Kritische Systemtheorie: Zur Evolution einer normativen Theorie [1. Aufl.] 9783839424124

Welche Parallelen und Differenzen gibt es zwischen der Systemtheorie und kritischen Theoriekonzepten von Bauman, Bourdie

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German Pages 410 [408] Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Einleitung
A. SYSTEMTHEORIE UND GESELLSCHAFTSKRITIK
Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie
Was ist Kritik? Was ist Aufklärung? Zum Spiel der Möglichkeiten bei Niklas Luhmann und Michel Foucault
Systemtheorie und Frankfurter Schule
Kritische Systemtheorie und materialistische Gesellschaftstheorie
Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft: Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme
Begegnungen der anderen Art: Niklas Luhmann trifft auf Zygmunt Bauman
Luhmann und Bourdieu: Polyzentrische Theorien der „bürgerlichen Gesellschaft“ nach ihrer Kontingenzerfahrung
B. RESPONSIVITÄT GLOBALER SOZIALSYSTEME
Paradoxien im Organisationsbereich: Global Governance
Subalterne Konstitutionalisierung: Zur Verfassung von Evolution und Revolution in der Weltgesellschaft
Politiken der Entparadoxierung: Versuch einer Bestimmung des Politischen in der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft
Die Wirtschaft der Weltgesellschaft: Möglichkeitsräume für eine systemtheoretische Kritik
Organisationsversagen und organisationale Pathologien: Sondierungen an der Schnittstelle von Systemansatz und Kritischer Theorie
Ideologiekritik der vernetzten Weltwirtschaft: Paradoxien der Arbeit
Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik
Infrasystemische Subversion
Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?
Der zweite Text: Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts
Autorinnen und Autoren
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Kritische Systemtheorie: Zur Evolution einer normativen Theorie [1. Aufl.]
 9783839424124

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Marc Amstutz, Andreas Fischer-Lescano (Hg.) Kritische Systemtheorie

Sozialtheorie

Marc Amstutz, Andreas Fischer-Lescano (Hg.)

Kritische Systemtheorie Zur Evolution einer normativen Theorie

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Bremer Sonderforschungsbereichs 597 »Staatlichkeit im Wandel«

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Marc Amstutz, Andreas Fischer-Lescano Druck: CPI – Clausen & Bosse, Leck ISBN 978-3-8376-2412-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung

Marc Amstutz / Andreas Fischer-Lescano | 7

A. SYSTEMTHEORIE UND G ESELLSCHAFTSKRITIK Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie

Andreas Fischer-Lescano | 13 Was ist Kritik? Was ist Aufklärung? Zum Spiel der Möglichkeiten bei Niklas Luhmann und Michel Foucault

Sven Opitz | 39 Systemtheorie und Frankfurter Schule

Elke Wagner | 63 Kritische Systemtheorie und materialistische Gesellschaftstheorie

Thore Prien | 81 Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft: Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme

Peter Fuchs | 99 Begegnungen der anderen Art: Niklas Luhmann trifft auf Zygmunt Bauman

Lyana Francot-Timmermans | 111 Luhmann und Bourdieu: Polyzentrische Theorien der „bürgerlichen Gesellschaft“ nach ihrer Kontingenzerfahrung

Joachim Fischer | 131

B. RESPONSIVITÄT GLOBALER SOZIALSYSTEME Paradoxien im Organisationsbereich: Global Governance

Tanja Hitzel-Cassagnes | 149

Subalterne Konstitutionalisierung: Zur Verfassung von Evolution und Revolution in der Weltgesellschaft

Kolja Möller | 173 Politiken der Entparadoxierung: Versuch einer Bestimmung des Politischen in der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft

Johan Horst | 193 Die Wirtschaft der Weltgesellschaft: Möglichkeitsräume für eine systemtheoretische Kritik

Moritz Renner | 219 Organisationsversagen und organisationale Pathologien: Sondierungen an der Schnittstelle von Systemansatz und Kritischer Theorie

Martin Herberg | 237 Ideologiekritik der vernetzten Weltwirtschaft: Paradoxien der Arbeit

Isabell Hensel | 255 Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik

Lars Viellechner | 285 Infrasystemische Subversion

Pasquale Femia | 305 Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?

Gunther Teubner | 327 Der zweite Text: Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts

Marc Amstutz | 365 Autorinnen und Autoren | 403

Einleitung

In der sozialwissenschaftlichen Diskussion besteht seit langem der Verdacht, dass die Systemsoziologie Niklas Luhmanns ein Potenzial für die Entwicklung einer kritisch-emanzipativen Gesellschaftstheorie besitzt, das noch unausgeschöpft ist.1 Luhmann selbst stand zwar einem solchen Unterfangen kritisch ge-

1

Siehe nur Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas: „Critical Autopoiesis. Environment of the Law“, in: Ubaldus de Vries/Lyana Francot, Law’s Environment. Critical legal Perspectives, Den Haag 2011, S. 45 ff.; ders./Luhmann, Niklas: Law, Justice, Society, Oxford 2010; Fuchs, Christian/Hofkirchner, Wolfgang: „Autopoiesis and Critical Social Systems Theory“, in: Rodrigo Magalahez/Ron Sanchez (Hg.), Autopoiesis in Organization Theory and Practice, Bringley 2009, S. 111 ff.; Amstutz, Marc: „Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29/1 (2008), S. 125 ff.; Stähli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000; Menke, Christoph: „Subjektive Rechte. Zur Paradoxie der Form“ in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29/1 (2008), S. 81 ff.; Ruda, Frank: „Alles verpöbelt sich zusehends! Namenlosigkeit und generische Inklusion“, in: Soziale Systeme 14 (2008), S. 210 ff.; Francot-Timmermans, Lyana/Christodoulidis, Emilios: „The Normative Turn in Teubner’s Systems Theory of Law“, in: Rechtsfilosofie & Rechtstheorie 40 (2011), S. 187 ff.; siehe auch die Anschlüsse zwischen neo-materialistischen und systemtheoretischen Perspektiven in Buckel, Sonja: Subjektivierung und Kohäsion. Zur Rekonstruktion einer neo-materialistischen Theorie des Rechts, Weilerswist 2007; Hünersdorf, Bettina: „Systemtheorie als kritische Theorie der Sozialen Arbeit?“, in: dies. (Hg.), Was ist und wozu betreiben wir Kritik in der Sozialen Arbeit? Wiesbaden 2013, S. 165 ff.; Pahl, Hanno/Meyer, Lars: „Soziologische Aufklärung gestern, heute, morgen: Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft als Fortschreibung Kritischer Theorie?“, in: Ingo Elbe/Sven Ellmers (Hg.), Eigentum, Gesellschaftsvertrag, Staat: Begründungskonstellationen der Moderne, Münster 2009, S. 279 ff.; siehe ferner die kritischen Auseinan-

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genüber. Das sollte uns jedoch nicht vom Denken abhalten. Die Frage, ob die Theorie selbstreferentieller Sozialsysteme nicht doch Anschlussmöglichkeiten bietet, die das Anliegen kritischer Theorien weiterführen, die Verselbstständigung und Verdinglichung sozialer Verhältnisse zu verstehen und zu überwinden, lässt sich nicht unter Verweis auf die mögliche Motivlage des wichtigsten Denkers der modernen Systemtheorie unterbinden. Die Kommunikationen und nicht die Autorinnen und Autoren entscheiden über den Anschluss von Kommunikation an Kommunikation.2 Aber warum sollte dieser Versuch einer Aufladung der Luhmannschen Systemtheorie mit kritischem Impetus unternommen werden? Knapp gesagt: weil Gesellschaftskritik in der sozialen Polykontexturalität keinen Universalismus mehr duldet. Fragmentierung, nicht Totalität; Selbstreferenz, nicht Fremdreferenz; weder Monotheismus noch Monolatrie, sondern Vielgötterei; oder in den Worten eines achtsamen Beobachters der Evolution zeitgenössischer Prozesse/Strukturen: „Als Losung scheint sich dafür in Gesellschaften, die für die Lösung ihrer Probleme auf sich selbst […] verwiesen sind, immer mehr die Kategorie Reflexivität (Selbstreflexion) durchzusetzen. Reflexiv ansetzende Theorieprogramme müssen – rekonstruktiv – Entwicklungen nachgehen, die zu Krisen geführt haben, und sich – prospektiv – auf Bedingungen möglicher Krisenüberwindungen einlassen“.3 Eine gesellschaftliche Kritik ist heute nicht mehr aus einer Gesamtperspektive, sondern nur noch als „interne externe Beobachtung“4 der sozialen Funktionssysteme (Wirtschaft, Politik, Recht usw.) zu haben. Das auf sozialen Pluralismus spezialisierte Beobachtungsinstrumentarium der Systemtheorie soll in der gegenwärtigen Gesellschaft ohne Kopf und ohne Zentrum für die Einnahme normativ-kritischer Positionen genutzt werden.

dersetzungen in den Beiträgen in Alex Demirovic (Hg.): Komplexität und Emanzipation. Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Münster 2001. 2

Das missversteht Martin Schulte, wenn er meint, Systemtheorie müsse rein deskriptiv vorgehen, weshalb ‚Kritische Systemtheorie‘ nicht der Systemtheorie, sondern der ‚Kritischen Theorie‘ zuzuordnen sei: „wo System drauf steht, sollte [sic!, die Verf.] auch Systemtheorie drin sein“ (Schulte, Martin: Eine soziologische Theorie des Rechts, Berlin 2011, S. 7).

3

Wiethölter, Rudolf: „Pluralismus und soziale Identität”, in: Luigi Lombardi Vallauri/ Gerhard Dilcher (Hg.), Christianesimo, Secolarizzazione e Diritto Moderno, Bd. 2, Baden-Baden/Mailand 1981, S. 379 ff. (hier S. 380).

4

Luhmann, Niklas: „Was ist der Fall und was steckt dahinter?“, in: Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 245 ff. (hier S. 256).

EINLEITUNG

|9

Im Mittelpunkt des vorliegenden Bandes steht somit ein Projekt, das wir Kritische Systemtheorie nennen wollen. Gesellschaftsstrukturen anhand der Systemtheorie einer Kritik zu unterziehen, wirft allerdings schwierige Fragen auf. Kritische Systemtheorie muss zunächst versuchen, Anschluss an weitere Ansätze der sozialwissenschaftlichen Gesellschaftsanalyse zu finden. Nicht um ihre Beobachtungsleistung zu steigern, die unstreitig komplexer kaum sein könnte, sondern um Inspiration in ihrer emanzipativen Arbeit zu finden. In diesem Zusammenhang bestehen Affinitäten zu postmaterialistischen Theorien, die allerdings noch einer grundsätzlichen Diskussion bedürfen. Insbesondere die erste Generation Kritischer Theorie und der französische Poststrukturalismus stellen verheißungsvolle Reservoirs dar, ohne dass allerdings zurzeit genau abschätzbar wäre, wie die Inklusion in das systemtheoretische Ensemble im Einzelnen gelingen kann. Mit der Suche nach theoretischen Anschlüssen geht die Frage nach einer Gesellschaftskritik einher, die die Kritische Systemtheorie zu entwickeln hat: Wie ist eine systemtheoretisch informierte, immanente Gesellschaftskritik möglich? Das kritische Potenzial der Systemtheorie kann zum einen in einer präzisen Deskription gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse verortet werden. Indem die Systemtheorie als elaborierteste Selbstbeschreibung der bürgerlichen Gesellschaft das Instrumentarium für das Verständnis des an Tempo stets zulegenden Wandels der sozialen Strukturen zur Verfügung stellt, spielt sie eine Dimension ihres Kritikpotenzials aus, die in der Visibilisierung des Invisibilisierten besteht. Die zentrale Herausforderung ist aber, der Systemtheorie über die scharfe Deskription der Gesellschaftsverhältnisse auch normative Haltepunkte zu entlocken. In Abweichung von einer überlieferten alteuropäischen Tradition gibt es keine gesellschaftsexternen Fixpunkte für kritische Theorie. Kritik ist nicht als Erkenntnis ewiger Wahrheiten, sondern nur als Auseinandersetzung mit der sozial empfindlichsten Leerstelle sozialer Systeme möglich: der Paradoxie, auf welcher diese stets gründen. Das bedeutet beispielsweise für das Rechtssystem, dass dessen politisches Moment nur mit Verweis auf seine fundamentale Paradoxie dechiffriert werden kann. Recht kann auch Unrecht sein. Recht muss sich im Verhältnis zum Nichtrecht reflektieren, um seiner gesellschaftlichen Funktion nachzukommen. Was in den Rechtsroutinen invisibilisiert wird, muss durch Kritik sichtbar gemacht werden. Die zentralen Suchbewegungen dieser Kritik zielen darauf, herauszufinden, wie ein immanenter Kritiktyp entlang der paradoxalen Grundstruktur moderner Sozialsysteme entwickelt werden kann, wie Paradoxien als Einfallstor für eine emanzipative Gesellschaftskritik dienen können und vor allem: was „Emanzipation“ für eine funktional differenzierte Gesellschaft bedeutet, die heftige Globa-

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lisierungsschübe durchlebt und entsprechend mit Kollisionen vielgestaltiger, mehrschichtiger und wechselseitig verflochtener Regimes konfrontiert wird.5 Insbesondere das Ideal der Emanzipation wird hierbei von seiner rein politikorientierten – d.h. ausschließlich auf die Politik der Gesellschaft ausgerichteten – Konnotation selbst zu emanzipieren sein. Ziel ist die gesellschaftliche Emanzipation, die Demystifizierung von eingerichteten und ausgeübten Hegemoniebetrieben in allen Ecken der polykontexturalen Gesellschaft – und dies mit dem Anspruch, die soziale Responsivität gesellschaftlicher Institutionen herauszubilden. Gegen Tendenzen der Verselbstständigung gesellschaftlicher Institutionen spielt die Kritische Systemtheorie ihre Passion für Subversion, Abweichung und Variabilität aus. Sie setzt im inneren Arkanum der Gesellschaft an, um ‚echte‘ gesellschaftlich demokratische Selbstreferenz zu gewährleisten und ‚falschen‘ Rechtfertigungszauber zu entlarven. Der vorliegende Band widmet sich diesen Fragen aus multidisziplinären Perspektiven. Das Ziel besteht darin, das Projekt einer Kritischen Systemtheorie durch die wechselseitige Anreicherung von Diskussionen voranzutreiben, die gleichzeitig in Philosophie, Politologie, Soziologie und Rechtswissenschaft geführt werden. Marc Amstutz und Andreas Fischer-Lescano, Fribourg und Bremen, im März 2013

5

Siehe Fischer-Lescano, Andreas/Teubner, Gunther: Regime-Kollisionen: Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt a.M. 2006.

A. Systemtheorie und Gesellschaftskritik

Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie* A NDREAS F ISCHER -L ESCANO „Systemkritik im Sinne Adornos ist aber nur möglich, wenn man einen Begriff von sozialen 1

Systemen hat.“

HAUKE BRUNKHORST

Es gehört zu den gängigen Annahmen, dass es so etwas wie eine ‚Kritische Systemtheorie‘ nicht gibt. Systemtheorie sei nicht kritisch-emanzipativ, sondern als rein deskriptive Beobachtungsform die „Hochform eines technokratischen Bewusstseins“, eine „Apologie des Bestehenden um seiner Bestanderhaltung willen“. So hat Jürgen Habermas in der Debatte2 mit Niklas Luhmann formuliert3

*

Überarbeitete Fassung des Textes „Kritische Systemtheorie Frankfurter Schule“, in:

1

Hauke Brunkhorst, von dem dieses Zitat stammt (ders.: „Ästhetik als Gesellschaftskri-

Gralf-Peter Calliess et al. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Berlin 2009, S. 49 ff. tik. Vier Fragen zu Adorno“, in: Widerspruch 41 [2003], S. 12 ff. [hier S. 17]), hat präzise die Parallelen der Gesellschaftskonzeptionen von Systemtheorie und Adorno benannt; er verkörpert die Möglichkeit eines Re-entry Kritischer Systemtheorie in die Kritische Theorie. 2

Anlass des Aufeinandertreffens war, dass Luhmann 1968/1969 die Vertretung des

3

Habermas, Jürgen: „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?“, in: ders./

Lehrstuhls von Adorno in Frankfurt übernommen hatte. Niklas Luhmann, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1974, S. 142 ff.; zu den Konvergenzen und mit einem Plädoyer für eine weitere

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und diese Charakterisierung hat die kritische Theorie in normativer Hinsicht lange Zeit gegenüber der Systemtheorie hermetisch-autopoietisch verschlossen. Sie kann aber, das ist die These, die ich im Folgenden vertreten möchte, keinen universellen Wahrheitsanspruch geltend machen. Es gibt im Gegenteil eine „Kritische Systemtheorie“,4 die anschließt an die Arbeiten der Erstgeneration Kritischer Theorie und die den Zusammenhang von Systemzwang und Subjektivität offen legt, den Adorno als transsubjektive Verdinglichung und damit korrespondierende Entmündigung beschrieb.5 Die Systemtheorie der Weltgesellschaft artikuliert sich als kritische Theorie sozialer Systeme, wenn sie über eine bloß deskriptive Beschreibung der Strukturprobleme hinausgeht und die Gesellschaftsstrukturen einer Kritik unterzieht, die für postmaterialistische Theorien aktuellen Zuschnitts in vielfältiger Form produktiv anschlussfähig ist.6 Eine solchermaßen kritische Systemtheorie widmet sich den gesellschaftlichen Strukturantinomien. Sie übt sich als immanente Kritik in jener nonkonformistischen Haltung, in jenem ‚bösen Blick‘, der kriti-

Zusammenführung Kjaer, Poul: „Systems in Context. On the Outcome of the Habermas/Luhmann-Debate“, in: ancilla iuris 66 (2006), S. 66 ff. 4

Die Kreationsrechte für „Kritische Systemtheorie“ als Begriff liegen bei Rudolf Wiethölter, der kritische Theorie „unter Systembedingungen“ verficht und den Begriff in einem Seminar, das er mit Gunther Teubner und mir im Sommersemester 2007 zum „konstitutionellen Pluralismus in der Weltgesellschaft“ veranstaltet hat, einführte.

5

Siehe die Rekonstruktion bei Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 2008, S. 44 ff.; siehe auch Zuidervaart, Lambert: Social Philosophy after Adorno, Cambridge 2007, S. 8 ff.

6

Siehe nur Jessop, Bob: „Zur Relevanz von Luhmanns Systemtheorie und von Laclau und Mouffes Diskursanalyse für die Weiterentwicklung der materialistischen Staatstheorie“, in: Joachim Hirsch/John Kannankulam/Jens Wissel (Hg.), Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Baden-Baden 2008, S. 157 ff.; Buckel, Sonja: Subjektivierung und Kohäsion, Weilerswist 2007, S. 230 ff.; Negri, Antonio: „Philosophy of Law against Sovereignty“, in: European Journal of Legal Studies 1-3 (2008), S. 1 ff.; Möller, Kolja: „Global Assemblages im neuen Konstitutionalismus“, in: ancilla iuris (3) 2008, S. 44 ff., http://www.anci.ch (Stand 20.03.2013); Brunkhorst, Hauke: „Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft“, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2008, S. 63 ff.; siehe schon Blecher, Michael: Zu einer Ethik der Selbstreferenz oder: Theorie als Compassion, Berlin 1991; und Willke, Helmut: Stand und Kritik der neueren Grundrechtstheorie. Schritte zu einer normativen Systemtheorie, Berlin 1975.

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sche Theorie auszeichnet7 und mit dem gesellschaftliche Prozesse identifiziert und gestärkt werden sollen, die das Potenzial haben, die verdinglichten Ordnungen zu überwinden. Ich will im Folgenden die Verbindungen zwischen der Kritischen Systemtheorie und der Kritischen Theorie skizzieren. Neben der Skepsis gegenüber Universalvernunft und Universalmoral teilen die beiden Ansätze vor allem: • Das Denken in gesellschaftssystemischen, institutionellen Zusammenhängen,

die in ihrer Komplexität über einfache Reziprozitätsverhältnisse hinausgehen. • Die Annahme, dass Gesellschaft auf fundamentalen Paradoxien, Antagonis-

men, Antinomien aufgebaut ist. • Die Strategie, Gerechtigkeit als Kontingenz- und Transzendenzformel zu verstehen. • Die Form immanenter (und nicht moralbasierter externer) Kritik als einer Haltung der Transzendierung. • Das Ziel der gesellschaftlichen (und nicht nur politischen) Emanzipation in einem „Verein freier Menschen“ (Marx). Diese Gemeinsamkeiten, die ich jeweils ausführen möchte, sind insbesondere Ergebnis einer dekonstruktiv geöffneten Weiterentwicklung der Systemtheorie. Während Niklas Luhmann es sich in der klimatisierten VIP-Lounge der 27. Beobachterebene mit einem Glas Champagner bequem machte und die emanzipatorischen Kämpfe geschundener Individuen vernachlässigte, stellt kritische Systemtheorie dies vom Kopf auf die Füße. Während Luhmann den Anschluss von Kommunikation an Kommunikation voraussetzte, legt kritische Systemtheorie die Kontingenzen und die politische Umstrittenheit der Anschlusszusammenhänge offen, indem sie die Theorie dekonstruktiv gegen den Strich liest. Während Luhmann die Systemtheorie abschottete gegen normative Forderungen einer Umweltadäquanz, ist kritische Systemtheorie sensibel für gesellschaftliche Auseinandersetzungen um gerechte Ordnungsmuster. Das erlaubt eine normative Wendung der Systemtheorie, deren theoretische Komplexität Luhmann zwar goutierte, deren normativer Überschuss aber nur den kalten Bielefelder Beobachterblick zu spüren bekam: Luhmann sah das Konzept kritischer Systemtheorie „belastet durch die Absicht, damit eine Synthese von Theorien der ‚kritisch-

7

Zum „bösen Blick“ und dem Kritikverständnis der Tradition Demiroviü, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999, S. 430; ferner A. Honneth (Fn. 5), S. 57 ff.

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emanzipativen‘ Richtung mit Vorstellungen über ‚responsive Dogmatik‘ und mit soziologischen Analysen des ‚Rechtssystems‘ herbeizuführen.“8 Dieser anti-normativen Kritik zum Trotz führt die kritische Systemtheorie das unbemannte Flugobjekt Niklas Luhmanns nach seinem Blindflug über die Wolken und die Vulkane des Marxismus9 wieder zurück zur Erde. Wie in Hegels Dialektik begreift sie Widersprüche als das Movens der gesellschaftlichen Entwicklung und analogisiert dieses Denken in linkshegelianischer Absicht „mit Realwidersprüchen in der Marxschen Theorietradition. Die Parallele ist das Aufdie-Füße-Stellen: Paradoxien leben nicht in der idealen Welt des Geistes, sondern es existieren Realparadoxien in der Gesellschaft, die die Entwicklung vorantreiben.“10 Und genau hier zeigt sich das Potenzial einer Theorie, die die Funktionsbedingungen der ausdifferenzierten Weltgesellschaft zu beschreiben und Paradoxien offenzulegen vermag und somit Werkzeug systemtranszendierender Kritik darstellen kann. Darum insistiert kritische Systemtheorie wie schon Marx,11 dass „Realparadoxien in der Gesellschaft die Verhältnisse zum Tanzen bringen.“12

8

Luhmann, Niklas: „Einige Probleme mit ‚reflexivem Recht‘“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 6 (1985), S. 1 ff. (hier S. 2).

9

Ders.: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 13: „Der Flug muss über den Wolken stattfinden, und es ist mit einer ziemlich geschlossenen Wolkendecke zu rechnen. Gelegentlich sind Durchblicke nach unten möglich – […] ein Blick auf ein größeres Stück Landschaft mit den erloschenen Vulkanen des Marxismus.“

10 Teubner, Gunther: „Dreiers Luhmann“, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen: Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005, S. 199 ff. (hier S. 210); siehe auch Blecher, Michael: „Recht in Bewegung: Paradoxontologie, Recht und Soziale Bewegungen“, in: ARSP 92-4 (2006), S. 449 ff. 11 „[…] man muß diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, daß man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt!“ (Marx, Karl: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie: Einleitung“, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1976, S. 381). 12 Teubner, Gunther: „Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter“, in: Christian Joerges/GuntherTeubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht: RechtFertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, S. 25 ff. (hier S. 31); siehe zeitlos Wiethölter, Rudolf: „Begriffs- oder Interessenjurisprudenz“, in: Alexander Lüderitz/Jochen Schröder (Hg.), Internationales Privatrecht und Rechtsvergleichung im Ausgang des 20. Jahrhunderts, Festschrift für Gerhard Kegel, Frankfurt a.M. 1977, S. 213 ff.

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1. T RANSSUBJEKTIVITÄT „Die höchst formal klingende Definition präjudizierte, daß die Gesellschaft eine von Menschen, daß sie menschlich sei, unmittelbar eins mit ihren Subjekten; als bestünde nicht das spezifisch Gesellschaftliche im Übergewicht von Verhältnissen über die Menschen, deren 13

entmächtigte Produkte diese nachgerade sind.“ THEODOR ADORNO

„Kritische Systemtheorie Frankfurter Schule“, als Kombination systemtheoretischer Analyse und Frankfurter Kritik, teilt insbesondere mit der Gründergeneration der Kritischen Theorie die Grundannahme der Nichtidentität von Menschen und Gesellschaft. Gesellschaftliche Verhältnisse werden weder monologisch subjektiv (wie in Kants Imperativ), noch intersubjektiv, sondern transsubjektiv begründet. Kant und ihm nachfolgend die zweite Generation der Kritischen Theorie suchten noch, den administrativen Institutionenkomplex durch demokratisch legitimierbares Recht gesellschaftlich rückzubinden.14 Das kommt Adornos Idee des Entronnenseins aus der „verwalteten Welt“ entgegen und hierin begegnen sich radikaldemokratischer Kantianismus in der Form von Ingeborg Maus und Gesellschaftstheorie in der Tradition Adornos. Aus Adornos Perspektive bleibt dies aber reformistisch. Denn Bemühungen der Humanisierung von Institutionen, „wie wohlgemeint sie auch sein mögen, vermöchten die gegenwärtige Gestalt des gesellschaftlichen Widerspruchs zu mildern und zuzuschmücken, aber nicht aufzuheben.“15 Die Konzentration auf einen politischen Institutionenbegriff, so wäre der Vorwurf, insinuiert, dass Entfremdung ein Problem des Politiksystems wäre und dass es möglich sei, das Irrationale zu rationalisieren. Diese Strategie ist damit aber gerade der Ausdruck der Fetischisierung von Kollektivität und Organisation, die es zu durchbrechen gilt.16

13 Adorno, Theodor W.: „Gesellschaft“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 2003, S. 9 ff. (hier S. 9). 14 Prägnant Maus, Ingeborg: „Zur Theorie der Institutionalisierung bei Kant“, in: Gerhard Göhler et al. (Hg.), Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, Opladen 1990, S. 358 ff. 15 Adorno, Theodor W.: „Individuum und Organisation“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 2003, S. 440 ff. (hier S. 453). 16 Ebd., S. 455.

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Gegen diese Fetischisierung setzt Kritische (System-)Theorie Frankfurter Schule eine akribische Analyse der Gesellschaft als System und sucht nach Strategien der Entdinglichung. Gemeinsamer Ausgangspunkt sind Prozesse gesellschaftlicher Ausdifferenzierung. Unter den Autoren der soziologischen Klassikertexte sind hier Emile Durkheim und Talcott Parsons zu nennen. Ersterer – so goutiert Adorno bei aller Kritik – war dem Hauptstrom des Positivismus dadurch überlegen, dass er die Phänomene gesellschaftlicher Institutionalisierung und Verdinglichung nachhaltig hervorhob.17 Dass ihm Psychologie und Soziologie als eines geraten, kritisiert Adorno dann an dem systemtheoretischen Versuch von Talcott Parsons, eine Einheitswissenschaft vom Menschen zu stiften. Denn das gesellschaftlich gesetzte Moment der Divergenz von Individuum und Gesellschaft, und der den beiden gewidmeten Disziplinen, entgleite ihr. Das pedantisch organisierte Totalschema verkenne, dass Individuum und Gesellschaft, obwohl kein radikal Verschiedenes, geschichtlich auseinander getreten seien.18 Dies ist nun auch genau die Stelle, an der sich die moderne Systemtheorie im Sinne Luhmanns von Parsons Systemtheorie unterscheidet und wo die Systemtheorie wie bereits Adorno eine radikale Differenz von Bewusstseinssystemen und autopoietischen sozialen Systemen einzieht. Wie schon Adorno beschreibt Luhmann Gesellschaft als sich selbst reproduzierendes System, als soziale Realität, die den praktischen Intentionen der Akteure zunächst einmal unverfügbar ist. Kritische Systemtheorie, die die Verselbstständigung von Kommunikationsnetzwerken als radikale Exklusion der Menschen aus der Gesellschaft analysiert, verweist auf diese Parallele: „Die Systemtheorie nimmt hier aus der sozialtheoretischen Tradition Theoreme gesellschaftlicher Entfremdung in zeitgemäßer Fassung wieder auf. An diesem Ort bestehen heimliche Kontakte zu offiziellen Feindtheorien, zu Foucaults Analysen der Disziplinarmacht, Agambens Kritik der gesellschaftlichen Exklusion, Lyotards Theorie der geschlossenen Diskurse und Derridas Denken über Gerechtigkeit“.

19

17 Ders.: „Einleitung zu Emile Durkheim, ‚Soziologie und Philosophie‘“, in: ebd., S. 245 ff. (hier S. 250). 18 Ders.: „Einleitung zum Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“, in: ebd., S. 280 ff. (hier S. 297); zu Adornos Kritik an Parsons ferner Adorno, Theodor W.: „Zum Verhältnis von Soziologie und Psychologie“, in: ebd., S. 42 ff.; und ders.: Einleitung in die Soziologie (1968), Berlin 2003, S. 18. 19 Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 45 (2006), S. 161 ff. (hier S. 168) unter

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Ein solches Theoriedesign evoziert humanistische Kritik. Wer Gesellschaft anders denn als Zusammenschluss von Individualmenschen konzipiere, denke das A-Humane, agiere kontraintuitiv, interessiere sich nicht für menschliche Schicksale. Adorno und Luhmann haben auf diese Kritik im Grunde in gleicher Form geantwortet. Während sich Luhmann irritiert zeigt, dass Humanisten in der Regel das Wort Mensch im Singular führen und damit schon andeuten, dass sie es mit den Einzelexemplaren nicht so genau nehmen,20 begründet Adorno die Nichtidentität unter Berufung auf den Marx’schen Materialismus, nach dem eine Analyse „des“ Menschen unmöglich sei, „das wäre eine Oberflächlichkeit gegenüber dem geschichtlichen Wesen.“21 Es ist konsequent, dass sich Luhmann bei der Einführung der Selbstreferenz dazu bekennt, die Marx’sche Auffassung der Gesellschaft als eines „sich abstrahierenden, kategorisierenden, thematisierenden Sozialsystems“ bewahren zu wollen.22 Wie Marx, der im Kapital den wirtschaftlichen Wert als „eine prozessierende, sich selbst bewegende Substanz, für welche Ware und Geld bloße Formen“ darstellen,23 begreift, setzt Systemtheorie den Begriff der Selbstreferenz sozialer Systeme zentral.24 Anders aber als Marx und die Kritische Theorie geht die Kritische Systemtheorie von einer Vielzahl selbstreferentieller sozialer Prozesse aus. Während also Adorno im Anschluss an Marx den Systembegriff monistisch versteht und innerhalb des einen einzigen Gesellschaftssystems untersucht, wie Individuen bis in die intimsten Regelungen hinein genötigt werden, „dem Gesellschaftsmechanismus als Rollenträger sich einzuordnen und ohne Reservat nach ihm sich zu modeln“,25 stellen systemtheoretische Analysen auf eine Vielzahl systemischer Binnendifferenzierungen des Weltgesellschaftssys-

Verweis auf Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit: Politische Philosophie nach Adorno und Derrida, Berlin 2004. 20 Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 35 ff. 21 Adorno, Theodor W.: „Über Marx und die Grundbegriffe der soziologischen Theorie. Seminarmitschriften“, in: Backhaus, Hans-Georg (Hg.), Dialektik der Wertform: Untersuchungen zur Marxschen Ökonomiekritik, Freiburg 1997, S. 501 ff. (hier S. 504). 22 Luhmann, Niklas: „Selbst-Thematisierungen des Gesellschaftssystems“, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 5. Aufl., Wiesbaden 2005, S. 89 ff. (hier S. 101). 23 Marx, Karl: „Das Kapital“, in: Marx Engels Werke, Bd. 23, Berlin 1968, S. 169. 24 Instruktiv zu diesen Parallelen Breuer, Stefan: „Adorno/Luhmann. Konvergenzen und Divergenzen von Kritischer Theorie und Systemtheorie“, in: Leviathan 15-1 (1987), S. 91 ff. (hier S. 103). 25 Adorno, Theodor W.: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 2003, S. 354 ff. (hier S. 361).

