 90-805136-44, 2005, S. 66.

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Clifford Beers im Jahr 1909 gegründeten Vereinigung als „Missachtung gegenüber dem Individuum, in diesem Fall dem psychiatrischen Patienten“. Der Begründer habe zwar Psychiatrieerfahrung, aber das sage noch lange nichts über seine Einstellung und seine Ziele aus. Es sei bis heute eine weit verbreitete Strategie im Gesundheitswesen, einzelne Betroffene zu benutzen, um Ziele durchzusetzen, die denen der Masse der Betroffenen diametral gegenüberstehen. Ziel des „Mental-Hygiene-Movements“ sei es gewesen, den Patienten zu helfen, die Patienten wurden aber nicht respektiert, so Szasz. Szazs bezeichnet die Bewegung als Teil einer „Konterrevolution der Wissenschaft“. Die Individuen wurden zu Objekten für die Medizin gemacht, sie wurden nicht ernst genommen. Es ging um Vorhersage und Kontrolle menschlichen Verhaltens. Verachtung für den Menschen als autonomes Wesen ist laut Szasz zentral für diesen Ansatz. Außerdem verkörpere die Bewegung den Anspruch einer kleinen, wissenschaftlichen Elite, die Mehrheit zu dominieren. Clifford Beers stehe in Opposition zu der Idee, dass abweichendes Verhalten bedeutungshaltig und verstehbar sei. Er vertrete die moderne Idee, dass psychische Krankheit genau so sinnlos sei wie eine körperliche Krankheit. Es handele sich hier also nicht um einen echten Betroffenansatz, sondern um einen simulierten Betroffenenansatz. Wie kam es auch in Deutschland zur Adaption der auf Selbsthilfe basierenden therapeutischen Erzählung? In Deutschland war der Einfluss protestantischer Erweckungsbewegungen marginal. Die deutsche Mentalität in Bezug auf die Behandlung psychischer Krankheiten zeigte sich in der Verleugnung von Schwäche und in der Demonstration von Stärke. Ihr Ziel war nicht die Selbsthilfe sondern das Ausmerzen. „Kriegszitterer“ wurden nicht als traumatisierte Opfer wahrgenommen sondern als charakterschwache Simulanten verfolgt. Diese faschistoide Ideologie der Stärke oder der autoritären Charaktere hielt sich bei weiten Teilen der Bevölkerung bis lang in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein. Erst in den 70er und 80er Jahren setzte sich auch in Deutschland die Erkenntnis durch, dass belastende Erlebnisse im Krieg und in anderen Extremsituationen – wie KZ-Haft – tatsächlich traumatisierend sind. Erst nach diesem Mentalitätswandel konnte sich auch in Deutschland die Vorstellung einer Volkskrankheit Depression durchsetzen. Vor dem Hintergrund einer faschistoiden Kultur der autoritären Charaktere ist so etwas undenkbar. Wie in den nächsten Kapiteln gezeigt wird, lag der Mentalitätswandel auf dem Gebiet der Psychotherapie nicht einfach nur daran, dass Deutschland beide Weltkriege verloren hatte, sondern auch am Erfolg der Psychotherapie, den die gegen Deutschland verbündeten angelsächsischen Länder auf dem Gebiet der Militärpsychiatrie erreichten. Es gab aber auch in Deutschland in der Zeit der Weimarer Republik, wie zu zeigen ist, viele Entwicklungen, die nach der

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Machtübernahme der Nazis und Emigration ihrer Protagonisten in den USA weiterverfolgt wurden und die Eingang in die therapeutischen Erzählungen der Nachkriegszeit gefunden haben. Zunächst geht es um die Folgen, die der Erste Weltkrieg für die Entwicklung der Psychotherapie hatte. Eng damit ist der Name der Tavistock-Klinik bei London verbunden.

Militärische und politische Wurzeln der Volkskrankheit Depression

T AVISTOCK : D IE E NTWICKLUNG DER S ELBSTHILFE AUS DEM G EIST DER M ILITÄRPSYCHIATRIE IN G ROSSBRITANNIEN Einer der Gründe für den Erfolg der Psychoanalyse (vom Ersten Weltkrieg bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts) ist in der Therapie traumatisierter Soldaten zwischen den beiden Weltkriegen in Großbritannien zu sehen. Auf ihrem 5. Internationalen Kongress in Budapest im September 1918 hatte die Psychoanalyse mit dem Thema „Psychoanalyse der Kriegsneurosen“ allgemeine gesellschaftliche Beachtung gefunden, weil sie eine wirksamere und einfachere Behandlungsmethode gegen die „Kriegszitterer“ gefunden hatte als die AnstaltsPsychiater wie Kraepelin. Karl Heinz Roth vermittelt einen Eindruck dieser „klassischen“ Methoden, die generell auf „Aversionstechniken“ aufbauten: „Im Kampf gegen die ‚Kriegsneurotiker‘ begann die Ära der modernen psychiatrischen Folter. Aphonikern wurden Spreizsonden in den Kehlkopf eingeführt, damit sie wieder sprechen lernten – im Schrei der Todesangst. Soldaten, die zwanghaft erbrachen, wurden gezwungen, das Erbrochene wieder zu verzehren. Die Isolationshaft wurde entdeckt. Sinus- und später faradische Ströme wurden durch die Körper gejagt, was zum Vernichtungsschmerz im Bereich der Nervenbahnen führte (‚Sinustherapie‘ von Kaufmann).“1

1

Karl Heinz Roth: Die Modernisierung der Folter in den beiden Weltkriegen. In: Zeitschrift für Sozialgeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, Jg. 2, 1987, S. 15.

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Der Historiker Hans Ludwig Siemen resümiert: „Die Kriegsneurotikertherapie beeinflußte die gesamte Psychiatrie.“2 Die in Großbritannien entwickelte psychoanalytische Gruppenanalyse war in der Lage, traumatisierte Soldaten, also Kraepelins moralisch minderwertige Kriegszitterer, mit humanen Mitteln schnell zu heilen, so dass sie wieder eingesetzt werden konnten. Damit zeigte die Psychiatrie zum ersten Mal, dass eine psychische Störung, also keine nervlich-somatische, sondern eine durch ein schweres Trauma ausgelöste psychische Störung, eine psychiatrische, keine neurologische Krankheit, etwas Vorübergehendes ist, etwas, das geheilt werden kann „wie ein Beinbruch“. Das, was heute unter dem Namen „Entstigmatisierung“ psychischer Krankheiten firmiert, hat in militärischer Erfahrung seine Ursache. Wenn Soldaten gut, d.h. einfühlsam und nach ihren Bedürfnissen behandelt wurden und wieder zum Funktionieren gebracht werden konnten, dann galt das auch für die Zivilbevölkerung. Im Jahr 1920 wurde die Tavistock-Klinik gegründet. Benannt wurde sie nach ihrem ersten Standort, dem Tavistock Square in Bloomsbury, London, England. Gründer war der Psychiater Hugh Crichton-Miller. Die Tavistock-Klinik spezialisierte sich zunächst auf die gruppenpsychotherapeutische Behandlung der posttraumatischen Belastungsstörungen der Soldaten aus dem Ersten Weltkrieg. Die Behandlungsmethode war neu, sie bestand in Reden, Zuhören und Verstehen. Zuvor wurden auch in Großbritannien Soldaten, die an den entsprechenden Symptomen litten, als Feiglinge angesehen und bestraft oder sogar erschossen. Während des Zweiten Weltkrieges dienten viele der hauptberuflichen Angestellten des Instituts als psychiatrische Spezialisten in den Streitkräften. Tatsächlich war im Krieg nicht nur die Psychiatrie wichtig, sondern der Krieg auch für die Entwicklung der Psychiatrie: Eine Schlüsselfigur in der Geschichte von Tavistock, Brigadegeneral Dr. John Rawlings-Rees, veröffentlichte 1945 die 158seitige Aufsatzsammlung The Shaping of Psychiatry by War, die sich mit Verbindungen zwischen Psychiatrie und militärischem sowie alltäglichem Leben befasst. Rawling Rees wurde später Begründer und erster Präsident der „World Federation of Mental Health“. Die Methode der englischen Psychiater bestand in der Gruppenpsychotherapie. Diese führt Edward Shorter (2003) auf den ursprünglich österreichischen, jüdischen und deshalb nach England geflohenen Psychiater Joshua Bierer zurück. Bierer war Militärpsychiater im Ersten Weltkrieg. Bierer war der Meinung, dass die klassische Psychoanalyse die Leiden der Patienten nur verlängere, da sie

2

Hans Ludwig Siemen: Menschen blieben auf der Strecke – Psychiatrie zwischen Reform und Nationalsozialismus. Gütersloh 1987, S. 29.

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ihn zu stark vom Analytiker abhängig mache. Eine Gruppentherapie hingegen helfe den Patienten, „unabhängig, aktiv und ‚selbstbestimmt‘ zu werden, bringe sie zur Einsicht und rege sie zu einer aktiven Mitarbeit am Heilungsprozess an.“3 Hier sind die Grundsätze der Selbsthilfe, so wie sie in der professionellen Selbsthilfeunterstützung in Europa verstanden werden, das erste Mal klar und deutlich formuliert. Es ist also nicht richtig, die „Selbsthilfebewegung“ nur auf die Anonymen Alkoholiker und andere Gruppen oder auf eine linksalternative Gesundheitsbewegung der 70er Jahre zurückzuführen. Vielmehr muss man sehen, dass in diesen Gruppen ein therapeutisches Konzept zur Anwendung gebracht wird, das erstmalig in einem religiösen Kontext thematisiert, vom Militär im Krieg bestätigt wurde. Bedeutsam daran ist, und das steht im Widerspruch zur offiziellen Rhetorik der professionellen Selbsthilfeunterstützer, dass dies eben kein Konzept ist, das Betroffene sich ausgedacht haben. Es ist ein psychiatrisch-therapeutisches Konzept, mit dem Menschen sich in Selbsthilfegruppen4 behandeln lassen. In seinem Aufsatz „Eine neue Form der Gruppentherapie“ beschreibt Bierer ein Experiment, das er mit dieser neuen Form der Gruppentherapie durchgeführt hat. Das Experiment erlaubte und unterstützte die Patienten dabei, selbstverwaltete Clubs zu führen. Diese Clubs bezogen sowohl jeweils stationäre als auch ambulante Patienten (Tagespatienten) mit ein, sie waren also auch ein Vorläufer der Tagesklinik. Die Clubs trafen sich wöchentlich und wurden demokratisch von den Patienten selbst verwaltet. Alle drei Monate wurde eine neue Leitung („Officers“) gewählt, um so jedem Patient die Möglichkeit zu geben, einmal Verantwortung zu übernehmen. Ärzte nahmen zwar auch an den Clubsitzungen teil, sie hatten jedoch keinerlei Sonderrechte. Andere Klinikmitarbeiter konnten auf Einladung durch die Patienten an den Sitzungen teilnehmen, um den Patienten das Gefühl zu geben, dass sie nicht nur nehmen, sondern auch geben konnten. An den Treffen der Clubs konnten auf Einladung auch Angehörige teilnehmen. Drei verschiedene Arten von Clubs wurden mit Erfolg getestet. Die erste Art war für stationäre nicht akute Patienten, für beide Geschlechter und alle Altersgruppen mit Diagnosen wie Schizophrenie, Angst, Depression, Neurasthenie oder Paranoia (Wahn). Diese Clubs veranstalteten Aktivitäten wie Tanzen, Diskussionen, Gesellschaftsspiele, Sport und Wanderungen. Eine zweite Art von Clubs organisierte Patienten mit chronischen und schwerwiegenderen Erkran-

3

Joshua Bierer: Group Psychotherapie BMJ 1, 14. Febr. 1942, S. 216. Möglicherweise standen hier die Methoden des moral treatment der Quäker Pate.

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Nicht in allen Selbsthilfegruppen, aber in fast allen Selbsthilfegruppen für Menschen mit psychischen Problemen.

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kungen. Diese wurden von erfahrenen „Ex-Officers“ der ersten Gruppe geführt, aber es sollten so schnell wie möglich Betroffene dieser Kategorie selbst die Leitung übernehmen. Ihr Programm war einfacher, bezogen auf das Bewegungsbedürfnis und das Bedürfnis nach gemeinsamer Tätigkeit, einfachen Spielen, gemeinsamen Singen und Tanzen. Der dritte Typ der Clubs war der Club für ambulante Patienten (Tagespatienten). Dieser sollte komplett selbstverwaltet funktionieren – so wie jeder andere Club auch. Es gab nur wenige Regeln: Jede Stigmatisierung sollte vermieden werden, der Treffpunkt nicht im Krankenhaus sein. Empfohlen wurde, dass ein Sozialarbeiter und eine Krankenschwester aus dem ambulanten Bereich der Klinik regelmäßig an den Sitzungen teilnimmt. Das schaffe eine emotionale Verbindung für zurückhaltende, ängstliche neue Mitglieder und gebe ihnen Vertrauen. Außerdem bekämen so die Ärzte mit, welche Fortschritte ihre Patienten in Bezug auf soziale Anpassung machten. Diese Clubs der ambulanten Patienten konnten finanziell selbstständig sein, also auf Spendenbasis funktionieren. Sie halfen auch entlassenen Patienten, den Weg, den sie in der Klinik eingeschlagen hatten, beizubehalten. Die Teilnahme an den Treffen verminderte die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls. Sie war ein wertvoller Zusatz zur Behandlung von ambulanten Patienten.5 Auch andere Therapeuten bezogen sich auf die grundlegende Erkenntnis, dass die Gruppe der Therapeut ist: z.B. der deutschstämmige britische Militärpsychiater Siegmund Fuchs, der sich in England S. H. Foulkes nannte. Shorter beschreibt die Gründung einer Therapiegruppe nach Bierer: „Am 8. Dezember 1939 trafen sich 35 Patienten – Neurotiker und Psychotiker – im Sunnyside House [des Runwell Hospital] und gründeten einen Club. Den Vorsitz des Treffens übernahm ein Patient.“ Die Therapiegruppe wurde wie eine zeitgenössische Selbsthilfegruppe von den Betroffenen selbst geleitet. Die Patienten wählten ihre eigenen Vertreter, veröffentlichten ein eigenes Magazin und trafen sich regelmäßig dreimal wöchentlich. „Die Disziplin wurde vollständig in die Hände der Clubmitglieder gelegt, schrieb Bierer“. (Shorter 2003, S. 348) Nach Shorter kann Bierer als Erfinder dessen gelten, was im Deutschen Selbsthilfe heißt. Bierer selbst nannte diese Technik Gemeinschafts-Therapie. „Kein Geschichtsschreiber der Sozialpsychiatrie und therapeutischen Gemeinschaft ist Bierer gerecht geworden“, schreibt Shorter (Shorter, S. 554) resümierend.

5

Vgl.: Lieutenant Joshua Bierer, R.A.M.C (Royal Army Medical Corps): A New Form of Group Psychotherapy [Abridged] Proceedings of the Royal Society of Medicine 14, December 14, 1943. http://www.pubmedcentral.nih.gov/picrender.fcgi?artid =218109 3&blobtype=pdf.

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Auch Vorläufer des Psychodramas wurden in England während des zweiten Weltkriegs erprobt. Tatsächlich liegen in der britischen Militärpsychiatrie während und nach dem Ersten Weltkrieg die Wurzeln der „Selbsthilfe“ und der humanistisch-psychologischen Gesprächstherapien, die erst in den späten 60ern und in den 70ern richtig populär wurden. Die therapeutische Gemeinschaft war eine Alternative zur Psychoanalyse und zur Asylierung und sie ließ sich mit körperlichen Behandlungsverfahren kombinieren. So wurden in den Krankenhäusern weiterhin Insulinkomabehandlungen und auch Lobotomien durchgeführt. Während des Krieges wurden in England überall therapeutische Gemeinschaften gegründet. „Aufrichtigkeit“ so zitiert Shorter einen Psychiater dieser Zeit, „war die Basis unseres Betriebes“ (ebda. S. 352). Das lässt natürlich an die in den 50er Jahren entwickelte themenzentrierte Interaktion von Ruth Cohn, dem bis heute offiziell empfohlenen Werkzeug für Selbsthilfegruppen,6 und an die Gesprächspsychotherapie Carl Rogers denken, die beide auf den Begriff der Aufrichtigkeit reduziert werden können. Der Grund, weshalb sich diese progressiven Ideen in der normalerweise schwerfälligen Bürokratie des medizinischen Dienstes der Armee so schnell durchsetzen konnten, lag nach Shorter darin, dass hochrangige Militärs diese beförderten. Sie haben sie deshalb befördert, weil sie offenbar wirksam und billig zu haben war. Der Schwerpunkt der Lehre der therapeutischen Gemeinschaft lag – wie in der Selbsthilfeunterstützung – in der Stärkung des Patienten und der Normalisierung seines Lebens. Gute Beziehungen in der Gemeinschaft sollten wiederherstellen, was problematische menschliche Beziehungen (der Krieg) zerstört hatten. Aber: Wo sollte man die therapeutische Gemeinschaft ansiedeln, wo sollten die Patienten (ambulante und stationäre) sich treffen? Mit dieser Frage entstand die Tagesklinik, ein Ort, an den die Patienten kommen konnten, um an Gruppensitzungen, Beratungen, Beschäftigungstherapien etc. teilzunehmen. Die Grenzen zwischen Tagesklinik und Selbsthilfekontaktstelle sind heute fließend: Während die Tagesklinik noch schwerpunktmäßig ein Krankenhaus ist, ist die Selbsthilfekontaktstelle ein „soziales Zentrum“, in dem sich nicht nur Kranke treffen, also eine Art Meta-Tagesklinik. In England war es Joshua Bierer, der 1948 die erste Tagesklinik eröffnete. In dieser Institution wurden neben einem Patientenclub auch Psychodrama, Gruppentherapie, Elektroschock- und Insulinbehandlung sowie alle anderen neuen Therapien angeboten, die sich in der progressiven britischen Psychiatrie durchgesetzt hatten. Bereits zu dieser Zeit bestand das Team der Einrichtung aus Ärzten, Psychologen, Beschäftigungstherapeuten, einem „Sozialtherapeuten“ (Shor-

6

Von der DAG SHG e.V. (Deutsche Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen).

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ter 2003, S. 353) und Sozialarbeitern. Derartige Ressourcen aufzubieten, war nur in einem Umfeld möglich, in dem die Idee der Sozial- und Gemeindepsychiatrie akzeptiert war. Rückblickend betrachtet lag die Bedeutung der „Tagesklinik-Bewegung“ (Shorter, ebda., S. 354) vor allem darin, dass sie den ersten Versuch darstellte, die Behandlung auch schwerer psychischer Störungen aus den Anstalten in die Gemeinschaft zu verlagern. Damit hat die Bewegung die Psychiatriereformen der 70er Jahre in anderen Ländern wie z.B. in Deutschland oder in Italien vorbereitet. Sie hat aber auch die psychische Krankheit in die Gesellschaft geholt und ist somit für die Ausbreitung der psychischen Krankheit in der Gesellschaft mitverantwortlich. Nach dem Zweiten Weltkrieg gründete 1948 die Gruppe der TavistockPsychiater um John Rawling-Rees das Tavistock Institute of Human Relations, das von der Rockefeller-Stiftung unterstützt wurde. Bierer war nicht Mitglied dieser Gruppe. Rawling-Rees selbst wurde im selben Jahr Präsident und Direktor der „World Federation of Mental Health“, die er mitbegründete. Diese existiert auch heute noch und ist die weltweite Koordinatorin der Bewusstseinskampagnen für (oder gegen) psychische Krankheiten. Auch die sogenannten Balintgruppen, das sind Selbsthilfegruppen für Ärzte, wurden an der TavistockKlinik erfunden. Diese Methode der Selbsthilfe oder der „kollegialen Supervision“ wurde nach Michael Balint (1896–1970), einem Psychiater und Psychoanalytiker ungarischer Herkunft, benannt. Balint hatte nach dem Zweiten Weltkrieg an der Londoner Tavistock Klinik zunächst Fallkonferenzen mit Sozialarbeitern durchgeführt. In ihnen konnten die Teilnehmenden lernen, die unbewussten Prozesse in der Arbeit mit ihren Klienten auf dem Hintergrund psychoanalytischer Theorien besser wahrzunehmen. Ab 1950 führte er ähnliche Fallkonferenzen mit niedergelassenen Hausärzten durch und bezeichnete sie als Diskussionsseminare über psychische Probleme in der ärztlichen Praxis.

US- AMERIKANISCHE M ILITÄRPSYCHIATRIE Nach dem Zweiten Weltkrieg befand sich auch die US-amerikanische Psychiatrie unter dem Eindruck der Herausforderungen und Auswirkungen des Zweiten Weltkrieges. Dabei standen die Psychiater und Brüder Karl und William Menninger in vorderster Front. William Menninger war im Zweiten Weltkrieg General gewesen. Ihr Problem: Die Soldaten verließen die USA zwar als relativ gesunde, gut angepasste Männer, aber sie kehrten mit seelischen Problemen zurück, die man heute als posttraumatische Belastungsstörung beschreibt. Vetera-

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nen gründeten z.B. den gefürchteten Motorradclub „Hells Angels“. Diese Männer stellten ein Problem für die Gesellschaft dar. William Menninger meinte, die Antwort darauf sei nicht im Kraepelinschen Klassifikationsschemata zu suchen, sondern in Kräften der Umwelt, die das Individuum entweder unterstützen oder aus der Bahn werfen (Greenberg 2010, S. 233). Diese Einstellung passte zu Adolf Meyers Theorien. Sie setzte sich mit dem DSM-I (Diagnostical and Statistical Manual of Mental Disorders I) von 1952 durch. Demnach waren alle psychischen Krankheiten mehr oder weniger Reaktionen auf Umweltereignisse. 25% der US-Soldaten aus Kampftruppen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg psychiatrisch behandelt. Bis zu 70% der Soldaten, die längeren Kampfphasen ausgesetzt waren, erlitten „psychische Zusammenbrüche.“7 Von diesen Patienten konnten über die Hälfte nach einer Kampfpause mit „warmer Nahrung, Ruhe und Schlaf, einer Dusche und Zuspruch“ (Horwitz et al. ebda.) wieder zu ihrer Einheit zurückkehren; über zwei Drittel konnten dies nach einer Pause von 48 Stunden. Die Autoren wollen damit sagen, dass keine „echte“ psychiatrische Krankheit vorlag, sondern nur eine kurzfristige Anpassungsstörung. Nach dem Krieg waren es „sozial orientierte“ Psychiater, die die „combat stress disorder“ als nützliches Modell für die psychischen Krankheiten im zivilen Leben sahen. Diese „sozial orientierten“ Psychiater haben also das tägliche, zivile Leben in der amerikanischen Gesellschaft nach dem Krieg zumindest in Bezug auf Stressoren mit dem Kriegserleben gleichgesetzt. „Sie setzten die außerordentlichen Stressoren des Krieges mit den normalen Stressoren des täglichen Leben gleich.“ (Horwitz et al. 2007, S. 126) Dabei haben diese Psychiater nicht berücksichtigt, dass die Soldaten sich normalerweise auch ohne Intervention erholten. Im Gegenteil, sie kamen zu der Überzeugung, dass die durch die Stressoren ausgelösten psychischen Krankheiten sich immer weiter verschlimmerten, verzichtete man die auf Behandlung. Hier begann laut Wakefield/Horwitz die Erosion zwischen normalem Distress und Krankheit. Militärisch ist die Fähigkeit des Umgangs mit außerordentlichen Stressoren für Soldaten lebensentscheidend. Auch heute wird in den USA diskutiert, wie man die „mentalen Fähigkeiten“ von Soldaten erhöhen kann, um einen militärischen Vorteil zu erlangen.8

7

Allan V. Horwitz, Jerome C. Wakefield: The Loss of Sadness. How Psychiatry Transforms Normal Sorrow into Depressive Disorder. Oxford 2007, S. 125.

8

J. D. Moreno: Mind Wars: Brain Research and National Defense. Dana Press 2006.

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K YBERNETIK , DIE M ACY -K ONFERENZEN UND P UBLIC M ENTAL H EALTH Warum Depression zur Volkskrankheit wurde, lässt sich auch ideologiegeschichtlich erklären. „Mentale Gesundheit“ wurde während des kalten Krieges zu einer Alternativideologie zum Kommunismus. Vorbereitet wurde diese Ideologie durch die Macy-Gruppe. Sie besagt kurz gesagt folgendes: Die Menschen sollen sich selbst kontrollieren. Ihr Ziel soll „völlige mentale Gesundheit“ sein, so wie dies in der Ottawa-Charta der WHO von 1986 auch festgeschrieben wurde. Diese wird nicht durch die Veränderung der Gesellschaft erlangt, sondern durch Arbeit und Veränderung am Selbst, also durch Autosuggestion oder positives Denken. Während des Zweiten Weltkriegs zeigte sich, dass eine neue Wissenschaft zur Verhaltenssteuerung (der Soldaten) wichtig wird. Es ging um eine Kontrolloder Steuerungswissenschaft, die auf Systeme angewendet werden kann. Die Bezeichnung für diese Wissenschaft, Kybernetik, leitet sich ab vom griechischen Wort für Steuermann. Ursprünglich handelte es sich um einen Begriff der praktischen Theologie, der heute veraltet ist und die Wissenschaft von der Gemeindeleitung bezeichnete. Darum ging es auch auf den Macy-Konferenzen. Der Begriff wurde nicht zufällig ausgesucht. Zwischen 1946 und 1953 trafen sich auf Einladung der Josiah-Macy-Jr.Foundation in New York führende Wissenschaftler verschiedener Fachgebiete, unter anderem Norbert Wiener, Gregory Bateson, Margret Mead, Kurt Lewin und John von Neumann. Ziel dieser später „Macy-Konferenzen“ genannten vertraulichen Konferenzen war eine Wissenschaft, die Vorhersage und Kontrolle menschlichen Verhaltens möglich machte. Besonders sollte eine „autoritäre Matrix“ verhindert werden. Das bezog sich auf die Studie zur „autoritären Persönlichkeit“ von Horkheimer und Adorno. Die autoritäre Matrix bildet sich demnach durch Erziehung und Tradition und ist scheinbar unauflösbar verbunden mit der metaphysischen Vorstellung einer „übernatürlich geschaffenen Natur“. Um Totalitarismus, konkret Faschismus und Antisemitismus für immer zu verhindern, schien es notwendig, die Natur des Menschen und seine kulturelle Matrix so zu verändern, dass die autoritäre Matrix für immer verschwindet. Nach dem Gestaltpsychologen und einmaligen Konferenzteilnehmer Kurt Lewin (der kurze Zeit auch am Tavistock Institut beteiligt war) müssen dafür zuerst die alten Werte und Gleichgewichte zerstört werden, um die Verhältnisse „flüssig zu machen“. Dann können neue Gleichgewichte und Werte etabliert werden. Diese müssen dann durch Selbst-Regulierung dauerhaft gefestigt werden, Umerziehung soll in Selbst-Umerziehung übergehen. Das wird die Welt in

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eine postnationale, multi-ethnische Weltgesellschaft ohne festgeschriebene Grenzen verwandeln. Die erforderlichen Werkzeuge und Baupläne glaubte die Macy-Gruppe anbieten zu können: neue und schnelle Rechenmaschinen, Systemtheorie und kybernetische Modellwelten, mit denen alle Bereiche von Wissenschaft, Kultur und Politik kontrollier- und steuerbar erscheinen.9 Die Macy-Konferenzen wurden von der Macy-Stiftung, gegründet 1930, durchgeführt. Die Familie Macy, die auf früh in die USA eingewanderte Quäker zurückgeht, ist durch Öl und Schifffahrt reich geworden. Josiah Macys Jr. Tochter Kate gründete die Stiftung und benannte sie nach ihrem Vater. Die Stiftung kaprizierte sich auf Gesundheitsförderung. Sie unterstützte nicht in erster Linie die naturwissenschaftliche Medizin, sondern die Untersuchung psychobiologischer und soziologischer Aspekte der Medizin.10 Während des Zweiten Weltkriegs beschäftigte sich die Stiftung mit Gesundheitsproblemen, die die nationale Verteidigung betrafen. Die Stiftung war (als NGO) schon immer regierungsnah und kooperierte eng mit der CIA. Vor dem Krieg beschäftigte sich die Stiftung mit psychosomatischer Medizin, danach mit „weltweiter psychischer Gesundheit“. Dieses „worldwide mental health program“ muss als Ideologie im Zusammenhang mit der damaligen US-amerikanischen Strategie des „Containment“, also der Eindämmung des Staatssozialismus und der marxistischen Ideologien, gesehen werden. Nach dem Krieg organisierte Frank Fremont Smith, ein Manager der Stiftung, der zweiter Präsident der „World Federation for Mental Health“ werden sollte, 350 interdisziplinäre Konferenzen. Der ursprüngliche Titel der Konferenzen „Circular Causal and Feedback Mechanisms in Biological and Social Systems“ (zirkulär-kausale und Rückkoppelungsmechanismen in biologischen und sozialen Systemen), wurde auf Vorschlag von Heinz von Foerster in „Cybernetics“ mit Bezug auf die Arbeiten Norbert Wieners umgewandelt. An der 6. Konferenz im März 1949 nahm auch der Psychiater Harold Abramson teil. Dieser war danach, ab 1953, in die MK-ULTRA-Versuche der CIA mit LSD involviert. Dies waren die bekannten Gehirnwäsche-Experimente der CIA.

9

Vgl. Lutz Dambeck: Das Netz. Die Konstruktion des Unabombers. Hamburg 2005. Vgl. auch: http://www.t-h-e-n-e-t.com/html/_film/them/_them_macy.htm.

10 Vgl. Steve Joshua Heims: The Cybernetic Group. Massachusetts 1991, S. 164.

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World Mental Health Lawrence (Larry) K. Frank war Sozialwissenschaftler und spezialisiert auf das Gebiet der Kindsentwicklung und gehörte zur Kerngruppe der MacyKonferenzen. 1938 wurde Frank Sekretär und Assistent des Präsidenten der Josiah Macy Jr. Stiftung. Steve Heims schreibt, dass Frank sich bemühte Themen wie „die Fusion von Psychiatrie und Sozialwissenschaft“, „Persönlichkeit und Kultur“ und „Mentale Hygiene“ auf die Tagesordnung der Stiftung zu setzen. Später setzte er seinen Fokus auf Kybernetik und „World Mental Health“. Larry Frank war stark wissenschaftsgläubig. Er glaubte, dass die modernen Sozialwissenschaften und die Psychiatrie im Verein mit Naturwissenschaften den Menschen helfen können, eine neue, bessere Welt zu erschaffen; eine Welt ohne Vorurteile, Aberglaube, Ignoranz und Missgunst. Er und die Konferenzteilnehmer Gregory Bateson und Margret Mead gingen davon aus, dass der Mensch formbar sei und dass er durch Umwelteinflüsse geformt werde. Im Zusammenhang mit der Kybernetik kam man auf die Idee, dass der Mensch sich unter bestimmten Umweltbedingungen selbst forme. Die Natur des Menschen sei abhängig von sozialen Mustern wie z.B. von seiner Erziehung als Kind und sie könne mittels dieser Strukturen verändert werden. In diesem Zusammenhang ist zu erwähnen, dass eines der erfolgreichsten Bücher des letzten Jahrhunderts mit 50 Millionen verkauften Exemplaren das meistverkaufte Buch mit einem neuen Titel im 20. Jahrhundert, Benjamin Spocks Erziehungsratgeber war.11 Spock hat gelegentlich an den Macy-Konferenzen teilgenommen. Der Pädiater war Verfechter einer liberalen Erziehung. Er ermutigte die Eltern der Nachkriegszeit, bei der Kindererziehung ihrem gesunden Menschenverstand zu vertrauen: Schreiende Kinder haben Hunger, weinende sollten hochgenommen und geherzt werden, auch gegen Daumenlutschen hatte Spock nichts einzuwenden. Das war damals nicht selbstverständlich, in Deutschland, wo noch der autoritäre Charakter herrschte, schon gar nicht. Wenn man so will, war Spock einer der Väter der antiautoritären Erziehung, die nach Alain Ehrenberg zur massenhaften Ausbreitung der Depression beigetragen hat. Die Teilnehmer glaubten, dass es eine zirkuläre Abhängigkeit zwischen Persönlichkeit und Kultur gebe. Wenn bestimmtes Verhalten oder bestimmte Persönlichkeitszüge unerwünscht sind, wie z.B. eine „autoritäre Persönlichkeit“, dann kann man versuchen, die Persönlichkeiten oder den Sozialcharakter durch Änderung der Kultur (z.B. durch Implementierung einer Alternativkultur mit sexueller Befreiung etc.) so zu ändern, dass diese Züge nicht hervorgebracht wer-

11 Benjamin Spock: The Common Sense Book of Baby and Child Care. London 2004.

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den. Jedenfalls hat David Riesman mit seinem Bestseller „Die einsame Masse“ (s.u.) gezeigt, wie das ganze gemeint war. Die innengelenkte Persönlichkeit, die autoritätsgläubig ist, wird abgelöst durch die außengeleitete Persönlichkeit, für die das Urteil seiner temporären Freunde wichtiger ist als das seiner Eltern und die auf ständig wechselnde Moden reagiert. Fördert man nun eine Kultur, die solche Moden immer wieder neu hervorbringt wie die Popkultur oder die Alternativkultur (Counterculture), erzeugt man auch keine „autoritären Persönlichkeiten“ mehr. Man handelt sich aber möglicherweise andere sozialpsychologische Probleme ein, z.B. die „Volkskrankheit Depression“ (vgl. die Argumentation von Alain Ehrenberg). Verschwörungstheoretiker weisen gerne darauf hin, dass der Kulturwandel nach dem Zweiten Weltkrieg durchaus geplant war und keine Revolte von unten gegen die Obrigkeit darstellte. Dass die CIA über die Kulturorganisation „Kongress für kulturelle Freiheit“ von 1950 bis 1969 bestimmte linksliberale Künstler und die Kunstrichtung „Abstrakter Expressionismus“ finanziell unterstützte, ist mittlerweile bekannt. Der strategische Weg, der auf den Konferenzen eingeschlagen wurde, nämlich gesellschaftlichen Zusammenhalt als gesundheitliches Problem zu sehen, wird auch heute noch beschritten. Es geht damals wie heute um ein Gleichgewicht, eine Harmonie zwischen Individuum und sozialem System. Die Verfolgung dieses Ziels benötigt ständiges Feedback im Gesamtsystem. Dies kann durch die modernen Massenmedien gewährleistet werden. Tatsächlich funktioniert die Gesellschaft nach dieser Vorstellung ähnlich wie eine Selbsthilfegruppe. Auch dort ist das Feedback der Gruppenteilnehmer die Methode zur Steuerung des Gruppenprozesses. Kybernetische Vorstellungen können also durchaus nützlich sein zur Steuerung von großen und kleinen Gesellschaften und dann auch zum Modellieren von Kulturen. (Heims 1991, S. 66) Tatsächlich ist es nichts neues, dass die Kultur Einfluss hat auf „den Menschen“. Auch Horkheimer und Adorno sowie die gesamte marxistische Theorie gehen davon aus, dass das Sein das Bewusstsein bestimmt, dass also eine wirtschaftliche Basis (Produktionsverhältnisse) den politischen Überbau determiniert. Auf den Macy-Konferenzen ging es aber auch darum zu zeigen, wie denn das Bewusstsein der Menschen umgekehrt die Gesellschaft beeinflussen kann. Deshalb wurden die Vorstellungen der Gesellschaftswissenschaftler (Frank, Mead, Bateson) unter der Leittheorie der Kybernetik mit den biologischen bzw. neurotechnischen Vorstellungen von Psychiatern wie Warren Sturgis McCulloch (1898–1969) oder Mathematikern wie John von Neumann gekreuzt. Trotzdem könne man nicht sagen, so Heims, dass die Macy-Konferenzen eine Verschwörung zur Umgestaltung der Welt waren. Vielmehr seien sie Ausdruck eines „sozialen Wandels“ gewesen. Von den 50er bis in die 80er Jahre habe sich vor al-

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lem eines fundamental geändert: Es sei nun die „search for self-fulfillment“, die zum Kennzeichen der gesamten Gesellschaft werde. Diese Suche sei ein echtes Graswurzelphänomen überall in den USA. Das war 1950 auch dort noch ganz anders. Auch in den USA gab es die traditionelle Familie und die „Innenlenkung“ herrschte vor.12 Steve Heims These ist, dass die Macy-Konferenzen eine wichtige Rolle spielten bei der Ablösung der Psychoanalyse als Leitwissenschaft der USamerikanischen Psychiatrie. Es hätte in der Psychiatrie schon immer zwei starke Bewegungen gegeben, von denen mal die eine, mal die andere dominierte. Gemeint sind die eher biologische Psychiatrie (mit auf den Körper wirkende Therapien) und die eher psychosoziale Psychiatrie (soziale Gesprächstherapie). Auch sei die Zeit reif für einen Paradigmenwechsel gewesen. In den 30er Jahren bereits wurde die „Wirksamkeit“ von Elektroschocks erforscht und seit den späten 40er Jahren praktizierte man die präfontale Lobotomie. Das waren allerdings Außenseiter-Therapien. Der Mainstream, gerade in den USA, war noch psychoanalytisch orientiert. Die Macy-Konferenzen boten nun wissenschaftlich fundierte Alternativen an. Sie haben aber nicht etwa die biologische Psychiatrie begründet oder gerechtfertigt, ganz im Gegenteil, auch andere, nicht-psychoanalytische Gesprächstherapien, wie z.B. Gestalttherapie und systemische Therapie wurden hier vorgestellt und in den Zusammenhang mit dem neuen Leitbild der Kybernetik gebracht. Ihr Nutzen für Mental Public Health wurde also hervorgehoben. Heims unterscheidet drei Schulen, denen die Teilnehmer der Macy-Konferenzen angehörten: Lawrence Kubie vertrat eine psychoanalytisch ausgerichtete Psychiatrie, Warren Sturgis McCulloch vertrat die Neurobiologie und der Psychologe Heinrich Klüver eine sozialpsychiatrische Sicht. Sozialpsychiatrie war aber in den konservativen 50er Jahren in den USA noch chancenlos. Psychische Störungen wurden entsprechend der Lehre Adolf Meyers aus der individuellen Lebensgeschichte erklärt. In Person von McCulloch sieht Heims nun die neurobiologische Sicht vorpreschen. Heims meint, dass diese neurobiologische Sichtweise auf die Phrenologie zurückzuführen und mit ihr strukturähnlich sei. Der Unterschied läge nur darin, dass die einen sichtbar auf der Außenseite des Schädels abzulesen meinen zu können, was die anderen in den Schädel legen. An der Kontroverse zwischen Kubie (Psychoanalyse) und Warren Sturgis McCulloch (Neurobiologie) könne man ablesen, so Heims, dass diese sich auf mehr bezog als auf die Disziplin Psychiatrie oder auf die Natur des Bewusstseins. Es ging auch um eine politische Kontroverse. Es ging um die US-typische Kontroverse

12 Daniel Yanleovich: New Rules; Searching for Self-Fulfillment in a World Turned Upside Down. New York 1981, S. 1.

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zwischen Sozialdemokratie (USA: Liberalismus) und Neoliberalismus (USA: Konservatismus). Kubie meinte, dass die allen psychischen Krankheiten zugrundeliegende Krankheit oder Störung die Zwangskrankheit sei. Zwanghafte Wiederholung läge allen psychischen Krankheiten zugrunde. Dieser Zwang sei aber nicht psychoanalytisch zu erklären. Vielmehr handele es sich hierbei um eine neurobiologisch begründete „Fehlschaltung“ im Hirn. Kubie selbst als Vertreter der Psychoanalyse auf den Konferenzen trug dazu bei, dass diese in ihren Grundfesten erschüttert wurde, so Heims. Er verband das neurophysiologische Laboratorium mit der psychoanalytischen Couch. Während des Krieges arbeitete Kubie als psychiatrischer Berater der US-Army und Air Force. Er war mit der Erforschung von Drogen im Zusammenhang mit Verhören befasst. Kubie forschte also während des Krieges an sog. Wahrheitsdrogen. (Heims, ebda., S. 123) Kubie stellte auf den Konferenzen wieder und wieder psychoanalytische Theorien vor und löste damit große Kontroversen aus. Die Kybernetiker reagierten auf die subjektive Ebene, die in der Psychoanalyse eine wichtige Rolle spielt, verständnislos. Es war wohl ein Running Gag der Konferenzen, dass Kubie sozusagen zwanghaft wieder und wieder seine psychoanalytischen Theorien wiederholen musste und damit zeigte, dass die Psychoanalyse nach seiner eigenen Theorie nichts anders als fixe Idee sein kann. Schließlich ist nach seiner neurobiologischen Überzeugung die zwanghafte Wiederholung der Ursprung allen Wahns. Die sozialen und historischen Bedingungen der Psychoanalyse wurden niemals auf den Konferenzen thematisiert, es ging ausschließlich um die Sache an sich, um ihren „inneren Begründungszusammenhang“. (Ebda., S. 126) Die Diskussionen sind teilweise irrational und sehr lebhaft geführt worden. McCulloch lehnte Psychoanalyse ab. Sie würde nicht zu besseren Behandlungserfolgen führen als gar keine Therapie13 und sie sei ideologisch, sie sei nur eine Vorstellung aus Freuds Kopf, die auf Träume angewendet werde. Was er dagegen bei den Konferenzen zu verstehen suche, sei die Rückkopplung, also wie wir das verändern, was wir verstehen wollen. Wenn diese Rückkopplung sehr unmittelbar sei, nenne man sie psychoanalytisch „Übertragung“. Übertragung als zentrales therapeutisches Konzept sei also nichts weiter als eine Rückkopplung, ein anderer Ausdruck dafür und erkläre weiter nichts.

13 Dafür gibt es tatsächlich Hinweise. Vgl. z.B. Hans-Jürgen Eysenck: The effects of psychotherapy: An evaluation. In: Journal of Consulting Psychology 16, 319-324, 1952. Demnach kam es mit Psychoanalyse zu einer Verbesserung bei 44% der Testpersonen, mit anderen Therapien bei 64% und unbehandelt bei 72%.

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McCulloch beschwerte sich auch öfters direkt über den lähmenden Einfluss, den die Psychoanalytiker auf den Berufsstand der US-amerikanischen Psychiater ausübten. Dieser sei sektenähnlich und quasireligiös. (Jeder Psychiater musste damals in den USA psychoanalytisch ausgebildet sein.) Psychoanalyse, so McCulloch, sei eine Verschwörung, ein Geheimbund wie die Illuminaten. (Heims 1991, S. 131) Die Psychoanalyse, so meinte er im Vorgriff auf Foucault (in Sexualität und Wahrheit), sei ein Instrument sozialer Kontrolle, das die Menschen dazu zwinge, ihre sexuellen Vorlieben und Phantasien zu offenbaren, um sie zu kontrollieren. McCulloch betätigt sich hier als Aufklärer, wird von Heims aber als Konservativer bezeichnet. Tatsächlich zog McCulloch Parallelen zwischen Marxismus und Psychoanalyse, und zwar im Jahr 1952, als Marxismus in den USA das Böse schlechthin war. Psychoanalyse arbeite gegen das eigentlich Amerikanische und wolle eine neue, kollektivistische Gesellschaft, die dem amerikanischen Individualismus widerspreche. Psychoanalyse und Marxismus seien die Feinde der Freiheit, so McCullochs Credo. Seine Alternative zur Psychoanalyse als Methode zur Heilung von psychischen Störungen formulierte er folgendermaßen: „Es gibt nur eine Alternative, genau eine Alternative. Und das ist herauszufinden, wie das Gehirn arbeitet.“ (Ebda., S.132) Dabei stellte er sich neuronale Netze vor, die bestimmte Automaten bilden und deren Kommunikation untereinander. Das Gehirn wurde von der Macy-Gruppe also als eine Art Computer verstanden. Erfinder dieser GehirnComputer-Analogie war McCulloch. Er studierte Psychologie, was ihn aber nicht befriedigte, dann Medizin und spezialisierte sich auf Neurologie. Von da an, ca. ab 1932, war sein Ziel, eine „wissenschaftliche Psychiatrie“ zu begründen. Die US-Psychiatrie wurde damals von der Psychoanalyse, die Psychologie vom Behaviorismus beherrscht, die biologische Psychiatrie wurde, nachdem sie an der vorletzten Jahrhundertwende in Deutschland erfunden wurde, in dieser Zeit parallel in Italien (Elektroschocks) weiterentwickelt. McCulloch wollte keine „biologische Psychiatrie“ in diesem Sinn entwickeln, eher schwebte ihm so etwas wie eine kognitive Psychiatrie vor. Unter wissenschaftlich verstand er logisch. Er entwickelte das erste Modell eines „neuronalen Netzes“. Die Synapsen des Gehirns schalten demzufolge wie ein Computer im binären Modus. Durch die Kombination von Nullen und Einsen oder „An“ und „Aus“ erzeugen sie so Vorstufen zu Gedanken, Gefühle etc.. Synapsen sind für ihn schlicht Schalteinheiten, in denen sich die Grundgesetze der Logik verkörpern und in denen logische Notationen zur Aufführung kommen. Wenn Gehirne nur aus Netzwerken von Schaltern bestehen, dann kann man sie vollständig in Schaltdiagrammen und logischen Notationen aufschreiben. Es wäre also planbar, bzw. modellierbar, was zu denken ist. Thema der Macy Konferenzen war dementsprechend u.a. die ge-

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sellschaftliche Selbststeuerung mittels Selbststeuerung der Individuen. Ziel ist „worldwide mental health“. Verhindert werden sollten „Totalitarismen“ wie Faschismus aber auch Kommunismus. Das besondere an McCulloch war, dass er zu einem wegweisenden Psychiater in der Geschichte wurde, obwohl er heute so gut wie unbekannt ist und auch damals nicht zum wissenschaftlichen Mainstream in seiner Disziplin zählte. Aber er nahm an den Macy-Konferenzen teil und hatte Einfluss auf diese, wo sie am interessantesten waren, nämlich eben da, wo es um die Steuerung (oder Selbststeuerung) menschlichen Verhaltens ging. McCulloch war ein MaschinenFan, dessen Begeisterung für künstliche Intelligenz und Verachtung für den Menschen ins Perverse tendierte. Er wird von dem Steve Joshua Heims mit den Worten zitiert: “Man to my mind is about the nasties, most destructive of all animals. I don`t see any reason, if he can evolve machines that can have more fun than he himself can, why they shouldn´t take over, enslave us, quite happily. They might have a lot more fun, invent better games than we ever did.“ (Ebda., S. 37) Wie können Maschinen Spaß am Spiel haben? Der Spaß am Spiel widerstehe aller Analyse und logischer Interpretation, schrieb der niederländische Kulturhistoriker Johan Huizinga in „Homo Ludens“. McCulluch erhob die Maschine in den Rang eines Subjekts und umgekehrt: den Menschen in den eines Objekts dieser Maschinen. Seine Absicht war es, die Maschine zu vermenschlichen und den Menschen zu mechanisieren. Zusammen mit Walter Pitts schuf er das nach ihnen benannte Modell des neuronalen Netzes. Pitts war ein Universalgelehrter, zunächst ohne Universitätsabschluss. Der wurde ihm dann, ohne die üblichen Formalien, aufgrund seiner Gelehrtheit 1955 am MIT verliehen. Das von beiden entwickelte Modell sollte in einer Kombination von logischer Analyse – oder Analyse der logischen Vorgänge im Gehirn – mit neurophysiologischen Experimenten die Funktionsweise des gesunden und kranken Gehirns erklären. Die Krankheit des Gehirns liegt hier also nicht im Stoffwechsel, sondern in einer gestörten Logik oder in einer Störung der Schaltungen. Dieses Theorem hatte wenig mit den damaligen Leittheorien Behaviorismus und Psychoanalyse gemein, es breitete aber die kognitive Psychologie vor. Behandlungsbezogen plädierte McCulloch für „chemische Kuren“. Er plädierte für Barbiturate (Amytal) und Stimulanzien (Coramine) um psychische Krankheiten zu „heilen“. Es ging auch dabei konkret wieder um die Therapie des „Shell Shock“ („Granatenfieber“ der „Kriegszitterer“). McCulloch erwähnte, dass nach dem US-Bürgerkrieg die Patienten betrunken gemacht wurden und nach der Ausnüchterung ihnen erlaubt wurde, die Ereignisse erneut zu durchle-

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ben und zu diskutieren, die ihnen am meisten zugesetzt hätten. Dies hätte geholfen. (Heims 1991, S. 134) Gregory Bateson personifizierte die vierte Sichtweise auf psychische Krankheit unter den Teilnehmern der Macy-Konferenzen. Bateson meinte, dass das traditionelle Denken über Psychosen und psychische Krankheiten kritisiert und rekonstruiert werden müsse. Er bevorzugte eine anthropologische und epistemologische Sichtweise auf „Verrücktheit“. Bateson entwarf eine sozial-ökologische Perspektive. Er machte den Weg frei für die humanistische Psychologie sowie die systemische Therapie. Seine Auffassungen kulminieren in seinem Begriff des „double binds“ und der Kybernetik des Alkoholismus, einer Vorwegnahme der Familientherapie. Er behauptete, dass Schizophrenie durch den „double bind“ in der Familie des Betroffenen ausgelöst wird. Der „double bind“ ist eine sich selbst widersprechende Handlungsaufforderung, die den so wiederholt Angesprochenen in den Wahnsinn treibt. Larry Frank hat den Ausdruck „Gesellschaft als Patient“ 1947 geprägt, (ebda., S. 159) aber dies auch ohne auf sozioökonomische Bedingungen abzuheben. Gesellschaft sei die Summe der Individuen. „In der optimistischen und wissenschaftsgläubigen Stimmung der beginnenden 50er Jahre vergaßen die Psychiater und Sozialwissenschaftler, wie wenig sie wissen“, so Heims: „Angetrieben von dem Wissen über zirkuläre Kausalität (sich selbst verstärkende Energiekreisläufe) und ihrem atomistischen Blick auf die Gesellschaft organisierten sie sich weltweit als eine Gruppe von Experten, um mentale Gesundheit zu einer neuen technokratischen Ideologie zu machen.“ (Ebda., S. 163)

Das ist die Geburtsstunde des Public Health, so wie wir es heute kennen. Im Jahr 1955 ließ der damalige Präsident der Stiftung, Willard C. Rappleye, die ersten 25 Jahre der Stiftung Revue passieren. Dabei bemerkte er, dass „soziale Konflikte Symptome tiefer liegender Gründe seien“ und dass die Psychiatrie uns Aufschluss gebe über die Natur dieser Dinge. Konsequenterweise würden deshalb die Einsichten und Methoden der Psychiatrie, Psychologie und Anthropologie die emotionalen Störungen dieser Welt beseitigen. Rappleye nannte die Strategie, die bei den Macy-Konferenzen verfolgt wurde, beim Namen. Diese war nämlich auch ein ideologisches Werkzeug im kalten Krieg. Ihre Ideologie, die genau wie der Marxismus als wissenschaftlich verkauft wurde, kann man mit Heims als „worldwide mental health ideology“ ( Heims, S. 169) bezeichnen. So genannt wurde sie natürlich nicht. Denn in den Augen ihrer Vertreter handelte es sich keineswegs um eine Ideologie, sondern um den wissenschaftlichen Fortschritt. Die „mentale Hygiene“ kann demnach eine Welt schaffen, in der soziale

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Konflikte, Unterdrückung und Kriege beseitigt und abgeschafft sind. Psychologie und Sozialwissenschaften können eine Welt erzeugen, in der es nur harmlose emotionale Störungen gibt. Was heute auf den ersten Blick etwas merkwürdig erscheint, ist tatsächlich die Ideologie, die sich durchgesetzt hat. Die heutige Anwendung der Public Health ist nichts anderes als der Versuch Armut und Desintegration über die Erhöhung von „Gesundheitschancen“ zu bekämpfen. Trotzdem ist festzuhalten: Die Teilnehmer der Macy-Konferenzen nahmen für ihre Zeit linksliberale Positionen ein. Man baute auf den Pragmatiker John Dewey und seine Ideen über Erziehung. Auch John Maynard Keynes stand bei den Teilnehmern hoch im Kurs. Die Teilnehmer waren fortschrittsgläubig und repräsentierten einen liberalen Konsens in einer konservativen Zeit. Der therapeutische Staat 1946 wird in den USA der „National Mental Health Act“ (Bundesgesetz über die Behandlung psychischer Krankheiten) verabschiedet. Das Gesetz schreibt die Gründung einer Nationalen Koordinierungsstelle für seelische Gesundheit vor. (Illouz 2009, a.a.O., S. 194) Gewöhnliche Vertreter der Mittelschicht, die mit gewöhnlichen Problemen rangen, gerieten nun zunehmend in den Zuständigkeitsbereich der Psychologen und Psychiater. Der Hintergrund des Gesetztes war, wie gesagt, die Erfahrungen mit traumatisierten Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg. Diese zeigten, dass viele Soldaten auch schon vor dem Krieg, vor der akuten Traumatisierung, psychische Probleme hatten. Die Soldaten stellten – unabhängig vom Geschlecht – eine repräsentative Stichprobe der Bevölkerung dar. Also mussten psychische Probleme auch in der Bevölkerung verbreitet sein. Am 15. April 1949 wird das National Institute of Mental Health offiziell gegründet. Der Staat definiert sich immer deutlicher als „therapeutischer Staat“.14 Das Budget dieser Institution stieg sprunghaft an. Waren es 1950 8,7 Millionen USDollar, so waren es 1967 bereits 315 Mill. US-Dollar. Wie Nolan berichtet, verdreifachte sich die Anzahl klinischer Psychologen zwischen 1968 und 1988: „Das Ausmaß der Psychologisierung des modernen Lebens lässt sich auch daran ablesen, dass es in den USA mehr Therapeuten als Bibliothekare, Feuerwehrleute oder Postzusteller gibt – und doppelt so viele Therapeuten wie Zahnärzte und Apotheker.“ (Nolan, ebda., S. 8). Nolan geht davon aus, dass der (amerikanische) Staat zunehmend von den Codes, der Symbolik und dem moralischen Diskurs des therapeutischen Ethos Gebrauch machte, um verschiedene Rehabilitati-

14 James Nolan: The Therapeutic State. Justifying Government at Century ު s End. New York 1998.

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onsprogramme für Gruppen wie Arme, Häftlinge, Kriminelle und Traumaopfer aufzulegen. Nolan schreibt die beherrschende Stellung der Psychologen im Staatsapparat dem staatlichen Legitimationsbedürfnis zu. Warum allerdings das Therapeutische eine solche legitimierende Kraft haben soll, erklärt er nicht. Das läge daran, ergänzt Eva Illouz, dass ein „kollektiver Akteur wie der Staat dann über eine größere Autorität und Legitimität verfügt, wenn er sich auf (psychologische) Theorien individueller Mitgliedschaft und Aktivität stützt“. (Illouz, S. 276) Der Staat oder staatliche Akteure versuchen heute auch in Deutschland ständig, „zivilgesellschaftliche Akteure“ anzusprechen und sie zur „Partizipation“ und zum „ehrenamtlichem Engagement“ zu bewegen. Der Staat macht so seinen Bürgern Therapievorschläge, es wird also vorausgesetzt, dass die Bürger sich als defizitär verstehen. Aus dieser Perspektive stellen Individualismus und staatliches Handeln keine Gegensätze dar, im Gegenteil, sie scheinen ineinander zu greifen. Der therapeutische Diskurs verleiht dem bürgerlich demokratischen Staat eine zusätzliche Rechtfertigung, die historisch als ein Ergebnis der Systemkonkurrenz Sozialismus – bürgerliche Demokratie entstanden ist. Und natürlich braucht ein therapeutischer Staat zu therapierende Bürger. Da kommt eine Volkskrankheit Depression gerade richtig. Macy und die World Federation of Mental Health (WFMH) Offiziell versteht sich die WFMH als eine Ausgründung der WHO. Der erste Generaldirektor der WHO, der kanadische Psychiater George Brock Chisholm, regte demnach die Gründung einer solchen Institution an. Die Wurzeln der WFMH werden in der offiziellen Geschichtsschreibung oft auf den Betroffenenvertreter Clifford Beers zurückgeführt. Clifford Beers beschränkte seine Reformarbeit nicht auf die Vereinigten Staaten. 1918 gründete er zusammen mit dem kanadischen Arzt Clarence Hincks (1885–1964) das Canadian National Committee for Mental Hygiene (später Canadian Mental Health Association). 1920 gründeten Beers und Hincks dann das International Committee for Mental Hygiene, das 1948 in World Federation for Mental Health (WFMH) umbenannt wurde. Die WFMH war von ihrer Gründung bis in die 1990er Jahre die einzige bei der UNO akkreditierte NGO, die sich mit psychischen Erkrankungen befasste. Ein wichtiger Meilenstein auf dem Weg zur WFMH als anerkannter internationaler Organisation war der International Congress on Mental Hygiene, den Beers und Hincks 1930 in Washington D. C. organisierten. An dem Kongress

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nahmen mehr als 4.000 Psychiater, Psychologen und Verantwortliche für Gesundheitspolitik teil.15 Man kann das auch anders sehen: 1948 wurde die World Federation for Mental Health gegründet. Erster Präsident war, wie erwähnt, der britische Militärpsychiater John Rawling-Rees. Zweiter Präsident der WFMH war Frank Fremont Smith von der Macy-Stiftung. Die World Federation sollte, wie auf den Macy-Konferenzen geplant, im kalten Krieg zu einem Gegenpol einer möglichen Nachfolgeorganisation der 1943 aufgelösten Komintern (Kommunistische Internationale) werden. Dazu ist es nicht gekommen, weil es keine Nachfolgeorganisation der Komintern gegeben hat. Die Blöcke standen sich nicht in erster Linie ideologisch gegenüber, sondern militärisch. Kommunistische Parteien im NATO-Block wurden mit anderen Mittel marginalisiert, in Deutschland z.B. durch die Berufsverbote. Die WFMH gibt es immer noch (www.wfmh.org). Ihr heutiges Ziel: „The World Federation for Mental Health envisions a world in which mental health is a priority for all people. Public policies and programs reflect the crucial importance of mental health in the lives of individuals.“16 Hauptsächlich tritt die WFMH in Erscheinung als Organisatorin des „Tages der seelischen Gesundheit.“ Das ist ein Event, das von vielen Akteuren in diesem Sektor begangen wird. In Berlin z.B. wird der Tag gleich zu einer ganzen Woche ausgedehnt. Als Veranstalter der Berliner Wochen firmieren ca. 100 Vereine, Einrichtungen und Ämter. Darunter viele Bezirksämter, große Sozialverbände und einzelne Einrichtungen. Ein Verweis auf die WFMH und ihre Geschichte fehlt. Aber hier kann man die Strategie der Mental-Health-Ideology beobachten: Es wird ein großer Konsens konstruiert. Dieser Konsens ist „natürlich“, alle Akteure ziehen zum Nutzen der Gesellschaft und insbesondere der „Betroffenen“ an einem Strang. Man kann unmöglich dagegen sein. So hat die Mental-Health-Ideology unbemerkt die geistige Herrschaft in unserer Gesellschaft übernommen. 1948 wurde von der UNESCO in Paris eine Konferenz organisiert, in der die Mental-Health-Ideologie und der marxistisch-leninistische Standpunkt aufeinander trafen. Die amerikanische Seite wurde vertreten von dem psychoanalytisch orientierten US-amerikanischen Psychiater Harry Stack Sullivan. Sein Thema hieß: Internationale und Interpersonale Spannungen. Der Standpunkt eines Psychiaters. Sullivan vertrat als Psychiater die Meinung, dass die Schizophrenie

15 Vgl. Eugene B. Brody: The World Federation for Mental Health: its Origins and Contemporary Relevance to WHO and WPA Policies. In: „World Psychiatry“. Vol. 3 Nr. 1, S. 54–55, Februar 2004. 16 http://www.wfmh.com/00about.htm.

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nicht nur biologische Ursachen habe, sondern auch lebensgeschichtlich begründet sei. Sullivan war damit sicher kein Reaktionär. Sullivan verwendete für die Psychiatrie den Begriffsrahmen der modernen Physik, der Feldtheorie: Menschliches Verhalten verstand er nicht mehr als isolierte Einzelereignisse, sondern wie auch Kurt Lewin als Abfolge von Prozessen, die sich aus der Interaktion verschiedener Kräfte innerhalb eines Wirkungsfeldes ergeben. Das Entwicklungsprinzip steht im Zentrum von Sullivans Lehre. Sullivan war ein Vorkämpfer für die weltweite Mobilisierung der Psychiatrie, um Frieden und dauernden sozialen Fortschritt zu gewährleisten. Seine Position, die nicht „rechts“ ist, passte aber auch hervorragend zu den starken antikommunistischen Überzeugungen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg in den USA ausbreiteten. Demnach ist eine Gesellschaft dann gut und erstrebenswert, wenn alle Menschen die Chance haben, psychisch gesund zu sein. Und umgekehrt: Wenn alle Menschen psychisch gesund sind, gibt es auch keine unlösbaren (oder nur durch Krieg oder Revolution lösbaren) Konflikte mehr. Sein Gegenpart in Paris war der Soziologe Alexander Szalai aus Budapest, der einen klassisch-marxistischen Ansatz verfolgte. Demnach sind alle Ideen, Vorstellungen und Gedanken Abbilder der gesellschaftlichen Realität und Machtverhältnisse, die sich „in letzter Instanz“ aus den jeweils historisch-geographischen Produktionsverhältnissen (dem Eigentum an den Produktionsmitteln) und materiellen Gegebenheiten entwickelt. Er sieht es also genau umgekehrt. Es geht um die alte Frage: Bestimmt das Sein das Bewusstsein oder umgekehrt? Hier setzt die Mental Health Ideologie ein und begründet Antikommunismus von einem sozialdemokratisch-liberalen Standpunkt aus. Dieser setzt auf individuelle Selbstbefreiung bzw. Emanzipation. Und er kommt selbstverständlich ohne den Begriff der „Klasse“ aus. Zwischen Sullivan und Szalai sieht Heims eine dritte Partei, die „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer. Horkheimer nahm auch an der Pariser Konferenz teil. Horkheimer und andere nahmen Freud sehr viel ernster als die Teilnehmer der Macy-Konferenzen Mead, Fremont-Smith und Frank, die die pessimistischen Elemente der Freudschen Theorie komplett ausgeblendet hatten. Horkheimer stellte dar, dass Charakterstrukturen von der Klassenzugehörigkeit und den sozioökonomischen Bedingungen abhängen. Auf Sullivan antwortete er, dass in der Vision des Psychiaters eine Gefahr läge. Man bekäme den Eindruck, dass die Ängste, die Sullivan korrekt auf die internationalen Spannungen beziehen würde, durch psychotherapeutische Maßnahmen adäquat behandelt werden können. Die Hauptaufgabe seiner Meinung nach läge allerdings eher in der Beseitigung der objektiven Gründe für solche Ängste. Diese Ängste seien nicht nur psychogener Natur.

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1947 findet der Gründungskongress der WFMH in London statt. Die ganze Sache wurde überaus groß angelegt. Das Internationale Komitee für Mentale Hygiene hat sich vor dem Krieg zweimal getroffen (1930 und 1937); daraus kann man schließen, dass damals die Zeit für eine solche Institution noch nicht reif war. Nach dem Zweiten Weltkrieg und mit Beginn des kalten Krieges ändert sich das. Drei Teilnehmer der Macy-Konferenzen sind auch gleichzeitig im Vorstand des Internationalen Komitees. Fremont Smith brachte es bis zum Präsidenten. Es wurde versucht, möglichst viele Akteure in die Planung für diese Konferenz einzubinden. Es gab 351 Vorbereitungsgruppen für die Konferenz, davon 100 in den USA. 3.500 Personen in 35 Ländern bereiteten diese Konferenz vor. Vorsitzender der Vorbereitungskommission war Lawrence Frank. Diese Konferenz sollte die Manifestation der größten Vision der Macy-Konferenz-Teilnehmer sein. Es wurde im Vorstand der Vorbereitungskommission (in dem Fremont Smith, Magret Mead und Harry Stack Sullivan saßen) diskutiert, ob die Konferenz nun eine wissenschaftliche oder eine politische Konferenz sein sollte; man entschied sich für das Erstere. Man diskutierte auch, ob das Forschungsinteresse in erster Linie Gruppen oder Individuen gelten sollte, man entschieden sich dafür, beide gleich zu behandeln. Eine zentrale Annahme des Kongresses war, „dass die menschliche Natur, wie man nun entdeckte, wesentlich plastischer und flexibler ist als bisher angenommen. Die Entwicklung der Persönlichkeit muss erforscht werden in Begriffen der interpersonalen Beziehungen, denen das Kind ausgesetzt ist.“ (Heims, S. 173) Der Kongress sollte so durchgeführt werden, dass Psychiater und Sozialwissenschaftler in den engsten Kontakt mit Politkern kamen. Lag der Fokus der Mental-Health-Forschung zuerst noch auf der mental gesunden Persönlichkeit, so ging es bereits 1947 um die mental gesunde Gesellschaft. In den folgenden Jahren spielten die Teilnehmer der Macy-Konferenzen weiterhin eine wichtige Rollen in dieser Organisation. Magret Mead veröffentlichte eine Studie unter dem Titel „Cultural Patterns and Technical Change“ (UNESCO 1955), um den Fokus auf die Entwicklung von „unterentwickelten“ Ländern zu richten. Die Ausgangsthese war, dass die Einführung moderner Technik in unterentwickelten Ländern zu psychologischen und sozialen Spannungen führen könne. Es gebe aber eine Möglichkeit, die gewährleisten könne, dass weitere neue Techniken problemlos eingeführt werden können. Diese Möglichkeit sei die Implementierung von „Mental Health“. Die implizite Aussage, so Heims, war, dass die amerikanischen und britischen Techniken der seelischen Gesundheit die angemessenen Strategien sind, um politische Konflikte zu lösen, die durch die aggressive Expansion des amerikanischen Kapitalismus ausgelöst wurden. Die versteckte politische Agenda war – wie gesagt – die damalige US-

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Politik des „Containment“ bzw. zu dieser Zeit des „Rollback“ gegenüber dem Kommunismus. Das Treffen in London, der (inoffizielle) Gründungskongress der WFMH, wurde auch als Erste Internationale der Seelischen Gesundheit bezeichnet. Ein Ergebnis war ein „Manifest“. Das war natürlich propagandistisch geschickt, denn man bediente sich der Sprache der Arbeiterbewegung, machte sich also nach links anschlussfähig. Es ging auf dem Kongress aber um eine liberale Alternative zum Marxismus. Darüber, wie denn genau mentale Gesundheit zu definieren war, gab es Differenzen in der Macy-Gruppe. Für McCulloch war es die Fähigkeit, wichtige Entscheidungen schnell und ohne Gewissensbisse zu entscheiden. McCulloch bezeichnet sich als zu radikal, um ohne genaues Wissen über die biologischen, chemischen und physikalischen Ursachen für Verhalten, Gefühle und Gesellschaft, Politik zu machen. Es war nicht in seinem Interesse, an der Gesellschaft „herumzubasteln“. Heims stellt McCullochs Meinung als Mindermeinung dar. Für die anderen Teilnehmer ging es um eine angestrebte ständige Selbstverbesserung der Menschen, ein ständiges Streben danach, eine „fully functioning person“ (Carl Rogers) zu werden. Entscheidend sei gewesen, dass die amerikanische Innen- und Außenpolitik kompatibel war mit der Mental-Health-Ideologie bzw. mit einem Verständnis von Gesellschaft, das auf interpersonalen Beziehungen aufbaut.17 Im kalten Krieg wollten viele humanistisch denkende Psychiater „etwas tun“ für den Frieden und da bot sich die WFMH als Plattform an. Sie hat auch möglicherweise widerspenstige, weil zu weit links stehende Personen aus dem psychosozialen Bereich absorbiert und neutralisiert. Allerdings beinhalteten die Anstrengungen der WFMH einen gewaltigen Widerspruch. Für die Menschen aus der dritten Welt und ihre Fürsprecher wie Mahatma Ghandi und Frantz Fanon bedeutet seelische Gesundheit eben nicht, die Werte und Technik des Westens anzunehmen bzw. sie sich aufstülpen zu lassen. Ihnen ging es um Emanzipation und die Entwicklung eigener Identitäten. Heims meint zu recht, dass Fanon die psychologischen Bedürfnisse der Menschen in nichtwestlichen Gesellschaften wesentlich zuverlässiger beschrieben hat als die WFMH. Auf den Macy-Konferenzen wurde für eine damals noch in ferner Zukunft liegende Pax Americana geplant. In einer Zeit, die von Angst geprägt war (als dominierender „psychischer Krankheit“, im Sinne Riesmans, aber auch als Angst vor einem neuen Krieg) verbreiteten sie optimistischen Fortschrittsglauben. Damit bereiteten sie nicht nur den Boden für die Gegenwart, sondern dienen impli-

17 Und also nicht z.B. auf Basis marxistischer Klassentheorie interpretiert wird.

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zit als Vorbild für die heutige Arbeit im Sozialen und Public Health Bereich. Sie bereiteten den Boden für die postdemokratische Zivilgesellschaft (Colin Crouch). Es ging in den Konferenzen um das Individuum, die Gesellschaft als Ganzes war kein Thema. (Eine Ausnahme waren Ameisengesellschaften und das Thema „Gesellschaft als Patient“, wo Gesellschaft aber auch immer nur als Aggregation von Individuen verstanden wurde.) Von Zeit zu Zeit wurden auch tagespolitische Themen diskutiert. Das war allerdings schwierig, wie ein Zitat von McCulloch aus den unveröffentlichten Mitschriften der Konferenzen zeigt. Einige Teilnehmer waren als Regierungsberater „Geheimnisträger“, so dass im Gegensatz zum Anspruch gerade nicht offen diskutiert wurde. McCulloch formulierte eine Angst, die ihn befalle, wenn ein Thema nach dem andern auf der Konferenz zu einem Geheimnis, über das man besser nicht spreche, gemacht werde. (Heims 1991, S. 181) Macys Wurzeln in der Weimarer Republik Wie kam es zur Entwicklung der Mental-Health-Ideologie? Steve Heims These ist, dass diese auf deutsche Wissenschaftler zurückzuführen sei, die von den Nazis ins amerikanische Exil getrieben wurden. Nach Heims kam es in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg zu einem Kreativitätsschub in den deutschen Wissenschaften. Besonders die oft jüdischen vormaligen Außenseiter liefen zu Höchstform auf. Die Machtübernahme der Nazis wird als Aufstand des „autoritären Charakters“ dagegen gesehen. Also müssen die (u.a.) von jüdischen Forschern entwickelten sozialpsychologischen Modelle und Methoden, die vor allem um die Gestalt-Theorie und -Psychologie kreisten, von den Nazis als Bedrohung wahrgenommen werden. Also mussten diese Methoden dem autoritären Charakter entgegenlaufen. Und deshalb wurden sie in den Macy-Konferenzen auf ihre Tauglichkeit zur Erziehung von Menschen zu demokratiefähigen Subjekten überprüft. Demokratiefähig bedeutet fähig zu Selbststeuerung. Gut ins Konzept passte auch, dass die Weimarer Republik sich deutlich von einer sozialistischen Republik wie der UdSSR unterschied. Das Deutschland der Weimarer Republik war ein anerkannter Wissenschaftsstandort: Von den zwischen 1919 und 1933 verliehenen 36 naturwissenschaftlichen Nobelpreisen ging jeder dritte an einen Forscher aus Deutschland. Wesentliche, sich während der Weimarer Republik (1919–1933) entwickelnde psychologische Strömungen waren die angewandte Psychologie und die Gestalttheorie. Beeinflusst durch Max Wertheimer, Wolfgang Köhler und Kurt Koffka entsteht während der zwanziger Jahre die Berliner Schule der Gestalttheoretiker.