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tems ab. Nicht nur ist der Mensch Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse,26 auch ist die Gesellschaft Ensemble gesellschaftlicher Teilsysteme. Das macht es dann letztlich unmöglich, Gesellschaft vom Menschen her zu denken: „Angesichts von Polykontexturalität, also angesichts der Emergenz von hochfragmentierten, intermediären Sozialstrukturen und des Auseinanderdriftens von Interaktionssystemen, formalen Organisationen und Gesellschaftssystem kann man die Gesellschaft nicht mehr von der Interaktion her begreifen.“27 In der Beobachtung weltgesellschaftlicher Ausdifferenzierung, globaler Funktionssysteme, Organisationen und Regimes trifft sich die Kritische Systemtheorie mit neoinstitutionalistischen Theorien der „global culture“ der Stanford School, postmodernen Konzepten des globalen Rechtspluralismus, polit-regulatorischer Assemblages, der internationalen politischen Ökonomie und Theorien der globalen Zivilgesellschaft.28 Die Gefährdungen für individuelle und gesellschaftliche Autonomieräume resultieren danach aus dem Totalisierungsdrang weltgesellschaftlicher Organisationen und Institutionen, aus „transnationalen Matrices“, aus globalem Wirtschaftssystem, Politiksystem, Religionssystem, Wissenschaftssystem, Gesundheitssystem etc. Alle diese gesellschaftlichen Götzen kennen keine Götter neben sich,29 alle verfolgen ein rücksichtsloses Programm der Eigenrationalitätsmaximierung. Die polykontexturale Gesellschaft gestattet es dann nicht, den Menschen (im Singular) zu identifizieren, sondern die Vielzahl von Homo-Formeln indiziert die vielfältigen Grenzbeziehungen

26 Marx, Karl: „Thesen über Feuerbach, 6. These“, in: Marx Engels Werke, Bd. 3, Berlin 1958, S. 5. 27 Teubner, Gunther: „Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?“, in diesem Band, S. 327 (hier 331). 28 Zu ‚Global culture‘: Meyer, John W., et al.: „World Society and the Nation-State“, in: American Journal of Sociology 103 (1997), S. 144 ff.; zum globalen Rechtspluralismus: Boaventura de Sousa Santos: Toward a New Legal Common Sense: Law, Globalization and Emancipation, 2. Aufl., London 2002, S. 163 ff.; Hanschmann, Felix: „Theorie transnationaler Rechtsprozesse“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/ Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 375 ff.; zu den Assemblages: Sassen, Saskia: Territory, Authority, Rights, Princeton 2006, S. 224; zur IPÖ: K. Möller (Fn. 6), S. 44 ff.; zur globalen Zivilgesellschaft: Brunkhorst, Hauke: Solidarität, Frankfurt a.M. 2000, S. 274 ff. 29 Siehe Max Webers Konzept des Polytheismus: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1968, S. 605; hierzu Teubner, Gunther: „Altera Pars Audiatur: Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche“, in: ARSP Beiheft 65 (1996), S. 199 ff.

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zwischen Systemen und Individualmenschen: homo sapiens, homo faber, homo oecologicus, homo militans, homo oeconomicus, homo politicus, homo sociologicus, homo religosus, homo psychologicus etc.30 Ausbeutungs- und Subalternitätszusammenhänge in den Grenzbeziehungen der Menschen zur Gesellschaft emergieren im Kontext spezifischer Funktionssysteme. Die Individuen, so formuliert Nancy Fraser, sind „so etwas wie Schnittpunkte, an denen sich die mannigfaltigen und zueinander quer liegenden Achsen der Benachteiligung kreuzen.“31 Das kann im schlimmsten Fall zu Situationen führen, in denen nicht einmal das eigene Leben etwas ist, was man verlieren könnte.32 Dass solche Prekarisierungen, sofern sie aus den Strukturen des Wirtschaftssystems resultieren, besonders existentielle Folgelagen evozieren, ist evident. Analysen marxistischer Provenienz setzen hier an. Unter Akzentuierung der zentralen Funktion des Wirtschaftssystems für die gesellschaftlichen Reproduktionsbedingungen konzipiert „materialistische Systemtheorie“33 eine Primatstellung des Wirtschaftssystems. „Kapitalismus“ charakterisiert dann nicht nur die Funktionsweise des Wirtschaftssystems, sondern eine (historische) Systemformation, eine ganz bestimmte Interdependenzlage der Systeme Politik, Wirtschaft und Recht im weltgesellschaftlichen Institutionenensemble. Der privatautonomen (Recht), gewaltmonopolistisch durchgesetzten (Politik) Eigentumsordnung (Wirtschaft) der kapitalistischen Gesellschaftsformation ist inhärent, dass das Wirtschaftssystem ein „ökologisches“ Primat über seine gesellschaftliche Umwelt innehat.34 „Kapitalismus“ meint dann nicht ein Determinationsschema im Basis/Überbau-Verhältnis sondern ein ganz bestimmtes Systemarrangement in der ausdifferenzierten Weltgesellschaft.

30 Fuchs, Peter: Der Eigen-Sinn des Bewußtseins, Bielefeld 2003, S. 16, 47. 31 Fraser, Nancy: „Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik“, in: Nancy Fraser/Axel Honneth (Hg.), Umverteilung oder Anerkennung? Frankfurt a.M. 2003, S. 13 ff. (hier S. 80). 32 Niklas Luhmann: „Inklusion und Exklusion“, in: ders., Die Soziologie und der Mensch. Soziologische Aufklärung 6, Frankfurt a.M. 1995, S. 237 ff. 33 So der Begriff bei Brunkhorst, Hauke: Kommentar zu Karl Marx. Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Frankfurt a.M. 2007, S. 228. 34 B. Jessop (Fn. 6), S. 157 ff.; siehe auch Schimank, Uwe: „Funktionale Differenzierung und gesellschaftsweiter Primat von Teilsystemen – offene Fragen bei Parsons und Luhmann“, in: Soziale Systeme 11 (2005), S. 395 ff.; Ansätze bei Luhmann, Niklas: „Identitätsgebrauch in selbstsubstitutiven Ordnungen, besonders Gesellschaften“, in: ders., Soziologische Aufklärung 3, Opladen 1981, S. 198 ff. (hier S. 217).

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Kritische Systemtheorie beschreibt diese weltgesellschaftlichen Formationen nicht nur, sondern setzt mittels einer gesellschaftlichen Mäeutik auf die „Entbindung gesellschaftlicher Normativitätspotenziale“35 zur Sozialisierung der Institutionen und bezieht sich auf eine ganze Reihe von Vertretern normativer Soziologie, die die Möglichkeitsbedingungen der Gesellschaftsgerechtigkeit gesellschaftlicher Organisationen, Institutionen und Netzwerke ausgelotet haben.36 Kritischer Systemtheorie Frankfurter Schule geht es dabei um die Sicherung gesellschaftlicher Freiheitsräume „als wechselseitige Abhängigkeit von Teilautonomien, die nicht etwa nur die Autonomie von funktionalen Systemen, sondern auch die von Individuen, Kollektiven, Institutionen, Organisationen betrifft. Sie ist ein durch und durch normatives Konzept“.37

2. U MGANG

MIT

P ARADOXIEN „Wer die Erfahrung des Vorrangs der Strukturen über die Sachverhalte sich nicht verbauen läßt, wird nicht, wie meist seine Kontrahenten, Widersprüche vorweg als solche der Methode, als Denkfehler abwerten und sie durch die Einstimmigkeit der wissenschaftlichen Systematik zu beseitigen trachten. Statt dessen wird er sie in die Struktur zurückverfolgen, die antagonistisch war, seit es Gesell38

schaft im nachdrücklichen Sinn gibt, und die es blieb“. THEODOR ADORNO

Wie die kritische Theorie erster Generation sieht die kritische Systemtheorie Frankfurter Schule das gesellschaftliche Movens in Realwidersprüchen. Paradoxien sind nicht hintergehbar, sie können von hegemonialen Diskursen nur invisi-

35 G. Teubner (Fn. 12), S. 44. 36 Fuller, Lon L.: The Morality of Law, New Haven 1969; Selznick, Philip/Nonet, Philippe/Vollmer, Howard M.: Law, Society and Industrial Justice, New York 1969; Ewald, François: L’État providence, Paris 1986; Friedland, Roger/Alford, Robert R.: „Bringing Society Back in: Symbols, Practices, and Institutional Contradictions“, in: Walter W. Powell/Paul J. DiMaggio (Hg.), The New Institutionalism in Organizational Analysis, Chicago 1991, S. 232 ff. 37 G. Teubner (Fn. 12), S. 43. 38 T.W. Adorno (Fn. 25), S. 357.

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bilisiert werden.39 Dazu muss man aber „ihre Latenzen latent halten, ihre Aporien verdrängen, auf ihre Dekonstruktion verzichten, dem Scharfsinn Grenzen setzen, Kritik unterlassen, Verblendungszusammenhänge einrichten, die Student_innen belügen.“40 Statt unkritischer Reproduktion gesellschaftlicher Widersprüche durch deren Invisibilisierung und Leugnung zielt die Offenlegung von Paradoxien auf Demystifizierung und immanente Kritik. In der Hegelschen Tradition bedeutet Dialektik qua Verfahren, um des einmal an der Sache erfahrenen Widerspruchs willen und gegen ihn in Widersprüchen zu denken. Als „Widerspruch in der Realität“, so formuliert Adorno, „ist sie Widerspruch gegen diese.“41 Exakt diesen Widerspruch, der auch für Adorno nicht in der Synthese aufgehoben werden kann,42 hat kritische Systemtheorie Frankfurter Schule im Auge, wenn sie den Umgang mit Paradoxien in allen Sozialsystemen (nicht nur der institutionalisierten Politik) als genuin ‚politisch‘ begreift:43 „Das ‚Politische‘ erscheint dann auch außerhalb des politischen Systems als Entscheidung im Kontext von Unentscheidbarkeit: als Auflösung von Sinnbrüchen in antagonistischen Arrangements“.44 Das öffnet insbesondere den Blick dafür, „dass Machtprozesse trotz des staatlichen Gewaltmonopols auch außerhalb der Politik stattfinden“.45 Gerade das systemtheoretische Insistieren auf der Paradoxie als der großen Leerstelle der Begründung gesellschaftlicher Institutionen, auf dem mystischen Fundament, provoziert Kritik.46 Diese Angriffe sind die Wiederkehr eines Vorwurfs, den Jür-

39 „Alle Verdinglichung ist ein Vergessen“, schreiben Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: „Dialektik der Aufklärung“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1981, S. 263; zur Invisibilisierung N. Luhmann (Fn. 20), S. 221. 40 G. Teubner (Fn. 12), S. 42. 41 Adorno, Theodor W.: „Negative Dialektik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1997, S. 146. 42 Ders.: „Vorlesung über Negative Dialektik. Fragmente zur Vorlesung 1965/66“, in: Nachgelassene Schriften, Bd. 16, Frankfurt a.M. 2003, S. 16. 43 Pointiert zur Kombination von Dekonstruktion und Systemtheorie Menke, Christoph: „Subjektive Rechte. Zur Paradoxie der Form“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 81 ff. (hier S. 86). 44 G. Teubner (Fn. 12), S. 36. 45 G. Teubner (Fn. 27), S. 353. 46 So bei Günther, Klaus: „Kopf oder Füße? Das Rechtsprojekt der Moderne und seine vermeintlichen Paradoxien“, in: Kiesow, Rainer Maria/Ogorek, Regina/Simitis, Spiros (Hg.), Summa – Festschrift für Dieter Simon zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 2005, S. 255 ff.; siehe ferner Bung, Jochen: „Das Bett des Karneades. Zur Metakritik

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gen Habermas formuliert hat: „Wer an einem Ort, den die Philosophie einst mit ihren Letztbegründungen besetzt hielt, in einer Paradoxie verharrt, nimmt nicht nur eine unbequeme Stellung; er kann die Stellung nur halten, wenn mindestens plausibel erscheint, daß es keinen Ausweg gibt.“47 Diese Formulierung, die heute in identischer Form gegen die Systemtheorie vorgebracht wird, richtete Habermas 1985 in „Der philosophische Diskurs der Moderne“ gegen Adorno und Horkheimer. An eben dieser Stelle zieht Habermas statt der Paradoxie eine diskurstheoretische Intersubjektivität ein, während Horkheimer und Adorno sich keinen intellektuellen Ausweg aus der unbequemen Stellung der Paradoxie erlauben.48 Die kritische Systemtheorie geht in dieser Frage zurück zu den Wurzeln Kritischer Theorie. Hier gibt es Berührungspunkte mit paradoxologischen Ansätzen einer reformierten kritischen Theorie, die einmal am Institut für Sozialforschung reüssieren49 und die zum anderen in der Schule Albrecht Wellmers Unversöhnlichkeiten, Paradoxien und den gesellschaftlichen Widerstreit thematisieren.50 So hat, ähnlich wie Urs Staehelis Projekt des „Updating Luhmann mit Foucault“, Christoph Menke eine französische Lesart systemischer Selbstreproduktionsverhältnisse unternommen. Beiden ist gemeinsam, dass sie an Sinnzusammenbrüchen ansetzen und die Selbstreflexionsprozesse des Rechts als politische Prozesse, als Kampf um die Rechtsform selbst, deuten.51 Und auch Antonio Negri hat gerade dieses Interesse an Antagonismen, Paradoxien und Inkommensurabilitäten

der Paradoxologie“, in: Brugger, Winfried/Neumann, Ulfrid/Kirsten, Stephan (Hg.), Rechtsphilosophie im 21. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2008, S. 72 ff. 47 Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 155. 48 A. Demiroviü (Fn. 7), S. 523. 49 Siehe Honneth, Axel: „Organisierte Selbstverwirklichung. Paradoxien der Individualisierung“, in: ders. (Hg.), Befreiung aus der Mündigkeit. Paradoxien des gegenwärtigen Kapitalismus, Frankfurt a.M. 2002, S. 141 ff.; und Hartmann, Martin: „Widersprüche, Ambivalenzen, Paradoxien – Begriffliche Wandlungen in der neueren Gesellschaftstheorie“, in: ebd., S. 221 ff. 50 Wellmer, Albrecht: Endspiele: Die unversöhnliche Moderne, Frankfurt a.M. 1993; Seel, Martin: Paradoxien der Erfüllung, Frankfurt a.M. 2006; C. Menke (Fn. 43), S. 81 ff. 51 C. Menke (Fn. 43), S. 86: Daran, dass die Paradoxie des Rechts die Form „subjektiver Rechte“ sowohl hervorbringt als auch in Frage stellt, zeige sich „der wesentlich politische Charakter des selbstreflexiven Rechts“. Siehe ferner Staeheli, Urs: „Updating Luhmann mit Foucault?“, in: kultuRRevolution. Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 47 (2004), S. 14 ff.; Fischer-Lescano, Andreas/Christensen, Ralph: „Auctoritatis interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie“, in: Der Staat 44 (2005), S. 213 ff.

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in Bemerkungen zu Teubners Rechtssystemtheorie euphorisch aufgenommen: „Es ist großartig, dass es die Rechtswissenschaftler sind, die den Geist der neuen Epoche aufnehmen und sperrige Philosophietraditionen hinter sich lassen.“52 Die Paradoxienbegründung bleibt auch für das von kritischer Systemtheorie maßgeblich hinterfragte Recht nicht ohne Auswirkungen. Während man für die Erstgeneration Kritischer Theorie noch sagen muss, dass sie sich dem juridischen Diskurs kaum zuwandte, dass die Juristen Kirchheimer, Neumann und Abendroth an den inneren Zirkel um Marcuse, Horkheimer und Adorno nicht heranreichten, bezieht die aktuelle kritische Theorie den nationalen und internationalen Rechtsdiskurs nachdrücklich ein.53 Anders aber als die kritische Systemtheorie, die das politische Moment des Rechts unter Verweis auf seine paradoxe Grundlage dechiffriert, wählen die Zweit- und die Drittgeneration der kritischen Theorie einen Kantischen Zugang, indem sie Politik als „ausübende Rechtslehre“ rahmen und fragen, wie die demokratische Idee unter Globalisierungsbedingungen aktualisiert werden kann. So hat Jürgen Habermas in „Faktizität und Geltung“ seine Rechtsphilosophie ausgearbeitet und sich in jüngeren Arbeiten intensiv mit dem Weltrecht befasst.54 Das Rousseau’sche Erbe betonend besteht auch Ingeborg Maus nachhaltig auf der zusammenschauenden Betrachtung von Rechts- und Politikprozessen im globalen Rahmen.55 Und auch Hauke Brunkhorst widmet sich zentral den Interdependenzlagen von Politik und Rechtspro-

52 A. Negri (Fn. 6), S. 11 (Übersetzung aus dem Italienischen). 53 Zur zweiten Generation kritischer Theorie und dem Recht: Niesen, Peter/Eberl, Oliver: „Demokratischer Positivismus: Habermas/Maus“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/ Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 93 ff. 54 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992; ders.: „Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?“, in: KJ 3 (2005), S. 222 ff.; siehe die fruchtbaren Weiterführungen für globale Politikprozesse bei Deitelhoff, Nicole: Überzeugung in der Politik, Frankfurt a.M. 2006. 55 Maus, Ingeborg: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im Anschluß an Kant, Frankfurt a.M. 1992; dies.: „Das Verhältnis der Politikwissenschaft zur Rechtswissenschaft. Bemerkungen zu den Folgen politologischer Autarkie“, in: Michael Becker/Ruth Zimmerling (Hg.), Politik und Recht, Wiesbaden 2006, S. 76 ff.; siehe in dieser Tradition instruktiv Eberl, Oliver: Demokratie und Frieden. Kants Friedensschrift in den Kontroversen der Gegenwart, Baden-Baden 2008.

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zessen in der Weltgesellschaft.56 Kritische Theorie im Recht wird insbesondere in den Arbeiten von Klaus Günther57 und Günter Frankenberg58 sichtbar; letzterer verbindet zugleich die kritische Rechtstheorie Frankfurter Schule mit den Arbeiten der critical legal studies (crits) um Duncan Kennedy, David Kennedy, Martti Koskenniemi und Anthony Anghie.59 All diese Ansätze situieren Recht im gesellschaftlichen Kontext, gehen also über rein dogmatisches „Vergessen“ (Horkheimer/Adorno)60 hinaus. Stärker als der Frankfurter Strang kritischer Rechtstheorie betonen die crits die Unbestimmtheit des Rechts, indem sie in dieser Frage an den legal realism anknüpfen und ihre Kritiken unter Bezug auf Derridas Aporienlehre schärfen.61 Gemeinsam ist den Arbeiten bei allen Unterschieden, dass sie Politik und Recht in enger Verbindung sehen.62 Kritischer Rechtssystemtheorie ist es hierbei insbesondere darum zu tun, das Politische im Recht als das Widerstreitsmoment des Rechts offen zulegen.63 Gerade dieses hatte schon Marx im Blick, als er formulierte: „Es

56 Jüngst Brunkhorst, Hauke: „Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft. Global Rule of Law, Global Constitutionalism und Weltstaatlichkeit“, in: Albert, Mathias/Stichweh, Rudolf (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2007, S. 63 ff. 57 Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit, Frankfurt a.M. 1988; ders./Randeria, Shalini: Recht, Kultur und Gesellschaft im Prozeß der Globalisierung, Bad Homburg 2001. 58 Frankenberg, Günter: Autorität und Integration: Zur Grammatik von Recht und Verfassung, Frankfurt a.M. 2003; ders.: „Zivilgesellschaft im transnationalen Kontext“, in: Maecenata Jahrbuch für Philanthropie und Zivilgesellschaft 2003, S. 13 ff. 59 Instruktiver Überblick m.w.N. bei Frankenberg, Günter: „Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies“, in: Sonja Buckel/Ralph Christensen/Andreas Fischer-Lescano (Hg.), Neue Theorien des Rechts, 2. Aufl., Stuttgart 2009, S. 93 ff. 60 M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 39), S. 263. 61 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, Frankfurt a.M. 1996. 62 Generell zu den juristischen Denkern der kritischen Theorie siehe den Überblick bei Perels, Joachim: „Kritische Justiz und Frankfurter Schule“, in: Detlev Claussen/Oskar Negt/Michael Werz (Hg.), Philosophie und Empirie, Frankfurt a.M. 2001, S. 146 ff.; ferner die Rekonstruktion bei S. Buckel (Fn. 6), S. 80 ff. 63 Siehe hierzu auch Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas: „Hegemonie im globalen Recht – Zur Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie“, in: dies. (Hg.), „Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, Baden-Baden 2007, S. 85 ff.

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findet hier also eine Antinomie statt, Recht wider Recht, beide gleichmäßig durch das Gesetz des Warenaustausches besiegelt.“64

3. G ERECHTIGKEIT ALS K ONTINGENZ T RANSZENDENZFORMEL

UND

„Recht ist das Urphänomen irrationaler Rationalität.“

65

THEODOR ADORNO

Adorno hat Stringenz und Totalität beharrlich als die bürgerlichen Denkideale von Notwendigkeit und Allgemeinheit in die Kritik genommen.66 Systemische Geschlossenheit hat er als Hermetisierung durch Verfahren und als systemische Selbstbehauptung gegen die „Ubiquität des Betriebs“ charakterisiert. Das trifft sich mit systemtheoretischen Beschreibungen einer order from noise in der Koevolution von System und Umwelt.67 Sowohl Adorno als auch kritische Systemtheorie verstehen unter ‚System‘ hierbei nicht eine statische Strukturhierarchie. Diese Denkform, die Friedrich Nietzsche wirkmächtig denunzierte,68 ist beiden Systemansätzen fremd. Beide beschreiben vielmehr die höchst dynamischen, evolutiven, eruptiven Autonomisierungen von Rationalität(en) als dialektischen Prozess der Emergenz selbstrefentieller Systeme. Adorno bringt diese Verselbstständigungsproblematik in seiner Musikphilosophie auf den Punkt, wenn er solipsistischer Musik vorwirft, dass die Strenge des Gefüges, durch welches Musik gegen die Ubiquität des Betriebs sich behauptet, sie derart in sich verhärtet habe, dass jenes ihr Auswendige, Wirkliche sie nicht mehr erreiche, welches ihr einmal den Gehalt zugebracht habe, aus dem absolute Musik wahrhaft zur absoluten wurde.69 Die Crux sei, so führt Adorno in der Ästhetischen Theorie aus, dass die

64 K. Marx (Fn. 23), S. 249. 65 T.W. Adorno (Fn. 41), S. 303 f.; ders. (Fn. 15), S. 445. 66 Adorno, Theodor W.: „Minima Moralia“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a.M. 1980, S. 172. 67 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 789 ff. 68 „Der Wille zum System ist ein Mangel an Rechtschaffenheit“ (Nietzsche, Friedrich: „Götzendämmerung“ [1888], in: ders., Das Hauptwerk. Werke Bd. 4, Frankfurt a.M. 1990, S. 253 ff. [hier S. 260, Ziff. 26]). 69 Adorno, Theodor W.: „Philosophie der neuen Musik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 12, Frankfurt a.M. 1985, S. 27.

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gesellschaftliche Institution zwar nur im Verhältnis zu dem, was sie nicht ist, zu ihrem Anderen, ist,70 dass sie aber andererseits für gesellschaftliche Einflüsse offen gehalten werden muss. Geschlossenheit und Offenheit zugleich: Wer für alles offen ist, ist nicht mehr ganz dicht; zugleich muss systemischer Autismus vermieden werden. Was Adorno für die Kunst zeigt, buchstabiert die Systemtheorie für eine ganze Reihe von autopoietischen Rationalitätsbereichen aus, die alle nur in ihrem Verhältnis zur gesellschaftlichen Umwelt bestehen. Drawing distinctions.71 Die verdinglichten Rationalitätsbereiche Kunst, Wirtschaft, Politik, Recht etc. sind als gesellschaftliche Realitäten keine ontologischen Größen sondern Konstrukt eben dieser Gesellschaft, ideologiekritisch gesprochen: Sie sind Fiktion, Schein, gesellschaftliche Götter. Aber nur Schein, so insistiert Adorno, seien die fetischisierten Vorstellungen auch nicht, denn insofern die Menschen tatsächlich abhängig würden von diesen ihnen undurchsichtigen Objektivitäten, sei die Verdinglichung nicht nur ein falsches Bewusstsein, sondern zugleich auch Realität. Dass die Kategorien des Scheins in Wirklichkeit auch Kategorien der Realität sind, darin manifestiere sich die Dialektik.72 Der kritischen Systemtheorie Frankfurter Schule geht es dann darum, in die Geschlossenheit gesellschaftlicher Ordnung eine praktische Pflicht zur Entwicklung einer Mehrwerttheorie einzubauen,73 um die hochgezüchteten Rationalitätsbereiche wieder an jenes „Auswendige, Wirkliche“ rückzubeziehen, dem sie ihre Existenz verdanken. Die Testfrage für Anschlusskämpfe lautet: „An welchen gesellschaftlichen Orten werden gesellschaftliche Utopien entworfen?“74 Die Frage zielt auf den Stachel der Gerechtigkeit. In ihrer Beantwortung fordert kritische Systemtheorie die „selbstsubversive Gerechtigkeit als Kontingenzund Transzendenzformel“ zugleich. Das führt zu einem doppelten Konzept der Gerechtigkeit, die zunächst als innersystemische Kontingenzformel die interne Konsistenz plus Responsivität gegenüber den Anforderungen der Gesellschaft wahren muss.75 Bereits diese aus der rechtlichen Selbstbeschreibung entwickelte

70 Ders.: „Ästhetische Theorie“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 7, Frankfurt a.M. 1996, S. 12. 71 „Draw a distinction: Die entscheidende theoretische Ressource systemtheoretischer Beobachtung ist die Unterscheidung System/Umwelt“ (N. Luhmann, Fn. 67, S. 60). 72 T.W. Adorno (Fn. 21), S. 508. 73 Siehe Teubner, Gunther/Zumbansen, Peer: „Rechtsentfremdungen: Zum gesellschaftlichen Mehrwert des zwölften Kamels“ in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), S. 189 ff. 74 G. Teubner (Fn. 12), S. 37. 75 Fögen, Marie T.: Das Lied vom Gesetz, München 2007, S. 95 ff.

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Formel sollte in ihren normativen Implikationen nicht unterschätzt werden. Denn sie verpflichtet das Recht als Suchformel, gesellschaftliche Strukturkonflikte in die quaestio iuris zu übersetzen, Autonomieräume füreinander kompatibel zu halten, Bedingungen für die Selbstkonstituierung der Individuen zu garantieren. Das normative Modell der Gerechtigkeit als Kontingenz- und Transzendenzformel geht aber darüber hinaus. Eine Sicht, die bei der Kontingenzformel stehen bliebe und diese zu universalisieren suchte, würde nur neue Ungerechtigkeiten provozieren. Kritische Systemtheorie wirft den universalistischen Gerechtigkeitstheorien gerade einen solchen Imperialismus rechtlicher Rationalität vor, gegen den politische Wachsamkeit geboten ist und der deshalb so gefährlich sei, weil summum ius summa iniuria implizieren kann.76 Dieser Kohlhaas’schen Konsequenz verdinglichter Immanenz des Rechts setzt kritische Systemtheorie ein Transzendenzmoment entgegen und fordert (normativ) die Eröffnung eines Verweisungsüberschusses, die Aktivierung utopischer Energien unter den Voraussetzungen konkret erfahrener Ungerechtigkeit. Das bedeutet „die Aufforderung der Transzendenz, die Immanenz in deren für diese jedoch nicht verstehbaren Sinn zu transformieren […] Gerechtigkeit verwirklicht sich erst im realen Durchgang durch Ungerechtigkeit“.77 Prozesse gesellschaftlicher colère publique sind eine Artikulationsform solcher Ungerechtigkeitserfahrung,78 die auch Adorno benennt, wenn er Phänomene gesellschaftlicher Unmittelbarkeit adressiert und den Impuls, die nackte physische Angst und das Gefühl der Solidarität mit den, nach Brechts Wort, quälbaren Körpern dafür anführt, dass das Ungetrennte einzig in den Extremen lebe, in der spontanen Regung, die ungeduldig mit dem Argument, nicht dulden will, dass das Grauen weitergehe.79 Adorno und kritischer Systemtheorie ist damit das Plädoyer gegen die Verwaltungswissenschaft der Gerechtigkeit gemeinsam. Gesellschaftliche Unmittelbarkeit gibt es nur in Konfigurationen, die Gerechtigkeit nicht in Gerechtigkeitsorganisation verwandeln. Zugleich aber, das ist das Dialektische daran, ist Möglichkeitsbedingung für das Wirken der Transzendenzformel, dass es einen eingerichteten und ausgeübten Betrieb des Rechts in der

76 G. Teubner (Fn. 27), S. 363. 77 Ebd., S. 356; ferner ders.: „Ökonomie der Gabe - Positivität der Gerechtigkeit: Gegenseitige Heimsuchungen von System und différance“, in: Albrecht Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin 1999, S. 199 ff. 78 Zur colère publique Fischer-Lescano, Andreas: „Global Constitutional Struggles: Human Rights between colère publique and colère politique“, in: Wolfgang Kaleck et al. (Hg.), International Prosecution of Human Rights Crimes, Berlin 2006, S. 13 ff. 79 T.W. Adorno (Fn. 41), S. 281.

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verwalteten Welt gibt, der dann erst die Notwendigkeit der Suchformel evoziert.80 Es ist genau diese gegenseitige Bedingtheit von Schutz und Maskerade,81 von Immanenz und Transzendenz,82 die Adorno in der Negativen Dialektik mit Blick auf den Warentausch formuliert:83 „Annullierte man simpel die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, so träten anstelle der Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip […] will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand, verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch.“84

80 Siehe auch Bonacker, Thorsten: Die normative Kraft der Kontingenz. Nichtessentialistische Gesellschaftskritik nach Weber und Adorno, Berlin 2000, S. 273 ff. 81 So die Formulierung von Buckel, Sonja: „Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts“, in: Alex Demiroviü (Hg.), Kritik und Materialität, Münster 2008, S. 110 ff. 82 C. Menke (Fn. 43, S. 107) entwickelt aus dieser Differenz den „politischen“ Begriff subjektiver Rechte, der auf die Idee eines Rechts auf Rechte und damit auf die Idee der Menschenrechte verweist. I.d.S. auch Fabian Steinhauer, der „Schmugglerpfade“ und „illegale Grenztransfers“ zwischen Systemen aufdeckt und ein Kombinat der „Politik der Wissenschaft der Religion der Kunst des Rechts der Gesellschaft“ für denkbar hält (Steinhauer, Fabian: „Derrida, Luhmann, Steinhauer. Über eine aktuelle Rhetorik“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 [2008], S. 167 ff. [hier S. 181]). 83 Zur Negativen Dialektik als „restituierende Gerechtigkeit“ Honneth, Axel: „Gerechtigkeit im Vollzug“, in: ders. (Fn. 5), S. 93 ff. 84 T.W. Adorno (Fn. 41), S. 150.

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4. I MMANENTE K RITIK ALS H ALTUNG T RANSZENDIERUNG

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DER

„eine bestimmte Art zu denken, zu sagen, zu handeln auch, ein bestimmtes Verhältnis zu dem, was existiert, zu dem, was man weiß, zu dem, was man macht, ein Verhältnis zur Gesellschaft, zur Kultur, ein Verhältnis zu den anderen auch – etwas, was man die Haltung der Kri85

tik nennen könnte.“

MICHEL FOUCAULT

Für Horkheimer besteht die wahre gesellschaftliche Funktion der Philosophie in der Kritik des Bestehenden.86 Nimmt man das beim Wort, ist die Systemtheorie kritischer Prägung nicht bloße Sozialtechnologie, nicht soziologische Fremdbeschreibung, nicht rechtstheoretische Selbstbeschreibung, sondern ein zutiefst philosophisches Unternehmen der Gesellschaftskritik. Für dieses Kritikprojekt gibt es keinen Standpunkt außerhalb der Gesellschaft, Kritik muss mit transzendentem Verweisungsüberschuss in der Immanenz ansetzen. Sie ist im Arkanum der Gesellschaft Haltung, Einstellung und Widerstand, der „als Vermögen der Unterscheidung des Erkannten und des bloß konventionell oder unter Autoritätszwang Hingenommenen, […] eins [ist] mit Kritik, deren Begriff ja vom griechischen krino, Entscheiden, herrührt.“87 Da kein gesellschaftliches Gesamtsubjekt existiert, kein Standort außerhalb des Getriebes sich mehr beziehen lässt, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre, ist der kritische Hebel an der eigenen Unstimmigkeit anzusetzen.88

85 Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 8. 86 Horkheimer, Max: Kritische Theorie der Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1968, S. 304; siehe auch ders.: „Traditionelle und kritische Theorie“, in: Zeitschrift für Sozialforschung 6 (1937), S. 245 ff. 87 Adorno, Theodor W.: „Kritik“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 10/2, Frankfurt a.M. 1977, S. 785 ff. (hier S. 785). 88 Ders. (Fn. 25), S. 369; zu den hier bestehenden Gemeinsamkeiten von Luhmann und Adorno: Breuer (Fn. 24), S. 91 ff.; ders.: Die Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg 1995, S. 65 ff.; Brunkhorst, Hauke: „Die ästhetische Konstruktion der Moderne. Adorno, Gadamer, Luhmann“, in: Leviathan 16/1 (1988), S. 77 ff.; Wagner, Elke: „Gesellschaftskritik und soziologische Aufklärung. Konvergenzen und Divergenzen zwischen Adorno und Luhmann“, in: Berliner Journal für Soziologie 15 (2005), S. 37 ff.

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Der Hebel kritischer Systemtheorie setzt insbesondere im Recht der Gesellschaft an. Anders als die hierarchisierende Totalitaritätsperspektive des neuzeitlichen Vernunftrechts (Kant), anders auch als die Immanenzkritik des Totalitaritätsdenkens (Kierkegaard) geht es kritischer Systemtheorie Frankfurter Schule nicht darum, das „Recht im Unterschied“ (zu Vernunft) oder den „Unterschied in Rechtsentscheidungen“ nachzudenken, sondern radikalisierend die Formproduktion als politisch zu dechiffrieren und hier gesellschaftliche Grundwidersprüche neu zu thematisieren. Das gelingt – und hier treffen sich die systemtheoretischen Analysen mit denen Christoph Menkes –, wenn man den Streit um die Rechtsform selbst dekonstruktiv betrachtet; Normativität ist nicht nur eine Folie für enttäuschte Erwartungen, sondern die Recht-Fertigung selbst ist im Widerstreit. Die Differenz von Form und Herstellung der Form, von Form und Kraft ist Aspekt der Normativität: „Die Kraft, aus deren Entfaltung die Form hervorgeht, ist zugleich eine Forderung, die sich gegen die hervorgegangene Form richtet. Diese Forderung verlangt, dass die Form ihrem Anderen entspricht, dass sie ihm gerecht wird.“89 Rechtssystemkritik Frankfurter Schule nimmt diese normative Forderung, die sich im Recht in paradoxer Form gegen das Recht wendet und jenes über sich hinaus ins ständige Kommen der Alteritätsgerechtigkeit treibt, auf. Sie argumentiert mit Recht gerechtigkeitssuchend durch Recht hindurch und unterwirft sich den systemischen Anschlusszwängen, um sich ihrer zu befreien und dazu beizutragen, „daß der Bann sich löse.“90 In diesem Sinne lotet kritische Systemtheorie in einer ganzen Reihe von Arbeiten die Chancen einer sozialadäquaten, soziologisch informierten Rechtswissenschaft aus. Sie hat den Rechtsblick auf Netzwerke,91 auf Regime-Kollisionen92, auf kollidierende Organisationsprinzipien von Gesellschaft93 und auf transnationale Matrices94 gelenkt. Zwei Kritikmomente scheinen mir für das Recht besonders wichtig: (1) Wertkritik: Die rechtliche Reformulierung gesellschaftlicher Struktur- und Verteilungskonflikte in Werte- und Prinzipienkathedralen, die miteinander in praktische Kon-

89 C. Menke (Fn. 43), S. 105. 90 T.W. Adorno (Fn. 88), S. 369. 91 Teubner, Gunther: Netzwerk als Vertragsverbund, Baden-Baden 2004; siehe auch Vesting, Thomas: Rechtstheorie, München 2007, S. 67 ff. 92 Fischer-Lescano, Andreas/Teubner, Gunther: Regime-Kollisionen, Frankfurt a.M. 2006. 93 Teubner, Gunther/Fischer-Lescano, Andreas: „Cannibalizing Epistemes: Will Modern Law Protect Traditional Cultural Expressions?, in: Christoph Graber (Hg.), Traditional Cultural Expressions in a Digital Environment, Cheltenham 2008, S. 17 ff. 94 G. Teubner (Fn. 19).

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kordanz gebracht werden könnten, ist der inadäquate und juro-autoritäre Versuch mit Gracians Formel des 12. Jahrhunderts die Gesellschaftskonflikte des 21. Jahrhunderts zu lösen. Diese Methode verfremdet die gesellschaftlichen Kämpfe im Recht zur Unkenntlichkeit. Sie ist zu ersetzen; insbesondere dadurch, dass man die Voraussetzungen dafür schafft, dass gesellschaftliche Autonomieräume gegeneinander abgesichert und im Wege einer experimentellen „Freiheit unter Auflagen“ gesellschaftliche Selbstregulierungen – wie bspw. bei der Tariffreiheit realisiert – ermöglicht werden.95 (2) Etatismuskritik: Es ist nicht mehr nur die Politik, die gesellschaftliche Autonomieräume usurpiert. Von den großen Sozialsystemen – und darin begegnen sich Habermas These von der Kolonialisierung der Lebenswelt und kritische Systemtheorie – gehen jeweils spezifische Gefahren aus, denen insbesondere durch die Einziehung von Responsivitätspflichten gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt (Menschen, Systeme, natürliches Ökosystem) zu begegnen ist.96 Wertkritik und Etatismuskritik überführt kritische Systemtheorie in konkrete Gegenmodelle, mit denen sie sich in den Kampf um die Sozialadäquanz des Rechts einmischt. Weil das Ganze das Unwahre ist,97 muss, wer – so Teubner unter Bezug auf Adorno – „Chaos in die Ordnung“ bringen will,98 das System von Innen aushebeln – um „endlich einmal in diesen Muff einen Funken zu bringen, der ihn möglicherweise doch explodieren lässt.“99

95 Fischer-Lescano, Andreas: „Kritik der praktischen Konkordanz“, in: KJ 2 (2008), S. 166 ff.; siehe auch Ladeur, Karl-Heinz: Kritik der Abwägung, Tübingen 2004, S. 9 ff. 96 Teubner, Gunther/Korth, Peter: „Zwei Arten des Rechtspluralismus: Normkollisionen in der doppelten Fragmentierung der Weltgesellschaft“, in: Matthias Kötter/Gunnar Folke Schuppert (Hg.), Normative Pluralität ordnen, Baden-Baden 2009. 97 T.W. Adorno (Fn. 66), S. 55. 98 Ebd., S. 143: „In nuce. – Aufgabe von Kunst heute ist es, Chaos in die Ordnung zu bringen.“ Hierzu: G. Teubner (Fn. 27), S. 348 u. S. 361; und Wiethölter, Rudolf: „Zur Argumentation im Recht: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe?“, in: Gunther Teubner (Hg.), Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe, Baden-Baden 1994, S. 89 ff. (hier S. 107). 99 Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971, S. 133 ff., S. 137.

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5. E MANZIPATORISCHES I DEAL IM „V EREIN FREIER M ENSCHEN “ „Stellen wir uns endlich, zur Abwechslung, einen Verein freier Menschen vor [...]“

100

KARL MARX

Kritische Systemtheorie dekonstruktiver Art eruiert die Möglichkeitsbedingungen für die Realisierung des klassischen emanzipatorischen Ideals101 und geht der Frage nach, wie Mündigkeit als Ausgang aus verdinglichten Verhältnissen, die für Adorno keineswegs naturwüchsig sind, sondern bloß noch Rückstand überholter historischer Entwicklung,102 möglich ist. Ausgangspunkt dieser Bemühung ist, dass die gesellschaftliche Einrichtung, unter der wir leben, nach wie vor heteronom ist, dass also „kein Mensch in der heutigen Gesellschaft wirklich nach seiner eigenen Bestimmung existieren kann.“103 In keinem Fall, so kann man die Arbeiten kritischer Systemtheorie auf den Punkt bringen, sollte man die „Kühe aufblasen, um mehr Milch zu bekommen“104 und die weltgesellschaftlichen Fragen dem weltpolitischen System überantworten, das es dann nur noch zu weltrepublikisieren gälte. Politik als System, dieser Fetisch der Kollektivierung, ist Opium des Volkes, Institutionalisierung phantsmagorischer und uneingelöster Selbstzuständigkeitserklärungen. Stattdessen heißt die Utopie: Weltzivil(rechts)gesellschaft ohne Staat. Pax bukowina statt pax americana.105 Verein(e) freier Menschen. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe konkreter Forderungen, deren Ziel es ist, in kritisch-emanzipatorischer Perspektive in den Institutionen und Praktiken der Wirklichkeit je den normativen Nucleus freizulegen, sich in den Kampf um die magnae chartae gegenüber transnationalen Matrices einzumischen und jeweils spezifische Organisations- und Menschenrechte zu entwickeln. Anders

100 K. Marx (Fn. 23), S. 92. 101 Derrida, Jacques: Gesetzeskraft – Der ‚mystische Grund der Autorität‘, Frankfurt a.M. 1996, S. 60: „Nichts scheint mir weniger veraltet zu sein als das klassische emanzipatorische Ideal.“ 102 Adorno, Theodor W.: „Philosophie und Lehrer“ (1962), in: ders., Erziehung zur Mündigkeit, Frankfurt a.M. 1971, S. 29 ff. (hier S. 43). 103 Ders. (Fn. 99), S. 144. 104 Luhmann, Niklas: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 215. 105 Teubner, Gunther: „Globale Bukowina: Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus“, in: Rechtshistorisches Journal 15 (1996), S. 255 ff.

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aber als im Modell der Gleichursprünglichkeit von politischen Partizipationsund Menschenrechten, geht es kritischer Systemtheorie nicht um ein prozedurales Rechtfertigungsmodell, das in abstrakter Form die Bedingungen der universellen Zustimmungsfähigkeit von Normen untersucht, auch nicht um die Implementierung substanzieller und mit Hilfe von Ausgangsfiktionen in elitär-dezisionistischer Form gewonnener Vorstellungen vom Gerechten,106 sondern um die Stabilisierung normativer Widerständigkeit in praxi.107 Mittels der Generalisierung und Respezifizierung der Funktion von Verfassung als evolutorischer Errungenschaft sollen gesellschaftliche Konstitutionalisierungsprozesse unterstützt, stabilisiert und auf Dauer gestellt werden, deren Kernanliegen es ist, die gesellschaftlichen Institutionen sozial responsiv zu halten,108 sei es durch unmittelbare Verpflichtung von Privaten auf Menschen- und Grundrechte,109 durch die Verpflichtung auf Umweltrechte,110 auf Tierrechte111 und auf Institutionenrechte im Ridder’schen Sinn des Schutzes transpersonaler Freiheitsräume.112 Neben diesen polydirektionalen Abwehr-, Leistungs- und Zugangsrechten zur Solidaritätsverpflichtung113 öffentlicher und privater Gewalten ist der Prozess der Rechtsgenerierung selbst zu vergesellschaften; nicht lediglich über eine paternalistische Humanisierung politischer Institutionen, die nicht judizierbare Akklamationsrechte an NGOs verteilen und deren Funktion in den Call-Centern und Focus-Points von Global Governance auf Widerstandseindämmung durch Einwicklung und Zermürbung zurecht stutzen, sondern in erster Linie durch ori-

106 Siehe jeweils die Kritik von Ingeborg Maus an Rawls und Habermas: dies.: „Der Urzustand“, in: Höffe, Otfried (Hg.), John Rawls. Eine Theorie der Gerechtigkeit, Berlin 1998, S. 71 ff.; und dies.: „Freiheitsrechte und Volkssouveränität“, in: Rechtstheorie 26 (1995), S. 507 ff. 107 Teubner, Gunther: „Die Erblast“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 2008, S. 3 ff. (hier S. 3). 108 Zur Bedeutung der Subjektivierungsformel des Rechts in diesem Zusammenhang C. Menke (Fn. 43), S. 81 ff. 109 G. Teubner (Fn. 19), S. 161 ff. 110 G. Teubner/A. Fischer-Lescano (Fn. 93). 111 Teubner, Gunther: „Elektronische Agenten und große Menschenaffen: Zur Ausweitung des Akteursstatus in Recht und Politik“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 27 (2006), S. 5 ff. 112 Hierzu Fischer-Lescano, Andreas/Christensen, Ralph: Das Ganze des Rechts, Berlin 2007, S. 287 ff. 113 Zur solidarischen Ökonomie siehe Demiroviü, Alex: Demokratie in der Wirtschaft, Münster 2007, S. 273 ff.

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ginäre Zuweisung von Recht-Fertigungs- und Klage-Rechten:114 Zivilgesellschaftliche Rechtssetzung durch Skandalisierung; strukturelle Kopplung von Diskussion und Dezision in Entscheidungssituationen durch die zwingende und rechtlich zu strukturierende Etablierung von Kopplungen der heterarchischen und polyzentrischen, privaten und öffentlichen Organisations- und Spontanbereiche; die Rückgabe von Entscheidungen in gesellschaftliche Selbstregulierungsprozesse. Kurzum: Es geht um die Öffnung gesellschaftlicher Strukturentscheidungen für den demokratischen Prozess durch die Entwicklung weltgesellschaftlicher Verfassungsrechte, die die autonomiesichernden Potenziale in der globalen Zivilgesellschaft freilegen.115 Das Kernanliegen kritischer Systemtheorie ist die Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse und liegt im Aufbrechen von Stratifikationsmustern der gesellschaftlichen Institutionen. Der systemtheoretische Gedanke der Verpflichtung sozialer Systeme auf soziale Responsivität ist hier durchaus parallel zu dem Konzept der Mimesis in der Kritischen Theorie, radikalisiert dies aber durch die Forderung, dass die Möglichkeitsbedingungen dafür zu schaffen sind, dass nicht nur das Kunstsystem als „Organ der Mimesis“116 fungiert. Vielmehr müssen die Welt-Ordnungen der sozialen Systeme ein mimetisches Verhältnis zur außersystemischen Realität einnehmen. „Transzendenz in der Wirklichkeit erscheinen zu lassen, d.h. die Negation des Bestehenden in der Mimesis des Bestehenden“,117 ist dann nicht nur Aufgabe der Kunst, sondern aller sozialen Systeme, die so eingerichtet sein müssen, dass „das Subjekt, auf wechselnden Stufen seiner Autonomie, sich zu seinem Anderen, davon getrennt und doch durchaus nicht getrennt“, stellen kann.118

114 Hierzu Wiethölter, Rudolf: „Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 13 ff. 115 Teubner, Gunther: „Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft“, in: Dieter Simon/Martin Weiss (Hg.), Zur Autonomie des Individuums, Baden-Baden 2000, S. 437 ff.; ders.: „Fragmented Foundations: Societal Constitutionalism Beyond the Nation State“, in: Petra Dobner/Martin Loughlin (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford 2010. 116 T.W. Adorno (Fn. 70), S. 169; ferner: M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 39), S. 205; hierzu Gebauer, Gunter/Wulf, Christoph: Mimesis, Reinbeck 1992, S. 389 ff.; und Metscher, Thomas: Mimesis, 2. Aufl., Bielefeld 2004, S. 17 ff. 117 Marcuse, Herbert: Kunst und Befreiung, Nachgelassene Schriften 2, Lüneburg 2000, S. 138. 118 T.W. Adorno (Fn. 70), S. 86.

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Die Kultivierung der Ästhetik des Widerstands119 ist, so kann man kritische Systemtheorie zusammenfassen, kein Spezifikum des Kunstsystems, sondern es ist darum zu tun, die widerständigen Praxen in Normierungen abzusichern, Spontaneitätsbereiche frei zuhalten und der Idee der demokratischen Organisation gesellschaftlicher Institutionen, Organisationen, Netzwerke zur Durchsetzung zu verhelfen.120 Demokratisierung und Gewährleistung der sozialen Responsivität gesellschaftlicher Institutionen von Wirtschaft, Recht, Religion etc. ist das Programm,121 das keiner der eingerichteten und ausgeübten Institutionen Bestandsschutz gewähren kann. Gegen Tendenzen wohlgeordneter Selbstkonstituierung der postmodernen Gesellschaft spielt die kritische Systemtheorie Frankfurter Schule wie auch die Kritische Theorie vielmehr „ihre Präferenz für Unordnung, Revolte, Abweichung, Variabilität und Veränderung aus. Sie protestiert im Namen der Gesellschaft, der Menschen und der Natur – doch sie tut dies aus dem inneren Arkanum [...] heraus. Subversive Gerechtigkeit ist [ihr] der Stachel im Fleisch. Meuterei auf der Bounty – dies ist die Botschaft“.122

119 Weiss, Peter: Die Ästhetik des Widerstands, Bd. 1-3, Frankfurt a.M. 1975-1981. 120 Teubner, Gunther: „Was kommt nach dem Staat?“, in: Wissenschaftskolleg, Köpfe und Ideen, Berlin 2008, S. 36 ff. (hier S. 40), abrufbar unter http://www.wikoberlin.de/fileadmin/Dateien_Redakteure/pdf/Koepfe_und_Ideen/Koepfe_und_Ideen _2008_de.pdf (Stand 20.03.2013); siehe schon Teubner, Gunther: Organisationsdemokratie und Verbandsverfassung, Tübingen 1978. 121 A. Fischer-Lescano/G. Teubner (Fn. 92), S. 53 ff. 122 G. Teubner (Fn. 27), S. 345.

Was ist Kritik? Was ist Aufklärung? Zum Spiel des Möglichen bei Niklas Luhmann und Michel Foucault* S VEN O PITZ „Kritik heißt, Dinge, die allzu leicht von der Hand gehen, ein wenig schwerer zu machen.“1 MICHEL FOUCAULT

1. Z UR M ÖGLICHKEIT S YSTEMTHEORIE

EINER KRITISCHEN

„Kritische Systemtheorie“ – Vielleicht sollte man den Titel des vorliegenden Bandes im Sinne einer Hypothese oder, eher noch, im Sinne der Behauptung einer Möglichkeit lesen: Es könnte eine kritische Systemtheorie geben. Das heißt, es gibt sie noch nicht, aber sie ist (vielleicht), d.h. trotz aller Gegenindizien und abweichenden Ansichten möglich. Weil die Aktualisierung dieses Potenzials der Systemtheorie noch aussteht, wissen wir nur wenig über dessen genaue Form.2 Wir wissen vor allem nicht, was das Attribut des Kritischen genau bezeichnet. In Bezug auf dieses Problem besteht die typische Volte der Soziologie drin, die Frage an den Gegenstand zu delegieren. Konfrontiert mit den Fallstricken einer kritischen Theorie, behilft

*

Mein Dank gilt Urs Stäheli für gemeinsame Diskussionen und Überlegungen.

1

Foucault, Michel: „Ist es also wichtig, zu denken?“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4,

2

Vgl. jedoch Andreas Fischer-Lescano: „Systemtheorie als kritische Gesellschafts-

Frankfurt a.M. 2005, S. 219 ff. theorie“, in diesem Band, S. 13 ff.

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man sich mit einer Sozialtheorie der Kritik.3 Entsprechend müsste es der Systemtheorie zunächst gelingen, eine spezifische soziale Aktivität gemäß ihrer begrifflichen Prämissen als kritische hervortreten zu lassen. Als Systemtheorie der Kritik bleibt es der Theorie also erspart, selbst in den Kommandostand eines sich als kritisch behauptenden Unternehmens zu treten. Insofern die Systemtheorie einer spezifischen Kritik-Aktivität jedoch Ausdruck verleihen möchte, sollte sie allerdings klären, was diese Aktivität als kritische qualifiziert: Wie verfährt Kritik? Wogegen richtet sie sich, was strebt sie an? Und aus welchen Verhältnissen speisen sich ihre Versprechen? In der Ausgestaltung des Kritikbegriffs könnte, anders gesagt, das Potenzial einer kritischen Systemtheorie liegen: einer Theorie, die ein Denken der Kritik so artikuliert, dass sie dabei einem kritischen Denken stattgibt. Um nun die Theorie sozialer Systeme im Licht ihrer diesbezüglichen Möglichkeiten zu erkunden, benötigt man spezifisches Werkzeug. Es bedarf eines Instruments, das zugleich Impulsgeber und Sonde ist. Als Impulsgeber versorgt es die Systemtheorie mit Anstößen, stellt unerwartete Fragen in Bezug auf die Möglichkeit der Kritik und erzeugt auf diese Weise theorieimmanente Unruhe. Als Sonde durchleuchtet es den dadurch eröffneten Möglichkeitsraum und bietet ungewohnte Sichtweisen. Impulsgeber und Sonde: Im Folgenden soll experimentell erprobt werden, inwiefern das Denken Michel Foucaults derartige Werkzeugfunktionen bereitstellt. In welcher Form vermag es die Systemtheorie am Punkt der Kritik herauszufordern, in Bewegung zu setzen und zu transformieren? Aber warum Foucault? Was prädestiniert sein Denken dazu, verborgene Möglichkeiten der Theorie zu aktualisieren? Was qualifiziert es als Sondierungsinstrument und Impulsgeber? Zunächst weisen beide sozialtheoretischen Angebote bei näherer Betrachtung ähnliche Grundzüge auf.4 Auch wenn das autopoietische Sozialsystem und die diskursive Ordnung in vielerlei Hinsicht unterschiedlich konzipiert sind, gibt es doch Schnittstellen zwischen Luhmanns dynamischer Formation von kommunikativen Verbindungen einerseits und Foucaults Formationssystem von gestreuten Aussagen andererseits.5 Darüber hinaus

3 4

Boltanski, Luc: Soziologie und Sozialkritik, Berlin 2010, S. 45 ff. Vgl. Aakerstrøm Andersen, Niels: Discursive Analytical Strategies: Understanding Foucault, Koselleck, Laclau, Luhmann, Bristol 2003; Leanza, Matthias: „Semantik und Diskurs: Die Wissenskonzeptionen Niklas Luhmanns und Michel Foucaults im Vergleich“, in: Robert Feustel/Maximilian Schochow (Hg.), Zwischen Sprachspiel und Methode: Perspektiven der Diskursanalyse, Bielefeld 2010, S. 119 ff.; Stäheli, Urs: „Semantik und/oder Diskurs: Updating Luhmann mit Foucault?“, in: Kulturrevolution 47 (2004), S. 14 ff.

5

Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1981, S. 156.

W AS IST K RITIK ? W AS IST A UFKLÄRUNG ?

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wird die Emergenz dieser Formationen in beiden Fällen nicht auf die Handlungsmacht des Einzelnen zurückgeführt. Vielmehr tendieren beide Ansätze zu der Sichtweise, dass Personalität erst im sozialen Spiel konstituiert wird. Schließlich setzen beide auch kein normatives Fundament voraus, sondern machen die soziale Herstellung von Erwartungen und Normen selbst zum Gegenstand der Analyse. Beide pflegen dabei eine mehr oder weniger leidenschaftliche Aversion gegenüber Formen des moralischen Urteils. Diese zumindest rudimentären Überschneidungen bilden eine minimale Verständigungsgrundlage für den an sich zweifellos unwahrscheinlichen Dialog zwischen Luhmann und Foucault. Zudem deuten sie bereits an, dass beide Entwürfe unter „post-befreiungstheoretischen“ Vorzeichen operieren.6 Nichts liegt Luhmann und Foucault ferner, als eine Praxis zu begrüßen, die im Namen feststehender Kriterien des Guten und Schlechten auf die Freisetzung einer authentischen, sich jenseits aller sozialen Zwänge befindlichen, nicht-entfremdeten Persönlichkeit zielt. Sollte es jedoch eine kritische Systemtheorie geben, dürfte sie nicht dabei stehen bleiben, eine spezifische Konzeption von Kritik aus soziologischer Warte ‚abklärend‘ oder anderweitig kritisch zu beschreiben. Damit das Denken Foucaults als Impulsgeber im dargelegten Sinne fungieren kann, muss es gegenüber der Systemtheorie einen Unterschied machen. Es sind im Wesentlichen zwei Konzepte, die vor dem Hintergrund der genannten Ähnlichkeiten die Voraussetzungen für ein derartiges Unterfangen der Befragung und der Umschrift liefern könnten: das Konzept des Macht/Wissens und das Konzept der Subjektivierung (assujettissement). So begreift Foucault diskursive Ordnungen erstens unter dem Aspekt einer „Politik der Wahrheit“.7 Sie bilden epistemische „Systeme der Akzeptabilität“, die historische Formen des Sagbaren und Unsagbaren, des Sichtbaren und Unsichtbaren festsetzen.8 Als solche sind sie zum einen ständig umkämpft und in Bewegung. Zugleich entfalten sie unweigerlich Machtwirkungen, insofern sie den Einzelnen in einem spezifischen Verhältnis zu sich selbst und anderen situieren. Man denke zur Illustration an den Patienten, der sich vermittelt über ein spezifisches medizinisches Krankheitswissen in einem klinischen oder auch ambulanten Milieu zu seinem Körper und seinem Arzt verhält; man denke ebenso an den Schüler, der vermittelt über ein spezifisches pädagogisches Wissen in einem schulischen Milieu zu sich und seinen Mitschülern ins Verhält-

6

Butler, Judith: Psyche der Macht: Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a.M.

7

Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I: Sicherheit, Territorium, Be-

8

Ders.: Was ist Kritik?, Berlin 1992, S. 34.

2001, S. 21. völkerung, Frankfurt a.M. 2004, S. 15.

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nis gesetzt wird. Könnte eine solche, an Foucault geschulte Perspektive nicht dazu animieren, die Artikulation von Sozialsystemen selbst in Begriffen des Macht/Wissens zu denken? Die Systemkonstitution wäre dementsprechend als ein historisch umkämpfter Prozess zu begreifen, in dessen Verlauf sich immer wieder spezifische Intelligibilitäten und Kräfteverhältnisse herausbilden. In engem Zusammenhang mit der Frage des Macht/Wissens steht dabei zweitens die Frage, wie Subjekte überhaupt als sozial anerkannte, verständlich sprechende Wesen auftreten können. Foucaults paradoxienah formulierte Antwort lautet, dass das Subjekt erst im Prozess der Unterwerfung unter die Konventionen eines Regimes der Akzeptabilität auf der Bildfläche erscheint.9 Erst in der Unterwerfung unter das medizinische Wissen und unter klinische oder ambulante Routinen nimmt etwa der Patient Gestalt an. Und erst die Unterwerfung unter das pädagogische Prüfungsregime und die schulischen Disziplin bringt den Schüler hervor. Gerade im Hinblick auf das nur schwach ausgebildete systemtheoretische Konzept der Person könnten Foucaults Ausführungen zur Subjektivierung somit dabei behilflich sein, Prozesse der Personifizierung macht- und wissenstheoretisch zu re-konzeptualisieren. Das ist insofern von Bedeutung, als Foucault selbst seine Vorstellung von Kritik an spezifischen Formen des Selbstbezugs entwickelt hat, mittels derer sich ein Subjekt jenen Bedingungen entzieht, die sein subjektives Sein gewähren. Das Subjekt lockert im Zuge der kritischen Operation die Bindungskraft jener Konventionen, welche die Zubilligung von Personalität regulieren. Im Anschluss daran wäre zu fragen, ob sich diese Praxis der „Entunterwerfung“ mit den gesellschaftstheoretischen Mitteln der Systemtheorie reartikulieren lässt.10 Insofern die Systembildung für Luhmann konstitutiv auf der Ausgrenzung einer Umwelt basiert, wäre etwa zu prüfen, ob sich Foucaults Entunterwerfung im Sinne einer Umarbeitung des systemkonstitutiv Ausgeschlossenen fassen ließe: Ist Kritik vielleicht eine soziale Aktivität, welche systemimmanent die vom System verworfenen Möglichkeiten aktualisiert? Beide der nun skizzierten Linien sollen im Folgenden weiter verfolgt werden. In einem vorbereitenden Schritt gilt es jedoch zu rekapitulieren, was Luhmann selbst zur Frage der Kritik beizutragen hat: Welche Ansatzpunkte bietet Luhmann, die ihn möglicherweise für Impulse von Seiten Foucaults empfänglich machen? Es erscheint tatsächlich gewagt, die Resonanzen zwischen zwei Denkern aufzuspüren, die sich nie in entscheidender Hinsicht aufeinander bezogen

9

Ders.: „Subjekt und Macht“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 269.

10 Ders. (Fn. 8), S. 18.

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haben.11 Aber vielleicht eignet sich Foucault dennoch als Impulsgeber für ein derartiges Unterfangen, weil er sich in seiner Arbeit einer spezifischen Form der Sorgfalt verschrieben hat: „der Sorgfalt, die man auf Dinge verwendet, die existieren oder existieren könnten“.12 In diesem Sinne sind die anzustellenden Überlegungen eine experimentelle Übung in der Sorgfalt, die wir auf die Möglichkeit einer kritischen Systemtheorie als Systemtheorie der Kritik verwenden. Wie sich dabei zeigen wird, entspricht genau dieses Vorgehen dem Ethos, das Foucault als Kern der Kritik ansieht: jener kritischen Haltung, die das Gegebene in Bezug auf die in ihm angelegten Möglichkeiten öffnet.

2. U NTERSCHEIDUNGSRÄUME ALS M ÖGLICHKEITSRÄUME – S ICHTVERHÄLTNISSE DER K RITIK Was ist also Kritik? In Platons Politikos wird Kritik als kritikƝ téchnƝ eingeführt, d.h. als Kunst des Unterscheidens.13 Folgt man dieser klassischen Begriffsbestimmung, dann müsste die Systemtheorie eigentlich bestens auf Kritik eingestellt sein. Schließlich konzipiert sie soziale Operationen als Unterscheidungsakte im Medium Sinn: Eine Bezeichnung markiert immer eine Grenze zu einer unbezeichneten Seite, sie erfolgt im Unterschied zu etwas anderem.14 Das für die Systemtheorie zentrale Konzept des Beobachters ergibt sich unmittelbar aus diesem Unterscheidungskalkül. Denn die Form des Beobachters ist die Einheit der Differenz, die er trifft: schön (oder hässlich), wahr (oder falsch), gut (oder schlecht). Der Beobachter sieht also nur, was er auf der Grundlage seiner Unterscheidung sehen kann.

11 Lediglich im Rahmen seiner Exklusionssoziologie bezieht sich Luhmann auf Foucault, um seine These zu stützen, dass die moderne Gesellschaft Exklusion inklusiv in totalen Institutionen handhabe, vgl. Lumann, Niklas: „Inklusion und Exklusion“, in: Soziologische Aufklärung 6, Wiesbaden 2005, S. 226 ff. (hier S. 229). 12 Foucault, Michel: „Der maskierte Philosoph“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 128 ff. (hier S. 134). 13 Vgl. Raunig, Gerald: „Was ist Kritik? Aussetzung und Neuzusammensetzung in textuellen Maschinen“, in: Transversal 4 (2008), http://eipcp.net/transversal/0808/raunig/de (Stand 20.03.2013). 14 Vgl. Luhmann, Niklas: „Die Paradoxie der Form“, in: Dirk Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt a.M. 1993, S. 197 ff.; Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung: Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004, S. 18 ff.