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Ausgehend von einer der „atomistischen“ Denkweise entgegenstehenden ganzheitlichen Geisteshaltung werden neue Vorschläge zur Bewertung von Wahrnehmungen und eine Reihe von „Gestalt-Gesetzen“ entworfen. Die Gestalttheorie nahm entscheidenden Einfluss auf die kognitive Psychologie. Die Psychotechnik, als Beispiel für die angewandte Psychologie, bewährte sich bereits während der kriegswirtschaftlichen Mangelökonomie des Ersten Weltkrieges. Der in den zwanziger Jahren folgende „Boom“ begründet sich vor allem auf der Entwicklung neuer Techniken zur Personalschulung und -auslese. Die modernen Instrumente der Personalauswahl, wie das „Assessment Center“ sind die „Erben“ der damals entwickelten Verfahren. Die Weimarer Kultur sei von einem Hunger nach Ganzheit beherrscht, so Heims. (Ebda., S. 208) Es sei in der Weimarer Republik ein übergreifender Konsens auch zwischen den unterschiedlichen Disziplinen gewesen, dass die moderne Welt den Menschen fragmentiere, ihn auseinanderbreche, ihn entfremde von der Gesellschaft und seiner wahrhaften inneren Natur. Allerdings kapitulierten die fortschrittlichen Gestalttheoretiker nicht vor Mystizisten, Vitalisten und politischen Reaktionären, die sich auch die Suche nach einer Ganzheit auf die Fahnen geschrieben hatten. Eben deshalb wurden viele von ihnen gezwungen zu emigrieren (oder emigrierten freiwillig) und das sei auch der Grund, warum die Gestalttheorie dann von Amerika aus als systemische Theorie ihren Siegeszug antreten konnte. Die tonangebenden angloamerikanischen Mechanisten in der Psychologie und ähnlichen Wissenschaften hatten einen anderen Hintergrund als die Gestalttheoretiker. Die amerikanische Psychologie war nicht philosophisch, sondern technologisch orientiert. Es ging um die Beeinflussung von menschlichem Verhalten, nicht um ein tiefgehendes Verständnis des Wesens des Menschen. Führender Wissenschaftler war der Behaviorist John Watson, Konditionierung das führende Konzept. Heims sieht große Unterschiede in den Mentalitäten zwischen Deutschen und Amerikanern zu der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Deutschen werden als philosophisch, tiefgründelnd, auf der Suche nach Ganzheiten beschrieben, die Amerikaner sind zukunftsaufgeschlossen, technikfreundlich und pragmatisch. In den Macy-Konferenzen ging es auch darum, diese beiden Denktraditionen zu verbinden, ein gegenseitiges Verständnis zu fördern. Aber es ging auch darum, vor dem Hintergrund der Kultur der Weimarer Republik den Nationalsozialismus zu verstehen und vor allem sich die Frage zu stellen, wie so etwas verhindert werden kann. Und hier setzen die Verschwörungstheorien ein. Die Hippiekultur und nachfolgend die gesamte Popkultur seit den 60er Jahren befriedigte Bedürfnis nach Ganzheit etc. sind demnach von Verschwörern konstruiert. Sex, Drugs and Rock’n’Roll sei die Strategie, die auf den Macy-Konferenzen „entwickelt“ wurde, um den Menschen zwar gruppendynamische Er-

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lebnisse zu verschaffen (Konzert, Rausch), aber gleichzeitig zu verhindern, dass sie eine „autoritäre Persönlichkeit“ entwickelten.18 Kurt Lewins (deutschstämmig, 1933 ausgewandert) Gruppendynamik und ihr Erfolg in den USA war eine der Inspirationsquellen für die antiautoritäre Hippiebewegung. Nicht mehr die Familie wurde als Grundbaustein der Gesellschaft gesehen, sondern die Kleingruppe, die Kommune. Das war ein Fortschritt gegenüber der deutschen Vorstellung von der Familie mit einem autoritären gottähnlichen Oberhaupt an der Spitze als Kern der Gesellschaft. Die Kleingruppe konnte autoritär geführt werden, sie konnte aber auch demokratisch und im laissez-faire Stil geführt werden. Auch hier zeigt sich wieder der Unterschied zwischen „deutscher“ und „amerikanischer“ Vorstellung. Die deutsche Vorstellung, die nach Adorno und Co autoritäre Persönlichkeiten konstruiert, ging von einer natürlichen Ordnung aus. So wie Gott Himmel und Erde beherrscht, so beherrscht der Vater die Familie, der Betriebsführer den Betrieb etc.; eine natürliche Ordnung, die auch heute noch von Neonazis propagiert wird. Diese Ordnung wird sich aber auch in Deutschland so schnell nicht wieder durchsetzen. Dazu ist die Umerziehung zu erfolgreich gewesen. Tatsächlich sind nicht-autoritäre Kleingruppen, die sich selbst als System mit Systemfunktionen sehen, erfolgreicher. Und nicht nur das, sie sind in der populären Vorstellung verankert. Das gilt auch für den ehemaligen Ostblock, der die kybernetischen und gruppendynamischen Vorstellungen übernommen hatte. Bereits 1943 beobachtete und postulierte Lewin (Heims 1991, S. 217), dass ein Wechsel von autoritären zu demokratischen Verhaltensmustern am besten in kleinen Gruppen gelernt werden kann. Er schlug vor, dass in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg ein Pyramidensystem zur Ausbildung „demokratischer Führer“ geschaffen wird. Allerdings sei solches Training nicht ausreichend, um die Deutschen umzuerziehen, es müsse noch ein Umsturz her, die Protagonisten der Gestapo, der SS etc. müssten vernichtet werden. Das Problem schon des Übergangs vom Kaiserreich in die Weimarer Republik sei gewesen, dass dieser nicht revolutionär genug vonstatten gegangen sei. Lewin bewahrte Reste von marxistischem Denken, nämlich das Basis-Überbaumodell, wonach das Sein das Bewusstsein bestimmt. Erst müssten die wirtschaftlichen und politischen Zustände so geändert werden, dass Demokratie überhaupt möglich ist, und das auch mit kriegerischen Mitteln. Lewin stand damit im Widerspruch zu anderen Verfechtern der mentalen Gesundheit. Im Gegensatz zu ihnen sah er die politische und ökonomische Basis als entscheidend in Bezug auf sozialen Wandel an. In seinen letzten Lebensjahren versuchte er die individualpsychologische Ebene mit

18 Vgl.: Lutz Dambeck: Das Netz. Die Konstruktion des Unabombers. A.a.O.

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der politischen und wirtschaftlichen zu verbinden. Lewin starb 1947, ohne sein Ziel erreicht zu haben.

E XKURS : S OZIALER K ONSTRUKTIVISMUS : E NCOUNTER - UND M ARATHONGRUPPEN Auch Humberto Maturana und Francisco Varela, die Mitbegründer und Päpste des „Radikalen Konstruktivismus“ und der Systemtheorie unternahmen gemeinsam mit Teilnehmern der Macy-Konferenzen Forschungsanstrengungen, besonders zur Erforschung von Wahrnehmung und Kognition. Maturana arbeitete mit McCulloch zusammen. McCulloch stand, wie gesagt, der Gestalttheorie eher ablehnend gegenüber, er vertrat die Auffassung, die Heinz von Förster später folgendermaßen formulierte: Die Sprache des Nervensystems kennt nur das Wort „klick.“19 Der Rest wird „konstruiert“. Heims resümiert, dass die meisten der Konferenzteilnehmer sich nach und nach vom traditionellem Positivismus und Behaviorismus abwandten und einem „sozialem Konstruktivismus“ (Heims, S. S. 274) zuwandten. Dieser „soziale Konstruktivismus“ wurde in den 60er und 70er Jahren in den sogenannten Encounterguppen und ihrer Radikalisierung, den Marathongruppen, popularisiert. Sie waren Therapiegruppen für „Nicht-psychisch-Kranke.“20 Ihr Ziel war die Selbstverbesserung ihrer Teilnehmer. Ihren Höhepunkt fand diese Bewegung in der Popularität diverser Sekten; am bekanntesten ist die Baghwansekte geworden. Der Begriff der Encountergruppe wurde Mitte der 1960er Jahre populär, doch gab es damals bereits seit 20 Jahren experimentell orientierte Gruppen, die meist als „T-Gruppen“ bezeichnet wurden, wobei das „T“ für Training im Umgang mit menschlichen Beziehungen stand. Die erste T-Gruppe, so Irvin Yalom (ebda. S. 574 f.), die Urform der experimentellen Gruppe, fand 1946 statt. Ihre Geschichte beschreibt er folgendermaßen: Der amerikanische Bundesstaat Connecticut hatte ein Gesetz über die Chancengleichheit auf dem Arbeitsmarkt erlassen („Fair Employment Practices Act“) und bat Kurt Lewin, bei der Ausbildung von Führungskräften zu helfen, die wirksam mit Spannungen zwischen Gruppen fertig werden und die die Einstellungen der Öffentlichkeit zu den Rassenunterschieden verändern sollten. Lewin organisierte einen Workshop, der aus Kleingruppen mit je zehn Mitgliedern bestand. Diese Gruppen wurden

19 Heinz von Foerster: Erkenntnistheorien und Selbstorganisation. In: Schmidt, Siegfried J. (Hg.): Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt/M. 1984, S. 134. 20 Irvin D. Yalom: Theorie und Praxis der Gruppentherapie. Stuttgart 2007.

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auf die damals übliche Weise geleitet. Sie waren im Grunde Diskussionsgruppen und analysierten private Probleme, die die Gruppenmitglieder vorbrachten. Lewin glaubte an die Maxime „Keine Forschung ohne Praxis, keine Praxis ohne Forschung“. Deshalb setzte er wissenschaftliche Beobachter ein, die die Interaktionen in den Kleingruppen aufzeichnen und enkodieren sollten. In Abendsitzungen trafen die Gruppenleiter und die wissenschaftlichen Beobachter zusammen und trugen ihre Beobachtungen des Verhaltens der Gruppenleiter, der Mitglieder und der Gesamtgruppen zusammen. Bald erfuhren einige Teilnehmer von diesen Abendsitzungen und baten, man möge sie teilnehmen lassen. Dies war eine radikale Forderung, so Yalom. Die Mitarbeiter zögerten, und zwar nicht nur, weil sie sich scheuten, ihre persönliche Unzulänglichkeit zu offenbaren, sondern auch, weil sie unsicher waren, wie die Teilnehmer reagieren würden, wenn in aller Öffentlichkeit über ihr Verhalten gesprochen würde. Schließlich gestattete man den Gruppenmitgliedern versuchsweise, an den Abendsitzungen teilzunehmen. Beobachter, die über diese Erfahrung etwas geschrieben haben, berichteten, dass die Wirkung sowohl auf die Teilnehmer als auch auf die Mitarbeiter „elektrisierend“ (Yalom 2007, S. 575) gewesen sei. Es war erregend, eine eingehende Besprechung des eigenen Verhaltens mit anzuhören. Bald wurden die Abendsitzungen erweitert, so dass die Teilnehmer Gelegenheit hatten, auf die Beobachtungen zu reagieren, und bald darauf waren alle an der Analyse und Interpretation ihrer Interaktionen beteiligt. Man war sich weitgehend einig, dass diese Sitzungen den Teilnehmern ein neues und reichhaltiges Verstehen ihres eigenen Verhaltens ermöglichte. Tatsächlich kann das Verhalten jetzt immer weiter trainiert, verbessert werden. Die Teilnehmer erkennen, dass sie unzulänglich, nicht perfekt sind. Ihrem Verhalten wird so die Selbstverständlichkeit genommen. Lewins Mitarbeitern wurde sofort klar, so berichtet Yalom, dass sie ganz ohne Absicht eine höchst wirksame Erziehungstechnik zur Förderung der menschlichen Beziehungen entdeckt hatten – Lernen durch Erleben. Gruppenmitglieder lernen am meisten, indem sie das Gruppengeflecht untersuchen, dem sie selbst angehören. Dies ist die Kernidee der Gruppentherapie, der Selbsthilfegruppen und der Encountergruppen. Die Mitarbeiter entdeckten, dass die Gruppenmitglieder in ungeheurem Maße davon profitierten, dass sie auf „objektive Weise“ (Yalom) damit konfrontiert wurden, wie andere ihr Verhalten wahrnahmen und wie es auf sie wirkte. Auch der heute noch gebräuchliche Begriff des „Feedback-Gebens“ in Gruppen geht auf Kurt Lewin zurück. Feedback, Rückkopplung ist ein aus der Elektrotechnik entlehnter Begriff, der in der Kybernetik eine wichtige Rolle spielt. Lewin und die frühen Gruppenleiter hielten es für einen entscheidenden Mangel der Gesellschaft, dass der Einzelne zu wenig Feedback von Menschen ihrer un-

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mittelbaren Umgebung wie Vorgesetzten, Kollegen, Ehepartnern, Lehrern und Schülern erhielten. Feedback, das zu einem wesentlichen Bestandteil aller TGruppen (und aller Therapie- und vieler Selbsthilfegruppen) wurde, war, wie man feststellte, am wirksamsten, wenn es auf Hier-Und-Jetzt-Beobachtungen basierte und so nah wie möglich auf das auslösende Ereignis folgte und wenn der Empfänger es mit anderen Gruppenmitgliedern überprüfte, um seine Gültigkeit zu bestätigen und Verzerrungen der Wahrnehmungen zu reduzieren. Es gibt negatives und positives Feedback. Das entspricht einer Konditionierung. Die angestrebte Umprogrammierung der Menschen machte Lewin mit dem Begriff des „Auftauens“ deutlich. Dieser Begriff bezeichnet die Entkräftung früherer Einstellungen. Bevor eine Veränderung eintreten kann, so Yalom, muss die Motivation zur Veränderung erzeugt werden. Man muss dem Menschen helfen, viele fest verwurzelte Meinungen über sich selbst und seine Beziehungen zu andern zu überprüfen. Das Vertraute muss fremd gemacht werden; viele im normalen Alltag gebrauchte Stützen, soziale Konventionen, Statussymbole und gewöhnliche Verfahrensregeln wurden aus der T-Gruppe verbannt, und die Wertvorstellungen und die Ansichten des Einzelnen über sich selbst wurden infrage gestellt. Es wurde ein höchst unbehaglicher Zustand für die Gruppenteilnehmer erzeugt. Yalom zitiert eine Studie, an der er selbst beteiligt war (M. Lieberman, I. Yalom, M. Miles: Encounter Groups: First Facts. New York 1973). Dies sei die umfassendste und teuerste Untersuchung dieser Art von Gruppen gewesen. Das Ergebnis der Untersuchung war wenig erfreulich: „Kritisch kann man sagen […] für etwa zwei Drittel aller Probanden, die eine von einem anerkannten Fachmann geleitete 30-stündige Encountergruppe begannen, war dieses Erlebnis eher negativ (sie brachen die Arbeit ab, bekamen tatsächlich psychische Probleme, veränderten sich negativ oder blieben unverändert).“ In wahrlich selbstbetrügerischer Absicht behauptet Yalom aber, dass man diejenigen, die die Teilnahme abbrachen, einfach nicht mitberücksichtigen solle. Dann ergebe sich, dass 39% der Teilnehmer positive persönliche Veränderungen erlebten. Das bedeutet aber auch, dass das für die große Mehrheit eben nicht gilt. Yalom, ganz im Stil des positiven Denkens: „Wenn wir jedoch der Ansicht sind, das Glas sei zu einem Drittel voll und nicht zu zwei Dritteln leer, können wir uns nur schwer der Folgerung entziehen, dass die Encountergruppe […] als kraftvolles Veränderungs-Agens erscheint.“ (Ebda., S. 584) Die Methoden der Encountergruppen wie Feedback, gruppentherapeutisches Auftauen, soziometrische Anwärmung etc. sind heute selbstverständlicher Bestandteil der therapeutischen Popkultur. Die Mode der Encountergruppen kulminierte dann in den sogenannten Marathongruppen der 60er und 70er Jahre:

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„Die Marathongruppe wurde zu jener Zeit in vielen auflagenstarken amerikanischen populären Zeitschriften, Zeitungen sowie in romanhaften Beschreibungen ausführlich dargestellt. Sie kam zu extrem langen Sitzungen zusammen, 24 bis 48 Stunden lang, wobei wenig oder gar keine Zeit zum Schlafen vorgesehen war. Von den Teilnehmern wurde gefordert, die ganze festgesetzte Zeit zusammenzubleiben. […] Das Gewicht dieser Gruppen lag auf totaler Selbstoffenbarung, intensiver interpersonaler Konfrontation und affektiver Beteiligung und Anteilnahme. Später wurde die Form der Langzeitsitzungen von kommerziellen Ansätzen wie EST (Erhard Seminar Training) und Lifespring (kommerzielle Encounter-Anbieter) aufgegriffen; mittlerweile sind diese Trainingsprogramme für Gruppengewahrsein im großen Rahmen praktisch verschwunden. Befürworter der Langzeitgruppe behaupteten, das Verfahren beschleunige die Gruppenentwicklung, intensiviere das emotionale Erleben und komprimiere einen sonst langwierigen Therapieverlauf auf einen Tag oder ein Wochenende. Die emotionale Intensität des Gruppengeschehens und die durch den Schlafmangel hervorgerufene Erschöpfung sollten angeblich ebenfalls das Aufgeben sozialer Masken beschleunigen. Die Resultate dieser Therapie in Marathongruppen, von denen in Massenmedien wie auch in wissenschaftlichen Zeitschriften berichtet wurde, waren überwältigend und übertrafen sogar die Behauptungen, die heutzutage über die persönlichkeitsverändernde Wirkung von Prozac und anderen pharmazeutischen Wundermitteln in die Welt gesetzt werden: ‚80% der Teilnehmer durchlaufen aufgrund einer einzigen Sitzung signifikante Veränderungen‘; ‚90 % von 400 Mitgliedern von Marathongruppen betrachten die Sitzung als eine der wichtigsten und bedeutsamsten Erfahrungen ihres Lebens‘; ‚Die Marathongruppentherapie ist ein Durchbruch in der psychotherapeutischen Praxis‘; ‚Die Marathongruppe ist zu einem einzigartigen Agens der Veränderung geworden, das eine Geschwindigkeit des Lernens und der Anpassung an neue Verhaltensweisen ermöglicht, die unter traditionellen Bedingungen wahrscheinlich nicht eintreten‘; ‚Wenn alle Erwachsenen an einem Marathon teilgenommen hätten, gäbe es keine Kriege mehr, wenn alle Jugendlichen in einem Marathon gewesen wären, gäbe es keine jugendlichen Straftäter mehr‘. Und der gleichen mehr.“ (Zitate aus wissenschaftlichen oder populärwissenschaftlichen Zeitschriften, Yalom 2007, S. 320)

Vor dem Hintergrund dieser Bewegung wird die Rede von der therapeutischen Gesellschaft deutlich. Jeder Mensch muss psychisch krank (bzw. „defizitär“) sein, um sich selbst verbessern zu können. Es nimmt nicht wunder, dass solche Bewegungen auf Dauer zu einer Gesellschaft der „erschöpften Selbste“ beitragen.

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E XKURS : M ENTAL H EALTH UND S CIENTOLOGY Auf der Welle der „mentalen Gesundheit“ wurde auch ein anderer überaus erfolgreich. Im Jahr 1950 veröffentlichte der bis dahin unbekannte Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard das Buch „Dianetics: The Modern Science of Mental Health“. Die „Scientology-Kirche“, bei der die Angaben zur Mitgliederzahl zwischen 10 Millionen und 100.000 (Wikipedia) schwanken, bietet eine therapeutische Dienstleistung, die z.B. auch Psychotherapeuten oder Selbsthilfegruppen anbieten, als gewerbliche Dienstleistung mit einem religiösen Hintergrund. Interessenten werden mit einem Psychotest angeworben, der 200 Fragen enthält. Bei der Beantwortung des Testes müssen sich Schwächen ergeben, darauf ist der Test angelegt. Diese Schwächen kann man dann durch Kurse bekämpfen oder aufarbeiten. Die Kurse sind gebührenpflichtig. Ziel der Kurse ist es zunächst, eine Stufe namens „Clear“ zu erreichen. In dieser Stufe ist das „reaktive“ Denken und Fühlen und Handeln ausgeschaltet, man handelt, denkt und fühlt nur noch analytisch. Nun kann man jenseits von Angst, Depression und Drogensucht Situationen beherrschen, die einen früher völlig aus der Fassung gebracht hätten. Das ist Stufe 1 auf dem Weg zur „fully functioning person“ nach Scientology Vorstellung. Die weiteren Stufen bis hin zum „frei operierenden Thetan“ sind dann reines Science Fiction und extrem teuer. Trotz ihres Preises und offensichtlicher Absurdität verkaufen sie sich aber trotzdem. Herzstück der scientologischen Lehre ist die Vorstellung, dass das unsterbliche Wesen jedes Menschen, der „Thetan“, durch traumatische Erlebnisse und insbesondere durch zwei Ereignisse vor Urzeiten massiv in seiner Funktionsweise beeinträchtigt worden sei. Es geht dabei um Millionen Jahre alte Seelen von Außerirdischen, die Millionenfach von einem galaktischen Herrscher namens Xenu vor Millionen Jahren zur Erde gebracht wurden, in Vulkane gesperrt und mittels Wasserstoffbomben gesprengt wurden, und die jetzt umherspuken und eine völlig freie Entwicklung des „Clear“ zum „operierenden Thetan“ verhindern. Scientology-Technologien, insbesondere das Auditing, könnten die Funktionen des Thetan zumindest teilweise wiederherstellen. Peter Sloterdijk schreibt dazu: „Der Ausgangspunkt für Hubbards Kampagne liegt in der Kulturkrise der späten vierziger Jahre, die für den Autor zugleich eine Periode persönlicher Rückschläge markierte. Zu dieser Zeit durfte der Autor einen Markt für Lebensberatungs- und Selbsthilfeliteratur mit starkem Wachstumspotential voraussetzen. Auf ihm wirkten psychoanalytische, lebensphilosophische, seelsorgerische, unternehmensberaterische, psychagogische, religioide, diätische und fitnesspsychologische Motive durcheinander. Hubbards ingeniöser Ansatz

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bestand darin, diese Nachfragen in einem einzigen Punkt zusammenzuziehen.“ (Sloterdijk, 2009, Du musst …, a.a.O., S. 155)

Und zwar in seiner Lehre der „Dianetik“. Dianektik setzt sich zusammen aus: gr. dia durch und nous Geist. Alle Probleme werden also „durch den Geist“ gelöst. Es handelt sich um eine Variation des positiven Denkens. Hubbards neue Methode stellt sich als „moderne Wissenschaft der geistigen Gesundheit“ vor. Daher auch die Konkurrenz und Feindschaft zur (Schul-) Psychiatrie. Hubbard behauptet nämlich für sein Ziel, die geistige Gesundheit, einen Alleinvertretungsanspruch. Die Dianetik verkündet die Lösung aller Probleme in einer definitiven Klarheit. Deshalb können nur wahnsinnige oder bösartige Menschen ein Interesse an der Verhinderung der Dianetik haben. Und man verfügt mit der Dianetik über ein neues und sicheres Kriterium zur Diagnose von psychopathologischen Anlagen: die Gleichgültigkeit bzw. Feindseligkeit gegenüber ihren Angeboten. In der Sache ist die Dianetik nicht mehr als eine simplifizierte und technifizierte Variante der psychoanalytischen Grundannahme, eine kybernetisch simplifizierte Psychoanalyse. Die Freudschen Systeme des Bewussten und des Unbewussten werden „gutgelaunt“ (Sloterdijk 2009, S. 157) ersetzt durch die Unterscheidung von analytischem Geist und reaktivem Geist. Im letztgenannten liegt die Summe aller Probleme verborgen, während im ersten die Lösungen aller Probleme gefunden werden. Es ist also Aufgabe des analytischen Geistes, den reaktiven Geist zu entrümpeln. Wer den pathologischen Speicher gelehrt hat, hat die Alleinherrschaft des analytischen Geists erreicht und derjenige darf sich dann „Clear“ nennen. „Alles Processing geschieht unter der Maxime: Wo reaktiver Geist war, soll analytischer Geist werden. Nichts anderes als die Herstellung von Geklärtem ist das Ziel der dianetischen Prozeduren. Durch sie werden die Klienten, gleich über welche Beschwerden sie klagen, auf inneren Zeitbahnen zu den ‚Engrammen‘ in ihrem pathologischen Gedächtnis zurückgeführt, wobei oft Schlösser (locks) vor den pathologischen Speicherinhalten geöffnet werden müssen. Die Zurückführungen erfolgen in der Annahme, durch Erinnerung (recall) würden die alten Engramme gelöscht und die von ihnen bewirkten ‚Aberrationen‘ behoben.“ (Sloterdijk 2009, S. 158)

Das sei eine Annahme, die Ende der Vierziger durch die Psychoanalyse und durch Alfred Hitchcock populär gemacht wurde, obwohl sie es nie zu mehr als Scheinplausibilität gebracht habe. Für Sloterdijk gehört die Episode Dianetik/Scientology in eine breite geistesgeschichtliche Strömung, die er als techno-gnostische Wende der westlichen

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Psychologie bezeichnet. Hier wurde sie schon als die kybernetische Wende der Macy-Konferenzen vorgestellt. Dies sieht auch Sloterdijk: „Die Philosophie der Kybernetik macht es möglich, eine allgemeine Theorie der Götterdämmerungen zu schreiben.“ Warum? Weil durch den Computer und seine Vorläufer gezeigt wird, dass Geist nicht nur eine rein menschliche Angelegenheit ist, sondern dass auch Maschinen „Geist“ besitzen. Reflexion ist eine Eigenheit der Materie und kein Privileg der menschlichen Intelligenz. Hubbard ließ es nicht mit der Erfindung von neuen Therapien bewenden. Nach dem großen Erfolg seines Selbsthilfe-Ratgebers „Dianetics. The Modern Science of Mental Health“ wurde er zum Religionsstifter. Unverkennbar, so meint Sloterdijk, sei hier ein Element von Flucht nach vorn im Spiel, weil Hubbard die Reaktion der organisierten Ärzteschaft fürchten musste. Dieser Schachzug war genial. So ist in vielen Ländern die von ihm gegründete Selbsthilfegemeinschaft als Religion anerkannt – auch in der Europäischen Union seit einem Urteil des Europäischen Gerichtshof vom April 2007. Die Scientologykirche kann somit als eine der erfolgreichsten Selbsthilfebewegungen zur Förderung der mentalen Gesundheit bezeichnet werden. Als Stimme im Chor der therapeutischen Erzählung spielt die Scientologysekte in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle. Im Gegenteil: Die von Konkurrenzdenken angetriebenen antipsychiatrischen Aktivitäten der Sekte haben der Schul-Psychiatrie unfreiwillig zu neuem Ansehen verholfen. Diese antipsychiatrischen Aktivitäten haben die zum Teil völlig anders motivierten weiteren antipsychiatrischen Bewegungen in Misskredit gebracht. In der öffentlichen Wahrnehmung stellt sich das so dar: Wer von der irrationalen, und gefährlichen Scientologysekte bekämpft wird, muss gut sein und unterstützt werden. Die Citizen's Commission on Human Rights (CCHR), eine der Frontorganisationen von Scientology, steckt häufig hinter persönlichen und fachlichen Angriffen auf Angehörige medizinischer Berufe, insbesondere auf die American Psychiatric Association APA. Die CCHR wurde 1969 gegründet um psychiatrische „Verstöße gegen die Menschenrechte“ zu untersuchen und zu veröffentlichen. Zu diesen „Verstößen“ gehört die Anwendung der Elektrokrampf-Therapie, die Anwendung von Methylphenidat (Ritalin®) bei Kindern mit Konzentrationsstörungen und jede psychiatrische pharmakotherapeutische Behandlung durch Anwendung von Phenothiazin bis Prozac® (siehe dazu auch das Kapitel „Die Prozac-Story“). Die CCHR erklärte der Newsweek den Krieg, als diese in einer Ausgabe eine Titelgeschichte über Prozac® brachte. Seit einigen Jahren veranstalten die in der CCHR organisierten Scientologen gleichzeitig zur Jahresversammlung der APA Demonstrationen. Manchmal fliegen Flugzeuge mit einem Banner „PSYCHIA-

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TRY KILLS“ am Himmel. Diese Proteste führen oft zu beträchtlicher Berichterstattung in den Medien. Zwischendurch wird auf verschiedenste Weise seit Jahren gegen einzelne Kritiker demonstriert, sie werden verleumdet, geschmäht und belästigt.21 In Deutschland ist die „Kommission gegen Verstöße der Psychiatrie gegen Menschenrechte“ (KVPM) im Auftrag von Scientology aktiv.22 Hier versuchte die Sekte Anschluss an die antipsychiatrische Bewegung zu bekommen. So fand z.B. vom 29.6.–2.7.2001 in Berlin das „5. Russell Tribunal“, organisiert vom „Bundesverband der Psychiatrieerfahrenen“, das ist keine Scientology-Organisation, statt. Kurz danach organisierte die KVPM einen „Protestmarsch gegen Missbräuche der Psychiatrie“ und ein KVPM-Symposium „Biologische Psychiatrie – Psychiatrie ohne Ethik“. Auch durch diese Strategie der Sekte wurde die antipsychiatrische Bewegung, nicht die Psychiatrie, in Misskredit gebracht.23 Das „5. Russel-Tribunal“ war die letzte größere antipsychiatrische Manifestation in Deutschland.

21 L.J. West: Psychiatry and Scientology. In: „The Southern California Psychiatrist“, Juli 1990, Seiten 6 -13 Zit. nach: http://www.lichtblick99.de/so.pdf. 22 Diese zeigt gelegentlich eine Ausstellung mit dem Titel „Psychiatrie: Tod statt Hilfe“. http://www.kvpm.de/inhalt-der-ausstellung.html. 23 Vgl. http://www.lichtblick99.de/so-kvpm5.html. Dabei handelt es sich um eine Gegendarstellung auf der website der Familien-Selbsthilfe Psychiatrie Landesverband Mecklenburg-Vorpommern der Angehörigen und Freunde psychisch Kranker e.V. (LApK M-V e.V.) vor dem Hintergrund eines Konflikts zwischen Scientology und einem Organisator des Kongresses.

USA: Der Weg in die depressive Gesellschaft

„N ERVOUSNESS “ IN DER US- AMERIKANISCHEN „ CONSUMER CULTURE “ DER ERSTEN H ÄLFTE DES 20. J AHRHUNDERTS Laura Hirshbein, Psychiaterin und Historikerin an der Universität von Michigan, untersucht das Thema Depression aus kulturwissenschaftlicher Perspektive.1 Depression sei zwar auch eine ernst zu nehmende Krankheit, aber die Bandbreite der Krankheit lasse vermuten, dass sie doch etwas anderes sei, etwas, das in der Schnittmenge zwischen populärer Kultur (Konsumentenkultur, consumer culture, Verbraucherkultur, Konsumkultur) und Medizin anzusiedeln sei. Depression, so Hirshbein, sage mehr über die US-amerikanische Kultur und Gesellschaft aus, als über die geistige bzw. psychische/mentale Gesundheit der US-Amerikaner. Sie meint, zwar habe es immer in der Geschichte der westlichen Medizin so etwas wie Depression gegeben. Neu sei aber, dass Depression oder Melancholie, also das Unwohlsein, das Problembehaftete, das Nichtzurechtkommen und die Suche nach (gebührenpflichtiger) Hilfe integraler Teil einer kapitalistischen Consumer Culture wurde. Während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, so Hirshbein, kamen immer mehr Magazine und Zeitschriften auf den US-amerikanischen Markt, die sich durch Werbung finanzierten. Sie instruierten die Verbraucher mit Geschichten, Ratschlägen und Werbung. Dabei wurde oft subtil mit der Angst vor Blamage, der Angst vor gesellschaftlichem Außenseitertum geworben. Das ist die Angst, die die amerikanischen Soziologen Thorstein Veblen und David Riesman beschrieben. In allen Magazinen und Zeitschriften, die Hirshbein untersuchte, begegnete den Lesern in den ersten 20 Jahren des 20. Jahrhunderts sowohl Berichte über Geisteskrankheiten, von denen aber nur die Insassen einer Anstalt betroffen

1

Laura Hirshbein: American Melancholy, Rutgers University Press 2009.

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sein konnten als auch Berichte über „Nervousness“, nervöse Störungen, von denen jedermann betroffen sein konnte. Seit den dreißiger Jahren verschwand diese Trennung in den Darstellungen der populären Zeitschriften langsam. Es wurde die Idee verkauft, dass alle Menschen von psychischen Krankheiten befallen werden können. Das war ein Erfolg des “Mental-Health-Movements“ (Psychohygienebewegung) und der Psychoanalyse. Den Lesern wurde beigebracht, dass mentale Gesundheit, psychische Gesundheit etwas ist, das man erwerben kann, ein Ziel das man verfolgen und dem man nachjagen kann – ein Lebenssinn. Der Erfolg der Psychohygiene in den Massenmedien hatte wirtschaftliche, marketingtechnische Gründe. Wer psychisch gesund ist (oder besser gesagt „mental gut drauf“), ist beliebt und umgekehrt. Produkte, die zur Steigerung von Beliebtheit beitragen (wie alle kosmetischen Produkte z.B.), tragen dann auch zur psychischen Gesundheit bei, so die Logik. Konsumieren erhöht das psychische Wohlbefinden, war die Losung. Der Erwerb von Waren fördere das Wohlbefinden und gesamtgesellschaftlich die Psychohygiene der Bevölkerung. Werbung spielte eine wichtige Rolle in der Konstruktion der Volkskrankheit Depression (vgl. auch das Kapitel zu Patentmedizinen). Der berühmte behavioristische Psychologe John B. Watson und Siegmund Freuds Neffe Edward Bernstein arbeiteten für Werbeagenturen und lehrten die Industrie, wie sie ihre Produkte verkaufen kann. Sie brachten das „therapeutische Ethos“ in die Werbung. Seife wird nun nicht mehr nur als saubermachend verkauft, sondern auch als „Versprechen der seelischen Sicherheit und Zufriedenheit“ (Greenberg S. 100). Die Werbung entdeckte, dass, wenn man den Schmerz der Menschen benennen kann, man ihnen eine Kur dagegen verkaufen kann. Hirshbein schreibt: „Mental hygiene was the first major consumer product in popular literature and prepared the way for increasingly consumerized approaches toward mental health and illness in the second half of the century.“ (Hirshbein, S. 17) Diese Zeit, so der amerikanische Kulturwissenschaftler Jackson Lear, sei der Beginn eines Wechsels weg von der protestantischen Ethik der Selbstverleugnung ausgerichtet auf ein Jenseits hin zu einem therapeutischen Ethos der Betonung der Selbstverwirklichung in dieser Welt. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts erfuhren die Patienten-Konsumenten erstmalig aus den Massenmedien, wie sie sich am besten selbst helfen konnten, ihre psychische Gesundheit weiter zu entwickeln oder aufrecht zu erhalten. Eine weitere Wurzel der sogenannten „Selbsthilfebewegung“ ist in diesen Ratgeberkolumnen der Illustrierten zu sehen. Was ist der Sinn dieser Ratgeberkolumnen? Der Sinn ist in erster Linie, mehr Leser für die Zeitschrift zu gewinnen und die Preise für den Anzeigenraum zu steigern und so mehr Profit zu machen. Die meisten Ratschläge betrafen Common-Sense-Interventionen zur erfolgreichen Psychohygiene, wie Empfehlungen für ausreichenden Schlaf, gesunde Ernäh-

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rung, Ausgleich zwischen Arbeit und Entspannung (heute: „Work-life-balance“). Die Mehrzahl der Ärzte oder der ärztlichen Ratschläge in den Illustrierten forderten die Patienten auf, zunächst ihren Lebensstil zu ändern, bevor sie einen Arzt aufsuchten, sich also erst einmal selbst zu helfen. Warum wurden die Ratgeber erfolgreich? Die „Furcht vor der Freiheit“ In seinem klassischen Essay über die Furcht vor der Freiheit von 19412 nimmt Erich Fromm die Debatte um den „flexiblen Menschen“ vorweg. Der Aufsatz bezieht sich auf die US-amerikanische Gesellschaft dieser Zeit. Das moderne Individuum beschreitet demnach trostlose Pfade in seinem Bemühen, der Einsamkeit und Seelenqual zu entkommen, die einhergeht mit der neu entdeckten Freiheit. Obwohl die Selbstverantwortung des Einzelnen in offizieller Propaganda stark unterstrichen wird, wird gleichzeitig durch die rasche wirtschaftliche und technische Entwicklung erwartet, dass man in hohem Maße flexibel bleibt, sich also anpasst. Gab es früher klar erkennbare Autoritäten, gegen die man sich auflehnen konnte, ist 1941 für Fromm keine persönliche Machtquelle mehr ausfindig zu machen. Alle Macht scheint sich entpersonalisiert zu haben und ist höchstens noch als anonymer Markt fassbar, für dessen Wirkungsweise die Gesetze von Angebot und Nachfrage gelten und somit kein Einzelner belangt werden kann. Aus dieser Anonymität heraus entspringt die auch von David Riesman beschriebene Haltung, das zu tun, was alle anderen auch tun. Dieser Verlust von Individualität und Identität führt zu höchster Konformität, die in der Gesellschaft extrem auffällig ist und die durch die zur Schau gestellte Individualität noch unterstrichen wird. Egal ob der Einzelne intelligent oder dumm, gesellschaftlich hoch oder niedrig gestellt ist, alle scheinen denselben Lebensrhythmus zu haben: Alle lesen dieselben Zeitungen und Bücher, sehen sich dieselben Filme und Sendungen im Fernsehen an. Da das Verlangen nach möglichst viel Profit dem schlichten Wunsch nach einem geregelten Einkommen gewichen ist, arbeiten zudem alle im selben Rhythmus. Vor allem aber produzieren und konsumieren die Menschen, ohne Fragen zu stellen und scheinen es regelrecht zu vermeiden, Begebenheiten, Ursprünge und Gesamtzusammenhänge der Konsumprodukte in Erfahrung zu bringen. An die Stelle eines individuellen Gewissens ist das Verlangen getreten, sich möglichst gut anzupassen und dafür Anerkennung durch andere zu erhalten. Um mit David Riesmann zu sprechen:

2

Erich Fromm: Die Furcht vor der Freiheit, München 1993 (1941). Engl. Original: Escape from Freedom.

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Der Mensch verliert seinen Orientierungskern, er wird von der innengeleiteten Persönlichkeit, die einen solchen Kern hatte und wusste, was sie will, zur außengeleiteten Persönlichkeit, die sich nur noch an den Erwartungen ihrer Umwelt orientiert. Dieser Persönlichkeitstyp hat keine Identität mehr, bzw. kann er diese wechseln wie seine Unterwäsche, er muss sich ständig selbst erfinden. Das ist im Wesentlichen auch Alain Ehrenbergs und Eva Illouz Thema. Fromm, Ehrenberg und Illouz sind psychoanalytisch orientiert.

D AVID R IESMANNS „D IE

EINSAME

M ASSE “

Wenn die Führer die Macht verloren haben, weshalb ist sie nicht in die Hände der Geführten gelangt? Verhindern das Wesen des außengeleiteten Menschen und seine Lebenslage eine solche Machtübernahme?3

Im Vergleich zu 1938 leiden junge Menschen im Jahr 2010 in den USA bis zu sechsmal so häufig unter affektiven Störungen.4 Auch Ängste sowie Persönlichkeits- und Verhaltensstörungen haben stark zugenommen. In den USA werden seit Ende der 60er Jahre regelmäßig Sekundarschüler mithilfe des Minnesota Multiphasic Personality Inventory (MMPI) befragt, dessen 567 Einzelfragen zwischen 60 bis 90 Minuten zur Beantwortung brauchen. Da hier Symptome und keine Diagnosen – die sich im Laufe der Zeit deutlich verändert haben – abgefragt werden, scheinen die Ergebnisse sicher zu sein; es stehen die Daten von 77 500 Studenten zur Verfügung. Die Autoren der Studie meinen, die Ursachen lägen in einem Wandel der Motivations-Orientierungen. Früher wurden die Menschen motiviert durch eine „intrinsische Orientierung“ (Gemeinschaft, Lebenssinn, Zugehörigkeit). Heute sei diese Orientierung viel materialistischer, sie sei abgelöst durch eine „extrinische Orientierung auf Status, Geld und Aussehen“. Die Unerfüllbarkeit des schönen Scheins für viele führe zu affektiven Störungen. Wie kam es zu dieser Entwicklung? Bereits der Titel des 1950 veröffentlichten Bestsellers des Soziologen David Riesmann kann als Metapher für eine „depressive Gesellschaft“ verstanden wer-

3

David Riesman: Die einsame Masse. Reinbek 1958, S. 251.

4

Jean M. Twenge et al.: Birth cohort increases in psychopathology among young Americans, 1938–2007 : A cross temporal meta-analysis of the MMPI. Clinical Psychology Review, Bd. 30/2, 2010, 145–154.

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den. Der „moderne“ Mensch ist zwar ein „Massenwesen“ aber gerade deshalb einsam und ängstlich. Riesmann sieht in der modernen Gesellschaft eine gesteigerte seelische Verarmung. Diese demonstriert er am modernen Freizeitverhalten. Angst und Sorge seien jetzt, also vor 1950, in den Freizeitbereich eingedrungen. Unterhaltung (Entertainment) diene der Anpassung an die Gruppe. Der „außengeleitete Sozialcharakter“ orientiere sich nicht mehr an seinem Elternhaus, sondern an seiner „peer group“. Das ist die Gruppe der Gleichaltrigen, die „Kumpels“. Weiterhin im Gegensatz zum innengeleiteten Sozialcharakter hat der außengeleitete Mensch Zugang zu einem reichen Schrifttum an Ratgebern, Illustrierten etc., das ziel- und richtungsweisend für sein Verhalten in allen von Wirtschaft und Produktion abgekehrten Bereichen sein soll. Solche Anleitungen seien erforderlich in einer Situation, in der so gut wie keine traditionsgeleiteten Verhaltensmuster mehr bestehen. Infolgedessen gebe es auch keine Möglichkeit mehr, Lebensart und -regeln in der Familie zu lernen. In den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts sieht Riesman eine neue Art von (Selbsthilfe-) Ratgebern entstehen5, die Bücher von Dale Carnegie. 1937 erschien in den USA Carnegies How to make friends and influence people. Dieses Buch wurde 1938 ins Deutsche übersetzt. Was ist das Neue an diesen Ratgebern? Sie sind nicht nur dazu da, um geschäftliche Erfolge zu erzielen, sondern es werden selbsterzieherische Übungen empfohlen, um der Freizeit zugehörige Ziele zu erreichen, etwa Beliebtheit und Popularität. Noch deutlicher sei das bei Carnegies Buch How to Stop worrying and to start living von 1948, Deutsch: Sorge dich nicht – lebe (1949) zu sehen: „Hier zielt die Selbstmanipulation nicht auf wirtschaftliche und soziale Leistung ab, sondern wird durch die Besinnung auf das eigene subjektive Ich und die eigene Vorstellungswelt dazu benutzt, sich mit seinem Schicksal und seiner gesellschaftlichen Stellung abzufinden.“ (Riesmann, S. 163) Das ist ein zentraler Gedanke dieser Form von „Selbsthilfe“. Selbsthilfe ist somit nicht nur Ausdruck einer seelischen Verarmung sondern auch ihr Agent. Sie ist im Wesen fortschrittsfeindlich und Status-Quo-orientiert. Riesman weist darauf hin, dass es bereits Anfang der 50er Jahre einen Boom der Selbsthilfeliteratur gegeben hat, abzulesen an weiteren Bestsellern (Calm youself, How to be Happy While Single etc.) und einer Reihe von Zeitschriften zu

5

Begründer dieser Tradition war der schottische Journalist und Chartist Samuel Smiles (1812-1904). Er verfasste in sozialreformerischer Absicht ein Buch mit dem Titel „Self-Help“ (London, 1859). Ein Ziel war die Unterstützung von „Mutual Improvement Societies“, Arbeiter- und Handwerkerorganisationen zur gegenseitigen Unterstützung.

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dem Thema (Journal of Living, Your Personality, Your Life, 163). In der Anzeige für das Buch „How to be Happy While Single“ geht es laut Riesmann um folgende Themen: „ Dein Verhalten im Umgang mit Männern (Liebschaften, Arbeitskollegen, Freunde, Betrunkene) […] Wie man Konversation treibt […] Alkohol, Langeweile […] Kurz: alle Probleme, denen Du im Leben begegnen wirst.“ (Riesman, S.163) Eine solche Entwicklung hätte positive Seiten, wenn sie das alte äußerliche und oftmals sinnlose Streben etwa nach Macht und Reichtum durch ein neues, auf das innere Glück und die innere Zufriedenheit lenken würde, meint Riesman. Allerdings müsse man sich dabei „natürlich immer“ fragen, ob eine solche Veränderung des Selbst nicht nur einfach eine widerstandsund kritiklose Anpassung an die bestehenden Verhältnisse darstelle. Die Massenmedien werden in den USA Riesman zufolge ganz allgemein für die Zwecke der Anpassung an die Gruppe benutzt: „Bei der Zusammenstellung einer Gruppe von Frauenzeitschriften; Ladies Home Journal, American, Good Housekeeping im Oktober 1948 konnte ich folgendes feststellen: Eine große Anzahl von Geschichten und Beschreibungen und, natürlich in plumperer, ungefeilterer Form, viele Reklameanzeigen, behandelten verschiedene Arten der Selbstmanipulation, die dazu führen, andere manipulieren zu können, und zwar hauptsächlich, um auf diesem Wege so unbezweifelte Werte wie die affektive Zuneigung der anderen zu erlangen. […] gerade in den gebildeteren Schichten scheint der Drang nach außengeleiteten Verhaltenskonformität sogar am intensivsten zu sein.“ (Riesman, S. 164 ff.)

In den Massenmedien würden „krampfhafte Anstrengungen“ unternommen, um „die Menschen zur Anpassung an die Gruppe anzuleiten.“ (Riesman, S. 170) Das Resultat ist dann eben die Einsamkeit, die Angst des Einzelnen in der Masse, aus der Reihe zu tanzen, aufzufallen und ausgeschlossen zu sein. Das DSM-I (1952) identifizierte dementsprechend Angst als „chief characteristic“6 aller anderen „Neurosen“. Das Medikament dieser Zeit hieß Miltown und es war besonders populär in Hollywood. Angst galt, wie heute der Burnout, als Krankheit von „high functioning people“ (Menand, ebda.), geschuldet einer Welt des Wettbewerbs.

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Vgl. Louis Menand: Head Case. Can Psychiatry be a Science? In: The New Yorker, 1. März 2010.

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Der Einfluss der Popkultur: Die 60er und 70er Jahre Laura Hirshbein zeigt, wie Depression in den 60er und 70er Jahren konstruiert, und schließlich im Jahr 1980 im DSM-III offiziell etabliert wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Psychiatrie nach ihrer Darstellung immer noch auf der Suche nach ihrer Rolle und ihrem Platz. Was fehlte, war eine Krankheit, die allgemein verständlich war, die jeden erwischen konnte, die behandelbar und die neu war. Die ernsthaften psychiatrischen Erkrankungen wie schizophrene Psychose und bipolare (manisch-depressive) Psychose mit Anstaltscharakter konnten ausgeschlossen werden. Diese Krankheiten betrafen nur einen sehr geringen Prozentsatz der Bevölkerung. Angst und Neurasthenie schieden ebenfalls aus, sie waren „oldfashioned“, gesucht war etwas neues, etwas, dessen Bekämpfung den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erfüllte und bei dessen Behandlung es nicht nur um Betäubung ging wie beim Fall der Angst. So konzentrierte man sich auf einen Teil der manisch-depressiven Psychose, löste den manischen Teil heraus und konstruierte die Depression, die die Symptome enthielt, die vorher unter Angst, Neurasthenie und Melancholie zusammengefasst waren. Hirshbein zitiert Jonathan Cole, 1974 Vorsitzender der Fakultät für Psychiatrie der Temple University, mit den Worten: „From the psychatrist’s viewpoint only, a depression is an exceeding satisfactory disease. It is comforting, in this days of existential doubt and psychosocial malaise, to have an illness that is quite treatable and that is recognized by almost everyone as a real illness demanding real treatment.“ (Zit. nach Hirshbein, ebda. S. 27)7

Wie David Healy und Lisa Apignanesi sieht auch Hirshbein die Entstehung der Krankheit Depression in Verbindung mit der Entwicklung der organischen Chemie und darauf aufbauend der pharmazeutischen Industrie, also mit den zunehmenden Möglichkeiten mittels neuer chemischer Substanzen Stimmungen zu verändern. Die neuen Medikamente bekämpften zunächst die beiden ernsthaften psychiatrischen Krankheiten, die es zu dieser Zeit gab: Schizophrenie und „manisch-depressives Irresein“. Hier waren einige Substanzen überaus erfolgreich, die weiterentwickelt und so zu Medikamenten wurden, die „antidepressiv“ wirkten (siehe dazu ausführlich unten). Die Psychoanalyse wurde von Vertretern der biologischen Psychiatrie und zunehmend auch der kognitiven Psychiatrie kritisiert. Das positivistische Argu-

7

Original: Jonathan O. Cole: Depression. American Journal of Psychiatry 131 (1974): 204–205, Zitat S. 204.

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ment dabei lautete, dass die psychoanalytisch orientierten Ärzte keine allgemeingültigen Aussagen träfen. Sie seien komische Käuze, die sich für das Lebensschicksal einzelner Personen interessierten. Dies sei nicht wissenschaftlich. Tatsächlich sind die Grundannahmen der Psychoanalyse nicht falsifizierbar. Die wissenschaftliche Medizin, die im fortschrittsoptimistischen Zeitgeist der 50er, 60er und 70er Jahre zunehmend propagiert wurde, war eine Medizin der Statistik, der großen Zahl. Verstärkt wurde dies noch durch das Aufkommen von Computern. Nur durch eine solche Medizin kann man zu der Auffassung gelangen, Depression sei eine Volkskrankheit. Ergebnisse aus Befragungen (kranker) Menschen wurden auf die gesamte Bevölkerung hochgerechnet – und schon erhielt man diese Ergebnisse. Die „wissenschaftliche“ Psychiatrie strebte nach objektiver Erkenntnis, die nicht verfälscht ist durch die Beschäftigung mit dem subjektiven Seelenleben von ein paar Patienten. Ein herausragender Vertreter dieser Richtung war Robert Spitzer. Er war der Kopf hinter dem DSM III, in dem zum ersten Mal wissenschaftlich verbindlich (reliabel) verkündet wurde, welche Symptome erfüllt sein müssen, um eine Depression zu diagnostizieren. Hirshbein sieht in ihrer Untersuchung in den 60er und 70er Jahren die Depression in den populären Medien öfter thematisiert als in der Medizin. Dies sei auf die Tradition der US-amerikanischen Medien zurückzuführen, – wie auch im Fall der Patent-Medicines – Gesundheit als Konsumprodukt darzustellen. So wurde 1963 Amitryptilin, eines der ersten trizyklischen Antidepressiva, in einem Artikel in Business Week unumwunden als „Pep-Pill“ vorgestellt (siehe dazu ausführlich hier das Kapitel „Der erste Amitryptin-Versuch“). Amitryptilin blieb lange, bis zur Marktreife der SSRI, das am meisten verschriebene Antidepressivum. Was kann man daraus ersehen? Nicht erst Prozac spielte als „Psychic Energizer“ eine Rolle in der Populärkultur. Man kann sagen, dass die Populärkultur in den USA zu dieser Zeit von einem Hunger nach legalen Drogen getrieben war. Die Business Week war sich bereits in den 60er Jahren sicher, dass es für diese neuen Pillen einen Absatzmarkt gebe. (Hirshbein, S. 57) Depression als psychische Krankheit taucht nach Hirshbein das erste Mal in einem populären Magazin Mitte der 50er Jahre in der Zeitschrift „New Yorker“ auf.8 Es geht um eine „Weihnachtsdepression“, die noch als Neurose, ausgelöst durch ein unbewusstes und unbefriedigtes Bedürfnis, erklärt wird. Der Autor, E. B. White, verfasste auch das Kinderbuch „Stuart Little“. Die Geschichte: Der Autor macht sich über die Psychoanalyse lustig. Er kann sich nicht an die Pullo-

8

E.B. White: „Yule Neurosis Sifted in Report“, New Yorker, 25.12. 1954, S. 19; http:// www.newyorker.com/archive/1954/12/25/1954_12_25_019_TNY_CARDS_0002445 82.

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vergröße seiner Schwester erinnern und Dinge dieser Art machen ihn vor Weihnachten traurig. In einer Nachricht der Times erfährt er, dass es sich dabei um eine Neurose namens Weihnachtsdepression handelt. Dr. Boyer aus Berkeley behauptet, seine Neurose käme von unbewussten Erinnerungen an unbefriedigten Hunger oder aus einem „Still-Bedürfnis“ heraus. Boyer glaubt auch, dass es etwas zu tun haben kann mit dem Verlust von Selbstvertrauen. All das hilft aber dem Autor bei seinem Weihnachtsproblem nicht wirklich weiter. Er erinnert sich, dass seine Mutter ihm immer ordentlich zu Essen gegeben hat, wie jedes Weihnachten. Der Witz: Seine Mutter habe versäumt, ihn mit einem angeborenen Wissen der Pullovergröße seiner Schwester auszustatten. Was das „StillBedürfnis“ betrifft, glaubt der Autor, dass Dr. Boyer sein Selbstachtungsgefühl verliere, wenn er eine Weile über seine eigenen Worte nachdenke. Ernsthaft begann die Auseinandersetzung mit dem Thema Depression in den 60er Jahren, speziell in Frauenzeitungen. In den 70er und 80er Jahren wird das Thema immer mehr zu einem Standardthema, in den 90er Jahren schließlich ist es regelmäßig in allen Massenmedien mit den unterschiedlichsten Zielgruppen präsent. In den 60ern und 70ern wurde Depression als Bedrohung des „amerikanischen Traums“, des amerikanischen Optimismus, des „pursuit of happiness“ gesehen und in Zusammenhang gebracht mit z.B. Jugendgewalt, der Alternativkultur, rassistischer Gewalt, der steigenden Anzahl von Scheidungen, dem Terrorismus, der Drogenwelle etc., also mit gesellschaftlicher Verunsicherung.9 Das Ergebnis dieses Diskurses über Depression war, dass unglückliche Stimmung, Traurigkeit, Pessimismus etc. in eine Krankheit transformiert wurde, die man behandeln lassen konnte. Man konnte etwas gegen Unglück konsumieren. Unglück ist damit per definitonem selbstverschuldet. Man muss nicht unglücklich sein. Und man kann jetzt auch „der Gesellschaft“ nicht mehr die Schuld an seinem Unglück geben, auch anderen Instanzen wie der Mutter oder dem Vater etc. nicht mehr. Selbsthilfegruppen -bücher, -übungen sind in diesem Zusammenhang als Konsumangebot zu verstehen. Wer sie nicht nutzt, ist selbst schuld. Alle Informationen, so Hirshbein, die die Leser über Depression bekamen – inklusive Selbsthilfe oder selbstgesuchte Aktivitäten – hatten etwas mit Konsum zu tun. Wie schon in dem Weihnachts-Essay von White angedeutet, war eine der alltäglichen Erfahrungen der Amerikaner die allgegenwärtige Traurigkeit oder Frustration um Weihnachten oder um andere Feiertage und den Urlaub herum. Das sind alles hoffungsfrohe Ereignisse, mit starkem Konsum verbunden, und genau das ist das Problem: Die Erwartungen sind nämlich zu hoch und können nur enttäuscht werden. Die Allgegenwart dieser Erfahrung wurde häufig benutzt,

9

Also mit „Anomie“ wie in Wolf Lepenies Abhandlung aus derselben Zeit.

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um das Konzept der Depression den Magazinlesern zu erklären. Die Autoren benutzten nun diese Erfahrungen, um eine doppelte Botschaft unters Volk zu bringen. Es sei zwar bis zu einem gewissen Grade normal, unter diesen Frustrationen zu leiden, jedoch müsse man mittels Selbsthilfe und gegebenenfalls auch mittels professioneller Anleitung sich eben dieser depressiven Anfänge erwehren. In dieser Zeit, in den 60er Jahren, waren die Amerikaner, wie erwähnt, mit ihrem „Selbst“ beschäftigt, mit Selbsterkenntnis, Selbstverbesserung, Selbsterfahrung und Selbsthilfe. Die Amerikaner wurden zu Konsumenten, die bereit und offen waren für die sozialen und kulturellen Diskussionen um das neue Konzept der Selbsthilfe. In diese Entwicklung passten auch die beiden neuen Techniken der Psychotherapie, die bis heute bei Depression empfohlen werden, die kognitiv behaviorale Therapie (KBT) und die interpersonelle Therapie (IPT). Beide haben den Vorteil, dass sie kurz sind, deutlich kürzer als die Psychoanalyse, und dass sie auch als Selbsthilfe-Methoden in Selbsthilfegruppen funktionieren. Tatsächlich arbeiten die Selbsthilfegruppen in Deutschland aufgrund der gültigen Empfehlungen von NAKOS10 auf Grundlage der IPT. Teilnehmer an solchen Gruppen sind also Konsumenten einer gesundheitsbezogenen Dienstleistung. Die IPT konzentriert sich auf die Beziehungen zwischen Therapeut und Klient bzw. auf Beziehungen in den Gruppen untereinander, die bewusst gemacht werden und so zur Erkenntnis der eigenen Rolle etc. führen können. Die kognitive Verhaltenstherapie gegenüber geht davon aus, dass depressive Gedanken und Handlungen erlernt wurden, und also wieder verlernt werden können. Beide Therapien wurden in den 60er Jahren entwickelt. Beide Therapien eignen sich auch hervorragend zur Kombination mit Medikamenten. Außerdem waren sie im Vergleich zu einer Psychoanalyse billiger, weil wesentlich kürzer. Mit Beginn der 80er Jahre sieht Hirshbein einen Wechsel in der Berichterstattung. Über Depression wird nun zunehmend optimistisch geschrieben, Depression wird zunehmend als Chance gesehen; und sie wird zu einem Beispiel für die Fähigkeiten der Wissenschaft, wirksame Therapien zu entwickeln. Depression wird seit den 80er Jahren zur weltweiten Volkskrankheit. Das läge daran, meint Hirshbein, dass es in den 80ern einen bedeutenden Kulturwandel hin zum Neoliberalismus gab, und dass die soziale und politische Kultur sich dahingehend wandelte, alle Ausdrücke von Traurigkeit und Frustration zu ächten und sie als pathologisch erscheinen zu lassen. So gesehen ist Depression eine neoliberale Krankheit. Mittel zur Thematisierung der Depression als der Kehrseite des verordneten positiven Denkens waren Berichte über Selbstmorde in den Massenmedien.

10 Nationale Koordinierungsstelle für Selbsthilfegruppen in Berlin.

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Hirshbein merkt an, dass die soziologische Literatur vor den 70er Jahren nicht die Depression (oder eine andere psychiatrische Erkrankung) als Hauptursache des Selbstmordes angesehen habe. In der Folge des Soziologen Émile Durkheims und seines Werkes über den Selbstmord war allgemein anerkannte Hauptursache die mangelnde soziale Bindung bzw. die mangelnde Bindungskraft der Gesellschaft. Eine der wiederkehrenden Thematisierungen der populären Magazine bestand aber genau darin, zu behaupten, dass die meisten Selbstmorde auf einer unbehandelten Depression beruhten. Hirshbein meint, dass Ärzte diese Erkenntnis in den 70er Jahren in populären Magazinen verbreiteten, um der Depression zu mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, um sie zu dramatisieren. Mitte der 70er Jahre wurde auch der Burnout erstmals beschrieben. Der amerikanische Psychologe Herbert Freudenberger beobachtete 1974 in Drogenberatungsstellen, dass viele junge, vormals hoch motivierte Mitarbeiter schon nach wenigen Jahren nur noch abgestumpft und zynisch ihre Arbeit versahen. Er nannte dieses Symptom Burn-out-Syndrom. Es entstand also Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre eine Bewegung, die die Empfindungen von Unglück, Frustration etc. pathologisierte. Diese blieb allerdings nicht unwidersprochen. 1984 behauptete die New Yorker Psychologin Lesley Hazelton,11 dass die Pathologisierung von Depression zu einer Reduktion der Gefühlspalette der Amerikaner führe. In ihrem Buch behauptet sie, dass einfache Traurigkeit und gelegentliche Verzweiflung nun routinemäßig als Depression abgestempelt werden und dass jeder, der schlechte Laune hat, Angst haben muss, behandelt zu werden. Hazelton beklagte, dass die Kultur intolerant gegenüber negativen Gefühlen wurde – die ja ihre Berechtigung haben können. Der Psychologe Martin Seligman, Begründer der Theorie von der erlernten Hilflosigkeit und Erfinder der positiven Psychologie, ging einen Schritt weiter und nahm die Kritik Alain Ehrenbergs vorweg. Er erklärte 1988, dass die Betonung des Individuums in der amerikanischen Gesellschaft es sehr wahrscheinlich mache, dass dieses Individuum Disstress (negative Erfahrungen etc.) internalisiert und somit depressiv werde. Es sei nur für sehr wenige Personen erreichbar, eine „fully functioning person“ (Carl R. Rogers) zu werden, also ein maximalisiertes Selbst zu entwickeln. Dieses maximalisierte Selbst beschrieb Seligman als „kalifornisches Selbst“. Sedligman ist auch Begründer der „Positiven Psychologie“, die sich damit beschäftigt, wie Glück, Optimismus, Geborgenheit, Vertrauen, Verzeihen und Solidarität hervorgebracht werden. Die wenig überraschende Antwort: durch positives Denken. Barbara Ehrenreich stellt die Positive Psycho-

11 Lesley Hazelton: The Right to Feel Bad. Coming to Terms with Normal Depression. Ballentine 1985.

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logie als wissenschaftlich irrelevant dar und ist der Auffassung, „dass sich der Erfolg der Positiven Psychologie vor allem in Dozentenstellen und Karrierechancen auf dem Coaching-Markt messen lässt: für die Positiven Psychologen selbst.“12

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DIE E NTSTEHUNG DER NEUEN BIOLOGISCHEN P SYCHIATRIE Im folgenden Abschnitt soll wieder Bezug genommen werden auf die Entwicklung der biologischen Psychiatrie. Heute steht die Pharmakotherapie und die biologische Psychiatrie als therapeutische Option auf Platz eins. Wie ist es dazu gekommen? Gary Greenberg berichtet, dass ein „Spion“ Adolf Meyers, Joseph Wortis, im Jahr 1934 Freud in Wien aushorchen sollte, bei seinem Aufenthalt in Wien aber auf den Psychiater Manfred Sakel stieß, der erste „Erfolge“ mit Schocktherapie bei schizophrenen Patienten vorweisen konnte. Dabei handelte es sich um die Insulinkomatherapie. Mittels Zuckerlösung aus einem künstlichen Insulinkoma zurückgeholten schizophrenen Patienten ging es besser als vorher. Diese praktischen Erfolge stießen auf Begeisterung. Nun konnte sogar Schizophrenie „geheilt“ werden. 1934 teilte Wortis Freud mit, dass der therapeutische Nihilismus ein Ende habe, dass psychische Krankheiten nun auch ärztlich sauber über Eingriffe am Körper behandelt werden können. Freud entgegnete darauf, dass die Psychoanalyse niemals behauptet hätte, dass es keine organischen Faktoren für „Paranoia“, also Schizophrenie gebe. Die Psychoanalyse decke die psychischen Mechanismen dahinter auf. Die körperlichen Symptome würden verursacht durch unbewusste Konflikte. Wenn diese offengelegt werden, verschwänden auch die Symptome. Eine körperliche Behandlung sei demnach nichts anders als ein „herumdoktern an Symptomen.“ (Greenberg 2010, S. 149) Trotzdem, so zitiert Greenberg Edward Shorter und David Healy, sei später die Elektrokrampftherapie die „geheime Liebe“13 vieler Analytiker gewesen. Die Schockstrategien und ihr „Erfolg“ waren das Aufbruchsignal für eine biologische Psychiatrie, die den therapeutischen Nihilismus Kraepelins endgültig überwand. 70 Prozent der Patienten konnten durch einen Insulinkomaschock geheilt werden, behauptete man. Wie war das möglich? Hypoglykämie, also Unter-

12 Nach: Jutta Peters: Gegen die widerliche Optimismus-Industrie. Süddeutsche Zeitung, 02.09.2010. 13 E. Shorter, D. Healy: Shock Therapy. A History of Electroconvulsive Treatment in Mental Illness. New Brunswick, 2007 S. 84–92.