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Klärungsbedürftig ist damit allerdings, wann Unterscheidungspraxen kritisch werden. Luhmann deutet im Hinblick auf diese Frage an, dass die soziale Operation des Kritisierens ihre Genealogie im modernen Roman haben könnte.15 Der Roman leistet mit ästhetischen Mitteln eine „Realitätsverdopplung“, die es dem Leser erlaubt zu beobachten, was die Protagonisten im Roman nicht beobachten können.16 Analog verfährt im 19. Jahrhundert die kritische Gesellschaftstheorie, die auf „soziologisches Besserwissen“ setzt: „Marx durchschaut den Verblendungszusammenhang des Kapitalismus und macht dieses Durchschauen zur Grundlage einer Kritik der politischen Ökonomie.“17 Wo der Ökonom einen wirtschaftlichen Nutzen sieht, erkennt der Kritiker den Verwertungszusammenhang als Zwangszusammenhang – und dementsprechende Emanzipationspotenziale. Kritik betreibt mithin eine spezifische Problematisierung von Sichtverhältnissen. Die kritische Operation reflektiert auf das Nichtsehenkönnen anderer und setzt an dessen Stelle andere Sichtweisen. Luhmann zufolge pflegt die Gesellschaft spätestens seit der Aufklärung des 18. Jahrhundert ein genuin kritisches Selbstverhältnis.18 Und weil sich die Soziologie in der Folge als primäre wissenschaftliche Beschreibungsinstanz der Gesellschaft konstituiert, erkennt Luhmann bereits seit den 1960er Jahren, dass er sich zu dieser kritischen Tradition verhalten muss.19 Zwar steht dabei das kritische Motiv nicht im Vordergrund seiner Ausführungen. Dennoch lässt sich eine Absatzbewegung hin zu einer Form der Kritik rekonstruieren, die von seinen sozialtheoretischen Prämissen informiert ist. So gilt ihm eine Erkenntniskritik als unangemessen, die unter den Prämissen einer klassischen Ontologie verfährt. Gemäß einer solchen Erkenntniskritik wird der kritisierte Beobachter an einem Sein gemessen, in Bezug auf das er sich schlichtweg irrt. Er benutzt eine falsche Unterscheidung, die korrekturbedürftig ist. Eine derartige Kritik operiert unter der Annahme, dass alle Beobachter „in ein und derselben Welt leben und dass es darum gehe, über diese Welt übereinstimmend zu berichten.“20 Kritik unter diesen Prämissen weiß, wen sie zu tadeln hat – und sie weiß es deshalb, weil sie weiß, auf welchem Grund sie fest steht. Auch wenn die Aufklärung die Gewähr

15 Luhmann, Niklas: „Ich sehe was, was Du nicht siehst“, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 5, Wiesbaden 2005, S. 220 ff. 16 Esposito, Elena: Die Fiktion der wahrscheinlichen Realität, Frankfurt a.M. 2007, S. 7. 17 N. Luhmann (Fn. 15), S. 222. 18 Ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1998, S. 954 ff. 19 Ders.: „Soziale Aufklärung“, in: ders., Soziologische Aufklärung 1, Wiesbaden 2005, S. 83 ff. 20 Ders. (Fn. 15), S. 221.

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dieses Seinsgrundes nicht länger externalisiert, findet sie ihren Gott dann aber doch in einer selbstkritischen Vernunft. Die Reflexion auf die eigene Vernünftigkeit soll es jedem Menschen erlauben, ein allen Menschen Gemeinsames zu ermitteln. Die soziale Sicherheit des kritischen Urteils wird, anders gesagt, „von dem Boden unbezweifelbarer Vernunftnotwendigkeiten aus“ gewonnen.21 Gegenüber einem derart aufklärerischen Anspruch möchte sich Luhmann „abklärend“ verhalten. Diese Abklärung wird von ihm als Einarbeitung der Grenzen der Aufklärung in ihre Theorie spezifiziert und als Wahlspruch soziologischer Aufklärung verkündet. Die Implikationen für den Begriff der Kritik sind weitreichend. Zunächst verfügt Kritik über keine sichere Letztbegründung, die sie gegenüber ihrem Gegenstand ins unbezweifelbare Recht setzt. Wo es anstelle einer gemeinsamen Welt nur mehr eine Pluralität von Beobachterperspektiven gibt, ist jede Erkenntnis auf einen blinden Fleck gebaut. Kritik kann als Beobachterin zweiter Ordnung diesen blinden Fleck sehen und sich zu ihm verhalten. Sie kann etwa die Unterscheidung des von ihr beobachteten Beobachters zurückweisen und andere, aus ihrer Sicht geeignetere Unterscheidungen in Stellung bringen. Sie kann die Unterscheidung des von ihr beobachteten Beobachters ebenfalls in die ihr zugrunde liegende Paradoxie verwickeln und in dem unentscheidbaren Oszillieren der Werte Freiheiten erkennen. Aber sie bleibt dabei selbst beobachtbar, und das heißt: kritisierbar. Zugleich vermag eine Kritik aber auch etwas durch den Verlust des ontologischen Gewissheitsgrunds zu gewinnen. So wie sie selbst nicht länger durch eine feste Verankerung in Vernunft, Humanität oder anderen unverzichtbaren Normen grundiert wird, gilt das gleiche auch für alle anderen, vorgeblich letzten Autoritätsansprüche, privilegierten Wissensformen und an sich so seienden Naturalisierungen. Und es gilt selbst dann, wenn die Autoritätsansprüche, Wissensformen und Naturalisierungen in eigener Sache Vernunft, Humanität oder unverzichtbare Normen reklamieren. Dekonstruktion wird, mit anderen Worten, „etwas, was wir jetzt tun können“.22 Aber was ist daran genau soziologische Aufklärung? Luhmann unterbreitet hier ein zweigliedriges Argument. Auf der einen Seite positioniert er die Soziologie als Kontingenzwissenschaft, die eine „Distanznahme“ gegenüber den scheinbar festen Begebenheiten vollzieht.23 In der Nachfolge der transzendentalen Phänomenologie empfiehlt er eine „methodische Technik“, die darauf ab-

21 Ders. (Fn. 19), S. 93. 22 Ders.: „Dekonstruktion als Beobachtung zweiter Ordnung“, in: ders., Aufsätze und Reden, Stuttgart 2001, S. 262 ff. (hier S. 286). 23 Ders. (Fn. 19), S. 86.

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zielt, „alle Evidenzen in Probleme zu verwandeln“.24 Im Zuge derartiger Problematisierungen erzeugt die Soziologie einen Möglichkeitssinn und sieht sich genau dadurch dem Projekt der Aufklärung verbunden: „Aufklärung ist der geschichtliche Prozess, der sich bemüht, die Möglichkeiten der Welt dem Erleben und Handeln als Sinn zugänglich zu machen.“25 Demgemäß möchte auch die soziologische Aufklärung, „das Handeln mit Substitutionsmöglichkeiten ausstatten und ihm dadurch eine Sicherheit bieten, die nicht auf der Verlässlichkeit festgestellten Seins, sondern auf der Verfügbarkeit anderer Möglichkeiten beruht.“26 Auf der anderen Seite kippt die auf diese Weise gewonnene Freiheit gegenüber den scheinbaren Evidenzen und Universalien nicht in ein voluntaristisches anything goes. Vielmehr geht die Abklärung hinsichtlich der starken Seinsbehauptung von Vernunftnotwendigkeiten einher mit einer Abklärung hinsichtlich der Veränderungspotenziale und Handlungsfähigkeiten. Weil es beide Abklärungen kombiniert, sieht Luhmann im geschichtlichen Denken einen wichtigen Verbündeten. Denn die Geschichte vermag das gegenwärtig Gegebene als „Sinnsediment der Vergangenheit“27 zu begreifen. Jede Gegenwart basiert auf der immer schon vorgenommenen Reduktion von Möglichkeiten und erweist sich damit als etwas gleichzeitig Gewordenes wie Gefestigtes. Entsprechend skeptisch zeigt sich Luhmann gegenüber der Machbarkeit fundamentaler gesellschaftlicher Umwälzungen: „Die Welt mag absolut kontingent entstanden sein. Alles ließe sich dann ändern – aber nicht alles auf einmal.“28 Die soziologische Aufklärung vervielfältigt somit im Hinblick auf das Gegebene die Möglichkeiten; sie tut das im Bewusstsein, dass nicht alles sofort und vor allem nicht gleichzeitig möglich ist, obgleich die gesellschaftlichen Realitäten an sich weder notwendig noch unmöglich sind. Mindestens zwei Fragen drängen sich in Bezug auf die Form der Kritik auf, die durch diese Formel präfiguriert wird. Zunächst bleibt unklar, woran sich Kritik überhaupt so sehr stoßen sollte, dass sie sich letztlich entzündet: Reicht der bisher entwickelte Möglichkeitsbegriff aus, um zu erklären, woraus die Kritik ihre Kraft und die Dynamik ihrer Absatzbewegung bezieht? Ferner wäre zu prüfen, ob die kritische Distanznahme zwingend eine akademische Übung ist. Auch wenn Luhmann selbst den soziologischen Möglichkeitssinn als Update der philosophischen Erkenntniskritik in der Wissenschaft situiert, könnte man überlegen, ob sich mit dem einen,

24 Ebd., S. 98. 25 Ebd., S. 94. 26 Ebd., S. 95. 27 Ebd., S. 107. 28 Ebd., S. 107.

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eindeutigen und privilegierten Grund der Kritik nicht auch der eine, eindeutige und privilegierte Ort der Kritik auflöst. Instruktiv sind diesbezüglich Luhmanns tastende Ausführungen zu den „Wider-Sprechungen“ des Protests.29 Obgleich er den Protest einerseits als spezifische Kommunikationsform von den „etablierten“ Funktionssystemen abgrenzen möchte, zaudert er andererseits, ihn als eigenes System anzusehen. Lässt sich Kritik – ob in der Form des Protests, der Verweigerung oder der Revolte – vielleicht gar nicht auf ein System festschreiben? Mehr noch: Könnte es nicht sein, dass Kritik überhaupt nicht systematisierbar ist?

3. K RITIK

DER M ACHT : Z UR REGIERT ZU WERDEN

K UNST

NICHT DERMASSEN

Zumindest in einer Hinsicht scheint es naheliegend, diese Fragen an Michel Foucault zu delegieren. Denn nicht selten wird mit seinem Denken ein gewisser radical chic verbunden – ein Eindruck, zu dem Foucault aktiv beigetragen hat. „Schreiben“, so erklärt er etwa im Jahr 1975, „reizt mich nur in dem Maße, wie es sich in der Wirklichkeit eines Kampfes verkörpert […] Ich möchte, dass meine Bücher Skalpelle, Molotowcocktails oder Minengürtel sind und dass sie nach Gebrauch wie ein Feuerwerk zu Asche verfallen.“30 Der Gegensatz zu den Abklärungsbemühungen der Systemtheorie könnte größer nicht sein. Diese Emphase der Militanz ist allerdings bei Foucault keineswegs mit einer extensiven Auseinandersetzung mit dem Problem der Kritik einhergegangen. Tatsächlich adressiert Foucault das Thema in direkter Form lediglich in zwei späten Aufsätzen, die sich als Antwort auf eine ihnen vorangestellte Frage zur Lektüre aufgeben: Was ist Kritik? (1978) Und was ist Aufklärung? (1984)31 In beiden Abhandlungen finden sich nur mehr Spuren des rhetorischen Überschwangs vergangener Tage, stattdessen wird eine äußerst schlanke Definition von Kritik unterbreitet: Kritik ist „die Kunst[,] nicht dermaßen regiert zu wer-

29 Ders.: Protest: Systemtheorie und soziale Bewegungen, Frankfurt a.M. 1996, S. 194. 30 Foucault, Michel: „Auf dem Präsentierteller“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 2, Frankfurt a.M. 2002, S. 888 ff. (hier S. 894). 31 Vgl. ders. (Fn. 8) sowie Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 687 ff. Die erste Vorlesung aus dem Jahr 1983, in der Foucault ebenfalls die 1784 an Kant gerichtete Frage nach der Aufklärung aufnimmt, kann als Vorarbeit zu dem späteren Aufsatz angesehen werden, vgl. ders.: Die Regierung des Selbst und der Anderen, Frankfurt a.M. 2009, S. 43 ff.

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den“.32 Diese Definition gilt es im Weiteren zu entfalten. Dabei soll nicht nur demonstriert werden, dass Foucaults Konzeption von Kritik wesentliche Merkmale von Luhmanns Kritik-Verständnis teilt. Vielmehr liefert der Umweg über Foucault gerade auf der Grundlage dieser Korrespondenz einige Ansätze, um die Rolle der Kritik in der Systemtheorie zu überdenken. Kritik ist unhintergehbar an eine Beziehungsform gebunden – und zwar egal, ob man Kritik als positives oder als negatives Unterfangen begreift. Wenn aber nicht jede differierende Weltsicht schon den Titel der Kritik tragen soll, muss man das Spezifikum der kritischen Relation erfassen. Foucault zufolge handelt es sich bei der Kritik um eine artistische Praxis innerhalb eines Regierungsverhältnisses. Dabei verweist der Ausdruck der Regierung nicht auf eine politische Organisation, die Regierung ist also nicht deckungsgleich mit den Institutionen des Staates. Stattdessen bezeichnet die Regierung für Foucault auf der allgemeinsten Ebene eine Machtbeziehung, welche die Form der „Führung der Führungen“ annimmt.33 Diese Umschreibung spielt mit der Doppeldeutigkeit des Anführens oder Anleitens einerseits und dem Sich-Verhalten andererseits. „In diesem Sinne heißt Regieren, das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren.“34 Es verwundert nicht, dass diese Definition in den Sozialwissenschaften auf enorme Resonanz gestoßen ist. Wenn Foucaults Regierungsbegriff gesellschaftsweit verstreute Prozesse des „Handelns auf Handlungen“ bezeichnet, dann ist der Weg zu Max Webers berühmter Gegenstandsbestimmung der Soziologie nicht weit. Die Dinge liegen jedoch komplizierter. Tatsächlich verweist der Regierungsbegriff auf eine Ko-Implikation von Machtverhältnissen, Wahrheitsregimen und Subjektivierungsweisen. Das „mögliche Handlungsfeld“ ist demnach keine rein interpersonale Angelegenheit. Vielmehr vollzieht sich eine spezifische Artikulation von Kräfteverhältnissen durch die Konstitution eines Objektbereichs und einer entsprechenden Verfassung der subjektiven Existenzweisen. Die Ineinanderfaltung dieser Dimensionen lässt sich am Beispiel der Regierungstechnologie des Marktes illustrieren.35 Märkte sind aus Foucaults Sicht kein

32 Ders. (Fn. 8), S. 12. 33 Vgl. ausführlich Lemke, Thomas: Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der modernen Gouvernementalität, Hamburg 2011; Opitz, Sven: Gouvernementalität im Postfordismus: Macht, Wissen und Techniken des Selbst im Feld unternehmerischer Rationalität, Hamburg 2004. 34 M. Foucault (Fn. 9), S. 287. 35 Vgl. ders.: Geschichte der Gouvernementalität II: Die Geburt der Biopolitik, Frankfurt a.M. 2004, S. 52 ff.; Gertenbach, Lars: Die Kultivierung des Marktes: Foucault und

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universales Phänomen, sondern werden erst im Rahmen von historischen Diskurspraktiken hervorgebracht. Zum einen bildet die Disziplin der politischen Ökonomie im späten 18. Jahrhundert erstmals eine „Matrize möglicher Erkenntnisse“ über die Funktionsweise von Märkten.36 Auch der Markt ist mithin ein epistemisches Ding und als solches der Archäologie des Wissens zugänglich. Zum anderen etabliert der Marktmechanismus selbst „Systeme der Veridiktion“ und konfiguriert spezifische Rationalitäten des ökonomischen Handelns: Märkte informieren über Preise und Profite, sie setzen Akteure in Konkurrenz zueinander und fungieren als Urteilsmaschinen über Effizienz, Nützlichkeit oder Verschwendung.37 Damit umschreiben Märkte den Bereich möglicher und unmöglicher Wirtschaftssubjekte. Sie ziehen eine Zäsur zwischen denjenigen, die ihr Interesse zielgerichtet ausüben und eigenverantwortlich Risiken eingehen, und denjenigen, die das Investment scheuen, hedonistisch im Augenblick verharren oder passiv Verwertungschancen verstreichen lassen. Auf diese Weise bestimmen Märkte, welche Form der Beziehung man zu sich selbst und zu anderen unterhalten kann. Das erklärt, weshalb Märkte zu einem Kernelement von mannigfaltigen Formen der Verhaltensregulierung werden konnten. Technologien des Marktes korrespondieren mit einer Regierungsrationalität, die permanent von der Angst begleitet wird, zu viel zu steuern, und deshalb versucht, den Einzelnen lediglich durch die Manipulation von Kontextfaktoren zum Handeln anzustacheln – egal ob es dabei um die Gesundheit, die Bildung oder die Kriminalitätsbekämpfung geht. Beschreibt man das Regierungsverhältnis in dieser Art und Weise als Machtverhältnis, dann dient der Machtbegriff offensichtlich als eine Art Shortcut. Macht ist lediglich „der Name, den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt“.38 Der Name der Macht beschreibt, genauer gesagt, eine „Situation“, in der Kräfteverhältnisse „sich zu Systemen verketten“ – zu Systemen, welche Modi der Veridiktion, der Verhaltenssteuerung und der Subjektivierung arrangieren.39 Solche Systeme haben für Foucault die Eigenschaft physikalischer Felder: Sie sind nicht statisch, sondern bilden dynamische Forma-

die Gouvernementalität des Neoliberalismus, Berlin 2008; Tellmann, Ute: „Foucault and the Invisible Economy“, in: Foucault Studies Nr. 6 (2009), S. 5 ff. 36 Foucault, Michel: Die Regierung des Selbst und der anderen, Frankfurt a.M. 2009, S. 17. 37 Ders. (Fn. 35), S. 60; vgl. ferner Tellmann, Ute: „The Truth of the Market“, in: Distinktion 2 (2003), S. 49 ff. 38 Ders.: Sexualität und Wahrheit I: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1983, S. 94. 39 Ders. (Fn. 38), S. 93.

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tionen von Wirkungen auf Wirkungen. Sie sind damit per se überdeterminiert. Sie eröffnen einen Raum für eine Vielzahl „möglicher Antworten, Reaktionen […] und Erfindungen“.40 Regieren kommt demnach der Strukturierung eines aleatorischen Milieus gleich.41 Wie schon das Beispiel des Marktes vorführt, vollziehen sich Formen der „Führung der Führung“ nicht primär durch Verbote oder Gebote. Vielmehr wird mit dem möglichen Eintritt von Ereignissen gerechnet. Die Regierung verlegt sich angesichts solcher Möglichkeiten auf die Bearbeitung von Wahrscheinlichkeiten: Die Verhaltenssteuerung verläuft über Anreize zur Vorsorge, über die Generierung von Eigenverantwortung aber auch über den Ausschluss von Praktiken, die als gefährlich oder schädlich markiert werden. Man kann nun genauer angeben, was es mit der kritischen Kunst, nicht dermaßen regiert zu werden, auf sich hat. Diese Kunst operiert im Rahmen von Kraftfeldern, die als systemische Verkettungen vorgestellt werden. Sie umschreibt damit eine spezifische Form von situierter Praxis: Kritik erfolgt als eine Form des Entzugs gegenüber den Wirkungen, die von Wissensformen, Subjektivierungsweisen und Programmen zur Verhaltenssteuerung in einem spezifischen Milieu ausgehen. Dabei arbeitet die Kritik mit den Spielräumen, welche die Kraftfelder eröffnen. Als Möglichkeitsräume bergen sie die Möglichkeit der Intervention ins Spiel der Kräfte. Foucault unterstreicht den politischen Charakter einer derartigen Aktivität, indem er sie auf den Begriff einer agonalen Freiheit bringt.42 Auf der einen Seite bedarf die Regierung der Freiheit, um die Subjekte produktiv werden zu lassen. Sie agiert als „Manager der Freiheit“, d.h. sie organisiert und begrenzt die Bedingungen, unter denen der Einzelne frei sein kann.43 Auf der anderen Seite ist der Regierung damit die Möglichkeit der Kritik immanent. Deshalb ist der Entzug, in dem sich die Kritik übt, auch nie total. Nicht dermaßen regiert zu werden, verweist auf eine Frage des Maßes, d.h. des graduellen Entzugs gegenüber den Imperativen eines Feldes. Kritik bringt einen Überschuss der Freiheit zur Geltung, indem sie die Potenzialität anderer Verhaltensstile, Wahrheiten und Existenzweisen aktualisiert. Kritik problematisiert die Möglichkeitsbedingungen des jeweils aktuellen Seins. Sie vollführt eine praktische Übung darin, was sein könnte: ein Sein in der Potenz.44 Die kritische Übung

40 Ders. (Fn. 9), S. 285. 41 Vgl. ders. (Fn. 7), S. 53 ff. 42 Vgl. ders. (Fn. 9), S. 287. 43 Ders. (Fn. 35), S. 97. 44 Agamben, Giorgio: Bartleby oder die Kontingenz, Berlin 1998, S. 13.

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ist folglich nicht mit einer disziplinarischen Übung zu verwechseln, sie besteht vielmehr in der praktischen Einübung eines Möglichkeitssinns.45 Ein solches Denken der Kritik ist offensichtlich nicht kommensurabel mit den Prämissen der Systemtheorie. Doch es gibt Affinitäten, die produktive Irritationen zulassen. Zunächst situieren Luhmann und Foucault ihr theoretisches Unternehmen in ähnlich exzentrischer Weise im Horizont der Aufklärung: Anstatt die Kritik auf ein normatives Fundament zu bauen, zielen sie in ihrem Schreiben auf eine Verstärkung der modernen Kontingenzerfahrung, indem sie scheinbare Evidenzen und Universalien in den Unterschied anderer Möglichkeiten rücken. Dabei gehen sie von einer Realität aus, die durch einen Möglichkeitsüberschuss gekennzeichnet ist. Soziale Ordnung ist für Luhmann auch in der Moderne möglich, jedoch nur als Ordnung, in der eine zunehmende Zahl von Möglichkeiten präsent gehalten wird: Man kann an politische, wirtschaftliche oder rechtliche Operationen immer auch anders anschließen. Kritik wäre demnach eine Aktivität, die diesen „Möglichkeitsreichtum“ ausschlachtet bzw. im Sinne von Michel Serres an ihnen „parasitiert“.46 Allerdings ist im Hinblick auf Luhmanns Ausführungen unklar geblieben, woran sich Kritik überhaupt entzündet und wo Kritik überhaupt stattfindet. In Bezug auf beide Punkte kann nun den Impulsen Foucaults gefolgt werden. Auch wenn es gewagt erscheint: Man könnte Foucaults Rede von „Verkettungen“ und „Systemen“ versuchsweise zum Anlass nehmen, um die Funktionssysteme Luhmanns als entsprechende Kraftfelder zu denken. Indem man die Verschlingung von Wissensformen, Subjektivierungsweisen und Programmen der Verhaltenssteuerung in Rechnung stellt, bekommt man möglicherweise einen reicheren und historisch nuancierten Blick auf die Systemkonstitution bei Luhmann. So verweisen beispielsweise Semantiken wie die der „Flexibilisierung“, „Prävention“ oder „Evaluation“ aus einer an Foucault geschulten Sicht auf Programme, die präskriptive Effekte in Bezug darauf haben, was zu einem spezifischen Zeitpunkt als wahres Wissen gilt, was in Bezug auf dieses Wissen wie zu tun ist und was man bei alledem sein kann.47 Sobald etwa eine diversifizierte Pa-

45 Vgl. Menke, Christoph: „Zweierlei Prüfung: Zum Verhältnis von sozialer Disziplinierung und ästhetischer Existenz“, in: Axel Honneth/Martin Saar (Hg.), Michel Foucault – Zwischenbilanz einer Rezeption, Frankfurt a.M. 2003, S. 283 ff. 46 Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, Wiesbaden 2008, S. 204; Serres, Michel: Der Parasit, Frankfurt a.M. 1987. 47 Lemke, Thomas: „Flexibilisierung“, in: Ulrich Bröckling/Susanne Krasmann/Thomas Lemke (Hg.), Glossar der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2004, S. 82 ff.; Bröckling, Ulrich: „Evaluation“, in: ebd., S. 76 ff.; ders.: „Prävention“, in: ebd., S. 210 ff.

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lette von Waren just-in-time über globale Fertigungsketten flexibel hergestellt und zielgruppengenau vermarktet wird, schließen zwar weiterhin Zahlungen operativ aneinander an – mit der Form des Wirtschaftens ändert sich jedoch die Art, wie man zu arbeiten, zu konsumieren, zu investieren und mit der Zukunft zu rechnen hat. Die „Akteursfiktion“ der Wirtschaft erfährt eine Transformation, und mit ihr, wie man als ökonomischer Mensch zu sein hat.48 Foucault schlägt in seinen Regierungsvorlesungen den Begriff der „Transaktionsrealität“ vor, um Entitäten wie den Markt zu beschreiben.49 Transaktionsrealitäten sind epistemische Mittler, die das Führungsverhältnis in spezifischer Form kalibrieren. Weitere Beispiele, die Foucault anführt, sind die Sexualität und die psychische Normalität. So zeitigt die historisch höchst variable Wahrheit über die Sexualität vermittelt über die Art, wie man sie gegenüber sich selbst und gegenüber anderen zu verkörpern hat, grundlegende Effekte in so unterschiedlichen Bereichen wie der Familie, dem Militär oder auch dem Sport. In ähnlicher Weise spielt die Erkennung der psychischen Störung nicht nur eine bedeutende Rolle in der Psychiatrie. Sie verweist vielmehr auf das Negativkorrelat eines gesellschaftsweit verstreuten Managements von Normalität: Sie schreibt sich über die Diagnostik der Aufmerksamkeitsstörung ebenso in die Erziehung ein, wie sie die Reichweite des vernünftigen Willens bestimmt, mit dem das Recht im Normalbetrieb rechnen kann. Transaktionsrealitäten wie der Markt, die Sexualität oder die psychische Normalität besitzen demnach „in vielfältigen Prozeduren einen operativen Wert“.50 Sie sind Schnittstellen, die Regierungsweisen vermitteln. In Entsprechung zu Luhmanns Strukturbegriff programmieren sie Wahrscheinlichkeiten, die manche Ereignisse wahrscheinlich und andere unwahrscheinlich machen.51 Was spricht also dagegen, sie als operative Infrastrukturen zu begreifen, welche sich auf die Art und Weise der Systemkonstitution im Sinne Luhmanns auswirken? Als Infrastrukturen statten sie die Anschlüsse, die soziale Systeme konstituieren, mit Führung aus. Sie bestimmen den Möglichkeitshorizont, in dem sich Systeme reproduzieren. Folgt man diesem experimentellen Umweg über Foucault hin zu einer Systemtheorie der Kritik zumindest versuchsweise, dann kann man erstens einen ge-

48 Hutter, Michael/Teubner, Gunther: „Der Gesellschaft fette Beute: Homo juridicus und homo oeconomicus als kommunikationsleitende Fiktionen“, in: Peter Fuchs/Andreas Göbel (Hg.), Der Mensch – das Medium der Gesellschaft?, Frankfurt a.M. 1994, S. 110 ff. 49 M. Foucault (Fn. 35), S. 407. 50 Ders. (Fn. 7), S. 179. 51 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. (1987), S. 383 f.

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sellschaftlichen Ort der Kritik angeben. Anders als bei Luhmann vorgesehen, beschränkt sich Kritik nicht als Teil der Wissenschaft auf Erkenntniskritik. Sie operiert vielmehr in den Verwirbelungen der systemischen Möglichkeitshorizonte. Es gäbe dann Kritik in verschiedener Form: als ökonomische Kritik, rechtliche Kritik, politische Kritik, medizinische Kritik oder erzieherische Kritik. Kritik kommt demnach nicht aus einer totalisierenden Außenposition (als Kritik der Ökonomie, des Rechts, der Politik etc.), sondern operiert immanent an der Schwelle der jeweiligen Bereiche. Sie entzündet sich dabei zweitens an den Rigiditäten der Führung, die mit einer systemischen Schließung einhergehen. Auf diese Rigiditäten hatte Luhmann vom Bielefelder Balkon aus nur eine beschränkte Sicht. Sie treten jedoch deutlich hervor, wenn man mit Foucault die historisch singulären Verflechtungen von Wissensformen, Seinsweisen und Kräfteverhältnissen in Betracht zieht. Kritik im Sinne Foucaults verweist demnach auch auf einen radikaleren Möglichkeitssinn als er in Luhmanns soziologischer Aufklärung angelegt ist. Denn für Luhmann bleibt das Nicht-Aktualisierte prinzipiell zugänglich: Eine Selektion „ist […] die Realisierung einer Möglichkeit bei weiterer Präsenz anderer Möglichkeiten, die nicht gewählt wurden, aber als konkurrierende Möglichkeiten inkludiert wurden.“52 Foucaults Kritik besteht aber nicht einfach in einer Wahl zwischen bestehenden Möglichkeiten. Sonst wäre jedes Kreuzen einer Unterscheidung bereits kritisch. Foucaults Qualifizierung der Kritik als Kunst ist hier instruktiv: Kritik als Übung darin, was sein könnte, ähnelt der Fiktion, insofern sie immanent eine imaginäre Realität erschafft, welche ein System auf die in ihm ausgeschlossenen Möglichkeiten hin öffnet. Um den Rigiditäten der Wissensformen und Seinsweisen zu fliehen, welche die Führungen in unterschiedlichen sozialen Kontexten auszeichnen, muss man sich an die Grenze der realen Realität begeben: Kritik betreibt ein „Spiel der Freiheit mit dem Wirklichen zum Zwecke seiner Verklärung“.53 In diesem Sinn sind auch Foucaults Schriften – die er selbst nicht zufällig als „historische Romane“ bezeichnet hat – Werkzeuge der Kritik.54 Sie kommunizieren mit den verstreuten Künsten, nicht derart regiert zu

52 Makropoulos, Michael: Kontingenz: „Aspekte einer theoretischen Semantik der Moderne“, in: European Journal of Sociology 45 (2004), S. 369 ff. (hier S. 388). 53 Foucault, Michel: „Was ist Aufklärung?“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 687 ff. (hier S. 698). 54 Ders.: „Foucault untersucht die Staatsräson“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 47 ff. (hier S. 50); vgl. ferner Saar, Martin: Genealogie als Kritik: Geschichte und Theorie des Subjekts nach Nietzsche und Foucault, Frankfurt a.M. 2007, S. 130 ff.

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werden, indem sie das Gegebene in seiner Neu-Beschreibung problematisch werden lassen. Seine Bücher sollen erfassen, „worin das, was ist, und wie das, was ist, nicht mehr das sein könnte, was ist. Und in diesem Sinne muss die Beschreibung stets gemäß dieser Art virtuellem Bruch geleistet werden, der einen Freiheitsraum eröffnet, verstanden als Raum einer konkreten Freiheit, das heißt einer möglichen Umgestaltung.“55

4. G EFÄHRLICHE (U N -)M ÖGLICHKEITEN D IE G RENZHALTUNG DER K RITIK

DER

P ERSON :

Regierung, Freiheit, Führung – selbst wenn diese alteuropäischen Begriffe bei Foucault eine grundlegende Transformation erfahren, stellen sie doch die Toleranzen eingeschworener Systemtheoretikerinnen auf eine Belastungsprobe. Der Gipfel der Zumutungen wird erreicht, wenn man sich zwei weiteren Kategorien zuwendet, die in Foucaults Denken der Kritik eine elementare Bedeutung haben: dem Subjekt und dem Ethos. Es soll dennoch argumentiert werden, dass beide Konzepte Luhmanns Theorie der Person mit wesentlichen Impulsen versorgen, die das Denken der Kritik in den nun vorgezeichneten Bahnen ausgestalten. Nichts liegt Foucault dann auch ferner, als im Subjekt den Grund letzter Gewissheiten zu erblicken oder gar die transzendentale Bedingung der Möglichkeit von Welt. Im Jahr 1982 deklariert er stattdessen sein gesamtes Schaffen rückblickend als „Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen“.56 Das Subjekt wird nicht als vorgängiges Sein, sondern als ein historisch gewordenes aufgefasst. Dabei stellt diese Geschichte insbesondere die paradoxe Logik von Subjektivierungsprozessen heraus: Zum Subjekt wird man erst im Zuge der Unterwerfung unter spezifische Wahrheitsregime, in Bezug auf die man sich in bestimmter Form zu führen hat.57 Das Subjekt gewinnt seine Verständlichkeit also nur unter der Bedingung, dass es sich einer Ordnung des Macht/Wissens unterwirft. Die Unterwerfung unter ein epistemisches Regime der Intelligibilität bindet den Einzelnen an eine Seinsweise und wirkt dadurch befähigend. Deshalb müsse der Einzelne Judith Butler zufolge „notwendig zum Gesellschaftstheoretiker“ werden, sobald er versuche, Rechenschaft von sich ab-

55 Foucault, Michel: „Strukturalismus und Poststrukturalismus“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 521 ff. (hier S. 544). 56 Ders. (Fn. 9), S. 269. 57 Vgl. J. Butler (Fn. 6), S. 7 ff.