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zuckerung, kann zu bleibenden Hirnschäden führen. Genau diese wurden absichtlich herbeigeführt. Die Therapie setzte sich in Europa und den USA in den 30er/40er Jahren durch. Die Patienten, die „geheilt“ aus einem solchen Koma erwachten, verhielten sich in einer infantilen, hilfsbedürftigen Art und Weise. Die Patienten wussten weder wer, noch wo sie waren, sie verhielten sich wie im Stich gelassene Kinder. Manfred Sakel, der Erfinder dieser Therapie (und Onkel des heutigen „Nestors“ der Persönlichkeitsstörungsforschung, des Psychiaters Otto Kernberg) beschreibt die Patienten nach der Therapie als auf dem Stand eines 6-jährigen Kindes. (Whitacker 2002, Mad in America, a.a.O. S. 87) Ein Fachbuch von 1941 beschreibt das folgendermaßen: „The schizophrenic patient becomes gemütlich.“14 Genau das war erwünscht: Als pflegeleichte, gemütliche, verkindlichte Patienten waren sie freundlicher, mehr extrovertiert und sozialer eingestellt, zitiert Whitacker Manfred Sakel. (Ebda., S. 89) Heute würde man sagen, sie verfügen durch die Prozedur über eine größere „soziale Kompetenz“. Die Patienten waren leichter handhabbar. Bis Mitte der 50er Jahre blieb die Insulinkoma-Therapie das geläufigste Mittel zur Behandlung, auch wenn die Sterblichkeit ziemlich hoch und der Erfolg in Langzeitstudien sehr fraglich war: dieser lag bei 6%. Ein weiteres Problem, auf das Whitacker hinweist, ist, dass für die Insulintherapie diejenigen ausgesucht wurden, die mit größter Wahrscheinlichkeit von selbst wieder gesund geworden wären, Sakel hat nämlich diejenigen ausgewählt, die erst einen „Anfall“ oder eine Psychose gehabt haben und bei denen die Krankheit erst vor kurzer Zeit ausgebrochen war. (Ebda. S. 90) Seitdem postuliert wurde, dass die Insulintherapie wirkt, sind Verletzungen des Gehirns eine psychiatrische Heilmethode – bis heute. Die Insulintherapie war teuer und zeitintensiv. Billiger war es, epileptische Anfälle mit einem Kampfer-Ersatzstoff namens Metrazol auszulösen. Künstlich ausgelöste epileptische Anfälle sollten Schizophrenie heilen. Dabei kam es zu allerhand schweren Verletzungen während der Krämpfe – trotzdem wurde, wie immer in der Psychiatriegeschichte behauptet, dass die Therapie hervorragend wirke. Allerdings waren die Meinungen diesmal nicht einhellig. Einige Psychiater setzten Metrazol gegen Schizophrenien, andere gegen bipolare Störungen ein, einige Psychiater erzielten Erfolgsraten von bis zu 70%, andere überhaupt keine. Metrazolinjektionen änderten das Verhalten der Patienten ähnlich wie Insulin. Ob dieses regressive Verhalten als Fortschritt des Patienten bewertet wurde, oblag der subjektiven Vorstellungswelt der Psychiater. Der Nachteil war, dass die Injektionen oft wiederholt werden mussten, um diese Ergebnisse zu erreichen, und das brachte

14 L. Jessner, V. G. Ryan: Shock Therapy in Psychiatry. New York 1941, S. 28, zit. nach Greenberg 2010, S. 138.

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immer wieder fürchterliche Anfälle mit Begleiterscheinungen wie Knochenbrüche, Muskelrisse und Ausbeißen von Zähnen. Außerdem hatten die Patienten verständlicherweise starke Angst vor Wiederholung und mussten mit erheblichem Zwang der Behandlung zugeführt werden. Viele Kritiker meinten, dass es diese Furcht war, die die Patienten „geheilt“ hat, eben eine richtige Schocktherapie. Die Anhänger der Metrazoltherapie verteidigten sie mit dem psychiatrieüblich schlagenden Argument, dass sie angeblich weniger barbarisch ist als die vorangegangene Insulintherapie. Einige extrem perverse Interpretationen gingen davon aus, dass diese Therapie und die damit verbundenen Schmerzen ein „unbewusstes Verlangen“ der Patienten befriedigten und dadurch zum Heilungserfolg beitrugen. Whitacker geht davon aus, dass dieses an Freud geschulte Argument zu einem neuen Paradigma wurde: ein Paradigma, das Folter als Therapie einsetzte. Der englische Fachbegriff für diese Praktik wurde 1941 geprägt und lautete „Brain damagining therapeutics“. Im Jahr 1938 schließlich wurde durch den italienischen Psychiater Ugo Cerletti der Elektroschock als Therapie eingeführt. Dass Strom eine Wirkung auf lebende Organismen hat, war schon länger bekannt. Schwierig war es, die richtige Dosis zu finden und die richtigen Punkte am Körper, durch die der Strom fließen sollte. Cerlutti hat diese durch eine Forschungsreise in einen Schlachthof gefunden. Er ging davon aus, dass die Schweine dort mittels Stromschlag getötet wurden und war erstaunt, als er vor Ort erfuhr, dass der Schlag nur der Betäubung dient. Das war des Rätsels Lösung! Wenn man also Menschen wie den zu betäubenden Schweinen den Strom direkt am Schädel, an den Schläfen anlegt, wurden sie nach einem Krampf betäubt. Diese Methode zur Krampfauslösung und zum „brain damaging“ hatte einen großen Vorteil: Sie war im Gegensatz zu den früheren Methoden billig und überall einzusetzen. Außerdem war die Behandlung sehr effektiv. Nach einer einzigen Behandlung dauerte es Wochen, bis das Gehirn wieder einigermaßen normal funktionierte. Die Schocks führen zu einem Gedächtnisverlust und zu einer Regression der Persönlichkeit. Die Patienten nuckelten am Daumen und sprachen in Babysprache. Vermutlich vergisst das Gehirn, dass es depressiv oder psychotisch zu reagieren hat und reagiert stattdessen auf einer prädepressiven oder präpsychotischen Stufe der Persönlichkeitsentwicklung. Es wird eine Art „organischer Neurasthenie“ ausgelöst, beobachtete der amerikanischer Psychiater Lothar Kalinowsky, der Elektroschocks in New York einführte. Alle intellektuellen Funktionen wie Erinnerungs- und Kritikfähigkeit sind eingeschränkt. Zur Disziplinierung war die EKT also das Mittel der Wahl. Allerdings halten die Wirkungen nicht ewig an, sie verschwinden mit der Zeit. Und das bedeutet, dass auch die zugrunde liegende Krankheit sich wieder

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meldet. Die Konsequenz: Die Schocks müssen wiederholt werden, um ein „therapeutisches Ergebnis“ zu erreichen. Die Nebenwirkungen waren ähnlich wie bei Metrazol: Es kam zu Knochenbrüchen, Muskelrissen und ausgebissenen Zähnen. Mit dem Pfeilgift Curare konnten später die Muskeln so gelockert werden, dass diese Nebenwirkungen ausblieben. Kritiker behaupten bis heute, das „Heilsame“ an den Schocks sei die Angst vor ihnen, so wie es in dem eindrucksvoll verfilmten Buch „Einer flog übers Kuckucksnest“ von Ken Kesey dargestellt wurde. Obwohl das Internationale Rote Kreuz dafür plädierte, den Überlebenden von Menschenexperimenten mit Stromschlägen in deutschen KZs Entschädigung zu zahlen, weil sie pseudowissenschaftlichen Experimenten unterzogen wurden, wurde die Elektroschocktherapie bei über einer Million Amerikaner angewandt. (Whitacker 2002, S. 105) In vielen Krankhäusern wurde die Methode zur Disziplinierung eingesetzt. So informierte z.B. ein Anstaltsleiter seine Mitarbeiter: „Ich möchte klarstellen, dass es Krankenhauspolitik ist, die Schocktherapie zu benutzen, um gute Insassen zu produzieren“. (Ebda., S. 106) Auch die CIA experimentierte im Rahmen des Projektes MK-ULTRA mit Elektroschocks. Dabei ging es um „Gehirnwäsche“. Die Experimente führte der Psychiater Ewen Cameron in Kanada durch. Die Patienten kamen wegen kleinerer psychiatrischer Probleme zu Cameron und wurden ohne ihr Wissen in Montreal zu Menschenexperimenten im Auftrag der CIA missbraucht. 1988 willigte die CIA ein, neun Patienten insgesamt 750.000 Dollar Schadenersatz zu. Vier Jahre später erklärte sich die kanadische Regierung bereit, 100.000 Dollar an jeden Patienten zu zahlen, der an den Experimenten teilgenommen hatte. Die Globalisierungskritikerin Naomi Klein schreibt dazu in ihrem Buch über den „Katastrophenkapitalismus“: „Cameron hatte nicht nur eine zentrale Rolle bei der Entwicklung heutiger amerikanischer Foltertechniken gespielt, sondern er hat mit seinen Experimenten auch einen einzigartigen Einblick in die dem Katastrophen-Kapitalismus zugrundeliegende Logik geliefert. Wie die Verfechter des freien Marktes, die überzeugt sind, dass nur ein großes Desaster ,eine umfassende Vernichtung‘ , ihren ‚Reformen‘ den Boden bereiten kann, glaubte Cameron, er könne durch die Verabreichung von Schocks Schlechtes im menschlichen Gehirn vernichten und dann auf dieser tabula rasa neue Persönlichkeiten aufbauen.“15

Nach Klein werden die Erkenntnisse, die von Psychiatern für die CIA gewonnen wurden, jetzt in Guantanamo verwendet. Dabei gehe es darum, beim Verhör eine

15 Naomie Klein: Die Schockstrategie. Der Aufstieg des Katastrophenkapitalismus. Frankfurt/M. 2007, S. 48.

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Barriere zu durchbrechen und ein Stadium des „psychischen Schocks“ oder des „ausgesetzten Atems“ zu erreichen. Dies ist die von Folterern wie Psychiatern geschätzte Stelle, wenn „die Quelle für Vorschläge viel offener ist, viel eher kooperieren wird.“ (Aus einem Handbuch der CIA aus dem Jahr 1963, zit. nach Klein) Cameron habe bei seinen Vorträgen vor Militärs nicht etwa behauptet, dass die Elektroschocks Schizophrene oder Depressive „heilen“, was ja heute noch behauptet wird, sondern ganz offen eingeräumt, dass Schocks und sensorische Deprivation die eben geschilderten Symptome der erzwungenen Kooperationsbereitschaft hervorrufen. (Ebda. S. 58) 1949 wird dann durch den Portugiesen Egas Moniz die präfontale Lobotomie eingeführt. Dabei wird Patienten ein Teil ihres Gehirns entfernt. Der Erfinder bekam dafür 1949 den Nobelpreis für Medizin. Die Lobotomie ist eine neurochirurgische Operation, bei der die Nervenbahnen zwischen Thalamus und Stirnhirn sowie Teile der grauen Substanz durchtrennt werden. Sie wurde ursprünglich zur Schmerzabschaltung in extrem schweren Fällen angewendet, dann bei psychotischen Erkrankungen wie Schizophrenie und Depression. Als Folge der Lobotomie tritt eine Persönlichkeitsänderung mit Störung des Antriebs und der Emotionalität auf. Ab Anfang der 1940er Jahre entwickelten der amerikanische Psychiater Walter Freeman (1895–1972) und der Neurochirurg James Winston Watts (1904–1994) die Methode zu einer populären Standardtechnik der Psychiatrie, die bis ca. 1955 in den meisten Industriestaaten, insbesondere jedoch im angloamerikanischen Raum, eingesetzt wurde. Freeman schrieb ohne Beschönigung: „Die Psychochirurgie erlangt ihre Erfolge dadurch, dass sie die Phantasie zerschmettert, Gefühle abstumpft, abstraktes Denken vernichtet und ein roboterähnliches, kontrollierbares Individuum schafft.“16 Freeman entwickelte eine transorbitale Operationsmethode, die nur noch von lediglich einer Person, welche nicht einmal eine neurochirurgische Qualifikation benötigte, ausgeführt werden konnte. Damit wollte Freeman die massenhafte Verbreitung dieser zeit- sowie kostengünstigen Methode vorantreiben. In den 50er Jahren wurde die von vielen Experten anfangs als Wundermittel gepriesene Lobotomie in tausenden von Fällen durchgeführt. Walter Freeman ließ auch nach der Einführung von Psychopharmaka und der weitgehenden Ablehnung der irreversiblen operativen Methoden in der Praxis nicht von seiner transorbitalen Lobotomie ab. Sein Wille, die Methode zu verbreiten und Kollegen zu überzeugen, erreichte dabei bizarre Auswüchse: So operierte er vor den Augen von zahlreichen Zuschauern sowohl im Fernsehen als auch in Hörsälen Patienten im Akkord (mehrere Dutzend pro Tag). Des Weiteren reiste er in einem Wohnmobil, dem von ihm so getauften

16 P. R. Breggin: Elektroschock ist keine Therapie. München 1989, S. 175.

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„Lobomobil“, von Klinik zu Klinik durch die USA und operierte einen Patienten nach dem anderen. Zeit seines Lebens pries er die Lobotomie als optimale Behandlungsform und operierte bis zu seiner Pensionierung 1962 weiter, insgesamt ca. 3.600 Patienten.17 Psychiatriekritiker bezeichnen die Elektrokrampftherapie, die therapeutisches Insulin-Koma (Insulinschocktherapie) und die (typischen und atypischen) Neuroleptika als „nichtinvasive Lobotomien“, da ihrer Ansicht nach bei diesen Techniken Nervengewebe mit gleicher oder ähnlicher Zielsetzung zerstört wird. Neuere Experimente mit Hirnschrittmachern zielen auf Lobotmomieähnliche Ergebnisse, auf die „Stilllegung von überaktiven Nervenbahnen“ ab. So schrieb das Ärzteblatt 2004: „Die neue Zeitrechnung hat für Barbara Streyer am 26. Januar 2001 begonnen. An jenem Tag verlegte der Kölner Neurochirurg und Stereotaktiker, Prof. Dr. med. Volker Sturm, einen Hirnschrittmacher in ihre rechte Gehirnhälfte – eine Elektrode, gespeist durch den Strom eines im Brustmuskel liegenden Akkus, über den ständig hochfrequente Stromstöße zum Nucleus accumbens fließen, einer wichtigen Schaltstelle im limbischen System. Nach Sturms Theorie hemmt der elektrische Strom dort eine krankhaft überaktive Nervenbahn, die die Amygdala mit dem Frontalhirn verbindet, und unterdrückt so die Zwangsgedanken, unter denen die Frau seit ihrer Jugend leidet [...] So beeindruckend die Erfolge der Tiefenhirnstimulation in Einzelfällen bisher sein mögen, Sturm selbst mahnt zu Zurückhaltung und Geduld. ‚Das Interesse auf den Kongressen ist riesengroß, fast zu groß‘, sagt er. ‚Aber wir müssen unbedingt verhindern, dass diese Technik jetzt in die falschen Hände kommt‘. Denn dann, so fürchtet er, könnte es schnell passieren, dass aus der Tiefenhirnstimulation nur ein weiteres Kapitel in der unrühmlichen Geschichte der psychiatrischen Chirurgie werden könnte.“18

Früher wurde die Schocktherapie als Mittel gegen Schizophrenie eingesetzt, heute wird sie hauptsächlich bei sehr schweren psychotischen Depressionen angewendet. Das Interesse an ihr und ähnlichen Methoden ist weiterhin groß. Das Problem ist nur, dass niemand weiß, warum und wie sie wirkt. Historisch gesehen war sie jedenfalls der Türoffner für die zweite biologische Psychiatrie nach Kraepelin, eine biologische Psychiatrie ohne therapeutischen Nihilismus, dafür

17 E. S. Valenstein: The psychosurgery debate, Freeman & Co. San Francisco 1980. 18 Albrecht, Bernhard: Stereotaxie/Hirnschrittmacher: Rückkehr der Psychochirurgie. In: Ärzteblatt PP 3, Ausgabe Oktober 2004, Seite 472 http://www.aerzteblatt.de/ v4/archiv/artikeldruck.asp?id=43803.

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aber mit einem therapeutischen Relativismus und einem ätiologischen Nihilismus.

D IE E NTWICKLUNG DES D IAGNOSTICAL AND S TATISTICAL M ANUAL (DSM) Einen großen Einfluss auf das Werden der Depression zur Volkskrankheit hatte die Entwicklung der Statistik. Statistische Korrelationen wurden im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts zunehmend mit Wissenschaftlichkeit verwechselt und mit Objektivität gleichgesetzt. Psychiater und Neurologen mussten also, wenn sie wissenschaftlich erscheinen wollten, ihre Patienten klassifizieren, sie mussten mathematikbasiert zu Vorhersagen kommen, sie mussten zumindest den Anschein erwecken, dass sie Krankheiten erklären können, dass sie Krankheitsverläufe voraussagen konnten. Und dazu eignet sich die Statistik. Parallel zur Depression hat die Medizinstatistik einen unglaublichen Siegeszug hingelegt. Die endgültige Professionalisierung der Statistik als Wissenschaft mit mathematischen Methoden beginnt Ende des 19. Jahrhunderts und verbindet sich unter anderem mit Namen wie Pearson und Spearman, die heute noch für statistische Analyseformen stehen. Spätestens seit 1900 versteht sich die Statistik als wissenschaftliches Instrument zur Erfassung von gesellschaftlichen „Wahrheiten“, menschlichen Meinungen und Eigenschaften. Untersucht wird nicht mehr nur die Anzahl der Bevölkerung sondern die ganze Gesellschaft in all ihren Facetten und Themen. Die Ursprünge des ICD-Systems (International Catalogue of Diseases) der WHO gehen auf die 1850er Jahre zurück. 1893 wurde die von Jacques Bertillon erarbeitete Bertillon-Klassifikation beziehungsweise das Internationale Todesursachenverzeichnis eingeführt. Nach und nach entstand aus älteren internationalen Klassifikationen, die ursprünglich ausschließlich zur Erfassung von Todesursachen dienten, das ICD-System, das 1938 bereits in der 5. Ausgabe vorlag. Seit seiner Einführung wird das Klassifikationssystem von der WHO weiterentwickelt, die 1948 die 6. Ausgabe vorlegte. Bis zur ICD-9 (1976) erfolgten etwa alle zehn Jahre weitere revidierte Ausgaben. Die Arbeit an der letzten, der zehnten Ausgabe, begann 1983 und wurde 1992 abgeschlossen. Die derzeit gültige Ausgabe ist die ICD-10 in der Version für 2006. Im Frühjahr 2007 wurde an den ersten Arbeiten zur ICD-11 begonnen. Das DSM entwickelte sich ähnlich: 1840 wurde in den Vereinigten Staaten bei einer Volkszählung eine Kategorie für Schwachsinn/Wahnsinn erhoben. 40 Jahre später gab es schon sieben Kategorien für schwere Geisteskrankheit. Die

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erste standardisierte Klassifizierung von Krankheiten wurde 1928 in den USA durchgeführt. Die New Yorker Akademie der Medizin veranstaltete eine Konferenz mit einer großen Zahl medizinischer Organisationen, um den Bedarf an einer besseren Klassifikation von Krankheiten und ihrer Beziehung zur Sterblichkeit zu diskutierten. Als Ergebnis dieses Treffens wurde die „National Conference on Nomenclature of Disease“ gegründet unter der Führung von Haven Emerson, einem Arzt, der als Pionier der „Public Health“ gilt, und der auch als Autor von sehr erfolgreichen Selbsthilferatgebern in Erscheinung trat.19 1933 schließlich wurde die erste standardisierte Nomenklatur veröffentlicht, unter anderem finanziert von verschiedenen Krankenversicherungen. Sowohl die amerikanische psychiatrische Vereinigung als auch die amerikanische neurologische Vereinigung waren in diesem Buch repräsentiert. Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelten auch Veteranenverbände und US-Armee eigene Klassifikationen. Schließlich übernahm 1952 die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung die Ausarbeitung des ersten DSM. Dabei versuchten sie, die Klassifikationsschlüssel mit der damaligen ICD-6 abzustimmen. 1968 erschien das DSM-II, die zweite Ausgabe. Beide Ausgaben waren psychoanalytisch orientiert und beide verstanden psychische Krankheiten hauptsächlich als Reaktionen auf Belastungen (s.o. Kapitel US-amerikanische Militärpsychiatrie). In den 50er, 60er und 70er Jahren erstellten psychodynamisch orientierte Psychiater und Sozialwissenschaftler Studien, die zeigen sollten, wie soziokulturelle Faktoren krankmachende Bedingungen erzeugten. Die bekanntesten sind die Midtown Manhattan Studie (1962) und die Stirling County Studie. Die Midtown Manhattan Studie beschäftigte sich mit sehr breiten nichtspezifischen Items von psychologischem Disstress, wie z. B: „Es fällt mir schwer einzuschlafen“, „Ich frage mich, ob alles der Mühe wert ist“, „Ich befinde mich in gedrückter Stimmung“. Heraus kam, dass es nur 18,5% der Befragten „gut“ geht. 23,4% wurden als „beeinträchtigt“ bezeichnet, weitere 21,8% zeigten moderate Symptome, und die verbleibenden 36,4 % waren „wenig beeinträchtigt.“20 Die longitudinale Stirling County Studie (1952,

19 Haven Emerson, Irving Fisher: Lebe Richtig – Moderner Wegweiser zur gesunden Lebensführung nach modernen wissenschaftlichen Grundsätzen Bad Buckow / Leipzig, Otto Lautenbach Verlag 1939. Behandelt wurden: Unser Äußeres, Kleidung, Wohnung, Leben im Freien, Baden, Essen aus Instinkt, Wissenschaft des Essens, Gifte, Mundpflege, Dickdarm, Ansteckung, Arbeitshygiene, Körperhaltung, Schlaf. 20 Allan V. Horwitz, Jerome C. Wakefield: The Loss of Sadness. How Psychiatry Transforms Normal Sorrow into Depressive Disorder. Oxford 2007 S. 128.

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1970, 1992)21 zeigte noch höhere Werte: 57% der Bevölkerung waren „ähnlich psychiatrischen Fällen“. (Ebda.) Sowohl die Midtown Studie, als auch die Stirling County Studie zeigten, dass niedriger sozioökonomischer Status mit höherer Wahrscheinlichkeit einhergeht, unter einer psychischen Krankheit zu leiden. Erklärt wurde dieses Ergebnis der Studie damit, dass die Situation in psychiatrischen Stationen oder Kliniken ähnlich aussehe. Allerdings zog die Studie auch Skepsis auf sich. Ein Epidemiologe, Rema Lapouse, wird mit den Worten zitiert: „Wenn alle Menschen, die husten, als Tuberkulosepatienten gezählt werden, würden sowohl Prävalenz als auch Inzidenz explodieren. Glücklicherweise gibt es hier Labortests, so dass es nicht zu einer solch diagnostischen Extravaganz kommt. Der psychiatrischen Diagnostik fehlt so eine Kontrollmöglichkeit.“ (Horwitz et al. 2007, S. 129) Psychische Krankheiten waren, wie gesagt, bis 1980 hauptsächlich Reaktionen: schizophrene Reaktionen, depressive Reaktionen, Angstreaktionen usw. Dieses Modell wurde laut Greenberg „biopsychosoziales“ Modell genannt. Es kam zu „natürlichen Spannungen“ (Greenberg 2010, S. 233) zwischen psychoanalytischen Psychiatern wie den Menningers und biologisch orientierten Psychiatern der Neo-Kraepelinschen Schule. Für die Gruppe um die Menningers wurde die Prävention immer wichtiger. Die Ursachen, die die gestörten Reaktionen hervorriefen, sollten beseitigt werden (Gruppe GAP, Group for the Advancement of Psychiatry). Das große Problem: Die Psychiater wurden damit immer mehr aus der ärztlichen Rolle in eine sozialarbeiterisch-psychologische Rolle gedrängt. Und das rührte am Standesdünkel. Es gab aber noch ein anderes Problem. Es war das alte Problem, das auch Kraepelin motiviert hatte, seine Klassifizierung aufzustellen. Die psychischen Krankheiten, die nun allesamt Reaktionen waren, waren nicht scharf voneinander getrennt. Die Diagnosen wurden beliebig. Das hatte tragische Auswirkungen, auf die David Rosenhan in seiner Studie „On Beeing Sane in Insane Places“ zwischen 1968 und 1972 hinwies.22 Darin ging es um die Falsifizierbarkeit von psychiatrischen Diagnosen.

21 Diese Studie zeigte auch, dass die Prävalenz der Depression nicht zunimmt: „Three samples over a 40-year period showed a stable current prevalence of depression.“ http://archpsyc.ama-assn.org/cgi/content/abstract/57/3/209. 22 David Rosenhan: On Being Sane in Insane Places. In: Science, 179, 1973, S. 250-8.

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Das Rosenhan-Experiment und die Frage, ob Homosexualität eine psychische Krankheit ist Bei den zwischen 1968 und 1972 durchgeführten Experimenten mit Pseudopatienten meldeten sich acht unterschiedliche Personen (ein Psychologiestudent, drei Psychologen, ein Psychiater, ein Kinderarzt, ein Maler und eine Hausfrau; drei von ihnen waren Frauen, fünf Männer) bei insgesamt zwölf psychiatrischen Anstalten an und behaupteten bei der Aufnahmeuntersuchung, sie hätten Stimmen gehört, die, soweit man sie verstehen konnte, die Worte „empty“, „hollow“ und „thud“ sagten („thud“ hat onomatopoetische Bedeutung wie Bums oder Plumps). Nachdem sie in die jeweilige Klinik aufgenommen worden waren, verhielten sie sich wieder völlig normal. Bei der Anmeldung gaben sie einen falschen Namen und falsche Details über ihre Erwerbstätigkeit an, blieben aber sonst bei der Wahrheit. Jede der Testpersonen wurde aufgenommen, bei elf Anmeldungen wurde eine Schizophrenie diagnostiziert, bei einer eine manisch-depressive Psychose. Während des Tests wurde keine Testperson vom Personal als gesund erkannt. Einem Institut, das nach Bekanntgabe der Ergebnisse des ersten Experiments behauptete, bei ihnen würde so etwas nicht passieren, wurde mitgeteilt, dass Rosenhan innerhalb von drei Monaten einige Pseudopatienten zu ihnen schicken würde und sie daher alle Patienten nach ihrer Wahrscheinlichkeit, Pseudopatienten zu sein, bewerten sollten. Während dieser 3 Monate wurden 193 Patienten aufgenommen, 41 davon wurden für Testpersonen gehalten. Weitere 42 wurden als verdächtig eingestuft, ohne dass Rosenhan tatsächlich Pseudopatienten entsendet hatte. Das war peinlich für die Psychiatrie. Dazu kam, dass bis 1973 Homosexualität in den USA eine psychiatrische Diagnose war, es aber gleichzeitig schwule Psychiater gab, die sich auch in den ersten Schwulenbewegungen organisierten. 1973 stimmte die APA darüber ab (!), ob Homosexualität eine psychische Störung sei oder nicht. 58% stimmten dagegen. Es war das erste Mal, dass über eine „wissenschaftliche Tatsache“ abgestimmt wurde. Abgestimmt wurde in einer „Massenbriefaktion“; nur ein Drittel der rund 30.000 angeschriebenen Psychiater antwortete.23 Im Ergebnis dieses wissenschaftlichen Schritts wurde Homosexualität aus dem DSM entfernt. Im ICD fand sich Homosexualität als psychische Störung noch bis ins Jahr 1993. Ein drittes Problem für die Reputation der Psychiatrie war die Antipsychiatriebewegung (siehe unten) dieser Zeit. Diese bezweifelte, dass psychiatrische

23 Jeffrey Satinover: Homosexuality and the Politics of Truth. Ada, MI, 1998, S. 35.

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Diagnosen überhaupt valide, also gültig sind, ob es also so etwas wie psychische Krankheit überhaupt gebe. Diese Frage ist bis heute nicht gelöst, und vieles deutet darauf hin, dass sie nicht zu lösen ist, dass psychiatrische Diagnosen und Therapien immer gesellschaftsabhängig sind. Zu allem Überfluss forderten und bekamen (1988, s.u.) Sozialarbeiter, Psychologen, Berater und „sogar Krankenschwestern“ (Greenberg, S. 238) das Recht, Psychotherapie anzubieten. 1976 formulierte der Präsident der APA, das biopsychosoziale Modell habe die Psychiater dazu gebracht, die Welt zu verändern, die Disziplin selbst aber an den Rand ihrer Existenz gebracht.24 Das DSM-III Die Psychiatrie setzte deshalb auf ein naturwissenschaftlicheres Image. In der immer noch psychoanalytisch orientierten zweiten Auflage des DSM war bereits der Begleitbegriff der Reaktion verschwunden. Depressive Reaktion hieß ab sofort neurotische Depression, schizophrene Reaktion hieß Schizophrenie. Im Vorwort bestritt man damals explizit, zu einer Kraepelinschen Klassifikation zurückkehren zu wollen: „Some individuals may interpret this change as a return to Kraepelian way of thinking, which views mental disorders as fixed disease entities. Actually, this was not the intent of the APA Committee on Nomenclature and Statistics.”25 Autor dieses Kapitels war Robert Spitzer, der Hauptautor des DSM-III von 1980, das ganz klar auf die Kraepelinschen Einteilungen zurückgreift. Im Jahr 1980 stellte die US-amerikanische American Psychiatric Association (APA) nach mehrjährigen internationalen Vorarbeiten und Studien dann mit dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders III (DSM-III) erstmals ein neuartiges diagnostisches Klassifikationsmanual vor. Dieses Manual stellte einen radikalen Paradigmenwechsel im Vergleich zu früheren Systemen dar. Im Vordergrund stand ein sogenannter atheoretischer Ansatz, der durch die weitgehend konsequente Ablehnung aller empirisch unzureichend gestützter ätiologischer Annahmen gekennzeichnet war. Stattdessen lag der Schwerpunkt auf methodologischen Neuerungen, die alle ein Hauptziel verfolgten, nämlich die Verbesserung der Reliabilität auf allen Ebenen des diagnostischen Prozesses. Genau dieses Vorgehen bezeichnet man als „neokraepelinsch“.

24 M. Wilson: DSM-III and the Transformation of American Psychiatry. American Journal of Psychiatry 150, no. 3 (1993): 399–410. (Zit. nach Greenberg 2010, S. 238). 25 American Psychiatric Association: Diagnostical and Statistical Manual 2nd ed., S. 122. (Zit. nach Greenberg, ebda. S. 239).

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Der Psychiater Robert Spitzer war Vorsitzender der Kommission zur Erstellung der dritten Ausgabe (DSM-III) im Jahr 1980. Er vertrat die radikale Auffassung, dass die Validität einer psychischen Krankheit weniger wichtig sei als die Reliabilität. Die Ursache einer Krankheit ist also weniger wichtig als der Konsens über die Krankheit. Validität gibt an, ob man tatsächlich das misst, was man zu messen vorgibt, Reliabilität bezieht sich auf die Wiederholbarkeit der Messung. Die Validität wurde und wird zugunsten der Reliabilität vernachlässigt. Es kommt darauf an, dass Psychiater sich darüber einig sind, welche Symptome sie als Depression bezeichnen. Es geht also um die Übereinstimmung der Experten und nicht um die Natur, das Wesen einer Störung. Nur mit Hilfe einer solchen Kategorisierung kann die Vielfalt an unterschiedlichen Symptomen, die zu einer Diagnose Depression zusammengefasst werden, als eine Volkskrankheit verstanden werden. Die damals neuen Computer brachten Spitzer und Kollegen auf die Idee, den psychiatrischen Diagnoseprozess zu simulieren. Sie konnten zeigen, dass dieser von unüberschaubar vielen Variablen abhing, dass es also sehr schwer ist, zu konsistenten und reproduzierbaren Ergebnissen zu gelangen. Je näher der diagnostische Prozess aber den (vorher programmierten) Computeralgorithmen und Datenpunkten kam, also beliebig oft und mit gleichem Ergebnis wiederholbar war, desto wissenschaftlicher sei er, meinten Spitzer und Kollegen. Dieses Verständnis gilt bis heute. Es ging letztlich um Datenreduktion. Diese Position wurde damals kritisiert und die Kritik hält sich bis heute: Zeitbezogene, psychodynamische oder gesellschaftsbezogene Einflüsse werden komplett übersehen. Es handelt sich um ein statistisches und statisches „eleatisches“ Verfahren. Durch immer besser werdende technisch-statistische Möglichkeiten konnten immer mehr Daten gesammelt werden. Nun ging es darum, Ordnung in diese Daten zu bringen, um zu übereinstimmenden psychiatrischen Diagnosen zu kommen. Das erste dieser Ordnungs-Modelle (1972) wird „Feighner-Kriterium“ genannt (nach dem Psychiater John Feighner). Demnach hatte Depression drei Bedingungen zu erfüllen. Erstens muss eine traurige Grundstimmung vorliegen. Zweitens müssen wenigstens vier der fünf folgenden Symptome zusätzlich dazukommen: Appetitverlust, Schlafschwierigkeiten, Verlust von Energie, Agitiertheit, Verlust von Interesse an bisherigen Aktivitäten, Schuldgefühle, verlangsamtes Denken, Selbstmordgedanken. Schließlich muss diese Situation mindestens einen Monat anhalten und nichts mit einer anderen Erkrankung zu tun haben. Dies sind im Wesentlichen die bis heute weltweit gültigen Diagnosekriterien für Depression. Die Psychiaterin Paula Clayton, die am DSM-III mitarbeitete, wies bereits 1979 darauf hin, dass bezüglich der Feighner Kriterien kein Un-

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terschied zwischen einer schweren psychotischen Depression und einer neurotischen oder psychogenen Depression, die eine Reaktion auf Verlust darstellt, festzustellen ist.26 Sie schreibt: „The so-called Feighner criteria included secondary depression, depression that could arise in context of life threatening and incabaciating medical illness.“27 Erst mit dem DSM-III wurde die „Major Depressive Episode“ zur eigenständigen Krankheit. Es wurde nicht mehr wie in Deutschland zu dieser Zeit und bis in die 90er Jahre hinein zwischen endogener28 (als „biologische Krankheit“) und psychogener (neurotischer) Depression unterschieden. Spitzer zog es vor, die Beschreibung spezifischer Typen von Depression zu vermeiden und so einen möglichst breiten Depressionsbegriff zu schaffen, um die Zustimmung unter den Psychiatern zu maximieren, so Laura Hirshbein. (Hirshbein 2009, a.a.O. S. 43) Spitzer war damals der Überzeugung, dass die diagnostischen Kriterien derart gestaltet sind, dass nicht jeder „slump“ (Durchhänger) als Depression gewertet werden könne. Doch dass genau das heute oft anders gesehen wird, beklagt eben dieser Spitzer im Vorwort zu „The Loss of Sadness“ von Horwitz und Wakefield. Das DSM-III war ein tiefer Einschnitt in der Geschichte der Psychiatrie, so Laura Hirshbein. (Ebda., S. 49) Zum ersten Mal in der Geschichte wurden auch Psychiater außerhalb der Forschung instruiert, nach welchen Kriterien bezüglich Depression eine Diagnose zu stellen ist. Die psychiatrische Diagnostik wurde allgemeinverbindlich standardisiert. Das war der Todesstoß für die Psychoanalyse. Das DSM-III, das ist sein Fluch und sein Erfolg, zwang und zwingt allen Psychiatern eine gemeinsame Sprache (jenseits der Psychoanalyse) bezüglich psychischer Krankheiten und Störungen auf. 1987 wird das DSM-III R veröffentlicht, hier werden die diagnostischen Kriterien für Depression ausgeweitet. Depression bezog sich jetzt nicht mehr nur auf niedergeschlagene Stimmung, sondern auch auf Interesseverlust und Verlust von Freude. Eine depressive Episode (einer Major Depression) ist vor allem charakterisiert durch eine depressive Verstimmung und den Verlust von Interesse oder Freude an fast allen Aktivitä-

26 Clayton, P. J., H. S. Darvish: Course of depressive Syndromes Following the Stress of Bereavement. In: Stress and Mental Disorder, ed. J. E. Barrett et al. New York 1979, S. 121–139. 27 Fatemi, H. S., Paula J. Clayton: The Medical Basis of Psychiatry. Springer, 2008. S. 32. 28 In Deutschland früher entsprechend dem „triadischen System“ definiert als „Psychosen, bei denen eine somatische Ursache zwar angenommen wird, bis heute aber nur bruchstückhaft aufgeklärt ist.“ (Lieb et al., a.a. O., S. 2).

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ten. Dazu kommen weitere Symptome bzw. Beschwerden. Das können Appetitund Schlafstörungen, Gewichtsveränderungen, psychomotorische Unruhe oder Gehemmtheit, verminderte Energie, Willens-, Denk- und Antriebshemmung, innere Leere, Konzentrationsschwierigkeiten, Gefühle der Ausweglosigkeit und Wertlosigkeit, Angst, Schuldgefühle sowie Suizidideen oder -versuche sein. In schweren Fällen treten Wahnideen, Halluzinationen oder depressiver Stupor („Erstarrung“) auf. Für die Diagnose einer depressiven Episode müssen die beiden Hauptsymptome vorliegen. Depressionsscreening Seit den frühen 80er Jahren war das DSM-III die Basis aller großen amerikanischen Community-Studien zu psychiatrischen Krankheiten. Auf diesem Instrument wurde das DIS konstruiert, das Diagnostic Interview Schedule.29 Das DIS maß entsprechend dem DSM-III das Vorkommen von Depression und Dysthymie ausschließlich symptombezogen. Das DIS war der Ausgangspunkt für die erste große nationale Studie zu psychischen Krankheiten, die Epidemiologic Catchment Area (ECA) aus den frühen 80er Jahren. Über 18.000 „normale“ Erwachsene und 2500 Erwachsene in stationären Einrichtungen wurden befragt. Die zweite große Umfrage war die National Comorbidity Studie, die von der NIMH30 initiiert wurde, und die alle 10 Jahre wiederholt wird. Die NCS-Studie stellt eine repräsentative Studie dar. Folgende Fragen wurden gestellt: Gab es in ihrem Leben schon einmal zwei Wochen oder mehr, an denen Sie sich jeden Tag traurig oder niedergeschlagen, schwermütig oder depressiv fühlten? Gab es schon einmal 2 Wochen oder mehr in ihrem Leben, an denen Sie alles Interesse für Ihre Hobbys, Arbeit etc. verloren hatten? 56% der Befragten stimmten einer Variante zu und beantworteten sie mit ja. Es gab also bei vielen beispielsweise schon einmal 2 Wochen, in denen sie ihr Interesse für ihre Arbeit verloren hatten. In einem zweiten Schritt wurden diese 56% noch einmal nach weiteren Symptomen (Appetitlosigkeit, Schlaflosigkeit etc.) befragt. Und heraus kamen die Zahlen, die auch in Deutschland so übernommen wurden, weil ähnlich erhoben: 5% der Befragten leiden gegenwärtig an einer Depression (MDD), 10% haben die Krankheit im vergangenen Jahr erlitten, 17% werden in ihrem Leben ei-

29 Vgl .: Horwitz et al. 2007: The Loss of Sadness, a.a.O., S. 140. 30 Das National Institute of Mental Health (NIMH) ist ein US-amerikanisches Forschungszentrum für psychische Störungen und das weltweit größte Institut seiner Art. Das NIMH gehört zu den National Institutes of Health, die ihrerseits Bestandteile des U.S. Department of Health and Human Services sind.

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ne Depression erleiden und 24% haben von genügend Symptomen berichtet, um davon auszugehen, dass sie einmal in ihrem Leben entweder eine MDD oder eine Dysthymia erleiden werden. (Greenberg 2010, S. 132) Es entwickelte sich ein „depression-screening-movement“, das „depression screening days“ organisiert. Diese Bewegung möchte in Schulen und bei der Gesundheitsvorsorge ermitteln, wie viele Bürger depressiv sind bzw. werden könnten. Grund ist die Verhinderung des erwarteten ökonomischen Schadens durch die Krankheit, Arbeitsausfälle, aber auch unnötige medizinische Folgekosten einer unbehandelten Depression. 70% der Personen, die positiv „gescreent“ wurden, waren bei einer Nachuntersuchung „gesund“ – obgleich es das ja nach den zugrunde liegenden Vorstellungen nicht geben kann. Jedenfalls wurden bei diesen Personen keine relevanten Symptome gefunden. (Horwitz et al., ebda., S. 148) Screening könne zur Stigmatisierung oder zu einem „Labelingeffekt“ führen, darüber hinaus diene es einer „emotionalen Überwachung“ meinen Horwitz und Wakefield. Seit 1988 gibt es besondere Verfahren zur Aufklärung über Depression. Die erste Kampagne hieß „Depression, Awareness, Recognition, and Treatment (DART)“, Initiator war das NIMH (National Institute for Mental Health). Das NIMH startete die Kampagne im Mai 1988, fünf Monte nachdem Prozac® in den USA auf den Markt kam. In den USA wurden sogenannte PRIME-MD-Interviews (Primary Care Evaluation of Mental Disorders) entworfen. Innerhalb von 7 Minuten sollte beim Allgemeinmediziner ein Screening auf Depression erfolgen. Diese Zeit war zu lang: Die durchschnittliche Dauer des gesamten Arzt-Patienten-Gesprächs betrug nur 15 Minuten. Deswegen verkürzte der Erfinder des PRIME-MD, Robert Spitzer, die Prozedur auf neun Fragen in einem Patient Health Questionnaire. Wird der Patient positiv gescreent soll er zu einem Facharzt überwiesen werden. Nach der medizinischen Vorsorge bzw. Grundversorgung sind die Schulen das zweite große Feld des Screening. Ca. 4000 amerikanische Kinder und Jugendliche begehen jedes Jahr Selbstmord, über 500.000 unternehmen einen ernsthaften Versuch. Noch mehr ist die amerikanische Öffentlichkeit beunruhigt durch die „seltenen aber schockierenden Amokläufe an Schulen.“ (Horwitz et al., 2007, S. 157) Man glaubt, dass diese Taten u.a. durch Depression ausgelöst werden, und man hofft mit einem Screening die Problemlage in den Griff zu bekommen. Hier wird deutlich, dass Depression auch juvenile Frustration umfasst. Nicht jeder Jugendliche, der wegen normalem Schulstress Ärger macht, ist depressiv. Aber genau darum geht es hier: Die Ursachen für das abweichende Verhalten werden in das Kind bzw. in den Jugendlichen hineingelegt. Hier ist die Strategie deutlich zu erkennen: Das Schul-System kann nicht der krankheitsauslösende Faktor sein, im Individuum liegt die Störung. Das Individuum muss be-

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handelt werden. 2004 wurden 82 Millionen Dollar für ein Screening- Programm ab der sechsten Klasse bewilligt. Wakefield und Horwitz zitieren eine Sekundärstudie, die sich auf 52 Studien aus 20 Ländern bezieht und ergab, dass nach DSM-IV Kriterien 20% der Schüler unter einer depressiven Störung litten. Studien aus den USA nach 1990 geben den Wert sogar mit 26% an. Weitere Studien besagen, dass ein Drittel aller Jugendlichen bis zum Alter von 20 eine depressive Episode durchgemacht haben werden. Zusammenfassend: „It is clear that depression is a major, pervasive, and perhaps increasing problem for youth.“ (Ebda. S. 160) Warum das so ist, wird nicht gefragt. Es könnte sein, dass hier „Pubertät“ gemessen wird, also normale pubertäre Zustände, die vor allem unstabil sind, und die sich auch in Traurigkeit äußern können. Diese Zustände werden jetzt für behandlungsbedürftig erklärt. Es gibt in den USA verschiedene Instrumente wie den „Columbia University TeenScreen“ oder den „Columbia Suicide Screen“, die versuchen, das Suizidpotential abzufragen. Der „TeenScreen“ hat im Jahr 2004 25% der untersuchten Schüler als gefährdet bzw. depressiv eingestuft. Auch in Deutschland gibt es den Trend, Kindern, die bisher als aufmerksamkeitsgestört („AD(H)S“) galten, eine bipolare Störung oder eine Depression zu unterstellen. So sagte der Direktor des Universitätsklinikum Eppendorf, Hamburg im Jahr 2010 über die Situation in Deutschland: „Psychische Störungen, vor allem psychosomatische Symptome, haben bei Kindern und Jugendlichen in den vergangenen Jahren von 20 auf 25 Prozent zugenommen.“31 Besonders häufig sind seinen Angaben zufolge die Störungen bei Kindern aus Familien mit geringem Einkommen und wenig Bildung. Den routinemäßigen Einsatz der Screenings zu gewährleisten, ist in den USA ein politisches „Gesundheitsziel“. In Deutschland stehen wir noch am Anfang dieser Bewegung – aber vermutlich nicht mehr lange. Die „Arbeitsgruppe 9“ des Forums „gesundheitsziele.de“ beschäftigt sich seit 2009 mit dem Thema: „Depressive Erkrankungen: verhindern, früh erkennen, nachhaltig behandeln.“32

31 Michael Schulte-Markwort, Direktor des Universitätsklinikum Eppendorf (Hamburger Abendblatt 12.08.10). 32 http://www.gesundheitsziele.de//cms/medium/229/ag9mitglieder100507.pdf: Beim „nationalen Gesundheitszieleprozess“ handelt es sich um eine Initiative der Bundesregierung und der Länder aus dem Jahr 2000. Er wird durchgeführt von der „Gesellschaft für Versicherungswirtschaft und -gestaltung e. V..“ Diese versteht sich als „die Konsensplattform für Sozialpolitik in Deutschland.“ Gesundheitsziele.de ist nach Selbstdarstellung im Internet ein Kooperationsverbund, in dem Akteure von Bund, Ländern, Kommunen, Kostenträgern, Leistungserbringern, Patient(inn)en- und Selbst-

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Zusammenfassend erklärt der kanadische Medizinhistoriker Edward Shorter die Verbreitung der psychischen Krankheiten in der US-amerikanischen Gesellschaft folgendermaßen: „Dass die Definition psychischer Krankheit erweitert wurde, war Medizinern wie Patienten gleichermaßen zu verdanken. Psychiater, die ein offensichtliches Interesse an der Pathologisierung menschlichen Verhaltens haben, waren bereit, die Grenzen des Pathologischen immer weiter zu ziehen, um den Psychologen und Sozialfürsorgern so viele Beratungschancen wie nur möglich zu entreißen.“ (Shorter 2003, a.a.O., S. 433)

Shorters Beispiel ist die Krankheit Depression: Die Grenzen dessen, was man unter Depression versteht, wurden ständig erweitert. Trübsal, Selbstverachtung, die Unfähigkeit, Freude zu empfinden, seien seit Jahrhunderten bekannt, und zwar als Melancholie. Aber Melancholie war seit Jahrhunderten auch mehr als die Krankheit Depression, nämlich auch Voraussetzung für Kreativität. Shorter erklärt, dass der Sinn in der Definitionserweiterung der Depression (die seit den 60er Jahren auch sog. Dysphorien beinhaltet) darin bestand, „ein psychiatrisches Bollwerk gegen alle anderen Beratungs- und Behandlungsarten zu errichten. Tatsächlich jubelt die American Psychiatric Association seither jährlich über neue Rekordzahlen.“ (Ebda.) Die Psychiatrie zu Beginn des neuen Jahrhunderts ist zunehmend an Patienten interessiert, die früher bestenfalls vom Hausarzt behandelt wurden. Shorter: „Selbst führende Fachleute sprachen von leichter Depression oder depressiven Ängsten und neurokognitiven Störungen, die es wert sind, als eigenständige Kategorien in Erwägung gezogen zu werden. Der Begriff ‚sub-threshold‘ kam auf, um auch jene Personen mit einzuschließen, die einst unterhalb der Schwelle angesiedelt worden waren, also nicht als krank gegolten hätten.“ (Shorter 2003, S. 436)

Für Shorter geht es um einen Konkurrenzkampf der Psychiatrie gegen nichtmedizinische Konkurrenz aus Psychologie und Sozialarbeit. Diese Vorstellung ist typisch amerikanisch und eine Analogie kann man z.B. in der früheren USamerikanischen rigiden Zulassungspraxis für Psychoanalytiker sehen. Shorter sagt, dass die Ärzte an einem Monopol auf Psychoanalyse interessiert waren, um sich die Konkurrenz von Nicht-Medizinern vom Leibe zu halten.

hilfeorganisationen, Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden, Industrie und Wissenschaft zusammenarbeiten.

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„Jahrelang hatten sich die amerikanischen Analytiker energisch geweigert, Nichtmediziner zu psychoanalytischer Ausbildung zuzulassen. Doch 1985 strengten vier Psychologen eine Gruppenklage gegen die APA an, in der es hieß, dass dieses Ausbildungsmonopol gegen das Bundeskartellgesetz verstoße. 1988 kamen die psychoanalytischen Institute überein, Nichtmediziner aufzunehmen. Sofort strömten Sozialfürsorger und Psychologen in die Ausbildungsstätten. Bereits 1991 waren 21 Prozent der Lehrkandidaten keine Mediziner mehr.“ (Shorter 2003, S. 462)

In den 1990er Jahren geriet, Shorter zufolge, die Psychiatrie durch eine gewaltige Fehlentscheidung völlig aus den Fugen. Psychiater waren zu Fachleuten ausgebildet worden, um schwere psychische Krankheiten zu behandeln; doch kaum hatten sie eine Privatpraxis eröffnet, begannen sie sich mit den wesentlich häufigeren und lukrativeren Psychoneurosen zu befassen. Damit wurden sie zu direkten Konkurrenten von Sozialarbeitern und Psychologen. „Doch anstatt sich nun wieder den schweren psychischen Krankheiten zuzuwenden, dem eigentlichen Gebiet der biologischen Psychiatrie, marschierten sie in die Gegenrichtung: Sie erweiterten die Definition von psychischer Krankheit, so dass sie alle Verhaltensweisen und Merkmale einschloss, die einst unterhalb der Schwelle gelegen hatten, um die riesige Nachfrage der amerikanischen Öffentlichkeit nach einer psychotherapeutischen Behandlung von Alltagsproblemen zu befriedigen.“ (Shorter 2003, S. 441)

Die Weiter- und Sonderentwicklungen des Verständnisses von Depression und Psychotherapie in Deutschland

Wie in der Einleitung erwähnt, wurde im Jahr 1992 die Definition des DSMIII im ICD-10, dem auch Deutschland folgt, übernommen. Dieses Datum markiert den „Sieg“ der amerikanischen „neokraepelinschen“ Psychiatrie in Deutschland. Da die Entwicklung in Nazi-Deutschland, in der DDR und auch in der Nachkriegs-BRD erheblich von der Entwicklung in den USA, die sich schlussendlich durchgesetzt hat, abweicht, erscheint es sinnvoll, einen Überblick über die Sonderentwicklungen – im Sinne eines so-hätte-esauch-kommen-können – an dieser Stelle einzufügen.

W EIMARER R EPUBLIK Die unmittelbare Vorgeschichte der NS-Zeit, die Entwicklung der Psychotherapie in der Weimarer Republik, spielte, wie bereits geschildert, eine Rolle für die Entwicklung der psychotherapeutischen Behandlung in den USA, denn viele innovative Theoretiker und Therapeuten wurden aus Deutschland vertrieben und gingen in die USA. Die Ideen dieser Therapeuten wurden deshalb in einem der Entwicklung in den USA gewidmeten Kapitel behandelt. Aber auch für die Entwicklung in Deutschland während der Weimarer Republik ist die US-amerikanische Therapie-Geschichte vor dem Ersten Weltkrieg von Interesse. Beide Stränge haben sich gegenseitig befruchtet. Die allgemeine ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie (AäGP), gegründet 1928, und ihre Vorläuferorganisationen, spielten in Deutschland eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Psychotherapie in der Weimarer Republik und auch für die Weiterentwicklung der Psychotherapie im „Dritten Reich“. In ihr

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kamen die Ärzte zusammen, die offen für die neuen Formen psychischer Behandlung waren. „Einer der Ursprünge der AäGP liegt aber auch in der ‚Mental Health‘ Bewegung, wie sie in den USA von Betroffenen – Psychiatrie-Erfahrenen wie wir heute sagen würden – 1908 gegründet wurde.“1 Nach amerikanischem Vorbild gründete der deutsche Psychiater und Gründer der Psychiatrischen Klinik Gießen, Robert Sommer (1864–1937), 1925 in Deutschland den „Deutschen Verband für psychische Hygiene“. Der Begriff der Psychohygiene wurde bereits im Jahre 1900 von ihm verwendet. Ab 1927 übernahm der Psychiater Hans Roemer die Geschäftsführung dieses Verbandes, Beisitzer waren Gustav Kolb und Hermann Simon. Diese drei waren die wichtigsten Reformpsychiater der Weimarer Republik. 1928 hielt dieser Verband seine erste Tagung in Hamburg ab. Der „Deutsche Verband für psychische Hygiene“ spielte 1927 eine Rolle auf dem 2. „Allgemeinen Kongress für ärztliche Psychotherapie“. Der 1. Kongress für „ärztliche Psychotherapie“ hatte 1926 stattgefunden. Die Psychotherapie, die von den Psychoanalytikern zunächst außerhalb der medizinischen Institutionen entwickelt worden war, wurde nun von den Ärzten zurückerobert. Zu dem 2. Kongress, der in Bad Nauheim abgehalten wurde, waren neben dem Verband für psychische Hygiene etwa 500–600 Ärzte gekommen. Der bekannte Psychiater Hans Prinzhorn („Prinzhornsammlung“ = Malereien von schizophrenen Patienten) hob während dieses Kongresses die Bedeutung der Psychoanalyse als psychotherapeutischer Technik hervor. Erst 1928, nachdem schon zwei sehr erfolgreiche Kongresse organisiert waren, wurde die „Allgemeine ärztliche Gesellschaft für Psychotherapie“ gegründet. Sie war ein Zusammenschluss jüngerer Psychiater, die in der Kraepelin-Denkrichtung standen, aber die reine Vererbungslehre zur Erklärung von geistigen Erkrankungen ablehnten. Sommer, der den Verband für psychische Hygiene gegründet hatte, brachte die „Zeitschrift für psychische Hygiene“ nun als Beilage zur „Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie“ heraus. Sie hatte keinen großen Einfluss. Ab 1928/29 gab Sommer zusammen mit den Psychiatern Kretschmer, Kronfeld und I.H. Schultz das „Zentralblatt für Psychotherapie und ihre Grenzgebiete“ heraus. Depression wurde damals nicht als Volkskrankheit thematisiert, trotzdem hatte Depression als „große (Wirtschafts-) Depression“ Auswirkungen auf die Volksgesundheit.

1

Heide Berndt: Die Entwicklung von Psychiatrie und Psychotherapie in Deutschland. In: Alice: Wissenschaft 1/2004, Berlin, 2004, S. 14. http: //uhura. asfh-berlin. de/ uplo ads /media/alice_wissen_1_2004.pdf. Gegründet wurde allerdings das „Mental Hygiene Movement“ und nicht ein „Mental Health Movement“.

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Die große Depression: die Arbeitslosen von Marienthal Als Great Depression („Große Depression“) wird die schwere Wirtschaftskrise bezeichnet, die in den in den USA am 24. Oktober 1929 mit dem „Schwarzen Donnerstag“ (bzw. „Schwarzen Freitag“) begann und die 1930er Jahre dominierte. Diese Wirtschaftskrise brachte die Nazis in Deutschland an die Macht. In der Zeit der großen Depression war die Depression selbstverständlich sehr verbreitet – sie hieß nur nicht so. Zeugnis davon legt die berühmte Studie von Lazarsfeld et al. über die Arbeitslosen von Marienthal (in Österreich) aus dem Jahr 1929 ab. Paul Lazarsfeld et al. isolieren in ihrer Studie vier „Haltungstypen.“2 Drei davon würden nach heutiger Lesart als „depressiv“ gelten: • Die Resignierten. Die stärkste Gruppe. Sie leben gleichmütig erwartungslos

dahin. Ihre Einstellung: Man kann ja doch nichts gegen die Arbeitslosigkeit machen. Dabei ist die Stimmung ruhig, es gibt sogar heitere Augenblicke. Charakteristisch ist eine völlig erwartungslose Grundhaltung zum Leben. Die Haushaltsführung ist geordnet. • Die Ungebrochenen. Die zweitstärkste Gruppe mit 23 %. Bei Familien dieses Typs hat man den Eindruck einer größeren Aktivität und subjektiven Wohlbefindens. Es gibt Pläne und Hoffnungen für die Zukunft. • Die Verzweifelten. Diese Menschen sind völlig verzweifelt. Wie die Resignierten halten sie ihren Haushalt in Ordnung und kümmern sich um die Pflege der Kinder. Es kommen aber noch hinzu: Verzweiflung, Depression, Hoffnungslosigkeit, das Gefühl der Vergeblichkeit aller Bemühungen. • Die Apathischen. Das Hauptkriterium ist das energielose, tatenlose Zusehen. Wohnung und Kinder sind unsauber und ungepflegt, die Stimmung ist nicht verzweifelt, sondern indolent (schmerzunempfindlich, sediert). Es werden keine Pläne gemacht, die Wirtschaftsführung ist unrationell. In dieser Gruppe fanden sich die Trinker des Ortes. Die Familien zeigen Verfallserscheinungen. Das Unterstützungsgeld wird schon in den ersten Tagen verbraucht, ohne dass bedacht würde, was in der übrigen Zeit geschehen sollte. Die Depression erfährt in dieser Schilderung aus dem Jahr 1931 also eine Steigerung. Nach heutigem Verständnis würden wir nur noch zwei Gruppen sehen, die depressiven und die nicht depressiven. Und man würde die Depression als Krankheit sehen, nicht als Folge der Arbeitslosigkeit. Eine solche individualisie-

2

Paul F. Lazarsfeld, Marie Jahoda, Hans Zeisel. S. Hirzel: Die Arbeitslosen von Marienthal. Ein soziographischer Versuch. Leipzig 1933; Frankfurt/M. 1975.

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rend-pathologisierende Sichtweise auf die soziale Wirklichkeit verschleiert also nicht nur die Sicht auf das wirkliche Empfinden der Menschen, sondern auch auf die Ursachen davon. 77% der Familien in Marienthal würden nach unserer Wahrnehmung als depressiv gelten. Die 23% „Ungebrochenen“ besaßen im Gegensatz zu den anderen Personen die Fähigkeit, „für die Zukunft Pläne und Hoffnungen“ bewahren und entwickeln zu können: die Antizipation möglicher Entwicklungen. Auffallend war für Lazarsfeld et al., dass alle Kinder zu der Gruppe der Resignierten gehörten – obwohl man bei ihnen das Gegenteil erwarten könnte.

D EPRESSION IN N AZI -D EUTSCHLAND : E UTHANASIE UND M IESMACHER Im „Dritten Reich“ gab es keine Volkskrankheit Depression. Psychotische Patienten fielen der „Euthanasie“ (Aktion T4) zum Opfer, „negatives Denken“ wurde als „Miesmacherei“ politisch verfolgt. „Durch Maßnahmen und Kampagnen gegen Kritiker am Nationalsozialismus ging der umgangssprachliche Ausdruck ‚Miesmacher‘ (um 1900 in der Soldatensprache belegt) auch in die Sprache von Erlassen und öffentlichen Verlautbarungen ein.“3 Ab dem 2. Mai 1934 ordnete Joseph Goebbels eine achttägige „Kampagne gegen Miesmacher und Kritikaster, gegen Gerüchtemacher und Nichtskönner, gegen Saboteure und Hetzer“ an. Durch diese Kampagne hat Goebbels früh einen Bekanntheitsgrad erreicht, der später nur durch seine berüchtigte Sportpalastrede übertroffen wurde. (SchmitzBerning, ebda.) Es wurde ein Depressions- und Melancholieverbot ausgesprochen. Hintergrund der Rede war, dass einer Minderheit von Profiteuren, Aufsteigern, Vorteilsnehmern und Nutznießern der „Machtübernahme“ eine Mehrheit gegenüber stand, die mit der „Revolution“ von 1933 und ihren Ergebnissen erheblich andere Vorstellungen verbunden hatte, sich nun enttäuscht sahen und diesem Befinden auch Ausdruck gab. Beunruhigend war für die Machthaber, dass die Unzufriedenheit weit in die Reihen der Nationalsozialisten, insbesondere in die Formationen der Sturm Abteilung (SA) hineinreichte. Am 30. Juni 1934 kam es zu einer Mordaktion an SA-Führern („Rhöm-Putsch“). Damit wurde nachdrücklich deutlich gemacht, dass die Propaganda-Aktion des Vormonats eine Aufforderung zum „positiven Denken“ war. Wurde jemand beim „negativen Denken“ erwischt, konnte die „Therapie“ folgendermaßen aussehen:

3

Cornelia Schmitz-Berning: Vokabular des Nationalsozialismus. Berlin, 1997, S. 403.

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„Gegen eine Miesmacherin, die in einem kleinen Landort unweit von Mainz die Nachricht verbreitete: ‚Es wird niemals besser werden‘, wurde folgende Strafe verhängt: Sie muss sich drei Wochen lang täglich auf der Bürgermeisterei melden und folgenden Ausspruch tun: ‚Es ist schon besser geworden und wird noch besser werden‘. Dieses Mittel dürfte die Wirkung nicht verfehlen.“ (Frankfurter General-Anzeiger, 15.05.1933. Zit.. nach Schmitz Berning, ebda.)

Menschen, die unter schweren Depressionen litten, konnten im „3. Reich“ Opfer der NS-Euthanasie werden. Das am 14. Juli 1933 erlassene „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ galt für Patienten mit „angeborenem Schwachsinn“, Schizophrenie, manisch-depressivem Irresein, Epilepsie, für erblich Blinde und Taube und Patienten mit schweren erblichen Missbildungen. „Aktion T4“ ist die nach dem Zweiten Weltkrieg gebräuchlich gewordene Bezeichnung für die systematische Ermordung von mehr als 100.000 Psychiatrie-Patienten und behinderten Menschen durch SS-Ärzte und -Pflegekräfte von 1940 bis 1941. Die Bezeichnung „T4“ bezog sich auf eine Berliner Villa in der Tiergartenstraße 4, in der sich während der NS-Zeit die Zentrale für die Leitung der Ermordung behinderter Menschen im Deutschen Reich befand. Nach kirchlichen Protesten wurden die Tötungen nach erfolgter „Leerung“ vieler Krankenabteilungen nicht mehr zentral, sondern ab 1942 dezentral, weniger offensichtlich fortgesetzt (Wikipedia.de). Schwer depressive Menschen wurden ermordet, leichtere Fälle, die nicht als „Miesmacher“ klassifiziert wurden, konnten aber durchaus auch psychotherapeutisch behandelt werden, wie die Soziologin Heide Berndt berichtet. Psychotherapie im „3. Reich“ Patienten konnten im „Dritten Reich“ psychotherapeutisch und sogar psychoanalytisch behandelt werden. Es ist eine gern und oft wiederholte Legende, dass die Nationalsozialisten die Psychotherapie ablehnten. Sie forschten sogar selbst im Auftrag der Volksgesundheit an der Methode der Psychoanalyse und das mit prominenter Unterstützung durch C.G. Jung und I.H. Schultz, dem Erfinder des „autogenen Trainings“. Die Lehren Freuds wurden offiziell zwar scharf abgelehnt und Freuds Bücher verbrannt, aber am 1936 neu gegründeten „Deutschen Institut für psychologische Forschung und Psychotherapie“, dem sogenannten „Göring-Institut“ (benannt nach Matthias Heinrich Göring, Arzt und Psychotherapeut sowie Vetter Hermann Görings) wurde weiter – auch an der Psychoanalyse – geforscht. Während ihrer 8-jährigen Tätigkeit am Sigmund-Freud-Institut in Frankfurt/M. von 1966 bis 1974 schreibt Berndt (a.a.O.), hatte sie nie etwas von einem Gö-

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ring-Institut gehört, in dem in Berlin während der nationalsozialistischen Herrschaft Psychotherapie mit staatlicher Förderung betrieben wurde. Auch sie hing dem Vorurteil an, dass die Nazis jegliche Form von Psychotherapie ablehnten, weil sie Freuds Bücher verbrannt hatten. Die Tatsache, dass im AbrahamInstitut4 ausgebildete Psychoanalytiker während des gesamten „Dritten Reiches“ am Göring-Institut arbeiten konnten, wenn auch nicht ohne Behinderungen und Ängste, zeige, so Berndt, dass die Nationalsozialisten keineswegs so reaktionär bzw. antimodern waren, wie es die restaurative Nachkriegsinterpretation sehen wollte. Die Nazis förderten nicht nur moderne psychotherapeutische Verfahren, sondern richteten auch 1941 an den Universitäten das Psychologiestudium ein, weil sie Fachleute brauchten, die Eignungstests mit Wehrmachtsangehörigen durchführten, um sie an die richtigen Maschinen zu stellen. Erst in den 1980er Jahren wurden die Psychoanalytiker mit dieser Vergangenheit konfrontiert. Den Anfang dazu hatte ein Amerikaner gemacht, der 1975 an der University of California in Los Angeles mit der Arbeit: „Psyche and Swastika, – Neue Deutsche Seelenheilkunde 1933–1945,“5 promovierte. Wie war es zur Gründung des Göring-Instituts gekommen? Der bereits erwähnte Psychiater Walter Cimbal spielte die entscheidende Rolle dabei. Er war kein NS-Parteigenosse, bezeichnete sich selbst jedoch als alten „Stahlhelmer“ und gehörte dem stark antisemitischen „Hammerbund“ an. Er war gut befreundet mit Matthias Heinrich Göring. Göring war über den Neurologen und Individualpsychologen Leonard Seif mit der Adlerschen Individualpsychologie bekannt geworden, die Seif allerdings im Zuge der Selbstgleichschaltung nach 1933 als „Gemeinschaftspsychologie“ umdefinierte. 1935 machte sich Cimbal zusammen mit Matthias Heinrich Göring Gedanken über die Planung eines „Deutschen Institutes für psychologische Forschung und Psychotherapie“. Dieses Institut wurde Mai-Juni 1936 in den Räumen des alten Berliner Psychoanalytischen Instituts, dem ehemaligen Abraham-Institut, gegründet. Die Nationalsozialisten betrieben „Heilen und Vernichten“ mit gleicher Energie, so Berndt. Sie brachten nicht nur chronisch psychisch Kranke und Behinderte um, sondern förderten zugleich auf Staatskosten die Entwicklung psychotherapeutischer Methoden.

4

Berliner Psychoanalytisches Institut, 1920 bis 1933, gegründet von Karl Abraham und Max Eitingon. Ab 1933 durften in den Vorständen wissenschaftliche Gesellschaften keine Juden mehr sein, 1936 wurden jüdische Mitglieder angehalten, „freiwillig“ aus der „Deutschen Gesellschaft für Psychoanalyse“ auszutreten.

5

Eine gekürzte deutsche Fassung: Geoffrey Cocks: Psychoanalyse, Psychotherapie und Nationalsozialismus, in: Psyche, Jg. 37, 1983, 1116–1135.

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Regine Lockot6 beschreibt die Nahtstellen zwischen menschenvernichtender Psychiatrie und heilender Psychotherapie im „Dritten Reich“, insbesondere wenn es um standespolitische Interessen ging. Die Anstalts-Psychiater wollten die Etablierung der Psychotherapeuten verhindern. In einem Brief des beratenden Heerespsychiaters Wuth vom 5. 8. 41 heißt es: „Ich sehe in der gesamten geisteswissenschaftlichen Psychologie eine Gefahr für die Medizin, eine neue Art von seelischem Heilpraktikertum.“ An den Münchner Psychiatrieprofessor, Geheimrat Oswald Bumke, schrieb Wuth am 23. 2. 42: „De Crinis und ich haben uns geweigert, Vorlesungen für Laien in klinischer Psychiatrie mit Krankenvorstellungen zu halten. Es erscheint auch untragbar, sie in den Kliniken zu haben. Auch Rüdin soll Kroh eine Absage erteilt haben. Ich habe ihn auf die Gefahr aufmerksam gemacht, die darin besteht, dass einerseits die Psychologen, andererseits die Psychotherapeuten das ganze Gebiet der Psychotherapie, ‚Neurosen‘ usw. für sich beanspruchen und dass die Geisteskranken unter die Euthanasie fallen. Um den Nachwuchs wird es schlecht bestellt sein, wenn das Gebiet so beschnitten wird [. . .].“ ( Lockot 1985, S. 247)

Im Klartext heißt das, die Psychiater wollten nicht auf die Euthanasie, d.h. die Ermordung der Patienten eingeschränkt werden, während die Psychotherapeuten das schönere Geschäft der Heilung übernahmen. De Crinis war Professor für Neurologie und Psychiatrie in Berlin und von Anfang an in die EuthanasieMordaktionen eingeweiht. Berndt fasst zusammen: Reformpsychiatrisches Denken und Offenheit gegenüber psychotherapeutischen Behandlungsmethoden bedeute keine Immunität gegenüber der nationalsozialistischen Weltanschauung und Vernichtungspolitik. Vielmehr zeigen die Lebensläufe einiger prominenter Vertreter der Psychoanalyse – C. G. Jung, Carl Müller-Braunschweig, Harald Schultz- Hencke, Felix Boehm, Werner Kemper, I. H. Schultz, Walter Cimbal, Valentin Faltlhauser –, dass es Möglichkeiten der Akkomodation, des Anbiederns und der tatkräftigen Mitarbeit gab. Die Nationalsozialisten akzeptierten Psychotherapie als Chance7 für den „höherwertigen“ Deutschen, sich in die Volksgemeinschaft einzugliedern; nur die „Minderwertigen“ und rassisch Unerwünschten sollten den Vernichtungsprogrammen zugeführt werden. Zwischen Psychiatern und Psychotherapeuten hätte es eine Arbeitsteilung geben können,

6

Regine Lockot: Erinnern und Durcharbeiten: zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus. Frankfurt/M. 1985.