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zulegen.58 Das Subjekt bildet keinen Ausgangspunkt, sondern findet die Bedingungen seiner Existenz immer schon außerhalb seiner selbst vor. Eine derart machttheoretische Konzeption der Subjektivierung begünstigt zweifellos den Vorwurf des Determinismus. Und überhaupt: Wie soll so Kritik möglich sein? Als Antwort bietet Foucault den Begriff des Ethos an, der eine spezifische „Haltung“ gegenüber der jeweiligen „Aktualität“ bezeichnet.59 Das kritische Ethos besteht in der Ausarbeitung einer Form des Selbstbezugs, die sich gegenüber dem aktuell Gegebenen in einer Praxis der Desubjektivation, d.h. der Entunterwerfung übt. Im Anschluss an antike Techniken der Selbstsorge spricht Foucault deshalb auch in suggestiver Manier von Akten des „Verlernens“ und des „Entkrustens“.60 Kritik begibt sich folglich nicht auf die Suche nach dem wahren „Ich“, an dessen authentischen Bedürfnissen die entfremdeten Verhältnisse zu messen sind. Vielmehr gilt es, „abzulehnen, was wir sind“.61 Gemäß der dargelegten Prämissen der Subjektivierung kann eine solche Zurückweisung allerdings nicht als autonomer Akt stattfinden. Kritik ist unhintergehbar ein Vabanquespiel: Sie erfordert eine „Übung, in der die äußerste Aufmerksamkeit für das Wirkliche mit der Praxis einer Freiheit konfrontiert wird, die dieses Wirkliche zugleich achtet und ihm Gewalt antut.“62 Kritik operiert somit an der Schwelle: Statt die „Form einer absoluten Exteriorität“ anzunehmen, geht sie taktisch vom Gegebenen aus.63 Sie nutzt die in jeder Machtsituation vorhandenen Möglichkeitsräume und Freiheiten, um dem Kraftfeld zu fliehen. Wie man sich das vorzustellen hat, wird angesichts der von Foucault untersuchten „Verhaltensrevolten“ im Inneren des christlichen Pastorats anschaulich.64 So stelle die religiöse Askese eine Technik der „Gegen-Führungen“ dar, weil sie einen Entzug vom pastoralen Gehorsam ermöglicht hat. Als Form der Übung des Selbst an sich selbst, welche die Selbstherausforderung, die Selbstverbesserung und Selbstbeherrschung von der notwendigen Leitung eines anderen entkoppelt, bildet die asketische Praxis ein „Verkehrungselement“ in der Regierung der Seelen: „Die Askese ist eine Art rasender und umgekehrter Gehor-

58 Dies.: Kritik der ethischen Gewalt, Frankfurt a.M. 2003, S. 20. 59 M. Foucault (Fn. 53), S. 690. 60 Ders.: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004, S. 128. 61 Ders. (Fn. 9), S. 280. 62 Ders. (Fn. 53), S. 697 f. 63 Ders. (Fn. 7), S. 312. 64 Ebd., S. 284 ff.

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sam […]. [E]s gibt einen der Askese eigenen Exzess, ein Zuviel, das gerade seine Unzugänglichkeit für eine äußere Macht sicherstellt.“65 Warum aber handelt es sich bei dem Bemühen, nicht derart regiert zu werden, um eine Kunst? Kunst reduziert sich für Foucault weder auf eine Beziehung zu spezifischen Objekten noch auf einen spezialisierten gesellschaftlichen Bereich. Stattdessen träumt Foucault von einer transversalen Kunst, im Rahmen derer „das Leben eines jeden Individuums“ zum Werk werden könne.66 Die künstlerische Aktivität zielt auf die schöpferische Erzeugung einer Lebensform. Eine dementsprechende Kunst der Kritik genügt sich also nicht in der bloßen Ablehnung einer Seinsweise. Sie beschränkt sich nicht auf die Geste der Verneinung. Die Kunst der Kritik vermehrt vielmehr „Zeichen des Daseins“.67 Sie ästhetisiert die Existenz, um in den Zusammenhang von Wissensformen, Kräfteverhältnissen und Subjektivierungsweisen zu intervenieren. Sie versucht, dem Leben „eine Farbe, eine Form, eine Intensität zu geben, die niemals sagt, was sie ist. Das ist Lebenskunst. Lebenskunst heißt, […] aus sich heraus wie auch zusammen mit anderen Individualitäten, Wesen, Beziehungen, Qualitäten hervorzubringen, die keinen Namen haben.“68 Eine Hervorbringung ohne namentlich identifizierbare Gestalt – genau dieses Arrangement einer schöpferischen Negativität, diese „Möglichkeit einer nicht-positiven Bejahung“ zeichnet künstlerischen Stil aus.69 Wie ein musikalischer Stil strebt auch ein Existenzstil nach der „Kraft […], die Regeln in dem Akt, der sie zur Anwendung bringt, zu brechen.“70 Demnach besteht die Kunst, nicht derart regiert zu werden, in der „Stilisierung des Selbst an der Grenze des etablierten Seins“.71

65 Ebd., S. 301. 66 Ders.: „Zur Genealogie der Ethik: Ein Überblick über die laufende Arbeit“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 747 ff. (hier S. 758). 67 Ders. (Fn. 12), S. 132; Opitz, Sven: „Gibt es einen normativen Eigensinn der (R)Evolution? Über Streit und Ästhetik in der Soziologie des Politischen“, in: Soziale Welt 63 (2012), S. 283. 68 Ders.: „Gespräch mit Werner Schroeter“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 303 ff. (hier S. 309). 69 Ders.: „Vorrede zur Überschreitung“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 1, Frankfurt a.M. 2001, S. 320 ff. (hier S. 326). 70 Ders.: „Pierre Boulez, der durchstoßene Schirm“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 265 ff. (hier S. 269). 71 Butler, Judith: „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2009, S. 221 ff. (hier S. 238).

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Man erkennt deutlich, weshalb die Kunst der Kritik für die sich in ihr übende Gestalt hochgradig riskant ist. In der Suche nach neuen Modalitäten des Seins setzt das Subjekt nicht weniger als sein Sein aufs Spiel. Indem die Bewegung zur Grenze eines Wahrheitsregimes mit der Bewegung zur Grenze des Selbst korreliert, neigt die Kritik notwendig zur Suspension jener Bedingungen, welche die Verständlichkeit des sprechenden Subjekts gewähren. Wenn „Regiert werden heißt, […] dass uns die Bedingungen vorgeschrieben werden, unter welchen Existenz möglich und nicht möglich ist“, dann wagt die Kritik sich in den Bereich unmöglicher Existenzweisen vor.72 Die „Grenzhaltung“ der Kritik ist daher eine experimentelle Haltung.73 Sie problematisiert das gegebene Sein in actu entlang der drei oben genannten Achsen: Was kann ich wissen? Was kann ich tun? Und was kann ich sein? Eine solche Problematisierung in Form einer stilisierten Ästhetik der Existenz öffnet das aktuell Gegebene für andere Wissensformen und Vermögen. Deshalb ist die ethische Sorge um sich auch nicht auf „eine Sorge um sich und niemanden anderen“ zu reduzieren.74 Als kritische Kunst des Selbst zielt sie auf eine ungezwungenere, offenere und potenziell reichere Sozialität. Denn gibt es „nicht jedesmal, wenn ein sozialer Wandel erfolgt, eine Bewegung der subjektiven Umgestaltung mitsamt ihren Ambiguitäten, aber auch ihren Möglichkeiten?“75 Natürlich: Es hat die Systemtheorie viel Mühe gekostet, den in ein Subjekt verzauberten Menschen aus der Theorie zu entfernen. Die dadurch freigewordene Sicht auf die emergente Komplexität sozialer Prozesse darf nicht leichtfertig verstellt werden. Zugleich steht das vorliegende Argument vor folgender Herausforderung: Im letzten Abschnitt wurde jene aufklärerisch-kritische Aktivität, die in Luhmanns Worten darauf abzielt, „alle Evidenzen in Probleme zu verwandeln“, von der Wissenschaft an die Schwelle aller Systeme verschoben, wo sie angesichts der Rigiditäten einer spezifischen Systemkonstitution nach den jeweils ausgeschlossenen Möglichkeiten fahndet.76 Wer aber fungiert dann als Träger der Kritik? Lässt sich Luhmanns sehr schmale Theorie der Person angesichts dieser Frage im Licht von Foucaults Konzept der Subjektivierung lesen?77

72 Ebd., S. 235. 73 M. Foucault (Fn. 53), S. 702. 74 Reitz, Tilman: „Die Sorge um sich und niemand anderen: Foucault als Vordenker neoliberaler Vergesellschaftung“, in: Das Argument 45 (2003), S. 585 ff. 75 Deleuze, Gilles: Foucault, Frankfurt a.M. 1992, S. 163. 76 N. Luhmann (Fn. 19), S. 98. 77 Vgl. ders.: „Die Form ‚Person‘“ , in: ders., Soziologische Aufklärung 6, Wiesbaden 2005, S. 137 ff.

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Auch Luhmanns Person wird als Effekt sozialer Prozesse vorgestellt, nämlich als Gestalt, die im Rahmen von kommunikativen Attributionsprozessen erscheint. Kommunikation ist für den Systemtheoretiker eine Synthese dreier Selektionen: Eine Information wird in Form einer Mitteilung exponiert und dem nachträglichen Verstehen ausgesetzt.78 Erst eine nachträgliche Beobachtung eines Lärms anhand der Unterscheidung von Information und Mitteilung speist somit den Lärm als Äußerung in den operativen Verkettungszusammenhang ein, der ein System bildet. Die Person kommt nun exakt in diesem kommunikativen Nachtrag ins Spiel: Im anschließenden Verstehen wird nämlich neben der mitgeteilten Information eine Mitteilungsinstanz ermittelt, der die Kommunikation zugeschrieben wird.79 Personen bilden sich folglich als Ablagerung punktueller Identifikationen im Anschlussgeschehen. Sie entstehen als „Identitätsmarken“ im operativen Sinngeschehen, wo man mit ihnen rechnet.80 In ähnlicher Weise, wie Foucaults Subjekt seine Verständlichkeit erst im Kontext von Wahrheitsregimen gewinnt, spricht also auch Luhmanns Person nicht zu ihren eigenen Bedingungen. Ihr Auftritt hängt von den jeweils etablierten Strukturen ab, welche die Anschlüsse führen. Zugleich bildet die Person selbst eine Struktur, die Erwartungen in einer gegebenen Situation ordnet: Die Person nimmt Luhmann zufolge eine „individuell attribuierte Einschränkung von Verhaltensmöglichkeiten“ vor.81 Das bedeutet nicht zuletzt, dass an der Person Abweichungen sichtbar werden: Ein für seine strenge Notenvergabe bekannter Lehrer urteilt plötzlich milder, die politisch inaktive Nachbarin mobilisiert zur Demonstration gegen ihre Landesregierung, der Bruder verlässt seine Freundin für einen Mann – allesamt Erwartungsbrüche, die sich zu einem „Umbau“ der jeweiligen Person verfestigt, von der nun anderes erwartet wird. An derart gewöhnlichen Vorgängen erkennt man, dass jede Person ein Reservoir nicht aktualisierter, aber potenziell aktualisierbarer Möglichkeiten birgt. Insgesamt gibt es also zwei Vektoren in Luhmanns Theorie der Person. Auf der einen Seite setzt ein System durch die Führung seiner Anschlüsse unhintergehbar Bedingungen der Verständlichkeit. Jedes System arbeitet mit spezifischen Adressierungsschemata und stellt damit Inklusionserfordernisse an die Art und Weise, wie Personen zu sein haben. Ausgehend von dieser Ordnung der Anschlüsse lässt sich sagen, dass die Person der Ort der Personalisierung des Unpersönlichen ist. Sie

78 Ders. (Fn. 51), S. 191 ff. 79 Fuchs, Peter: Der Eigen-Sinn des Bewusstseins: Die Person, die Psyche, die Signatur, Bielefeld 2003, S. 30 ff. 80 N. Luhmann (Fn. 18), S. 620. 81 Ders. (Fn. 77), S. 152.

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emergiert als systemischer Effekt. Auf der anderen Seite leitet sich die Form der Person auch bei Luhmann nicht mechanisch aus dem aktuell Gegebenen ab. Sie birgt einen Möglichkeitsüberschuss, der sich im operativen Geschehen zu artikulieren vermag und dabei den Zustand des Systems ändert. Akzeptiert man diese Lesart, dann sind die Konzepte der Subjektivierung und der Person homolog gebaut. Folglich ist es nicht komplett abwegig, Luhmanns Person als Agentin einer spezifischen Irritabilitätsproduktion im Anschluss an Foucault zu begreifen. Wenn die Systemkonstitution über historische Wissensformen verläuft, die bestimmte personelle Seinsweisen möglich und andere unmöglich machen, dann verweist Foucaults „Ethik“ auf eine personelle Aktivität der Artikulation eines entsprechenden, im System angelegten Möglichkeitsüberschusses. Indem es eine Grenze zur Unwelt errichtet, schränkt jedes System die in ihm möglichen Relationen ein. Dadurch erhält der Begriff der „Grenzhaltung“ einen spezifischen Sinn: Er bezeichnet eine Form der Führung der Person durch die sich die Person in Bezug auf jene Führung der Anschlussprozesse distanziert, innerhalb derer Sie genau genommen erst als verständlich sprechende Person erscheint. An der Grenze zu sein, bedeutet jedoch nicht einfach, „draußen“ zu sein. Es bedeutet, dem Bereich verworfener Möglichkeiten neue Möglichkeiten zu entreißen. Tatsächlich erlaubt es Luhmanns Konzeption der Systembildung, die Temporalität der Kritik präzise zu fassen. Kritik als experimentelle Überschreitung des Möglichkeitshorizonts eines Systems exponiert sich in extrem riskanter Weise dem nachträglichen Verstehen. Sie begibt sich in eine Schwebe, in der radikal ungewiss ist, wie sie anschließend registriert wird.

5. P OTENZIALITÄT

UND I NOPERABILITÄT

Setzt man Foucault und Luhmann in der nun dargelegten Form ins Verhältnis, fällt eine Art Komplementarität des Theorieinteresses ins Auge. Während die Systemtheorie lediglich in bestimmten Formen der Totalexklusion ein Problem sieht, problematisiert Foucault vor allem Formen der Inklusion.82 Und während Foucault Kontingenzen akzentuiert, um Optionen der Flucht gegenüber den Systemen der Akzeptabilität anzudeuten, wundert sich die Systemtheorie über die Unwahrscheinlichkeit, weshalb in einer grundlegend kontingenten Welt dennoch so etwas wie soziale Ordnung möglich ist. Der Systemtheorie mangelt es daher

82 Vgl. ders. (Fn. 11) sowie Opitz, Sven: „Die Materialität der Exklusion: Vom ausgeschlossenen Körper zum Körper des Ausgeschlossenen“, in: Soziale Systeme 14/2 (2008), S. 229 ff.

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gewissermaßen an einem Motiv, um Kritik in der dargelegten Form zu denken. Foucault hat dagegen ein solches Motiv in seinen Studien generiert und ihm, wie dargelegt, den Namen „Macht“ gegeben. Der vorliegende Vorschlag läuft darauf hinaus, dieses Motiv der Macht in die Systemkonstitution einzuschreiben und auf die Konstitution von Personen engzuführen. Dadurch lässt sich die „kritische Haltung“ gesellschaftstheoretisch verorten: Kritik wird als eine über verschiedene Sozialkontexte hinweg verstreute, zugleich vielfältige wie situierte Aktivität begreifbar. Die von Foucault ausgehenden Impulse revidieren also nicht die abklärende Tendenz der Systemtheorie. Kritik ist nicht der Titel einer totalen Umwälzung aller Verhältnisse. Sie verweist auf eine Stilisierungspraxis im Zuge derer sich Personen so transformieren, dass sie einen Möglichkeitsüberschuss in systemische Kontexte injizieren und dadurch höhere Freiheitsgrade in Bezug auf die anschlussfähigen Führungen generieren. Eine derartige Abklärung läuft nicht auf eine Domestizierung des kritischen Moments hinaus, ganz im Gegenteil. Die „Grenzhaltung“ weist über die Grenzen des im System Möglichen hinaus, indem sie sich an die Grenzen möglicher Personifizierungen begibt. Sie betreibt eine systemimmanente Artikulation des konstitutiv aus dem System Ausgeschlossenen. Weil jede Kritik somit zur Agentin der Dislokation der Systemgrenzen wird, birgt sie eine disruptive Potenz.83 Insbesondere Giorgio Agamben hat diese Schwelle, an der sich Ethos und Systemkonstitution kreuzen, zuletzt im Anschluss an Foucault in einer Weise ausgeleuchtet, welche die hier vorgeschlagene Konzeption der Kritik an ihren Extrempunkt treibt. Gegen die dominanten Modi der Subjektivierung versucht Agamben an verschiedenen Stellen seines Werks eine Lebensform zu denken, die er als poetisches Sein purer Potenzialität bestimmt: „where life paradoxically is otherwise than it is at every instant of its actuality.“84 Eine solche Lebensform ist eine Form „reiner Kommunikabilität“ bzw. reiner „Mitteilbarkeit“.85 Als solche aber konfrontiert sie das System zwangsläufig mit einem Potenzialitätsexzess. Sie führt, genauer gesagt, ein hyperkomplexes Übermaß an Anschlussmöglichkeiten in das System ein, auf dessen Reduktion das System in seiner Konstitution beruht. Diese Hyperkonnektivität der reinen Potenz entzieht dem System notwendig die Operationsgrundlage. Das Sein der Potenz zerstört das System also nicht

83 Vgl. Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche: Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerswist 2000. 84 Zartaloudis, Thanos: Power, Law and the Uses of Criticism, Abingdon 2010, S. 285. 85 Ebd. sowie Agamben, Giorgio: Mittel ohne Zweck: Noten zur Politik, Freiburg/Berlin 2001, S. 19.

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einfach. Es „de-aktiviert“ es vielmehr punktuell, macht seine Mechanismen „unwirksam“ oder überantwortet seine Routinen der „Untätigkeit“.86 Die Temporalität der Kritik ist folglich die Zeit der Inoperabilität. Was das im Detail bedeuten könnte, müsste man in Bezug auf verschiedene Kritikformen in unterschiedlichen Kontexten empirisch untersuchen. Illustrativ ist in dieser Hinsicht ein Interview über Homosexualität als Lebensform, das Foucault gegen Ende seines Lebens gegeben hat.87 Anstatt nach dem Wesen eines sexuellen Begehrens zu fahnden, plädiert er dafür zu fragen, was ein Begehren vermag. Die Homosexualität als „Existenzfrage“ zu betrachten heißt demnach, sie experimentell als Vehikel für die Erfindung und Vermehrung von Beziehungsformen einzusetzen, die das bis dato Mögliche sprengen: „Nehmen Sie die Armee. […] Die Gesetze der Institutionen können diese Beziehungen mit ihren vielfältigen Intensitäten, ihren veränderlichen Formen, ihren unabsehbaren Entwicklungen […] nicht gutheißen.“88 Foucault schlägt letztlich vor, die Homosexualität zur Herstellung eines Erfahrungsfeldes zu benutzen, aus dem man selbst in seiner Beziehung zu sich und zu den anderen verändert hervorgeht.89 Deshalb ist die Homosexualität nach diesem Verständnis gerade kein ausformuliertes Skript: „Das Programm muss leer sein […] Wir müssen das Intelligible vor dem Hintergrund einer Leere aufscheinen lassen, jede Notwendigkeit bestreiten und zugleich denken, dass die Dinge, die existieren, keineswegs alle möglichen Räume füllen.“90 Eine solche Problematisierung des Gegebenen auf dessen Potenz, nicht zu sein, vermag auch aus Foucaults Sicht eine „Paralyse“ des Gegebenen zu bewirken.91 Die Systeme der Akzeptabilität zu paralysieren bedeutet allerdings nicht, das soziale Geschehen einer Anästhesie zu unterziehen. Vielmehr ist das Ziel der kritischen Haltung eine Steigerung des „Tätigkeitsvermögens“.92 Hierin liegt die emanzipatorische Vision der nun vorgelegten Konzeption von Kritik. Sie voll-

86 Ders.: Herrschaft und Herrlichkeit, Berlin 2010, S. 299 f. 87 Foucault, Michel: „Freundschaft als Lebensform“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005, S. 200 ff. 88 Ebd., S. 202. 89 Zum Erfahrungsbegriff vgl. ders.: „Gespräch mit Ducio Trombadori“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M. 2005., S. 51 ff.; Lemke, Thomas: „Critique and Experience in Foucault“, in: Theory, Culture & Society 28 (2011), S. 26 ff. 90 M. Foucault (Fn. 87), S. 206. 91 Ders.: „Diskussion vom 20. Mai 1978“, in: ders., Dits et Ecrits, Bd. 4, Frankfurt a.M., S. 25 ff. (hier S. 40). 92 Deleuze, Gilles: Spinoza: Praktische Philosophie, Berlin 1988, S. 27 ff.

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führt einen Ausgang aus bestehenden Mustern des Wissens, des Tuns und des Seins, ohne jemals in den Zustand vollkommener Mündigkeit zu gelangen. Sie unterbricht die Verkettung der Führungen, jedoch nicht um unverbunden im Bruch zu verharren. Der Ausgang zielt auf einen transfigurativen Effekt des aktuell Gegebenen, der ein Anwachsen der potenziellen Beziehungen und Fähigkeiten von der Intensivierung der Machtverhältnisse loslöst.93 Im Aufscheinen der Potenzialität sind nicht nur alle Fragen offen, die offenen Fragen haben sich auch multipliziert. Insofern das Denken den Akt der Potenz schlechthin darstellt, wäre es demnach ein Zeichen des Gelingens, wenn die definitive Gestalt einer kritischen Systemtheorie an dieser Stelle nicht abschließend geklärt ist. Letztlich verweist das nun dargelegte Argument daher autologisch auf sich selbst: Die Möglichkeit einer Systemtheorie, die einer spezifischen Kritikaktivität Ausdruck verleiht, geht damit einer, dass sie selbst in ihrer Aktualität problematisch wird – d.h. in der Art und Weise, wie sie das Soziale sehen, wissen und sein lässt. In diesem Problematisch-Werden hat ihr Anders-Werden bereits begonnen. Nun kommt es auf die Anschlüsse an.

93 Vgl. M. Foucault (Fn. 53), S. 705.

Systemtheorie und Frankfurter Schule E LKE W AGNER

Dass es Divergenzen zwischen der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule und der Systemtheorie Niklas Luhmanns gibt, ist ein beinahe schon so altbekannter Befund, dass man ihn kaum mehr anführen mag, um das Publikum nicht zu langweilen. In zahllosen Beiträgen hat Luhmann selbst insbesondere auf die Kritische Theorie Jürgen Habermas’ mehr oder minder polemisch Bezug genommen. Habermas’ Kritische Theorie der Versöhnung und der gemeinsam geteilten Vernunft galt Luhmann als empirieferne und soziologiefreie Bezugnahme auf Gesellschaft1 – wenn auch „mit tadelfreien moralischen Impulsen“2. Aber auch die an einer zweiwertigen Logik orientierte Konzeption von Realität als einer ontologischen, die nach dem, was der Fall ist, fragt, weil sie sich dafür interessiert, was sich dahinter ideologisch verbirgt, galt Luhmann als unzeitgemäß.3 Die angemessene Form der Beobachtung könne „nicht Besserwissen oder Kritik sein; denn gerade dafür fehlt es (wie die Soziologie selber einsehen muss) in einer funktional differenzierten Gesellschaft an der Autorität einer ,Metaposition‘.“4 Trotz aller Polemik und Abgrenzungsbemühungen zeigt die immer wieder erfolgte Bezugnahme von Luhmann auf die Kritische Theorie der Frankfurter Schule, dass diese Fragestellungen entwickelt hat, die der Systemtheorie zumin-

1

Luhmann, Niklas: „Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas“, in: Jürgen Habermas/ders. (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971, S. 291 ff.

2

Ders.: „Am Ende der kritischen Soziologie“, in: Zeitschrift für Soziologie 20/2 (1991), S. 147 ff. (hier S. 148).

3 4

Ebd. Ders.: „Was ist der Fall und was steckt dahinter?“, in: Zeitschrift für Soziologie 22/4 (1993), S. 245 ff. (hier S. 256).

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dest nicht ganz gleichgültig sein können. Das Programm einer „Kritischen Systemtheorie Frankfurter Schule“5, wie es Andreas Fischer-Lescano ausformuliert hat, nimmt diese Bezugnahme zum Anlass, generell nach dem normativen Potenzial der Systemtheorie zu fragen. Dieses Programm scheint sich aber doch eher stark in jenen Problemen zu verfangen, die der Systemtheorie Anlass zu einer Vernunftkritik gegeben haben. Um nur einen wesentlichen Einwand gegen dieses Programm zu benennen: eine systemtheoretische Praxis des Kritischen zeigt sich nicht deswegen unsensibel für die normative Freilegung „autonomiesichernder Potenziale in der globalen Zivilgesellschaft“, weil sie dafür zu arrogant und zu weltfremd wäre,6 die Einwände gegen ein normatives Konzept dieser Art ergeben sich vielmehr deshalb, weil die Systemtheorie streng empirisch verfährt und eben gerade nicht im „Blindflug über den Wolken“7. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, lässt sich gerade aus dem empirischen Blick der Systemtheorie ein Anschluss an das Programm einer „Kritischen Systemtheorie“ finden. Die folgende Argumentation wird zunächst einige Figuren herausarbeiten, die sich auf funktional äquivalente8 Weise in den Theorieansätzen der Frankfurter Schule und in jenen der Systemtheorie finden lassen und die zumindest für eine Soziologie der Kritik Anschlüsse bieten. Sowohl traditionelle Kritische Theorie als auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns orientieren sich in ihrer Beschreibung der Gesellschaft an Problemen bzw. an Widersprüchen (1). Sowohl traditionelle Kritische Theorie als auch die Systemtheorie Niklas Luhmanns befragen das Programm der Aufklärung auf seine eigenen Möglichkeiten und Grenzen hin und bieten damit aus heutiger Perspektive Anschluss für eine Soziologie der Kritik (2). Mit der durch Habermas begründeten zweiten Tradition der Kritischen Theorie Frankfurts hat die Systemtheorie wiederum gemein, dass sie die Medialität des Kritischen in den Blick nimmt (3). Und schließlich lassen sich zwischen der Systemtheorie und den aktuellen Arbeiten des Habermasschülers Rainer Forst Parallelen finden, wenn letzterer auf unterschiedliche Kontexte der Ge-

5

Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. (hier S. 17).

6

Fischer-Lescano schätzt den Luhmannschen Gestus als dandyhafte Pose eines Besuchers „der klimatisierten VIP-Lounge der 27. Beobachterebene im ,Grand Hotel Abgrund‘“ ein, der es sich „mit einem Glas Champagner bequem macht […] und die emanzipatorischen Kämpfe geschundener Individuen vernachlässigt […]“, A. FischerLescano (Fn. 5), S. 15.

7 8

Ebd. Vgl. Wagner, Elke: „Gesellschaftskritik und soziologische Aufklärung“, in: Berliner Journal für Soziologie 1 (2005), S. 37 ff.

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rechtigkeit abstellt: eine empirische verfahrende systemtheoretische Soziologie der Kritik müsste genau diese unterschiedlichen Kontexte der Erzeugung normativer Fragen und Problemkonstellationen identifizieren und wenn schon nicht normativ-kritisch so zumindest empirisch-soziologisch beschreiben können (4). Abschließend möchte der Beitrag noch einmal die Frage aufwerfen, inwiefern sich eine systemtheoretische Soziologie der Kritik als kritische Soziologie verstehen lässt (5). Es sei bereits der Befund vorweggenommen, dass das Kritikpotenzial der Systemtheorie insbesondere in dem Ausweis von Unbestimmtheit und Kontingenz zu sehen ist.

1. P ROBLEME ALS G ENERATOR

VON

P RAKTIKEN

Beginnt man die Tradition der Frankfurter Schule in den Blick zu nehmen, so stößt man zunächst auf eine Fassung von Gesellschaft als einem System der Widersprüche, das Marx in Abgrenzung zu Hegel beschrieben hatte. „Ohne Gegensatz kein Fortschritt: das ist das Gesetz, dem die Zivilisation bis heute gefolgt ist“,9 formuliert Marx in Das Elend der Philosophie (1847) seine Aneignung der Hegelschen Dialektik. Freilich sind es für Marx nicht nur beliebige Widersprüche, Gegensätze und Antagonismen, die für den gesellschaftlichen Fortgang von Bedeutung sind. Es ist selbstverständlich der (Haupt-)Widerspruch von Arbeit und Kapital, der sich in der Gestalt der alles bestimmenden Produktionsverhältnisse niederschlägt und die Gesellschaft transformiert: „Bis jetzt haben sich die Produktivkräfte auf Grund dieser Herrschaft des Klassengegensatzes entwickelt.“10 Erst in der Überwindung dieses grundsätzlichen Antagonismus kann das Reich der Freiheit erreicht werden; ein offenes Deutungsschlachtfeld bleibt dabei nach wie vor, wie der Satz zu verstehen ist, dass „der Kommunismus […] nicht ein Zustand (sei), ein Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten habe“, sondern vielmehr eine „wirkliche Bewegung“11, die damit aber offenbar nicht aufhört sich zu bewegen und immer noch zu bearbeitende Probleme und Kontingenzen kennt, wenn das Reich der Freiheit einmal erreicht ist.12 Die Bezugnahme auf Probleme nimmt in der Systemtheorie Niklas Luhmanns freilich eine andere

9

Marx, Karl: „Das Elend der Philosophie“ (1847), in: Siegfried Landshut (Hg.), Die Frühschriften, Stuttgart 1971, S. 489.

10 Ebd. 11 Marx, Karl: „Die Deutsche Ideologie“ (1845/46), in: ebd., S. 361. 12 Diese Frage konnte zumindest an die realsozialistische Version des Kommunismus gestellt werden.

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Wendung. Für Luhmann ist es eben gerade nicht die eine Problemkonstellation, die das Ganze bestimmt – es sind unterschiedliche Problemkonstellationen, die relational, durch verschiedene Logiken des Sozialen auf funktional äquivalente Weise bearbeitet werden. Unter der Bearbeitung von Problemen ist dabei nicht die Idee der Erreichung eines fixen Ordnungszustandes zu verstehen. Vielmehr geht es um eine konstante Dauerirritation, der soziale Ordnung permanent ausgesetzt ist: „Die funktionale Systemtheorie behandelt (Probleme) […] als permanente Gegebenheiten, die als solche die Stabilisierung von Systemen nicht verhindern, sondern nur eine kontinuierliche, aber strukturierbare Bedürftigkeit bekunden.“13

Probleme gelten der Systemtheorie als Generatoren von Praktiken, weil durch sie überhaupt erst die Notwendigkeit erzeugt wird, Entscheidungen treffen und soziale Erwartungen stabilisieren zu müssen. Soziale Ordnung ist nicht einfach da – vielmehr ist ihre Genese aus systemtheoretischer Sicht hochgradig unwahrscheinlich. Und genau hierin lässt sich das kritische Potenzial der Systemtheorie verorten: Die polit-ökonomische Bestimmtheit gesellschaftlicher Praxis, die der Marxismus vorsieht, ersetzt die Systemtheorie durch die Maximen der Unwahrscheinlichkeit und der Unbestimmtheit. Der Unterschied zwischen der Systemtheorie und dem Marxschen Blick auf die Welt ist also nicht, dass es in der Systemtheorie zu wenig Probleme gäbe, die benannt werden – vielmehr erscheint aus Luhmanns Sicht der Marxsche Hauptwiderspruch als zu gering weil zu eindimensional und regelrecht zu harmlos veranschlagt, um die Komplexität der modernen Gesellschaft angemessen beschreiben zu können. Die Reduktion von diversen Problemlagen auf den einen Hauptwiderspruch ist aus systemtheoretischer Sicht eine zu kritisierende Blickweise. Sie erscheint allein plausibel, weil es sich hierbei offenbar um eine politisierte Beschreibung von Gesellschaft handelt und das Politische offenbar solche Beschreibungsformeln hervorbringt, um das Problem zu lösen, Kollektive zu binden und füreinander sichtbar zu machen – eben dies ist der Marxschen Beschreibung des Sozialen ja auch in gewisser Hinsicht gelungen. Aktuelle Tendenzen der Kritischen Theorie Frankfurter Provenienz scheinen dieser systemtheoretischen Praxis des Problembewusstseins insofern auszuweichen, als sie gleichfalls nur mehr ein normativ-ethisch bestimmtes Problem privilegieren: Etwa das Problem der Vernunft (Habermas), das

13 Luhmann, Niklas: „Funktionale Methode und Systemtheorie“ (1964), in: ders., Soziologische Aufklärung 1: Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Wiesbaden 1970, S. 39 ff. (hier S. 51).