7

Auch das bis heute gültige Heilpraktikergesetz, auf dessen Basis Psychotherapie ausgeübt werden kann, stammt aus dem Jahr 1939.

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die allerdings etliche Psychiater, die sich damit auf die Vollstreckung des Mordprogramms reduziert sahen, ablehnten. Psychologische Psychotherapie wurde von ihnen als „seelisches Heilpraktikertum“ abgewertet. „Miesmacherei“ und „Defätismus“ liefen der allgemeinen Mobilmachung zuwider und wurden mit allen Mitteln der Propaganda, und wenn das nicht half, mit Mitteln der Gewalt, unterdrückt. Insofern war kein Platz für eine Volkskrankheit Depression bzw. Neurasthenie oder ähnliches. Patienten mit schwerer psychotischer Depression (manisch-depressives Irresein) wurden als „minderwertig“ von Staats wegen umgebracht. Die lebensentscheidende Unterscheidungen zwischen den Ausprägungen der Depression trafen deutsche Ärzte.

D EPRESSION , S UIZID

UND

P SYCHOTHERAPIE

IN DER

DDR

Im realen Sozialismus war die Demonstration positiven Denkens zu feierlichen Anlässen erwünscht. Schaut man sich heute Videos auf dem offiziellen nordkoreanischen Youtube-Kanal (Benutzernamen „uriminzokkiri“) an, wird deutlich, was gemeint ist: In der dort gezeigten Propaganda in Form von Aufmärschen, Paraden etc. ist Begeisterung, Zuversicht und Einigkeit einheitliches Merkmal aller gezeigten Werktätigen. In der DDR war es ähnlich. Das wirkte dann am Ende der Geschichte dieses Staates – am 40. Geburtstag der DDR – im Kontrast zur Wirklichkeit (die „Wende“ war in vollem Gange, massenweise Bürger verließen das Land) gespenstisch: Es zeigte sich eine Mischung aus Demenz und Autismus der herrschenden Kaste. Das heute in kapitalistischen Gesellschaften vorgeschriebene positive Denken ist dagegen weit erfolgreicher weil subtiler, allgegenwärtig und als „Graswurzelphänomen“ verkauft.8 Tatsächlich hatte die DDR eine der höchsten Selbstmordraten der Welt. So schreibt Erich Müller,9 ehemaliger Direktor des Instituts für Rechtsmedizin der TU Dresden, dass es nicht ungewöhnlich sei, dass nach der Wende der Suizidstatistik Deutschlands große Aufmerksamkeit gewidmet wurde, zumal die Suiziddaten der DDR seit 1963 nicht mehr veröffentlicht wurden. Die Suizidrate der DDR war fast doppelt so hoch wie die der BRD. Diese Differenz war bereits nach der Teilung Deutschlands aufgetreten und setzte sich bis 1989 fort. Sie löste eine populistische Diskussion in dem Sinne aus, dass in Diktaturen mehr Men-

8

Vgl. dazu Barbara Ehrenreich: Smile or Die. Wie die Ideologie des Positiven Denkens

9

Erich Müller: Statistische Daten zum Suizidgeschehen. In: Die Kriminalpolizei, März

die Welt verdummt. A.a.O. S. 231. 2007. http://www.kriminalpolizei.de.

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schen in den Selbstmord getrieben werden als in Demokratien. Diese These sei anhand der Literatur aber nicht verifizierbar, so Müller, denn die Differenz sei auch in den davorliegenden Jahren zu beobachten gewesen, wenn man die Suizidrate separat in den korrespondierenden Grenzen von Ost- und Westdeutschland betrachte. In den deutschsprachigen Ländern hatten Sachsen und seine angrenzenden Staaten schon immer die höchsten Suizidraten aufzuweisen. Da die Suizidforschung gesellschaftliche Umwälzungen als eine der wesentlichsten Ursachen für einen Anstieg der Suizidrate ansieht, war man gespannt auf das Verhalten nach der Wiedervereinigung Deutschlands. Durch das Ansteigen der Arbeitslosenzahlen war eine Zunahme der Suizidrate zu erwarten, die aber nicht eintrat. Tatsächlich wird aufgrund dieser Beobachtung in einem aktuellen Lehrbuch der Psychiatrie Émile Durkheims auf Suizid bezogene Anomiethese in Frage gestellt: „Beim Anomiekonzept (Durkheim) stehen soziologische Faktoren wie z.B. fehlende gesellschaftliche Wertesysteme, Autoritätsverlust oder Wertewandel, für die Entwicklung der Suizidalität im Vordergrund. Man spricht dann von einem anomischen Suizid. Neuere Zahlen aus Ostdeutschland (hohe Arbeitslosigkeit und rückläufige Suizidraten) scheinen das Konzept jedoch zu widerlegen.“10

Erich Müller meint dazu, man solle vorsichtig sein, wenn man die Ursachen der Abnahme der Suizidzahlen nur der Wende-Politik zuspräche. Unbestritten erreichte 1989 die Suizidrate in der DDR den niedrigsten Wert in ihrer Geschichte, aber dieser quantitative Aspekt habe bereits in den 70er Jahren begonnen und nicht erst Ende der 80er. Seine Erklärung bleibt aus heutiger Sicht nach wie vor eine offene Frage. Es könnte tatsächlich an einer verbesserten psychiatrischen Versorgung liegen, dies müsse dann aber für die psychiatrische Versorgung in der DDR gelten. In einem populärwissenschaftlichen Buch über Gerichtsmedizin von 1977 aus der DDR liest man zum Suizid in Ost und West etwas fundamental anderes: „Die Beziehungen der Menschen in der sozialistischen Gesellschaft sind kameradschaftlicher Art und beruhen auf gegenseitiger Hilfe. Also müsste die Umwelt – Elternhaus, Schule, Betrieb und Arbeitskollektiv – in der sozialistischen Gesellschaft auch manchen

10 Lieb et al., a.a.O., S. 398: Die Strategie ist deutlich: Selbstmord ist kein soziales Phänomen, sondern fällt ganz in den Kompetenzbereich der Psychiatrie, die damit zu einer lebensrettenden medizinischen Disziplin wird und damit weiterhin Minderwertigkeitskomplexe gegenüber ihren Schwesterdisziplinen abbaut.

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dieser Konflikte [die zum Selbstmord führen, KI] erkennen und abfedern können. […] Im Jahr 1976 veröffentlichten amerikanische Wissenschaftler Untersuchungen, die erneut den direkten Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Selbstmord bestätigen. Wächst die Zahl der Arbeitslosen in den USA nur um ein Prozent, so steigt die Selbstmordrate der Bevölkerung um 4.1 Prozent an. Das ist einer der Gründe, warum die kapitalistische Gesellschaft in der Regel eine viel höhere Selbstmordrate aufweist als die sozialistische. Der verschärfte Konkurrenzkampf, die Atomisierung des Menschen im Kapitalismus, die mit der ständigen Krise verbundene Existenzangst treiben viele Menschen gerade in ihren besten Jahren in den Selbstmord. Wer wie im Kapitalismus schon mit vierzig zum ‚alten Eisen‘ gehört, hat nichts mehr vom Leben zu erwarten.“11

So die veröffentlichte Meinung in der DDR. Diese entsprach nicht den Tatsachen. Die DDR hatte, wie gesagt, sehr zum Entsetzen der Machthaber, hinter Finnland die höchste Selbsttötungsrate der Welt: Jährlich nahmen sich 5000 bis 6000 DDR-Bürger das Leben.12 Laut DDR-Staatsideologie durfte es das nicht geben, galt Selbsttötung doch als typisches Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft. Selbstmorde wurden offiziell – wie auch heute – als durch Krankheit, nämlich Depression, ausgelöst, verstanden. In einer Leipziger Dissertation mit dem Titel „Der Suicid unter der Berücksichtigung der Situation in der Stadt Leipzig aus dem Jahr 1963 (S. 47) liest man: „Aus eigener Erfahrung bei Tatortbesichtigungen kann gesagt werden, dass die Ermittlungsbehörden bestrebt sind, jede den Angehörigen auffallende Traurigkeit beim Verstorbenen als Depression anzusehen. Hierunter verbirgt sich so manches andere Motiv.“13 Was steckte hinter der hohen Suizidrate der DDR? Der Historiker Udo Grashoff hat mehrere tausend Selbstmorde seit 1945 ausgewertet. Grashoff kommt zu dem Ergebnis, dass entgegen der Erwartung die extrem hohe Selbstmordrate der DDR keine politischen Ursachen hatte. Wie in anderen Ländern auch, gehörten körperliche und seelische Krankheiten, Beziehungsprobleme, der Verlust eines nahe stehenden Menschen in der DDR zu den häufigsten Motiven. Grashoff widerspricht damit vielen Historikern, Soziologen und Publizisten. So sprach der Theologe Ehrhart Neubert mit Blick auf SED-Herrschaft und Stasi von „suizidalen Strukturen“ in der DDR. Der Publizist Michael Haller sieht den „totalitären Marxismus-Leninismus in Verbindung mit der Tradition des preußischen Eta-

11 Hans Pfeiffer: Die Spuren der Toten. Die Gerichtsmedizin im Dienste der Wahrheit. Berlin (Ost) 1977, S. 201f. 12 Maitta Kraus: Im Paradies ist es nie mies. In: „FAZ“ 13.08.2007. 13 Udo Grashoff: In einem Anfall von Depression. Selbsttötungen in der DDR. Berlin 2006, S. 125.

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tismus nach Art der DDR“ als Ursache für die hohe Selbstmordrate. Der Soziologe Peter Müller wiederum vermutet dahinter Verhaltensstörungen und „soziokulturelle Blockierungen der Herausbildung individueller Handlungsfähigkeit.“14 Nach Ansicht Grashoffs liegen aber vielmehr religiöse, regionale, traditionelle und mentale Gründe vor. So fand er, statistisch betrachtet, in protestantisch geprägten Gegenden eine höhere Suizidrate vor als in katholischen Gebieten, wo das theologisch begründete Suizidverbot sowie die diskriminierenden Beerdigungspraktiken für Selbstmörder viele Katholiken abschreckte oder Fälle aus Scham verschwiegen wurden. Grashoff beobachtete auch, dass Gebiete wie Sachsen und Thüringen bereits in den Statistiken des Kaiserreiches zum Ende des 19. Jahrhunderts Spitzenwerte aufwiesen. Und: Das Verhältnis der Selbsttötungsraten blieb auch auf dem Gebiet der Ex-DDR im Vergleich mit der BRD vor 1990 drei zu zwei. Die Unterschiede in Bezug auf Selbstmorde zwischen Ost- und Westdeutschland waren fast 100 Jahre lang relativ stabil. War die DDR dennoch ein Volk von Depressiven? Im Tagungsband des Siegmund-Freud-Instituts vom November 2009 über „deutsche Selbstverständnisse“ schreibt der Facharzt für psychosomatische Medizin Ulrich Bahrke: „Der Spaltung des Landes 1949 folgten unterschiedliche Entwicklungen und Identifizierungen: Während sie in der Bundesrepublik durch Demokratie, Wirtschaftswunder, Schuldverdrängung und -aufarbeitung, agierte Generationskonflikte, Terrorismus und die Bonner Republik charakterisiert waren, bildeten in der DDR die sozialistische Utopie das Alibi für die Diktatur, Kollaboration mit der Fremdherrschaft, Unterdrückung individueller Lebensentfaltung und ein großräumiges Gefangensein den Rahmen der Lebensrealität.“15

Diese „Trauma-Marker“ (Bahrke, ebda.) hätten die Bewohner der DDR zu einem Volk von Depressiven gemacht mit Nachwirkungen bis in die heutige Zeit. So bezieht Bahrke den Freitod des Fußball-Bundesliga-Torwarts Robert Enke im Jahr 2009 und dessen Depressionen auf diese DDR-„Trauma-Marker“. Die Psychologen und Publizisten Klaus Behnke und Jürgen Fuchs, 1977 infolge der Biermann-Affäre aus der DDR ausgebürgert, weisen auf eine Verstrickung

14 Lars-Broder Keil: Warum sich im Osten mehr Menschen als im Westen umbringen. In „Die Welt“, 02.11.2006. 15 Zit. nach: Ines Geipel: Seelenriss. Depression und Leistungsdruck. Stuttgart 2010. S.199. In diesem Buch wird anhand von Einzelschicksalen (Robert Enke u .a. Sportler) die These vertreten, das unbewältigte DDR-System führe zu einer Zunahme von Depressionen in der heutigen BRD.

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der ostdeutschen Psychologie und Psychiatrie mit dem Ministerium für Staatssicherheit hin. In ihrem Buch „Zersetzung der Seele“ (Berlin 1995) beleuchteten Behnke und Fuchs die Rolle der Psychologie bei der Unterdrückung in der DDR. In Potsdam, in der ehemaligen Hochschule des Ministeriums für Staatssicherheit, unterhielt man einen eigenen Lehrstuhl „Operative Psychologie“. Wissenschaftler verdienten sich dort ihre akademischen Grade unter anderem mit Arbeiten über das effektive Anwerben und Führen von Inoffiziellen Mitarbeitern selbst im Kindes- und Jugendalter (Focus 13/95), sie arbeiteten die Strategien aus, wie Dissidenten und oppositionelle Gruppen zu „zersetzen“ seien. Das sagt natürlich wenig über das Vorkommen von Depression in der DDR, aber viel über ein allgegenwärtiges Klima des gegenseitigen Misstrauens. In dem Band „Psychiatrie in der DDR“16 berichten Betroffene und Professionelle über ihre Erfahrungen mit der DDR-Psychiatrie. Übereinstimmend ergibt sich aus den Erfahrungsberichten, dass die Psychiatrie auch ein Ort für Systemabweichler war. Dies betrifft Patienten und Ärzte sowie Pflegepersonal. Sowohl Patienten und Ärzte bzw. Pfleger berichten von hohen Medikamentengaben (Megadosen) und von in der Regel langen Aufenthalten. Keine Krankenkasse kontrollierte, Kostendenken im westlichen Sinn gab es nicht. Geschildert wird die DDR-Psychiatrie als Mikrokosmos, als einer sich weitgehend selbst versorgenden Parallelwelt mit eigenen Strukturen und Regeln. Ob die Psychiatrie erträglich war, hing sehr von den einzelnen Mitarbeitern ab. Oft wurden die Patienten vernachlässigt, herrschte übermäßiger Zwang oder Gewalt. In der DDR wurde die Elektrokrampftherapie (EKT) häufig praktiziert. Auch die Praxis der Insulinschocks hat es gegeben. Die räumlichen Bedingungen und die Sanitäranlagen waren schlecht. Es gab noch „Badetage“. Die Psychiatrie war auch ein Ort, wo sozial unliebsame Personen zum Verschwinden gebracht wurden, auch politisch Verdächtige und „Republikflüchtlinge“ kamen dorthin.17 Ende der 80er Jahre war die Psychiatrie der DDR von großen Unterschieden geprägt. Charakteristisch für diese Uneinheitlichkeit der Entwicklung war die Situation im damaligen Bezirk Leipzig. In der Stadt Leipzig hatte sich seit den 70er Jahren eine gemeindenahe Versorgungsstruktur herausgebildet, die auch über die Grenzen der DDR hinaus anerkannt war. Dagegen herrschte aufgrund des materiellen Mangels und der Überbelegung in vielen Großkrankenhäusern eine reine Verwahrpsychiatrie.

16 Thomas R. Müller/ Beate Mitscherlich (Hg.): Psychiatrie in der DDR. Frankfurt/M. 2006. 17 Vgl.: Heinz-Günter Maaßen: Psychiatrie in der DDR. In: Soziale Psychiatrie 115, 2006.

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Im Vergleich der Psychiatrie in Deutschland Ost und West galten die guten Rehabilitationsbedingungen (es gab keine Arbeitslosigkeit) in der DDR und das einheitliche Sozialversicherungssystem als vorbildlich. Kritisiert wurde die fehlende Öffentlichkeit und Transparenz und die zum Teil menschenunwürdigen Bedingungen in vielen Einrichtungen.18 Psychotherapie „war ein Stiefkind der DDR. Von den Bürgern misstrauisch beäugt und von den Machthabern diffamiert, teilweise sogar verboten, schaffte sie es dennoch, sich in vielfältigen Formen zu etablieren.“19 Psychotherapie wurde in der Regel stationär durchgeführt. 1949 wurde die psychotherapeutische Abteilung in der ambulanten Poliklinik „Haus der Gesundheit“ (HdG) in BerlinMitte gegründet. Das HdG war die erste und später eine der einflussreichsten psychotherapeutischen Institutionen der DDR. Hier wurde zu Beginn der 60er Jahre die „Intendierte dynamische Gruppenpsychotherapie“ (IDG) unter Leitung von Kurt Höck (1920–2008), Arzt und Psychoanalytiker, entwickelt. Die IDG war in der DDR weitverbreitet und kann als ihre wichtigste Psychotherapiemethode bezeichnet werden. Auch heute noch gibt es einen Deutschen Arbeitskreis für intendierte dynamische Gruppentherapie e.V., der seine Wurzeln in der Sektion Gruppenpsychotherapie der Gesellschaft für ärztliche Psychotherapie der DDR sieht. Laut Satzung20 bemüht sich dieser „um eine Aufhellung unbewusster motivationaler Strukturen im Handeln von Menschen“. In der DDR orientierte sich die Gruppentherapie zunächst nach sowjetischem Vorbild an autogenem Training und Hypnose. 1978 wurde der „Facharzt für Psychotherapie“ als Zweitfacharzt geschaffen, 1988, am Ende der DDR, auch als Erstfacharzt.21 Im Laufe der Zeit wurde man für westliche Einflüsse offen (Sonnenmoser, ebda.). Tatsächlich funktionierte zumindest in Ostberlin nach der „Wende“ der Anschluss an die westliche therapeutische Erzählung der Selbsthilfe reibungslos. Bereits im Jahr 1992 gab es in jedem Ostberliner Stadtbezirk eine Selbsthilfekontaktstelle. Die „therapeutische Erzählung“ ist offenbar überlebensfähig sowohl im Faschismus als auch im realen Sozialismus. Einige der in der DDR auf dem Feld der Psychotherapie Arrivierten meinen, dass es erst mit dem Fall der Mauer und der „Wende“ zur „Volkskrankheit Depression“ in der DDR gekommen sei. In einem Interview berichtet eine Ostberli-

18 Sächsisches Psychiatriemuseum. Ausstellung Irr-Sinn. Einblicke in die sächsische Psychiatriegeschichte. http://www.psychiatriemuseum.de/ausstellung.html. 19 Marion Sonnenmoser: Psychotherapie in der DDR: Versunkene Welt. In: Deutsches Ärzteblatt PP 8, März 2009, S. 115. 20 http://www.gruppentherapie-dadg.de/Inhalt/geschichte.php. 21 Christoph Seidler: Zum Tode von Kurt Höck. In: Berliner Ärzte, 2/2009, S. 29.

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ner Psychiaterin aus ihrer Praxis von der explosionsartigen Zunahme von Depressionen und anderen psychischen Erkrankungen nach 1990. Sie schildert den Zusammenhang von Arbeitslosigkeit und psychischer Destabilisierung bei ihren Klientinnen. Besorgte oder mitleidige Nachfragen von Familie und Freundeskreis würden zunehmend als unerträglich empfunden und führten zu einem sozialen Rückzug. Die Individualisierung der Schuld, die Verknüpfung von Misserfolg und mangelndem Engagement, sei bei den Betroffenen voll angekommen: „Du glaubst es nicht, es sind Leute dabei, die bringen mir ihre Aktenordner mit, mit ihren hunderten von Bewerbungen, weil sie mir zeigen wollen, was sie gemacht haben, dass sie nicht schwindeln und dass sie sich wirklich Mühe gegeben haben. […] Das sind häufig Leute, die kommen, die sind völlig am Ende, Frauen, auch meistens mit Kindern, die ganz schnell so einen kleinen Posten bekommen, eine kleine Leitungsfunktion, die erst mal total stolz sind und auch geschmeichelt sind, dass sie jetzt diese Verteilung überwachen dürfen. Ja, und dann halten sie noch länger durch, und dann kommt irgendein Punkt, da sind die so erschöpft und physisch nicht mehr in der Lage, das weiterzumachen und so verzweifelt, da nicht rauszukönnen. Dann ist es meistens schon das Bild einer schweren Erschöpfungsdepression.“22

E XKURS : S UIZID

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Die Ursachenzuschreibung für ein wahrgenommenes Phänomen Depression oder für eine hohe Anzahl von Suiziden in der Gesellschaft ist immer subjektiv, von Vorurteilen und politischen Intentionen geprägt. Das zeigt sich deutlich, wenn plötzlich dort sehr hohe Suizidraten auftauchen, wo man es nicht vermutet hätte, wie z.B. im deutschen Bundesland Bayern. Bayern ist das Bundesland mit der niedrigsten Arbeitslosigkeit und mit der stärksten Bindung an die katholische Kirche – und im Jahr 2010 mit der höchsten Selbstmordrate in Deutschland. Der Würzburger Psychiater und Vorsitzende des nationalen Programms zur Suizidprävention, Armin Schmidke, sagt dazu: „Die Suizidrate Bayerns liegt seit vielen Jahren in allen Altersgruppen über dem Bundesdurchschnitt. Die Ursachen dafür sind nicht bekannt.“23 Erstaunlich ist, dass der Freistaat bis Mitte der neunziger Jahre unter den Bundesländern mit den

22 Margarete Steinrücke: Soziales Elend als psychisches Elend. In: Franz Schultheis und Kristina Schulz (Hrsg.): Gesellschaft mit begrenzter Haftung. Konstanz 2005, S. 203. 23 Malte Conradi: Die Verzweifelten. Hohe Suizidrate in Bayern. Süddeutsche Zeitung, 31.01.2011.

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niedrigsten Suizidzahlen lag. Noch erstaunlicher ist, dass diese Entwicklung der im Vergleich steigenden Suizidrate sich in der Zeit der Gründung der „Bündnisse gegen Depression“ vollzog. Im Jahr 2001 wurde das erste Modellprojekt „Bündnis gegen Depression und Suizidalität“ in Nürnberg gestartet. Zu diesem schlossen sich Hausärzte, Fachärzte, Psychotherapeuten, Beratungsstellen, das Gesundheitsamt, das Klinikum Nürnberg Nord, die Stadt Nürnberg, die Kirchen und viele weitere Einrichtungen zusammen. Zwei Jahre lang wurde das Bündnis vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert. Seit 2003 setzt es seine Arbeit als Verein fort und finanziert sich durch Sponsorengelder und Spenden. Das „Nürnberger Bündnis gegen Depression“ behauptet von sich, eine positive Bilanz ziehen zu können. Demnach sank die Suizidrate in Nürnberg nach zwei Kampagnejahren um ca. 25%, die Zahl der Selbsttötungsversuche ging im selben Zeitraum um über 26% zurück.24 Derzeit gibt es 50 solcher regionalen Bündnisse in Deutschland, davon 12 in Bayern. Dass diese Bündnisse zur Suizidprävention beigetragen haben, lässt sich anhand der bayerischen Suizidzahlen nicht verifizieren. Angesichts ihrer eigenen Ratlosigkeit fällt den Experten nur eine Forderung an die Politik ein: „Die Politik muss uns mehr dabei unterstützen, Hotspots zu entschärfen“, formuliert Psychiater Armin Schmidke. (Conradi, ebda.) Es habe sich gezeigt, dass an bestimmten Brücken, Türmen oder Bahnübergängen immer wieder Suizide vorkommen. Sperre man solche Orte ab, weiche nur ein geringer Teil der Menschen, die hier Suizid begehen wollen, an einen anderen Ort aus. Andere mögliche Gründe für die hohe Suizidzahl in Bayern werden aus marxistischer Perspektive vorgetragen. Demnach habe Bayern zwar die niedrigste Arbeitslosenquote, auf den zweiten Blick sei aber „sozialer Sprengstoff“ nicht zu übersehen. „Während die oberen 20 Prozent der bayerischen Bevölkerung fast zwei Drittel des Vermögens unter sich aufteilen, muss das untere Drittel mit gerade mal einem Prozent klarkommen.“25 Die Lebenshaltungskosten seien hoch, die gesellschaftliche Repressivität gegen Minderheiten ebenfalls, viele Menschen würden sich aus Verzweiflung und finanzieller Not töten. Dies sind allerdings politisch motivierte Spekulationen. Die traurige Realität der Suizidzahl in Bayern zeigt, dass die psychiatrische Ursachenforschung unzureichend ist. Zwar sinken die Suizidzahlen in Deutschland kontinuierlich, aber ausgerechnet das Bundesland, in dem das erste Bündnis-Modellprojekt gestartet wurde, liegt nun erstmalig während der Laufzeit des

24 http://www.buendnis-depression.de/depression/ein-buendnis-gegen-depression.php. 25 Claudia Wangerin: Auf Leben und Tod. In: „junge Welt“, Beilage Bayern, 23.02. 2011.

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Projektes an der Spitze der Suizidzahlen in Deutschland. Es ist offensichtlich unzureichend, jedem Suizidenten eine Depression zu attestieren.

V ON T ELLENBACH UND V . G EBSATTEL ZUR P SYCHIATRIE -E NQUÊTE Die bundesdeutsche Psychiatrie bzw. Psychologie, die der Soziologe Wolf Lepenies 1967 beschreibt, ist phänomenologisch-daseinsanalytisch ausgerichtet. Man teilte die psychischen Krankheiten nach einem auf Kraepelin zurückgehenden „triadischen System“ nach ihren Ursachen in psychogene, exogene und endogene Erkrankungen ein. Der Begriff der Depression taucht in Lepenies Text aus dem Jahr 1967 nur einmal auf, und zwar als das englische „depression“. Die von ihm zitierte deutsche Psychiatrie der 50er und 60er Jahre ging wie die Psychoanalyse davon aus, dass eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung Auslöser einer Depression ist. Dies sei eine Störung in „einer in philosophisch-anthropologische Betrachtung unübergehbaren sozialen Formation“ (Lepenies, S. 162). Die Mutter-Kind-Beziehung und deren Störung spiele sich in einem Bereich ab, der als legitimer Gegenstand der Soziologie angesprochen werden könne. „Melancholie stellt sich so als verhinderter Zugang zur Welt und ihrer Bewältigung dar und bedeutet das Zurückwerfen des Menschen auf eine Situation, in welcher Welt ihm entzogen ist.“ Der phänomenologische Ansatz von Hubertus Tellenbach (1914–1994) betont das Überwiegen von Hausfrauen und Genauigkeitsberufen unter den Melancholikern, die Bedeutung der Ordnung in der Arbeitswelt, das unalltägliche Maß an Akuratesse, das Erlebnis des Tages als Arbeits- und Ordnungseinheit und die strukturelle Sensibilität für Ordnung für die Melancholiker.26 Ebenso sind diese Persönlichkeiten, die er als „Typus Melancholicus“ bezeichnet, auf Ordentlichkeit, Gewissenhaftigkeit, Gründlichkeit, Anlehnungsbedürfnis, Häuslichkeit und Treue, Verantwortlichkeit, Voraussagbarkeit festgelegt, lauter „deutsche Tugenden“, fixiert. Der Sinn der Depression besteht für Tellenbach darin, für diesen

26 Die Eigenschaften des Typus Melancholicus sind denen der „anomischen retreats“ (Lepenies) entgegengesetzt. In einer Studie aus dem Jahr 2011 wurde eine Eigenschaft des Typus Melancholicus bestätigt. Demnach gehen depressive Menschen Entscheidungsfindungen analytischer an und treffen bessere Entscheidungen als Gesunde. Vgl: Bettina von Helversen, Andreas Wilke et al.: Performance benefits of depression: Sequential decision making in a healthy sample and a clinically depressed sample. In: Journal of Abnormal Psychology, Apr 18, 2011.

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„Überschuss an Tugend“ eine Bremse zu sein und zur Sinnsuche und zur Reflexion zu verhelfen. Tellenbach ist auch Erfinder des Begriffes der „Umzugsdepression“. Diese meint einen Rückzug, der über die eigene Wohnung ins Ich stattfindet: Wenn die Wohnung gewechselt wird, also eine neue Wohnung bezogen wird, reiche diese als Rückzugsort nicht mehr aus, folglich ziehe sich der oder die Betreffende „in sich selbst“ zurück. Als Prinzip einer „psychotherapeutischen Melancholie-Prophylaxe“ schlägt Tellenbach die „Einübung im Transzendieren“ vor. (Ebda., S. 165) Begründet wird das folgendermaßen: „Das Wesen des melancholischen Typus ist bezeichnet durch eine Tendenz, sich ausschließlich im Endlichen aufzuhalten und die Einübung jenes Übersteigens der Endlichkeit zu vernachlässigen.“ (Ebda.) Von Bedeutung erscheint Lepenies auch das therapeutische „Spiegelmotiv“ Victor-Emil v. Gebsattels (1883–1976). Dieser spricht von Vorkommnissen, in denen der Arzt die Depression nur „heilen“ kann, indem er dem Patienten Mut macht zu ihr. „Nicht ist hier die Not dem Notleidenden auszureden, sondern umgekehrt; aufgestellt werden muss sie rings um ihn, wie ein Spiegel seines in die Irre der Lebensflucht ausgewichenen Daseins“. (Lepenies, S. 212) Die ausdrücklich an Ludwig Binswanger und Martin Heidegger anknüpfende Tradition der Daseinsanalyse deutet die verschiedenen

Formen seelischen Leidens (Neurosen, Psychosen, Persönlichkeitsstörungen) als verschiedene Formen der unbewussten Auflehnung gegen die angst,- scham- und schuldbesetzten Grundbedingungen des Menschseins. Die „Depression“ hat dabei eine Sonderstellung, weil sie hinter allen anderen Formen seelischen Leidens steht und dann einbricht, wenn der Kampf gegen Angst, Schuld und Scham als illusionär durchschaut und aufgegeben wird.27 Bis in die 70er Jahre hinein war die Situation der deutschen AnstaltsPsychiatrie katastrophal. Das galt für Ost und West. Im September 1975 wurde der „Bericht über die Lage der Psychiatrie in der Bundesrepublik Deutschland“ – so die offizielle Bezeichnung der Psychiatrie-Enquête – fertig gestellt. Er wurde im Auftrag des Bundestages von einer Sachverständigenkommission aus rund 200 Mitarbeitern aller Bereiche der Psychiatrie erstellt. Die Bundesrepublik Deutschland hatte bis dahin einen mühsamen Weg in Sachen Psychiatrie hinter sich und begann sich nach dem Elend der Psychiatrie im „Dritten Reich“ erst sehr spät mit ihrer Situation auseinanderzusetzen. 1970 beschäftigte sich der

27 Vgl.: Alice Holzhey-Kunz: Daseinsanalyse. In: Alfred Längle, Alice Holzhey-Kunz: Existenzanalyse und Daseinsanalyse. Wien 2008, S. 304 ff. Depression gehört hier zur „conditio humana“. Binswanger selbst lehnte den Begriff der Depression ab. Siehe oben, S. 18.

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Deutsche Ärztetag erstmals in seiner Geschichte mit der psychiatrischen Versorgung und konstituierte am 31. August 1971 die Psychiatrie-Enquête. Auftragsgemäß legte die Kommission im Oktober 1973 einen Zwischenbericht vor, der schwerwiegende Mängel bei der Versorgung der psychisch Kranken offenbarte. In ihm wurde festgestellt, „daß eine sehr große Anzahl psychisch Kranker und Behinderter in den stationären Einrichtungen unter elenden, zum Teil als menschenunwürdig zu bezeichnenden Umständen leben müssen.“ Die wichtigste Forderung der Sachverständigenkommission war die nach „Sofortmaßnahmen zur Befriedigung humaner Grundbedürfnisse“. (Zit. nach Wikipedia) Wie kam es zu diesem Bruch der Kontinuität zu Beginn der 70er Jahre? Verantwortlich war ein deutlicher Meinungsklima- und Mentalitätswechsel in der BRD und das Erstarken einer außerparlamentarischen, antiautoritären Bewegung, die ins System zu integrieren war. Diese hatte auch auf die Psychiatrie Einfluss. Es entwickelte sich die sogenannte Reform- oder Sozialpsychiatrie. Sozialpsychiatrie Der Beginn der neuen sozialpsychiatrischen Bewegung wird von Klaus Dörner und Ursula Plog, den Autoren von „Irren ist menschlich – Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie”, dem Klassiker der Sozialpsychiatrie, folgendermaßen beschrieben: „Am 3./4. April 1970 fand in der Psychiatrischen Klinik der Universität Hamburg ein sozialpsychiatrischer Kongress statt, finanziert von der pharmazeutischen Firma Thomae. Leitthema war die Frage ‚Rückkehr der psychisch Kranken in die Gesellschaft?‘[. . .]. Dass überhaupt von einem mitteilenswerten Erfolg gesprochen werden kann, mag durch zwei nichtgeplante Umstände begünstigt worden sein. Einmal waren bei der Vorbereitung des Kongresses auch alle namhaften sozialpsychiatrischen Ordinarien der BRD eingeladen worden, mussten jedoch wegen Terminschwierigkeiten absagen. So kam es, dass hinsichtlich der Referenten die jüngere Generation weitgehend unter sich blieb, d.h. aber gerade diejenigen, die selbst in der sozialpsychiatrischen Praxis stehen und die vielleicht die kritischere Haltung ihrem eigenen Tun gegenüber haben. Zum anderen fand der Kongress zu einem Zeitpunkt statt, an dem die rein anti-autoritäre Phase der Studentenbewegung ihrem Ende zuging bzw. überging in ein größeres Fachengagement der Studenten.“28

Dem war vorangegangen,

28 Klaus Dörner, Ursula Plog: Irren ist menschlich. Lehrbuch der Psychiatrie und Psychotherapie. Frankfurt/M. 1992, S. 7/8.

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„dass Anfang der 60er Jahre vermehrt Sozialarbeiter und Psychologen und damit andere berufsspezifische Wahrnehmungsweisen in die Psychiatrie kamen; dass G. Bosch und C. Kulenkampff in Frankfurt die erste nennenswerte sozialpsychiatrische Einrichtungen aufbauten, und dass diejenigen, die bis dahin als Daseinsanalytiker sich von der klassischen Psychiatrie Kraepelins abgesetzt hatten, sozialpsychiatrisch zu theoretisieren begannen, unter ihnen auch E. Wulff.“29

Weiter heißt es über diesen Kongress: „Es war ein etwas unordentlicher, zeitweilig auch turbulenter Kongress, auf dem viel diskutiert wurde, die Zeiten überschritten und eigenmächtige Diskussionsleiter in ihre Schranken verwiesen wurden. Ein Kongress, den Friedrich Deich in der ‚Welt‘ als Einbruch der ‚Antipsychiatrie‘ in Deutschland bedenklich fand und für den die finanzierende pharmazeutische Firma eine zeitlang die Verantwortung niederzulegen erwog. […] Symbolischer Höhepunkt, als der Hausherr, Prof. Bürger-Prinz, türknallend den Kongress verließ.“ (Dörner, ebda., S. 17.)

Der Reformpsychiater Asmus Finzen bezeichnet dieses Türknallen als den „Urknall“, mit dem die sozialpsychiatrische Bewegung in Deutschland entstand. Wieder einmal hieß es: Die „gute Psychiatrie“ löst die „böse Psychiatrie“ ab. Wurde jetzt alles besser? Nein, es gibt immer noch Zwangsbehandlungen und lebenslange Heimunterbringungen. Eine Untersuchung von 2007 kommt zu folgendem Ergebnis: Es gibt viele Anzeichen, dass mittlerweile mehr Berliner Bürger aufgrund einer psychischen Erkrankung dauerhaft in Heimen untergebracht sind als im Rahmen der gemeindenahen ambulanten Versorgung der Eingliederungshilfe betreut werden. Das kann als Skandal bezeichnet werden und widerspricht eindeutig den Prinzipien der Psychiatriereform, wie sie seit Jahren in Berlin auf vielen Ebenen vorangetrieben wird.30 Psychische Krankheit ist seit den Psychiatriereformen für viele Akteure neben den üblichen Verdächtigen wie der Pharmaindustrie ein Riesengeschäft. Sogenannte „freie Träger“ der Wohlfahrtsverbände, meistens eingetragene Vereine, erhalten von Kommunen aus Steuergeldern „Entgelte“ für die Betreuung und Wiedereingliederung in die Gesellschaft von „Menschen mit seelischer Behinde-

29 Klaus Dörner: Diagnosen in der Psychiatrie – über die Vermeidungen der Psychiatrie und Medizin, Frankfurt/New York 1975, S. 7. 30 Rubina Vock et al.: Psychisch krank ins Pflegeheim? Eine Untersuchung der Situation in Berlin. In: Dr. med. Mabuse 169, September/Oktober 2007.

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rung“. Außerdem gibt es Extrabelohnungen von Krankenkassen, wenn diese Menschen nicht in Krankenhäuser behandelt werden, sondern soweit es geht, zu Hause betreut werden. Davon lässt es sich gut leben. Und die freien Träger, von denen sich viele im Anschluss an die antipsychiatrischen Bewegungen gegründet haben, sind voll ins System integriert. Und natürlich sind sie daran interessiert, ihr Klientel zu erhalten.

ANTIPSYCHIATRIE Die öffentliche Meinung über Psychiatrie hat sich seit Beginn der 80er Jahre sehr stark verändert, man kann sagen, sie hat sich um 180 Grad gedreht. Noch Anfang der 80er Jahre, zu der Zeit, als das DSM-III die Depression in den USA etablierte, gehörte es in West-Deutschland zum guten Ton, die Psychiatrie abzulehnen.31 Anfang der 80er Jahre waren die meisten „Meinungsführer“ oder Intellektuellen noch auf der Suche nach einer linken, emanzipatorischen Zukunft. Man glaubte, die geopolitische Konfrontation der beiden Blöcke könne noch ewig dauern und die größte Gefahr sei ein Atomkrieg zwischen den USA und der Sowjetunion. Trotz der konservativen „Wenden“ in vielen Ländern dieser Zeit (Reagan, Thatcher), auch in Deutschland (Kohl), war der öffentlich wahrgenommene Mainstream links. Den linken Geist in Bezug auf Psychiatrie stellt der Schriftsteller und Arzt Rainald Goetz in seinem teil-autobiographischen Roman „Irre“ vor. Goetz arbeitete zu Beginn der 80er Jahre als Assistenzarzt in der Psychiatrie und musste sich deshalb in vielen Diskussionen verteidigen. Aus historisch-materialistischer Sicht wird gegen die Psychiatrie vorgetragen: „In einer von falschem Bewusstsein bestimmten Praxis seines durchaus freien Willens hat der Irre den Wahn gewählt, er will also den Wahnsinn, um sich den Geboten von Kapital und Staat fügen zu können, indem er von den Ansprüchen der bürgerlichen Welt auf Tauglichkeit ihrer Mitglieder einfach sich dispensiert.“32

Das ist natürlich hochgradig idealistisch und hat mit der Wirklichkeit des Wahnsinns nichts zu tun. Niemand, so berichtet der Autor, flüchte freiwillig in den Irrsinn. Wahn und Irrsinn wurden von der Anti-Psychiatriebewegung romantisiert

31 Auf die Wurzeln der „antipsychiatrischen Bewegung“ in Deutschland wurde bereits weiter oben verwiesen, vgl. Kapitel: Die Entwicklung der Psychotherapie aus der Neurologie (Fn. 23, S. 136). 32 Rainald Goetz: Irre. Frankfurt/M. 1983, Rede des Wolfgang, S. 15.

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und als Reaktion auf gesellschaftliche Zwänge dargestellt. Dies sei weltfremd, so Assistenzarzt Raspe (Goetz Alter Ego), weil das Leiden der Kranken übersehen werde. Edward Shorter behauptet, dass der Erfolg der „Anti-Psychiatrie-Bewegung“ dazu geführt habe, dass die Gemeindepsychiatrie immer erfolgreicher wurde. Für Deutschland trifft das zusammen mit den Ergebnissen der Psychiatrie-Enquête von 1977 zu. Der Erfolg sei allerdings ein zweischneidiges Schwert, so Shorter. Ein Drittel aller Obdachlosen in den USA sei psychisch krank und unfähig, sein Leben in die Hand zu nehmen: 14 Prozent aller Häftlinge in den USA waren vor ihrem Gefängnisaufenthalt Psychiatriepatienten. Die Ideologie der Gemeindepsychiatrie beschreibt Shorter als „romantisierende Vorstellung von einer Welt aufnahmebereiter Freunde und Nachbarn, die alle psychisch Kranken an ihre Brust drücken würden.“ (Shorter 2003, S. 420) Heute existiert eine antipsychiatrische Bewegung nur noch in Rudimenten. Psychiatrie ist als medizinische Disziplin allgemein akzeptiert. Das ist auch der Depression zu verdanken, die ja als angeblich weit verbreitete Volkskrankheit von Spezialisten, also Psychiatern, behandelt wird. Der Psychiatrie ist damit ein wichtiger Imagewandel gelungen. Das sozialistische Patientenkollektiv (SPK) Das antikapitalistische linke SPK war eine der ersten Institutionen, die in Deutschland (BRD) Depression und andere psychische Störungen als gesellschaftlich verursacht thematisierten. Das auch heute noch existente antipsychiatrische Sozialistische Patienten Kollektiv (SPK) versteht sich als Therapiegemeinschaft und will „aus der Krankheit eine Waffe“ machen, die revolutionär eine klassenlose Gesellschaft herbeiführen soll. Laut Manifest des SPK33 beginnt die Geschichte des SPK 1965/66 mit dem „HUBER-Ultimatum“: „Er kündigt, oder [es folgt die graphische Darstellung eines Pfeils nach oben rechts]“. Der Psychiater Wolfgang Huber ist nicht nur Gründer sondern auch Spiritus Rector des SPK. Laut Internetauftritt des SPK ist er auch heute noch aktiv. Bei der Ideologie des SPK handelt es sich um eine radikale Ausarbeitung der Idee, dass die kapitalistische Gesellschaft Krankheit erzeugt: Versinnbildlicht wird dies durch den Spruch, den das SPK an die besetzte psychiatrische Klinik in Heidelberg hing: „Der Stein, den jemand in die Kommandozentralen des Kapitals wirft und der Nierenstein, an dem ein anderer leidet, sind austauschbar. Schützen wir uns

33 Sozialistisches Patientenkollektiv: SPK – Aus der Krankheit eine Waffe machen – eine Agitationsschrift mit einem Vorwort von Jean Paul Sartre. Heidelberg 1995.

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vor Nierensteinen.“ Ohne Kapitalismus keine Krankheiten – und zwar nicht nur psychische Krankheiten, sondern auch somatische. Jean Paul Sartre feiert in seinem Vorwort an die „lieben Genossen“ im Manifest des SPK diese: „Ich fand darin [im SPK-Manifest] nicht nur die einzige mögliche Radikalisierung der Anti-Psychiatrie, sondern auch eine Praxis, die darauf abzielt, die nur vorgegebenen ‚Heilungsmethoden‘ der Geisteskrankheit aufzuheben.“ Heilung bedeute in unserem System einzig die Aufrechterhaltung von Arbeitskraft. Dies schrieb Sartre vor der strukturellen Massenarbeitslosigkeit. Was Sartre am SPK „außerordentlich beeindruckt“ hat, ist die Funktion als (echte) therapeutische SelbsthilfeGemeinschaft: „Was mich am SPK außerordentlich beeindruckt hat, ist, dass die Patienten ohne festgelegte Arztrolle – ohne einen individuierten Pol von Bedeutungen – menschliche Beziehungen herstellen und sich gegenseitig dabei helfen, sich ihrer Situation bewusst zu werden, wobei sie sich gegenseitig in die Augen schauen, d.h. sie verhalten sich als Subjekte im Sinne von Signifikant-Signifikat; während in der modernen Form der Psychiatrie, der Psychoanalyse, der Kranke niemanden anschaut, und der Arzt hinter ihm sitzt, um seine Einfälle zu registrieren und sie so einzuordnen, wie er es für richtig hält.“ (SPK, S. 5ff. Das Vorwort stammt aus dem Jahr 1972)

Krankheit (und nicht nur psychische Krankheit) ist für das SPK Resultat und Voraussetzung der kapitalistischen Produktionsweise. „Krankheit und Kapital sind identisch.“ (Ebda., S. 15) Krankheit sei als verschleierte Arbeitslosigkeit und in der Form der Sozialabgaben der Krisenpuffer im Spätkapitalismus. (Ebda.) Die Lösung des SPK: „Wird Krankheit der Verwaltung, Verwertung und Verwahrung in den Institutionen des Gesundheitswesens entzogen, und tritt sie in Form des kollektiven Widerstands der Patienten in Erscheinung, so muss der Staat eingreifen und das fehlende innere Gefängnis der Patienten durch äußere ‚richtige‘ Gefängnisse ersetzen. Krankheit kann wie das Kapital nur durch Revolution abgeschafft werden.“ (Ebda.)

Therapie ist für das SPK folglich „Agitation“. Diese Agitation wird verstanden als Einheit von therapeutischer, wissenschaftlicher und politischer Arbeit. Im Kollektiv werden aus vereinzelten Patienten Mitarbeiter. Es gibt Einzelagitationen und Gruppenagitationen, sowie Arbeitskreise zu verschiedenen Themen. In den Arbeitskreisen können die Patienten die theoretischen Grundlagen sich aneignen, die sie dann zur Agitation befähigen. „Die Agitation ist Aktion, das InGang-Setzen des einheitlichen Prozesses der Umwälzung des Bewusstseins wie

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der Realität.“ (SPK, S. 41) Die Parole lautet: Patienten aller Länder vereinigt euch! Der Patient ist revolutionäres Subjekt, weil er Voraussetzung und Resultat des kapitalistischen Systems ist. Verweigert er die Krankheit, kann er das System stürzen. Interessant ist die Propaganda des SPK. Das SPK hat zeitweise eine Zeitung veröffentlicht mit dem Titel „Neues über Krankheit“. Im zitierten Buch ist eine Ausgabe vom 6.01.1971 faksimiliert. Dort wird aufgeklärt unter der Überschrift: „Jeder ist seines Glückes Schmied“: „Krankheit ist kein Vorgang im einzelnen Menschen […], krank ist unsere Gesellschaft.“ Thema der Zeitung sind neben Trunksucht und Arzneimittelsucht auch Depressionen und Stress am Arbeitsplatz. Damit ist das SPK eine Institution, die in Deutschland sehr früh auf diesen Zusammenhang hinweist. Die bloße Thematisierung von Depressionen in Deutschland im Jahr 1971 als großes gesundheitliches Thema ist avantgardistisch. Tatsächlich wird in dem Beitrag so argumentiert, wie heute die Kompetenznetze Depression argumentieren: Die Leser werden aufgeklärt über neues ärztliches Wissen über Depressionen (aus der Zeitschrift Euromed). Gutgemeinte Sprüche zur Aufheiterung der Patienten wie „wie schön doch draußen die Sonne scheine“ seien nicht hilfreich und würden die Depressionen verstärken. Häufig werden deprimierte Patienten nicht richtig behandelt, so die SPK-Zeitschrift, die Folge: Selbstmord. Dann wird die große Anzahl von Selbstmorden in Deutschland (12.000) beklagt und eine große Dunkelziffer angenommen. Anstatt nun aber Pharmako- oder Psychotherapie zu verschreiben, kommt die SPK-Zeitung zu dem gesellschaftskritischen Schluss: „Diese Finanzwelt ist ohne Menschlichkeit!“ Die Lösung bestehe in der Beseitigung der „Finanzwelt“. Der Artikel „Stress am Arbeitsplatz“ ist ein Ausriss einer DPA-Notiz aus dem Heidelberger Tageblatt vom 26.11.1971: „Der ständig größer werdende ‚Stress am Arbeitsplatz‘ lässt die Zahl der Nerven- und Gemütskranken ansteigen. Der Bochumer Medizinaldirektor Dr. Friedrich Buckup berichtete auf der am Mittwoch in Frankfurt beendeten Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Arbeitsschutz, dass heute bereits 40 v.H. der vorübergehend arbeitsunfähig geschriebenen Männer und Frauen in der Bundesrepublik unter vegetativen und funktionellen Störungen leiden, die sich in der Hauptsache in nervösen Herz- und Magenbeschwerden äußern.“ (Ebda.)

In der Thematisierung der Relation zwischen Stress und Depression kommt dem SPK eine Vorreiterstellung zu. Tatsächlich hat das SPK an der Popularisierung der Depression mitgewirkt. Es ist keine gute antikapitalistische Strategie auf die zunehmende Krankheit Depression zu verweisen. Denn „Depression“ ist als

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Wirtschaftsfaktor vom „kapitalistischen System“ z.B. in Gestalt der Pharmaindustrie, wie zu zeigen ist, sehr gut nutzbar. Erfolgversprechender ist womöglich die bereits vorgestellte Strategie, die Pierre Fédida und das „unsichtbare Komitee“ verfolgen, nämlich die Depression als Widerstandform zu nutzen. Die Entwicklung der Depression zur Volkskrankheit ab den 1980er Jahren, nach dem Versanden der antipsychiatrischen Bewegungen, lässt sich nur vor dem Hintergrund der Entwicklung antidepressiv wirksamer Substanzen, Psychopharmaka oder Drogen, verstehen. Darum geht es in einem eigenen Kapitel. Die These des Antipsychiaters Franco Basaglia bezüglich der Funktion der Psychopharmaka kann dahin als Überleitung dienen. Franco Basaglias Kritik der Psychopharmaka Der italienische Psychiater Franco Basaglia (1924–1980) machte die katastrophalen Zustände in den italienischen „Irrenanstalten“ bekannt und erreichte 1978 deren Schließung. Franco Basaglia zählt neben Ronald D. Laing, Thomas Szasz, David Cooper, Jan Foudraine und Michel Foucault zu den wichtigsten Vertretern der Antipsychiatrie. Er meinte, der Erfolg der Psychopharmaka läge zuvorderst an der Entlastungsfunktion, die sie für den Arzt erbringen. Er schreibt in „Die Institution der Gewalt“34 von 1973, dass ein Überblick über die psychiatrischen Einrichtungen genüge, um im großen und ganzen feststellen zu können, dass die Pharmakotherapie überall überraschende Ergebnisse gebracht habe. Die Psychopharmaka hätten eine unbestreitbar positive Wirkung, von der die Anstalten und der zahlenmäßige Rückgang der sogenannten „assoziierten“ Patienten Zeugnis ablegen. Doch im Nachhinein könne man jetzt sehen, welchen Effekt sie sowohl für den Kranken als auch für den Arzt haben. Sie wirkten nämlich gleichzeitig auf die Angstsituation des Kranken wie des Arztes ein und führten damit zu einem Paradoxon: Der Arzt lindere mit Hilfe der Medikamente, die er dem Patienten verschreibt, auch sein Gefühl der ängstlichen Unsicherheit gegenüber einem Kranken, zu dem er keine Beziehung habe und mit dem er keine gemeinsame Verständigungsmöglichkeit zu finden wisse. Er kompensiere also durch eine neue Form der Gewalt seine Unfähigkeit, eine wiederum für ihn unverständliche Situation zu bewältigen, und praktiziere und perfektioniere weiter die medizinische Ideologie der Objektivierung. Durch die „beruhigende“ Wirkung der Medikamente verharre der Patient in seiner passiven

34 Franco Basaglia: Die Institution der Gewalt. In: Ders. (Hg): Die negierte Institution oder die Gemeinschaft der Ausgeschlossenen. Ein Experiment der psychiatrischen Klinik von Görz. Frankfurt/M., 1973, S. 156.

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Krankenrolle. Der positive Aspekt dieser Situation läge nur darin, dass sich schließlich und endlich eine Beziehung anbahne, wobei diese Möglichkeit allerdings vom subjektiven Urteil des Arztes abhängt, d.h. ob er die Verabreichung eines Medikaments für sinnvoll oder nicht sinnvoll erachte. Andererseits wirkten die Pharmaka auf den Kranken in der Weise, dass er die reale Distanz, die ihn vom „Anderen“ trenne, weniger krass wahrnähme, und dies lasse ihn die Möglichkeit einer Beziehung ahnen, die ihm sonst in jedem Fall versagt sei. Im Endeffekt ändere sich durch die Wirkung der Pharmaka nicht die Krankheit, sondern die scheinbare Haltung des Arztes zur Krankheit. Die beruhigenden Medikamente entlasten also den Arzt. Die Krankheit, so meinte Basaglia, sei nicht die objektive Kondition des Kranken, sondern ihr äußeres Bild werde bestimmt von der Beziehung zum Arzt, der sie kodifiziert. Mit dieser Argumentation kann man erklären, warum Depression in dem Moment zur Volkskrankheit werden muss, in dem Mittel gegen „schlechte Stimmung“, Antidepressiva, die zumindest bei einigen Patienten wirken, vorliegen. Diese Stimmung ist nun beherrschbar, Ärzte können sich zuständig fühlen, deshalb wird sie zur psychiatrischen Krankheit erklärt.

Ideengeschichte der antidepressiven Psychopharmaka

„Das, worunter sie [die Depressiven, K.I.] leiden, ist das Ergebnis einer Stoffwechselstörung in den Zellen ihres Gehirns.“1 „Do more, feel better, live longer.“ Werbeslogan GlaxoSmithKline

P HARMAKOPSYCHOLOGIE Ganz offensichtlich ist der Wille, sich in einen anderen Stimmungszustand zu versetzen, eng mit der menschlichen Zivilisation verknüpft. Der Evolutionsbiologe Josef Reichholf schreibt in seinem Buch „Warum die Menschen sesshaft wurden“ (Frankfurt/M. 2008), dass das Sesshaftwerden der Menschen vor ca. 10.000 Jahren in der Jungsteinzeit nach der Eiszeit auf den Anbau von Getreide zurückzuführen sei. Dieses sei aber nicht angebaut worden, um Brot daraus zu backen, sondern um Bier zu brauen. Ähnlich argumentiert Bertrand Russell. Am Anfang von Religion und Philosophie stehe der Rausch. Dionysos war der erste Gott, der Gott des Rausches. Der Rausch wurde in „orphischen Kulten“ gefeiert, aus diesen entwickelte sich die griechische Religion und Philosophie.2 Für Peter Sloterdijk ist das wichtigste Ereignis der Moderne die Entdeckung der Äthernarkose: „Dieser 14. Juli der Chirurgie, der unter dem Namen ‚ether day‘ in die Annalen der Medizingeschichte eingegangen ist, hat die anthropotechnische Situation der Moderne radikaler 1

Florian Holsboer, Rede: „Die Zukunft der Depressionstherapie – Konsequenzen für das Gesundheitswesen“ vor dem CSU-Ortsverband Vaterstetten-Parsdorf, Dreikönigstreffen 06.01.2010, http://holsboer.de/PDF/dreikoenig.pdf.

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Bertrand Russell: Philosophie des Abendlandes. Ihr Zusammenhang mit der politischen und der sozialen Entwicklung. Zürich 2009 (1950) S. 35f.

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verändert als jedes einzelne politische Ereignis oder jede sonstige technische Innovation seither – die biopolitischen Experimente der Russischen Revolution und alle bisherigen Versuche genetischer und gentechnischer Manipulationen einbegriffen.“ (Sloterdijk 2009, S. 598 f.)3

Warum? Die Despotie des Schmerzes war besiegt. Seit 1846 gebe es ein Menschenrecht auf Ohnmacht – ein Recht auf Nicht-Dabei-Sein-müssen in gewissen Extremsituationen der eigenen psychophysischen Existenz. Die Beanspruchung dieses Rechts sei durch eine Modegeste des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts vorbereitet worden: Das sprichwörtliche In-Ohnmacht-Fallen, das besonders Frauen als Zeichen kultivierter Schwäche zugestanden wurde. Lachgas wurde in der britischen Oberschicht zur Party-Droge. Auch Äther wurde als Rauschmittel benutzt. Von Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts war Diethylether beispielsweise in Irland auf Grund hoher Alkoholpreise das am häufigsten verwendete Rauschmittel und wurde zu diesem Zweck in Apotheken verkauft.4 Die Mittel, die medizinisch nützlich sein können, dienten also auch als „Rauschdroge“. So ging und geht es vielen psychotropen Substanzen. Das erste psychopharmakologisch wirksame Mittel war, neben Alkohol und Cannabis, Opium. Die früheste systematische Anwendung von Opium in der abendländischen Medizin hat im griechischen Epidauros stattgefunden.5 Dort entwickelte sich um das Heiligtum des Lokalgottes Asklepios bereits im 7. Jahrhundert vor Chr. (also vor den Pythagoreern) ein kleiner Klinikbetrieb, der bald so erfolgreich wurde, dass der ursprüngliche Feld- Wald- und Wiesengott zum Schutzherren der gesamten Medizin aufstieg. Krankheitsursache und Therapie wurden aus den Träumen der Patienten gedeutet. Zu diesem Zweck mussten sie eine Nacht im Heiligtum schlafen. Das dazu verabreichte Psychopharmakon war ein Gemisch aus fünf Teilen Wein, drei Teilen Honig und einem Teil Opium. Spätestens zur selben Zeit wurde die schmerzstillende Wirkung von Opium erkannt, und Opium wurde zu einem Allheilmittel, so wie heute Aspirin. (Behr, ebda.) Opium stammt zwar historisch gesehen aus dem Nahen Osten, ist aber auf lange Zeit gesehen eine abendländische Droge. Seine Verbreitung in Europa erfolgte durch das Römische Reich, dessen Handelswegen später auch das Christentum folgte. Im Mittelalter wird Opium als Droge und Medikament bedeu-

3 4

16. Oktober 1846. Gregory Austen: Chronology of Psychoactive Substance Use http://www.tc.columbia. edu/centers/cifas/drugsandsociety/background/chronologydruguse.html. (Zit. bei Wikipedia, Stw. Diethylether)

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Vgl.: Hans Jürgen Behr: Weltmacht Droge. Düsseldorf 1984, S.46.

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tungslos. Der Mann, der Opium in Europa nach dem „finsteren“ Mittelalter wieder hoffähig machte, war Paracelsus (1493–1541). Er behauptete, ein Arcanum (lat. Geheimnis) zu haben, namens Laudanum, das „über alles ist, wo es zu Tode weichen will.“ (Behr, S. 57) Erst auf dem Totenbett diktierte Paracelsus das Geheimnis seiner Wundermedizin: einen alkoholischen Auszug aus sehr reifen Wacholderkörnern, mit Gewürznelken zerstoßen, Rinde der Bilsenkrautwurzel und Opium (Behr, S. 57). Laudanum wurde zur Modemedizin, ein frühneuzeitliches Prozac. Laudanum war eine „Patentmedizin“, von Apothekern zusammengerührt und von Apotheker zu Apotheker immer ein bisschen unterschiedlich. Paracelsus, der als Doktor Faustus Eingang in die Volksstücke gefunden hatte, bescherte vier Jahrhunderten diese Droge. Laudanum Paracelsi wurde zur am meisten verbreiteten Medizin Europas, obwohl bekannt war, dass eine Überdosis lebensgefährlich sein kann. Der englische Mode- und Prominentenarzt Thomas Sydenham (1624–1689) rührte das Mittel Mitte des 17. Jahrhunderts neu zusammen. Er war überzeugt, dass das Bilsenkraut die tödliche Komponente darstellte. Sy‚ denham s Laudanaum stellte das endgültige Rezept für Laudanum dar: „1 Pfund spanischen Wein, 2 Unzen Opium, 1 Unze Safran, je 1 Quentchen Zimt und gestoßene Nelken, lasse alles im Wasserbad zwei oder drei Tage lang leise kochen, bis der Likör die gewünschte Konsistenz hat und seihe es dann durch“. (Behr, S. 60) Allein aus der Rezeptur ergibt sich, dass dieses Laudanum nicht nur Heilsondern auch Distinktionsmittel war. Safran war damals wie heute das teuerste Gewürz der Welt. Wer sich also Laudanum leisten konnte, war reich. Sydenham starb 1689, da hatte er über 17.000 Pfund Laudanum verordnet, eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die tödliche Dosis bei zehn bis fünfzehn Gramm liegt. Zu Sydenhams Dauerpatienten zählten von Cromwell abwärts alle Notablen seiner Zeit, Puritaner wie auch Royalisten. Es war die Zeit Robert Burtons, die Zeit einer großen Melancholie. Wie gesehen, schätze Kraepelin Ende des 19. Jahrhunderts Opium als Mittel der letzten Wahl, wenn nichts anderes mehr half. Bis in die 30er Jahre des 20. Jahrhunderts galt Opium als wichtigstes Heilmittel der westlichen Medizin.6 Zur größten Sorge wurde die Abhängigkeit. Morphin (1804 durch den Apotheker Friedrich Sertürner isoliert) sollte die Lösung sein, hatte aber den gleichen Effekt. Auch Heroin (1896 von Bayer patentiert) galt zunächst als weniger suchtgefährdend, verschlimmerte das Problem bekanntlich aber. Erst die Entdeckung der modernen Psychopharmaka, namentlich des Neuroleptikums Chlorpromazin im Jahr 1950, stellte die Weichen für eine weitgehend opium- bzw. morphinlose Psychiatrie.

6

TV-Sendung „Die Opium Route“ von Robert Lang und Peter D. Finley auf Arte, 12.04.2011. http://videos. arte.tv/ de/ videos/ die_opium_route-3819630.html.

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Opium ist heute für die Psychiatrie nur noch als „Suchtmittel“ von Interesse. Der Gesetzgeber unterscheidet zwischen legalen und illegalen Drogen, die entweder als gefährliche, suchtauslösende Straßendrogen verdammt werden oder als angeblich hochwirksame Psychopharmaka7 verschrieben werden. Beide dienen der Stimmungsveränderung und beide können „antidepressives Potential“ entfalten. Die heute zum Erliegen gekommene Wissenschaft, die sich mit der Wirkung von Drogen im weitesten Sinne, also auch von Medikamenten oder Genussmitteln wie Kaffee, Zigaretten oder alkoholischen Getränken befasst, heißt Pharmakopsychologie. Ihr Inhalt ist die Beschreibung, Erklärung und Vorhersage interund intraindividueller Unterschiede in den Wirkungen von Drogen bzw. Psychopharmaka. Zentraler Forschungsbereich der Pharmakopsychologie ist die Abhängigkeit der Wirkung von relativ konstanten Persönlichkeitsmerkmalen, von somatischen wie Geschlecht, Konstitution, Alter, von biochemischen Besonderheiten und von psychischen Merkmalen wie Neurotizismus, Extraversion, Psychotizismus, Impulsivität, Stimulationssuche, Leistungsmotivation. Bereits Pawlow, später H. J. Eysenck, haben „Pharmaka und Persönlichkeit“ als bedeutsames Forschungsthema angesehen. Das von dem britischen Persönlichkeitspsychologen Hans-Jürgen Eysenck (1916–1997) formulierte Drogenpostulat knüpft an den Versuch an, Unterschiede in der psychischen Wirkung von Pharmaka mit individuellen Besonderheiten in Verbindung zu bringen. Eysenck schlug vor, Sedativa und Stimulanzien zur Überprüfung der von ihm als Basis der Extraversion bzw. Introversion angenommenen Erregungs- und Hemmungsprozesse im Zentralnervensystem einzusetzen. Das wissenschaftliche Interesse an bewusstseinsverändernden Pharmaka (Psychodysleptika oder Psychotomimetika) hat eine etwa zweihundertjährige Tradition. Viele Untersuchungen zeigten hierbei, dass die durch einige Psychodysleptika ausgelösten Erfahrungen (Modellpsychosen) gewisse Gemeinsamkeiten mit akuten psychotischen Schüben schizophrener Art aufwiesen; daher auch die Bezeichnung Psychotomimetika. Seit Beginn des 19. Jahrhundert, in Folge der Aufklärung, so Edward Shorter, versuchte man, Drogen zur Erforschung des Gehirns einzusetzen. Jacques-Joseph Moreau, der dem Kollegium der Privatklinik des kurz zuvor verstorbenen Jean Etienne Esquirol angehörte, glaubte 1845 zum Beispiel, dass Haschisch „die Geheimnisse des Irreseins erhellen und uns zur verborgenen Quelle dieser so zahlreichen, so variablen und so seltsamen Störungen zurückführen“ können. (Shorter, S.397) Heute gibt es Untersuchungen, die nahelegen, dass Wirkstoffe des Haschisch, Cannabinoide, antidepressive

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Dabei gibt es auch Überschneidungen: Methylphenidat (Ritalin®) und Amphetamin.

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Wirkungen haben können.8 Zusammen mit Théophile Gautier gründet Moreau 1844 in Paris den „Club des hachichins“, dem zahlreiche Wissenschaftler, Literaten und Künstler angehörten. Die Mitglieder des Clubs (u.a. Charles Baudelaire, Alexandre Dumas, Eugène Delacroix, Honoré de Balzac und Gérard de Nerval) trafen sich bis 1849 monatlich bei dem Maler Fernand Boissard im Hôtel Lauzun auf der Île Saint-Louis, einer kleinen Insel auf der Seine. 1845 veröffentlicht Moreau das 431 Seiten umfassende Buch „Du hachisch et de l'aliénation mentale“. Er berichtet von guten Heilungserfolgen bei acht „manischen“ Patienten. Da Moreau wenig Haschisch zur Verfügung hatte und nur einzelne Patienten behandeln konnte, war er vorsichtig in seinen Aussagen. Die Grundidee seiner Methode lag in der Vorstellung, die Symptome der Geisteskrankheiten (insbesondere Halluzinationen) durch medikamentös steuerbare Symptome zu ersetzen und dann positiv zu beeinflussen.9 1865 sprach auch der französische Physiologe Claude Bernard von der Verwendung von Drogen für das Studium des Gehirns: „Gifte sind eine Möglichkeit, die Eigenschaften des Nervensystems zu analysieren, eine Art physiologisches Skalpell, das um ein vielfaches schärfer und feiner ist als gewöhnliche Skalpelle.“ (Nach Shorter, S. 398) In den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts forschte Emil Kraepelin systematisch nach den Auswirkungen von Drogen auf das Gehirn, wobei er den Begriff „Pharmakopsychologie“ prägte, aber noch keine therapeutischen Anwendungsmöglichkeiten der Drogen sah. Kraepelin schrieb 1883, dass er unter Wilhelm Wundts (1832–1920) Einfluss beginne, mit experimentellen psychologischen Methoden zu arbeiten. Er plane, die mentalen Reaktionen seiner Patienten unter dem Einfluss von Drogen (Morphium, Kokain, Alkohol, Bromin und Trional) sowiel Kaffee und Tee zu testen: „Mit einer systematischen Erforschung pharmakologischer Zusammenhänge hat aber erst Kraepelin begonnen. […] Bei der Würdigung dieser Bemühungen, das Seelenleben messend unter wechselnden somatischen Bedingungen zu erfassen, darf festgestellt werden, dass die erzielten Ergebnisse im Grunde enttäuschend sind. Die in äußerst langwierigen und mühsamen, oft pseudo-exakt anmutenden Versuchsreihen ermittelten Befunde wirken

8

Wen Jiang, Yun Zhang et al.: Cannabinoids provoke embryonic and adult hippocampus neurogenesis and produce anxiolytic and antidepressant-like effects. JCI Journal of Clinical Investigation, Volume 115, Issue 11, November 2005.

9

Hans Bangen: Geschichte der medikamentösen Therapie der Schizophrenie. Berlin 1992. S.22.

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manchmal geradezu banal: Sie entsprechen in mehr oder minder wissenschaftlich verklausulierter Form den weitgehend bekannten Wirkungen der geprüften Substanzen.“10

In seiner „Einführung in die Pharmakopsychologie (Bern, 1959) schreibt Herbert Lippert: „Die Pharmakospsychologie ist eine verhältnismäßig junge Wissenschaft. Als ihr Begründer gilt Emil Kraepelin. […] Das Ziel seiner Bemühungen war in Analogie zur Pharmakophysiologie, statistisch verwertbare Messungen psychischer Veränderungen vorzunehmen. Vergleicht man den ungeheuren Arbeitsaufwand mit den Ergebnissen, so wird man weitgehend enttäuscht sein, denn nur wenige Zahlen drücken statistisch relevante Unterschiede zwischen normalem und pharmakologisch beeinflusstem Seelenleben aus. Die Kraepelinsche Richtung brachte wertvolle Ergebnisse für die Arbeits- und Verkehrspsychologie, konnte aber nicht zu einer tieferen Erfassung des Erlebens vordringen.“

Was ist das Besondere an Kraepelins Experimenten? Es ist eine dualistische Grundhaltung, die seine Variante der biologischen Psychiatrie bestimmt. Kraepelin sah die Drogen nicht als Gifte an, die die Seele verwirren und die vom Teufel sind – und eben auch nicht als Substanzen, die Heilung bringen können. Er vertrat bezogen auf das Leib-Seele-Problem einen Dualismus. Eine dualistische Leib-Seele Vorstellung gesteht der Vergiftung des Gehirns keine nachhaltigen Auswirkungen auf das Seelenleben zu. Die Seele (im Sinne von „Geist“, engl. mind) ist ja vom Leib getrennt, eine höhere Ebene. Deshalb ist so gesehen eine gelegentliche „Vergiftung“ unter therapeutischen Gesichtspunkten weder zu empfehlen noch abzulehnen. Auch so begründet sich Kraepelins „therapeutischer Nihilismus”. Wenn der Geist vom Körper getrennt ist, dann können Heilbehandlungen am Körper den „schwachsinnigen“ Geist nicht heilen, sie können ihn höchstens disziplinieren. In populärpsychiatrischen sowie in wissenschaftlichen Vorstellungen herrscht dagegen heute ein monistischer Materialismus: Empfindungen und Störungen der Empfindungen hängen demnach ab vom Hirnstoffwechsel. Der „Geist“ ist Körper. Das Gehirn ist sowohl für Leib als auch Seele zuständig. Eine Vergiftung des Gehirns belastet demnach auch die Seele (Psyche). Drogen müssen, wenn sie den Verstand benebeln, auch auf das Seelenleben, die Psyche, den „Geist“ Einfluss nehmen, denn beide sind ja eins. Folglich müssen Drogen entweder schädlich oder gut sein. Gut sind sie dann, wenn sie zu therapeutischen oder diagnostischen, also medizinischen Zwecken eingesetzte werden, schlecht

10 Wolfgang de Boor: Pharmakopsychologie und Psychopathologie. Berlin, 1956, S. 4 f.

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sind sie dann, wenn sie eingesetzt werden, um aus der „Realität“ zu flüchten. Schädlich sind sie, wenn sie auf ein gesundes Gehirn treffen, gesundheitsförderlich, wenn sie auf ein krankes Hirn treffen – deshalb gibt es böse Straßendrogen und gute Psychopharmaka. Aber fast alle Straßendrogen waren zu Beginn ihrer Karriere auch schon mal Pharmaka, wie z.B. Heroin, Haschisch, Opium, Amphetamine, Ecstasy (MDMA), Kokain, LSD etc.. Ende des 19. Jahrhunderts, Anfang des 20. Jahrhunderts vollzieht sich diesbezüglich ein Paradigmenwechsel: Alle bis dahin legalen Drogen wie Cannabis, Opium, Kokain, und kurzzeitig auch Alkohol werden verboten bzw. zu Medikamenten erklärt, die im Auftrag der Gesundheit eingenommen werden, und die möglichst ein Arzt verschreiben sollte. Diese Entwicklung wurde auch mitbefördert – wie erwähnt – von der entstehenden Verbraucherschutzbewegung. Im 20. Jahrhundert sei das Interesse an der pharmakopsychologischen Forschung eine deutsche Domäne gewesen, so Healy (2003). Die Behinderung der Forschung auf diesem Gebiet durch eine weltweit restriktive Gesetzgebung ließ das wissenschaftliche Interesse zunehmend erlahmen. Seit spätestens 1969 war die Richtung tot. Was war passiert? Drei Gründe spielten eine Rolle. Die biologische Wende in der Psychiatrie, die in den USA stattfand, zeitigte im Ergebnis eine Psychiatrie, die mit kategorialen und nicht mit dimensionalen Begriffen in Bezug auf psychische Störungen arbeitete. Die Pharmakopsychologie war eine Sichtweise, die sich mehr auf dimensionale Begriffe bezog. Es war möglich, in gesunden Personen gestörtes Erleben auszulösen, das bedeutet, dass auch gesunde Personen in gewisser Weise kranke Anteile in sich haben, dass es ein Kontinuum zwischen Gesundheit und Krankheit gibt. Eine solche Vorstellung würde Depression nicht aus dem Bereich des normalen menschlichen Erlebens ausschließen. Anders die kategoriale Auffassung: Hier gibt es eine klare Trennung zwischen Krankheit und Gesundheit, diese liegt heute in manualisierter Form (DSM-IV, ICD-10) vor. Psychische Krankheit ist immer medizinisch zu behandeln. Das Problem dabei ist, dass die Grenze zwischen Krankheit und Gesundheit zu Gunsten der Krankheit, der Ärzte und der Pharmaindustrie immer weiter in den psychogen-psychotherapeutischen Bereich verschoben werden kann. Hier liegt ein bedeutender Unterschied zwischen der klassischen deutschen Kraepelinschen und der modernen biologischen Psychiatrie. Kraepelin hat sich wie Roland Kuhn, der Entdecker des Antidepressivums Imipramin (s.u.), für biologische Krankheit interessiert. Wenn psychogene Störungen auftraten, z.B. die heute sogenannte posttraumatische Belastungsstörung, dann ließ das Rückschlüsse darauf zu, dass der Symptomträger schon vorher im biologischen Sinne krank gewesen sein musste, denn bei einer gesunden Person wäre eben keine Reaktion aufgetreten. Medikamente/Drogen haben nach dieser nur noch histo-

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risch interessanten Sichtweise keine langfristigen psychotherapeutischen Wirkungen – sie können aber pharmakopsychologisch zu Diagnosezwecken eingesetzt werden. Der zweite Grund für das Erlahmen des Interesses an der Pharmakopsychologie war laut David Healy der Versicherungsschutz für Patienten. Ab dem Jahr 1960 drängten solche Fragen und Fragen nach dem Missbrauch von Patienten als „Versuchskaninchen“ in den Vordergrund. Mit auslösend dafür waren Studien, die im Auftrag des CIA an kanadischen Krankenhäusern durchgeführt wurden, um LSD und Elektroschock auf ihre Tauglichkeit als Instrumente zur Gehirnwäsche hin zu überprüfen (MK-ULTRA). Healy (2003) schreibt, es hätte sich ein Klima entwickelt, in dem alles fraglich schien, was nicht ausdrücklich darauf gerichtet war, dem Patienten zu helfen. Drittens sei an dem Ausbleiben dieser Forschung die Industrie schuld. Diese habe ein Interesse an der Patentierung und Vermarktung eines Stoffes als Mittel gegen eine bestimmte Krankheit. Nur so lasse sich über die Patentlaufzeit Geld verdienen. Neue Mittel werden mit einem erheblichen Aufwand getestet, bevor sie zugelassen werden. Wenn neue Stoffe eine Rolle spielen, müssen die Konzerne über sämtliche Wirkungen und Nebenwirkungen der Stoffe Auskunft geben. Dies mache sie nicht bereit, unabhängige Forscher, die möglicherweise andere Wirkungen oder Nebenwirkungen entdecken könnten, an den Forschungen zu diesem Stoff partizipieren zu lassen. Wenn die Mittel erst auf dem Markt sind, haben Forscher anderer Konzerne kein großes Interesse, an diesen Substanzen zu forschen. Eine der Folgen des Fehlens psychopharmakologischer Forschung sei, so Healy, dass es bis heute nicht möglich ist, aufgrund des Verhaltens eines Probanden vorauszusagen, was der Patient genommen hat – ob es sich dabei um einen majoren Tranquilizer, einen minoren Tranquilizer oder ein Antidepressivum handelt. Die Probanden selbst können das sehr wohl unterscheiden, aber ein Beobachter kann aus dem Verhalten oder aus kognitiven Tests keine Schlüsse ziehen. Geht man davon aus, dass moderne Psychopharmaka keine Gifte sind, sondern Mittel, die die Levels bestimmter Gehirnchemikalien beeinflussen, dann tue sich hier eine bemerkenswerte Wissenskluft auf. Diese Kluft beeinflusse unsere Fähigkeit, vorauszusagen, welches Mittel was bei wem voraussichtlich bewirkt. Dies wird mittels Versuch und Irrtum praktiziert. Man kann mit Healy in diesem Zusammenhang von einem Sieg des therapeutischen Empirizismus über die theoretische Erforschung psychischer Krankheiten sprechen.

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P ATENTMEDIZINEN UND K ONSUM DER ( PSYCHISCHEN ) G ESUNDHEIT IN DEN USA DES 19. J AHRHUNDERTS Chemiker oder Apotheker verkauften in den USA seit dem 17. Jahrhundert zwei Typen von Substanzen: entweder ein Gebräu aus verschiedenen Zutaten oder die einzelnen Stoffe oder Zutaten. Aus ersterem, dem Gebräu, entwickelten sich in den USA die sog. Patent Medicines, die in Drogerien direkt, „over the counter“ an die Patienten verkauft wurden. Die reinen Zutaten wurden an Ärzte verkauft. Die von den Ärzten zubereiteten Zutaten waren die Basis für „Ethical Drugs“ oder verschreibungspflichtige Medikamenten. Bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts wurden in den USA noch ca. 50.00011 verschiedene Patentmedizinen verkauft. Die großen Pharmafirmen mussten, wenn sie ordentlich Profit machen wollten, sich von den Herstellern der Patentmedizinen und ihren Herstellern abgrenzen. Dies erreichten sie mit allerhand juristischen Arzneimittelverordnungen. Das erste Gesetz in diese Richtung war das 1938 verabschiedete „Food and Drug Cosmetics Act“. Das Gesetz forderte einen Nachweis über die Unschädlichkeit der Substanz. 1951, lange vor einer entsprechenden Gesetzgebung in Deutschland (die erfolgte erst 1976), passierte das „Durham-HumphreyAmmendt“ den Kongress, das für die meisten (wirksamen) neuen Medikamente Verschreibungspflicht vorschrieb. Viele amerikanische Autoren meinen, dass auch diese Verschärfungen des Arzneimittelrechts zur Entwicklung der Volkskrankheit Depression beigetragen haben, denn „ethical drugs“ heilen bestimmte, definierte Krankheiten und keine Befindlichkeiten (siehe die Bemerkungen zum „Kefauver-Harris-Amendtment“ unten). Die Patent Medicines waren weder patentiert, noch Medizinen, sondern schlicht und einfach frei verkäufliche Drogen, meist mit den Bestandteilen Alkohol und Opium bzw. Morphium. 1804 waren 90 Patentmedizinen in New York offiziell aufgelistet; 1857 bereits 1.500 (Whitacker 2010, ebda.). Das Wachstum dieses Geschäfts vollzog sich nicht nur parallel zum Aufschwung der Werbe- und Medienindustrie; das Wachstum der Patentmedizinindustrie war ein Motor der Werbewirtschaft und der Massenmedien. Bereits im Jahr 1849 gab ein Hersteller 100.000 Dollar pro Jahr für die Bewerbung seines Abführmittels aus. Im Jahr 1881 wurde „St. Jacobs Oil“ mit jährlich 500.000 Dollar beworben.

11 Robert Whitacker: Anatomy of an Epidemic. Psychiatric Drugs and the Astonishing Rise of Mental Illness. New York 2010, S. 55.

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Claude Hopkins, einer der bedeutendsten Werbefachmänner seiner Zeit, sagte, dass die besten Werbefachleute aus dem Medizinbereich kämen.12 Der Soziologe David Reed13 hat die Entwicklung von Wirtschaftswerbung in den USA untersucht und entdeckt, dass diese zu einem sehr großen Teil durch die Bewerbung der Patent Medicines angekurbelt wurde. Einen plötzlichen Boom des Aufkommens von Werbung für Patent Medicines sieht er im Jahr 1863, während des amerikanischen Bürgerkriegs. Das Aufkommen der Werbung für diese Produkte verdoppelte sich, während die Werbung für andere Produkte zurückging. Reed führt das auf die Verletzungen des amerikanischen Bürgerkrieges zurück. Erstmals in einem Krieg wurden dort massiv Schusswaffen und Sprengstoff eingesetzt. Dies führte zu Verletzungen, die nur palliativ zu behandeln waren, bei denen also die Behandlung der Schmerzen im Vordergrund stand. Eine solche Art von Medizin versprachen die damaligen Neurologen – zusammen mit den Patent Medicines. Nach dem Ende des Bürgerkrieges ging das Werbeaufkommen für die Patent Medicines zurück, die Stoffe spielten jetzt keine Rolle als Schmerzmittel mehr, sondern als Psychopharmaka (Stimulanzien/Tranquilizer), als Vorläufer der „mother’s little helpers“ und der Antidepressiva wie z.B. Prozac. Die Patentmedizinen wirkten gegen die damaligen Modekrankheiten Neurasthenie und Nervosität. Es ist relativ bekannt, dass CocaCola Ende des 19. Jahrhundert Kokain enthielt und zu besseren Konzentrationsleistungen führen sollte, weniger bekannt ist, dass 7up zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Katergetränk mit dem Stimmungsstabilisator Lithium14 versetzt war und Pepsi Cola als ein gesundheitsförderndes Mittel gegen Dyspepsie, also Verdauungsstörung angepriesen wurde, weil die Kolanuss Pepsin enthält. Tatsäch-

12 Vgl. auch: Konstantin Ingenkamp: Werbung und Gesellschaft. Hintergründe und Kritik der kulturwissenschaftlichen Reflexion von Werbung. Frankfurt/M. 1997 (Diss.), S. 192. 13 David Reed: Growing Up: The Evolution of Advertising in Youthީ s Companion during the Second Half of the Nineteenth Century. In: European Journal of Marketing. Vol. 21, Nr. 4. 1987. S. 20–33. In Zusammenarbeit mit: Journal of Advertising History. Vol. 10. Nr. 1. 14 Laut Wikipedia, 2011: „7up was created by Charles Leiper Grigg, who launched his St. Louis-based company The Howdy Corporation in 1920. Grigg came up with the formula for a lemon-lime soft drink in 1929. The product, originally named „BibLabel Lithiated Lemon-Lime Soda“, was launched two weeks before the Wall Street Crash of 1929. It contained lithium citrate, a mood-stabilizing drug, until 1950. It was one of a number of patent medicine products popular in the late-19th and early-20th centuries.“

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lich kann der US-amerikanische Kapitalismus auf eine bemerkenswerte Vermarktungsgeschichte (zu seiner Zeit) legaler Drogen zurückblicken. Ab dem Jahr 1901, dem Jahr, als Theodore Roosevelt den ermordeten William McKinley als US-Präsident ersetzte, spielte Verbraucherschutz eine zunehmend größere Rolle und das Ende der Patentmedizinen nahte langsam aber sicher. Mitglieder der weißen Mittelklasse forderten Sicherheit für ihre Gesundheit beim Verzehr von Lebensmitteln und Patentmedizinen. Das Ergebnis dieser Anstrengungen war die Verabschiedung des „Pure Food and Drug Law“ im Jahre 1906, das besagte, dass auf den Verpackungen von Produkten, die zum Verzehr bestimmt sind, die Zutaten angegeben sein müssen.15 Zu diesem Gesetz trugen auch die Veröffentlichung und der Erfolg von Upton Sinclairs Roman Der Dschungel (1906 wurde der gesamte Roman veröffentlicht, davor erschienen allerdings schon Ausschnitte in Zeitungen) bei, in dem neben den Arbeitsbedingungen der Arbeiter in den Schlachthöfen auch die katastrophalen hygienischen Bedingungen der Fleischproduktion geschildert werden. Dieses Buch trug zu einer der ersten Vegetarier- und Gesundheitsbewegungen in den USA bei und führte zum Erfolg von vermeintlich gesunden Nahrungsmitteln und vor allem der Firmen, die diese Nahrungsmittel mit der richtigen Strategie verkauften, wie z.B. Kellogs Cornflakes (s.o.). Hier liegt, wie beschrieben, eine der Wurzeln der „therapeutischen Erzählung der Selbsthilfe“.

D ER B EGINN

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Der Begriff Seelenarznei taucht erstmals in der späten Renaissance mit dem Buch „Seelenarznei für Gesunde und Kranke“ des Klerikers Urbanus Rhegius auf – allerdings in keinem medizinischen Zusammenhang. Bei dem Werk von 1529 handelte es sich um eine protestantische Trostschrift. Urbanus Rhegius (1489–1541, eigentlich Urban Rieger) war ein Reformator. Seine seelsorgerische Schrift war laut Wikipedia ein gewaltiger publizistischer Erfolg. Den Beginn der Geschichte der Psychopharmaka im heutigen Sinn als „Medikamente“ verortet der Psychiatriehistoriker Edward Shorter in der Entdeckung des Lithiumsalzes,16 das sich aufgrund seines natürlichen Vorkommens nicht zur

15 Vgl. Mark Pendergrast: For God Country and Coca-Cola. The Unauthorized History of the Great American Softdrink and the Company who makes it. London, 1993, S. 110. 16 Ein „Phasenprophylaktikum“ bei bipolarer Störung und Manie, sowie zur „Augmentation“ (Verstärkung) von Antidepressiva.

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Patentierung eignet. Lithium wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts medizinisch verwendet. Bereits 1850 wurde Lithium in der westlichen Medizin als Mittel gegen Gicht eingesetzt. Es erwies sich jedoch als unwirksam. Auch andere Ansätze zur medizinischen Anwendung von Lithiumsalzen, so unter anderem als Mittel gegen Infektionskrankheiten, blieben erfolglos. Als psychiatrisches Medikament wurde es erstmals 1949 beschrieben. Der Leiter eines australischen Krankenhauses, John Cade, hat im Zuge seiner Forschungen diese Substanz, reines Lithium, Meerschweinchen gespritzt. Die Meerschweinchen wurden völlig lethargisch. Cade spritze, nachdem er einen Selbstversuch unternommen hatte, dieses Mittel nun auch manischen, psychotischen und depressiven Patienten. Die Auswirkung auf die Depressiven war gleich null, was wenig überrascht, den Psychotikern ging es ein wenig besser, aber der große Erfolg war bei den manischen Patienten zu beobachten. (Shorter 2003, S. 385). Obwohl das Mittel gut wirkte, führte man es erst 1970 in den USA ein. Warum? Der Grund ist darin zu sehen, dass Lithium als eine reichlich vorhandene natürliche Substanz weder eine industrielle Lobby hatte, noch einen Pharmabetrieb veranlasste, das Mittel zu produzieren. Die Gewinnaussichten für die Pharmafirmen – nicht aber für die Patienten – waren zu gering. Andere Substanzen haben eine wechselhaftere Geschichte hinter sich. Die heutige Straßendroge „Speed“ (Amphetamin, 1887 erstmalig synthetisiert) hätte fast einmal die Weihen eines antidepressiven Psychopharmakons empfangen. In den 30er Jahren experimentierte man mit Amphetamin als Antidepressivum. Der Psychiater Abraham Myerson publizierte in den 30er Jahren eine Reihe von Büchern zum Thema Depression – die damals aber noch nicht so hieß. Myerson nannte die „Krankheit“ oder Störung „Anhedonie“, also Un-Lust. Und Myerson hatte ein Mittel gegen diese Störung entdeckt: das Amphetamin Benzedrin®. Dieses Mittel war bis dahin als Aufputschmittel bekannt. Nun liegt es nahe, depressive, „unlustige“ Menschen mit Aufputschmitteln zu behandeln. Aus diesem Grund wurde Myerson massiv von der Pharmafirma Smith, Kline und French unterstützt. Im Jahr 1937 verschickte Myersons Mäzen 90.000 Mitteilungen an Ärzte und Psychiater, in denen die Firma mitteilte, Hauptanwendungsgebiet von Benzedrin-Sulfat, also Amphetamin in Tablettenform, werde die Stimmungsaufhellung sein. Die Entdeckung der antidepressiven Anwendung wurde als Meilenstein in der Medizingeschichte gefeiert. Greenberg (2010, S. 259) berichtet von einer Anzeige aus einer Ausgabe des American Journal of Psychiatry aus dem Jahr 1945 für Benzedrin der Firma Smith Kline und French. Die Anzeige zeigte im Vordergrund einen „positiven“, tatkräftigen Geschäftsmann, die Arme in die Seiten gestemmt. Im Hintergrund sah man sein Gesicht in einer anderen Stimmung, verzweifelt, depressiv. Der Werbetext lautete: „Wenn ein Individuum

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depressiv oder anhedonisch ist, können Sie [der Arzt] diese Einstellung [attitude] durch physische Maßnahmen ändern. Dies wissen Ärzte seit mindestens zwanzig Jahren. Aber erst seit der letzten Dekade ist ein Heilmittel erhältlich: Benzedrin®.“ Man versuchte zunächst auch Ritalin® als Mittel gegen „milde Depressionen“ zu vermarkten. Ritalin,17 Methylphenidat, eine amphetaminähnliche Substanz, wurde 1954 in Deutschland und der Schweiz zunächst rezeptfrei als „Psychotonikum“, als Stimulanz eingeführt. Auf einem Beipackzettel aus dem Jahr 1964 aus Deutschland ist Ritalin ausgewiesen als Mittel bei „gesteigerter Ermüdbarkeit […] depressiven Verstimmungen (z.B. reaktive Depressionen im Klimakterium oder in der Rekonvaleszenz), bei Antriebsarmut und bei Narkolepsiebeschwerden, Föhnbeschwerden.“18 1955 wird die Substanz Methylphenidat in den USA auf den Markt gebracht. Das Medikament wird auch dort zunächst als Mittel gegen milde Depressionen bei Erwachsenen angeboten. Es wurde u.a. mit folgendem Slogan beworben: „Relieves chronic fatigue, that depresses and mild depression that fatigues.“19 Die Werbestrategie, Amphetamine als Mittel gegen „milde Depressionen“ einzusetzen, war nicht erfolgreich. Amphetamine verkauften sich als Appetitzügler besser. Die Zeit für Antidepressiva war noch nicht reif. Die große kommende Volkskrankheit hieß „Angst“ und die verlangte eher nach Beruhigungs- denn nach Aufputschmitteln. „Marked anxiety“ wird ungünstigerweise in der zitierten Ritalin-Anzeige an erster Stelle bei den Kontraindikationen angeführt. Die Karriere der Amphetamine als Psychopharmaka startete in den späten 50er Jahren als Mittel für Kinder, die unter agitierten Verhaltenauffälligkeiten leiden. In den USA wurde es ab 1957 zur Behandlung von verhaltensauffälligen Kindern eingesetzt. Die Diagnose hieß zunächst noch MBD (Minimal Brain Dysfunction), später dann AD(H)S. In den USA erfolgt heute die Verabreichung des Mittels über die Schulen. 6 Millionen Kinder werden behandelt. (Vgl.: Schmutz, ebda.)

17 1944 von Leandro Panizzon synthetisiert. Weil das Mittel seiner Frau Rita beim Tennisspiel zu erhöhter Leistung verhalf, nannte er das Mittel „Ritalin“. 18 Beipackzettel faksimiliert bei Svea Daniela Schmutz: Die Amphetaminbehandlung verhaltensauffälliger Kinder von 1937 bis in die 70er Jahre in Amerika unter besonderer Berücksichtigung der Substanz Methylphenidat (Ritalin®). Diss. Freiburg, 2004 http://www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/1654/. 19 Anzeige aus einer medizinischen Fachzeitschrift faksimiliert bei Svea Daniela Schmutz, ebda.

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D IE G ESCHICHTE DER ANTIPSYCHOTIKA UND ANTIDEPRESSIVA Ein Startschuss für die moderne Medizin waren die Entdeckungen der organischen Chemie. Normalerweise werden die Atomphysik und die Evolutionsbiologie als größte geistige Errungenschaften der Naturwissenschaften in der Moderne gesehen. Die Farbstoffchemie, Teilbereich der organischen Chemie, wird dabei übersehen. Farbstoffe aus Steinkohlenteer waren der ursprüngliche Geschäftszweig aller späteren Großunternehmen der Chemie- und Pharmabranche. Im Jahr 1856 entdeckte William Henry Perkin (1838–1907) den ersten synthetischen organischen Farbstoff, das Mauvein und verdiente damit viel Geld. Geigy, Sandoz und Bayer, drei große europäische Pharmaunternehmen, begannen ihre Karriere Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts als Farbstofffabriken. Die Fabrikation von Farbstoffen war die Ausgangssituation für die Produktion von Medikamenten. Man stellte fest, dass die neuen Substanzen nicht nur zum Färben eingesetzt werden konnten, sondern dass sie auch medizinischen Nutzen hatten. So wurde 1886 zufällig festgestellt, dass das Kohlen-Teer-Derivat Acetanilid fiebersenkend war. Bereits zur Zeit der vorletzten Jahrhundertwenden waren alle Komponenten, die hinterher die pharmakologische Revolution in der Psychiatrie auslösen sollten, gefunden. Bayer war die erste Farbstofffirma, die ein Medikament, Phenacetin, entwickelte. Das 1887 als Arzneistoff eingeführte Mittel wirkte gegen Schmerzen und zur Fiebersenkung. Es war das erste Mal, dass ein Medikament unter einem Dach entworfen, entwickelt, getestet und vermarktet wurde. 1897 begann Bayer damit, Diacetylmorphin zu vermarkten, und zwar unter dem Namen Heroin. Unter diesem Namen hat diese chemische Verbindung auch heute noch eine häufig unfreiwillige Anhängerschaft. Heroin war zunächst ein Mittel gegen Husten und Schmerzen. 1899 brachte Bayer dann das erfolgreichste Medikament überhaupt, Aspirin, auf den Markt. Dabei handelt es sich um Acetysalycil-Säure, die in der Natur in der Rinde von Weidenbäumen vorkommt. Das Neuroleptikum Chlorpromazin Alain Ehrenberg schreibt über die französische Erfindung „Chlorpromazin“: „Dies ist ein Medikament, das die Geisteskräfte wiederherstellt, und keine Droge.“ (Ehrenberg 2004, S. 90) Das ist nicht nur unter Ex-Konsumenten des Mittels hochgradig umstritten. Die Wirkweise der Substanz wurde auch als „chemi-

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sche Lobotomie“20 bezeichnet. Die verlangsamten Bewegungen, der schlurfende Gang der Patienten in psychiatrischen Kliniken ist auf diese Droge zurückzuführen, die Patienten wirken wie ferngesteuert. Die medizinischen Begriffe dafür lauten Parkinsonoid21 (Rigor, Tremor und Akinese) und Dyskinesien. Neuroleptika haben schwere Nebenwirkungen und erhebliche Langzeitfolgen. Menschen, die lange Neuroleptika genommen haben, werden deutlich früher pflegebedürftig wegen Demenz als andere. 1952 wurde die „antipsychotische Wirkung“ der Droge Chlorpromazin entdeckt. Das Molekül der Droge ähnelt stark dem eines Teer-Farbstoffes, Methylenblau. Dies ist ein Phenothiazin-Derivat, das 1876 bei BASF synthetisiert wurde. Bereits um 1900 wurde versucht, den Stoff gegen psychische Krankheiten einzusetzen (Pietro Bodoni in Genua 1899, nach Greenberg 2010, S. 179). Mit dem Chlorpromazin, so Edward Shorter, wurde die Psychopharmakologie zu einer eigenen Disziplin. Im wesentlichen, so Shorter weiter, wurde die neue Psychopharmakalogie nicht von Gelehrten oder Ärzten vorangetrieben, sondern von der Pharmaindustrie: „In Wahrheit ist die Psychopharmakologie also viel eher eine Schöpfung der Pharmaindustrie, als dass man sie Wissenschaftlern oder Klinikern gutschreiben könnte. Und diese Industrie sollte in den 60er Jahren zu einem der mächtigsten Wirtschaftszweige in den USA und in Großbritannien werden, den beiden wichtigsten Produktionsländern.“ (Shorter, 2003. S. 399)

Dopamin und Serotonin spielen die beiden Hauptrollen in dieser Saga. Die Entdeckung dieser Begründung für die Wirksamkeit der Medikamente erfolgte aber lange nach der Evidenz der Wirksamkeit. Chlorpromazin wurde bereits 1950 von dem Chemiker Paul Charpentier bei der Firma Rhône-Poulenc auf der Suche nach einem neuen Antihistaminikum (Antiallergikum) synthetisiert. Es zeigte sich bald, dass Chlorpromazin neben einem antihistaminischen Effekt eine stark sedierende Wirkung hat. Zwischen April 1951 und März 1952 wurden 4000 Proben an über 100 Forscher in 9 Länder verschickt. Am 13. Oktober 1951 erschien der erste Artikel, in dem Chlorpromazin öffentlich erwähnt wurde. Der französische Militärneurologe und Chemiker Henri Marie Laborit (1914–1995)

20 Vgl. z. B.: Robert Whitacker: Mad in America, 2002; ders. Anatomy of an Epidemic, 2010 (a.a.O.). 21 Chlorpromazin wirkt stark auch auf den Dopaminhaushalt. Einfach ausgedrückt haben schizophrene Patienten zuviel Dopamin, Parkinsonpatienten zu wenig Dopamin in bestimmten Synapsen.

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berichtete über Erfolge mit der neuen Substanz bei der Anästhesie. Die beiden französischen Psychiater Jean Delay und Pierre Deniker gaben am 26. Mai 1952 bekannt, dass sie eine beruhigende Wirkung des Mittels auf Patienten mit Manie festgestellt hätten. Während Chlorpromazin am Anfang noch gegen viele verschiedene Störungen eingesetzt wurde, zeigte sich später als wichtigste Indikation die Schizophrenie. Infolge der Blockade vieler Neurotransmitter-Rezeptoren ist das Wirkungsspektrum von Chlorpromazin sehr breit. Es wirkt antipsychotisch, sedierend, antiemetisch, lokalanästhetisch ganglienblockierend, anticholinerg, antiadrenerg und antihistaminisch. Der Begriff des Neuroleptikums22 für die neu entdeckte Gattung von Medikamenten hat einen Hintergrund, der auf den französischen Stammvater der Psychiatrie, Pierre Janet zurückgeht. So berichtet einer der Entdecker der psychotropen Wirkung der Substanz, Jean Delay, über die Namenswahl: „In seinen Studien über die psychische Spannung hatte Pierre Janet den Ausdruck ‚Psycholepsie‘ geschaffen, um den Abfall der psychischen Spannung zu bezeichnen. In Analogie dazu haben wir den Begriff ‚Neurolepsie‘ vorgeschlagen, um diesen Abfall an nervöser oder neurovegetativer Spannung zu bezeichnen, der teilweise die psychische Spannung bedingt und die der klinischen Wirkung von Medikamenten entspricht, die vor allem zur Entspannung führen.“23

Das Neuroleptikum „mittlerer Potenz“ (Wikipedia) wurde also zunächst als eine Art Entspannungsdroge verkauft. Zunächst wurde die Droge in den USA und in Deutschland unter dem Gattungsnamen Ataraktikum bzw. Ataractic geführt. Ataraxie bezeichnet einen Zustand der Seelenruhe und Gelassenheit. Der Psychiater Werner Leibbrand berichtet 1961 von Plänen, diese Droge dem Trinkwasser beizumischen, um die Menschen entspannter zu machen: „Mit einer fast als Literaturinflation zu bezeichnenden Schnelligkeit entwickelte sich das, was Walther-Büel 1953 als Pharmakotherapie bezeichnet hat. […] Der philosophische Begriff der Ataraxia wird zum Namen der ‚Ataractics‘ und Tranquilizer herabgewürdigt, und nach H. Lippert hat eine amerikanische pharmazeutische Fabrik von einem einzigen Ataraktikum 20 Milliarden verkauft: Die Ära der Ataraktika wurde 1951 mit dem Siegeszug des Chlorpromazin eingeleitet, das heute in breitestem Umfang zur Behandlung eingesetzt wird. […] Der Versuch der Behauptung, die heutige Vermanagerung des Lebens

22 Heute als Antipsychotikum bezeichnet. 23 Jean Delay: Introduction au colleque international.In : L´Encéphale, Nr. 4 1956, S. 305 ( zit.nach Ehrenberg 2004, S. 91).

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mit ihren überorganisierten Ansprüchen treibe derartige Ataraktika hervor, erscheint uns recht zweifelhaft. Der bisherige Darstellungsverlauf beweist eigentlich – sofern Geschichte überhaupt etwas beweisen kann – dass jede Zeitepoche ihre schweren seelischen Konflikte gehabt hat und dass es kaum angeht, die der heutigen übertechnisierten Zeit als besonders gefährdend zu kennzeichnen und daraus die Notwendigkeit der Ataractics und Tranquilizers zu rechtfertigen. Wir müssten es daher bedauern, wenn die Simplifizierung des Commentator S.C. im American Journal of Psychiatry ernst gemeint wäre, es sei am besten, dem täglichen Trinkwasser sogleich Tranquilizer zuzusetzen, um die Segnungen der Entspannung allen Menschen in gleicher Weise zuteil werden zu lassen.“ (Leibbrand, a.a.O., S. 618)

Chlorpromazin wird zunächst auch als Antidepressivum eingesetzt. Der Name, der in den USA untrennbar mit der Einführung von Chlorpromazin verbunden ist, ist Heinz Lehmann, der führende, psychoanalytisch orientierte amerikanische Psychiater seiner Zeit schweizer Herkunft. Shorter zitiert Lehmann: „Eines Tages kam ein Handelsvertreter von Rhone Poulenc und ließ alle möglichen Broschüren und Proben da. Meine Sekretärin erklärte ihm, dass ich viel zu beschäftigt sei, um ihn zu empfangen, aber er meinte nur: ‚Das ist auch gar nicht nötig, ich lasse ihm das hier, es ist etwas Neues und so gut, dass ich es ihm gar nicht erklären muss, er wird von selbst darauf kommen, wenn er das liest‘“. (Interview, zit. nach Shorter 2003, S. 378)

Zuerst glaubte Lehmann, dass es sich um ein neues Beruhigungsmittel handelt. Shorter zitiert ihn weiter: „Aber eine Bemerkung – es habe die ‚Wirkung einer chemischen Lobotomie‘ – macht mich stutzig und ich sagte mir, dass da wohl mehr dran sein musste. Diese beiden, [die französischen Psychiater] Delay und Deniker, waren ja offensichtlich hervorragende Psychiater, also mussten sie eigentlich wissen, wovon sie redeten.“

Lehmann testet das Mittel erst an einigen Krankenschwestern, dann an schizophrenen Patienten und ist begeistert: „Nach vier oder fünf Wochen gab es eine Menge symptomfreier Patienten.“ Allerdings beobachtete Lehmann auch gleich die typischen Nebenwirkungen, er beobachtete, „dass einige auf eine seltsam steife Art liefen (und einen sonderbar maskenartigen Gesichtsausdruck hatten), woraufhin wir an Parkinson dachten, aber das schien unmöglich zu sein, denn damals gab es so etwas wie ein medikamenteninduziertes Parkinsonoid nicht.“ (Zit. nach Shorter, ebda.) Diese – und weitere Dyskinesien (Störungen des Bewegungsablaufs) – sollten noch zum Problem werden, denn wegen dieser Ne-

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benwirkungen hörten viele der Patienten, die aus der Psychiatrie entlassen wurden, auf, ihre Medikamente zu nehmen. Chlorpromazin war das erste Medikament, das die Symptome von Psychosen beseitigte, auch wenn es – wie alle anderen Neuroleptika und Antidepressiva – die (möglicherweise) zugrundeliegende Hirnstörung nicht heilen kann. Heinz Lehmann entdeckte zwar die Vorzüge von Chlorpromazin, aber er hat das Mittel nicht in den USA eingeführt. Dies blieb einem Pharmaunternehmen überlassen. In den 50er Jahren wollte das Pharmaunternehmen Smith, Kline & French – um sich aufzuwerten – vom Vertrieb ausschließlich rezeptfreier (Patent) Medikamente auf verschreibungspflichtige umsteigen. Die Idee war, eine Lizenz aus Frankreich zu übernehmen. Und so reiste der Präsident des Unternehmens, Francis Boyer, nach Frankreich. Boyer wusste, dass Rhone-Poulenc einen neuen „Potenziator“ produzierte, hatte aber keine Ahnung von dessen psychiatrischer Anwendungsmöglichkeit. Als Boyer den Vertrag unterzeichnete, so Shorter, glaubte er, er habe ein Antiemetikum (Mittel gegen Erbrechen) eingekauft. Da sein Betrieb über kein eigenes Forschungsbudget verfügte, war man nicht bereit, das Mittel ausgiebig auf andere Wirkungen zu testen. Boyer gab die Parole aus: „Lasst uns das Zeug als Antiemetikum auf den Markt bringen, über alles andere zerbrechen wir uns später den Kopf.“ (Shorter 2003, S. 381) Das Unternehmen lieferte das Mittel bald unter dem Namen „Thorazine“ aus. Es gab damals keine Medikamente gegen Psychosen bzw. Antipsychotika. „Zufälligerweise“ (Shorter) entdeckte ein Psychiater, William Long, der medizinische Direktor des Unternehmens Smith, Kline & French, dass das Mittel bei manischen Patienten wirkt. Unter fünf manischen Patienten befand sich auch eine – nach Longs Erinnerungen – „schwer gestörte Nonne, die fast schon gewalttätig war und sich einer ausgesprochen unflätigen Ausdrucksweise bediente.“ (Shorter, ebda.) Das Mittel wirkt, die Nonne beruhigt sich. Das Potential des Mittels war erkannt und die Pharmafirma machte sich auf die Suche nach Psychiatern, um ihr Mittel vorzustellen und populär zu machen. Die amerikanische Psychiatrie dieser Zeit war bekanntlich sehr stark psychoanalytisch eingestellt und hielt von einer chemischen Behandlung von Psychosen wenig. Das zu ändern gelang der Firma. Um dies zu bewirken gründete sie eine „ChlorpromazinTask-Force“, um auch in den staatlichen Anstalten das Mittel abzusetzen. Stieß die Task-Force in einer staatlichen Psychiatrie auf Ablehnung, verkaufte sie den zuständigen Beamten ganz einfach die Einsparungen, die durch das Antipsychotikum zu erwarten waren. Und so kam es laut Shorter, dass Chlorpromazin trotz anfänglicher Gegenwehr der Analytiker schließlich auch in den öffentlichen Gebäuden ausgiebig Verwendung fand.

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Der Erfolg des Medikaments und das Motiv seines Einsatzes, der Zwang zu „sparen“, also mehr Gewinn zu machen, steht Pate für die Evolution der Psychopharmaka bis in unsere Tage. Alle anderen Psychopharmaka wurden mehr oder weniger nach diesem Muster entwickelt und vertrieben. „Nach der Vermarktung des Chlorpromazin wurden Antipsychotika, Antidepressiva und andere Psychopharmaka wie aus einem Füllhorn auf den Markt geschüttet. […] Einige dieser Mittel waren ‚Me-Too-Produkte‘, die ausschließlich aus Wettbewerbsgründen auf den Markt geworfen wurden; andere wurden wegen ihrer Toxidität schnell wieder vom Markt genommen; und wieder anderen gelang es, aus der Psychiatrie zu entkommen und zu Straßendrogen zu werden.[…]. Und mit diesen Psychopharmaka entstand in den Medien das Klischee der ‚neuen Hoffnung‘“. (Shorter, S. 384)

Im Jahr 1955 wurde allen 21.000 Patienten in den Anstalten in Maryland Chlorpromazin gegeben. Es wurde geschätzt, dass Smith, Kline & French in diesem Jahr einen Gewinn von 75 Millionen Dollar machte. Es war klar, dass andere Pharmafirmen auch etwas von dem Kuchen abhaben wollten. Nach Healy und anderen war es die Pharmaindustrie, die Ende der 50er Jahre Kongresse und Meetings ausrichtetet, um die Möglichkeit für die Weiterentwicklung der Psychopharmaka zu sondieren. Auf einem dieser Meetings wurde festgehalten, dass Neuroleptika bzw. Antipsychotika eine neue Entwicklung darstellten, und dass es verwandte Entwicklungen in Bezug auf andere psychische Krankheiten geben könnte. Es sei aber unwahrscheinlich, dass ein Mittel gegen Depression entwickelt werde. Ein Massenmarkt für Antidepressiva, so wie er heute vorhanden ist, war damals noch unvorstellbar. Warum? Amphetamine verkauften sich nicht als Mittel gegen milde Depressionen. Es herrschte immer noch die Überzeugung, dass Depression – nach psychoanalytischer Vorstellung – von einem verlorenen Objekt herrührt. Wie sollte man dieses Objekt pharmakologisch ersetzen? Vorstellbar waren schwächere Tranquilizer, sicherere Barbiturate, aber Antidepressiva? Bei schweren Depressionen wurde Elektrokrampftherapie eingesetzt. In den USA wurden, wie erwähnt, alle schweren psychischen Störungen, also auch schwere psychotische Depressionen, als Schizophrenie behandelt und also mit Chlorpromazin behandelt. Viele Psychiater glaubten wie Heinz Lehmann, dass (nichtpsychotische) Depression eine Krankheit sei, die von selbst wieder abklinge.

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Meprobamat und Valium: Mittel gegen die Angst Meprobamat, Handelsname Miltown®, war das erste populäre Psychopharmakon, ein sog. „Blockbuster“. Als „Blockbuster“ bezeichnet man ein auf dem Pharmamarkt besonders erfolgreiches Medikament, das jährlich einen Umsatz von mehr als einer Milliarde US-Dollar erzielt. Es sind Mittel gegen „Volkskrankheiten“. Meprobamat kam 1955 auf den Markt. Das Mittel wurde von dem in England lebenden tschechischen Emigranten Frank Berger entdeckt. Eigentlich war er auf der Suche nach einem Ersatz für Penicillin, ein Medikament, das während des Zweiten Weltkriegs beim Militär sehr gefragt war. Er fand Mephensin und beobachtete, dass es einen beruhigenden Effekt auf Mäuse hat. Nach dem Krieg zog Berger in die USA und nahm einen Job bei der Pharmafirma Carter-Wallace an. Dort synthetisierter er die Substanz Meprobamat aus der verwandten Substanz Mephensin. Mephenesin wird heute bei schmerzhaften Muskelverspannungen eingesetzt, z.B. beim Hexenschuss und bei Verspannungen im Schulter-Nacken-Bereich. Meprobamat ist kein Antidepressivum. In den 50er Jahren hieß die psychiatrische Volkskrankheit in den USA (und in Teilen Europas) noch nicht Depression, sondern Angst. Dagegen wirkte Miltown. Miltown wurde nach einer Stadt in New Jersey benannt. Es zählt zur chemischen Verbindungsklasse der Urethane (Carbamate, ist also kein Barbiturat) und wurde schnell zu einem der meistverkauften Medikamente. Es galt als „Happy Pill“ oder als „Mother’s little Helper“. Meprobamat wurde als leichter Tranquilizer – „Minor Tranquilizer“ im Gegensatz zu „Major Tranquilizers“ wie Chlorpromazin – eingeführt. Wie Miltown genau funktioniert ist bis heute unbekannt. Im Jahr 1957 wurden laut englischsprachiger Wikipedia 36 Millionen Verschreibungen allein in den USA ausgestellt. Bis 1965 wurden 14 Milliarden Pillen an 100 Millionen Kunden verkauft, so Gary Greenberg. (Greenberg 2010, S. 260) Im Jahr 1965 wurde bekannt, dass das Mittel abhängig macht, und es wurde in den USA von der FDA von der Liste der Tranquilizer gestrichen und in die Liste der kontrollierten Substanzen eingetragen. 1967 wurden die Verschreibungsbereiche limitiert. Mitte der 1960er Jahre wurde Meprobamat deshalb durch die Benzodiazepine (z.B. Librium®, Valium®, Faustan®) verdrängt. Allein 1972 wurde Valium (auf dem Markt seit 1963) in den USA 14 Millionen mal verschrieben. Valium galt als „penecilin for the blues.“24 Valium war von 1968 bis 1981 das meistverkaufte Medikament in der westlichen Welt. (Whitacker 2010, S. 126) Aber im

24 C. M. Calahan, G. E. Berrios: Reinventing Depression: A History of the Treatment of Depression in Primary Care 1940–2004. New York 2005, S. 6.

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Jahr 1968 rief US-Präsident Richard Nixon den „War on drugs“ aus. Dadurch machte er den immer schon latent vorhandenen „pharmakologischen Kalvinismus“ weiter Teile der US-Bevölkerung zur Staatsdoktrin. Hauptsächlich ging es gegen LSD und Marihuana, deren Gebrauch als Bedrohung für die USA gesehen wurde. Allerdings gerieten auch die „minor tranquilizer“, also Valium und Co ins Kreuzfeuer. 1970 warnte der Vizepräsident Spiro Agnew vor den Gefahren der „mood drugs“, die Anhängigkeit auslösen konnten. Eine halbe Million Amerikaner seien süchtig, verkündete er.25 1976 behauptete dann Edward Kennedy, Vorsitzender des Ausschusses des Senats für Gesundheit und wissenschaftliche Forschung, dass Valium und Co einen Alptraum von Abhängigkeit über die USA gebracht hätten. Tausende Amerikaner seien drogensüchtig26 und wüssten es nicht. (Shorter 2008, S. 117) Ende der 70er Jahre werden in den USA die „minor tranquilizer“ auf die Liste der von der FDA kontrollierten Substanzen gesetzt, sie sind nur noch mit kontrollierter Verschreibung erhältlich. In den USA war jetzt der Weg frei für eine neue Generation von Psychopharmaka, für die Antidepressiva. Diese wurden viele Jahre vor ihrer Popularisierung entdeckt.

D IE E RFINDUNG DER ANTIDEPRESSIVA David Healy (2003) rechnet die „Erfindung“ der Antidepressiva (auch Thymoleptika genannt) einem Außenseiter in der Psychiatrie zu, dem Schweizer Robert Kuhn. Diese Version ist aber nicht unumstritten. Zwei Substanzen gelten als die ersten Antidepressiva: Iproniazid, entdeckt von Nathan Kline in den USA und vorgestellt als „Psychic Energizer“ und Imipramin, entdeckt von Kuhn und von ihm intendiert als „Antidepressivum“, als Mittel gegen „vitale Depression“. Die schweizer Version: Imipramin gegen „vitale Depression“ Laut David Healy war die Entdeckung des ersten Antidepressivums, Imipramin, bemerkenswerter als die Entdeckung von Chlorpromazin. Chlorpromazin hat deutliche Auswirkungen auf das Verhalten von Menschen, die innerhalb einer Stunde einsetzen. Imipramin hat das nicht. Imipramin ist auch kein Stimulanzi-

25 Edward Shorter: Before Prozac. The Troubled History of Mood Disorders in Psychiatry. Oxford 2008, S. 117. 26 Nach Greenberg ist es fraglich, ob Valium süchtig macht. Valium und Co würden in Japan auch heute noch häufiger bei Depressionen eingesetzt als Antidepressiva.

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um wie etwa Prozac. Auf einige Menschen wirke Imipramin in derselben Art und Weise beruhigend, wie Prozac auf andere belebend wirkt, so Healy. Die antidepressive Wirkung von Imipramin ist eigentlich eine Nebenwirkung. Man war – wie bei der Entdeckung von Chlorpromazin – auf der Suche nach Antihistaminika. Die schweizer Pharmafirma Geigy beschloss im Jahr 1948 nach Phenothiazin-ähnlichen Substanzen zu suchen. Im Keller von Geigy gab es Substanzen, die bereits synthetisiert waren, darunter eine Substanz namens Iminodibenzyl, der Prototyp des ersten trizyklischen Antidepressivums. Diese Substanz wurde bereits 1889 synthetisiert. Aus dieser Substanz synthetisierte man eine weitere, immer auf der Suche nach Antihistaminika und Anticholergenika. Diese Substanz hieß zunächst G22150. An den Tests dieser Substanz waren auch Psychiater beteiligt, unter anderem Roland Kuhn aus Münsterlingen am Bodensee. Kuhn war ein biologisch orientierter Psychiater mit einem Hang zur Existenzialphilosophie, der bei Jakob Klaesi studiert hatte. Klaesi experimentierte bereits in den 30er Jahren mit Schlaftherapie, die durch Drogen ausgelöst wurde. Kuhn setzte das neue Mittel ein und fand zunächst keine Wirkung auf Patienten. Das Mittel schien noch nicht einmal ein sinnvolles Sedativum zu sein. Das war zu Beginn der 50er Jahre. Ab dem Jahr 1953 breitete sich dann der Gebrauch von Chlorpromazin aus, auch bis in die Schweiz. Auch Kuhn setzte dieses Mittel jetzt ein. Nach Darstellung von Healy kam Kuhn dadurch auf die Idee, bei Geigy noch einmal nach G22150 zu fragen. Denn wenn Chlorpromazin so hervorragend wirkt, dann muss die chemisch verwandte Substanz doch auch irgendwie wirken. Geigy schickte Kuhn aber nicht die Substanz G22150, sondern eine Weiterentwicklung, die Substanz G22355. Diese war eine IminodibenzylSubstanz, die chemisch am nächsten mit der (trizyklischen) Struktur von Chlorpromazin verwandt war. Diese Droge wurde jetzt an schizophrenen Patienten ausprobiert. Die Patienten reagierten nicht wie erwartet. Sie reagierten agitiert und enthemmt. Einer der Patienten entwich aus der Klinik und fuhr auf einem Fahrrad laut singend im Nachthemd durch die nahegelegene Stadt. Das war die Entdeckung des ersten Antidepressivums, des Imipramin. Durch das offensichtlich euphorisierte High der Patienten ging man von einer möglichen antidepressiven Wirkung aus. Eine zweite Studie wurde dann an depressiven Patienten durchgeführt. Bereits die ersten drei getesteten Patienten zeigten deutliche Erfolge der Droge. Die erste Patientin, Paula F., die depressiv war und unter Wahnvorstellungen litt, war nach sechs Tagen komplett verändert. Aber die Zeit war noch nicht reif für ein Antidepressivum. Als Kuhn auf dem 2. psychiatrischen Weltkongress in Zürich 1957 seine Erfolge vorstellte, waren ganze 12 Zuhörer anwesend. Bis 1958 hatte Kuhn dreihundert Patienten behandelt. Im Frühjahr 1958 gab Geigy der Verbindung den Namen Imipramin: Es war das erste tri-

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zyklische Antidepressivum, so genannt wegen seiner dreifachen chemischen Ringstruktur. Das Neuroleptikum Chlorpromazin hat fast dieselbe Struktur und unterscheidet sich nur durch zwei Atome. (Shorter 2003, S. 391) Die weitere Geschichte von Imipramin wird von Healy folgendermaßen kolportiert: Nachdem ein Familienmitglied des mächtigen Aktienbesitzers Robert Böhringer (Böhringer-Ingelheim) schwer depressiv wurde, und der Person Imipramin verabreicht wurde und sie daraufhin genas und nachdem ein bedeutender schweizer Psychopharmakologe Geigy mitteilte, dass die Substanz offenbar antidepressiv wirke, entschloss sich Geigy, Imipramin herzustellen. 1958 wurde das Mittel in den Markt eingeführt. Imipramin gibt es auch heute noch (Tofranil® in Deutschland). Trotz der Beobachtung, dass einige Patienten offenbar unter dem Medikament manisch wurden, erklärte Kuhn, dass Imipramin ein Antidepressivum und kein „Euphorikum“ (also kein „Energizer“) sei. Seiner Meinung nach reagieren die an einer endogenen oder vitalen oder biologischen Depressionen Erkrankten auf dieses Medikament. Und umgekehrt: Wenn das Medikament wirkt, muss der Patient eine solche Depression gehabt haben, auch wenn er davon nichts weiß. In einem Vortrag zur Verleihung der Hans-Prinzhorn-Medaille in Berlin am 28.10. 2004 mit dem Titel „Psychopharmakologie gestern-heute-morgen“ kritisiert Kuhn (92-jährig) die zeitgenössische Entwicklung der Pharmakotherapie und der Depressions-Psychiatrie im allgemeinen: „Im Vordergrund des gegenwärtigen psychopharmakologischen Denkens stehen Betrachtungs- und Arbeitsweisen, die bald nach der Entwicklung der antidepressiven Wirkung von Imipramin auftauchten und eine der meinigen Auffassung entgegen gesetzte Auffassung darstellen. […] Damit gelingt wohl die Entwicklung von Medikamenten mit analoger Struktur und Funktion im Vergleich zu den bereits bekannten Substanzen. Entscheidend neue Einsichten in die Funktionsweise der psychopharmakologischen Wirkung werden jedoch auf diesem Weg nicht gewonnen. Rein psychologisch-psychopharmakologischpsychotherapeutische Überlegungen ersetzen die ursprünglich bewährten biologischpsychologischen Auffassungen. Dabei werden die vitalen – das bedeutet, die biologischen und die dazu gehörenden pathologischen – Aspekte der Medikamentenwirkung in den Hintergrund gedrängt und verschwinden sogar in den 1990er Jahren ganz. […] Die Behandlung depressiver Zustände erscheint nur noch unter psychologisch-psychopathologischen und psychotherapeutischen Gesichtspunkten.“27

27 Roland Kuhn: Psychopharmakologie gestern-heute-morgen. Vortrag zur Verleihung der Hans-Prinzhorn-Medaille in Berlin am 28. Oktober 2004. In: Schweizer Archiv

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Diese Aussage von einem der Väter der Antidepressiva ist interessant. Er wirft der zeitgenössischen Psychiatrie vor, dass sie keine Ahnung hat, was sie eigentlich tut, wenn sie Menschen mit Antidepressiva behandelt, ja, dass sie dies noch nicht einmal wissen will. Alles was zählt ist die (psychotherapeutische) Wirkung. Der Vorwurf ist umso schwerwiegender, weil die Psychiatrie, vertreten durch Kompetenznetzwerke und Veröffentlichungen in populären Medien behauptet, die Wirkweise der Antidepressiva sei genau bekannt. Dazu wird dann meist auf die Serotoninhypothese verwiesen. Kuhns Aussage zeigt, dass dieses Mantra offenbar völlig inhaltsleer ist und tatsächlich nur Propagandazwecken dient. Wirkliches Wissen über die biologischen Veränderungen, die Antidepressiva bewirken, hat man immer noch so viel oder so wenig wie in den 50er Jahren. Kuhn kritisiert in diesem Artikel auch implizit die (psychotherapeutische) Ausdehnung des Depressionsbegriffes. Ihn interessiert die vitale Depression, das heißt eine Krankheit, die sich in körperlichen Symptomen, in der Erschwerung und Verlangsamung körperlicher Leistungen ausdrückt. Davon seien reine Stimmungstiefs, oder rein psychologische Depressionen zu unterscheiden: „Wenn Psychotherapeuten Erfolge sehen, nehmen sie als selbstverständlich an, die Wirkung sei ihren Anstrengungen zuzuschreiben. Dagegen sind nun aber wesentliche Einwände zu machen. Angesichts des oft phasischen Verlaufs ist es schwierig oder unmöglich zu entscheiden, ob nicht in vielen Fällen, wenn nicht gar immer, das spontane Geschehen dem Therapeuten einen Erfolg vorgaukelt, an dem zu zweifeln ihm gar nicht in den Sinn kommt. […] Ja, angesichts des Verlaufes spricht die Wahrscheinlichkeit für ein spontanes Geschehen! Dagegen sträubt sich eine durch alte Gewohnheit eingeschliffene Art zu denken, die meint, ohne gezieltes aktives Eingreifen im Sinne psychotherapeutischer Gespräche sei keine Veränderung einer depressiven Verstimmung zu erzielen. Dagegen sind grundsätzliche Einwände zu machen. Depressivität ist ebenso ein biologisches wie ein psychisches Phänomen! Depressive Hemmung, Erschwerung, Verlangsamung körperlicher und psychischer Leistungen weisen wohl auf körperliche Aspekte hin. Diese enthalten jedoch eine psychische Komponente, und das ganze ist als psychophysisches Phänomen aufzufassen. Die körperliche Komponente ist deshalb wesentlich, weil sie die biologische Ansprechbarkeit durch Medikamente verständlich erscheinen lässt.“ (Ebda.)

für Neurologie und Psychiatrie, 2005, S. 156, S. 267f. http://www.sanp.ch/pdf/ 2005/ 2005-05/2005-05-068.PDF.

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Im Weiteren kritisiert Kuhn die Unsummen, die für Psychotherapie ausgegeben werden, sowie die Stagnation in der Erkenntnis des Wirkungsmechanismus der Antidepressiva. „Von einem Fortschritt auf diesem Gebiet kann keine Rede sein.“ (Ebda.) Das wiederum läge daran, dass die Testmethoden falsch seien. „Anstelle großer Statistiken mit zahlreichen Patienten und stets der gleichen Methode und Fragestellung muss eine Rückkehr zum einzelnen Kranken erfolgen. Dies geschieht im freien Gespräch zwischen Patient und Arzt. […] Je genauer der Kranke erforscht wird, desto größer sind die Aussichten auf einen Erfolg mit minimalen störenden Nebenwirkungen.“ (Ebda.)

Im Vordergrund des ärztlichen Handelns steht der biologische Aspekt des Zustandbildes. Ist dieser nicht vorhanden, ist der Patient also nur „schlecht drauf“, ohne körperliche Begleiterscheinungen, so ist er kein Fall für den Arzt, und nach Kuhn auch nicht krank. Es geht immer um das Bereinigen einer vitalen Komponente. Je stärker der biologische Aspekt die Krankheit allein bestimmt, desto einfacher ist der Verlauf. „Das Problem ist, inwiefern neben der vital-depressiven biologischen Grundlage psychische, paroxymale, neurotische, schizoide und organische Faktoren hereinspielen.“ Eine „besonders reizvolle Betrachtungsweise würde darin bestehen, die alte Griesingersche Idee der primären depressiven Verstimmung als Ausgangspunkt und Grundlage praktisch jeder psychischen Krankheit vom heutigen Standpunkt aus zu überlegen.“ (Ebda.) Kuhn plädiert also praktisch für eine Schwächung der Psychotherapie. Diese soll ersetzt werden durch das Arzt-Patient-Verhältnis. Der Arzt therapiert seine Patienten jeweils individuell und hauptsächlich über die „biologische Komponente“, er setzt also Psychopharmaka ein. Aber mit pharmakopsychologischer Zielsetzung: Er möchte seinen Patienten dadurch kennenlernen. Was kann ein Psychiater aus Imipramin lernen fragt Alain Ehrenberg und gibt mit Kuhn die Antwort: „Er muss „ein besonderes Krankheitsbild erkennen, bei dem die Substanz wirkt […] ein Krankheitsbild, [das] nur teilweise mit der herkömmlichen klinischen Vorstellung von depressiven Zuständen übereinstimmt.“28 Kuhn ist „existenzialistischer Pharmakologe“. Einer „Volkskrankheit Depression“ würde er wohl nicht das Wort reden. Er steht für eine Ersetzung der psychologischen Psychotherapie durch eine biologisch orientierte Medizin, die sich allerdings auf den einzelnen Patienten konzentriert und das Individuum zu verstehen sucht. Das ist eine Außenseitermeinung geblieben. Healy merkt an, dass Kuhn seit 1985 da-

28 R. Kuhn: Psychopharmacologie et analyse existentielle. Revue international à l’université Bd. 11 Nr. 41, zit. nach Ehrenberg 2004, S. 94.

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von ausgehe, dass eine „vitale Depression“ allen anderen psychischen Krankheiten zugrunde liege.29 Vitale Depression äußere sich nicht unbedingt in Traurigkeit oder „Melancholie“, sondern in Behinderung zentraler vitaler, körperlicher Funktionen. Diese Störung könne auch zu anderen psychischen Erkrankungen führen, wie Phobien, Zwängen, Ängsten etc. Kuhn erklärt den Erfolg, den Imipramin auch bei solchen Krankheiten erzielt, damit, dass eben die zugrundeliegende „vitale Depression“ kuriert sei und dann auch die Symptome verschwunden sind. Kuhn behauptete nach Healy, einen Homosexuellen mittels Imipramins wieder heterosexuell gemacht zu haben. Kuhns Interesse an der Droge Imipramin war typisch für die deutschsprachige Psychiatrie der späten 50er Jahre. Es ging bei der Entdeckung der Psychopharmaka nicht in erster Linie darum, ein Heilmittel zu finden. Das Interesse an psychotropen Drogen bezog sich seit Kraepelin darauf, zu erforschen, was diese Drogen über die Wirkweise der menschlichen Psyche aussagen. Imipramin ist insofern – auch nach Healy – mehr mit LSD als mit Prozac zu vergleichen. In den 50er und 60er Jahren wurde von Pharmakonzernen vielen Psychiatern empfohlen, selbst LSD zu nehmen, um sich in den Zustand psychotischer Patienten besser hineindenken zu können. Dieses Interesse nennt Healy auch „existenzialistisch“. Die Droge Imipramin, davon ging Kuhn aus, wirke bei jedem Patienten anders. Deshalb sei ein enger Arzt-Patient-Kontakt so wichtig. Nur wenn der Arzt feststellt, wie der einzelne Patient tickt, kann er ihm helfen. Dies stellt er mittels der antidepressiven Droge fest. Diese ist also eine „diagnostische Droge“. Das heutige medizinische Verständnis in Bezug auf die Heilung von Depressionen unterscheidet sich davon deutlich: Die Medikamente bringen demnach unmittelbar die Heilung für den Patienten, sie stellen die Depression ab. Das sei „evidenzbasiert“ festgestellt worden, d.h. mittels Statistik, doppelblinder randomisierter Tests etc. Kuhns Meinung war gegenteilig, dass sich nämlich wissenschaftlich (valide und reliabel) nichts über die Wirkung der Medikamente aussagen lässt, sondern dass diese immer wieder anders ausfallen kann, also in den Bereich des Subjektiven fällt. Deshalb wird von ihm der Sieg der Statistik als verfälschend und als nachteilig für die Patienten kritisiert. Kuhns Position fand in den USA keine Anhänger. Er blieb bis zu seinem Tod im Jahr 2005 ein wissenschaftlicher Außenseiter. Der amerikanische Psychiater Heinz Lehmann meinte, dass Amerikaner oder Angelsachsen den „deutschen Existenzialismus“ Kuhns eben nicht verstehen können. Healy beschreibt Kuhn

29 Das ist nichts anderes als der Gedanke der klassischen deutschen Kraepelinschen und nachkraepelinschen Psychiatrie, wonach psychogene Störungen häufig eine biologische Ursache haben.

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als eine Art provinziellen Landarzt ohne Verständnis für das Riesengeschäft, das sich ankündigt. Greenberg schreibt, Kuhn wäre mit der Figur des „Ichabod Crane“, einer literarischen Figur eines gelehrten aber abergläubischen Landschulmeisters, verglichen worden. (Greenberg 2010, S. 183) Es gab aber noch einen anderen Grund, warum Kuhn ein Außenseiter blieb. In den Jahren 1956 und 1957 beriet sich Geigy auch mit anderen Wissenschaftlern darüber, ob es einen Markt für Antidepressiva geben kann. Die Antwort zu dieser Zeit lautete, dass dies wenig wahrscheinlich sei. Das lag daran, dass Depression eng definiert wurde und eine wirkliche (Geistes-) Krankheit, eine in Deutschland damals sogenannte „endogene Melancholie“ meinte. Das ist natürlich schwierig aus unserer heutigen Perspektive zu verstehen, in der Depression eine Art psychiatrischer Erkältung ist. Aber zu dieser Zeit, so schreibt Healy, litten viele der Betroffenen zu Hause und hofften, dass sich ihre Situation von selbst wieder besserte – was sie auch sehr oft tat. Erst dann, wenn die Betroffenen überhaupt keinen Schlaf mehr fanden oder überhaupt nichts mehr aßen, brachten ihre Angehörigen sie in die Anstalt – und hier konnte ihnen meistens mit der EKT geholfen werden. Erst in den 60er Jahren, als der Gebrauch von Chlorpromazin, Librium und Imipramin eine ambulante Psychiatrie schuf, begannen die Hausärzte die Depression früher zu erkennen und den Patienten zur Behandlung zu raten. Imipramin wird auch heute noch eingesetzt und ist als „älteres trizyklisches Antidepressivum“ zur Therapie von allen Formen der Depression zugelassen.30 Allerdings geht die „weltweite Tendenz eher dahin, den TZA [Trizyklika] nur noch Reservecharakter zuzuordnen, da die zum Teil erheblichen unerwünschten Arzneimittelnebenwirkungen und ihre hohe Toxität ihren Einsatz als Primärtherapie nicht mehr rechtfertigen.“ (Müller, ebda., S. 152) USA: Iproniazid der Energizer, die „pep-pill“ Ein zweites Antidepressivum war am Beginn seiner Karriere wesentlich erfolgreicher als Imipramin. Es handelt sich um den in den USA entwickelten Monoaminoxidasehemmer (MAOI) Iproniazid. Iproniazid sollte nie ein „Spezifikum“ wie das Imipramin sein. Sein Entdecker, Nathan Kline, stellte es als „psychic energizer“, als seelischen Energielieferanten dar. Interessant ist, dass die Erklärung für den Energieschub aus der Psychoanalyse kam. Dazu später mehr.

30 W. E. Müller: Auswahl des Antidepressivums anhand pharmakologischer Wirkprofile. In: Bauer, Berghöfer et al.: Akute und therapieresistente Depressionen a.a.O., S. 150ff.

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Die zu Werbezwecken verbreitete Geschichte31 der Entwicklung lautet folgendermaßen: „Irgendetwas stimmte nicht mit den Insassen des ‚Sea View‘ Tuberkulose-Sanatoriums auf Staten Island bei New York. Denn das Gebaren der Patientinnen wirkt alles andere als kränklich: Auf einem ausgebleichten Foto sehen wir im Halbkreis versammelt eine Gruppe attraktiver schwarzer Frauen in knöchellangen Baumwollröcken und weißen Blusen – lächelnd und händeklatschend. Zwei von ihnen scheinen sogar den ‚Jitterbug‘ zu üben – jene überschwängliche Tanzmusik, die amerikanische Soldaten nach dem Zweiten Weltkrieg rund um den Globus verbreiteten […] Noch vor wenigen Monaten war hier nur das Husten der TB-Opfer zu hören.“

Was war passiert? Die Arznei Iproniazid hatte nicht nur die Tuberkel-Bazillen zurück gedrängt, sondern auch den Appetit der Patientinnen gefördert, ihnen frische Energie verliehen und schließlich zu dem völlig unerwarteten Ausbruch von Lebensfreude geführt. Die Herstellerfirma von Iproniazid zeigte sich davon zunächst wenig beeindruckt. Schon drangen neue Medikamente auf den Markt, welche die Tuberkulose besser kontrollierten. Die fröhlichen Patientinnen des Sea View Sanatoriums waren fast vergessen, als die New York Times am 7. April 1957 über einen Fachkongress in Syracuse berichtete, wo mehrere Wissenschaftler Erfolge mit Iproniazid bei der Behandlung depressiver Patienten verzeichneten. Erst jetzt erkannte der Hersteller das gewaltige Potential dieser Arznei. Binnen eines Jahres wurden nun annähernd 400.000 depressive Patienten behandelt. „Vermutlich fand kein anderes Medikament jemals so schnell eine so große Verbreitung gegen eine spezifische Krankheit“ (Zit. nach VfA, ebda.), schrieb der Psychiater Nathan Kline im Rückblick auf jene zufällige Entdeckung, die das Zeitalter der modernen Antidepressiva einleiten sollte. Kline war der Meinung, dass viele Amerikaner vielleicht gar nicht wüssten, dass sie das Recht haben, glücklich zu sein. Altes puritanisches Denken sei noch zu präsent und hielte die Menschen davon ab, sich bei Unglück, dass sie ja widerrechtlich träfe, medizinische Hilfe zu holen. (In Vogue, Juli 1975) Der Boom war aber wegen massiver Nebenwirkungen nur von kurzer Dauer (s.u.).

31 Verband forschender Arzneimittelhersteller (VfA) e.V., Hausvogteiplatz 13, 10117 Berlin (Herausgeber): Therapie Innovation 11. Zurück ins Leben. Fortschritte bei der Heilung der Depression. Berlin 2003, S. 4. http://www.vfa.de/download/SHOW/ en/vfa-en/publikationenen/therapieinnovation11/therapieinnovation11.pdf). Dort ist auch das Foto abgebildet.