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Problem der Anerkennung (Honneth) oder das Problem der Gerechtigkeit (Forst). Der empirische Blick der Systemtheorie interessiert sich hingegen für die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Problemkonstellationen, die sich perspektivisch verschieden darstellen und gleichzeitig funktional äquivalent bearbeitet werden. Ein systemtheoretischer Blick richtet sich auf Inkonsistenzen, Unvereinbarkeiten und Ungleichheiten, auf Brüche in der Kommunikation und auf zufällige Wendungen in Praxiszusammenhängen, die sich gegen alle geplanten Strategien und Motivlagen, gegen alle vorgefassten Normen und Richtlinien etablieren können. Ihr Praxisbezug und ihr stetes Erwarten von Unvereinbarkeiten und Inkonsistenzen dient ihr als Kritik an jenen Perspektiven, die sich allzu sehr auf die Geregeltheit sozialer Ordnung verlassen wollen und Gesellschaft im Sinne eines wohlgeordneten Schubladensystems betrachten. Systemtheorie interessiert sich für die Unwahrscheinlichkeit von sozialer Ordnung – und eröffnet damit normativ gesprochen den Anschluss an ein liberales und pragmatisches Weltbild, in dem konkrete und unterschiedliche Praktiken gleichzeitig nebeneinander bestehen können und sich nicht schon immer vorgefassten Plänen und Steuerungswünschen fügen. Um ein Beispiel zu nennen: Von Interesse ist etwa, wie sich normative Konzepte des Ethischen und der Moral in der Praxis klinischer Ethik-Komitees in asymmetrischen Organisationskontexten etablieren können und dabei einen kritischen Diskurs erzeugen, der gerade nicht so funktioniert, wie es die Argumentationsmuster und Leitlinien der Ethikberater vorsehen.14 Die Systemtheorie interessiert sich dabei dann etwa dafür, wie es den Diskursteilnehmern in einem Ethik-Komitee im Krankenhaus überhaupt gelingt, Konflikte als Konflikte vor einem Publikum zu benennen und kommunikativ sichtbar zu machen. Und sie interessiert sich dafür, wie sich Motivlagen und Strategien der Diskursteilnehmer verschieben und transformieren, wenn sie sich auf die Zumutung einer kommunikativen Diskursordnung eines solchen Verfahrens einlassen, etwa: Hatte man sich vor der Sitzung des Klinischen EthikKomitees vorgenommen, endlich einmal alle beobachteten Missstände im Krankenhaus zu thematisieren, hüllt man sich während der Sitzung in Schweigen, weil man es offenbar nicht gewöhnt ist als Mitarbeiter in der Krankenhaushierarchie nun ethisch auf gleicher Augenhöhe miteinander zu sprechen.15 Kommt man dann nach einiger Zeit dennoch ins Gespräch, so zeigt sich, dass die Praxis

14 Vgl. Wagner; Elke: „Was ist ein ethischer Fall?“, in: Armin Nassehi (Hg.), Ethik, Normen, Werte. Studien zu einer Gesellschaft der Gegenwarten, Wiesbaden 2013 (i.E.); und dies.: Der Arzt und seine Kritiker. Zum Strukturwandel medizinkritischer Öffentlichkeiten am Beispiel klinischer Ethik-Komitees. Dissertation, Stuttgart 2011. 15 Vgl. Fn. 14.

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des ethischen Diskurses von jener abweicht, die man etwa mit einem Habermasschen Paradigma erwarten könnte: anstelle eines Streit um bessere Argumente wird in Klinischen Ethik-Komitees der Austausch über authentische Gefühlslagen sichtbar und darüber ein ethisierter, kritischer Diskurs erzeugt. Die Fokussierung der Ereignisbasiertheit von Kommunikation führt die Systemtheorie dazu, Widersprüche und Konflikte als Dauerzustand zu beobachten, der stets einsetzt, wenn sich soziale Ordnung herstellt und Unbestimmtheit in Anschlussfähigkeit praktisch transformiert wird. Festhalten lässt sich bis hierher: Konfliktlagen treten in der Systemtheorie kontextbedingt und perspektivisch und sozusagen als Alltagserscheinung auf. Sie zeigen sich nicht immer schon in der von der Kritischen Theorie gefassten Divergenz von Arbeit und Kapital sondern in jedweder Situation, die uns mit der Zumutung konfrontiert, soziale Abläufe zu koordinieren und zu meistern – und deshalb: immer wieder und immer wieder anders.

2. S OZIOLOGIE

DER

K RITIK

Die Geschichte der Frankfurter Schule lässt sich bekanntlich als Emanzipation und Abkehr von dem strengen Marxistischen Programm eines teleologischen Geschichtsverlaufs lesen. Die Frage der Frankfurter war zunächst nicht nur, warum sich die Marxsche Prognose der proletarischen Emanzipation nicht einstellte, sondern vielmehr warum diese Emanzipation erschreckenderweise insofern erfolgreich war, als sie das angekündigte Reich der Freiheit mit der tumben Düsternis von 1933 ausstattete und es die Gestalt „triumphalen Unheils“16 annehmen ließ.17 Die Bemühungen einer Dialektik der Aufklärung18 zielen letztlich darauf ab, die Genese dieser Entwicklung zu erklären – und auch wenn diese hier vorgeschlagene Argumentation zunächst etwas ungewöhnlich erscheinen mag, lässt sich dieser Blick der Dialektik der Aufklärung auch als Anschlussmöglichkeit für eine Soziologie der Kritik lesen, die versucht in den Blick zu bekommen, woher die Plausibilität des Kritischen stammt und wie sie sich bewähren kann. Die historische Perspektive der Dialektik der Aufklärung versucht nachzuzeichnen, wie sich die Plausibilität der Vernunft immer schon als Herrschaftszusammenhang

16 Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a.M. 1944/1988. 17 „Was wir uns vorgesetzt hatten, war tatsächlich nicht weniger als die Erkenntnis, warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft menschlichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt.“ (Ebd., S. 1). 18 Ebd.

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etabliert. In zahllosen Studien19 hat die Kritische Theorie Horkheimers und Adornos sich just jener Frage gewidmet – freilich immer schon unter der normativen Prämisse einer falschen Welt: „Wie kommt antidemokratisches Denken zustande?“20 Diese Perspektive galt insbesondere der Negativen Dialektik Adornos als Möglichkeit der immanenten Kritik: indem sie das Scheitern gelungener Emanzipation auswies, ersparte sie sich selbst, auf einen möglichen besseren Zustand zu verweisen, über den der Maßstab der Kritik plausibel werden könnte. Die Adornitische Aporie, die darin besteht, das „Begriffslose mit Begriffen aufzutun, ohne es ihnen gleichzumachen“,21 wird vor dem Hintergrund eines Programms der Selbstaufklärung der Vernunft plausibel: „[…] die Aufklärung muss sich auf sich selbst besinnen, wenn die Menschen nicht vollends verraten werden sollen.“22 Da die Aufklärung sich aber immer schon als falsche Aufklärung herauskristallisiert hat, ist ein schlichter Ausweis des Besseren mit den herkömmlichen Mitteln der Vernunft nicht möglich. Nicht im schlichten Positiv-Begrifflichen sondern allein im impliziten Verweis auf das Leiden der Individuen kann sichtbar werden, dass es sich mit der herrschenden Vernunft um eine Vernunft der Herrschenden handelt, die es zumindest negativ auszuweisen gilt. „Leiden beredt werden zu lassen“23 ist das Hauptmotiv der Kritischen Theorie Adornos und führt zu den einzigartigen, düster-nebulösen Formulierungen einer negativen Dialektik:

19 Vgl. den Überblick von Demirovic, Alex: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a.M. 1999, S. 787, die Studien zum autoritären Charakter und das Gruppenexperiment (Adorno, Theodor W.: „Studies in Authoritarian Personality“ in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 9.1, Frankfurt a.M. 1975, S. 143 ff.; ders.: „Schuld und Abwehr. Eine qualitative Analyse zum Gruppenexperiment“ in: Gesammelte Schriften, Bd. 9.2, Frankfurt a.M 1975, S. 121 ff.) 20 T.W. Adorno (Fn. 19), „Studies in Authoritarian Personality“, S. 144. 21 Ders.: „Negative Dialektik.“ (1966) in: Gesammelte Schriften, Bd. 6, Frankfurt a.M. 1990, S. 7 ff. (hier S. 21). 22 M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 16), S. 5. 23 T.W. Adorno (Fn. 21), S. 29. Oder alternativ formuliert: „[...] unglückliches Bewusstsein ist keine verblendete Eitelkeit des Geistes, sondern ihm inhärent, die einzige authentische Würde, die er in der Trennung vom Leib empfing. Sie erinnert ihn, negativ, an seinen leibhaften Aspekt; allein dass er dessen fähig ist, verleiht irgend ihm Hoffnung.“ – (Ebd., S. 203).

70 | W AGNER „Auch die hinfälligen Begriffe der Erkenntnistheorie weisen über sich hinaus. Bis in ihre obersten Formalismen hinein, und vorab in ihrem Scheitern, sind sie ein Stück bewusstloser Geschichtsschreibung, zu erretten, indem ihnen zum Selbstbewusstsein verholfen wird gegen das, was sie von sich aus meinen. Diese Rettung, Eingedenken des Leidens, das in den Begriffen sich sedimentierte, wartet auf den Augenblick ihres Zerfalls. Er ist die Idee philosophischer Kritik. Sie hat kein Maß als den Zerfall des Scheins.“24

Mit solch einem Programm hat eine systemtheoretische Soziologie der Kritik freilich zunächst einmal nichts zu tun. Woran angeschlossen werden kann, ist der zumindest implizit ablesbare Versuch der Frankfurter, nach den Möglichkeiten von Kritik zu fragen und das Programm der Aufklärung selbst soziologisch in den Blick zu nehmen. Luhmann formuliert diesen Anschluss vergleichsweise nüchtern: „In der Soziologie kann die Aufklärung sich selbst aufklären und sich dann als Arbeit organisieren. Der Fortschritt von der Vernunftaufklärung über die entlarvende Aufklärung zur soziologischen Aufklärung ist ein Fortschritt im Problembewußtsein und in der Distanz der Aufklärung zu sich selbst.“25

Eine solche Perspektive kann nicht nur lernen, dass sich empirische Plausibilitäten des Kritischen verschieben und transformieren. Sie trägt auch der Einsicht Rechnung, dass die Soziologie in einer multiperspektivischen Welt nur auf Kosten ihres wissenschaftlich-aufklärerischen Komplexitätsniveaus in Anspruch nehmen kann, für die Gesellschaft als Ganze zu sprechen: sie ist nur eine Instanz der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung neben vielen anderen und reagiert dabei auf Problemlagen innerhalb ihrer eigenen Gegenwart,26 die sich systematisch von jenen anderer Gegenwarten des Sozialen unterscheiden. Eben dies ist der Grund, weshalb in der modernen Gesellschaft soziologische Aufklärung sich als soziologische Aufklärung ausflaggt. Die Sprecherposition des Aufklärers, die Adorno aufgrund der angenommenen Vermittlung des falschen Banns unplausibel wurde, erweist sich für Luhmann als inakzeptabel aufgrund der Komplexität der Gesellschaft. Dieses in beiden Theoriekonzeptionen nahezu identisch formu-

24 Ders.: Zur „Metakritik der Erkenntnistheorie“, in: ders. (1956), Gesammelte Schriften, Bd. 5., Frankfurt a.M. 1990, S. 47. 25 N. Luhmann 1967 (Fn. 16), S. 109. 26 Vgl. Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 2006.

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lierte Problem27 wird von beiden damit gelöst, dass die Aufklärung auf ihre eigene Plausibilität hin befragt wird – wenn auch auf unterschiedliche Weise. Diese Problembeschreibung und analytische Wendung bietet einer zeitgemäßen systemtheoretischen Soziologie der Kritik einen Anschluss für die empirische Frage nach der Möglichkeit von Kritik – ohne dabei die paternalistische Figur des Aufklärers einnehmen zu müssen. Was der Soziologie aus analytisch-empirischen Gründen unplausibel erscheint, wird aktuell normativ als Paternalismus-Problem28 kritisiert: zu beobachten ist ein normativ-praktischer, identitätspolitischer Demokratie-Diskurs, in dem sich Sprecher zusehends weniger davon beeindrucken lassen, dass andere für sie sprechen. Der Soziologie als Aufklärungsinstanz dürfte da keine Ausnahmeposition zukommen. Der Gestus der Beobachtung von Kontingenz ist also nicht der dandyhaften Pose einer unterkühlten Soziologie zu verdanken, sondern den empirischen Bedingungen einer multiperspektivischen Gesellschaft. Der Hinweis auf die Kontingenz von Sprechern, der aktuell sogar im normativen Diskurs der Paternalismus-Kritik plausibel wird, kann von einer systemtheoretischen Soziologie der Kritik wiederum auf ihre Kontingenzen hin beobachtet werden, ohne ihr affirmativ folgen zu müssen.

3. M EDIALITÄT

DES

K RITISCHEN

Medien – insbesondere Massenmedien – galten den Frankfurtern stets als tückischste Instanz der falschen Gesellschaft. Dies lässt sich einerseits an Horkheimers und Adornos Thesen zur Kulturindustrie29 ablesen, andererseits an Habermas’ Einschätzung des modernen Medienbetriebs im Strukturwandel der Öf-

27 Luhmann formuliert etwa, „[...], dass sich kein Standpunkt mehr festlegen lässt, von dem aus das Ganze, mag man es nun Staat oder Gesellschaft nennen, richtig beobachtet werden kann.“ (Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1999, S. 625.) Und Adorno erklärt: „Kein Standort außerhalb des Getriebes lässt sich mehr beziehen, von dem aus der Spuk mit Namen zu nennen wäre; nur an seiner eigenen Unstimmigkeit ist der Hebel anzusetzen.“ (Adorno, Theodor W.: „Einleitung in die Soziologie“, in: ders. (1968), Nachgelassene Schriften, Frankfurt a.M. 1993, S. 369 ff.). 28 Siehe hierzu beispielhaft Fateh-Moghadam, Bijan: Die Einwilligung in die Lebendorganspende. Die Entfaltung des Paternalismusproblems im Horizont differenter Rechtsordnungen am Beispiel Deutschlands und Englands, München 2008. 29 M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 16), S. 128 ff.

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fentlichkeit30. Dass die modernen Massenmedien den Frankfurtern ein Dorn im Auge waren, hat unterschiedliche Gründe – einer davon aber ist, dass es gerade Medien sind, über die man in Frankfurt potentiell auch ein kritisches Potenzial entstehen sah. Dass der erzählte Mythos vom Schicksal Odysseus eben nicht ausschließlich zu Herrschaft führte, sondern bereits aufklärerisches Potenzial enthielt, indem er über das Medium der Sprache und nicht mehr als Ritual Orientierung vermittelte und Welt erklärbar machte, ist ein zentrales Argument von Adorno und Horkheimer: „Der Mythos wollte berichten, nennen, den Ursprung sagen: damit aber darstellen, festhalten, erklären.“31 Doch es ist eben gerade dieses über das Medium des sprachlichen Begriffs vermittelte Ansinnen, das in Verallgemeinerung und damit Herrschaft umschlägt: „Die Mythen, wie sie die Tragiker vorfanden, stehen schon im Zeichen jener Disziplin und Macht, die Bacon als das Ziel verherrlicht.“32 Denn: „[…] die Herrschaft in der Sphäre des Begriffs, erhebt sich auf dem Fundament der Herrschaft in der Wirklichkeit.“33 Dass für Adorno alles Denken identifizieren ist,34 zielt darauf ab, dass sprachlich vermittelte Logik alles Besondere und Abweichende einer einheitsstiftenden begrifflichen Ordnung unterwirft: „Der Begriff, den man gern als Merkmalseinheit des darunter Befaßten definiert, war vielmehr seit Beginn das Produkt dialektischen Denkens, worin jedes nur ist, was es ist, indem es zu dem wird, was es nicht ist.“35 Konsequenterweise kann das in allem begrifflich identifizierten enthaltene Nicht-Identische nicht anders auf den Begriff gebracht werden als in vagen, eher religiös anmutenden Andeutungen von „Glück“36 und „Erlösung“37. Die Loslösung des Zeichens von seinem Bezeichnetem birgt für Adorno also einerseits das Problem der Verdinglichung, weil sich vorfindbare Diversitäten dem System diskursiver, abstrakter Logik fügen müssen – weil aber andererseits nicht

30 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Frankfurt a.M. 1990. 31 M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 16), S. 14. 32 Ebd. 33 Ebd. (Fn. 16), S. 20. 34 „Denken heißt identifizieren.“ (Adorno, Theodor W.: „Gesellschaft.“, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a.M. 2008, S. 9 ff. [hier S. 17]). 35 M. Horkheimer/T.W. Adorno (Fn. 16), S. 21. 36 Adorno, Theodor W.: Einleitung zum „Positivismusstreit in der deutschen Soziologie“ in: Gesammelte Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 2008, S. 280 ff. (hier S. 341). 37 „Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten.“ (Adorno, Theodor W.: „Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben“, in: Gesammelte Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 333).

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alles Sein in seiner (falschen, vermachtenden) Bezeichnung aufgeht, wird für Adorno gleichsam die Möglichkeit des Ausdrucks von Utopie in der unbestimmten Figur des Nicht-Identischen eröffnet. Noch deutlicher wird diese Ambivalenz in Bezug auf Medien bei Habermas und seiner Konzeption von Öffentlichkeit. Einerseits ist es gerade die Buchdruckgesellschaft des 18. Jahrhunderts, die in der Praxis des Brief- und Tagebuchschreibens empfindsame Subjekte herstellt und in den privaten Lesesalons die symmetrische Praxis des Austauschs von Argumenten ermöglicht. Sprache ist für Habermas in bewusster Abkehr zu Adorno kein Instrument der Herrschaft, sondern Generator der Vernunft, die dazu befähigt, die Maßstäbe der Kritik auszuweisen: sie ermöglicht das give-and-take von Geltungsansprüchen, die sich dann zu einem gemeinsamen besten Grund verdichten. Massenmedien unterbrechen diesen symmetrischen Austausch und verzerren die eigentliche, emanzipatorische Form des Mediums Sprache38 – und genau hier setzt Habermas’ Kritik an: „Die durch Massenmedien erzeugte Welt ist Öffentlichkeit nur noch dem Scheine nach; aber auch die Integrität der Privatsphäre, deren sie andererseits ihre Konsumenten versichert, ist illusionär.“39 Anstatt sein medientheoretisches Argument empirisch zu fassen und zu fragen, inwiefern sich kritische Öffentlichkeiten unter den veränderten Bedingungen eines Medienwandels herstellen und Alternativen zum bürgerlichen Modell des Wahrheitsdiskurses erzeugen,40 verharrt Habermas in der normativen Praxis des Ideologiekritikers. Die Systemtheorie kann an den Zusammenhang von Medialität und veränderter kritischer Öffentlichkeit nicht normativ, dafür aber empirisch anschließen. Luhmann gewinnt hieraus zunächst ein Argument zur Beschreibung der Evolution des Sozialen: „Die Hauptphasen der gesellschaftlichen Evolution, die ich als archaische Gesellschaften – Hochkulturen – Weltgesellschaften bezeichnet hatte, sind markiert durch Veränderungen in den jeweils dominierenden Kommunikationswei-

38 „Die Sendungen, die die neuen Medien ausstrahlen, beschneiden, im Vergleich zu gedruckten Mitteilungen, eigentümlich die Reaktionen des Empfängers. Sie ziehen das Publikum als Hörende und Sehende in ihren Bann, nehmen ihm aber zugleich die Distanz der ,Mündigkeit‘, die Chance nämlich, sprechen und widersprechen zu können.“ (J. Habermas [Fn. 30], S. 261). 39 Ebd. 40 Vgl. Illouz, Eva: Oprah Winfrey and the glamour of misery. An essay on popular culture, New York 2003.

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sen.“41 Massenmedien statten moderne Gesellschaften nicht nur mit der Vorstellung einer gemeinsam geteilten Gegenwart aus, sondern produzieren auch die Plausibilität für Fragen der Moral: „Auch hier scheinen die Massenmedien die Art zu bestimmen, wie die Welt gelesen wird, und die moralischen Perspektiven dieser Beschreibung zuzuordnen.“42 An diese Einsicht anschließend könnte eine empirisch orientierte Soziologie der Kritik fragen, wie die Medialität des Öffentlichen zur Genese von Moralfragen beiträgt und wie mediale Transformationen veränderte Ästhetiken und Praktiken der Moral produzieren. Die Bereitstellung von Schemata der Thematisierung und der Personalisierung durch die Massenmedien erscheint dann nicht als ideologiekritisches Problem, sondern als die Herstellung eines Weltbildes, an das dann wieder unterschiedlich angeschlossen werden kann – zum Beispiel als kritischer Kritiker. Aber auch Adornos Medientheorie, die Sprache als vermachtende Vernunft auffasst, lässt sich für eine systemtheoretische Soziologie der Kritik anschlussfähig machen: Adornos Figur des Nicht-Identischen ist aus Luhmanns Perspektive zwar kein Hinweis auf mögliches Glück und Erlösung, dafür aber auf alternative Möglichkeiten der Bezeichnung, die im unmarked space des Bezeichneten sichtbar werden. Die Kontingenz der Bezeichnung macht dabei immer schon sichtbar, dass die Welt auch ganz anders aussehen könnte als sie sich für einen Beobachter darbietet.

4. D IFFERENTE O RTE

DES

K RITISCHEN

Rainer Forst kann als aktueller Vertreter der Frankfurter Schule angesehen werden. In der Debatte um den kontextvergessenen Liberalismus und kontextfixierenden Kommunitarismus macht Forst vier unterschiedliche normative Kontexte der Gerechtigkeit43 aus: Hinweise auf Ethik, Recht, Politik und Moral zielen Forst zufolge auf jeweils verschieden kontextualisierte Vorstellungen vom Normativen ab, an die entsprechend differente Personen- und Gemeinschaftsmodelle

41 Luhmann, Niklas: „Veränderungen im System gesellschaftlicher Kommunikation und die Massenmedien“ (1975) in: ders., Soziologische Aufklärung 3. Soziales System, Gesellschaft, Organisation, Wiesbaden 2005, S. 355 ff. (hier S. 357). 42 Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Wiesbaden 2004, S. 143. 43 Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a.M. 1994.

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gekoppelt sind.44 Die verschiedenen Kontexte des Normativen seien zwar miteinander verbunden, nicht aber aufeinander reduzierbar: „Praktische Fragen stellen sich in verschiedenen Kontexten und verlangen jeweils verschieden gerechtfertigte Antworten, und diese Gemeinschaftskontexte lassen sich als Sphären wechselseitiger ethischer, rechtlicher, politischer und moralischer Anerkennung beschreiben, die zu einem vollständigen Begriff von Gerechtigkeit gehören.“45 Diese Auffassung vom Normativen als einer differenten Praxis lässt sich für eine systemtheoretische Blickweise anschlussfähig machen und transzendieren. Luhmann selbst hat in seinen Schriften zum Recht, zur Politik, zur Ethik und zur Moral stets auf die Eigenlogik der jeweiligen normativen Praxis hingewiesen. Während das Recht46 etwa das Problem zu lösen hat, Verhaltenserwartungen zu generalisieren und Entscheidungen zuzurechnen, dreht es sich in der Politik47 um die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen. Während Luhmann die Ethik48 als Reflexionstheorie moralischer Fragen veranschlagt, dreht es sich in moralischen49 Diskursen um Probleme der Achtung und Missachtung. Diese Konzeptionen können dem empirischen Blick womöglich einigermaßen schematisch erscheinen – lernen kann man an dieser Perspektive aber nicht nur, dass sich moralische Fragen gleichzeitig auf verschiedene Weise stellen. Hinzukommt, dass die Relationalität des systemtheoretischen Designs eine Perspektive ermöglicht, die nicht nur unterschiedliche Kontexte des Normativen sehen kann, die in verschiedenen Situationen auftauchen – sondern dass diese gleichzeitig in einem Kontext operieren und aufeinanderprallen können. In aktuellen medizinethischen Verfahren können etwa gleichzeitig rechtliche, moralische, ethische und politische Probleme auftauchen – neben vielen anderen wie etwa ökonomische Knappheit und medizinisches Risikowissen. Die praktischen Diskurse klinischer Ethik-Komitees müssen nicht nur diese diversen internen Problemlagen

44 Siehe die Bezugnahme hierauf in Teubner, Gunther: „Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts“, in diesem Band, S. 327 ff. (hier S. 335). 45 R. Forst (Fn. 43), S. 436. 46 Vgl Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993. 47 Vgl. Nassehi, Armin: „Der Begriff des Politischen und die doppelte Normativität der ‚soziologischen‘ Moderne“, in: Armin Nassehi/Markus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen, Soziale Welt-Sonderband, Baden-Baden 2003, S. 133 ff. 48 Luhmann, Niklas: „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“ (1989) in: ders., Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2008, S. 270 ff. 49 Ders.: „Soziologie der Moral“(1989), in: ders., Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2008, S. 56 ff.

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bearbeiten, sie müssen sich mit ihrer Beratungspraxis gleichzeitig auch außerhalb, nämlich in den hierarchisch organisierten Routinen eines Krankenhauses bewähren, was für ganz eigene Problemlagen sorgen kann.50 Die Systemtheorie kann sehen, dass sich normative Fragen praktisch, in konkreten Gegenwarten bewähren müssen, in denen gleichzeitig Unterschiedliches stattfindet. Und dass sich diese Unterschiede nicht ohne weiteres wegarbeiten lassen, sondern dass diese Unterschiede im Sinne von differenten Logiken aufeinanderprallen und erst füreinander übersetzt werden müssen, um anschlussfähig zu werden. Die Systemtheorie kann damit zeigen, dass unter dem Hinweis auf Praxis mehr zu verstehen ist als der etwa von Robin Celikates anvisierte politische Diskurs kritischer Kritiker.51 Und sie kann auch sehen, dass normative Konzepte der Rechtfertigung, die sich etwa in Texten der politischen Philosophie finden, nicht ohne weiteres in andere Kontexte überführen lassen, wie Boltanski und Thévenot dies in ihrer Studie Über die Rechtfertigung unternehmen.52 Praxis meint in der Systemtheorie zunächst die Gleichzeitigkeit unterschiedlicher Problemlagen, die in einer inkonsistenten Welt in actu bearbeitet werden. Die jeweilige Praxis verweist dann immer schon darauf, dass es auch ein außerhalb ihrer selbst gibt, das sich nicht ohne weiteres ihrem eigenen Zugriff fügen will – insofern könnte man tatsächlich von widerspenstigen Praktiken sprechen, für die die Systemtheorie sich interessiert. Der Hinweis Rainer Forsts, dass es unterschiedliche Kontexte der Gerechtigkeit gibt, liest sich aus der hier vorgeschlagenen Perspektive vergleichsweise harmlos. Gerechtigkeit zeigt sich aus systemtheoretischer Sicht als ein Bezugsproblem, dass sich nicht nur im Recht, sondern in unterschiedlichen Kontexten des Sozialen gleichzeitig auf verschiedene Weise stellen kann und jeweils verschieden thematisiert und bearbeitet werden kann – worüber dann wiederum Kritik an den oder zumindest Diskussion über die jeweiligen Thematisierungen des Normativen entstehen kann.53

50 E. Wagner (Fn. 15). 51 Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie, Frankfurt a. M. 2009. 52 Boltanski, Luc/Thévenot, Lauten: Über die Rechtfertigung. Eine Soziologie der kritischen Urteilskraft, Hamburg 2007. 53 So etwa im Falle der Forschungsethik-Kommissionen des Arzneimittelgesetzes und dem dort verwendeten Ethikbegriff für eine rechtlich verfasste Verwaltungsbehörde. Die Ethikvorgabe wird hier gesetzlich geregelt – aber was heißt das eigentlich für die Rechtstheorie? Vgl. hierzu sehr anschaulich: Fateh-Moghadam, Bijan/Atzeni, Gina: „Ethisch vertretbar im Sinne des Gesetzes – Zum Verhältnis von Ethik und Recht am Beispiel der Praxis von Forschungsethikkommissionen“, in: Silja Vöneky et al. (Hg.),

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5. K RITISCHE S YSTEMTHEORIE ? Die bisherigen Ausführungen haben die Systemtheorie vor allen Dingen als empirische Wissenschaft stark gemacht. Es ging darum, den Blick auf die Empirie des Kritischen zu richten und hierüber einen Beitrag zur Selbstaufklärung der Gesellschaft zu leisten. Aber ist das schon alles? Kann die Systemtheorie als kritische Wissenschaft wirklich gar keinen Beitrag zur normativen Debatte leisten? Die vorliegende Argumentation möchte die These stark machen, dass es gerade der empirische Blick ist, über den der normative Diskurs eine Bereicherung erfahren kann. Der Hinweis auf unterschiedliche Kontexte normativer Rechtfertigungspraktiken kann zum Beispiel zeigen, dass die Annahmen einer kritischen Theorie angewandter Ethik 54 zwar innerhalb eines akademischen Feldes plausibel sein kann und dort ihr Publikum findet. Der empirische Diskurs praktischer Ethik verdankt sich hingegen ganz anderen Plausibilitäten, die den Annahmen einer normativen Theorie entgegenlaufen – und ihr systematisch entgehen, weil sie nicht den Blick auf die empirische Praxis richtet.55 Dies sei zunächst nicht als Kritik an der Daseinsberechtigung normativer Ethiken zu lesen, aber als Hinweis darauf, dass Praktiken unterschiedlich verlaufen und eigenständige Problemlagen zu bewältigen haben, die sich eben nicht ohne weiteres einem normativen Konzept fügen wollen – insbesondere dann nicht, wenn dieses von einer konsistenten Welt ausgeht.56 Ein weiteres Beispiel für das Kritikpotenzial einer systemtheoretischen Soziologie der Kritik lässt sich in der Öffentlichkeitssoziologie beobachten: der Mainstream orientiert sich hier nach wie vor an dem von Habermas prominent gemachten Konzept des Meinungsstreits über besser begründete Argumente – Transformationen von Diskurspraktiken, die diesem Konzept zuwider laufen, können dann aber nur im Sinne einer Ideologiekritik in den Blick geraten. Wenn bestimmte öffentliche Diskurse des Normativen sich von der Form des am Meinungsstreit über Wahrheitsfragen orientierten Austausches verabschieden und statt dessen Semantiken des

Legitimation ethischer Entscheidungen im Recht – Interdisziplinäre Untersuchungen, Berlin 2009, S. 115 ff. 54 Kettner, Matthias: „Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements“, in: Alex Demirovic (Hg.), Modelle kritischer Gesellschaftstheorie. Traditionen und Perspektiven Kritischer Theorie, Stuttgart 2003, S. 77 ff. 55 Vgl. E. Wagner (Fn. 15). 56 So etwa Nida-Rümelin, Julian: Strukturelle Rationalität. Ein philosophischer Essay über praktische Vernunft, Stuttgart 2003.

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Ethischen und die Praxis des authentischen Sprechens für plausibler halten, kann eine empirische Soziologie der Kritik dies als Indiz für eine veränderte Praxis des Kritischen aufnehmen und nach Gründen für diese Veränderungen fragen – einer normative Perspektive bleiben hingegen nur Diagnosen des Defizits, indem vor dem Hintergrund von Transformationen des Öffentlichen mit einer „beispiellose>n@ Privatisierung des Öffentlichen und Personalisierung der politischen Kommunikation“57 gehadert wird und in einem Zeitalter, in dem wahrscheinlich so viele Sprecher wie noch nie am öffentlichen Diskurs teilgenommen haben, beklagt wird, „daß die Menschen ihr Interesse an der Politik verlieren.“58 In Bezug auf Öffentlichkeit kommt der systemtheoretischen Soziologie der Kritik womöglich eine ähnliche Aufgabe zu wie den Cultural Studies in der Kultur- und Mediensoziologie. Wenn dort popistische Medienkonsumpraktiken von Teenagern als aktive Aneignungsprozesse aufgefasst werden und nicht als eine Verblendung von reptiliengleichen Zuschauern muss dies als Hinweis darauf gelesen werden, dass soziale Ereignisse immer auch ganz anders aufgefasst und transformiert (dekodiert) werden können als geplant – und deshalb nicht unbedingt schlechter sind als die hehren Beobachtungen eines kritischen Arm-Chair-Soziologen am Schreibtisch. 59 Wie oben bereits am aktuellen Paternalismus-Diskurs kurz angedeutet, verdankt die systemtheoretische Soziologie der Kritik den Hinweis auf Kontingenz nicht nur ihrer eigenen Blickweise. Sie kann auch sehen, dass sich kritische Praktiken genau hierüber manifestieren. Judith Butler hat etwa gezeigt, dass die Bedeutung von Geschlecht über eine differente Wiederholung von Sprechakten unterlaufen werden kann, worüber deren ursprüngliche Bedeutung verschoben und damit entwertet wird.60 Cornelius Castoriadis hat wiederum gezeigt, dass institutionalisierte Bedeutungen einer Gesellschaft stets auf mögliche andere, nichtbezeichnete Ausgestaltungen des Sozialen

57 Imhof, Kurt: „Politik im ‚neuen‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit“, in: Armin Nassehi/Marcus Schroer (Hg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt-Sonderband 14, Baden-Baden 2003, S. 401 ff. (hier S. 405). 58 Mouffe, Chantal: „Und jetzt Frau Mouffe? Interview mit Elke Wagner“ in: Heinrich Geiselberger (Hg.), Und jetzt? Politik, Protest und Propaganda, Frankfurt a.M. 2007, S. 105 ff. (hier S. 118). 59 John Fiskes Lesarten des Populären können etwa als Gegenthese zur Annahme von Horkheimer und Adorno gelesen werden, nach der sich die Erfahrungswelt des modernen Menschen „tendenziell wieder der der Lurche an(nähert)“; M. Horkheimer/ T.W. Adorno (Fn. 16), S. 43; Fiske, John: Lesarten des Populären, Wien 2000. 60 Butler, Judith: Gender trouble. Feminism and the subversion of identity, New York 1990.

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verweisen. Entgegen der Marxistischen Konzeption von einer Gesellschaft, die durch ihre Produktivkräfte gelenkt und bestimmt wird, geht Castoriadis von einer generellen Unbestimmtheit des Sozialen aus, worüber die Möglichkeit und Notwendigkeit seiner Herstellung einhergeht „Auch als institutierte kann die Gesellschaft nicht anders sein denn als ständige Selbstveränderung. Denn sie kann nur als Institution einer Welt von Bedeutungen institutiert sei, die nie mit sich identisch sind und die nur sind, insofern Anderssein ihre wesentliche Möglichkeit ist.“ 61 Genau über dieses Argument gewinnt Castoriadis seine kritische Position zu einem dogmatischen Marxismus. Eine systemtheoretische Soziologie der Kritik kann dann zur kritischen Systemtheorie werden, wenn sie sich für diese Eigendynamiken und pluralen Ein- und Ausschlüsse interessiert. Und sie kann sich für eine derartige praktische Entfaltung des Kritischen interessieren, ohne sie politisch feiern zu müssen, gerade weil ihre Blickweise alles Beobachtete kontingent setzt. Eine systemtheoretische Soziologie der Kritik gewinnt ihr Kritikpotenzial womöglich genau aus jenem Gestus, den die traditionelle Kritische Theorie einer positivistischen Wissenschaft attestiert hatte: „entweder es ist so oder anders.“62 Die Maxime der Bestimmtheit, über den bürgerliche Aufklärung und Kritik ihr Selbstverständnis bezog, scheint jedenfalls nicht nur aus analytischen Gründen vornehmer systemtheoretischer Zurückhaltung unplausibel zu werden – sie scheint vielmehr zunehmend zum unerträglichen Habitus überkommener Stellvertreter-Diskurse mutiert zu sein.63 Und eben diese Skepsis des Ausweises von Bestimmtheit und Geltung scheint eine systemtheoretische Soziologie der Kritik durchaus mit der frühen Kritischen Theorie Adornos zu verbinden. Vor allen Dingen hierin ist der „Kritischen Systemtheorie Frankfurter Schule“ Recht zu geben, wie sie Andreas FischerLescano zur Darstellung gebracht hat.64 Eine systemtheoretische Soziologie der Kritik widmet sich tatsächlich den „gesellschaftlichen Strukturantinomien“ und tatsächlich „übt (sie) sich als immanente Kritik in jener nonkonformistischen Haltung, in jenem ,bösen Blick‘, der Kritische Theorie aus-

61 Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institution, Frankfurt a. M. 1984, S. 607. 62 Horkheimer, Max: „Traditionelle und Kritische Theorie“ (1937) in: Ders: Traditionelle und Kritische Theorie. Fünf Aufsätze, Frankfurt a. M. 1992, S. 205 ff. 63 Siehe hierzu etwa aktuelle öffentliche Diskurse der Kritik, wie die Debatte um den Stuttgarter Bahnhof (Stuttgart 21), die Debatte um Patientenautonomie in der Medizin, die Debatte um neuartige Partizipationsmöglichkeiten im Web 2.0. 64 A. Fischer-Lescano (Fn. 5).

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zeichnet“65 – oder zumindest einmal ausgezeichnet hatte. Die – um im Bild zu bleiben – kritische Bosheit einer systemtheoretischen Soziologie der Kritik geht dabei indes auf derart unbarmherzige Weise vor, dass sie nicht einmal mehr vor jenen Bastionen halt macht, die der traditionellen Kritischen Theorie auch in ihrer düstersten Fassung stets noch als Rückzugsgebiete gegolten hatten: Vernunft, Gerechtigkeit und Versöhnung.

65 Ebd., S. 14 f.

Kritische Systemtheorie und materialistische Gesellschaftstheorie T HORE P RIEN

1. E INLEITUNG : Z WEI F RAGESTELLUNGEN – P RODUKTIONSVERHÄLTNISSE ODER K OMPLEXITÄTSREDUKTION Von Beginn an ist Niklas Luhmanns Systemtheorie starker Kritik aus Sicht der materialistischen Gesellschaftstheorie ausgesetzt. Im Kern zielt die Kritik auf den Nachweis ab, das Unternehmen der Systemtheorie würde die Rolle der kapitalistischen Organisation bei der Herausbildung gesellschaftlicher Strukturen durch Überabstraktheit verschleiern und zudem durch die Unfähigkeit, im Gefüge der Produktionsverhältnisse über die Möglichkeit einer kritischen Position Rechenschaft abzulegen, affirmativ werden.1 Wenn überhaupt Systemtheorie aus der Perspektive der materialistischen Theorie nützlich erschien, dann als ein zu dechiffrierender Ausdruck des Spätkapitalismus, den Marx in gleicher Weise mit der politischen Ökonomie für die bürgerliche Gesellschaft vor Augen hatte. Dagegen sieht materialistische Gesellschaftstheorie die Analyse des Kapitalismus als die Bedingung an, unter der die sozialen Tatsachen der modernen Gesellschaft überhaupt nur sinnvoll beschrieben werden können.

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Vgl. für eine frühe Kritik, die Grundbegriffe der materialistischen Gesellschaftstheorie gegen Luhmann wendet: Giegel, Hans-Joachim: System und Krise. Beitrag zur Habermas-Luhmann-Diskussion, Frankfurt a.M. 1975. Für einen Überblick über die Kritik aus den Reihen der materialistischen Gesellschaftstheorie: Demirovic, Alex: „Komplexität und Emanzipation“, in: ders. (Hg.), Komplexität und Emanzipation, Münster 2001, S. 13 ff. (hier S. 22 ff.).

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Es ist bekanntlich das berühmte Vorwort zur Kritik der Politischen Ökonomie,2 in dem Marx dieses Programm einer materialistischen Gesellschaftstheorie in nur wenigen Zeilen skizziert. Es ist der Versuch, die Tatsache der notwendigen materiellen Reproduktion jeder Gesellschaft auf einem evolutionär gegebenen Stand der Produktivkraftentwicklung anzugeben, mit dem dann bestimmte Produktionsverhältnisse korrespondieren, die wiederum auf nicht-kontingente Formen eines Überbaus, etwa denen des Rechts, der Politik, der Religion, der Wissenschaft, der Kunst und der Ideologie verweisen. Mit dem so hervortretenden Zusammenhang von Produktivkraftentwicklung und Produktionsverhältnis wird dann auch das Problem der Beziehung dieser materiellen Basis, die sich aus dem Verhältnis von Produktivkraft und Produktionsverhältnis ergebende Produktionsweise, zum Überbau virulent. Dies nicht zuletzt aus dem Grund, da die Überbauten wiederum konstitutiv für die Produktionsverhältnisse sind, ohne jedoch auf den ersten Blick den gleichen evolutionären Rang einzunehmen. Erkennbare Konvergenz ergibt sich für die an dieses Programm anschließenden Ansätze materialistischer Gesellschaftstheorie aus dem Versuch, für diese Frage nach der Relation von Produktivkraft und Produktionsverhältnis und der von Basis und Überbau eine Antwort zu formulieren. Ganz unterschiedlich fallen die Ergebnisse aus: Während die einen die Produktivkraftentwicklung in den Vordergrund stellen, mit der mögliche Änderungen der Produktionsverhältnisse einhergehen sollen, sind es auf der anderen Seite Antworten, die die sozialen Kämpfe und die politische Herrschaft hervorheben, die als Ausdruck der kapitalistischen Organisation der Gesellschaft gedeutet werden. Für die Weltgesellschaft finden sich so etwa Theorien, die eine neu hervortretende Produktivkraft immaterieller Arbeit mit Änderungen in Politik und Recht verknüpfen,3 und andererseits Arbeiten, die ihren Schwerpunkt auf die umkämpften Regulationsversuche durch die Hegemonie einer transnationalen Kapitalistenklasse legen.4 Beide Lesarten, die natürlich nie völlig trennscharf auftreten und in unterschiedlicher Gewichtung ihr Vorbild in den verschiedenen Phasen von Marx´ Werk finden, nehmen gesellschaftliche Widersprüche in den Blick, die sich für die kapitalistische Produktionsweise aus dem notwendigen Verhältnis von Kapital und Arbeit ergeben und mit Krisen einhergehen, die der auf Mehrwert und

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Marx, Karl: „Kritik der Politischen Ökonomie“, Vorwort, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 13, Berlin 1971, S. 7 ff.

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Vgl. Hardt, Michael/Negri, Antonio: Commonwealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt a.M./New York 2010.

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Vgl. Wissel, Jens: Die Transnationalisierung von Herrschaftsverhältnissen. Zur Aktualität von Nico Poulantzas’ Staatstheorie, Baden-Baden 2007.

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Akkumulation angewiesenen Gesellschaftsformation einbeschrieben sind. Auch der Krisenbegriff kann jeweils enger an die Basis angebunden sein5 oder aber als Wirkung der insgesamt krisenhaften Konstituierung der Gesellschaft auf die politischen, rechtlichen und hegemonialen bzw. ideologischen Formen ausgedehnt werden.6 Formen, die in den Augen der materialistischen Theorie die Gesellschaft hervorbringt, um der Widersprüche und Krisen überhaupt Herr zu werden. Bei aller Differenz geht es materialistischer Theorie stets darum, die Theorie in Stellung zu bringen, um über eine Änderung der gesellschaftlichen Organisation nachzudenken und dies, sei es im Medium des Klassenkampfs, sei es durch eine plausible Erklärung sozialer Bewegungen, an die Praxis gesellschaftlicher Emanzipation anzubinden. Gemeinsam bleibt so allen Ansätzen die negative Bewertung der gegenwärtigen kapitalistisch verfassten Gesellschaft und die wie sehr auch immer im Bewusstsein der eigenen Ohnmacht formulierte Aussicht auf Verhältnisse, in denen nicht als Ware gehandelte Lebensmittel und Medikamente an Hunger und Krankheit der Menschen vorbei vom Markt mit Wert versehen, keine Berge aus europäischem Müll für die Armen der Dritten Welt zur Lebensgrundlage werden, nicht unfassbare Formen der Ausbeutung anderswo Luxus bieten und der Weltuntergang nicht ein leichter verständliches Thema ist als das Ende dieser Verhältnisse. Möglich wird diese Kritik nur, indem sie eine richtige Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise leistet, zweitens mit dieser Darstellung die Rolle der sozialen Kämpfe und Kräfteverhältnisse beschreiben kann und schließlich, drittens, das zu verändernde Objekt als Ganzes auf den Begriff bringt: die Einheit der Gesellschaft. Diese analysiert Marx mit den Begriffen Gesellschaftsformation und Produktionsweise als eine gesellschaftliche Totalität, die sich für ihn als die Vermittlung der gesellschaftlichen Besonderheiten mit der kapitalistischen Warenproduktion herstellt. Und wieder nehmen materialistische Theorien diesen Begriff als Fragestellung auf, indem sie etwa, wie Adorno, den Begriff der Totalität als Herausforderung aufnehmen, um eine Brüchigkeit dieses gesellschaftlichen

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Vgl. etwa Sablowski, Thomas: „Die Ursachen der neuen Weltwirtschaftskrise“, in:

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Vgl. in Abgrenzung zu Luhmann und im Anschluss an Jürgen Habermas’ Legitimati-

Kritische Justiz 2 (2009), S. 116 ff. onsprobleme im Spätkapitalismus (Frankfurt 1973): Brunkhorst, Hauke: „Return of Crisis“, in: Poul F. Kjaer/Gunther Teubner/Alberto Febbrajo (Hg.), The Financial Crisis in Constitutional Perspective: The Dark Side of Functional Differentiation, Oxford/ Portland 2011, S. 133 ff.

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Bannes herauszustellen,7 wie Althusser Marx von seinen von Hegel geerbten Altlasten befreien wollen und den Begriff der Totalität durch den des sozialen Ganzen ersetzen8 oder schließlich wie die sich als postmarxistisch verstehenden Laclau und Mouffe den Begriff der Gesellschaft als hegemoniale Schließung der Diskurse fassen.9 Stets ist es der Begriff der Gesellschaft als Einheit des Sozialen, über dessen Repräsentation die Theorie sich Aufschluss über die von den Krisen und Widersprüchen geprägten sozialen Tatsachen erhofft10 und ohne den sie Gesellschaftswissenschaft orientierungslos den Verhältnissen gegenüberstehen sieht.11 Die gleichen weltgesellschaftlichen Verhältnisse mit ihren Klassen, ihrem Reichtum, ihrer Technik, dem Müll, den Sweat Shops und transnationaler Ungleichheit hat auch die Systemtheorie vor Augen. Doch weist sie eine Erklärung der Gesellschaft, die Produktivkraft und Produktionsverhältnis ins Zentrum der Theorie stellt, zurück. Statt der materialistischen Annahme einer von der Produktionsweise geprägten Ordnung Recht zu geben, erschließt sich für die Systemtheorie die Crux der modernen Gesellschaft in der Art, wie diese Gesellschaft durch das von ihr produzierte Elend unbeeinflusst weiter Kommunikation an Kommunikation anschließt. Statt die Mühseligen und Beladenen in der Sozi-

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Denn: „So undurchdringlich der Bann, er ist nur Bann“, Adorno, Theodor W.: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“, in: ders., Soziologische Schriften 1. Gesammelte Schriften 8, Frankfurt a.M. 1997, S. 354 ff. (hier S. 370).

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Althusser, Luis: Für Marx, Berlin 2011.

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Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991.

10 Für eine pointierte Übersicht der Probleme des Gesellschaftsbegriffs: Bonacker, Thorsten: „Gesellschaft: Warum die Einheit der Gesellschaft aufgeschoben wird“, in: Stephan Moebius/Andreas Reckwitz (Hg.), Poststrukturalistische Sozialwissenschaften, Frankfurt a.M. 2008, S. 27 ff. 11 Die Unmöglichkeit, ohne einen Begriff, der auf den Zusammenhang des Ganzen verweist, empirische Sozialforschung zu betreiben, hebt bekanntlich Adorno immer wieder hervor. Das ist nicht ganz verschieden von Luhmanns Argument für die Notwendigkeit des Gesellschaftsbegriffs. Dazu und für einen instruktiven Vergleich von Adornos und Luhmanns Soziologie vgl.: Wagner, Elke: „Gesellschaftskritik und soziologische Aufklärung. Konvergenzen und Divergenzen zwischen Adorno und Luhmann“, in: Berliner Zeitschrift für Soziologie 1 (2005), S. 37 ff.; zum Vergleich Adorno/Luhmann siehe auch: Breuer, Stefan: „Adorno/Luhmann: Die moderne Gesellschaft zwischen Selbstreferenz und Selbstdestruktion“, in: ders., Die Gesellschaft des Verschwindens, Hamburg 1992, S. 65 ff.

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alintegration einer weltgesellschaftlich verfassten Produktionsweise zu verorten, sei es auch die Integration durch extreme Ausbeutung und Herrschaft, hält aus systemtheoretischer Perspektive die Gesellschaft für diese Menschen nur Nichthandeln und Exklusion bereit. Niklas Luhmann möchte seine materialistischen Kolleg_innen entschieden an die eigentliche Tragödie der modernen Gesellschaft erinnern: Bei allen Freiheitsgewinnen wohnt ihr bei Strafe des Untergangs von Anfang an ein Zwang zur Ordnung inne, hinter dem der von der materialistischen Gesellschaftstheorie ausgemachte Zwang zur Reproduktion als Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft auf die Stufe von Schwerkraft und Sauerstoff zurücktritt. Dieses Problem der Ordnung verlangt von der Gesellschaft, Wege zu finden, die Komplexität ihrer wild emergierenden Strukturen zu reduzieren. Darum bilden sich autopoietische Systeme, die nur ihrem Code gehorchen, gegen die polykontextural getrennten Kommunikationen anderer Systeme taub und blind werden und so nicht einmal mehr die Indifferenz beobachten können, mit der sie den Menschen gegenübertreten. Die Systemtheorie sieht hier eine geradezu zwangsläufige Bewegung, da Systeme nur ihre binäre Codierung zur Beobachtung einsetzen können und die drohenden Paradoxien, die sich aus der Anwendung ihrer Beobachtungen auf sich selbst ergäben, keinerlei Möglichkeiten zum Überblick auf das Ganze lässt. Diese Theorie verweist demnach auf einen uneinholbaren gesellschaftlichen Systemzwang, der mit dem „Sündenfall“12 der funktionalen Differenzierung in die Gesellschaft eintritt und der nie, so ist Luhmann überzeugt, im Reich der Freiheit landet. Gewiss, auch Luhmann geht von einer in Schichten stratifizierten Gesellschaft13 aus und vielleicht würde er nicht einmal das Phänomen einer transnational agierenden Klasse von Kapitalisten zurückweisen. Doch derart auf Widerspruch und Klasse abzustellen, wie es die materialistische Gesellschaftstheorie tut, bedeutet für ihn, die moderne Gesellschaft anachronistisch durch stratifizierte Differenzierung zu erklären. Den Schlüssel zum Verständnis der modernen Gesellschaft sieht Systemtheorie nicht in der Analyse dieser transnational agierenden Kapitalistenklasse oder des Verhältnisses von Kapital und Arbeit, von Krise und Widerspruch, sondern in der der funktionalen Differenzierung. Nicht die immer dramatischeren Formen der Ausbeutung bieten sich als gesellschaftstheoretisch relevante Erklärung für das Elend an, sondern die kalte Exklusion des Menschen aus der Gesellschaft, mit der die Gesellschaft an den menschlichen Bedürfnissen vorbei operiert. Klassen, Ausbeutung und Herrschaft sind für

12 Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 344. 13 Vgl. ders.: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 772 ff.

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die Systemtheorie, der es nicht um „politikfähige Kritik der Gesellschaft“14 geht, nur Nebenprodukt einer viel dramatischeren Entwicklung: „,Exploitation‘ and ,suppression‘ are outdated mythologies, negative utopias suggesting an easy way out this situation, e.g. by ,revolution‘. […] If we see stratification we will tend to see […] injustice, exploitation and suppression; […] If, on the other hand, we see functional differentiation, our description will point to the autonomy of the function systems, to their high degree of indifference […] Then we will see a society without top and without centre; a society that evolves but cannot control itself. And then, the calamity is no 15

longer eploitation and suppression but neglect.“

Mit den Überlegungen zu Bedingungen der Möglichkeit von kapitalistischer Produktionsweise auf der einen Seite und autopoietischer Komplexitätsreduktion auf der anderen Seite treten die inkongruenten Weichenstellungen, die beide Theorien mit ihren unterschiedlichen Fragestellungen vornehmen, deutlich hervor. Luhmann hat dabei mit seiner Theorie, so scheint es im Lichte der materialistischen Kritik, dafür gesorgt, den immer schon prekären Zusammenhang von Gesellschaftstheorie und Kritik vollends zu zerreißen, allein da ihm jene „Optik des Übergangs“16, die er in der materialistischen Gesellschaftstheorie als Leitmotiv ausmacht, nicht nur „unheimlich“17 ist, sondern vor allem, da er diese Optik für schief hält.18

14 Luhmann, Niklas: „Das Moderne der modernen Gesellschaft“, in: ders., Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, S. 11 ff. (hier S. 21). 15 Luhmann, Niklas: „Globalization or World Society: How to conceive of modern society“ , in: International Review of Sociology 7 (1997), S. 67 ff., zitiert nach der OnlineVersion, abrufbar unter: http://www.generation-online.org/p/fpluhmann2.htm (Stand 20.03.2013). 16 Luhmann, Niklas: „Selbst-Thematisierung des Gesellschaftssystems. Über die Kategorie der Reflexion aus Sicht der Systemtheorie“, in: ders., Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1991, S. 72 ff. (hier S. 79). 17 So H.-J. Giegel (Fn. 1), S. 44. 18 Nicht nur die Änderungserwartung hin zu einem Verein freier Menschen steht für diese Optik. Auch innerhalb des Kapitalismus muss es durch Krisen verursachte Übergänge geben. Vgl. Zum Problem der Periodisierung am Beispiel von Fordismus und Postfordismus: Jessop, Bob: „What follows Fordism? On the periodization of capitalism and its regulation“, in: Development research series. Working papers, Aalborg 1999, abrufbar unter: http://vbn.aau.dk/ws/files/33360546/DIR_wp_74.pdf (Stand 20.03.2013).

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Was aber, wenn nun die Systemtheorie sich so weit von der materialistischen Gesellschaftstheorie irritieren ließe, dass sie diese Optik gewinnen kann, ohne ihre erreichte begriffliche Tiefenschärfe aufzugeben? Ich will meine provisorischen Überlegungen im Folgenden in der Frage münden lassen, ob die gerade umrissenen Bedingungen für die Kritik einer materialistischen Gesellschaftstheorie, die Darstellung der kapitalistischen Produktionsweise und die Erklärung von Klassenkämpfen und emanzipatorischer sozialer Bewegungen, nicht auch von einer kritisch verstandenen Systemtheorie gestützt werden können. Die im Hintergrund dieser Kämpfe und Bewegungen waltende Gesellschaft muss Luhmann, nicht anders als die materialistische Gesellschaftstheorie, als Einheit der Evolution und als den Horizont fassen, vor deren Hintergrund sich die Möglichkeit von Systembildung überhaupt abzeichnet. Ich will daher zunächst die unterschiedlichen Fassungen des Gesellschaftsbegriffs der Systemtheorie (2) und der materialistischen Gesellschaftstheorie (3) behandeln, bevor ich am Ende zu einer gewissermaßen materialistischen Lesart kritischer Systemtheorie gelange (4).

2. V ON DER D IFFERENZ ZUR PARADOXEN E INHEIT : S YSTEMTHEORIE UND G ESELLSCHAFT Luhmann hat, sieht man einmal von der speziell gelagerten Diskussion mit Habermas ab,19 der Auseinandersetzung mit der materialistischen Gesellschaftstheorie nach Marx gewöhnlich nur wenige Bemerkungen gewidmet. Die offensichtlichen Gründe, aus denen heraus sich die Systemtheorie der materialistischen Gesellschaftstheorie überlegen zeigen muss, glaubt Luhmann am Versuch von Marx, die Einheit der Gesellschaft auf den Begriff zu bringen, so unzweideutig abzulesen, dass für ihn die nachfolgenden Theorien zwangsläufig fehl gehen.20 Bei der Frage, wie das Besondere mit dem Allgemeinen zu vermitteln sei, will sich Marx zwar von Hegel absetzen, doch dem systemtheoretischen Beobachter stellt sich das Unternehmen Marx’ als bloße Wiederholung des gleichen Fehlers dar: In den Augen Luhmanns ersetzt Marx die eine Dominanzbehauptung, Hegels Staat, schlicht durch eine andere, das kapitalistische Wirtschaftssystem. Die aus der krisenhaften Konstitution dieses Akkumulationsapparats ge-

19 Vgl. Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1974. 20 So haben für Luhmann „Abschwächungen vom Typ Gramscis oder Althussers nichts geändert“, N. Luhmann (Fn. 14), S. 25.

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folgerte Latenz einer proletarischen Revolution erscheint Luhmann folgerichtig als „materiell basierte Parallelaktion zum Hegelschen Geist“.21 Das „pars pro toto“,22 als das Marx Ökonomie und Gesellschaft anscheinend setzt, verhindert, so ist sich Luhmann sicher, den Blick der Theorie auf die Strukturbildung des Rechts, der Politik, der Erziehung etc. und noch dazu auf die der Wirtschaft selbst. Denn Marx ist nun von Anfang an dazu verdammt, alles durch die Brille nur einer einzigen Unterscheidung zu beobachten: Kapital und Arbeit. Mit diesem Blick, glaubt Luhmann, kann aber die moderne Gesellschaft nicht beschrieben werden, was sich schon daran zeigt, dass sie „wie typisch für Dualsemantiken, heimlich auf das ausgeschlossene Dritte zu reflektieren“23 scheint. Irritiert muss sich die Theorie funktionaler Differenzierung davon zeigen, dass dieser Unterscheidung scheinbar die Fähigkeit zugemessen wird, die Differenzierungsform der Gesellschaft insgesamt zu bestimmen – Luhmann sieht aber „kaum gesellschaftliche Probleme, die mit dieser Unterscheidung erfaßt und durch Verschiebungen innerhalb dieser Differenz oder durch ihre Aufhebung gelöst werden könnten“.24 Doch kann Luhmann in einer entscheidenden Hinsicht an Marx anknüpfen: Immerhin hatte dieser an der Wirtschaft paradigmatisch zeigen können, wie die Gesellschaft an Mensch, Bedürfnis und Natur vorbei Wirtschaft als „soziale Konstruktion“ prozessiert: „Auch wenn man alles andere aufgibt, dies sollte man beibehalten und über Marx hinausführen“.25 Ein „nicht marxistisch verstandener Marx“26 kann demnach durchaus als Ausgang dienen, den Begriff der Verdinglichung als von aller Ideologiekritik befreiten „polykontexturalen Verdinglichungszusammenhang“27 der Gesellschaft insgesamt auszumachen. Marx selbst also hat den Take Off für Luhmanns Flug über geschlossener Wolkendecke vorbereitet: Der Anschluss an den so als ersten Theoretiker der

21 Ders. (Fn. 14), S. 25. 22 Ders. (Fn. 16), S. 83. 23 Ders. (Fn. 12), S. 152. 24 Ebd., S. 169. 25 Ders. (Fn. 14), S. 23. 26 Ebd., S. 23. 27 So Schimank, Uwe: „Theorie der modernen Gesellschaft nach Luhmann – eine Bilanz in Stichworten“, in: Hans-Joachim Giegel/ders. (Hg.), Beobachter der Moderne. Beiträge zu Niklas Luhmanns „Die Gesellschaft der Gesellschaft“, Frankfurt a.M. 2003, S. 261 ff. (hier S. 273). Zum Vorbild des nicht ideologiekritischen Verdinglichungsbegriffs bei Berger/Luckmann: ebd., S. 270.

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Autopoiesis gelesenen Marx28 ermöglicht, von Kapital und Arbeit loszukommen und die Gesellschaft auf die Polykontexturalität ihrer vielen in Systemen verankerten Unterscheidungen hin zu untersuchen. Ist Marx’ Fassung des Kapitals erst einmal in dieses Licht gerückt, liegt es nahe, dies als Ausgangspunkt von Vergleichsmöglichkeiten zu nutzen und äquivalente Systemlösungen für andere Funktionen der Gesellschaft zu suchen. Freilich mit der Folge, dass die Einheit der Gesellschaft nicht länger aus dem sozialem Ganzen der Produktionsweise abgeleitet werden kann, da die Operationen der Systeme mit ihrem je eigenen Code, ihren eigenen Programmen, der autopoietisch hergestellten Selbstbeschreibung und Unterscheidung zu den Umwelten schließlich in dieser polykontexturalen Konstellation das Allgemeine der Gesellschaftsformation aus den Augen verlieren müssen. Wenn Luhmann aber derart entschieden die Differenzen in den Blick nimmt, dann setzt er andersherum die Systemtheorie der Gefahr aus, die Einheit nicht länger formulieren zu können. Doch nicht anders als die materialistische Theorie ist Differenzierungstheorie auf einen Begriff der Gesellschaft angewiesen, denn mit dem Verlust dieses Begriffes „verschwände der Begriff für das, was sich differenziert“.29 Doch der Versuch, diese Einheit zu fassen, mündet in einer paradoxen Wendung: Luhmann muss die Einheit der Gesellschaft zunächst voraussetzen, um die funktionale Differenzierung überhaupt formulieren zu können, kann aber erst an den bereits differenzierten Systemen die Einheit ausmachen. Die Dekompositionsperspektive, die angibt, woraus sich die Teilsysteme differenziert haben, und die Konstitutionsperspektive, die angibt, wie die Systeme sich autopoietisch konstituieren, lassen sich auf den ersten Blick nicht zur Deckung bringen.30 Auf den zweiten Blick wird dieses ungelöste Problem zur systemtheoretischen Tugend: Die „Einheit der Gesellschaft ist“, so muss Luhmann nun sagen, „nichts anderes als die Differenz der Funktionssysteme“31 und nur durch die Vergleichbarkeit der in dieser Hinsicht gleichberechtigten Systeme kann sie überhaupt auf die

28 Zu Marx als Theoretiker der Autopoiesis vgl. Jessop, Bob: State Power, Cambridge 2007, S. 26. 29 Luhmann, Niklas: Die Weltgesellschaft, in: ders. (Fn. 16), S. 51 ff. (hier S. 61). 30 Vgl. die klare Formulierung dieses Problems und der Kritik an Luhmanns Gesellschaftsbegriff insgesamt bei: Schwinn, Thomas: Differenzierung ohne Gesellschaft. Umstellung eines soziologischen Konzepts, Weilerswist 2001, S. 58 ff. 31 Luhmann, Niklas: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen?, Opladen 1986, zit. n. U. Schimank (Fn. 27), S. 272.