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Iproniazid hat eine interessante Herkunft. Seine Ausgangssubstanz wurde im Zweiten Weltkrieg von der Wehrmacht als Treibstoff für die Rakete V2 verwendet. Diese Substanz hieß Hydrazin. Nach dem Krieg blieb Hydrazin in großen Mengen übrig. Hydrazin konnte vielfältig manipuliert werden, um allerhand Derivate zu erzeugen. Zwei davon synthetisierte die Pharmafirma Hoffmann-laRoche in New Jersey. Es handelte sich um Iproniazid und um Isoniazid. Letztere Substanz ist ein Antibiotikum, das bei Tuberkulose eingesetzt wird. Iproniazid wirkt als „Monoaminoxidase-Hemmer“. Der Begriff Monoaminoxidase-Hemmer sagt im Gegensatz zum Begriff des trizyklischen Antidepressivum (Imipramin) etwas über die Wirkweise der Substanz aus: Im Jahr 1928 wurde die „Oxidase“ entdeckt. Als Oxidasen bezeichnet man Enzyme, die die bei der Oxidation eines Moleküls freiwerdenden Elektronen auf Sauerstoff übertragen. Oxidation reduziert die Menge der verfügbaren Moleküle. Monoamine sind Moleküle, die als Neurotransmitter fungieren, also z.B. Serotonin und die Katecholamine Noradrenalin, Dopamin, Adrenalin. Monoaminoxidasen (MAO) sind mitochondriale Enzyme, die Monoamine durch Desaminierung mit Hilfe von H2O und O2 zu den entsprechenden Aldehyden, Ammoniak und Wasserstoffperoxid, abbauen. 1952 konnte gezeigt werden, dass Tuberkulostatika, Medikamente gegen Tuberkulose, dahin tendieren, die Oxidase von Diaminen zu verhindern. Iproniazid war also zunächst ein Diamin-Oxidase-Hemmer. Es wurde dann vermutet, dass mittels des Stoffs auch die Monoamine im Hirnstoffwechsel so beeinflusst werden können, dass ihr Abbau gehemmt wird. In der Folge fand man heraus, dass dies bei Iproniazid, nicht aber bei Isoniazid, tatsächlich der Fall ist. Damit war ein Weg gefunden, die Wirkweise der MAOIs als „Antidepressiva“ zu erklären, und zwar aufgrund der 1965, also 8 Jahre nach der Entdeckung der antidepressiven Wirkweise der Substanz, erdachten Monoaminhypothese. Diese besagt im Wesentlichen: Je mehr Monoamine im Hirn zur Verfügung stehen, desto weniger depressiv ist der Mensch. Im Jahr 1956 erkannte man, dass die Nebenwirkungen von Iproniazid ein Problem sein können. Einige Patienten bekamen Gelbsucht. Die MAOI führen in Kombination mit bestimmten Lebensmitteln zu hohem Blutdruck („Käseeffekt“). Auf hohe Dosen reagieren Patienten psychotisch. Vermutet wurde bereits zu dem Zeitpunkt, dass das etwas mit dem Serotoninsystem zu tun haben könnte – wie bei LSD. Die Serotoninhypothese ist also schon recht alt. Sie geriet aber nach dem Rückzug von Iproniazid aus der Mode und wurde durch die Katecholaminhypothese von Joseph J. Schildkraut ersetzt. Erst seit Prozac und Co ist die Serotoninhypothese wieder aktuell (zumindest im populärwissenschaftlichen Bereich). 1958 wurde Iproniazid als Antidepressivum zugelassen, doch schon 1961

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wieder vom Markt genommen, nachdem Fälle von Hepatitis auftraten, und durch weniger lebertoxische MAOI ersetzt. MAOI werden auch heute noch eingesetzt. Nathan Kline, der Entdecker des Iproniazid „Bei der Behandlung der Depression hat man immer einen Verbündeten, und zwar die Tatsache, dass die meisten Depressionen in eine spontane Remission münden. Dies bedeutet, dass es in vielen Fällen dem Patienten im Lauf der Zeit besser geht, egal, was man unternimmt.“32

Der Psychiater Nathan Kline glaubte, – zu dieser Zeit noch in den selbstverständlichen psychoanalytischen Begriffen – dass das Ich einen großen Teil Energie darauf verwende, das Unbewusste, die Instinkte im Zaum zu halten. Eine Droge, die Energie vom Ich abziehe, wäre so gesehen ein psychischer „Energizer“, sozusagen ein Befreier des „Es“, eine Art chemischer Primärtherapie. Eine solche Droge würde Appetit erzeugen, sowohl auf Nahrung als auch auf Sex. Es sei nur schwierig, die richtige Dosis zu finden, denn zu viel dieser Droge würde die Ich-Kontrolle ganz abstellen und folglich zur Psychose führen. Auch der französische Psychiater und Entdecker des Chlorpromazin, Jean Delay, spricht von der Pharmakotherapie als „chemischer Psychoanalyse“ (Ehrenberg 2004, S. 102). Am 7. April 1957 berichtete die New York Times in erwähntem Artikel über Kline und sein neues Medikament: „A side effect of an anti-tuberculosis drug may have led the way to chemical therapy for the unreachable, severely depressed mental patient. Its developers call it an energizer as opposed to a tranquilizer drug […]. The drug […] has produced remarkable mood improvement and activity among long-term ‚untouchable‘ psychotics of the ‚burned out‘ kind as well as among non-hospitalized neurotics.“ (Zit. nach Healy 2003, Antidepressant Era, S. 67)

Interessanterweise wird der Begriff der Depression noch nicht verwendet, dafür aber der Begriff „Burnout“, der offiziell doch erst 1974 vom Psychoanalytiker Herbert Freudenberger eingeführt werden sollte. Das Besondere: Die Wirkungen

32 Nathan S. Kline: The practical management of depression. In: The Journal of American Medical Association 190, 1964, S. 732-740 Zit. nach Whitacker, 2010, S. 170.

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des Mittels verbesserten sowohl die Stimmung bzw. den Zustand schwer depressiver Fälle als auch „normaler Neurotiker“. Kline hatte offensichtlich etwas anderes entdeckt als Kuhn, nämlich einen „psychic energizer“ und kein Antidepressivum. Sogar im Jahr 1964 unterschied Kline noch zwischen psychic energizers und Antidepressiva. Allerdings begann Klines Stern schnell zu sinken. Nachdem Iproniazid sich etabliert hatte und breit verwendet wurde, entdeckte man die schwere Nebenwirkung Hepatitis. Ein weiterer Grund für den Niedergang dieser Pharmakotherapie war logischerweise der Niedergang der Psychoanalyse. Mit dem Bedeutungsverlust der Psychoanalyse wurden auch Klines Erklärungen, seine Theorie über das Wirken des Medikaments auf das Ich, obsolet. Erst die Monoaminhypothese konnte dann wieder ab 1965 die Wirkweise der MAOIs vor einem biologischen Hintergrund naturwissenschaftlich erklären. Außerdem behandelte man Depressionen zu dieser Zeit noch nicht massenhaft: Es gab kein nachhaltiges und massenhaftes Auftreten von Depression. Der Anfangserfolg des Mittels war ein Strohfeuer. Die Substanz versprach kein lohnendes Geschäft. Greenberg meint, dass Klines größter Fehler darin gelegen habe, den US-amerikanischen „pharmakologischen Kalvinismus“ übersehen zu haben. Demnach muss man sich ein Medikament, englisch Drug, Droge, erst verdient haben. Und das geht nur durch eine Krankheit. Kline hätte also die Volkskrankheit Depression gleich dazu erfinden müssen, aber dazu war die Zeit noch nicht reif. (Greenberg, 2010, S. 193) Es gab allerdings immer wieder Versuche, auch Stoffe speziell gegen Depression zu entwickeln und zu vermarkten. Das galt z.B. auch für das Antibiotikum Isoniazid. Harry Salzer und Max Lurie stellten 1954 fest, wie bereits Delay 1952, dass Isoniazid schwer depressiven Patienten hilft (vgl. Healy, 2003, Antidepressant Era, S. 72). Isoniazid ist ein bakterizides Antibiotikum, das heute zur Behandlung der Tuberkulose angewendet wird. Die antidepressive Einsatzmöglichkeit des Stoffes blieb unerforscht. Man weiß bis heute nur, dass er nicht so wirkt wie die anderen bekannten Substanzen. Und das kann nur heißen, dass die Biologie der Depression nicht verstanden ist. Der erste Amitriptylin-Versuch Im Jahr 1958 versuchte die Pharmafirma Merck eine neue Substanz, die Imipramin sehr ähnlich war, als Antidepressivum zu vermarkten. Es handelte sich um Amitriptylin, ein auch heute noch gebräuchliches trizyklisches Antidepressivum, Handelsname: Saroten®. Das Mittel wurde 1961 auf den US-Markt gebracht. Merck hatte ein Patent auf das Mittel als Antidepressivum angemeldet. Aber Merck hatte mehr als das

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Patent. Frank Ayd, (1920–2008) ein in den USA bekannter Psychiater, der das Medikament mitentwickelt hatte, hatte ein Buch geschrieben mit dem Titel „Recognizing the Depressed Patient.“33 Merck kaufte 50.000 Exemplare des Buches und verteilte es weltweit an Allgemeinmediziner. Merck versuchte also bereits 1961, den Medizinern eine neue Krankheit, die Depression, zu verkaufen. Aber diese Strategie war noch nicht erfolgreich. Roland Kuhn hoffte, dass sein Mittel etwas über die Gestalt oder die Form der subjektiven Krankheit Depression enthüllt – Merck enthüllt, genauer gesagt, konstruiert die Form der Depression als Volkskrankheit. Ayd hatte sein Buch für Allgemeinmediziner geschrieben, und genau daran war der Konzern interessiert, denn Allgemeinmediziner sitzen an der Quelle des Patientenstroms. Ayd war der Meinung, dass Depression eine verbreitete Krankheit sei, die man nicht nur in Anstalten finde, sondern der man im täglichen Leben begegne. Merck verkaufte also nicht nur ein Antidepressivum, sondern eine Idee. Und die hörte sich ganz modern an: „You have an illness called depression. It is very common. Everyone who has it feels just as you do. What is happening is real. It does not mean that you have serious physical disease or that you are loosing your mind. Your symptoms have a physical basis“ (Ayd, S. 117) Für diese Idee, die sich heute „Entstigmatisierung“ der Depression nennt, war die Zeit noch nicht reif. Die Idee hinter Ayds Konstruktion war dieselbe wie die, die George Beard für die Konstruktion der Krankheit Neurasthenie knapp 100 Jahre vorher hatte: Gewisse häufig beobachtete, aber nicht notwendigerweise miteinander in Verbindung stehende Symptome, unter denen die Menschen litten, waren Zeichen einer weitverbreiteten aber unbekannten Krankheit. In den 60er Jahren begannen die wissenschaftlichen Vorarbeiten, die den Erfolg der Antidepressiva in den 90er Jahren vorbereiten sollten. Der US-Amerikaner Joseph J. Schildkraut stellte die Katecholaminhypothese auf, und die Skala, die die Depression in Schweregrade aufteilte, wurde von Max Hamilton entworfen. Die Hamiltonskala ist der bis heute gültige Standard für die Fremdbewertung von Depressionen.

H IRNCHEMIE Als die Neuroleptika und dann die ersten Antidepressiva eingeführt wurden, wusste man nichts oder nur sehr wenig über chemische Vorgänge im Nervensys-

33 F rank Ayd: Recognizing the Depressed Patient, with Essentials. Grune & Stratton, Inc. 1961.

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tem. Die maßgebliche orthodoxe Meinung war, dass die Vorgänge im Gehirn, Wahrnehmung, Gefühle etc. durch Elektrizität bedingt seien. Dazu passte auch die Entdeckung der Elektrokrampftherapie im April 1938. Die Diskussionen über das Nervensystem wurden von Physiologen beeinflusst, die nicht bereit waren, sich mit einer neuen Wissenschaft namens Biochemie auseinanderzusetzen. Erst im Jahr 1921 konnte Otto Loewi die chemische Weiterleitung von Nervenimpulsen nachweisen. Er schaffte es, die Vagusnerven von Froschherzen in einer Kochsalzlösung zu stimulieren, in der bereits vorher andere bewusst angeregte Herzen lagen. So konnte Loewi nachweisen, dass für die Übertragung eines Nervenimpulses auf das Herz ein chemischer Stoff verantwortlich sein musste, den er als „Vagusstoff“ bezeichnete und der vorher (laut Healy, 2003, S.146) von Henry Dale als Acetylcholin identifiziert werden konnte. Er hatte auf diese Weise den ersten Neurotransmitter gefunden und etablierte damit ein neues Forschungsfeld. Für seine Forschungen erhielt Loewi 1936 den Nobelpreis für Medizin, weil sie zu einer völlig neuen Betrachtung der Neuromedizin geführt haben. Katecholamine und Serotonin 1952 demonstrierte Marthe Vogt die Präsenz von Noradrenalin im zentralnervösen System, und 1958 zeigte Arvid Carlsson, dass Dopamin eine Rolle im ZNS als Neurotransmitter spielt.34 Im Jahr 1960, also nach der Einführung von Chlorpromazin, Imipramin und Iproniazid, kam es zu einer Konferenz in London, die bezeichnenderweise von der Ciba-Stiftung organisiert wurde, bei der es um die Rolle von Katecholaminen als Neurotransmitter ging. Unter dem Begriff „Katecholamin“ fasst man, wie gesagt, die Hormone und Neurotransmitter Adrenalin, Noradrenalin und Dopamin, sowie die Arzneistoffe Isoprenalin, Dobutamin und Dopexamin zusammen, nicht aber Serotonin. Britische Wissenschaftler waren zu dieser Zeit weltweit führend auf dem Gebiet der Katecholamine. Laut Healy konnte die Mehrzahl von ihnen allerdings nicht glauben, dass chemische Reizübertragung im Gehirn womöglich die dominante Form der Reizübertragung im Hirn sei. Dies hätten sie als „atomistische Sichtweise auf die menschliche Natur“ abgelehnt. Dieses Denken sei der wichtigste Grund dafür, dass die Durchbrüche in der Psychobiologie nicht in Großbritannien gemacht wurden, sondern in den USA und in Schweden, und zwar von Nicht-Physiologen. In der ersten konkreten Formulierung der Monoaminmangelhypothese durch den US-Forscher Joseph J. Schildkraut (1965) handelte es

34 David Healy 2003, Antidepressant Era, S. 146f.

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sich um eine reine „Katecholaminmangelhypothese.“ Es wurde angenommen, dass zumindest einige Depressionen Folge eines relativen oder absoluten Noradrenalinmangels sind, während ein Noradrenalinüberschuss zu einer gehobenen Stimmungslage führe. Später wurde diese Fassung von anderen Autoren erweitert, die neben dem Noradrenalinmangel auch einen Serotoninmangel bei depressiven Menschen postulierten. Diese „erweiterte Monoaminmangelhypothese“ ist im klinischen Bereich bis heute relevant und Grundlage für die Entwicklung moderner Antidepressiva mit spezialisiertem Wirkungsspektrum. In der Forschung mehren sich allerdings inzwischen die Gründe, die Monoaminmangelhypothese in der oben genannten Form in Frage zu stellen. Köhler (2005) sieht aufgrund der Forschungslage sogar „zwingende Gründe“, die enge Verknüpfung von Depressionen und quantitativen Transmitterveränderungen abzulehnen.35 Der Haupteinwand bis heute gegen die Gültigkeit der genannten Hypothese ist die typische Wirklatenz verabreichter Antidepressiva. Kokain und Amphetamine entfalten ihre Wirkungen unmittelbar nach der Einnahme. Die eigens für eine selektive Wirkung auf Transmittersysteme entwickelten Antidepressiva brauchen für ihre antidepressive Wirkung eine Verzögerung von mehreren Tagen bis Wochen, obwohl die quantitativen Veränderungen an den Botenstoffen im Hirn viel schneller erfolgen – und die Nebenwirkungen auch unmittelbar nach der Einnahme einsetzen. Die „antidepressive Wirkung“ kann also eigentlich gar nicht direkt mit dem Eingriff im Transmitterhaushalt zusammenhängen. Vielmehr liegt es nahe, sekundäre und also durch die Transmitterwirkung ausgelöste, nachfolgende Ereignisse für die antidepressive Wirkung verantwortlich zu machen. Heute wird das folgendermaßen beschrieben: „Die Wirksamkeit von ADs beinhaltet neben der kurzfristigen Wiederaufnahmehemmung von Monoaminen (Noradrenalin und Serotonin) langfristige Veränderungen auf der Ebene der prä- und postsynaptischen Rezeptoren, der Second-Messenger-Systeme und letztendlich der Genexpression.“ (Lieb et al., a.a.O. S. 49) Was da genau passiert, weiß man allerdings nicht. Hier setzt die radikale Kritik von Robert Whitacker (2010) ein. Er meint, dass durch Antidepressiva aber auch durch Antipsychotika ein vormals gesundes Gehirn zerstört werde. In der Zeit der Wirklatenz stelle sich das Gehirn auf die Reize der Substanzen ein. Es verändere sich dadurch. Und diese Veränderung sei für die Chronifizierung von psychischen Krankheiten verantwortlich (vgl. unten).

35 Thomas Köhler: Biologische Grundlagen psychischer Störungen. Göttingen 2005, S. 148.

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Serotonin Das „Glückshormon“ Serotonin spielt eine zentrale Rolle in der Saga von der Volkskrankheit Depression. Was hat es damit auf sich? Zu Beginn der 30er Jahre des 20. Jahrhunderts wurde von Vittorio Erspamer ein Stoff isoliert, der die Kontraktion von Zellen der Darmschleimhaut bewirken konnte. Er nannte den Stoff „Enteramin“. Es war derselbe Stoff, der später (1948) von Irvin Page (Bluthochdruckforscher) und Maurice Rapport aus Blutplättchen isoliert wurde. Sie fanden heraus, dass dieser Stoff Blutgefäße zur Kontraktion bringen konnte, und sie nannten ihn deshalb Serotonin (von Blutserum). Die chemische Struktur des Stoffes wurde als 5-Hydroxytryptamin (5HT) identifiziert. 1953 konnte gezeigt werden, dass 5HT auch im Gehirn – neben anderen Geweben – zu finden ist. Ein paar Jahre vorher wurde LSD entdeckt. Und bald entdeckte man, dass zwischen LSD und 5HT (Serotonin) strukturelle Ähnlichkeiten bestehen. Dies führte zwei Forscher unabhängig voneinander zu dem (Analog-)Schluss, dass 5HT im Gehirn möglicherweise eine Rolle spielt bei nervösen Krankheiten, bei Fehlwahrnehmungen und Halluzinationen. Diese Strukturähnlichkeit war es auch, die Serotonin als „Glückshormon“ qualifizierte. Die Identifikation von 5HT (also Serotonin) im Hirn, die Entdeckung seiner Ähnlichkeit mit LSD und die Vermutung, dass LSD an den 5HT-Rezeptoren wirkt, waren die ersten Hinweise auf die kommende Revolution. Möglicherweise beruhte diese aber auf einem Fehlschluss, wie folgende Beobachtung zeigt: Die Substanz Reserpin, ein Alkaloid der Schlangenwurzel (Rauwolfia, auch Wahnsinnkraut genannt), beruhigte Tiere in Versuchen, machte sie also in gewisser Weise „depressiv“. Reserpin wirkte sich auch auf die halluzinogene Wirkung von LSD aus und brachte seine Effekte zum Verschwinden. Reserpin senkt also den Serotoninspiegel, was 1955 bereits nachgewiesen wurde (Healy 2003., S. 148). 1955 zeigte eine Gruppe englischer Wissenschaftler, dass die beruhigende Substanz Reserpin sich auch positiv auf Depressionen auswirken kann.36 Dies war der Inhalt der ersten doppelblinden, placebokontrollierten randomisierten Medikamenten-Studie überhaupt von Shepherd und Davies.37 (Healy 2003, S. 92) Bereits 1975 kamen Joseph Mendels und Alan Frazer von der Universität Pennsylvania zu dem Schluss, dass deshalb also sowohl die Monoamin- als auch die Serotoninhypothese falsch sein muss. (Whitacker 2010)

36 Vgl. auch: Whitacker: 2010, S. 72; Healy, 2003, S. 148f. 37 Davies, D.L, Shepherd M.: Reserpine in the treatment of anxious and depressed patients. In: Lancet. 1955 July 16. S.269 .

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Die Experimente, die Bernhard Brodie und Arvid Carlsson durchführten, zeigten, dass Reserpin nicht nur den Level von 5HT, sondern auch den von Noradrenalin senkt. (Healy 2003, S. 150) Diese Entdeckung, kombiniert mit der Erkenntnis, dass Reserpin bei depressiven Patienten antidepressiv und beruhigend wirkt, allerdings bei Patienten, die nicht depressiv sind, zum Selbstmord führen kann, sorgt laut Healy bis heute für Diskussionen. Exkurs: Agomelatin Ein vor dem Hintergrund der Serotoninhypothese ebenfalls paradox wirkendes Antidepressivum ist der neuere Wirkstoff Agomelatin (Valdoxan®), erstmalig 1992 hergestellt. Dabei handelt es sich um ein Beruhigungsmittel, das im Gegensatz zu anderen Antidepressiva den Serotoninspiegel (das „Glückshormon“) senkt und den Melatoninspiegel (das „Müdigkeitshormon“) erhöht. Das ist interessant, weil der Spiegel genau dieses Hormons im Winter durch Lichtmangel erhöht ist und zur Winterdepression führen kann. Durch den gleichzeitigen Antagonismus an den Serotoninrezeptoren (= Senkung des Serotoninspiegels) wird der Tiefschlaf vermehrt und damit die Schlafqualität und folgende Tagesvigilanz (= Wachheit) verbessert. Denn die antagonistische Wirkung an den SerotoninRezeptoren führt zu einer Blockade der stimulierenden und daher am Abend unerwünschten Wirkung des Serotonins und verstärkt so den Melatonin-agonistischen Effekt. Das Mittel wirkt in erster Linie beruhigend. Zudem vermittele, so Wikipedia, die Serotonin-Rezeptor-Blockade eine indirekte Erhöhung von Noradrenalin und Dopamin im frontalen Cortex, was für sich allein antidepressiv wirke. Hauptwirkung des Medikaments sei aber die „Synchronisierung der inneren Uhr“ wie z.B. nach einem Jetlag. Nach diesem pharmakologischen Modell ist Depression also quasi eine Folge der Schlafstörungen, die nach herkömmlichen Modellen aber erst durch Depression ausgelöst werden.38 Interessant ist hier die Zulassungsgeschichte: Das Mittel wurde als Antidepressivum nämlich zunächst einmal wegen nicht ausreichender Studienlage im Jahr 200639 vom Ausschuss für Humanarzneimittel der Europäischen Arzneimittelagentur abgelehnt. 2009 dann erteilte die Europäische Kommission, die mächtigste politische europäische Behörde, dem herstellenden französischen Unternehmen Les Laboratoires Servier die Genehmigung für das Inverkehrbringen des Mittels in der ganzen Europäischen Union. Und das, obwohl eine erste Langzeitstudie dem Mittel keine einem Placebo überlegene Wirkung bescheinig-

38 Das Mittel fällt also eher in die Klasse der Tranquilizer oder Ataraktika. 39 Literatur bei: Wikipedia.org/wiki/Agomelatin

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te. Dass hier wirtschaftliche Motive im Vordergrund standen, ist also eine Überlegung wert. Jedenfalls zeigt sich immer deutlicher, dass die Serotoninhypothese offensichtlich ein Mythos ist. Wieso wurde die Erzählung des Serotonin trotzdem – und entgegen aller wissenschaftlichen Evidenz – so dermaßen erfolgreich?

D IE E NTWICKLUNG DER SELEKTIVEN S EROTONIN W IEDERAUFNAHMEHEMMER In Europa blieb man im Gegensatz zu den USA dem Serotonin als Auslösersubstanz für Depression erst einmal treu – in den USA wandte man sich den Katecholaminen zu. Zeugnis davon legt, wie gesagt, die Monoaminmangelhypothese von Joseph Schildkraut ab, eine der weltweit am häufigsten zitierten psychiatrischen Studien überhaupt. (Healy 2003, 156) In den späten 60er Jahren reaktivierte der niederländische Psychiater Herman van Praag die Hypothese, dass die Höhe des Serotoninspiegels, bzw. die Quantität der Wiederaufnahme der Substanz in den Nervenenden möglicherweise bestimmte Aspekte der Persönlichkeit bestimmt. Van Praag wurde für diese Ideen Ende der 60er von seinen Studenten, so berichtet Healy (2003), mit dem Tode bedroht. Es waren andere Zeiten, im Vordergrund der (populär-) psychiatrischen Betrachtung standen damals die Einflüsse der Gesellschaft. Man war „links“. 1969 entdeckte der Schwede Arvid Carlsson, dass die Serotonin Wiederaufnahmehemmung eine Rolle spielen kann bei der Behandlung von Depressionen. Das war 18 Jahre vor der Markteinführung von Prozac und der Popularisierung der Krankheit Depression. Die schwedische Pharmafirma Astra entwickelte daraufhin den ersten selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer Zimelidin. Dieses Medikament wurde im Jahr 1981 in Großbritannien, Schweden und Belgien patentiert. Das Mittel hatte allerdings Nebenwirkungen, es konnte zur GuillainBarré-Krankheit führen. Dies ist eine Krankheit der Nervenbahnen. Die Krankheit kann zur vollständigen Lähmung von Armen und Beinen führen. Das erste SSRI Zimelidin (Handelsname: Normud®; laut „Der Spiegel“ 40/1983 für „Nur Mut“) war nur 18 Monate lang auf dem Markt, bis es 1983 wegen dieser Nebenwirkungen vom Markt genommen werden musste.40 „Der Spiegel“ 40/1983 berichtet im Herbst 1983 unter der Überschrift „Nur Mut“ darüber:

40 Behandlung der Depression. Selektive Serotonin-Wiederaufnahmehemmer oder Trizyklika? In: arzneimittel-telegramm 1997; Nr. 9: 92, 97–98.

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„Mindestens eine halbe Million Bundesdeutsche, etwa ein Prozent der Bevölkerung, erkranken einmal in ihrem Leben an einer Depression. Die Pharma-Industrie setzt derzeit jährlich knapp sechs Millionen Packungen sogenannter Antidepressiva im Wert (ab Fabrik) von 104 Millionen Mark um. Tatsächlich entwickelte sich Normud – im März vergangenen Jahres von der in Wedel bei Hamburg ansässigen Schwedentochter Astra Chemicals GmbH in Westdeutschland eingeführt – wie schon vorher in Schweden und Großbritannien zum Umsatzrenner. Trotz der im Vergleich zu Konkurrenzprodukten bis zu sechsfach höheren Therapiekosten konnte die Astra bald monatlich 25 000 Packungen Normud im Wert von fast einer Million Mark absetzen. Der Normud-Anteil am Gesamtumsatz für Antidepressiva erreichte schon im Juni 1983 die Zehn-Prozent-Marke. Knapp zwei Monate später sah sich die Konzernzentrale gezwungen, das Erfolgsmedikament weltweit vom Markt zu nehmen. Begründung: Mögliche schwere Nebenwirkungen einschließlich neurologischer Störungen.“41

Die Erfolgsstory sowohl der Antidepressiva als auch der Volkskrankheit Depression begann erst 1988 mit der Markteinführung von Prozac als Antidepressivum in den USA. 1972 begann David Wong, unabhängig von den Ereignissen in Europa, bei der Firma Eli-Lilly in den USA ebenfalls an 5HT (oder Serotonin)Wiederaufnahmehemmern zu forschern. Er und seine Kollegen produzierten Fluoxetin (also Prozac®), wussten aber nicht, so Healy (2003, S. 167), wofür oder wogegen man diese Substanz verwenden sollte. Von einer antidepressiven Wirkung war noch überhaupt nicht die Rede. Healy berichtet, dass Lilly eine Reihe von Meetings organisierte, in denen es um die Frage ging, wie man diese Substanz vermarkten könne. Auf einer dieser Veranstaltungen in England meinte der britische Psychiater Alec Coppen, dass er vermute, man könne die Substanz gegen Depression einsetzen. Man antwortete ihm, dass von allen möglichen Einsatzgebieten, die sich anböten, das Einsatzgebiet Depression am wenigsten wahrscheinlich sei. (Healy 2003, S. 167) Serotonin spielt nicht nur eine Rolle im Hirnstoffwechsel. Es ist über den ganzen Körper verteilt. In großen Konzentrationen findet man es in Blutgefäßen, in Darmschleimhäuten und im Gehirn. Im

41 Heute gilt laut www.kompetenznetz-depression.de: „Fünf Prozent der Bevölkerung in Deutschland erfüllen aktuell die Kriterien einer depressiven Störung, das entspricht ca. vier Millionen Menschen. Zehn Prozent der Bundesbürger erkranken einmal oder mehrmals in ihrem Leben an einer schweren depressiven Episode“. Also zehnmal soviele Menschen erkranken heute an Depression wie 1983. Am 18.01. 1982 hatte der „Spiegel“ (3/1982) das Thema „Angst“ auf dem Titel: „Die Angst der Deutschen. Bericht über die Stimmungslage einer Nation.“

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Gehirn wurde Serotonin in Gegenden gefunden, die die Atmung, den Herzschlag und den Appetit kontrollieren, und zwar in größeren Konzentrationen als in den Arealen, die für Wahrnehmung oder Gefühle zuständig sind. In den 70er Jahren, so Healy (Healy, ebda., S. 168) gab es starke Hinweise darauf, dass Fluoxetin möglicherweise ein Bluthochdruckmittel ist, so wie die Beta-Blocker. Und Bluthochdruck war – wie heute auch noch – eine der meist verbreiteten Krankheiten in der westlichen Welt und also für die Pharmaindustrie eine der lukrativsten.42 Erst 1985, so Healy (ebda), ergaben klinische Tests, dass das Mittel auch gegen Depressionen eingesetzt werden kann. Juristische Gründe für den späten Erfolg der SSRI Warum wurde Prozac® im Gegensatz zu Normud® in den 90er Jahren so erfolgreich? Dass das nicht mit der medizinischen Wirkung zu erklären ist, dürfte langsam deutlich sein. Es muss also eine andere Erklärung geben, und zwar eine juristische. Die Zeit der „Mother’s little helpers“ war abgelaufen – Ende der 70er Jahre wurden die „minor transquilizer“, die Benzodiazepine, auf die Liste der von der FDA kontrollierten Substanzen gesetzt, sie waren nur noch mit kontrollierter Verschreibung erhältlich. Das war keine vertrauensbildende Maßnahme für die Pharmaindustrie. Eine juristische Entscheidung in Folge des Contergan®bzw. Thalidomidskandals machte jedoch den Weg frei für eine neue Strategie der Pharmakonzerne, die Strategie der Erfindung neuer Volkskrankheiten. Contergan®, das am 1.10.1957 in Deutschland von der Stolberger Firma Grünenthal entwickelt und eingeführt wurde, firmierte als Beruhigungsmittel. Werbeanzeigen sagten, wogegen es eingesetzt werden sollte: z.B. gegen „vegetative Dystonie“, zur Überwindung des Schlafmittelmissbrauchs sowie gegen „Cerebralsklerosen“. Bekanntermaßen führte das Mittel zu schweren Missbildungen an Neugeborenen, sofern es in der Schwangerschaft eingenommen wurde. „Vegetative Dystonie“ meinte das, was man einst als Neurasthenie bezeichnete und was heute als leichtere Form der Depression firmiert. Zerebralsklerose ist die überholte Sammelbezeichnung für schwere Durchblutungsstörungen des Gehirns, einer Ursache von Demenz und Altersdepression. Thalidomid wurde in den USA schwangeren Frauen empfohlen, um die „Morning Sickness“, die Morgenübelkeit, zu bekämpfen. Festzuhalten ist, dass Contergan® frei verkäuf-

42 Alle Antidepressiva wirken auch als Betablocker. Sie hemmen also die Wirkung von Stresshormonen. (Healy 2003, S. 162).

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lich war.43 Dies änderte sich nach der Contergan®-Katastrophe. Nun wurde die Medikamentenverfügbarkeit stärker kontrolliert. Die Verfügbarkeit wurde nur noch über Verschreibungen gewährleistet, und diese Verschreibungen mussten sich auf eine bestimmte Krankheit beziehen. Auch das führte zur Erfindung und Karriere der Krankheit „Depression“. Psychiater hatten nun Krankheiten zu behandeln und keine Persönlichkeiten oder Persönlichkeitsmankos mehr. Vorher wurde diese Störung als Überlastung (sog. reaktive Depression) angesehen oder als Neurose im Sinne einer Fehlentwicklung der Persönlichkeit. Dies ist jetzt nicht mehr der Fall, die Erklärung der Krankheit Depression bezieht sich auf eine Störung des Stoffwechsels im Gehirn, vergleichbar einer Diabetes. Wenn Medikamente (Drogen) nur noch spezifisch gegen bestimmte Krankheiten verschrieben wurden, dann muss dies zu einer Massenkreation von Krankheiten führen, so Healy.44 So beschreibt das auch Gray Greenberg. Das 1962 in Folge des Conterganskandals verabschiedete „Kefauver Harris Amendment“ oder „Drug Efficacy Amendment“ zum Federal Food, Drug, and Cosmetic Act hat zur Konstruktion der Depression als Volkskrankheit in den USA beigetragen. Es besagte, dass die von der FDA geprüften Medikamente entsprechend dem seit 1938 gültigen Food, Drug, and Cosmetic Act nicht nur sicher, also nicht-schädigend sein mussten, sondern auch wirksam und effektiv auf eine Krankheit bezogen. Die Pharmakonzerne mussten jetzt beweisen, dass ihr Medikament gegen eine bestimmte Krankheit wirkt. Darauf bekamen sie dann aber auch Brief und Siegel der zuständigen Behörde. Dies sei ein „sweet deal“ (Greenberg 2010, S. 216) für die Pharmakonzerne, eine Einladung zur Kreation von Krankheiten. Das neue Gesetz hätte auch in Wirklichkeit nichts mit dem Thalidomidskandal zu tun, denn dieses Mittel hätte bereits durch das Gesetz von 1938 verboten werden können. Es handelt sich beim Gebrauch von Prozac oder anderen SSRIs nicht um den Missbrauch eines Medikaments zu kosmetischen Zwecken, sondern umgekehrt, das kosmetische Pharmakon, die Wellness-Droge, muss einer Krankheit zugeordnet werden, die deshalb erfunden wird: der Beginn des unaufhaltsamen Aufstiegs der Krankheit Depression. In den 1950er Jahren waren etwa 50 Menschen

43 Auch in Deutschland. Deutschland hatte bis 1961 kein nationales Medikamentenrecht. Dass dies eingeführt wurde, hatte nichts mit dem Contergan-Skandal zu tun, sondern mit den Römischen Verträgen (EWG). Die Werbeanzeigen für Contergan findet man im Internet. 44 David Healy: Good Science or Good Business. In: Prozac as a way of life, Ed. Carl Elliott, Todd Chambers, North Carolina 2004, S. 72–83, S. 73.

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unter einer Million depressiv, heute soll dieselbe Krankheit 100.000 Menschen unter einer Million betreffen. (Healy 2004.) Für den Siegeszug der medikamentösen Therapie bei Depression halten viele Autoren auch den in den USA berühmten juristischen Osheroff-Fall für relevant. Der Arzt Dr. Rafael Osheroff wurde 1979 als Patient wegen Depression in das psychoanalytisch orientierte Krankenhaus Chestnut Lodge eingewiesen. 1982 verklagte er diese Klinik, weil sie ihm nicht die aus seiner Sicht beste Therapie angedeihen ließ. Diese Therapie wäre seiner Meinung nach eine Pharmakotherapie gewesen. Die Klinik behauptete, er hätte eine „narzisstische Persönlichkeitsstörung“, und diese sei durch Psychotherapie zu behandeln. Die Depressionen, die Osheroff zweifelsohne auch hatte, würden dann auch verschwinden, er bräuchte also keine Antidepressiva. Das sah Osheroff anders und klagte. Der Prozess endete mit einem Vergleich, er war also kein Präzedenzfall. Osheroff hatte allerdings Frank Ayd und Gerald Klerman als Gutachter auf seiner Seite. Und diese waren der Meinung, dass Psychotherapie im Gegensatz zur Pharmakotherapie unmessbar sei. Dies läge auch an der Vielzahl der Therapien. Es wurde argumentiert, dass Psychotherapie in derselben Situation sei wie die Pharmakotherapie, bevor 1962 die Rezeptpflicht und Kontrollen der Wirksamkeit auf Bundesebene eingeführt wurde. Dies bedeute nichts anderes, als dass die Psychotherapien, so wie die Patentmedizinen, mehr oder weniger Quacksalbereien seien. Tatsächlich zählte man 1974 allein in New York 164 verschiedene Therapien in 50 verschiedenen Therapieinstituten. Obwohl der Osheroff-Fall offiziell nicht zu einem Präzedenzfall wurde, wurde er es inoffiziell. Es war nun gezeigt, dass man behaupten kann, dass Psychotherapie im Gegensatz zur Psychopharmakotherapie Humbug und Scharlatanerie ist. Diese Aussage richtete sich besonders gegen die Psychoanalyse. Edward Shorter schreibt, dass seit dem Prozess erwiesen war, dass schwere psychische Leiden nicht mit Psychoanalyse zu behandeln seien. Jeder Arzt, der es trotzdem versuche, laufe Gefahr, sich hohe Schadensersatzforderungen einzuhandeln. (Shorter 2003, S. 310) Im Jahr 1980 stellte dann die FDA, die US Food and Drug Administration, auch noch offiziell fest, dass Angst oder Anspannung in Verbindung mit täglich erlebtem Stress kein Anlass zur Behandlung mit Anxiolytika sei. (Horwitz et al. 2007, S. 181) Die Pharmaindustrie musste sich also etwas Neues einfallen lassen: Nicht zufällig kommt es seit 1980, also seit dem Ende der Angst als vorherrschender psychischer Störung, zum unaufhaltsamen Aufstieg depressiver Störungen. Ab 1980 – zeitgleich zur Veröffentlichung des DSM-III – begannen fast ausschließlich biologische Erklärungsmodelle die psychiatrische Theorie zu domi-

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nieren. Der Einfluss des psychosozialen Modells begann zu schwinden. Erklärt wird das von vielen US-amerikanischen und englischen Autoren wie Healy, Greenberg, Whitacker, Appignanesi, Horwitz und Wakefield auch mit dem Erfolg der antipsychiatrischen Bewegung der 60er und 70er Jahre. Das psychiatrisch-biologische Modell beschreibt die psychischen Krankheiten „naturwissenschaftlich“, dies wäre erstens für Laien nicht mehr ohne weiteres nachzuvollziehen und zweitens für viele Betroffene „entstigmatisierend“. Einer antipsychiatrischen Bewegung wird so der Boden genommen. Psychotherapie und Antidepressiva Gleichzeitig mit der Ent-Psychoanalysierung der amerikanischen Psychiatrie kommt es zu Bestrebungen, die verschiedenen Psychotherapien zu evaluieren. Dies gestaltete sich nicht nur wegen des Widerstandes der Psychotherapeuten schwer. Wie soll man Psychotherapie unabhängig von der Figur des Therapeuten, die ja in ihrer Subjektivität eine wichtige Rolle spielt, standardisieren? Es wurden allerdings mit der Entwicklung der Psychopharmaka Stimmen lauter, eben dies zu versuchen, und noch mehr: einen Vergleich herzustellen zwischen Psychotherapie und Psychopharmakotherapie. Mit dem Aufkommen der Verhaltenstherapie in den 60er Jahren und der kognitiven Verhaltenstherapie (Aaron Beck) wurde die Evaluation von Psychotherapie erst möglich. Die Figur des Therapeuten spielt hier keine tragende Rolle wie in der Psychoanalyse, also kann man von ihr abstrahieren, die Therapien können „manualisiert“ werden. Sie liegen als gedruckte Programme vor, die letztlich auch von Selbsthilfegruppen eingesetzt werden können und eingesetzt werden. Healy schreibt, dass es eine Menge Therapie-Evaluationen gegeben habe – mit durchaus unterschiedlichen Resultaten. Das zentrale, heute noch gültige Ergebnis sei, dass es tatsächlich nicht auf die Therapie ankomme, sondern auf das Vertrauensverhältnis und die Meinung über die Kompetenz und Fähigkeit des Therapeuten. Es ist demnach das Ritual, das heilt und nicht sein Inhalt. Die neuen Psychotherapien zeigten neue Wege zum Verständnis der Depression auf und machten sie dadurch noch populärer: Jeder konnte nun verstehen, warum er „depressiv“ war. Die Verhaltenstherapie (VT) ging von einer „erlernten Hilflosigkeit“ aus, die abtrainiert werden kann, die kognitive Therapie (KT) von einem dysfunktionalen Denken, dass kognitiv umzustrukturieren ist. Bei der Interpersonelle Psychotherapie (IPT), die ein Mischmasch aus KT und VT und humanistischen Therapieschulen darstellt, geht es darum, nach einem festen Plan den Patienten über die Krankheit aufzuklären, einen Fokus zu setzen (Verlust, Rollenwechsel etc.), die soziale Anpassungsfähigkeit zu verbessern und das in-

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terpersonelle Funktionieren zu trainieren. Interessant ist, dass die Interpersonelle Psychotherapie von Gerald Klerman et al. (Gutachter im Osheroff-Fall, s.o.) Ende der 60er Jahre als „Placebotherapie“ in der Psychotherapieforschung gedacht war, sie sich jedoch als effektiv bei der Behandlung verschiedener psychologischer Probleme erwies. Es ging Klerman nicht darum, ein neues, wirksameres, originelles Therapieverfahren zu entwerfen, sondern darum, „ein strukturiertes psychologisches Therapieverfahren zu schaffen, das sich mit einer standardisierten medikamentösen Behandlungsbedingung vergleichen ließ.“45 Ironischerweise beruht die IPT auf der interpersonalen Theorie des von Adolf Meyer geprägten Psychoanalytikers Harry Stack Sullivan aus den späten 1930er Jahren, die freilich von einem ganz anderen Menschenbild ausging: Die Persönlichkeitswerdung wird ganz aus der zwischenmenschlichen (interpersonalen) Beziehung erklärt. Demnach ist, wie oben beschrieben, das Verhalten auch von z.B. schizophrenen Patienten sinnvoll. Die Therapie besteht in der Psychoanalyse, der Therapeut ist sinndeutender Beobachter. 1989 wurden in den Archives of Psychiatry Vol.46 die Ergebnisse einer Psychotherapie-Vergleichs-Studie veröffentlicht: „NIMH Treatment of Depression Collaborative Research Programm: General Effectiveness of Treatments.“46 Es sollten die Unterschiede zwischen „konservativer Behandlung“, Imipramin, IPT und KT verglichen werden. Es wurden 250 Patienten mit leichten bis mittelschweren Depressionen getestet. Das Ergebnis: Es gab in der Gesamtgruppe keine klaren Unterschiede zwischen Imipramin, KT, IPT und „konservativer medizinischer Behandlung“. Bei denjenigen, die unter schwereren Depressionen litten, schlugen Imipramin und IPT deutlich besser an als die anderen Behandlungsmöglichkeiten. Es gab allerdings auch ein paradoxes Ergebnis: IPT funktionierte bei denen am besten, die von Anfang an die beste „soziale Kompetenz“ oder interpersonellen Fähigkeiten mitbrachten. Und: Bei denjenigen, deren „Kognitionen“ am Anfang am wenigsten neurotisch waren, wirkte die kognitive Therapie am besten. Dies sei ein Ergebnis, so kommentiert Healy, das den Zyniker erfreue aber den Theoretiker konfus mache. (Healy 2003, ebda.) Die Patienten werden demnach nicht therapiert sondern trainiert bzw. „gecoacht“. Die einzige Therapie, die derzeit für Depression in den USA laut Gary Greenberg akzeptabel erscheint, ist die kognitive Therapie nach Aaron Beck.

45 Elisabeth Schramm, Matthias Berger: Die Entwicklung und Verbreitung der IPT. In: Elisabeth Schramm: Interpersonelle Psychotherapie. Mit dem Originaltherapiemanual von Klerman, Weisman, Rounsaville und Chevron. Stuttgart 2010, S. 9. 46 Irene Elin, Shea, Watkins, Imber, Sotsky, Collins et al. Archives of General Psychiatry, November 1986, Vol. 46.

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Dabei handelt es sich um eine „emipirically supported theory“ (EST). Der Begriff der EST ist praktisch mit der kognitiven Therapie gleichzusetzen, denn 90 Prozent der Untersuchungen im Rahmen der EST beziehen sich auf kognitive Therapie. Dabei legen sie laut Greenberg eine zirkuläre Logik zugrunde. Aaron Beck hat seine Therapie nämlich von vorn herein so angelegt, dass sie empirisch validiert werden kann. Analog zum Fremdbeurteilungsverfahren Hamilton Rating Scale for Depression (HRSD) konstruierte er ein Beck Depression Inventory (BDI) zur Selbstbeurteilung. Beides sind Fragebögen, die den Grad der Depression messen und dementsprechend auch den Grad ihrer Heilung. Greenberg legt nahe, dass die HRSD nicht „Depression“ misst, sondern die Erfolge, die Medikamente für bestimmte Symptome bringen. Dies täte sie im Fall der HRSD im Auftrag der Pharmaindustrie (Greenberg 2010, S.202). Beck hat seinen BDI ähnlich angelegt. Die Therapie zielt darauf ab, das positive Denken zu verstärken und genau das wird durch das BDI gemessen. Und das ist zirkelschlüssig. Trotzdem gilt in den USA: ein Therapeut, der nicht nach der kognitiven Therapie behandelt ist ein Außenseiter. (Greenberg, ebda., S. 304) Zur „leading therapy“ wurde die kognitive Therapie auch aus wirtschaftlichen Gründen: Die kognitive Therapie stellt sich nicht nur als „wissenschaftlich überprüft“ dar, sondern auch als besonders effizient. Sie dauert nur halb so lange wie andere Therapien. Damit ist sie günstiger, und das ist ein Argument für die Krankenversicherungen. Das ist in Deutschland anders. Neben Verhaltenspsychotherapie sind die psychoanalytischen Therapien die einzigen, die von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden.

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D IE P ROZAC ®-S TORY „In 1988, Prozac was introduced, and by 2005, the last year for which reliable figures are available, 27 Million Americans – 10 percent of the adult population – were taking antidepressants, most of it which act on serotonin, at an annual cost of more than ten billion Dollars.“ Gary Greenberg 2010, S. 6.

„A conceptually novel antidepressant that acted rapidly and safely in a high proportion of patients world almost certainly become the world´s best selling drug.“47

Erst das Mittel Prozac® (Wirkstoff: Fluoxetin) machte die Depression richtig populär. 1988 brachte die Firma Eli Lilly Prozac auf den Markt. Im Jahr 2000 lief das Patent für Prozac aus. In dieser Zeit erhöhte sich der Wert der Firma an der Wall Street von 10 Milliarden Dollar auf 90 Milliarden Dollar. Ein Investor, der 1987 für 10.000 Dollar Aktien von der Firma gekauft hätte, hätte im Jahr 2000 Aktien im Wert von 96.800 Dollar48 (Whitacker 2010, S. 320). Der USamerikanische Prozac-Mythos wirkt auf Deutsche befremdlich. Tatsächlich gibt es in Deutschland keinen den USA vergleichbaren Marken-PsychopharmakaKult. Peter Kramers Buch „Listening to Prozac“ wurde in Deutschland („Glück auf Rezept“) im Gegensatz zu den USA kein Bestseller, sondern erlebte nur eine Auflage. Das liegt auch daran, dass Prozac bzw. der Wirkstoff Fluoxetin in Deutschland einen denkbar schlechten Start hatte. Das Bundesgesundheitsamt (BGA) testete die Droge und kam 1984 zu dem Schluss, dass Fluoxetin möglicherweise ungeeignet für die Behandlung von Depression sei. Wichtigstes Argument: Es gebe keine langfristigen Erfahrungen mit dem Wirkstoff. Außerdem meinte das BGA, dass die Patienten, denen das Mittel versuchsweise gegeben wurden, nicht zufrieden waren mit seiner Wirkung. Das Mittel sei nur wirksam bei „reaktiver Depression“ (heute: Anpassungsstörung), nicht bei der ernsteren

47 Leitspruch der Pharmafirma affectis, dessen Vorstandsvorsitzender der Psychiater Florin Holsboer war. http://www.neuronova.de/. 48 Lilly führte 1996 das ebenfalls sehr erfolgreiche atypische Neuroleptikum Zyprexa ein. Whitacker meint, dass dieses Mittel gegen die Nebenwirkung von Prozac, nämlich der Erzeugung einer Manie, eingesetzt werde und auch so beworben wurde. (Whitacker 2010, S. 320).

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endogenen Depression. Eli Lilly will genau das strategisch ausnutzen. In einem von Healy im Internet faksimilierten internen Memo der Firma steht: „Efficacy data on patients of non-endogenous subtype. This could help us to achieve the ‚reactive depression‘ claim.“49 Insgesamt werden in dem Memo 15 Punkte aufgezählt, die für eine Zulassung in Deutschland noch beachtet werden müssen. 1990 ist es dann so weit: In Deutschland wird der Wirkstoff freigegeben – für das auch heute noch erhältliche Medikament Fluctin®. Das kann man als Hinweis darauf sehen, dass sich die Indikation für das Medikament verändert hat, also die Definition der behandlungsbedürftigen Depression auch auf die zuvor psychotherapeutisch zu behandelnde (psychogene) „reaktive Depression“ ausgedehnt wurde. Bereits im Januar 1988 wird Prozac in den USA zugelassen. 5 Monate später startete das NIMH die erste DART-Kampagne (Depression Awereness, Recognition and Treatment). Es wurden Anzeigen in Zeitungen und Zeitschriften gestartet und Eli Lilly unterstützte die Produktion einer DART-Broschüre mit 8 Millionen Dollar. Deren Titel: „Depression. What You Need to Know.“ Am 18. Dezember 1989 ziert die grünweiße Prozacpille das „New-York-Magazine“ mit der Überschrift: „Bye Bye Blues. A New Wonder Drug For Depression.“ Am 26. März 1990 hatte dann Newsweek die Pille auf dem Titel. Überschrift: „Prozac. A Breakthrough for Depression“. Aber bereits in diesem Jahr wurden Nebenwirkungen von Prozac bekannt: Das Mittel erzeugt „suizidale und gewalttätige Gedanken in einigen Menschen“ (Whitacker, 2010, S. 292), und es gründeten sich die ersten „Prozac Survivors Support Groups“, Selbsthilfegruppen für Prozac-Opfer. Es kam zu Prozessen, in denen der Waliser Psychiater David Healy als Experte auftrat. 1990 war klar, dass Eli Lilly sich ernste wirtschaftliche Probleme einhandelte, wenn die Firma Prozac verliert. Robert Whitacker berichtet, dass es Lilly gelang mit (unintendierter) Hilfe der Scientologysekte die Vorwürfe als haltlos darzustellen. 1991 veranstaltete die FDA ein Hearing zu Prozac und es wurde festgestellt, dass das Mittel „perfectly safe“ (Whitacker 2010, S. 294) sei. In der Öffentlichkeit wurde verbreitet, dass hinter der „Kampagne“ gegen Prozac die Scientologysekte stehe. (Whitacker, ebda.) In diesem Moment hatten Eli Lilly und die biologische Psychiatrie gewonnen. Ihre Gegner waren Anhänger einer kruden Sekte, die aus irrationalen Gründen keinen Fortschritt wollten. Jetzt konnte Depression Volks-

49 David Healy 2006, Let them Eat Prozac, a.a.O., S. 39. Faksimile: http://www. healy prozac.com/Trials/CriticalDocs/memo260684.htm. In Schweden wurde das Mittel nie zugelassen, so der ehemalige Lilly-Manager John Rengen (Pseudonym von John Virapen) im Interview mit der „taz“ vom 12.01.2007.

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krankheit werden. 1992 wurden über eine Milliarde Prozacpillen verkauft, andere SSRI (dieser Gattungsname stammt laut Healy ebenfalls aus der Marketingabteilung von Eli Lilly) erschienen auf dem Markt, und 1993 veröffentlichte Peter D. Kramer seine Lobeshymne „Listening to Prozac“. Dieses Buch stand 21 Wochen auf der New York Times Bestsellerliste (Whitacker 2010, S. 294). Ein unglaublicher Optimismus wurde verbreitet: „For the first time in human history, we will be in a position to design our own brains.“50 David Healy ist bekannter Vertreter der These, die besagt, Prozac und andere SSRI führten sehr viel häufiger als andere Antidepressiva zum Selbstmord. Prozac bekämpfe, wenn überhaupt, Gefühle der Entfremdung, meint Healy. Prozac und überhaupt alle Antidepressiva seien deshalb keine psychiatrischen Mittel. „Entfremdung“ sei keine psychische Krankheit. Erst seitdem es Prozac gebe, sei die Anzahl der affektiven Störungen stark angestiegen. Vorher erschien die Häufigkeit des Vorkommens solcher Störungen verschwindend gering. Entfremdung oder auch „community nervousness“ wurde in do-it-yourself-Therapien behandelt, also mittels Alkohol, Opiaten oder Barbituraten. Diese Therapien im Verborgenen gaben Philosophen und Soziologen im Gegensatz zur neuen Erscheinung der Massenware Prozac keinen Anlass zu Spekulationen über Entfremdung; und den Massenmedien fehlten die Anhaltspunkte für eine Volkskrankheit Depression. Der Begriff „Antidepressivum“ tauchte erst in der Mitte der 80er Jahre auf. Die Antidepressiva hatten nicht wie die Antipsychotika eine klare Nische. Imipramin wurde in den 50er Jahren entwickelt, allerdings zog es von Seiten der Philosophen und Kulturwissenschaftler (im Unterschied zu anderen psycholytischen Substanzen wie z.B. LSD) zunächst kein Interesse auf sich. Das änderte sich erst mit dem Boom der SSRI, der durch die Marketingstrategien der Pharmakonzerne verursacht war. Das plötzliche soziologische und philosophische Interesse an diesen Substanzen – und auch das plötzliche Interesse an der Krankheit Depression – deutet David Healy als Teil der Marketingstrategie der Pharmaindustrie. Im Jahr 1997 behauptetet die Selbsthilfevereinigung „National Depressive and Manic-Depressive Alliance“ eine Informationslücke bezüglich der Aufklärung über die Krankheit Depression. Daraufhin heuerte Eli Lilly die große Werbeagentur Leo Burnett, eine der führenden der USA, an, um diese Lücke zu schließen. Die Agentur entwarf eine Kampagne für Prozac. Die Aufgabe dabei war, herauszustellen, dass Depression nicht nur ein Gefühl ist, sondern eine echte Krankheit mit realen Gründen. (Greenberg 2010S. 274). Lilly ließ sich diese Kampagne in den letzten sechs Monaten des Jahres 1997 22 Millionen Dollar

50 S. Begley: Beyond Prozac. Newsweek, 07.02.1994.

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kosten. (Greenberg, ebda.) Im folgenden Jahr gab man bereits 47 Millionen Dollar aus, auch für Werbung im Fernsehen. Im Jahr 2000 wurden für Reklame für die SSRI Prozac, Zoloft® und Paxil® zusammen 128,5 Millionen Dollar ausgegeben. (Greenberg, S. 275). Der größte zukünftige Markt für solche Medikamente seien die Kinder, so Healy und Robert Whitacker.51 In den USA sei die Behandlung von Kindern mit SSRI jetzt schon an der Tagesordnung. Nach dem 11. September 2001 kamen die SSRI zu neuen Ehren: Sie kämpften nunmehr nicht mehr hauptsächlich gegen Depression, sondern auch wieder gegen Angst. Nach dem 11. 09. 2001 sah es in den USA so aus, als ob die Angst und die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) in Folge der Terroranschläge wieder stärker in den Vordergrund rückten. Auch deshalb sind viele SSRI nun gegen Angststörungen zugelassen. Auch die Erfindung der Krankheit „soziale Phobie“ verhalf den SSRI zu neuen Absatzmöglichkeiten. Im Jahr 1998 wurde der selektiv serotonerg wirkende Stoff Paroxetin, in den USA Paxil® (GlaxoSmithKline), in Deutschland Seroxat®, zugelassen. Die Firma suchte neue Absatzmöglichkeiten für dieses SSRI, da es für Depressionen andere SSRIs gab, dieses Feld also bestellt war. GlaxoSmithKline erfand deshalb eine neue Krankheit und schlug diese der Zulassungsbehörde in den USA, der FDA auch gleich vor: „Social Anxiety Disorder“. Diese „Störung“ war davor unter dem Namen Schüchternheit bekannt. GlaxoSmithKline heuerte eine PR-Firma an, Cohn und Wolfe, und diese schafften es, „soziale Angststörung“ als „neue Krankheit“ zu verkaufen, die noch viel zu wenig beachtet wird. Es wurde behauptet, diese Krankheit beträfe 13 Prozent der amerikanischen Bevölkerung, und sie sei damit die dritthäufigste psychiatrische Erkrankung nach Depression und Alkoholismus.52,53 Die Krankheitserfindung war ein voller Erfolg. Auch in Deutschland: Es gibt derzeit (12.09.2011) 13 Selbsthilfegruppen in Berlin ausschließlich zum Thema „soziale Phobie“. Die Krankheit soziale Phobie ist ein neues riesiges Einsatzfeld, das mit Hilfe von Selbsthilfegruppen beackert werden kann. “The way to sell drugs is to sell psychiatry illness“, so beschrieb der Bioethiker Carl Elliott diese Umdrehung in der Forschung, die auch Christopher Lane in seinem Buch „Shyness: How Normal Behavior Became a Sickness“54 thematisierte.

51 In: Anatomy of an Epidemic, 2010. 52 Shankar Vedantam: Drug Ads Hyping Anxiety make some Uneasy. Washington Post, 16.07.2001. 53 B. Koerner: First you market the disease, then you push the pills to treat. Guardian, 30.07.2002. 54 Christopher Lane: Shyness. How Normal Behaviour Became a Disease. Yale 2007.

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Ein weiteres Beispiel für die Erfindung psychiatrischer Krankheiten durch die Pharmaindustrie ist das Sissi-Syndrom. Das Sissi-Syndrom tauchte 1998 erstmals öffentlich auf, in einer ganzseitigen Anzeige des Unternehmens SmithKlineBeechham (heute GlaxoSmithKline). Die betroffenen Patienten sind der Firma zufolge depressiv und gegebenenfalls mit Psychopharmaka zu behandeln. Allerdings überspielen sie ihre Niedergeschlagenheit durch aufgesetzte Fröhlichkeit. Das Syndrom wurde nach der Kaiserin benannt, weil diese den Patiententypus wie ein Urbild verkörperte.55 Diese Erfindung war nicht so erfolgreich wie die soziale Phobie. Wikipedia führt sie (02.06.2010) als „angebliche Form der Depression“. Die Marktstrategien der Pharmaindustrie zeigen auch in Deutschland Erfolg: Laut statistischem Bundesamt erhöhten sich die Ausgaben für psychische Erkrankungen in Deutschland zwischen 2002 und 2008 drastisch um 22 Prozent auf 28,7 Milliarden Euro.56 Einer Studie der Techniker Krankenkasse zufolge stieg der Verbrauch von Antidepressiva innerhalb von 10 Jahren um 113 Prozent.57 Allein zwischen 2006 und 2009 erhöhte sich der Verbrauch von Antidepressiva um 33%.58

P SYCHOENHANCEMENT UND P ROZAC – DIE CHEMISCHE G ESELLSCHAFTSVERBESSERUNG Der veränderte Mensch weilt bereits unter uns, meint der Journalist James Gorman in der New York Times vom 6.04.2004.59 Viele gesundheitsbewusste, gut versicherte, gut gebildete Menschen in den Vereinigten Staaten und anderen wohlhabenden Ländern haben sich während des letzten halben Jahrhunderts daran gewöhnt, (Dauer-) Medikation für selbstverständlich zu betrachten. Immer mehr Menschen wechseln jedes Jahr zu dem Pillenkonsum-Lebensstil, sehr zur

55 Vgl.: Jörg Blech: Die Krankheitserfinder. Wie wir zu Patienten gemacht werden. Frankfurt/M. 2005, S. 15. 56 Vgl.: http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Presse/pm/ 2010/08/PD10__280__231,templateId=renderPrint.psml. Pressemitteilung 280, 11.08. 2010, destatis.de, Statistisches Bundesamt Deutschland. Überschrift: Hohe Kosten durch Depression und Demenz. 57 Neue Osnabrücker Zeitung, 12.08.2010: „Verbrauch an Antidepressiva in Deutschland hat sich verdoppelt“. 58 Gesundheitsreport 2010 der Technikerkrankenkasse. http://www.tk.de/centaurus/ servlet/contentblob/222138/Datei/4985/Gesundheitsreport-2010.pdf. 59 James Gorman: The Altered Human is Already Here, New York Times, 6. April 2004.

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Freude der pharmazeutischen Industrie. In der Tat beleuchtet der ansteigende Verkauf von Medikamenten, wie willig die Menschen sind, nach einem besseren Leben mithilfe des Gebrauchs von chemischen Substanzen zu streben. Keine Bevölkerungsgruppe ist davon ausgenommen. „Das Streben nach Glückseligkeit und Selbstperfektion [wird] Teil des Geschäfts des Arztes“. (Gorman) Dazu ist im Wissenschaftsblatt Nature im Dezember 2008 erstmals ein Artikel erschienen, der sich positiv auf das sogenannte „Cognitive Enhancement“ bezieht.60 Unter diesem Stichwort diskutiert man die Möglichkeit, die geistige Leistungsfähigkeit über das normale Maß hinaus zu steigern. Als Kandidaten für diese kognitive Leistungssteigerung kommen meist psychopharmakologische Medikamente infrage, die bereits bei Aufmerksamkeitsstörungen, altersbedingten Beeinträchtigungen kognitiver Prozesse oder Schlafstörungen erfolgreich angewendet werden. Hauptargument: Dies sei kein Betrug bzw. Doping und deshalb nicht moralisch verwerflich, weil es nicht verboten sei – wie im Sport. Das Besondere ist, dass der Artikel von Forschern aus namhaften Universitäten (Cambridge, Oxford, Stanford, Harvard, etc.) verfasst wurde. In Deutschland wird das Thema noch überwiegend als Gefahr abgehandelt. Der DAK-Gesundheitsreport 2009 beschreibt das kognitive Enhancement kritisch unter dem Titel „Doping am Arbeitsplatz.“61 Die DAK bezieht sich nicht nur auf das kognitive Enhancement, sondern auch auf das Psychoenhancement, also auf Stimmungsaufhellung bei Gesunden durch Antidepressiva. Die Bibel des Psychoenhancement ist das Buch „Listening to Prozac“ des Psychiaters Peter D. Kramer.62 Das Buch erschien 1993 in den USA und wurde zu einem US-amerikanischen Bestseller. Kramers Nachfolgebuch heißt „Against Depression“63 und der Name ist Programm: Der Mensch hat demnach ein Recht auf Glück. Depression ist Unrecht, sie darf mit allen Mitteln bekämpft werden. Viel zu lange schon hätten wir uns einreden lassen, Leiden gehöre zum menschlichen Wesen dazu. Kramer berichtet im ersten Kapitel seines Buches „Listening to Prozac“ über das Wundermittel Prozac anhand der Fallbeschreibung eines „Sam“. Dieser war vor der Behandlung mit Prozac depressiv, sexsüchtig (Pornos) und zwangskrank

60 Henry Greely, Barbara Sahakian, John Harris, Ronald C. Kessler, Michael Gazzaniga, Philip Campbell & Martha J. Farah: Towards responsible use of cognitive-enhancing drugs by the Healthy. Nature 456, 702-705 (11 December 2008). 61 DAK Forschung: Analyse der Arbeitsfähigkeitsdaten. Schwerpunkt: Doping am Arbeitsplatz. Berlin 2009. 62 Peter D. Kramer: Listening to Prozac. The Landmark Book about Antidepressants and the Remaking of the Self. New York 1997. 63 Peter D. Kramer: Against Depression. New York 2005.

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(alle möglichen Zwänge, bis hin zum Messiesyndrom). Nach der Gabe von Prozac ist er von all diesen „Leidenschaften“ geheilt. In dem 1993 erschienen Buch ist Prozac kein spezifisches Antidepressivum, sondern so etwas wie ein „Psychic Energizer“, der auch Gesunden zu einem „better-than-well-Gefühl“ verhelfen kann. Medizinisch müsste diese Stimmung unter die Kategorie der „Hypomanie“64 fallen. Kramer beschreibt Prozac als ein Ergebnis der biologischen Revolution der Psychiatrie. Der Zeitgeist sei schon lange reif gewesen dafür: Die Biologie und die Genetik seien im 20. Jahrhundert so populär geworden, dass es ein „kulturelles Bedürfnis“ sei, sich die Welt „biologisch“ zu erklären. Prozac nun verändere die Persönlichkeit und damit das „Selbst“ der (bzw. einer „substantiellen Minderheit“) Patienten schlagartig: Prozac unterscheide sich laut Kramer von anderen Antidepressiva dadurch, dass es nicht nur auf die Krankheit Depression wirke, sondern auf das gesamte „Selbst“. Dieses erscheint nach der Wirkung der Droge in einem völlig neuen Licht, der Patient wird attraktiver für sich selbst und attraktiver für andere. Kramer spricht von „kosmetischer Pharmakologie“. Prozac wirkt also nicht nur auf die Krankheit Depression sondern gleich gegen ein ganzes Bündel von psychischen Krankheiten. Dafür gibt Kramer ein zweites Beispiel, „Tess“. Dieses Beispiel klingt noch märchenhafter als das von Sam. Tess ist als älteste Tochter einer Familie mit 10 Kindern in einer der ärmsten Gegenden einer Stadt aufgewachsen. Die Mutter war depressiv, der Vater Alkoholiker. Sie musste sich um die Geschwister kümmern. Mit 17 Jahren heiratet Tess einen Alkoholiker. Mit diesem Mann kümmert sie sich dann um ihre kleinen Geschwister, bis diese erwachsen sind. Dann scheitert die Ehe. Unglaublicherweise gelingt Tess aber eine Karriere in der Businesswelt. Dazu sollen ihr die Fähigkeiten verholfen haben, die sie als Ersatzmutter gesammelt hat. Erst dann kommen die Probleme, die sie zu Kramer treiben: Depressionen und Beziehungsprobleme. Sie hat seit langer Zeit ein Verhältnis mit einem verheirateten Mann, der sie nach seinem Gusto sieht. Tess Selbstwertgefühl im Privatleben ist sehr eingeschränkt. Sie kann sich von dem Mann nicht lösen. Gleichzeitig geht ihre Karriere weiter, bis sie Probleme mit einer Gewerkschaft bekommt. Kramer erklärt ihr, dass die Kinder einer depressiven Mutter sehr sensibel werden, sie sind es gewohnt, immer auf die Befindlichkeiten und Stimmungen anderer zu achten. Gleichzeitig wollen sie auch von den anderen akzeptiert werden, ihnen gefallen. Sie hören nicht auf sich selbst, auf ihre Bedürfnisse, sondern sind vor allem für andere da. Deshalb verlieren sie ihr Selbstwertgefühl und können eine Depression entwickeln – wie im Fall von Tess. Tess wird dann mit Prozac be-

64 Nach ICD 10 eine Störung: F 30.0, eine abgeschwächte Form der Manie.

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handelt: und das Wunder geschieht. Sie verwandelt sich vom Mauerblümchen zum „Gesellschaftsschmetterling“. Sie verlässt Jim, sie lernt neue Männer kennen. Sie wird im Job besser – schlicht und ergreifend: Nach der Darstellung von Kramer verändert sich ihr ganzes Wesen. Das Medikament wird abgesetzt und die als positiv erlebten Symptome persistieren. Allerdings vermisst Tess irgendwann das Prozac. Sie meint, mit dem Mittel sei sie doch „noch besser drauf“ gewesen als ohne. Prozac bewirkt also, dass die Menschen sich besser als gut fühlen (better than well). Hier kommt der Psychiater Kramer in Gewissensnöte (vgl. Kapitel „Kramers Angst“) und fragt sich, was denn seine Aufgabe sei. Als Arzt ist es seine Aufgabe, Menschen zu heilen bzw. zur Heilung zur verhelfen, nicht aber gesunden Menschen zu helfen, immer besser zu werden. Allerdings wirkt das Mittel so nicht bei jedem. Aber trotzdem: Wenn es solche Wirkungen zeitigt, könnte es doch jeder einmal probieren – zur Selbstoptimierung. Kramer redet von „psychischen Steroiden“, damit zielt er auf Doping65 ab. Kramer fragt sich, wo denn der Unterschied zu Straßendrogen, z.B. Speed liegt. Schließlich fühlen sich die Nutzer dieser Drogen auch besser nach einer Einnahme des Mittels und entwickeln so eine Sucht. Sind also die Drogennutzer nur dabei sich selbst zu therapieren – und die Psychiatriepatienten wie Tess tun es eben mit Hilfe eines Arztes? Wie wird Prozac vor diesem Hintergrund in der von Wettbewerb gekennzeichneten amerikanischen Business-Welt aufgenommen? Er schreibt, dass Psychiater einen normalen Stimmungsstand ausgemacht haben, den sie „hyperthymia“ nennen, also eine Art des „better-than-well-Zustandes“. Dieser korrespondiere mit dem alten Temperament des Sanguinikers. Hyperthymie unterscheide sich von Hypomanie, allerdings sei der Unterschied nur graduell und schwer auszumachen. Hyperthymie stellt in der amerikanischen kapitalistischen Geschäftswelt einen Vorteil gegenüber anderen Stimmungen dar. Kramer geht davon aus, dass Prozac persönlichkeitsverändernd und dadurch suchterzeugend66 ist. Tess ruft ihn 8 Monate nach dem Absetzen der Medikamente an und sagt: „Ich bin nicht mehr ich selbst“. Dies nimmt Kramer als Zeichen, dass Prozac aus Tess eine neue Person gemacht hat. Positiv wertet der

65 Der Radsportprofi Jesús Manzano berichtete 2007 von acht Prozacpillen, die er zu Dopingzwecken täglich nahm: „Weil das Prozac […] dich in eine andere Welt befördert, eine Welt in der du keine Angst mehr hast vor dem, was du da tust, in der du keine Fragen mehr stellst.“ Zit. nach: Ines Geipel: No Limit. Wieviel Doping verträgt die Gesellschaft? Stuttgart 2008, S. 30. 66 Das wird heute vehement abgestritten. Ein psychiatrisches Dogma lautet, dass alle Antidepressiva und alle Neuroleptika nicht süchtig machen.

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Psychiater, dass Tess sich nun selbst versteht – was vor der Einnahme der Droge nicht der Fall gewesen ist. Dabei geht Kramer davon aus, dass die Züge, die Tess nach der Einnahme von Prozac zeigte, vorher durch ihre Depression oder einfacher gesagt durch Tess Gehirn gehemmt wurden. Tess kann also dank Prozac gegen ihre vorprogrammierte Biologie bestimmen, was sie selbst ist, weil sie die Möglichkeiten, die sie hat, durch Prozac erfährt. Das ist aber die Argumentation eines Drogendealers. Der legt es auch darauf an, dass die Realität mit dem Mittel erträglich ist, die Realität ohne das Mittel aber immer unerträglicher wird. Das nächste Kapitel widmet Kramer der Zwangsstörung. Und auch hier gibt es wieder Sensationelles zu berichten: Durch Prozac wird Kramers Patientin, Julia, deutschstämmig, von ihrem Putz- und Reinigungszwang befreit. Sie musste ihren eigenen Haushalt immer picobello halten und brachte damit ihren Mann und ihre Kinder gegen sich auf. Sie leidet nach Kramer möglicherweise an einer OCD, eine obsessive-compulsive-disorder (Zwangserkrankung). Diese Krankheit ist nach Kramer einerseits die schrecklichste der psychiatrischen Störungen, diejenige, die mit dem meisten Leid verbunden ist, andererseits verschafft sie in ihrer abgeschwächten Form aber auch „evolutionäre Vorteile“. Julia ist nicht schwer zwangskrank, deshalb schickt Kramer sie erst einmal zu einer Gesprächstherapie mit einer Sozialarbeiterin. Das wirkt nicht. Julia sieht ihre Krankheit als physiologisch bedingt. Daraufhin verschreibt Kramer ihr Prozac. Bereits in der ersten Woche der Medikation bemerkt Julia einen Unterschied: Sie hat plötzlich wesentlich mehr Energie und sie versteht sich mit ihrem Ehemann besser. Kramer, und das ist interessant, führt das auf einen „amphetamine-like effect“ (Kramer 1997, S. 28) zurück, den man häufig bei der Medikation mit Antidepressiva zu Beginn der Behandlung beobachten könne. Dieser AmphetaminEffekt ist nach drei Wochen verschwunden. Aber es geht mit Julia prinzipiell bergauf. Es gibt zwar noch Höhen und Tiefen, diese hätten aber mit Stressoren von außen zu tun. Aber auch das ist nur eine vorübergehende Phase, schließlich verändert sich auch bei ihr, wie bei Tess, die Persönlichkeit. Sie wechselt ihren Job und – große Überraschung – möchte sich einen Hund anschaffen. Das sei vorher wegen ihres Reinlichkeitszwanges undenkbar gewesen. Julia kommt in die „Besser-als-gut-Phase“. Sie regt sich nicht mehr auf, wenn ihre Kinder sich bekleckern, und sie kann das Krankenhaus, in dem sie als Krankenschwester arbeitet, verlassen, obwohl die Betten noch nicht alle gemacht sind. Daraufhin wird die Dosis wieder gesenkt, gefolgt von folgender Selbsterkenntnis von Julia: „Ich bin wieder eine Hexe“. (Kramer 1997, S. 29) Offensichtlich werden die Patienten von Kramer zumindest psychisch von der Substanz abhängig. Die Schwierigkeit für Kramer besteht nun darin, festzustellen, was Julia eigentlich hat. Sie ist für ihn nicht diagnostizierbar, denn für eine richtige Zwangs-

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störung reichen die Symptome nicht aus. Solche Patienten, die zwar auf Medikamente reagieren, die aber nicht diagnostizierbar sind, denen keine identifizierbare Krankheit zuzuordnen ist, dennoch in ein Krankheitsschema zu pressen, bedeute, eben dieses Schema gehörig auszuweiten. Dadurch würden aber wesentlich mehr Menschen „psychisch krank“, meint Kramer. Interessant ist, dass Kramer zu Beginn der 90er Jahre noch nicht sieht, dass Depression zur Modekrankheit wird. Das Medikament, das er beschreibt, stammt zwar aus der Gruppe der Antidepressiva, behandelt werden durch es jedoch wesentlich mehr und von der Depression unterschiedene Krankheiten: Zwang, Ängste, „prämenstruelles Syndrom“, substanzgebundene Sucht, ADS, Essstörungen und weitere Störungen. (Kramer 1997, S. 45) Anhand der Zwangsstörung und nicht anhand der Depression fragt sich Kramer, ob man denn möglicherweise normale Zustände, sogar in gewisser Weise Tugenden mit diesem Medikament verändern oder aufheben könnte, Tugenden, die, wenn sie übertrieben werden, zum Zwang werden können, z.B. Verantwortung, Zuverlässigkeit, Pünktlichkeit, Ordnungssinn, Wachheit, Detailverliebtheit. Er beschreibt das Problem der Grenzziehung zwischen noch normalen und schon krankhaften Zuständen nicht wie andere Autoren anhand der Depression sondern anhand des Zwangs. Das leuchtet ein: Während auch leichte Formen der Depression immer ein wenig den Eindruck von Schwächlichkeit und Unterlegenheit vermitteln, ist das beim Zwang umgekehrt: Leichte Formen vermitteln den Eindruck der Kontrolle, des im-Griff-Habens, also eher gesellschaftlich erwünschte Tugenden. Gewisse leichte Formen von Zwängen würden einen „evolutionären Vorteil“ schaffen. (Kramer 1997, S.35) Kramer meint, dass es solche Bestrebungen, kosmetische Pharmakologie oder Hirndoping zwar schon länger gebe, aber in anderer Form. Die berühmten „Mothers little Helpers“, also z.B. Barbiturate und Amphetamine, Beruhigungsmittel und Aufputschmittel führten nicht zu einer Persönlichkeitsveränderung, sondern nur zur Hebung oder Absenkung des Aktivitätsniveaus. An der „Ernsthaftigkeit“ einer Person würden sie jedenfalls nichts ändern. Prozac wirke da komplexer. Und in gewisser Weise, so Kramer, sei Prozac eine „feministische Droge“. Prozac trage zum „Empowerment“ zur Selbstbefähigung der Frauen bei – im Gegensatz zu den „Mothers little Helpers“. Insofern sei Prozac eine „emanzipative Droge“. Vor dem Hintergrund dieser emanzipativen Drogen seien nichtbiologische Behandlungsmöglichkeiten nur noch Palliativmaßnahmen. Sie würden den (Welt-)Schmerz der Patienten erträglich machen, anstatt ihn – mittels Persönlichkeitsveränderung – abzustellen. Die Medikamentierung spielt jetzt die Rolle, die die Psychotherapie hatte: Sie verhilft den Patienten, Glück und Zufrie-

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denheit zu erreichen, indem sie ihnen Anpassung an zeitgenössische Normen ermöglicht. Tatsächlich geht es Kramer nicht darum festzustellen, ob Menschen wirklich depressiv oder zwangskrank sind. Diese und andere psychischen Krankheiten werfen „Halbschatten und Halbschatten von Halbschatten“. Das bedeutet, dass sie nicht klar zu definieren sind, und dass in ihren Bereich auch andere menschliche Wesenszüge fallen wie die erwähnte „Ernsthaftigkeit“, eine pessimistische Grundhaltung etc. Auch diese können jetzt chemisch behandelt werden. Ratgeber wie „Sorge dich nicht, lebe!“ etc. kann man also beruhigt zum Altpapier geben, denn die Lösung ist in Form einer Pille vorhanden. Im letzten Kapitel, „Die Botschaft in der Kapsel“, versucht Kramer Kriterien aufzustellen, die die Behandlung von nicht-kranken Personen rechtfertigen. Dazu unterscheidet er Prozac von „Drogen“. Prozac sei keine Droge, denn es „ruft Freude hervor, zum Teil, indem es das Subjekt dazu befähigt, sich sozialen und produktiven Aufgaben zu widmen. Und im Gegensatz zu Marihuana, LSD und sogar Alkohol ist es nicht selbst der Ursprung des Vergnügens und es verzerrt die Wahrnehmung nicht. Prozac verschafft lediglich unhedonistischen Personen Zugang zu Gefühlen der Freude, wie sie normale Menschen auch haben.“ (Kramer zit. nach Ehrenberg 2004, S. 363)

Kramer meint, dass der Gebrauch eines solchen Mittels insofern keinen Bruch in der Gesellschaft darstelle, weil solche Mittel in der Medizin gut eingeführt seien, und zwar in der Form von medizinkosmetischen Mitteln gegen Glatzen, Akne, Schönheitschirurgie, Östrogene in der Menopause etc. Kramer vergleicht allerdings Prozac mit den psychedelischen Drogen Marihuana und LSD, die den Blick nach innen lenken. Vergleicht man Prozac dagegen mit Kokain, Amphetaminen oder auch Ecstasy (MDMA), sieht man, dass diese Drogen aus den selben Gründen wie Prozac eingesetzt werden: um in einer „außengelenkten“ Gesellschaft mithalten zu können, um fit und wach zu werden bzw. zu bleiben. So gesehen ist Prozac als Psychoenhancer eine Droge. Im Nachfolgewerk „Against Depression“67 radikalisiert Kramer seine Ansichten. Die Einstellung, die die Menschen bisher zur Melancholie hatten, sei falsch. Das sei ähnlich wie bei Tuberkulose. Diese hätte lange Zeit als Zeichen für Vornehmheit gegolten. Heute lebten wir in einer Zeit, in der die Ausrottung der Depression ein soziales Ziel sei. (Kramer 2005, S. 111) Depression sieht er als “occupying government“. (Ebda., S. 25)

67 Peter D. Kramer: Against Depression. New York 2005.

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Prozac as a Way of Life „In den USA wird dieses Mittel [Fluctin] unter dem Namen Prozac wegen seiner Antriebssteigerung mit dem Ziel der maximalen Leistungssteigerung von Millionen Anwendern als Lifestyle-Droge missbraucht.“68 Auf genau diesen Gebrauch bezieht sich die Aufsatzsammlung „Prozac as a Way of Life“,69 nämlich auf die Fragestellung: Ist der Missbrauch ok? Und die Antwort, die gegeben wird: Im Großen und Ganzen: Ja. Prozac (und ähnliche Substanzen) ist eine Droge, die in der kapitalistischen Wettbewerbsgesellschaft Vorteile verspricht. Interessant ist, dass die Droge in dem Band weitgehend ohne Bezug auf die Krankheit Depression behandelt wird. Peter Kramer war nicht der erste, der den „better than well“-Effekt von SSRI bemerkte. Der erste war der Schwede Arvid Carlsson von der Universität Göteborg. Er wird mit den Worten zitiert: „Es gibt Leute, die sich so viel besser fühlen und die keine wirkliche Diagnose haben […] Ich erinnere mich an Menschen, deren Einkommen stieg, als sie begannen, das Medikament zu nehmen.“ (Elliot 2004, S. 3) Diese Äußerungen bezogen sich auf das Antidepressivum Zimelidin (Normud®), das erste SSRI, das wegen seiner Nebenwirkungen vom Markt genommen wurde. Carl Elliot schreibt, dass es Beweise dafür gibt, dass SSRIs gegen klinische Depression erfolgreich angewendet werden können, dass es aber auch Studien gibt, die das Gegenteil beweisen, dass nämlich diese Substanzen nur Placebowirkung zeigen (s.u.). In den 90er Jahren nach der Einführung von Prozac® (D: Fluctin®) (Fluoxetin) kamen noch weitere, sehr ähnliche Substanzen auf den Markt: Paxil® (D: Seroxat®) (Paroxetin), Luvox® (D: Fevarin®) (Fluvoxetin), Zoloft® (Sertralin), Effexor® (D: Trevilor®) (Venlefaxin) und Celexa® (D: Cipramil®) (Citalopram). Diese Mittel werden aber bei weitem nicht nur gegen Depression eingesetzt, sondern gegen alle Formen „psychischer Auffälligkeit“ oder Unwohlsein wie soziale Phobie, Panikstörung, Zwangserkrankung, „Body Dysmorphic Disorder“ (Angst davor, missgestaltet zu sein), Essstörungen, Posttraumatische Stressstörung, Impulskontrollstörungen, Tourette-Syndrom, zur Nikotinentwöhnung, beim „prämenstruellen Syndrom“ etc. Man kann also die These aufstellen, dass diese Medikamente und ihre Bandbreite zu der inflationären Verwendung des Begriffs „Depression“ beigetragen haben. Es geht also gerade nicht um die eindeutig definierte Depression, sondern um ein großes Spek-

68 Nils Grewe et al.: Umgang mit Psychopharmaka. Bonn 2007, S. 56: Eintrag zu Fluoxetin (Fluctin). 69 Carl Elliot, Todd Chambers (Hg.): Prozac as a Way of Life. North Carolina 2004.

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t rum von Störungen, die nicht nur in der Alltagssprache unter dem Begriff Depression zusammengefasst werden, sondern die dies auch marketingtechnisch sind. Depression ist so gesehen heute ein Synonym für leichte psychische Störung, in etwa so, wie der Begriff der Neurose vor dem Siegeszug der biologischen Psychiatrie und davor der Begriff „Neurasthenie“. Kramers Angst In seinem Aufsatz „Kramers Angst“ setzt sich der Philosoph Erik Parens mit der Frage auseinander, ob Prozac eine „moralisch neutrale Technologie“ sei. Diese Fragestellung ist zentral für diesen Band. Zwar trage Prozac dazu bei, dass Traurigkeit und Trauer in den USA – im Unterschied zum Beispiel zu Griechenland – pathologisiert werde. Dieses Argument sei aber kulturrelativistisch, da Prozac Menschen, die leiden, Hilfe verspreche. Wenn jemand leide, weil er nicht die aktuellen Normen einer Gesellschaft erfülle, soll man ihm helfen; ihm helfe nicht der Hinweis darauf, dass sein Leiden in einer anderen Gesellschaft völlig normal sei.70 (Parens 2004, S. 26) Ein weiteres Argument gegen Prozac-Konsum besage, dass dieses Mittel zu jeder Zeit von jedermann eingenommen werden könne, um seine Persönlichkeit zu ändern. Aber Prozac, so Parens, sei kein Stimmungsaufheller (mood brightener). Prozac bewirke auch keinen Rückzug (self-absorption), wie Marihuana und LSD. Es bewirke außengeleitete (hier kommt der David Riesmans Begriff der other-directedness ins Spiel) soziale Aktivitäten. Man werde also geselliger. Prozac könne zu guten oder schlechten Zwecken verwendeten werden. An und für sich, so seine Argumentation, sei es „moralisch neutral“. Auch diene Prozac nicht nur der Anpassung. So wie Feuer, das zum Kochen oder zum Kampf verwendet werden kann, könne Prozac eingesetzt werden, um Anpassung oder Rebellion zu ermöglichen. Kramers Angst wird von Parens für gegenstandslos erklärt. Kramers Angst oder besser Skrupel bezieht sich darauf, dass er die Menschen möglicherweise eigentlich nur „dopt“ und sie nicht heilt. Kramers Angst bezieht sich darauf, dass Prozac den Menschen zwar bessere Anpassung ermöglicht aber keine Heilung von einer bestimmten Krankheit. Diese Angst sei deshalb obsolet, weil nichts Schlimmes dabei sei, Menschen Anpassung an gesellschaftlich gegebene Normen zu ermöglichen. Prozac sei in diesem Sinne eine emanzipative Droge, eine Droge der Teilhabe. Die Angst Kramers sei auch deshalb gegenstandlos, so Parens weiter, weil die Welt nun mal so ist, wie sie ist, eine kapitalistische Wettbewerbsgesellschaft. Diese Welt habe Prozac hervorgebracht und deshalb sei der

70 Warum eigentlich nicht? Das wäre dann eine Form des „Modelllernens“.

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Einsatz des Mittels zu Dopingzwecken erlaubt. Parens hält Kramers Angst für den Ausdruck des amerikanischen „pharmakologischen Kalvinismus“. Kramer meint nämlich, dass durch die Wirkung von Prozac möglicherweise ein Druck in der Öffentlichkeit aufgebaut werde, ebenfalls zu der Droge zu greifen, um in den Genuss des „Enhancements“ zu kommen. Dies, so Parens, würde allerdings wegen des „pharmakologischen Kalvinismus“ in der amerikanischen Bevölkerung zu Problemen führen. Viele Amerikaner teilten nämlich die Einstellung, dass es schlecht sein muss, wenn eine Droge einem zu guten Gefühlen verhilft. Dank des Erfolges von Prozac, so nun Parens Argumentation, gäbe es diese Einstellung heute nicht mehr: „Today, however, in a land of multi-billion drug sales, it is hard to find much evidence that that beast is any longer at the prowl.“ (Parens, ebda. S. 31) Parens rechtfertigt die Drogengesellschaft nicht nur, er begrüßt sie auch. Und das mit bester utilitaristischer Attitüde: gut ist, was Amerika nützt, und dazu gehört aus seiner Perspektive Prozac. Neben Ethik und Moral spielt auch der Begriff der Authentizität und der „self-creation“ eine Rolle in der amerikanischen kulturwissenschaftlichen Debatte über die Verwendung der SSRI. Kann eine Droge, die offensichtlich so etwas wie den „Urzustand“ des Stoffwechsels einer Person ändert, der vorgibt wie diese Person gestimmt ist, der ihre Befindlichkeit, ihre grundsätzliche Sicht auf die Dinge bestimmt, die Authentizität, die Echtheit dieses Menschen in Frage stellen? Natürlich ist das auch wieder ein ethisches Problem. Es geht um die Frage, ob die Dauermedikation mit Prozac nicht einfach Betrug am Selbst ist. Genau am Begriff dieses Selbst scheiden sich auch die Geister in dieser Diskussion: Die einen gehen von einem bestimmten unabänderlichen Selbst aus, die anderen davon, dass es kein gegebenes Selbst gibt, sondern die Möglichkeit einer „SelbstKreation.“ Vertreter der ersten Richtung lehnen also Prozac ab, Vertreter der zweiten Richtung hingegen befürworten Prozac. Vermischt wird das Problem der Selbst-Kreation in dem Aufsatz des Philosophen David DeGrazia71 mit dem Problem des freien Willens: Wenn der Wille zur Persönlichkeitsveränderung durch Prozac vorhanden ist, dann sei dieser authentisch, zum Selbst gehörend und also ethisch einwandfrei, meint er. Woher der Wille allerdings kommt, und ob der nicht naheliegenderweise gesellschaftlich vorgegeben oder verschrieben ist, wird nicht hinterfragt. So gesehen kann man von einer ethisch gerechtfertigten chemischen Gleichschaltung weiter Teile der US-amerikanischen Bevölkerung sprechen.

71 David deGrazia: Prozac, Enhancement, and Self-Creation. In: Elliot et al., a.a.O., S. 33.

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Von der Entfremdung zur Spiritualität Carl Elliot, einer der Herausgeben des Bandes, macht es sich in seinem Artikel „Pursued by Happiness and Beaten Senselessness – Prozac and the American Dream“ besonders einfach. Er behauptet, Depression sei Entfremdung und diese auf einen Mangel an Spiritualität zurückzuführen. Genauer gesagt sei die Suche nach Spiritualität in den USA eine niemals endende Geschichte. Man könne sich aus einem Baukasten eine Patchwork-Spiritualität zurechtbasteln, diese sei aber immer unbefriedigend, da nie vollständig und immer kontingent, also auch anders und eventuell besser möglich. Der Begriff der Entfremdung wird nicht in seiner marxistischen Bedeutung diskutiert. Entfremdung ist für ihn ein Gefühl des Unwohlseins. Dieses Gefühl ist auf ein Nicht-Passen von aktuellem Lebensstil und den Erwartungen, die andere an die eigene Person richten, zurückzuführen. Man ist also immer von etwas entfremdet, z.B. von der Familie, der Arbeit, der Kultur, „den Göttern“ (Elliot 2004, S.129) etc.. Entfremdung ist also Fehlanpassung. Elliot behauptet ein daraus resultierendes Unbehagen in der US-Kultur. Die Frage, die sich jetzt stellt, lautet natürlich: Ist es ok, dass dieses Unbehagen durch Prozac oder ähnliche Drogen erträglicher gemacht wird? In Elliots Worten: Darf man Sisyphos Prozac vorenthalten? Man kann – so Elliot – nicht seiner Kultur entkommen, man kann die Gesellschaft nicht ändern. Und zur USamerikanischen Kultur gehören spätestens seit Mitte des 20. Jahrhunderts die berühmten „mothers little helpers“, also Beruhigungspillen. Eliot schließt, dass es jedem frei stünde zu entscheiden, welche Glückspillen er nehme. SSRI hätten auf unterschiedliche Menschen unterschiedliche Wirkungen. Im Großen und Ganzen sei aber gegen diese Drogen-Kultur nichts einzuwenden. Sein Argument: Prozac befreit die Menschen (möglicherweise) von ihrem Leiden. Elliots Beitrag ist ein Plädoyer für eine kapitalistische Palliativkultur, die als alternativlos dargestellt wird. Wir müssen die Welt so akzeptieren wie sie ist, können wir das nicht, gibt es entsprechende Mittel. Der dritte Teil der Aufsatzsammlung befasst sich dann auch konsequenterweise mit Prozac-Verherrlichung. Es wird eine Parallele zwischen Buddhismus und Prozac-Einnahme gezogen. Susan Squier schreibt: „Prozac is Zen-Medicine.“72 Prozac wie Zen seien der „weglose Weg, das torlose Tor“. Die Analogie zur „Zen-Medizin“ geht auf Lauren Slaters Buch „Prozac Diary“ zurück. Dabei handelt es sich um ein verherrlichendes Drogentagebuch. Slater war depressiv, Borderline-Patientin und zwangskrank, hat das College geschmissen etc. Dann

72 Susan Squier 2004: The Paradox of Prozac as an Enhancement Technology. In: Elliot et al. 2004, a.a.O. S 146.

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bekommt sie Prozac. Und nach 10 Jahren Prozac-Einnahme hat sie einen Harvardoktortitel in Psychologie. Im „Prozac-Tagebuch“ beschreibt sie ihre Erfahrungen mit der Droge als „ambivalent“, obwohl sie der Droge alles zu verdanken hat. Es sei ein Schock gewesen, durch Prozac normal zu werden. Sie beschreibt ihre, einer Nebenwirkung Prozacs zu verdankenden, sexuellen Dysfunktionen und ihre Angst davor, die Fähigkeit zu verlieren, düstere Gedichte zu schreiben. Tatsächlich verliert sie diese Fähigkeit, sie favorisiert plötzlich auch eine andere Art von Philosophie: Anstatt für Søren Kierkegaard interessiert sie sich nun für den christlichen, buddhistisch inspirierten Mystiker Thomas Merton (1915– 1968). In der Tradition Mertons, der Trappistenmönch war, schreibt Slater, dass das Antidepressivum der Spiritualität dieses Ordens gleiche: Im Vordergrund stehe bei den Trappisten Selbstverleugnung, Demut und Askese. Die Askese der Trappisten äußere sich in strengen Schweigeregeln, harter Handarbeit, insbesondere in der Landwirtschaft, und strengen Abstinenzregeln. Die Trappisten führen ein kontemplatives Leben mit strenger Klausur. Was also meint Slater? Sie begrüßt ein Gefühl, was andere vermutlich als beängstigend ablehnen. Jedenfalls lässt sich sagen, das Prozac offenbar die Wirkung einer potenten Droge haben kann, wenn man sich plötzlich als eine Mischung aus Trappisten- und ZenMönch sieht. Genau das findet Slater aber gut; Prozac habe ihr dazu verholfen, ein „leeres Gefäß“ zu werden, mit ihren psychischen Problemen abzuschließen und eine erfolgreiche Wissenschaftlerin zu werden. Prozac ist so gesehen der amerikanische Traum. Der letzte Aufsatz schließlich behandelt Depression als „spirituellen Hilferuf.“73 Die Frage lautet hier, ob Prozac den Weg zu spirituellen Einsichten versperre. „Würde Buddha auf Prozac ein erleuchtetes Leben geführt haben?“ (Chambers 2004, S. 197) Amerikanische Buddhisten würden sich diese Frage stellen. Denn vermutlich hätte sich Buddha dann nicht entschlossen, seine Familie zu verlassen und seinen Weg zu gehen. Dasselbe gelte auch für viele andere buddhistische Heilige und Mönche. Die Frage des Aufsatzes ist ganz praktisch: Kann man als spiritueller Mensch, – hier fast immer als Buddhist – Prozac nehmen? Und die Antwort lautet: im Prinzip ja. Es werden Fälle von depressiven Patienten geschildert, die erst aufgrund der SSRI ihren spirituellen Weg fanden. Andererseits wird auch der Buddhismus selbst als Weg aus der Depression geschildert. Für Christen in den USA stellt sich die Frage ähnlich. Ist Prozac deshalb abzulehnen, weil die Pille offensichtlich etwas vermag, was der Heilige Geist nicht kann? Oder ist die Pille als Werk Gottes dazu ausersehen, uns den Weg aus dem Leiden zu zeigen? Hier sieht man deutlich, dass es in der amerika-

73 Todd Chambers 2004: Prozac for the Sick Soul: In Prozac as a Way of Life, a.a.O.

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nischen Diskussion gar nicht um Krankheit, sondern vielmehr um einen Lebensstil geht.

K RITIK

DES

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In buddhistischen Kulturen, in denen auch Zen eine Rolle spielt, ist Depression keine Volkskrankheit und das amerikanische Thema einer „Prozac-Spiritualität“ spielt dort keine Rolle. Diese amerikanische Art der „Spiritualität“ ist tatsächlich eine McSpiritualität.74 Laurence Kirmayer75 berichtet über Prozac in Japan. Dabei bestätigt er Gary Greenbergs Eindruck, dass in Japan Antidepressiva im Vergleich zu den USA und auch Europa sehr wenig verbreitet seien. Greenbergs Beobachtung, dass Depression in Japan bis heute im Wesentlichen mit Benzodiazepinen behandelt wird, wird bestätigt. Außerdem werden depressive Symptome in buddhistischen Kulturen – z.B. in Sri Lanka – nicht als „krank“ oder „behindernd“ gesehen. So behauptet der Anthropologe Gananath Obeyesekere, dass er in Sri Lanka viele Menschen kennen würde, die nach westlichen Kriterien an einer Depression leiden würden. In Sri Lanka sei die Depression jedoch ein Zeichen für Erleuchtung und Weisheit.76 „Echte Spiritualität“ zeigt sich eben nicht in der Negation von „Depression“. Der Berliner Psychiater Stefan Weinmann schreibt dazu: „Eine ausgeprägte Depression wird in hinduistischen und buddhistischen Kulturkreisen oft nicht als Krankheit, sondern vielmehr als besondere spirituelle Einsicht und Erfahrung angesehen.“77

74 Wie Fastfood eine Mahlzeit vorgaukelt, so reicht bei der McSpiritualität die Einnahme einer Pille (oder der Besuch eines x-beliebigen Positiv-Denken-Energie-Seminars) um Spiritualiät zu entdecken. Dass das in die Depression führen kann, leuchtet ein. 75 Laurence Kirmayer: The Sound of One Hand Clapping. Listening to Prozac in Japan. In: Prozac as a Way of Life, a. a. O. 76 G. Obeyesekere: Depression, Buddhism and the Work of Culture in Sri Lanka. In: Culture and Depression, ed. A. M. Kleinmann und B. Good, Berkeley 1985. (Zit. nach Laurence Kirmayer: The Sound of One Hand Clapping. Listening to Prozac in Japan. In: Prozac as a Way of Life. 77 Stefan Weinmann: Mythos Psychopharmaka. Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen. Bonn 2008, S. 55.

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Die Diskussion über die Wirkung von Antidepressiva Immer wieder gibt es Zweifel, ob Antidepressiva jenseits einer Placebowirkung überhaupt wirken. Irving Kirsch (Department of Psychology, University of Hull, United Kingdom) und Mitarbeiter stellten 2009 zum dritten Mal innerhalb der letzten 10 Jahre die Wirksamkeit von Antidepressiva auf Basis einer MetaAnalyse in Frage.78 Dabei berichtet Kirsch nichts Neues. Es ist laut einer Stellungnahme der DGPPN (deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde) zu Kirsch79 in zahlreichen Studien beobachtet worden, dass sich ein Antidepressivum desto ausgeprägter von einem Placebo abgrenzt, je schwerer die Depression der untersuchten Patienten ist. Das haben Kirsch et al. nun an Zulassungsstudien, die der FDA vorgelegt worden waren, repliziert. Dabei sei die signifikante Überlegenheit der Antidepressiva gegenüber Placebo einer abnehmenden Wirkung von Placebo bei zunehmend schwerer Depression zuzuschreiben. Kirsch et al. finden aber, dass selbst bei den schwerer Kranken der Unterschied zwischen den berücksichtigten Antidepressiva und Placebo so gering ist, dass ihre klinische Relevanz (im Sinne eines Nutzens für die Patienten) fragwürdig ist. Jonathan Cole, ehemaliger Direktor der psychopharmakologischen Abteilung des National Institutes of Mental Health, meinte bereits im Jahr 1971: „Anxiolytische und antidepressive Mittel werden überbewertet. […] Zahlreiche Depressionen, besonders die neurotischen, bessern sich auf jeden Fall von selbst, und schwere endogene Depressionen werden besser mit Elektroschocks behandelt.“80 Die Neuroleptika, meint er, seien unabdingbar. Die Antidepressiva könnten jedoch durch den Elektroschock und einige gut ausgewählte Psychotherapien ersetzt werden. Dass Antidepressiva nicht gut wirken, wird neuerdings auch in Deutschland popularisiert. So wird in der „Apotheken Umschau“ vom 15.08.2010 der klinische Pharmakologe Bruno Müller-Oerlinghaus zitiert: „Es ist nicht zu leugnen,

78 Kirsch, I., Deacon, B.J., Huedo-Medina, T.B., Scoboria, A., Moore, T.J., & Johnson, B.T.: Initial severity and antidepressant benefits: A meta-analysis of data submitted to

the

Food

and

Drug

Administration.

PLoS

Medicine

26.02.2008.

http://www.plosmedicine.org/article/info:doi/10.1371/journal.pmed.0050045. 79 Stellungnahme Nr. 3, 27. Februar 2008 http://www.dgppn.de/ aktuelles/detailansicht/ browse/3/select/presse- 2008/article/249/wirksamkeit.html. 80 J. Cole: The Future of psychopharmacology. In: R. R. Fieve (Hg.): Depression in the 1970´s. Modern Theory and Research. Amsterdam Excerpta medica, International Congress Seriers 239, zit. Nach Ehrenberg 2004, S.105.

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dass Antidepressiva im Vergleich zu einem Placebo kaum besser wirken. Der Unterschied ist sogar geringer als oft behauptet und vor allem angenommen wurde.“81 Diese Aussage steht in krassem Widerspruch zu den derzeitigen Lehrbuchinhalten in Deutschland, wonach gilt: „Alle zugelassenen Antidepressiva sind einer reinen Placebobehandlung überlegen und haben eine weitgehend vergleichbare Ansprechrate von 60 bis 70 Prozent.“82 Erstaunlich ist das kritische Zitat in der auflagenstarken und frei erhältlichen „Apotheken Umschau“, weil es sich dabei um ein Organ handelt, das gewöhnlich – auch und gerade beim Thema Depression – dem angesagten Kanon der Schulmedizin folgt, also behauptet, dass Psychopharmaka „gut wirken“. Machen Antidepressiva depressiv? Was für Langzeitwirkungen hat die massenhafte Gabe von Psychopharmaka und besonders die der populären Antidepressiva bzw. Tranquilizern? Robert Whitackers These: Die Menschen, die mit Antidepressiva (oder Tranquilizern) behandelt werden, entwickeln eine Depression – auch wenn sie vorher keine gehabt haben. So erst käme es zu einer Volkskrankheit Depression. Um diese These zu belegen, argumentiert er biologisch – gehirntechnisch. Zuerst wiederholt er die Argumente, nach denen Antidepressiva einem Placebo nicht überlegen seien. Melancholie sei genau wie Depression etwas, was jeden Menschen hin und wieder treffen kann. Patienten mit der Diagnose unipolare Depression wurde noch in den 60er Jahren eine günstige Genesungsprognose in Aussicht gestellt. Depression war früher in den USA eine Krankheit von mittelalten und alten Menschen. Im Jahr 1956 waren 90 Prozent der Patienten mit einer zum ersten Mal auftretenden Depression mindestens 35 Jahre alt (Whitacker 2010, S. 151). Im selben Jahr befanden sich 38.200 Personen wegen Depression in psychiatrischen Krankenhäusern oder Abteilungen. 2008 gibt das NIMH die Zahl derer, die behindert (disabled) sind durch Depression mit fünfzehn Millionen an, davon seien 58% „serverly impaired“,83 das sind neun Millionen Menschen in den USA. Noch in den 60er und 70er Jahren verkündete die NIMH: „Depression is, on the whole, one of the psychiatric conditions with the best prognosis for eventual

81 Apotheken Umschau, 15. 08. 2010, S. 24. Diese kostenlose Zeitschrift hatte 2009 eine Auflage von 9,63 Millionen Stück und 19,97 Millionen Leser (Wikipedia). 82 Lieb et al., a.a.O., S. 169. 83 W. Eaton: The burden of mental disorders. Epidemiologic Reviews 30 (2008) 1–14. Zit. nach Whitacker 2010, S. 170.

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recovery with or without treatment. Most depressions are self-limited.“84 Die Trizyklika und die MAOIs seien in den 60er und 70er Jahren als weitgehend wirkungslos enttarnt worden. Einige Forscher meinten sogar, dass es nur der Placeboeffekt, bzw. der Effekt eines aktiven Placebos sei, der diese Antidepressiva wirken ließe. Ein „aktives Placebo“ ist ein Placebo ohne medizinische Wirkung aber mit Nebenwirkung, z.B. einem trockenen Mund. Der gesellschaftliche Glaube an die Wirksamkeit von Antidepressiva sei dann erst mit der Zulassung von Prozac im Jahr 1988 wiederbelebt worden, so Whitacker. Aber auch der angebliche Erfolg von Prozac wurde von Wissenschaftlern bald in Zweifel gezogen. Die erste Review-Studie aus dem Jahr 2000 stellte fest, dass SSRIs den alten Trizyklika nicht und Placebos nur schwach überlegen waren. Arif Khan85 stellt fest, dass 42% der Patienten seines Samples auf Trizyklika reagierten, 41% auf SSRI und 31% auf ein Placebo. Weitere Review-Studien bis zu Irving Kirschs Studie aus dem Jahr 2008 kamen zu ähnlichen Ergebnissen. (Whitacker 2010, S.155) Whitacker berichtet auch von einer deutschen Eigenheit in Bezug auf die Behandlung von Depression: die gute Wirksamkeit von Johanniskraut. So schrieb 1996 das British Medical Journal, dass in 13 placebokontrollierten Versuchen 55% der mit Johanniskraut behandelten deutschen Patienten signifikante Verbesserung der Depression äußerten im Vergleich zu 22%, die über Verbesserungen unter Placebos berichteten. Das sind für synthetische Antidepressiva unerreichbare Werte. Interessanterweise ist die Wirkung von Johanniskraut offenbar kulturabhängig. Als in den USA ähnliche Versuche durchgeführt wurden, berichteten nur 15% der Kandidaten über Verbesserungen. Nahegelegt werden kann hier, dass die Versuchsanordnung oder der Versuchsaufbau von vornherein niedrige Erwartungen bei den US-Patienten provozierte. 2002 wurde der Versuch als doppelblinde Studie wiederholt mit folgendem Aufbau: Johanniskraut wurde gegen Zoloft® und ein Placebo getestet. Johanniskraut, dessen Wirkweise nicht bekannt ist, kann, weil es bestimmte Nebenwirkungen wie einen trockenen Mund erzeugt, mindesten als aktives Placebo gewertet werden. Das Ergebnis: 24% der Patienten, die mit Johanniskraut behandelt wurden, hatten einen „full response“, genau wie 25% der Zoloftgruppe und 32% der Placebogruppe. Place-

84 Jonathan Cole: Therpeutic effacy of antidepressant drugs. In: Journal of the American Medical Association 190 1964, 448–55. (Zit. nach Whitacker, 2010, S. 152). 85 Arif Khan: Symptom reduction and suicide risk in patient treated with placebos in antidepressant clinical trials. Archieves of General Psychiatry 57 (2000) S. 311–17. (Zit. nach Whitacker 2010, S. 155).

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bos waren hier am erfolgreichsten.86 Die Forscher schlussfolgerten, dass es nun erwiesen sei, dass Johanniskraut nicht wirke, und gingen über die Tatsache hinweg, dass das genauso auf Zoloft zutraf. Was machen die Antidepressiva, wenn sie nicht gegen Depression wirksam sind? Sie zerstören den Hirnstoffwechsel und chronifizieren die Depression, so Whitacker. Genau wie Neuroleptika und Benzodiazepine stören Antidepressiva das Neurotransmittersystem im Gehirn. Was sie ja auch sollen. Aber sie stören es anders als offiziell beschrieben. Für eine kurze Zeit können Antidepressiva helfen, eine Depression abzuschalten. Je länger sie eingenommen werden, desto höher sei das Risiko einer Sensibilisierung für Depression auch während der Einnahme der Mittel. Je länger die Einnahme von Antidepressiva, desto höher die Wahrscheinlichkeit eines Rückfalls – ganz nach der Logik der Suchtentfaltung illegaler Drogen. Diese Erkenntnis sei 1994 von dem italienischen Psychiater Giovanni Fava87 veröffentlicht worden und 1999 bestätigt worden: „Longterm antidepressant use may be depressiogenic.“88 Schon 1994, nachdem Fava seine Ergebnisse veröffentlicht hat, erzählte der einflussreiche Psychiater Donald Klein von der Columbia Universität der Zeitschrift Psychiatric News, dass diese Erkenntnisse niemanden interessieren: „The industry is not interested, the NIMH is not interested and the FDA is not interested. Nobody is interested.“89 Stattdessen wurde seit Mitte der 90er Jahre behauptet, Depression sei eine chronische, rezidivierende (wiederkehrende) und bösartige Erkrankung.90 In knapp 40 Jahren habe sich das Wesen der Depression also deutlich verändert, schreibt Whitacker. Aus einer gut zu behandelnden Krankheit, die meistens von selbst ausheilte, wurde eine chronische Erkrankung mit möglicherweise lebenslangem Medikamentenkonsum. Whitacker meint, dass man Depression nicht medikamentös behandeln solle. Auch dazu zitiert er Studien, darunter auch eine der WHO. Demnach erfreuen sich unbehandelte Menschen einer besseren generellen Gesund-

86 Hypericum Trial Study Group: Effects of Hypericum perforatum in major depression disorder. In: Journal of the American Medical Association 287 (2002) 1807–14. (Zit. nach Whitacker 2010, S. 156 f.). 87 Giovanni Fava: Do antidepressant and antianciety drugs increase chronicity in affective disorders? In: Psychotherapy and Psychosomatics 61 (1994) 125–131. 88 R. El-Mallakh: Can long-term antidepressant use be depressiogenic? Journal of Clinical Psychiatry 60 (1999): 263 (nach Whitacker 2010, S. 160). 89 „Editorial sparks debate on effects of psychoactive drugs“. In: Psychiatric News, 20.05.1994 (Zit. nach Whitacker 2010, S. 161). 90 Vgl. zum Problem der Therapieresistenz: A. J. Rush: Aktueller Stand und Perspektiven der Forschung. In: Bauer, Berghöfer et al. 2005, S. 4 ff.

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heit, die depressiven Symptome seien viel milder. (Whitacker 2010, S. 165 f.) Depression sei iatrogen erzeugt; das gälte noch stärker vom „bipolar boom“, also von der plötzlichen Zunahme der Häufigkeit der bipolaren Störung. Psychotrope Drogen – legale und illegale – hätten diesen ausgelöst. Whitacker zitiert Studien, die belegen, dass bei vielen Patienten der erste bipolare Schub nach dem Konsum von Drogen ausgelöst wurde. Dazu zählt für ihn auch Marihuana, nicht aber Alkohol. So soll laut einer holländischen Studie ein Drittel aller bipolaren Störungen dort durch Marihuana ausgelöst worden sein. (Whitacker 2010, S. 180) Whitacker vertritt genauso wie die von ihm kritisierte Mainstreampsychiatrie einen neurochemischen Reduktionismus, allerdings auch einen „pharmakologischen Kalvinismus“. Aber hat er möglicherweise recht? Gary Greenberg, Psychotherapeut und Autor von „Manufacturing Depression“ ist selbst depressiv. Greenberg erzählt in seinem Buch über seinen Drogenkonsum, dass er gelegentlich Marihuana rauche und mit 18 Jahren seinen ersten LSD-Trip eingenommen habe. Greenberg geht aber nicht davon aus, dass sein Drogenkonsum depressionsverursachend war, vielmehr sieht er Lebenskrisen als Verursacher. Und – in sehr starkem Gegensatz zu Whitacker – bewertet er die Droge Ecstasy (MDMA) positiv – als wahres Antidepressivum. Er berichtet über die Einnahme einer einzigen Pille, die ihn für Jahre von seiner Depression befreit habe. (Greenberg 2010 S. 158) Warum kam es zu der von Whitacker beschriebenen gefährlichen Entwicklung? Whitackers Antwort lautet so wie die vieler amerikanischer Experten: auf Grund des Geltungsdrangs der Psychiatrie. Diese sei durch die antipsychiatrische Bewegung in den 60er und 70er Jahren, namentlich durch die Veröffentlichungen des Psychiaters Thomas Szasz („Der Mythos der psychischen Erkrankung“) in eine fundamentale Existenzkrise geraten. Gleichzeitig bekam sie immer mehr Konkurrenz von Nicht-Ärzten wie Psychologen und Sozialarbeitern. Der Zeitgeist der 70er stellte sich gegen die Erzählung von den frühen „Wunderpillen“ wie z.B. Chlorpromazin, wie der oskargekrönte Spielfilm „Einer flog übers Kuckucksnest“ eindrucksvoll belegt. Antipsychotika und Benzodiazepine waren die Mittel der ersten pharmakologischen Revolution, und diese waren nun nicht mehr sonderlich gut beleumundet. Der letzte Trumpf, den die Psychiater überhaupt noch hatten war, dass sie Ärzte waren. Sie mussten also auf die Autorität des weißen Kittels setzen, so Whitacker. Die Psychoanalyse wird vollständig über Bord geworfen, die Zunft gibt sich mit dem DSM-III im Jahr 1980 einen wissenschaftlichen Anstrich. 1981 etabliert die APA – die American Psychiatric Association – eine „Division of publications and marketing“. Ihr Ziel: „to deepen the medical identification of psychiatrists“. (Whitacker 2010, S. 272) Die APA gründete einen Verlag für populärwissenschaftliche Bücher und sponserte

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ein 2-Stunden-Programm im Kabelfernsehen mit dem Titel „Your mental health“. Es gebe vier Akteure, die in gegenseitiger Abhängigkeit dafür gesorgt hätten, dass die pharmakologische Psychiatrie so erfolgreich geworden sei: Die Psychiater, die Pharmaindustrie, das „National Institute of Mental Health“ (NIMH) und die Betroffenen- und Angehörigeninitiative NAMI, „National Alliance for the Mentally Ill“, hätten der biologischen psychopharmakologischen Psychiatrie zum Sieg verholfen. Die NAMI war ursprünglich ein Zusammenschluss von Müttern schizophrener Patienten, die die psychoanalytisch eingefärbten Theorien, wonach die Mütter schizophrenieauslösend (schizophrenogen) seien, nicht hinnahmen. Sie setzt sich bis heute dafür ein, alle psychischen Krankheiten als biologische Krankheiten zu sehen und nicht als „mental health problem“. (Whitacker, 2010, S. 279) Mit 100.000 Mitgliedern im Jahr 2008 ist die NAMI sehr einflussreich. (Borch-Jacobsen 2009, S. 22) Diese vier Akteure betreiben Werbung für die Volkskrankheit Depression, z.B. durch sogenannte gemeinsam durchgeführte DART-Kampagnen (Depression Awareness, Recognition and Treatment, s.o.). Warum kritisiert niemand – oder nur sehr wenige – diese Art der Psychiatrie, die aus Sicht Whitackers für die US-Volksgesundheit katastrophale Folgen haben wird? Kritiker dieser Psychiatrie können unter Hinweis auf die Scientology-Sekte in den USA sehr schnell mundtot gemacht werden, denn leider sei die Scientologysekte in den USA eine der größten Kritikerinnen dieser Psychiatrie. Zusammenfassend muss man sagen, dass Whitackers Erklärung nicht richtig plausibel ist. Denn warum sollten das „Quartett“ der Psychopharmakologie ein Interesse daran haben, die US-amerikanische Bevölkerung zu psychisch Behinderten zu machen? Das geht irgendwann auch auf Kosten der nationalen Sicherheit der USA. Dafür dürfte seine Theorie aber notorische USA-Hasser erfreuen, denn die Spirale dreht sich munter weiter und erfasst immer mehr Personen: In keinem Land der Erde werden so viele Kinder mit psychiatrischen Medikamenten behandelt wie in den USA.91 Das zieht nach Whitackers Theorie ernste Krankheiten wie die bipolare Störung nach sich, die wiederum mit Psychopharmaka behandelt werden und dadurch chronifiziert werden. Die USA werden so tatsächlich zu einem Volk von psychisch Kranken (bzw. Behinderten) – geschuldet in erster Linie den Psy-

91 3,5 Millionen Kinder werden in den USA medikamentös gegen AD(H)S behandelt. Kinder in den USA konsumieren 3 Mal so viele Stimulanzien wie die Kinder im Rest der Welt zusammen. (Whitacker, 2010, S. 220) Von 1988 bis 1994 verdreifachte sich die Zahl der Kinder, die Antidepressiva einnehmen; heute nimmt eins von vierzig Kindern ein Antidepressivum.

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chopharmaka. Hier bahnt sich, wenn Whitacker Recht hat, eine Katastrophe an. Eli Lilly ging nach Whitacker mit schlechtem Beispiel voran: Erst wurde Prozac auf den Markt gebracht, das bei vielen Patienten manische Zustände erzeugte. Abhilfe schaffte ein vom selben Konzern 1996 auf den Markt gebrachtes „atypisches Neuroleptikum“ Zyprexa. Das ist kapitalistisch im Sinne der Gewinnmaximierung klug gedacht. Antipsychotika waren dementsprechend die Medikamentenklasse, mit der im Jahr 2008 in den USA am meisten Geld umgesetzt wurde. (Whitacker 2010, S. 320) Vor dem Hintergrund dieser doch sehr unheimlichen Erfolgsstory scheinen Whitackers Verbesserungsvorschläge naiv: In Finnland hat er eine sehr erfolgreiche Familientherapie-basierte „open dialogue therapy“ gefunden, die auch epidemiologisch Erfolg nachweisen könne. Dabei werden psychotische Erlebnisse ernst genommen und in einem Team mit dem Betroffenen sowie seinen Angehörigen besprochen. Diese Form der Therapie sei aber auch in Finnland gegenüber der biologischen Psychiatrie zunehmend in einer schwächeren Position, schreibt Whitacker. Für leichte bis mittlere Depressionen empfiehlt er ebenfalls eine Therapie, die den Nachteil hat, dass sie nichts kostet: „exercise therapy“, also Bewegung wie Joggen oder Aerobic. Das würde in Großbritannien und in Deutschland erfolgreich angewendet. Der Nachteil an diesen Therapieformen sei, dass sie auch jemand ausüben kann, der kein Arzt ist. Und eben das war ja die Forderung der neuen naturwissenschaftlichen Psychiatrie, dass psychische Erkrankungen nur von Ärzten zu behandeln seien. Außerdem lasse sich auch nicht „richtig“ Geld damit verdienen.

Die „Gesundheitsgesellschaft“

„Health is a state of complete physical, mental and social well-being and not merely the absence of disease or infirmity.“ WHO1 „Gesundheit bedeutet Unterwerfung. Es geht um die Biologisierung bzw. Naturalisierung gesellschaftlicher Vorgänge. Die Natur des Menschen wird für die Handlungen verantwortlich gemacht, mit denen sich Menschen im Kapitalismus mehr oder weniger vernünftig durchzuschlagen versuchen: für schlechte Noten in der Schule, für Frustration und Erschöpfung (‚Depression‘), für schlechtes Benehmen, für kriminelle Delikte, aber auch für ungehöriges politisches Denken und Handeln.“ Freerk Huisken2

Der letzte Teil der Ausführungen führt zurück nach Deutschland. Hier steht nicht so sehr das Phänomen Prozac im Vordergrund, hier ist die „therapeutische Erzählung der Selbsthilfe“ ein treibender Faktor für die Volkskrankheit Depression. In Deutschland wird diese in Form von Public Health, Gesundheitsförderungsprogrammen und Selbsthilfeförderung, kurz als kommende „Gesundheitsgesellschaft“ thematisiert.3 Die Gesundheitsgesellschaft ist die Utopie einer Gesellschaft, in der jeder Mensch sich entsprechend den in der Erklärung von Alma Ata (1978) formulierten und in der Ottawa-Charta festgeschriebenen Vorstellun-

1

Die Definition von Gesundheit der WHO. http://www.searo.who.int/LinkFiles/

2

Freerk Huisken, em. Professor für politische Ökonomie an der Universität Bremen, in:

About_SEARO_const.pdf. „junge Welt“ 31.01.2008 (Interview „Die Unangepassten aussortieren“). 3

Auch „healthism“ bzw. „Healthismus“ genannt.

318 | I DEENGESCHICHTE

gen der WHO kompletten psychischen, körperlichen und sozialen Wohlbefindens erfreut. Dieses Ziel sollte im Jahr 2000 verwirklich sein. Das ist es offensichtlich nicht – wie der Aufstieg der Depression zur Volkskrankheit eindrucksvoll belegt. Dieses Ziel kann auch nicht verwirklicht werden. In der Gesundheitsgesellschaft steht daher für jeden verbindlich die ständige Optimierung der eigenen Gesundheit und das heißt auch des psychischen Wohlbefindens als höchstes Ziel gegen alle gesellschaftlichen Widrigkeiten. Es ist kein Wunder, dass die melancholische Befindlichkeit in einer solchen Gesellschaft Volkskrankheit ist und sein muss. Im Zweifel sei der Mensch gesund, schreibt zurecht der Psychiater Manfred Lütz in seinem Bestseller Irre – wir behandeln die Falschen.4 Die WHO hätte mit ihrer Definition von Gesundheit viel zu einer unrealistischen Sicht auf Gesundheit beigetragen: „‚Völliges körperliches, seelisches und soziales Wohlbefinden‘ dekretierte sie. Das ist natürlich unerreichbar. Und utopische Begriffe laden ein zu grenzenloser Verehrung. So ist eine absurde Gesundheitsreligion entstanden, in der die Menschen nur noch vorbeugend leben, um gesund zu sterben.“ (Lütz, ebda., S. 39) Kritik an der WHO wird auch aus einem anderen Grund geübt: „Die 1948 von den Vereinten Nationen gegründete WHO hat den Ruf, eine unabhängige, objektive Organisation zu sein. In Wirklichkeit wird die WHO mit 500 Millionen US-Dollar überwiegend von internationalen Konzernen finanziert – und nur zu einem geringen Teil von den Mitgliedsstaaten.“5 Die

WHO selbst berichtet, dass 52% ihrer Finanzierung aus Beiträgen der Mitgliedstaaten besteht: „Freiwillige Beiträge an die Organisation stammen zwar auch aus unterschiedlichen Quellen (zwischenstaatliche Organisationen, Stiftungen, Privatwirtschaft und nichtstaatliche Organisationen (NGO), doch machten 2008–2009 Beiträge aller Mitgliedstaaten 52% des Gesamtbetrags bzw. 1 436 Mio. US-$ aus.“6 Die WHO vertritt also auch privatwirtschaftliche Interessen. Den Begriff der Gesundheitsgesellschaft hat sich die Gesundheitswissenschaftlerin Ilona Kickbusch einfallen lassen und sie wirbt dafür. Kickbusch war

4

Manfred Lütz: Irre – wir behandeln die Falschen. Gütersloh 2009.

5

Hans Weiss: Korrupte Medizin. Ärzte als Komplizen der Konzerne. Köln 2008, S. 101. Weiss berichtet von einem Fall der Einflussnahme der Pharmaindustrie auf WHO-Leitlinien bezüglich Bluthochdruck aus dem Jahr 1999, die im Jahr 2003 revidiert wurden (ebda.).

6

Tagungspapier: „Die zukünftige Finanzierung der WHO. Regionalkomitee für Europa. Sechzigste Tagung, Moskau, 13–16. September 2010, Punkt 6e der vorläufigen Tagungsordnung.“ http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0004/119560/RC 6 0_gdoc18.pdf (29.07.2011).

D IE „G ESUNDHEITSGESELLSCHAFT “ | 319

im Regionalbüro Europa der WHO angestellt und war dort verantwortlich für die Umsetzung des Konzeptes der Selbsthilfeförderung als Folge der Konferenz von Alma Ata 1978. Sie hat im Jahr 1983 zusammen mit dem Politologen Stephen Hatch das Buch „Self-help and health in Europe“7 herausgegeben.

„G ESUNDHEITSBEWEGUNG “

UND

S ELBSTHILFE

Kickbusch inszeniert sich als Akteurin der alternativen Gesundheitsbewegung der frühen 80er Jahre in Deutschland, die über ihr Gründungsstadium nicht herausgekommen ist: Ihre Akteure waren sich schlicht uneinig über ihr Thema, wofür sie sich politisch bewegen sollten. In der Alternativmedizin treffen zu viele verschiedene Konzepte und Vorstellungen von Gesundheit/Krankheit und Behandlung aufeinander, um eine einheitliche Bewegung zu konstituieren: das gemeinsame Ziel fehlt. Erich (Ellis) Huber war in Westberlin einer der Organisatoren dieses Bewegungsversuches. Von 1979–1981 war er ärztlicher Geschäftsführer des medizinischen Informations- und Kommunikationszentrums, Gesundheitsladen Berlin e.V. Danach wurde er in die Politik geholt und grüner Gesundheitsstadtrat (Dezernent) in Berlin-Wilmersdorf und Kreuzberg. In einem Beitrag zu der WHO-Publikation „Self-help and health in Europe“ schreibt er über die „neue und wachsende Bewegung“: „A new popular movement had grown out of ecological and feminist groups, voluntary organizations and other activities at the democratic grassroots: patients could again have hope.“8 Die Akteure dieser „Bewegung“ hatten aber keinen gemeinsamen Hintergrund. Zusammengefasst wurden Vertreter der Alternativmedizin, der esoterischen Szenen,9 aus linken politischen Bewegungen (SPK), der alternativen und libertären Bewegungen, Umweltschützer etc. mit völlig unterschiedlichen Weltanschauungen. Ein sehr bunt zusammengewürfelter Haufen, der sich über sein Thema nicht einigen konnte. Der 2. „Gesundheitstag“ der Gesundheitsbewegung in Berlin im Jahr 1982 fand parallel zum 50. Treffen der Bundesgesundheitsminister statt. Deren Thema war Selbsthilfeförderung. Dieses Zusammentreffen war von der WHO und der bundesdeutschen Gesundheitspolitik initiiert worden, um die neue Definition von Gesundheit durchzusetzen – was auch gelungen ist, wenn auch nicht über eine

7

Stephen Hatch, Illona Kickbusch: Self-help and health in Europe. New approaches in health care. World Health Organisation 1983.

8

Ellis Huber: Health Enters Green Pastures: The Health Movement in the Federal Republic. In: Stephen Hatch, Illona Kickbusch, a.a.O., S. 163.

9

Vgl.: Ursula Caberta: Schwarzbuch Esoterik. Gütersloh 2011, S. 83 ff.

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„Gesundheitsbewegung“, sondern über die institutionelle Förderung von Selbsthilfegruppen. Zentraler Angelpunkt der Gesundheitsbewegung waren die „Gesundheitstage“, die von „Gesundheitsläden“ organisiert wurden. Beide Institutionen gibt es nicht mehr. Bereits 1981, zu seiner Gründung, war der Gesundheitstag unter seinen Aktivisten umstritten. „Gesundheitsbewegung – gibtެs die überhaupt?“10 war eine Frage, die zu diesem Zeitpunkt gestellt wurde. 1987 fand dann der letzte Gesundheitstag statt.11 Die „Gesundheitsbewegung“ ist ein ideales Beispiel dafür, wie kapitalismus- und konformitätsfördernde Ziele durch eine (in diesem Fall imaginäre) Alternativbewegung umgesetzt werden. Ein angebliches Ergebnis der „Gesundheitsbewegung“ war in Deutschland die politische Entscheidung, Selbsthilfegruppen institutionell durch Selbsthilfekontaktstellen zu fördern. Man spricht in diesem Zusammenhang in Deutschland heute nicht von „Gesundheitsbewegung“, sondern von „Selbsthilfebewegung“, die es noch weniger als Graswurzelphänomen gegeben hat. Die „Gesundheitsbewegung“ war Teil einer „alternativen Bewegung“ die von 1978 bis 1985 die 68er-Bewegung ablöste und die erfolgreich dazu beitrug, diese teilweise radikal kommunistische Bewegung ins bürgerliche Spektrum zu integrieren.12 Spätestens 1984 schon war diese „alternative Bewegung“ am Ende,13 sie hatte ihre Pflicht getan. Neben der grünen Partei war auch die institutionelle Förderung der Selbsthilfe etabliert. Die Idee der Förderung der Selbsthilfe beruht auf der Forderung der WHO, die auf einem Workshop der WHO in Hohr-Grenzhausen im Juni 1982 formuliert wurde, wovon der von Hatch und Kickbusch herausgegebene Band Zeugnis ablegt. Die Förderung der Selbsthilfe ist daher nicht auf den Erfolg einer alternativen Bewegung zurückzuführen, sondern direkt auf die Erklärung der WHO von Alma Ata aus dem Jahr 1978: „As part of its response to the Alma Ata declaration ‚Health for All by the Year 2000‘ the Regional Office for Europe of the World Health Organization called together a working

10 Dirk Wolter: Nachlese zum Gesundheitstag 1981. In: forum, Heft 18, Februar 1982. 11 Oliver Tolmein: Sterbehilfe für die Gesundheitsbewegung. In: Taz Nr. 2220 vom 30.05.1987. 12 Es sei hier nur an die politische Vergangenheit in maoistischen oder trotzkistischen Parteien vieler mittlerweile führender Grünenpolitiker erinnert. 13 Matthias Horx: Das Ende der Alternativen oder die verlorene Unschuld der Radikalität. München 1985.

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group on self-help and health which met in Copenhagen in December 1980. This put together recommendations for supporting the development of self-help.“14

Und was liest man in der Erklärung von Alma Ata? „The Conference strongly reaffirms that health, which is a state of complete physical, mental and social wellbeing, and not merely the absence of disease or infirmity, is a fundamental human right and that the attainment of the highest possible level of health is a most important world-wide social goal whose realization requires the action of many other social and economic sectors in addition to the health sector.“15

Kann es im Mängelwesen Mensch und unter den gegenwärtigen kapitalistischen Bedingungen solche Idealzustände überhaupt geben? Nein, das ist eher nicht wahrscheinlich. Aber jetzt kann auch völlig normales Unwohlsein pathologisiert und behandelt werden. Mitte der 70er Jahre wurde das noch weitsichtig folgendermaßen kommentiert: „Der alte Traum der Experten, jede neue Stufe der eskalierenden Bedürfnisse fest in den breiten Volksschichten zu verankern, kommt jetzt unter dem Banner der Selbsthilfe daher.“16 Depression hat so als Volkskrankheit eine gesellschaftliche Kontrollfunktion. Aus Talcott Parsons17 (1951) strukturfunktionalistischer Soziologie stammt das Konzept der Krankenrolle, in der vier Aspekte dieser Rolle beschrieben werden, die in direktem Verhältnis mit dieser Kontrollfunktion stehen: • Der Patient wird von seinen normalen Rollenverpflichtungen befreit (beson-

ders von der Verpflichtung, zur Arbeit zu erscheinen, aber auch vom „Funktionieren“ im privaten Bereich). • Er wird für seine Krankheit nicht verantwortlich gemacht, sein abweichendes Verhalten wird legitimiert. (Eine Krankschreibung wird fraglos akzeptiert, ei18 ne Frage nach dem Verursacher, einem „Schuldigen“ wird nicht gestellt. )

14 Stephen Hatch, Illona Kickbusch: Introduction. A Re-Orientation of Health Care? In Hatch, a.a.O., S. 1 f. 15 WHO: Declaration of Alma Ata http://www.who.int/hpr/NPH/docs/declaration _almaata.pdf (Heraushebung: K.I.). 16 Ivan Illich: Entmündigung durch Experten. Zur Kritik der Dienstleistungsberufe. Hamburg 1979, S. 33. 17 Talcott Parsons: The social system. Free Press London 1951. 18 Dies ändert sich dann in der „Gesundheitsgesellschaft“.

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• Der Patient hat die Verpflichtung alles zu tun, um gesund zu werden und seine

Funktionsfähigkeit wieder herzustellen. • Der Patient ist dazu verpflichtet, fachkundige Hilfe in Anspruch zu nehmen. (Dieser Verpflichtung wird schon dadurch Nachdruck verliehen, als dass der Besuch beim Arzt für eine Krankschreibung unumgänglich ist.) Gesundheitsbezogene Selbsthilfegruppen haben somit eine Art soziale Hilfssheriff-Funktion. Sie vermitteln im Kontakt mit anderen Betroffenen die Einsicht, krank zu sein. Dem Patienten wird gezeigt, dass er nicht allein ist, und dass es ihm am besten hilft, seine Störung als Krankheit im medizinischen Sinne zu verstehen und von den Erfahrungen der anderen im medizinischen System zu profitieren. Der Patient wird angehalten zur Normenerhaltung, Integration, Zielverwirklichung und Anpassung. Durch den Besuch einer Selbsthilfegruppe zeigt der Patient seinen guten Willen, sein „abweichendes Verhalten“ möglichst schnell in konformes Verhalten zu ändern.

G ESUNDHEIT

ALS

G ESCHÄFTSFELD

Seit der Erklärung von Alma Ata soll man immer noch ein bisschen gesünder sein. Es ist nicht zufällig, dass zu ihrer Zeit auch die Karriere der Depression zur Volkskrankheit begann. Das verspricht ein lohnendes Geschäft für viele Wirtschaftsunternehmen. Und Gesundheitsaktivistin und Ex-WHO-Mitarbeiterin Ilona Kickbusch berät heute Wirtschaftsunternehmern und andere Organisationen (Firma „Kickbusch Health Consult“). Kernkompetenzen der Beratungsfirma sind gesundheitspolitische Innovationen, öffentliche Gesundheit und Gesundheitsförderung. Was bedeutet das? Es geht darum, neue Geschäftsfelder zu eröffnen, also ums Geld verdienen: „In den letzten Jahren nimmt in allen hoch entwickelten Gesellschaften die Bedeutung von ‚Gesundheit‘ rasant zu. Gesundheit wird individuell und gesellschaftlich hoch bewertet, eröffnet einen dynamischen Markt für Informationstechniken, Dienstleistungen und Produkte und bildet einen neuen Fokus in den politischen Diskursen um die Umgestaltung der Krankheitsversorgung und der solidarischen Finanzierung. Gesundheit wird dabei zunehmend als aktiv hergestellt aufgefasst und stellt traditionelle Krankheits- und Behand-

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lungskonzepte verstärkt in Frage. Kickbusch (2006) hat für diese Entwicklungen den eingängigen Begriff der ‚Gesundheitsgesellschaft‘ geprägt.“19

Das heißt aber auch nichts anderes, als dass der Kranke für seine Krankheit verantwortlich ist, denn er hat ja Gesundheit nicht aktiv hergestellt. Wer also traurig, niedergeschlagen oder depressiv ist, ist selbst schuld, denn schließlich hat er Wohlbefinden nicht „aktiv hergestellt“. Der Kranke – und nach der WHODefinition gibt es nur Kranke – hat die Pflicht, sich Gesundheit zu kaufen. Kickbusch meint, dass „die Allgegenwärtigkeit der Gesundheit in der modernen Gesellschaft mit alten Denkmodellen nicht mehr ausreichend gefasst werden [kann]. Gesundheit ist nicht mehr nur das Ergebnis gesellschaftlicher Prozesse – sie ist selbst zur treibenden Kraft geworden […]. Gesundheit als aktive Lebenslust verdrängt die Utopie des perfekten Menschen der europäischen Aufklärung. Je umfassender die Gesundheitsdefinition, umso mehr Gebiete der Gesellschaft und unseres Handelns werden durch und über Gesundheit geprägt. Je persönlicher die Gesundheitsdefinition, umso mehr Optionen braucht es, um sie individuell einlösen zu können. Damit tritt die Gesundheit in den Markt und wird Produkt. Diese Umorientierung ist grundsätzlich: [….] Gesundheit wird allgegenwärtig und das Gesundheitswesen als solches zum Nebenschauplatz; genau das macht Gesundheit für den Markt so interessant.“20

Es gibt also einen Druck oder Zwang zur Gesundheit, der sich in Teilhabe ausdrückt: Das bedeutet umgekehrt aber auch, das der, der von der Gesellschaft ausgegrenzt ist, nicht gesund sein kann, also behandelt werden muss. Die Menschen müssen befähigt werden, sich Gesundheit kaufen zu wollen. Es wird ein Wettbewerb um immer mehr Gesundheit ausgerufen. Gesundheit meint hier aber schon nicht mehr Gesundheit, sondern Wellness oder besser gesagt: „Betterthanwellness“, bei Kickbusch „aktive Lebenslust“. Diese Idee kommt heute,

19 Aus der Einladung zur Konferenz „Auf dem Weg zur Gesundheitsgesellschaft“ der deutschen, schweizerischen und österreichischen Fachgesellschaften für Gesundheitssoziologie 27–29. 03. 2008 in Bad Gleichenberg, Österreich http://www.oeph.at/ docs/0007.pdf. 20 Ilona Kickbusch: Gesundheit für alle: Die Gesundheitsgesellschaft entsteht vor unseren Augen. Wenn alles Gesundheit wird, heißt das noch lange nicht, dass alles auch gesund wird. Es wird nur anders. In: GDI Impuls. Wissensmagazin für Wirtschaft, Gesellschaft, Handel. Sommer 2006, S. 17. http://www.ilonakickbusch.com/news/ Kickbusch_Ilona_2_06.pdf.

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wie Ivan Illich bereits 1979 feststellte, immer noch als „Selbsthilfe“ verkleidet daher und inszeniert sich damit als Basis- oder Graswurzelphänomen, als echtes Bedürfnis von „Betroffenen“. Kickbusch, heute Pharmalobbyistin, begann, wie gesagt, als Pionierin der „Selbsthilfebewegung“. Sie hat dann – wie auch die ebenfalls eng mit der Selbsthilfeszene verbundenen Ex-Bundesgesundheitsministerin Andrea Fischer und Ex-Landesgesundheitsminister Ulf Fink21 – Karriere in einer Marketingabteilung der Pharmaindustrie gemacht. Deshalb propagiert sie die Gesundheitsgesellschaft. Kunden ihrer Beratungsagentur sind u.a. die Pharmagiganten Pfitzer (der größte der Welt) und Merck (Zoloft®). Mit einer vorgeschobenen kritischen Haltung verschleiert sie ihre eigentlichen Interessen, nämlich sich und den Pharmafirmen zu mehr Profit zu verhelfen: „Je mehr Gesundheit gemacht wird, umso wichtiger wird es zu verstehen, wo und von wem. Die Forschung bestätigt, dass mangelnde Spielplätze fettleibig und gewisse hierarchische Strukturen am Arbeitsplatz krank machen wie Armut. In der Gesundheitsgesellschaft sind die Risiken ungleich verteilt, und die Unterschiede werden immer größer. Auch die Medikalisierung schreitet voran – etwa mit Ritalin für zu lebendige Kinder und Prozac bei Lebensstress. Wir erleben einen massiven Umschwung, wie in der Gesellschaft – aber noch nicht in Politik und Wirtschaft – mit Gesundheit umgegangen wird.“ (Illona Kickbusch 2006: Gesundheit für alle, S. 22)

Hier irrt Kickbusch. Dieser Umschwung geht von Politik und Wirtschaft aus, und zwar von der von ihr, Kickbusch u.a., gemachten WHO-Politik der frühen 80er Jahre. Die Gesundheitsgesellschaft ist eine neoliberale Idee. Der Titel ist Orwellsches Neusprech. Eigentlich müsste es heißen: Die Angst-vor-KrankheitGesellschaft. Kickbusch: „Mehr Gesundheit ist immer möglich.“22 Drei zentrale gesellschaftliche Handlungsbereiche ergeben sich laut Kickbusch aus dieser neuen Rolle der Gesundheit: Gesundheit als Teilhabe (Gesundheit als persönliche und gesellschaftliche Ressource), Gesundheit als Produkt (Erwartungen an den Gesundheitsmarkt) und Gesundheit als Investition (die Steuerungsaufgaben des Staates). Der neoliberale Kapitalismus der Konkurrenzsubjekte kreist also demnächst um den „Megatrend“ Gesundheitsgesellschaft. Wer aber sagt, „Mehr Gesundheit ist immer möglich“, redet den Menschen ein, sie seien nicht gesund genug, also krank. Diese Angst hält die Menschen bei der Stange und unter Kon-

21 Ulf Fink hat als Berliner Sozialsenator im Jahr 1983 die erste bundesstaatliche Förderung für Selbsthilfe-Kontaktstellen eingeführt. 22 http://www.ilonakickbusch.com/news/ die_gesundheitsgesellschaft.shtml.

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trolle. Es ist eine Handlungsanweisung zur Steuerung der Menschen in der Konkurrenzgesellschaft durch ihre Furcht vor Krankheit. Denn wer ständig überprüft, ob er eigentlich gesund und leistungsfähig genug ist, ist dies ganz offensichtlich nicht, denn: mehr Gesundheit ist immer möglich. Ilona Kickbusch geht es nicht um Gesundheit, ihr geht es um ständige Erhöhung der Leistungskraft. Je gesünder der Mensch, desto höher ist sein „ökonomisches Resultat“. Das ist eine Art Darwinismus, der es irgendwann erlauben wird, Arbeitslose zu behandeln, denn sie können im Umkehrschluss ja nicht ganz gesund sein. Und es wird gezeigt, was Menschen leisten, wenn sie gesund sind: Arbeit, Produktivität, Vermögen. Umkehrschluss: Wer nicht arbeitet oder kein Vermögen bildet, ist nicht ganz gesund. Gesundheit ist Regelgröße für ökonomischen Erfolg. Wer die Gesundheit fördert, fördert die Wirtschaft. Allerdings sieht Ilona Kickbusch „Soziale Ambivalenzen“: „Gesundheitsförderung, Medizin, Prävention, Verhaltensmodifikation, Wellness, Schönheit, Biotechnologie und Genetik können aber auch zu einem gefährlichen Gemisch werden. Gesundheit kann nicht als ultimativer Wert gesetzt werden oder zum reinen Produkt verkommen; ‚gesund‘ und ‚krank‘ dürfen nicht Ausschlusskriterien zur Teilhabe an der Gesellschaft werden oder gar über Leben und Tod entscheiden.“ (I. Kickbusch 2006: Gesundheit für alle, S. 22)

Was sind die Konsequenzen daraus? „Die Bürger werden umdenken müssen“, droht sie, und fordert den freien Wettbewerb im Gesundheitssektor auf der Grundlage einer einkommensunabhängigen Kopfpauschale nebst üppiger Zuzahlungen. Bei Kickbusch hört sich das so an: „Angesichts des steigenden finanziellen Druckes müssen viele Prämissen der europäischen Wohlfahrtsstaaten neu definiert werden: Generationensolidarität, Risikosolidarität, Verteilungssolidarität.[...] Und wenn wir nicht bald massiv in die Gesundheit investieren, werden wir uns das Krankheitssystem bald nicht mehr leisten können.“ (Ebda. S. 20)

„Wir“ heißt hier natürlich jeder einzelne Patient muss dann privat vorsorgen. Denn schließlich trägt jeder einzelne immer mehr Verantwortung: „Ausweitung der Verantwortung: Die Allgegenwärtigkeit und Optionenvielfalt der Gesundheit erfordert im Alltag dauernde Entscheide: Kaufe ich Bio, benutze ich das Auto, nehme ich ein Kondom, setze ich mich ins Nichtraucherabteil, trinke ich noch etwas? Dazu bedarf es nebst einer hohen Motivation und Kompetenz auch einer unterstützenden Umgebung. Hier könnte der Markt noch viel leisten.“ (Ebda. S.20)

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Das ist ein Plädoyer für die Individualisierung und Vermarktwirtschaftlichung von Gesundheitsrisiken. Die Individualisierung ist, anders als viele Soziologen meinen, kein unabänderliches Schicksal einer sich differenzierenden Gesellschaft, sondern kapitalistische Strategie. Diese Individualisierung und Vermarktwirtschaftlichung wird als Ergebnis von Emanzipation gedeutet. Das ist nicht ganz falsch. An dem „Gesundheitskapitalismus“, dessen Entstehung wir heute miterleben dürfen, und der sich noch weiter verschärfen wird, haben „linke“, „emanzipatorische“ auf Selbstbestimmung bedachte Kräfte mitgearbeitet. So schreibt Ilona Kickbusch: „Wer neue Märkte erschließen will, muss die Werte, Sehnsüchte und Bedürfnisse seiner potentiellen Kunden kennen. In den letzten Jahren hat ein Durchbruch stattgefunden: Gesundheit wird jetzt aktiv definiert, findet im öffentlichen Raum statt und ist Ausdruck einer neuen Politikauffassung. Früher meinte Gesundheit eigentlich Krankheit. Erst langsam beginnt eine Umorientierung hin auf jene großen Themen, die sich Anfang der 1970er Jahre herausbildeten und heute die Grundlage für die Gesundheitsgesellschaft und den Gesundheitsmarkt bilden. Diese Elemente etablieren neue Normen, die sich zunehmend im Gesundheitsmarkt widerspiegeln: Gesundheit ist Emanzipation. Anfang der 1970er Jahre gaben die Frauen und die Selbsthilfebewegung der Gesundheit einen emanzipatorischen Stellenwert. Die gesellschaftliche Beschäftigung mit Körper, Sexualität und Krankheit zeigte die Grenzen des bisherigen medizinischen Gesundheitsbegriffs auf, individualisierte die Gesundheit und machte sie zum Teil einer sozialen Bewegung.“ (Ebda., S. 18)

Eine soziale Bewegung individualisiert die Gesundheit, trägt also zu einer Entsolidarisierung der Gesellschaft in Bezug auf Gesundheit bei. Emanzipation ist durchaus keine antibürgerliche oder antikapitalistische Strategie, ganz im Gegenteil, „linke“, emanzipierte Lebensstile lassen sich hervorragend zur Erreichung von kapitalistischen Gewinnzielen und zur Verschärfung der Konkurrenz der Subjekte auf dem Markt verwenden. Gesundheitspolitik in diesem Sinn bedeutet, dass die Menschen sich als Wirtschaftssubjekte verhalten, also ständig dem Markt als Anbieter von Arbeitskraft und Nachfrager nach gesundheits- und leistungssteigernden Dienstleistungen und Waren zur Verfügung stehen. Der Sinn dieser Gesundheitspolitik besteht darin, in die Bürger etwas zu verpflanzen, das sich „Gouvernementalität“ nennt, die Fähigkeit und den Willen, die Sache der Mächtigen als die eigene zu setzen und dementsprechend umzusetzen. Die früher alternative Umwelt- und Gesundheitsbewegung hat sich dementsprechend heute in die „Lohas-Bewegung“ (Akronym für Lifestyle of Health and Sustainability) transformiert. Im Zentrum dieser Bewegung steht die ständige

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Selbstbeobachtung: Hat man möglichst umweltverantwortlich eingekauft,23 kann man also ein gutes Gewissen haben, hat man sich gesund ernährt, gekleidet etc. oder gibt es doch Anzeichen, die auf ein Abweichen vom Lebensstil des guten Gewissens hindeuten? Es ist deutlich, dass die Kategorie der „Depression“ oder des „Deprimiert-Seins“ in einer solchen Selbstbeobachtung eine bedeutende Rolle spielen muss. Die Lohas-Bewegung ist keine politische Bewegung, sondern eine Sammelbezeichnung für einen bestimmten Konsumententypus oder eine marketingtechnische Zielgruppe, die fast ausschließlich in der „besser verdienenden“ Mittel- bzw. Oberschicht anzusiedeln ist. Es handelt sich auf keinen Fall um eine Protestbewegung oder um eine Subkultur. Es ist ein Lebensstil, der durch Konsum sich selbst und die Welt verbessern möchte, ein Lebensstil, der Ursache und Wirkung der Umwelt- und Gesundheitsbeeinträchtigung im Kapitalismus fundamental verwechselt. Die ständige Selbstuntersuchung, wesentlicher Bestandteil dieses Lebensstils, führt zu einer sich lawinenartig ausbreitenden Volkskrankheit Depression – gerade bei dem Personenkreis, der sich diese Krankheit auch leisten kann – und der sie in Form des Burnouts auch als Ausweis seiner Leistungsfähigkeit braucht. Erweiterte Selbsthilfe: Die Kompetenznetzwerke und Bündnisse gegen Depression Die Selbsthilfebewegung besteht längst nicht mehr nur aus Selbsthilfegruppen. Vielmehr wird sie heute auch von Organisationen von Professionellen organisiert, die ein Interesse an der Vermarktung „ihrer“ Krankheit haben. Von diesen Organisationen stammen die immer neuen, immer größeren Zahlen über die angebliche Prävalenz dieser Volkskrankheit: „Depressionen gehören zu den häufigsten und hinsichtlich ihrer Schwere am meisten unterschätzten Erkrankungen. […] Insgesamt leiden in Deutschland derzeit ca. 4 Millionen Menschen an einer behandlungsbedürftigen Depression. Depression kann jeden treffen.“24 Die Stiftung Deutsche Depressionshilfe, die dies auf ihrer Homepage verlauten lässt, ist die Dachorganisation des Forschungsverbundes Kompetenznetz Depression, Suizidalität und des gemeinnützigen Vereins Deutsches Bündnis gegen Depression. Zentrales Ziel der Stiftung Deutsche Depressionshilfe ist die Verbesserung der Situation depressiv erkrankter Menschen unter anderem durch Selbsthilfe. Unter dem Dach der Stiftung werden die Aktivitäten des vom Bundesministeri-

23 Über entsprechende Produkte kann man sich auf der regelmäßig stattfindenden Messe „Karmakonsum“ informieren. 24 http://www.deutsche-depressionshilfe.de/stiftung/wissen.php.

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um für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Kompetenznetz Depression, Suizidalität und des Deutschen Bündnisses gegen Depression e.V. gebündelt und weiterentwickelt. Auf der Internetseite http://www.kompetenznetz-depression.de/ kann man den derzeit gültigen Selbsttest machen und nachschauen, ob man möglicherweise selbst depressiv ist. Im deutschen Bündnis gegen Depressionen sind derzeit knapp 70 deutsche Städte und Kommunen Mitglied. Man kann sich darüber auf http://www.buendnis-depression.de/depression/regionale-angebote.php informieren. Die Städte und Kommunen veranstalten nach US-amerikanischem Vorbild „Awareness-Kampagnen“ gegen Depression, erhöhen also die Aufmerksamkeit ihrer Bürger für dieses Thema. Schirmherr des Dachverbandes, der Stiftung Deutsche Depressionshilfe, ist der Schauspieler Harald Schmidt, in ihr sind die bekanntesten, medienaffinsten Psychiater Deutschlands wie Manfred Wolfersdorf, Martin Hautzinger, Florian Holsboer, Ulrich Hegerl und Isabel Heuser organisiert. Sie produziert und veröffentlicht das maßgebliche Wissen über Depression, das über die regionalen Angebote des Bündnisses verbreitet und verankert wird. Damit bedient sie auch ein großes geschäftliches Interesse an einer Volkskrankheit Depression. Im Dezember 2009 wurde die Nationale Versorgungsleitlinie unipolare Depression, Version 1.1., veröffentlicht. Dabei geht es um die Konstruktion eines Konsens verschiedener und möglichst aller Akteure im Gesundheitswesen für Leitlinien zur Diagnostik und Therapie depressiver Erkrankungen. Initiator des Projekts ist die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) gemeinsam mit dreißig Institutionen und Organisationen.25 Unter den Organisationen sind psychologische Fachgesellschaften, Selbsthilfeorganisationen, Kompetenznetze, berufsständische Ärzteverbindungen etc. Kurz, hier definieren alle, die ein Interesse an einer Volkskrankheit Depression haben, eben diese Volkskrankheit. Die Begründung: „Nach einer WHO-Studie zählen depressive Störungen zu den wichtigsten Volkskrankheiten und werden in den nächsten Jahren noch deutlich an Bedeutung zunehmen. Eine Maßeinheit ist hierbei besonders relevant: Der Indikator ‚Disability-adjusted Life Years (DALY)‘ erfasst die Summe der Lebensjahre, die durch Behinderung oder vorzeitigen Tod aufgrund einer Erkrankung verloren gehen. Die Zahlen werden dabei aufgrund regionaler epidemiologischer Befunde auf die Weltbevölkerung extrapoliert. Hierbei nahmen unipolare depressive Störungen 1990 den vierten Rang ein, was ihre Bedeutung unter allen weltweiten Erkrankungen auf Lebensbeeinträchtigung und vorzeitigen Tod angeht. Üstün

25 http://www.depression.versorgungsleitlinien.de/

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et al. sowie Murray und Lopez gehen davon aus, dass unipolare Depressionen bis 2020 unter den das Leben beeinträchtigenden oder verkürzenden Volkskrankheiten nach der koronaren Herzerkrankung die größte Bedeutung haben werden, weil infektiöse Erkrankungen tendenziell abnehmen.“26

Das geschäftliche Interesse an einer Volkskrankheit Depression zeigt sich an folgender Zahl: Mit über 1 Milliarden DDD ( Defined Daily Dose, definierte Tagesdosis) waren die Antidepressiva 2009 die mit Abstand am häufigsten ambulant verordnete Gruppe von Psychopharmaka in Deutschland.27 Aber: Zwei Drittel des Weltmarktes für Antidepressiva entfallen auf die USA. Zugleich sind Antidepressiva die am meisten verordneten Medikamente in den USA.28 Eine weitere Steigerung der Prävalenz der Volkskrankheit in Deutschland (und anderen Ländern) im Zuge der Globalisierung ist also absehbar. Das Firma Healthways Wie die Menschen im Sinne von Gesundheit, Kostenersparnis und positivem Denken gewinnbringend unter Druck gesetzt werden, zeigt das Beispiel des Unternehmens Healthways. Healthways ist ein börsennotierter internationaler Konzern im Bereich der Gesundheitsförderung und des „Disease-Managements“, der seine Dienstleistung auch in Deutschland anbietet. Das ist das, was die „Selbsthilfebewegung“ vorbereitet hat: Ein „selbsthilfefreundliches Klima“ ist geschaffen worden. Gesundheitsförderung kann jetzt kostengünstig per Telefon verschrieben und kontrolliert werden. Genau das macht Healthways seit 2006 in Deutschland im Auftrag einer Krankenkasse: „Healthways hat es sich zum Ziel gesetzt, die Lücke zwischen der angestrebten optimalen Versorgung chronisch Kranker und den tatsächlich erbrachten Leistungen des Gesundheitswesens zu schließen. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die Förderung der Ge-

26 http://www.versorgungsleitlinien.de/themen/depression/pdf/s3_nvl_depression_lang.p df. S. 51. 27 http://www.psywiki.org/index.php?title=Psychopharmaka_Verordnungen_2009. Veränderungen der Verordnungen von Psychopharmaka in den Jahren 2000 bis 2009: Antidepressiva 419 Mio. DDD – 1058 Mio. DDD Neuroleptika 219 Mio. DDD – 294 Mio. DDD Tranquillanzien 185 Mio. DDD – 133 Mio. DDD. 28 Barbara Ehrenreich: Smile or Die. Wie die Ideologie des positiven Denkens die Welt verdummt. München 2010, S.13.

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sundheit der beste Weg der Kosteneinsparung ist. Unsere Vision ist es deshalb, den Gesundheitszustand chronisch Kranker so weit zu verbessern oder zu stabilisieren, dass sie möglichst wenige Leistungen des Gesundheitssystems in Anspruch nehmen müssen.“29

Wie macht die Firma das? „In vielen Fällen erreichen wir dieses Ziel, indem wir die Patienten dabei unterstützen, krank machende Lebensgewohnheiten zu verändern. Manchmal reichen schon Erinnerungen an die ‚guten Vorsätze‘ oder Informationen über gesunde Ernährung und Bewegung aus. Wichtig: Jeder Patient ist anders und deshalb ist die Motivationshilfe auch individuell verschieden.“ (Ebda.)

Wenn der Patient sich bereit erklärt hat, bei dem Programm – also der Motivationshilfe – mitzumachen, wird er telefonisch kontaktiert. Er habe keinerlei Kosten oder sonstige Nachteile zu erwarten. Der Kontakt laufe ausschließlich telefonisch. Alle Therapieentscheidungen lägen beim Hausarzt. „Healthways beschränkt sich darauf, den Arzt, wie auch alle anderen an der Behandlung Beteiligten, in ihrer Arbeit dahingehend zu unterstützen, dass die Patienten etwas für ihre Gesundheit tun. Eine examinierte Krankenschwester oder ein Pfleger führen ein Erstgespräch von rund 15 Minuten und stellen Fragen zur Einschätzung des Gesundheitszustandes. Weitere Telefonate im regelmäßigen Rhythmus sollen dann zu einem Maßnahmenkatalog führen. Am Ende steht ein mit den Patienten vereinbartes realistisches Ziel auf dem Weg zu einer gesünderen Lebensführung. Der Prozess kann mit kleinsten Änderungen im Tagesablauf beginnen und bis zur kompletten Umstellung der Ernährung oder sonstiger Lebensgewohnheiten wie z. B. Raucherentwöhnung führen. Darüber hinaus erhalten die Patienten per Post regelmäßig ergänzende schriftliche Informationen zu ihren Erkrankungen. Wichtig ist uns: immer am Ball bleiben.“ (Ebda.)

Man kann das auch Schikane nennen. Gesundheit kann überhaupt nicht im Interesse von Healthways sein. Ein börsennotierter Konzern arbeitet kaum an seinem eigenen Überflüssigwerden. Hilfe zur Selbsthilfe ist zum Geschäft geworden. Damit werden die klassischen Selbsthilfegruppen, die noch immer als irgendwie alternative Basisorganisationen beschrieben werden, sich in nicht allzu ferner Zukunft überflüssig machen. Börsennotierte Unternehmen werden dann ihre Funktion übernehmen und antidepressives positives Denken verschreiben. Natürlich in erster Linie zum Nutzen des Aktionärs; das liegt im Wesen von bör-

29 http://www.healthways.de/

D IE „G ESUNDHEITSGESELLSCHAFT “ | 331

sennotierten Unternehmen wie Healthways oder ähnlichen Aktiengesellschaften wie Lincare oder Wellpoint. Healthways feiert sich in seinem Sitz im Bundesland Brandenburg mit einem Foto, das den Geschäftsführer der Firma, den Ministerpräsidenten des Landes (eines zu diesem Zeitpunkt rot-rot regierten Landes) und den Chef einer großen Krankenkasse zeigt. Und so wird die Entwicklung möglicherweise weitergehen: Kassenpatienten werden demnächst nicht mehr von Ärzten, sondern von selbsthilfeorientierten Callcentern „behandelt“. Diese Callcenter sind Bestandteile der entstehenden Gesundheitszentren. „Von der Öffentlichkeit völlig unbemerkt haben große, börsennotierte Unternehmen (Rhön, Rehasa) angefangen, die kleine niedergelassene Arztpraxis um die Ecke zu entern. Sie wollen sich ein gutes Stück aus dem Finanzkuchen der niedergelassenen Ärzte sichern. Dazu kommt: Die zu Gesundheitszentren umfunktionierten Arztpraxen sind praktisch Patienten-Zulieferer für die konzerneigenen Kliniken. Das richtige Geld wird erst mit den Hospitälern verdient.“30

 Und die Volkskrankheit Depression ist eine hervorragende Strategie zur Produktion von Patienten.

P ROTOPROFESSIONALISIERUNG : D IE V OLKSKRANKHEIT ALS Z IVILISATIONSFORTSCHRITT Der niederländische Soziologe Abram de Swaan (1979) prägte in optimistischer Sicht auf den „Zivilisationsprozess“ in seiner auf niederländisch erschienen Soziologie der Psychotherapie den Begriff „Protoprofessionalisierung.“31 Damit ist die Neigung von Patienten und Klienten gemeint, ihre (psychischen) Beschwerden im Jargon des Fachmanns zu formulieren. Der Begriff beschreibt das positiv, was mit dem Begriff „Gouvernementalisierung“ kristisiert wird: die Fähigkeit und den Willen, die Sache der Mächtigen als die eigene zu setzen und dementsprechend umzusetzen. Unbemerkt übernehmen Patienten die psychiatrische Orientierung derjenigen, die sie behandeln. Depressions-Patienten sehen sich also heute als Opfer einer organischen oder Stoffwechselstörung, vor 40 Jahren dagegen als Menschen, die unbearbeitete Konflikte in der Kindheit erlebten. Damit kann „die Gesellschaft“ nicht mehr Schuld an psychischem Elend sein.

30 Gaby Guzek: Patient in Deutschland. Verraten und verkauft. Hamburg 2008, S. 54. 31 Abram de Swaan: Sociologie van de psychotherapie. De opkomst van her psychotherapeutisch bedriff. Antwerpen 1979.

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Und das ist politisch äußerst praktisch: die Umverteilung politischer Macht wird unwahrscheinlicher. Der Begriff Protoprofessionalisierung wurde von de Swaan laut Hanspeter Kriesi32 auch in Bezug auf die Auswirkungen des Wohlfahrtsstaates geprägt. Demnach kommt es mit dem Ausbau des Wohlfahrtsstaates zu einer tiefgreifenden Veränderung der Bürger ganz allgemein. Die Wertschätzung der Bürger für Gesundheit, Wissen und Schutz vor Einkommensverlust nimmt laufend zu und die Bürger übernehmen die Sichtweise der Berufe, welche die entsprechenden Dienstleistungen zur Verfügung stellen. Die Bürger werden nicht selbst zu Professionellen, aber indem sie sich als Laien die Sichtweise der Professionellen zueigen machen, tragen sie zu einer Medikalisierung und Psychologisierung des Alltagslebens bei. Gut informierte Laien („Diplompatienten“) formulieren ihre eigenen Schwierigkeiten als Probleme, die der professionellen Behandlung bedürfen, und suchen dann die entsprechende Dienstleistung für ihr so definiertes Problem. In all diesen Fällen kann man sagen, dass sich das permanent erhöhende professionelle Angebot seine eigene Nachfrage schafft. Aber obwohl diese Feststellung „zweifellos stimmt“, berücksichtige sie nicht, wie De Swaan meint, dass die Klienten, die heute zum ersten Mal den Wunsch nach professioneller Hilfe formulieren, unter ihren Beschwerden schon immer gelitten haben. Sofern das professionelle Angebot die sichtbare Nachfrage erst geschaffen habe, so habe sie doch nicht das Elend geschaffen, das damit sichtbar wurde. Die Protoprofessionalisierung ist für ihn deshalb Teil eines umfassenden Zivilisationsprozesses. Die Einrichtung kollektiver Vorsorge habe die Art und Weise verändert, wie die Menschen ihre Emotionen bewältigen und wie sie Beziehung zu anderen handhaben. Die Menschen entwickelten eine verstärkte Zukunftsorientierung und eine zunehmende Zurückhaltung im Umgang mit anderen. Dabei werde ihnen aber, so de Swaan, nicht einfach neues Verhalten von oben auferlegt, sondern sie übernähmen dies auch aus eigenem Antrieb, aus Interesse am eigenen Fortkommen. Protoprofessionalisierung, bzw. Gouvernementalisierung positiv gewendet, ist das Ziel von staatlich geförderter Selbsthilfe in der kapitalistischen Gesellschaft: Der Bürger soll selbstverantwortlicher und zuverlässiger Kunde privater Unternehmen werden. Für die Dienstleistungen, die er nachfragt, wird er früher oder später auch selbst bezahlen bzw. selbst vorsorgen müssen. So gesehen ist die Volkskrankheit Depression Teil eines kapitalistischen Zivilisationsprozesses.

32 Hanspeter Kriesi: Staatsentwicklung, Nationenbildung und Demokratisierung. In: Philippe Mastronardi und Denis Taubert (Hg.): Staats- und Verfassungstheorie im Spannungsfeld der Theorie. St. Gallen 2004.

Schlussfolgerungen

Warum psychische Krankheiten nicht zunehmen

„Dem menschlichen Verstand ist die absolute Stetigkeit einer Bewegung unbegreiflich. Begreiflich werden dem Menschen die Gesetze irgendeiner Bewegung nur dann, wenn er willkürlich herausgegriffene Einzelteile dieser Bewegung betrachtet. Aber gerade aus dieser willkürlichen Teilung der stetigen Bewegung in unterbrochene Einzelteile entspringt der größte Teil der menschlichen Irrtümer.“ Leo Tolstoi1

Der Gang der Untersuchung zeigte, dass Melancholie und Depression zur conditio humana gehören. Es kann von einem Anstieg der psychischen Krankheit durch zunehmenden Stress oder Forderungen nach immer mehr Flexibilität keine Rede sein. Es gibt keine Volkskrankheit Depression. Vielmehr wurde gezeigt, dass die Argumentation, die von immer schwerer zu bewältigenden zukünftigen Aufgaben und Herausforderungen für die Menschen ausgeht, mit gewissen zeitlichen Abständen immer wieder seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorgebracht und diskutiert wurde. Es wurde auch gezeigt, wer von einer „Volkskrankheit Depression“ profitiert: nämlich eine sich formierende Gesundheitsindustrie, bestehend aus Ärzten, Therapeuten, Pharmaindustrie, Akteuren der „Public health“, Akteuren der neuen spirituellen Bewegungen, Sozialarbeitern, Psychologen, Politikern etc.. Warum wurde die Depression von einem Stimmungs- und Verhaltensproblem zu einer Krankheit, fragt sich auch der Berliner Psychiater Stefan Weinmann.2 Seine pragmatischen Antworten: Weil sie erstens ein dankbares Krankheitsbild für Therapeuten sei. Das läge an der hohen Spontanremissionsrate und 1

Leo Tolstoi: Krieg und Frieden. Köln 2007, S. 1074.

2

Stefan Weinmann: Erfolgsmythos Psychopharmaka. Warum wir Medikamente in der Psychiatrie neu bewerten müssen. Bonn 2008, S. 133.

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dem im Vergleich zu anderen schweren psychischen Krankheiten geringeren Ausmaß an schwer erklärbaren Erlebens- und Verhaltenweisen sowie der sichtbar positiven Auswirkung von Zuwendung. Zweitens sei die Depression als Erkrankung für die pharmakologische Intervention ein interessantes und sich vergrößerndes Feld. Es seien eine Vielzahl von Antidepressiva verfügbar, die jeweils andere Rezeptoren im Gehirn beeinflussten. Die Verordnungen von Antidepressiva und insbesondere von neuen, kostenintensiven Antidepressiva nehmen kontinuierlich zu. Die Veränderung der Stimmung und der Gestimmtheit eines Menschen hat aber nichts mit Gesundheit oder Krankheit zu tun. Wie gezeigt wurde, bemühten sich die Menschen seit Jahrtausenden mittels Drogen darum. Um die Stimmungsveränderung zu einem mit einem aufgeklärten Kapitalismus kompatiblen ethisch einwandfreien Geschäft zu machen, griff man auf die Konstruktion der Krankheit Depression zurück. Damit dieses Geschäft weiterhin gut läuft, muss die Prävalenz der Volkskrankheit Depression zunehmen. Nach Ansicht des Psychiaters Hermann Spießl von der Universität Regensburg spricht auf den ersten Blick tatsächlich alles für die These, dass die Deutschen psychisch immer kränker werden. Der Deutschen Rentenversicherung zufolge lassen sich 50 000 Menschen jährlich wegen seelischer Probleme frühverrenten. Laut DAK Gesundheitsreport 2005 ist die Zahl psychischer Leiden innerhalb von gut zehn Jahren um 68,7 Prozent gestiegen. Und seit 2001 sind seelische Erkrankungen die Hauptursache für Erwerbsunfähigkeit.3 Die Inanspruchnahme psychologischer und psychiatrische Hilfe ist nach Ansicht des Gesundheitswissenschaftlers Dirk Richter jedoch kein Beleg für eine Zunahme psychischer Störungen. Die Zahlen zeigten nur, dass die Versorgungsprävalenz gestiegen sei – also die Bereitschaft, sich helfen zu lassen. Menschen werden im Jahr 2008 nicht häufiger seelisch krank als früher, sondern ihre psychischen Probleme werden lediglich schneller entdeckt und häufiger behandelt.4 Laut der Studie von Dirk Richter gibt es heute kaum mehr Betroffene als vor 50 Jahren. In dieser Studie wurden 44 Untersuchungen aus Westeuropa, Nordamerika und Australien einer Sekundäranalyse unterzogen, in denen alle paar Jahre die Häufigkeit psychischer Störungen in der Bevölkerung erhoben wurde. Richter meint, dass frühere Studien viele methodische Probleme hatten. Ein Fehler war etwa, dass älte-

3

H. Spießl, F. Jacobi: Nehmen psychische Störungen zu? Debatte. In: Pro & Kontra. Psychiatrische Praxis 2008; 35 (7): S. 318–320.Vgl. auch: http://www.thieme.de/SIDB426EDCB-71D20582/presseservice/fzmednews-001209.html.

4

Dirk Richter et al.: Nehmen psychiatrische Störungen zu? Eine systematische Literaturübersicht. Psychiatrische Praxis 2008; 35 (7): S. 321–330.

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re Probanden sich an vergangene Seelenzustände erinnern sollten – man hat also nicht aktuell gemessen. Daraus folgerte man, dass psychische Störungen in jüngeren Generationen zunehmen. Auch aus einem anderen wesentlich wichtigeren Grund wurden viele Studien bei dieser Auswertung verworfen: Diagnostische Definitionen und Messinstrumente haben sich im Laufe der Jahre immer mehr verändert. Im Jahr 1980 hat man in der 3. Version das „Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“ (DSM) komplett erneuert, was den Vergleich mit der Zeit davor immens erschwert. Für seine These der gestiegenen Versorgungsprävalenz spricht auch folgende Beobachtung: Dort, wo die meisten Psychiater niedergelassen sind, gibt es die meisten Depressiven: „Im Osten und Norden Deutschlands leben wenig Depressive, dafür aber viele in Bayern, Baden-Württemberg, Hessen sowie in Bremen, Hamburg und Berlin. Warum? Es sind vor allem die Psychiater. Berlin hat pro Bürger fast achtmal so viele wie das angrenzende Brandenburg, Hessen noch dreimal so viele wie Sachsen.“5

Und die Psychiater leiden selbst deutlich überdurchschnittlich an der von ihnen offensichtlich gern bei andern diagnostizierten Krankheit: Die Zeitschrift „Psychologie heute“ berichtete im Juni 2008, dass von 1093 „deutschen Seelenärzten“ 41% angaben, in der Vergangenheit mindestens eine Episode einer „ausgewachsenen Depression“ durchlitten zu haben. Es ist kein Ende des „disease mongering,“6, der Krankheitskonstruktion, abzusehen: In den USA ist unlängst eine neue Unterform der Depression entdeckt worden, die „Facebook-Depression“. Das Computernetzwerk könne anfällige Kinder und Jugendliche in eine Krise treiben, mahnt die amerikanische Akademie der Kinderärzte. Von Selbstzweifeln geplagte Jugendliche, die bei Gleichaltrigen auf lange Freundeslisten stießen, seien gefährdet. Wer glaube, nicht mithalten zu können, versinke in Schwermut.7 Das ist ein aktuelles Beispiel für den inflationären Gebrauch der Diagnose Depression und dafür, wie diese Diagnose auf immer mehr Lebensbereiche ausgedehnt wird.

5 6

Andreas Hoffmann: Viele Psychiater – viele Depressive. In: stern, 03.10. 2008. Der Begriff wurde Lynn Payne im Jahr 1992 geprägt: Lynn Payne, Disease-Mongers: How Doctors, Drug Companies, and Insurers Are Making You Feel Sick, New York 1992. Heute wird dies auch „condition branding“ genannt.

7

Meldung in „Welt kompakt“, 04.04.2011.

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R ESÜMEE „Der ‚seelische Schmerz‘ selbst gilt mir überhaupt nicht als Thatbestand, sondern nur als eine Auslegung (Causa-Auslegung) von bisher nicht exakt zu formulierenden Thatbeständen: somit als Etwas, das vollkommen noch in der Luft schwebt und wissenschaftlich unverbindlich ist, – ein fettes Wort eigentlich nur an der Stelle eines sogar spindeldürren Fragezeichen.“ Friedrich Nietzsche.8

Wenn die psychischen Krankheiten nicht zunehmen, warum wurde dann Depression zur Volkskrankheit? Welche Rahmenbedingungen ermöglichten das Erfinden einer Volkskrankheit? Die beschriebene „therapeutische Erzählung“ fiel nach den sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts auf fruchtbaren Boden: „Die sechziger Jahre waren die Zeit einer Mentalitätskrise sowohl in der älteren als auch in der jüngeren Generation. Jeder musste auf seine eigene, durch Vergangenheit und Herkunft bestimmten Weise plötzlich auf eine atemberaubende Folge von Veränderungen reagieren. Und diesmal wurde die Krise nicht, wie in den dreißiger Jahren, durch eine wirtschaftliche Depression ausgelöst, sondern durch das genaue Gegenteil: ein beispielloses ökonomisches Wachstum und eine einzigartige Vermehrung des Wohlstandes in ganz Westeuropa.“9

Freizeit und Mobilität nahmen zu, Unterhaltungsmöglichkeiten wuchsen, die „Pille“ wurde eingeführt. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Als „digitale Revolution“ zieht er sich in die Gegenwart. Das brachte aber auch Probleme hervor. Wohlstand, Überfluss und Luxus sind der Boden für die Popularisierung einer therapeutischen Erzählung. Der Überfluss muss nicht unbedingt positiv gewertet werden: Man kann auch von einer zunehmenden seelischen und materiellen Vermüllung sprechen. Diese geht mit „Entfremdungsgefühlen“ (i. S. Carl Elliots) einher. Um diesen zu entgehen, gibt es die therapeutische Erzählung und das Enhancement. Die Vielfalt der Therapiemöglichkeiten, der flachen spirituel-

8

Friedrich Nietzsche: Zur Genealogie der Moral. In: Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, Hg. Giorgio Colli und Mazzino Montinari. München 1993, S. 245–412; S. 376.

9

Geert Maak: In Europa. Eine Reise durch das 20. Jahrhundert. München 2007, S. 696.

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len Heilsversprechen und der chemischen Stimmungsverbesserung ist aber selbst wieder Ausdruck des unreflektierten Wohlstands oder der „Vermüllung“. Depression ist so gesehen ein Ergebnis des „Zuviel des Guten“. Die Volkskrankheit Depression ist durch ein Übermaß an Positivität bedingt. Sie ist die Volkskrankheit einer Gesellschaft des verordneten positiven Denkens. Und sie ist die Voraussetzung für das Funktionieren einer solchen Gesellschaft. Medizinische Diagnosen sind immer auch politische Direktiven. So ist das Schreckgespenst der Volkskrankheit Depression, die z.B. in der Form des Burnouts jeden erwischen kann, nichts anderes als eine Aufforderung zum positiven Denken oder zur Selbstmotivation in der „Leistungsgesellschaft“. Hinter der Diagnose der Depression steckt eine politisch-moralische Agenda. Die Krankheit ist für eine kapitalistische Gesellschaft eine überaus praktische Angelegenheit und deshalb wird ihre Prävalenz mit Sicherheit zunehmen. Sie folgt dem Gesetz der sich selbst erfüllenden Prophezeiung. Die öffentliche Thematisierung der Depression weist dabei selbst typisch depressive „Denkfehler“ (nach der kognitiven psychologischen Theorie) auf: • Schwarz-Weiß-Denken: Alles psychische Unwohlsein ist eine Krankheit. • Übergeneralisierung: Aus soziologischer Sicht gilt die Depression vielen als

„Leiterkrankung“10 unserer Zeit. • Katastrophierendes Denken: Immer mehr Menschen erkranken an Depression, es handelt es sich um eine Volkskrankheit, um eine Katastrophe. • Selektives Wahrnehmen: Es wird ausgeblendet, dass – parallel zur Wohlstandskrankheit Depression – auch in Europa sog. Armutskrankheiten (TBC, Malaria, HIV, Cholera) wieder auf dem Vormarsch sind. Die Ideengeschichte der Depression zeigte deutlich, dass Melancholie und Depression in der abendländischen Geschichte schon immer phasenweise thematisiert wurden. Das hatte verschiedene Hintergründe. In der griechischen Sklavenhaltergesellschaft war Melancholie Merkmal der „feinen Leute“, eine Auszeichnung; als „Mönchskrankheit“ Acedia des Mittelalters betraf sie den Abfall vom Glauben, die Melancholie Robert Burtons hatte einen protestantischen Hintergrund, die Aufklärung verbannte die Melancholie vorübergehend, die Romantik holte sie im aristotelischen Sinn zurück, die Neurasthenie war ebenfalls eine Nervenkrankheit der feinen Leute; als Volkskrankheit im Sinne einer im ganzen

10 Günter Voß: Die erschöpfte Gesellschaft,. Depression als Leiterkrankung im Übergang zur Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? In: trilliumreport 2010 8(2):82–84. http://www.trillium.de/ fileamin/TR_Bibliothek/Vo%DF%20ePub.pdf).

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Volk verbreiteten Stoffwechselstörung des Gehirns ist die Depression eine neue Vorstellung. Man kann darüber philosophieren, ob die Depression in „vorkrisenhaften“ Perioden verstärkt auftritt. Für die erwähnten Beispiele würde das stimmen, aber welche Perioden in der Geschichten sind nicht „vorkrisenhaft“? Die Wurzeln der Depression als Volkskrankheit sind vierfach: Sie liegen in den religiösen Praktiken der protestantischen Erweckungsbewegungen in den USA, in den Strategien der Militärpsychiatrie nach den beiden Weltkriegen, in der Mental-Health-Ideologie des kalten Krieges und in den neuen Möglichkeiten der Psychopharmakologie. Es wurde gezeigt, dass im Westen nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge der Systemkonfrontation ein Muster der „öffentlichen mentalen Gesundheit“ sich durchgesetzt hat, das den Einzelnen zur Verantwortung für die ständige Perfektionierung seiner „mentalen Gesundheit“ erzieht. Es war die Therapie der posttraumatischen Belastungsstörung nach dem Ersten und Zweiten Weltkrieg, die der neuen therapeutischen Erzählung zum Durchbruch verhalf. Es zeigte sich hier, dass eine wertschätzende, einfühlsame Gesprächstherapie unter dem Motto „Hilfe zur Selbsthilfe“ ungleich effizienter war als die althergebrachten Methoden der klassischen Psychiatrie. Was traumatisierten Soldaten nutzte, konnte der Zivilbevölkerung nicht schaden. In den 50er und 60er Jahren dann wurde diese Erzählung, von den USA und neuen sozialen Bewegungen bzw. gegenkulturellen Jugendbewegungen ausgehend, z.B. in Form der Encounter-und Marathongruppen nach und nach popularisiert. Die moderne Depression wurzelt nicht in der antiken Melancholie, sondern in der mittelalterlichen Mönchskrankheit Acedia, die mit der Reformation verweltlicht wurde. Hier ist die Parallele zur Acedia: Der Überdruss, ein gottgefälliges Leben zu führen, entspricht dem Überdruss ein selbstbestimmtes, „authentisches“ Leben zu führen, anstelle Gottes steht das Selbst. Die Reformation verweltlicht die Acedia und macht sie über die Erweckungsbewegungen als Gegenbewegung zum frühen amerikanischen Kalvinismus nach und nach zur (behandelbaren) Volkskrankheit. Das Thema der geistigen Gesundheit ist ein Thema, das in den USA Ende des 19. Jahrhunderts und im frühen 20. Jahrhundert massenhaft von christlichen Sekten oder Bewegungen auf die Tagesordnung gesetzt und popularisiert wurde. Diese protestantischen Erweckungsbewegungen bereiteten den Boden für die Selbsthilfegruppenbewegungen und die „therapeutische Erzählung“ in den USA und den überwiegend protestantischen Ländern Europas. Die Thematisierung von psychischen Leiden als normaler körperlicher Erkrankung, die jeden treffen kann, und die deshalb zu „entstigmatisieren“ ist, geht auf den Paradigmenwechsel in der Medizin Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Dieser änderte auch den Blick auf die Geisteskrankheiten. Kraepelin postulierte die Krankheit Depression als gemeinsamen Nenner einer der beiden großen

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Klassen der Psychosen, nämlich der affektiven Psychosen. Der Weg ist frei für die Pathologisierung von Unwohlsein, schlechter Laune, Unangepasstheit etc. Ein Blick auf die Volkskrankheit des 19. Jahrhunderts, Neurasthenie, zeigte, dass diese Krankheit auch als Statussymbol gut funktionierte. Insofern ist die Neurasthenie mit dem kleinen Bruder der Depression, mit dem BurnoutSyndrom, zu vergleichen. Ein Burnout oder eine kleine Depression bzw. die Bewältigung dieser gehören heute zum Erscheinungsbild der Erfolgreichen.11 Das verhielt sich mit der Neurasthenie genauso. Das von protestantisch motivierten Aktivisten der Erweckungsbewegungen wie dem Emmanuel-Movement initiierte „Mental-Health-Movement“ wurde für die nicht-sozialistische Seite im kalten Krieg interessant. Hier ließ sich eine Ideologie konstruieren, die den Menschen auf individualistischem Weg Glück versprach. Nicht die Gesellschaftsänderung ist der Weg zu Freiheit und Brüderlichkeit, sondern die individuelle Vervollkommnung. Die Menschen müssen sich zu „fully functioning person“ entwickeln und es gilt: Der Weg ist das Ziel. Denn: Mehr Gesundheit ist immer möglich. Und so entwickelte sich eine „dämonische Erzählung“ (Illouz), die den Menschen einredet, sie hätten Probleme mit ihrer psychischen Gesundheit, sie müssten z.B. in Selbsthilfegruppen an sich arbeiten, damit sie zufriedener werden. Wer also ins Horn des Depressionsalarmismus bläst, wird noch mehr „Depression“ oder andere Modekrankheiten der Psyche erzeugen. „Depression kann jeden treffen!“12 Das ist nicht nur der Slogan des deutschen Bündnisses gegen Depression, sondern auch das Unterscheidungsmerkmal zu früheren Formen der Melancholie/Neurasthenie. Gemeint ist buchstäblich jeder; jeder Mensch schwebt ständig in Gefahr, „getroffen“ zu werden. Am besten verhält er sich also präventiv, dabei schließt er aber das, was er ausschließen möchte, die Depression, immer als Möglichkeit in seine Lebenswirklichkeit ein. Gerade bei Krankheiten, die auch psychogen erzeugt werden, ist das gefährlich. So funktioniert die dämonische Erzählung. Und auf dieses sich ständig weiterdrehende Karussell springt mit Vergnügen die Pharmaindustrie auf. Hier lässt sich ordentlich Profit machen. Das gilt aber nicht nur für die Pharmaindustrie, sondern für den gesamten therapeutischen Komplex. Die Volkskrankheit ist auch ein dankbares Thema für die Massenmedien. Sobald ein Prominenter von ihr befallen ist, wird sie lang und breit öffentlich thematisiert Es befriedigt das Bedürfnis nach wohligem Gruseln vor dem heimi-

11 Vgl. z.B. Miriam Meckel: Brief an mein Leben. Reinbek 2010. Meckel, geb. 1967, war die jüngste Professorin Deutschlands und Staatssekretärin. In diesem in der Klinik bzw. Kur verfassten Buch verarbeitet sie ihren „Burnout“. 12 http://www.buendnis-depression.de/depression/depression-kann-jeden-treffen-7.php.

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schen Bildschirm, wenn man erfährt, wie viele Menschen von dieser Krankheit betroffen sind, und dass sie jeden treffen kann. Die Depression blickt wie die Neurasthenie auf eine liebevolle und innige Symbiose mit den Massenmedien zurück. Es wurde erwähnt, dass die Entwicklung der modernen Massenmedienindustrie und der Wirtschaftswerbung zu großen Teilen auf der Werbung für „Patent Medicines“ in den USA Ende des 19. Jahrhunderts beruhte. Und diese „Patent Medicines“ konstruierten einen Markt, indem ihre Hersteller oder deren Werbeagenturen den Konsumenten leichte psychische – damals nervöse – Störungen einredeten. So ist das auch heute noch mit Prozac & Co. Dies ist ein weiterer Aspekt des „Dämonischen“ der therapeutischen Erzählung. Die kapitalistischen Gesundheitskonzerne können kein Interesse an gesunden Menschen haben, denn dann würden sie sich die Geschäftsgrundlage entziehen. Man kann also davon ausgehen, dass das Karussell der psychischen Störungen sich munter weiter drehen wird.13 Die Wissenschaft stärkt den Gesundheitskonzernen den Rücken. Die modernen Diagnosekriterien, wie sie im DSM-IV oder im ICD-10 vorliegen, unterliegen demselben Dilemma, dem schon Kraepelin nicht entkommen konnten. Diese Klassifikationen benennen lediglich die klinischen Symptome, ohne jedoch deren Ursachen anzugeben und Therapiewege aufzuzeigen. Wie Kraepelin definieren die „quasi amtlichen Kriterien“ das, was eigentlich erst diagnostiziert werden soll. Das heißt, hier wird im Grunde willkürlich eine Norm gesetzt. Die Melancholie wird als Krankheit definiert. Und diese Krankheit wird dann im Zirkelschluss nach denselben Kriterien diagnostiziert, die gerade per Konvention als krank definiert wurden. „Strenggenommen ist ein solches Vorgehen nichts anderes als ein Taschenspielertrick. Denn hier wird, wie auf der Kleinkunstbühne etwas aus dem Hut gezaubert, was man vorher, möglichst unbemerkt, eigenhändig hineingetan hat.“14 In der „Research Agenda for DSM-V” liest man: „The major problem for mental disorders as currently defined is, that their causes and pathophysiological mechanisms remain largely unknown. It is expected that, at some point

13 Denkbar für die fernere Zukunft wäre aber auch, dass das Psychoenhancement moralisch legitimiert wird, man also auf das „disease mongering“ verzichten kann. 14 Rüdiger Dammann, Reimer Gronemeyer: Ist Altern eine Krankheit? Wie wir die gesellschaftlichen Herausforderungen der Demenz bewältigen. Frankfurt/M. 2010, S. 127.

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in the future (perhaps decades from now), the pathophysiological states predisposing or contributing to major mental disorders will be indentified.”15

Es dauert also noch Dekaden, bis die Auslöser der psychische Krankheiten identifiziert sind. Das schreiben keine Outsider, sondern offizielle Vertreter der APA, die die Definition der Depression konstruieren. Es besteht tatsächlich Grund für die Überlegung, dass Depression keine Krankheit ist, sondern, so wie z.B. Homosexualität bis in die 70er bzw. 90er Jahre hinein, zu einer solchen gemacht wird. Die immer wieder erzählte Serotoningeschichte muss als „Hirnmythologie“ (Karl Jaspers) entlarvt werden. Die Gretchenfrage der Soziologie in Bezug auf Depression lautet: Macht die Gesellschaft depressiv? Und sie muss folgendermaßen beantwortet werden: Die heutige Gesellschaft macht insofern depressiv, als dass sie ein stark akzeptiertes Identifikationssystem für eine Befindlichkeit anbietet, eben die therapeutische Erzählung der Depression. Was folgt daraus? Man sollte die Depression nicht pathologisieren, sondern sie wieder ins Leben eingemeinden. Byung-Chul Hans Plädoyer für eine „Müdigkeitsgesellschaft“ weist in die richtige Richtung. Es muss gelernt und gelehrt werden, Depression in schöpferische Melancholie zu verwandeln. Wer sich der Melancholie oder der Depression aussetzt, ohne diese als Krankheit zu akzeptieren, tut auch gesellschaftlich etwas Gutes: Er nimmt der dämonischen Erzählung etwas Triebkraft. Die Befindlichkeit der Depression gehört zum Menschsein. Arnold Gehlen beschreibt das in der ersten Auflage seines Hauptwerkes „Der Mensch“ (1940) in durchaus modernen Begrifflichkeiten: „Die Misserfolge auch wohlerwogenen und dringlichsten Handelns, die Unerfüllbarkeit des elementaren Anspruchs auf ‚mehr Leben‘ und die darin bedingte Depression, die unberechenbar einschlagenden Schicksale, die Krankheiten, der gewisse Tod sind Erfahrungen, die einem bewussten und dem ‚Überraschungsfeld‘ der Welt ausgesetzten Wesen niemals erspart werden. Dies sind Erfahrungen der Ohnmacht und sie sind unaufhebbar im Wesen des Daseins des Menschen mitgegeben.“16

15 D. J. M. Kupfer, M. B. Firtsa, D. A. Regler: A Research Agenda for DSM-V. Washington D. C. 2002, S. 208. 16 Arnold Gehlen: Der Mensch: seine Natur und seine Stellung in der Welt. Frankfurt/M. 1993, S. 728. Vgl auch Søren Kierkegaards „Verzweiflung“, Arthur Schopenhauers Welt als „Jammertal“, Friedrich Nietzsches Mensch „als das unglücklichste und melancholischste Tier“, Martin Heideggers „Angst“, Jean-Paul Sartres „Verlassenheit“, etc.

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Der allgegenwärtigen Propaganda gegen diese Erfahrung, gegen diese anthropologische Konstante der Depression, liegt ein Melancholieverbot einer Gesellschaft zugrunde, die sich seit den 1980er Jahren am Ende der Geschichte wähnt. Gesellschaftlich gesehen gibt es eine einfache Lösung zur Bekämpfung der Volkskrankheit Depression. Frantz Fanon, Psychiater und algerischer Befreiungstheoretiker, schrieb in seinem Werk „Die Verdammten dieser Erde“ von 1961: „Es ist eine banale Feststellung, dass die großen sozialen Explosionen die Häufigkeiten der Straftaten und die psychischen Störungen vermindern.“17 Aber ist das zu erwarten? Depression und Melancholie als Epochenkennzeichen waren schon häufig Begleiter langlebiger Gesellschaftssysteme. Aus therapeutischer Sicht kann es nicht um eine Flucht vor der Depression gehen. Depression, solange sie keine psychotische, wahnhafte Störung ist, gehört zum Leben. Um die Macht der Depression zu brechen oder erträglich zu machen, muss eben die Konstruktion dieser Macht bewusst gemacht werden. Victor-Emil v. Gebsattel schreibt von Vorkommnissen, „in denen der Arzt die Depression nur ‚heilen‘ kann, indem er dem Patienten Mut zu ihr macht. Nicht ist hier die Not dem Patienten auszureden: aufgestellt werden muss sie rings um ihn, wie ein Spiegel seines in die Irre der Lebensflucht ausgewichenen Daseins.“18 Depression gehört zur conditio humana. Eine daseinsanalytische Auffassung im existentialen Sinn, als Ausleuchtung der jeweiligen „Stimmungen“ und „Befindlichkeiten“ des „Daseins“ (Heidegger), versteht sie als ubiquitäres Leiden am eigenen Sein, als Bedingung menschlicher Existenz, als „Weltschmerz“ (Jean Paul). Sie hat so einen Sinn, der hermeneutisch erschlossen werden kann. In dieser Alternative zu therapeutischen bzw. spirituellen Suggestivtechniken und bewusstseinsverändernden Psychopharmaka liegt ein Weg der Heilung. Es geht um die Wiederentdeckung der ermöglichenden, schöpferischen Melancholie.

17 Frantz Fanon: Die Verdammten dieser Erde. Frankfurt/M 1981/1961, S. 256. 18 Zit. nach Lepenies 1998, a.a.O., S. 212.

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Index

1 12-Schritte-Programm 150 7up 154, 258 A Absolutismus 106 f. Acedia 86 ff. ADHS 261 Agomelatin 284 Aids 60, 115 Aktion T4 227 Alkohol 250, Siehe auch Trunkenheit Alma Ata (WHO) 318 Amitriptylin 200, 279 ff. Amphetamin 123, 260 f. Angst 31, 58, 193, 197, 261, 268, 296, 305 Angst, Jules 130 f. Anonyme Alkoholiker 148 ff. Anpassungsstörung 165, 293 Antidepressiva 200 ff., 269 ff. Antiphon 73 Antipsychiatrie 242 f. APA 213 f., 220 Appignanesi, Lisa 21, 65 ff. Aristoteles 74 ff., 78 Ataraktikum 264, 284 (Fn) Siehe auch Tranquilizer

Äther 249 Aufklärung 100 ff. Ayd, Frank: 280 f., 289 B Baker Eddy, Mary 145 f. Balint, Michael 164 Bateson, Gregory 166, 168 f. Bayern, Suizid 236 Beard, George Miller 132, 154, 280 Beers, Clifford 156, 176 Beinbruch (Depression ist wie ein…) 5, 20 Benzedrin 260 Benzodiazepin 268, 287, 308 Binswanger, Ludwig 18, 239 Binswanger, Ludwig (der Ältere) 142 bipolare Störung 81, 123, 314 Biran, Maine de 110 Blavatsky, Helena 48, 147 Blockbuster 268 Boor, de Wolfgang 254 Borch-Jacobsen, Mikkel 40, 144 f., 149 Borderliner-Störung 35, 60, 67 Brownmiller, Susan 66 Buck, Dorothea 128

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Buddha 308 Bündnis gegen Depression 237, 327 ff. (Siehe auch deutsches Bündnis gegen Depression) Bürgerkrieg, amerikanischer 144, 258 Bürgerkrieg, englischer 91, 141 Burnout 117, 143, 198, 203, 278, 327, 339, 341 Burton, Robert 15, 63, 91 ff. Byung Chul Han 21, 60, 344 C Carnegie, Dale 197 CCHR (Scientology) 190 Chlorpromazin 252, 262 f. CIA 167, 169, 207, 256 Coaching 203, 291 Coca-Cola 154, 258 CoDa 152 Colbert, Ty C. 66 Cole, Jonathan 199, 310 Condition Branding Siehe Disease Mongering Containment 167, 180 Cornflakes 154, 259 D Dada 103 Daseinsanalyse 239, 241, 344 DDR 223, 230 ff. Demokrit 74 Deutsches Bündnis gegen Depression 15, 327 f. Disease Mongering 25, 337 DSM 210 ff. DSM I 165, 198 DSM II 211 DSM III 16, 69, 130, 200, 210 ff. DSM IV 9, 67, 255, 342 DSM-V 342

Dörner, Klaus 240 f. Dürer, Albrecht 90 Durkheim, Èmile 103, 202, 231 Dysthymie 17, 75, 217 E Ebrecht, Angelika 89 Ecstasy 255, 303, 314 Ehrenberg, Alain 20, 31 ff., 38 Ehrlich, Paul 114 Elektrokrampftherapie 190, 204 ff., 208, 234, 267, 281 Elektrotherapie 132 Eli Lilly 131, 286, 293 ff., 316 Emmanuel-Bewegung 147 ff. Emotions Anonymous 150 f. Encounterguppen 184 f. Enhancement 42, 49 f., 298, 306, 339 Enke, Robert 233 Ennui 107 f. Entstigmatisierung 155, 160, 280 Erb, Wilhelm 132 Erethismus 138 Erweckungsbewegungen 9, 22, 90 141, 145 ff., 152, 340 Esoterik 146 ff., 319 Euthanasie Siehe Aktion T4 Existenzanalyse Siehe Daseinsanalyse Existenzialismus 103, 274 F Facebook-Depression 337 Fanon, Frantz 180, 344 Farbstoffchemie 262 Fédida, Pierre 63 ff. 246 Feighner-Kriterium 215 Feng Shui 96 Ficino, Marsilio 90 Finzen, Asmus 135

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Flashar, Helmut 77 Fluctin 294, 304, Siehe auch Prozac Foucault, Michel 60, 100 Frank, Larry K. 168 Frankl, Victor 49 (Fn) Freud, Siegmund 34 ff., 40, 41, 52, 55, 66, 119, 122, 135, 139, 148 f., 155, 171, 178, 189, 194, 204, 206, 227 f. Freudenberger, Herbert 203, 278 Fromm, Erich 195 f. Fronde 102, 106 f. G Gebsattel, Victor Emil v. 238 f., 344 Gehlen, Arnold 343 Gesundheitsbewegung 66, 161, 259, 319 ff. Goetz, Rainald 242 Göring-Institut 227 Gouvernementalität 25, 60, 326, Siehe Protoprofessionalisierung Greenberg, Gary 22, 116, 125, 152 ff., 194, 205, 212, 260 ff., 314 Griesinger, Wilhelm 15, 111 f. Guerre des psys 40 H Haschisch 252 ff. Hatch, Stephen 319 Hautzinger, Martin 328 Healthways 329 Healy, David 23, 114, 199, 255, 267, 269 ff. Hegerl, Ulrich 125, 328 Heidegger, Martin 50, 88 f., 239, 344 Heroin 251, 255, 262 Heuser, Isabell 328

Hiob 22 Hippokrates 22, 74 f., 94 Hirshbein, Laura 193 ff., 199 Höck, Kurt 235 Holsboer, Florian 17, 249, 293, 328 Homosexualität 37, 212 f. Honneth, Axel 30 Horwitz, Alain V. 116, 165, 211 ff., Hospitalismus 124 Hubbard, Ron L. 188 ff. Humanistische Psychotherapien 39 f., 55 f., 59, 164, 175 Hypomanie 123, 299 f. Hysterie 32, 66, 73, 112 I ICD-10 9, 16, 123 ff., 209 ff., 255, 342 Illich, Ivan 321, 324 Illouz, Eva 51 ff, 175 Imipramin 255, 269 ff., 279, 291 Informalisierungsthese 52 Intendierte dynamische Gruppentherapie 235 Interpersonelle Therapie 20, 36, 74, 202, 292 Iproniazid 23, 269, 275 ff. Irrenrechtsreformbewegung 136 J Jacoby, Ernst 148 James, William 147, 153 f. Janet, Pierre 40 f. Johanniskraut 312 f. K Kahlbaum, Karl 121 Kalifornisches Selbst 203 Kalvinismus 91, 145 ff., 340

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Kalvinismus, pharmakologischer 269, 279, 306 Kellog, John H. 154, 259 Kickbusch, Ilona 319 ff. Kierkegaard, Søren 308, 343 Klein, Melanie 36 Klerman, Gerald 289, 291 Kline, Nathan 276 ff. Klüver, Heinrich 170 Koch, Robert 114 kognitive Verhaltenstherapie 172 f., 182, 199, 202, 290 Kramer, Peter D. 298 ff. Kriegszitterer 120, 157 ff. Kristeva, Julia 37 Kubie, Lawrence 170 Kybernetik 166 ff. L Laborit, Henri 263 Lachgas 250 Langeweile 89, 106 ff., 197 Larvierte Depression 11 Leib-Seele-Problem 254 Lepenies, Wolf 87, 99, 102 ff. Leuzinger-Bohleber, Marianne 30 f. Lilly Siehe Eli Lilly Lippert, Helmut 254 Lithium 258 f. Lobotomie 208 f., 263 Lohas-Bewegung 326 f. LSD 167, 255 f., 269, 273, 277, 295, 303 M Macy-Konferenzen 166 ff. Manie 78, 111, 121 ff. Marathongruppe 184 Marihuana 269, 303 f., 314 Marxismus 21, 61 ff., 85, 153, 167, 172, 174, 233, 237, 307

Maslow, Abraham 55 McCombs, Samuel 148 f. McCulloch, Warren St. 169 ff., 184 McSpiritualität 309 Mead, Magret 166, 168 f., 179 Meckel, Miriam 341 (Fn) Meprobamat 268 ff. Metrazol 205 Meyer, Adolf 152f., 291 Miesmacher 226 ff. MK-ULTRA 167, 207, 256 Monoamine 277 ff. Monomanien 122 Moral Treatment 141 ff. Morbiditätsluxus 45 f. Morel, Bénédict-Augustin 112 Müller-Oerlinghaus, Bruno 310 N NAKOS 202 NAMI 315 National Alliance for the Mentally Ill Siehe NAMI National Institue of Mental Helath Siehe NIMH Nationalsozialismus 226 ff. Narzismus 35 f. Neoliberalismus 21, 171, 202, 324 Neurasthenie 131 ff. Neuroleptika 209, 263, 280 ff. Neurologie 131, 136 ff. Neurotics Anonymous 150 f. NIMH 217 f. O Ödipus 34 f. Objektverlust 34 ff. Opium 127, 250 ff. Osheroff-Fall 289 Ottawa-Charta (WHO) 166, 318

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P Parkinsonoid 263 Patent Medicine 257 f., 289, 342 Paxil 296, 304 Pearsall, Paul 54 ff. Pepsi-Cola 154, 258 Perkin, William 262 Pettenkofer, Max v. 115 Pharmakopsychologie 249 ff. Pinel, Philippe 141 ff. Placebo 283 f., 291, 304, 310 ff. aktives 310 Platon 48, 78, 84 Plutarch 73 posttraumatische Belastungsstörung 23, 67, 56, 121, 160, 164, 296 präödipal 34 f. Protoprofessionalisierung 331 f. Prozac 11, 19, 23, 68, 154, 187, 190, 200, 218, 258, 270, 274, 277, 285 ff., Siehe auch Fluctin Psychiatrie-Enquête 238 f. Psychoanalyse 29 ff. Q Quäker 141 ff., 167 Quimby, Phineas Parkhurst 24, 145 R Rawling-Rees, John 160, 164, 177 Reed, David 258 Riesmann, David 196 f. Rochefoucauld, Françoise de La 107 Rogers, Carl 40, 180, 203 Rosenhan-Experiment 212 f. Roudinesco, Elisabeth 31 Rüdin, Ernst 120, 229 Russell, Bertrand 84 f., 249 S Sakel, Manfred 204 f.

Schamanismus 22 (Siehe auch McSpriritualität) Sartre, Jean Paul 51, 244, 344 Schizophrenie 116 ff., 161, 174, 177, 198, 204 ff., 264, 267 Schneider, Kurt 130 Schwan, Gesine 44 Scientology 188 ff., 294, 315 Screening 217 ff. Seitenkettentheorie 114 f., 149 Selbsthilfe(gruppen) 9 ff., 21, 24, 35, 39 ff., 42, 47, 53 ff., 69, 91, 96, 104, 133, 142 ff., 169, 185 ff., 194, 197, 201 f., 219, 235, 259, 290, 294 f., 317 ff., 340 f. Selbstmord 37, 112, 118, 124, 127, 202, 215, 218, 230 ff., 236, 245, 284, 295 Selektive Serotonin Wiederaufnahmehemmer Siehe SSRI Seligman, Martin 203 Shaw, George Bernhard 138 Sissi-Syndrom 297 Sloterdijk, Peter 21, 38, 45 ff., 85, 188, 249 Smiles, Samuel 197 Sommer, Robert 224 soziale Phobie 24, 296 f. Sozialistisches Patienten Kollektiv Siehe SPK Sozialpsychiatrie: 240 f. Speed Siehe Amphetamine Spiritualität 307, 309 SPK 63, 65, 243 ff., 319 Spock, Benjamin 168 Stack Sullivan, Harry 177 f., 291 Statistik 210 ff. Subthreshold- Depression 11, 220

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Suizid Siehe Selbstmord Swaan, Abram de 331 systemische Therapie 170, 174 Szasz, Thomas 156 f., 246, 314 T Tellenbach, Hubertus 35, 238 f. Thadden, Elisabeth v. 43 Themenzentrierte Interaktion 58, 163 Theophrast 78 ff. Therapeutische Erzählung 9, 46, 51 ff., 150, 152, 196, 235, 259, 317, 338 Therapeutischer Nihilismus 123, 128, 153 ff. Therapeutischer Diskurs Siehe therapeutische Erzählung Theunissen, Michael 78 ff. Thymoleptika 269 Tranquilizer 256, 258, 264 ff., 267, 284 (Fn), 311 Triadisches System 107 (Fn), 238 Trunkenheit 79, 86 Typus Melancholicus 35, 103 (Fn), 238 U Umzugsdepression 239 V Valdoxan 284

Veblen, Thorstein 108, 193 Verhaltenstherapie 290 f. Virapen, John 294 (Fn) W Weimarer Republik 181 f., 223 ff. Weinmann, Stefan 15, 309, 335 Weltschmerz 68 f., 106, 109, 344 Werther (Goethes) 124 f. Werther-Effekt 125 WFMH 176 ff. Whitacker, Robert 141, 205, 282, 311 f. WHO 9, 15 f., 25, 68, 166, 176, 210, 313, 317 f., 320, 328 Wohlstand 9, 21, 43, 46, 338 ff. Wolfersdorf, Manfred 58, 328 Worcester, Elwood 147 f. World Health Organization Siehe WHO World Federation of Mental Health Siehe WFMH Y Yalom, Irvin 184 Z Zivilisationsprozess 52 (Fn) Siehe auch Protoprofessionalisierung Zoloft 296, 304, 312 f., 324 Zwangsstörung 301 Zweiklassenpsychiatrie 131 ff.

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus August 2012, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

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Bernd Dollinger, Fabian Kessl, Sascha Neumann, Philipp Sandermann (Hg.) Gesellschaftsbilder Sozialer Arbeit Eine Bestandsaufnahme April 2012, ca. 230 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1693-4

Martin Gloger Generation 1989? Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose März 2012, ca. 318 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1961-4

Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart April 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte

Susanne Lettow (Hg.) Bioökonomie Die Lebenswissenschaften und die Bewirtschaftung der Körper Mai 2012, ca. 220 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1640-8

Mathias Lindenau, Marcel Meier Kressig (Hg.) Zwischen Sicherheitserwartung und Risikoerfahrung Vom Umgang mit einem gesellschaftlichen Paradoxon in der Sozialen Arbeit März 2012, ca. 280 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1762-7

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Christian Mersch Die Welt der Patente Soziologische Perspektiven auf eine zentrale Institution der globalen Wissensgesellschaft April 2012, ca. 460 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-2056-6

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze März 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

April 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

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