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„Eigenart der modernen Gesellschaft schließen – auch wenn, und gerade weil, diese Eigenart nur an den Funktionssystemen nachweisbar ist“.32 Hier auf einer Lösung zu bestehen, würde das Problem, nicht anders als der Akt des sich selbst Denkens bei Fichte, in einen unendlichen Regress münden lassen.33 Für die Systemtheorie erscheint dies ohnehin als lässlich, da sie davon ausgeht, dass es fehlerhaft ist, Ausdifferenzierung „von der Einheit her zu denken. Denn Gesellschaft bezeichnet […] nichts anderes als die […] in Echtzeit operierende Einheit aller möglichen sozialen Handlungen, Kommunikationen, Prozesse“.34 Gesellschaft, das ist dann nurmehr „leere Bühne“35, ein blass durch die Codierungen schimmernder Horizont. Doch bleibt nicht mit dem so vollzogenen Rückzug zu einem nurmehr paradox zu fassenden Gesellschafsbegriff das Problem ungelöst liegen, dem Marx und seine Nachfolger_innen mit der Erklärung von Produktionsweise und Gesellschaftsformation beizukommen versuchten? Wie kann Gesellschaft überhaupt kritisch verstanden werden, wenn nicht ihre Momente als Ausdruck eines Zusammenhanges analysiert werden können? Für die Annahme, die die Erkenntnis des Gesellschaftsbegriffs einfordert, dass nämlich die gesellschaftlichen Tatsachen ohne Gesellschaftsbegriff schlicht unverständlich bleiben, bleibt bei Luhmann etwa immer noch die vorsichtige Version von „Bezugsproblemen, die auf die eine oder andere Weise behandelt werden müssen, soll die Gesellschaft ein bestimmtes Evolutionsniveau halten“,36 ohne dass aber verständlich wird, wie den Systemen dieses Sollen einsichtig sein könnte.

3. V ON DER E INHEIT ZUR UNTERBELICHTETEN D IFFERENZ : M ATERIALISTISCHE T HEORIE UND G ESELLSCHAFT Die Hinwendung zur paradoxen Fassung des Gesellschaftsbegriffs ist aber nun keineswegs jener endgültige Bruch mit der materialistischen Gesellschaftstheorie, als den Luhmann ihn versteht. Vielmehr lässt ein zweiter Blick auf die als Gesellschaftsformation erfasste Einheit der Gesellschaft erahnen, dass Luhmann

32 N. Luhmann (Fn. 14), S. 41. 33 So Nassehi, Armin: Geschlossenheit und Offenheit. Studien zur Theorie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2003, S. 162. 34 Ebd., S.162. 35 U. Schimank (Fn. 27), S. 271. 36 N. Luhmann (Fn. 12), S. 747.

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die Möglichkeit vergibt, den systemtheoretischen Gesellschaftsbegriff noch einmal kritisch mit dem der materialistischen Gesellschaftstheorie abzugleichen. Denn Luhmanns Kritik an der vermeintlichen ökonomischen Einheit der Gesellschaft ignoriert die subtilen Versuche, mit denen der Materialismus seit Marx und Engels immer schon an dem Problem operiert hat. Bereits die grundlegenden Entwürfe zu einer Methodologie der materialistischen Gesellschaftstheorie, etwa Marx’ Einleitung zu den Grundrissen, zeigen, dass Luhmann mit seiner Kritik zu kurz greift: Marx hatte immer schon die verschiedenen Sphären auch jenseits der Wirtschaft im Auge und suchte nach dem durch die Produktionsweise gegebenen Zusammenhang. Politik, Recht, Krise, Erziehung, Philosophie, Wissenschaft etc. sind nicht etwa linear aus der Basis abzuleiten, sondern werden als Besonderheiten von der Produktionsweise insgesamt affiziert: „Es ist eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert“.37 Luhmanns Kritik greift also zu kurz, da er Marx und der materialistischen Gesellschaftstheorie eine lineare Kausalität aus Richtung der Wirtschaft unterstellt. Sehr gut lässt sich dieser Unterschied von Luhmanns Kritik und materialistischer Theorie etwa an Althussers Arbeit ablesen. Althusser, der Marx’ Bild von der Beleuchtung aufgreift,38 weist ein Verständnis linearer Kausalität der Marxschen Theorie zurück und beschreibt die Darstellung der Produktionsweise als kausale Strukturalität.39 Seine Überlegungen münden bekanntlich im schwierigen Versuch, das Verhältnis von Basis und Überbau am Begriff der Überdetermination zu schärfen, mit dem die Fassung des sozialen Ganzen als von der „abwesenden Ursache“40, einer nie in Erscheinung tretenden letzten Instanz des Ökonomischen, geprägte Produktionsweise nun ihrerseits nahe an einer Paradoxie gebaut ist.41 Wenn nun aber die materialistische Gesellschaftstheorie nicht des ökonomischen Determinismus überführt werden kann, sondern vielmehr immer schon auf die differenzierte Einheit der Gesellschaft abzielt, dann kann aus ihrer Sicht dennoch die funktionale Differenzierung nicht das letzte Wort sein. In Wahrheit

37 Marx, Karl: „Einleitung zu den ‚Grundrissen‘“, in: Marx Engels Werke, Bd. 42, Berlin 1983, S.15 ff. (hier S. 40). 38 Vgl. Althusser, Luis: „Lineare und strukturale Kausalität“, in: Günther Schiwy, Der französische Strukturalismus, Hamburg 1969, S.198 ff. (hier S. 202). 39 Vgl.: L. Althusser (Fn. 38). 40 Vgl. Althusser, Luis: Das Kapital lesen I und II, Hamburg 1972. 41 „Die einsame Stunde der ‚letzten Instanz‘ schlägt niemals, weder im ersten noch im letzten Augenblick“, L. Althusser (Fn. 8), S. 139.

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können die Teilsysteme ihre Funktionen nur vor dem von der Gesellschaftsformation strukturierten Hintergrund erfüllen. Die Annahme einer Autopoiesis verdeckt aus Sicht dieser Theorie nicht nur diesen Zusammenhang, sondern wird auch unplausibel, weil sie aus den Augen verliert, wie sich dieser Zusammenhang über das Gesamt der Produktionsweise erstreckt. Im Gegensatz zum von Luhmann vorgehaltenen pars pro toto von Ökonomie und Gesellschaft ist, wie der Organisationssoziologe Klaus Türk ausführt, „in der spezifischen Verbindung der funktionalen Teilsysteme untereinander die besondere Eigenart der kapitalistischen Produktionsverhältnisse konstituiert“.42 Obwohl also die Systeme, darin die Ideologie der Theorie der funktionalen Differenzierung noch einmal gesellschaftlich reproduzierend, scheinbar autopoietisch operieren, bleibe dies angesichts „faktischer materieller Interdependenz“43 fiktiv, da es einen „die Teilsysteme übergreifenden Leitcode“ gebe, „der primär den Funktionsmechanismen der kapitalistischen Gesellschaftsformation entstammt“.44 Wie aber, so müsste nun aus Sicht der Theorie der Autopoiesis rückgefragt werden, greift ein vorher angenommener Leitcode auf die Operationen der Systeme durch? Die Antwort, die Türk mit Blick auf die umfassende „Einheit von ideologischen Denk- und gesellschaftlichen Verkehrsformen“45 gibt, hebt die Probleme, die sich mit der durch die Begriffe Produktionsweise und Gesellschaftsformation immer schon präjudizierten Einheit der Gesellschaft ergeben, nur um so deutlicher hervor. Gewiss geht die Annahme nicht fehl, dass die funktionale Differenzierung bei der Akkumulation von Kapital dienlich ist. Dafür muss sie aber prozessiert werden. Und dies kann nicht gleichzeitig über eine Theorie der Kapitalakkumulation oder der Herausbildung gesellschaftlicher Hegemonie erklärt werden, sondern nur durch eine Theorie der funktionalen Differenzierung. Ideologie- und Hegemonietheorien bleiben, so könnte die Systemtheorie hier argumentieren, auf der jeweiligen Programmebene, etwa des Rechts, der Politik und der Erziehung, stehen, ohne den Code und die Basis der Reproduktion der Funktionssysteme erklären zu können. Ein Blick auf die Lösung, die Althusser für das gleiche Problem ausführt, hilft, die Konturen des Dilemmas weiter zu schärfen. Jahre nachdem er mit be-

42 Türk, Klaus: „Organisation und gesellschaftliche Differenzierung“, in: ders., „Die Organisation der Welt“. Herrschaft durch Organisation in der modernen Gesellschaft, Opladen 1995, S. 155 ff. (hier S. 187). 43 Ebd., S. 207. 44 Ebd., S. 175. 45 Ebd., S. 180.

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merkenswerter Offenheit die fehlende Ausarbeitung der „Theorie der spezifischen Wirksamkeiten der Überbauten“46 eingestand, die doch für seine Verwendung des Begriffs der Überdetermination entscheidend sein sollte, geht er in seinem bahnbrechenden Aufsatz zu den ideologischen Staatsapparaten47 daran, die Überbauten doch noch unter die Lupe zu nehmen. Althusser analysiert hier die Staatsapparate, als die er Kirche, Schule, Familie, Recht, Presse, Literatur und das politische System bezeichnet, unter dem Vorzeichen ihrer Mitwirkung der Erhaltung kapitalistischer Produktionsweise insgesamt.48 Dabei interessiert ihn an dieser Stelle besonders die Möglichkeit der Subjektkonstitution durch diese Staatsapparate. Doch die faszinierenden Einblicke eines elaborierten Ideologiebegriffs können nicht verschleiern, wie der Fokus auf die Produktionsweise den Blick Althussers zu verengen droht: Genau wie in den Ausführungen Türks kann die Frage nicht geklärt werden, wie denn Apparate und Teilsysteme aus sich selbst heraus Stabilität erlangen sollen, sei es auch nur „relativ“ zu einem die Produktionsweise übergreifenden Leitcode. Aus Sicht der Systemtheorie scheint das Problem sich daraus zu ergeben, dass diese Perspektive allein die für die Wirtschaft notwendige Leistung49 der Apparate herausstellt. Wenn auch die Schule – für Althusser der wichtigste Staatsapparat – geeignete Absolventen heranzieht, ist mit dieser Leistung die Schule bzw. das Erziehungssystem doch kaum hinreichend beschrieben. Hierzu Bedarf es einer Theorie, die mehr in den Blick nimmt.50 Ist also aus der Warte materialistischer Gesellschaftstheorie zwar ausgemacht, dass die Funktionssysteme wie Recht, Politik, Wirtschaft oder auch Erziehung gerade durch ihre Eigengesetzlichkeit die kapitalistische Gesellschaftsformation bedingen, dann steht diese umso mehr vor einem Dilemma, das sich zu dem der Systemtheorie komplementär lesen lässt: Materialistische Gesellschaftstheorie muss die Eigengesetzlichkeit der Systeme voraussetzen, um die Produktionsweise begrifflich fassen zu können, will aber erst am immer schon darüber stehenden Gesamtzusammenhang die Teile ausmachen.

46 L. Althusser (Fn. 8), S. 140. 47 Ders.: Ideologie und ideologische Staatsapparate, Hamburg 2010. 48 Ebd., S. 40 ff. 49 Türk scheint das Problem zu verschieben, indem er den Begriff der Leistung nur auf menschlich zurechenbare Handlungen bezogen wissen will; vgl. K. Türk (Fn. 42), S. 176. 50 Vgl. Luhmann, Niklas: Das Erziehungssystem der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2002.

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4. S CHLUSS : M ATERIALISTISCHE P ERSPEKTIVEN KRITISCHER S YSTEMTHEORIE Systemtheorie gewinnt, so hat es den Anschein, Tiefenschärfe zu Lasten eines tragfähigen Ganzen, materialistische Gesellschaftstheorie hat sich dieses Ganzen immer schon versichert und läuft so Gefahr, die differenzierten Teilsysteme unzureichend zu beobachten. Aber wo steckt nun der Gewinn dieser Problemstellung, die ja aufgrund ihrer Abstraktionslage den Zusammenhang von Systembildung und kapitalistischer Vergesellschaftung abermals zu verschleiern droht? Wird nicht die paradoxe Fassung des systemtheoretischen Gesellschaftsbegriffs belanglos, wenn die Systemtheorie an die strukturellen Bedingungen erinnert wird, deren kapitalistische Formung Systemtheorie in ihrer Begriffswelt gerade nicht sehen will? Denn in der Tat muss die Systemtheorie eingestehen, dass unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaft das Geld dasjenige symbolisch generalisierte Kommunikationsmedium ist, welches mit den geringsten Reibungsverlusten Erfolg verspricht und dass die Wirtschaft eher andere Teilsysteme dominiert als ihrerseits dominiert wird, mit Folgen für die systemtheoretisch notorisch unterbelichtete Kultur.51 Aber die materialistische Theorie sollte nicht versucht sein, solche Argumente als Widerlegung der Systemtheorie ins Feld führen zu wollen. Sie sollte vielmehr die Widerständigkeit der Systemtheorie gegenüber Einheitsbegriffen wie Produktionsweise und Gesellschaftsformation als willkommenen Test ansehen, genau diese Begriffe zu belegen, indem sie zeigt, wie auch Systemtheorie in ihren eigenen Begriffen das Datum des Kapitalismus mitzuführen gezwungen ist, mithin von einer funktional differenzierten kapitalistischen Gesellschaft ausgehen muss.52 Dann zeitigen sich, wenn ich es richtig sehe, zwei Konsequenzen: Zunächst verliert Luhmanns eingangs ausgemachte Absetzung von der materialistischen Gesellschaftstheorie ihre Überzeugungskraft, solange sie anführt, materialistische Gesellschaftstheorie habe die funktionale Differenzierung zugunsten von Produktionsparadigma und Klassenkampf unterschätzt. Gerade der mögliche Rückgriff auf Übersetzung eigener Vorverständnisse in Begriffe der Systemtheorie kann die materialistische Gesellschaftstheorie gegen den oben beschriebenen Luhmannschen Vorwurf immunisieren.

51 Zu allen drei Punkten statt aller: Schimank, Uwe: „Die Moderne: eine funktional differenzierte kapitalistische Gesellschaft“, in: Berliner Journal für Soziologie (2009), S. 327 ff. 52 So versucht U. Schimank (Fn. 51) zu zeigen, dass funktionale Differenzierung und kapitalistische Gesellschaftsbeschreibung widerspruchsfrei möglich sind.

K RITISCHE SYSTEMTHEORIE

UND MATERIALISTISCHE

G ESELLSCHAFTSTHEORIE

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Zweitens ist aber die Kritik an der materialistischen Gesellschaftstheorie aus Sicht der Systemtheorie dann hilfreich, wenn sie auf den erkenntnistheoretischen Zugang der Theorie abstellt. Um hier noch einmal an Marx’ Metapher der Beleuchtung anzuknüpfen: Die Systemtheorie kann der materialistischen Theorie zeigen, wie die Beleuchtung der Gesellschaft an vielen Stellen systemisch gebrochen wird. Statt die Gesellschaftsformation als zu erkennende Einheit vorauszusetzen, können nun Beobachtungen beobachtet und Beschreibungen beschrieben werden.53 Denn während Marx und seine Nachfolger_innen die Komplexität als Problem sehen, das allein die der zu erkennenden Gesellschaft gegenüberstehende Theorie bewältigen muss,54 stellt die Systemtheorie in Rechnung, dass Gesellschaft immer schon gezwungen ist, Komplexität zu reduzieren, und dies von ihren verschiedenen Standpunkten selbst bewältigen muss. Mit dieser Korrektur der wechselseitigen Kritik von materialistischer Theorie und Systemtheorie lassen sich die Fragestellungen, die die gegenwärtige Gesellschaft der Theorie aufgibt, noch einmal aufnehmen: Die drei oben angegebenen Bedingungen emanzipatorisch ausgerichteter Theorie, die Darstellung der Gesellschaftsformation (a), die Strukturen sozialer Kämpfe (b) und die Änderungserwartung der Gesellschaft (c), stellen sich in diesem Licht anders dar. a) Bob Jessop hat unlängst herausgearbeitet,55 wie die von Luhmann analysierten System-zu-System-Beziehungen die von der materialistischen Theorie geforderte Reziprozität der Basis mit den Überbauten etwa in den Begriffen der Koevolution oder der strukturellen Kopplung zum Ausdruck bringen. Systemtheorie kann eine widersprüchliche krisenhafte Konstitution des Gesamtzusammenhanges durchaus formulieren. Diese ergibt sich mit der Möglichkeit ökologischer Dominanz eines Funktionssystems, mit der, in den Worten Luhmanns, „das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt“.56

53 „Statt auf letzte Einheiten zu rekurrieren, beobachtet man Beobachtungen, beschreibt man Beschreibungen“, Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 717. 54 Paradigmatisch: K. Marx (Fn. 37). 55 Jessop, Bob: „Zur Relevanz von Luhmanns Systemtheorie und von Laclau und Mouffes Diskursanalyse für die Weiterentwicklung der marxistischen Staatstheorie“, in: Joachim Hirsch/John Kannakulam/Jens Wissel (Hg.), Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Baden-Baden 2008, S. 157 ff. 56 N. Luhmann (Fn. 13), S. 769.

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Es gibt plausible Gründe, anzunehmen, dass es in der kapitalistischen Produktionsweise die Wirtschaft ist, die im Erfüllen ihrer Funktion versagt57 und die Vorstellung der ökologischen Dominanz hüllt so gewissermaßen das BasisÜberbau-Problem in ein systemtheoretisches Gewand. Es lassen sich nämlich, so Jessop, gerade unter Beibehaltung systemtheoretischer Annahmen Argumente herausarbeiten, die die Dominanz der kapitalistischen Ökonomie begünstigen.58 Während so in der Darstellung der kapitalistischen Gesellschaftsformation das Basis/Überbau-Problem systemtheoretisch adressiert wird, lässt sich ebenso ein paradoxer Durchgriff einer nie in Erscheinung tretenden letzten Instanz in die Systeme systemtheoretisch reformulieren. Lässt sich der Systemtheorie nicht vorwerfen, ihr Blick erfasse, fasziniert von der eigenen Theorieanlage, die Gesellschaft nur von den Codierungen aus? Würde sie dagegen ihre Energie darauf verwenden, die Semantik der Programme, etwa im Geiste Foucaultscher Diskurstheorie59, in Augenschein zu nehmen, müsste sie die Affinität der Programme aller gesellschaftlichen Subsysteme zur kapitalistischen Verwertungslogik einsehen. Doch mit dem Nachweis einer irgendwie kapitalismusaffinen Semantik wäre keineswegs ein Gegensatz zur Systemtheorie gewonnen, indem nun doch diese Semantik auf einen übergreifenden Metacode verweist. Im Gegenteil: Die gesellschaftliche Dramatik zeigt sich doch erst in der Art, wie die Operationen der Systeme auf diese Semantiken zugreifen, wie also das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik bestimmt ist.60 Unter dieser Voraussetzung lässt sich auch systemtheoretisch über eine Ökonomisierung der Gesellschaft61 nachdenken: Das Sträuben der begrifflichen Disposition gegen diese „materialistische“ Fragestellung lässt die Ergebnisse umso überzeugender ausfallen, indem für die autopoietischen Systeme beschrieben

57 Vgl. dazu die Überlegungen in: Wagner, Thomas: „Funktionale Differenzierung und ein ökonomischer Primat – hat die systemtheoretische Gesellschaftstheorie ausgedient?“, abrufbar unter: http://www.sozialarbeit.ch/dokumente/oekonomischer_primat.pdf (Stand 20.03.2013). 58 B. Jessop (Fn. 55), S. 163. 59 Zu einem instruktiven Vergleich von Diskurs und Semantik: Stäheli, Urs: „Semantik und/oder Diskurs: ‚Updating‘ Luhmann mit Foucault?“, in: Kulturrevolution: Zeitschrift für angewandte Diskurstheorie 47 (2004), S. 14 ff. 60 Urs Stäheli weist darauf hin, dass Luhmann dieses Verhältnis, entgegen seiner eigenen Absicht, in Analogie zum Basis/Überbau-Modell fasst. Vgl. Stäheli, Urs: „Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik“, in: Soziale Systeme 4/2 (1998), S. 315 ff. 61 Vgl. dazu die Studie von Krönig, Franz K.: Die Ökonomisierung der Gesellschaft. Systemtheoretische Perspektiven, Bielefeld 2007.

K RITISCHE SYSTEMTHEORIE

UND MATERIALISTISCHE

G ESELLSCHAFTSTHEORIE

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werden kann, wie diese in ihren eigenen Operationen und Selbstbeschreibungen den bisher ausgeschlossenen Code der Wirtschaft prozessieren, ohne ihre operative Schließung aufzugeben.62 b) Erst unter dieser polykontexturalen Fassung der vielen „materialistischen“ Selbstbeschreibungen der Politik, der Erziehung63, des Rechts64 und nicht zuletzt der Gesellschaft insgesamt65 sind die Bedingungen, unter denen die Gesellschaft die „Produktivkraft Kommunikation“ (Habermas)66 in nur ganz engen Grenzen freisetzt, umrissen. Angesichts der Schwierigkeiten der Klassentheorie, mit denen die Probleme der „Optik des Übergangs“ deutlich werden, kann nun eine kritisch verstandene Systemtheorie anders disponieren und die Systeme als die Adressaten der Einsprüche emanzipatorischer sozialer Bewegungen verstehen. 67 Sie macht sich so die Möglichkeit zu Nutze, eng an die Begriffe Codierung und Programmierung angeknüpft, die Bedingungen zu benennen, mit denen soziale Bewegungen jene kommunikative Unruhe schaffen, der die Systeme bei Strafe des Untergangs nicht ausweichen können,68 um am Ende vielleicht doch einmal den Übergang zu Verhältnissen der Selbstbestimmung gegenüber den einstmals indifferenten Systemen zu schaffen.69 c) Das führt schließlich zu einer eigentümlichen Stärke des paradox gebliebenen Gesellschaftsbegriffs zurück: Gerade durch die unabschließbare (aber nicht: beliebige!) Fassung eines Horizonts von Möglichkeiten erhält sich die Gesellschaftstheorie die Möglichkeit, empirisch nachzuvollziehen, wie dieser Hori-

62 Krönig macht den einleuchtenden Vorschlag, dies mittels der bisher kaum ausgearbeiteten Begriffe der Nebencodierung und der generativen Metapher zu versuchen. Vgl. F. K. Krönig (Fn. 61). 63 Beispiele für Politik und Erziehung: ebd. 64 Vgl. am Beispiel des Patentrechts auf Medikamente: Teubner, Gunther/FischerLescano, Andreas: Regime-Kollisionen, Frankfurt a.M. 2006. 65 Zur ökonomischen Selbstbeschreibung der Gesellschaft: A. Nassehi (Fn. 33), S. 185 ff. 66 Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit (mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990), Frankfurt a.M. 1990, S. 36. 67 Vgl. Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 2 (2006), S. 9 ff. 68 Dazu mit Luhmann gegen Luhmann: Brunkhorst, Hauke: „Machbarkeitsillusionen, feierliche Erklärungen und Gesänge – Zum Verhältnis von Evolution und Revolution im Recht“, in: Gralf-Peter Calliess et al. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 447 ff. (hier S. 461 ff.). 69 Dies als Ausgangspunkt kritischer Systemtheorie formuliert: Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. (hier S. 36).

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zont sich stets neu ergibt.70 Gesellschaft bleibt so „empirisch offen“71. Gleichzeitig wird aber gerade so die Optik des Übergangs auch systemtheoretisch formulierbar: Die Komplexitätsreduktion, zu der die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft verdammt ist, ist die Externalisierung von Widerspruch und Krise in die Operationen der Systeme. Gewiss müsste dieses für den Moment eher postulierte Zusammengehen von Materialismus und Systemtheorie noch an expliziten Widersprüchen und Krisenphänomenen im Zusammenhang mit Codierung und Programmierung der paradox (und nicht: widersprüchlich!72) gefassten Systeme ausbuchstabiert werden. Dabei weist aber der paradox gebliebene systemtheoretische Gesellschaftsbegriff, der immer nur materialistisch aufgeladen werden kann, auf die Fragilität eines gesellschaftlichen Bannes hin, den zu durchbrechen die Systemtheorie im Gegensatz zur materialistischen Theorie gewiss nicht angetreten ist. Doch die wechselseitige Schärfung des Blicks von materialistischer Theorie und Systemtheorie lässt die Möglichkeiten erahnen, die sich für eine materialistisch verstandene kritische Systemtheorie einmal eröffnen könnten.

70 Darin ähnelt Luhmanns Gesellschaftsbegriff zwar dem der Hegemonietheorie Laclau und Mouffes, bleibt aber begrifflich schärfer gefasst. Zur Kritik des letzteren: B. Jessop (Fn. 55). 71 Ebd., S. 169. Zum Vorteil hier empirisch anzuschließen siehe auch: T. Bonacker (Fn. 10), S. 41, sowie: A. Nassehi (Fn. 42), S. 163, und ders.: Wie weiter mit Niklas Luhmann?, Hamburg 2008. 72 Luhmann sieht die Paradoxie als immer schon vom System gelöst an (vgl. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1995, S. 546). Der Widerspruch bliebe dagegen ständiger Begleiter der Systeme. Für einen Versuch, die Paradoxie Luhmanns als fortwährend ungelöste Heimsuchung der Systeme in einer Weise zu verstehen, die immerhin der Stoßrichtung nicht stillzustellender Widersprüche nahe kommt: Teubner, Gunther: „Ökonomie der Gabe – Positivität der Gerechtigkeit: gegenseitige Heimsuchung von System und Différance“, in: Albert Koschorke/Cornelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie, Berlin 1999, S. 199 ff.

Die Unbeeindruckbarkeit der Gesellschaft – Ein Essay zur Kritikabilität sozialer Systeme P ETER F UCHS

Ein Schlüsselproblem bei der Rezeption und der Anwendung des Systembegriffs der Systemtheorie ist die ständig mitlaufende Metaphorik des Raumes.1 Psychische und soziale Systeme werden als Räume oder Quasi-Räume imaginiert. Sie verfügen dann über Grenzen, die ihren Innenraum vom Außenraum (der Umwelt) trennen und sich überschreiten lassen in einer Art Grenzverkehr. Solche Systeme werden vorgestellt als Be-Inhalter, als Behältnisse von systemeigenen Einheiten, Strukturen und Prozessen, die nicht in ihrem Außen vorkommen. Übersehen wird dabei, dass das Sinnsystem definiert ist als Differenz von System und Umwelt. Als Differenz, das heißt: Es ist nicht deren linke Seite, es ist so wenig lokalisiert wie die rechte Seite, die Umwelt, von der ohne System kaum die Rede sein könnte. Nicht anders verhält es sich mit dem System: Es ist, was es ist, durch die Differenz zur Umwelt. Seine Einheit ist diese Differenz. Kurz: Sinnsysteme sind nicht wie die Dinge, die wir sonst kennen. Sie sind transklassische ‚Objekte‘ oder – in behelfsmäßiger Formulierung – Unjekte. Wenn man von dieser Abstraktionslage ausgeht, ändern sich die Bedingungen, unter denen man über Gesellschaftskritik nachdenken kann.

1

Vgl. Fuchs, Peter: Die Metapher des Systems, Studie zur allgemein leitenden Frage, wie sich der Tanz vom Tänzer unterscheiden lasse, Weilerswist 2001. Die Theorie, um die es hier geht, nenne ich seit einiger Zeit Allgemeine Theorie der Sinnsysteme.

100 | F UCHS

1. D ER S INN

DER

S YSTEME

Sinnsysteme sind konzipiert als Zeitsysteme. Sie konservieren keinen Bestand, sie sind niemals vollzählig. Ihre elementaren Einheiten sind Ereignisse (Kognitionen, Kommunikationen).2 Die Besonderheit dieser Ereignisse findet sich darin, dass sie sich in der Sinnzeit ereignen, also nicht als identitäre Geschehnisse, die man im Singular nennen könnte. Was jeweils als Identität zustande kommt, wird in der Form der Nachträglichkeit ermittelt, durch Anschlüsse, die das, was geschah, als Bestimmtes, als Zugehöriges aufgreifen: durch Anschlüsse, die selbst auf Anschlüsse angewiesen sind. Das operative Ereignis ist dann nicht die singuläre Kognition oder Kommunikation, sondern deren Hinbeobachtung im Modus eines Danach, das sein Vorher erzeugt – vorübergehend. Sinnsysteme sind aus dieser Perspektive volatile Systeme. Sie befinden sich nicht in einem ontologisch fassbaren Zustand.3 Ebendies nötigt dazu, die räumliche Figur der Grenze umzudenken auf Systeme, für die die Sinnzeit konstitutiv ist. Die Grenze, ohne die der Systembegriff sinnlos wäre, wird gleichsam ausgezogen in der Zeit, die, im Schema Vorher/ Nachher beobachtet, an Änderungen registriert wird. Die Grenzen der Sinnsysteme sind demnach Zeitgrenzen. Bündig formuliert: Sie stellen sich her als Beibehalten der Fortsetzbarkeitsbedingungen von sinnförmigen Operationen.4 Und: Sie werden beobachtbar, wenn Änderungen ebendieser Bedingungen bemerkt werden. In sozialer Systemreferenz, von der im Weiteren ausgegangen wird, heißt dies, dass das Theorem der Geschlossenheit sozialer Systeme nicht von einem ‚Behältnismodell‘ her beschrieben werden kann. Solche Systeme haben keine in sich zurücklaufenden Ränder, die zusammenhalten, was zusammengehört. Die Schließung erfolgt in der Zeit durch die Anschlüsse bzw. Nachträge, die Vorereignisse als passend, als systemkompatibel diskriminieren. Genau das ist der Grund dafür, dass die soziale Operation Kommunikation selbst nicht beobachtet werden kann. Ihre Synthese erfolgt immer in einem Danach, das selbst nicht zugriffsfähig ist. Im Blick auf psychische Systeme formuliert Paul Valéry tref-

2

Vgl. Luhmann, Niklas: Soziale Systeme, Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frank-

3

Dies begründet die für Systemtheorie typische Strategie der De-Ontologisierung durch

furt a.M. 1984. Funktionalisierung. Volatilität ist der Name für die Konstruktion eines Problems, als dessen Lösung zum Beispiel die Selbstphänomenalisierung der Sinnsysteme gedeutet werden kann. Ich komme darauf zurück. 4

Vgl. N. Luhmann (Fn. 2), S. 35 f.

D IE U NBEEINDRUCKBARKEIT

DER

G ESELLSCHAFT

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fend: „Wir können unseren Gedanken nicht zuvorkommen.“5 Die Härte dieser Form der Schließung erhellt aus der Nichterreichbarkeit der operativen Synthesis. Sie kommt, plakativ gesagt, immer aus der Zukunft. Die Frage, die sich auf Grund derart asketischer Argumentation stellt, ist: Wie kommt es, dass wir, obwohl noch niemand ein Sozialsystem gesehen hat, den Eindruck haben, tagtäglich und folgenreich mit Sozialität verknüpft zu sein und in ihr gleichsam eingerichtet zu existieren? Diese Problemkonstruktion lässt sich schärfen, wenn man mit Luhmann davon ausgeht, dass soziale Systeme keine Körper, kein Bewusstsein, nichts Psychisches enthalten, sondern sich autopoietisch via Kommunikation reproduzieren. Sie verfügen demnach nicht über die Funktion der Wahrnehmung, des an Erleben gebundenen Weltkontakts. Sie sind deswegen auch nicht existentiell betreffbar. Für sie gibt es keine Möglichkeit der Phänomenalisierung. Und das heißt in paradox anmutender Zuspitzung: Sie sind im Blick auf Sinn als Sinnsysteme anästhetisch. Sie arrangieren, gruppieren, disseminieren im Rahmen ihrer Reproduktion Sinndeutungsmöglichkeiten, aber sie können Sinn nicht lesen. Er hat für sie keine ‚Erscheinung‘. Dies mag die Ursache dafür sein, dass Luhmann die Gegebenheitsweise von Sinn nahezu durchweg phänomenologisch bestimmt, also grosso modo auf psychische Systeme bezieht, für die das Medium Sinn die Qualität der ‚Phänomenheit‘ annimmt.6 Soziale Systeme sind auf psychische Systeme angewiesen, die sinn-entnehmend operieren im Zuge neuronal gestützter Wahrnehmung. Sie ist eine Bedingung der Möglichkeit phänomenalisierter Sinnwelten. Im Gegenzug statten soziale Systeme psychische Systeme durch Sozialisation mit der Sinnform aus. Der Terminus, der diese Reziprozität zum Ausdruck bringt, ist: Interpenetration.7

5

Valéry, Paul: Cahiers/Hefte, Bd. 4, 1990, S. 55.

6

Vgl. zum Ausdruck ‚Phänomenheit des Phänomens‘ Derrida, Jacques: Positionen. Gespräche mit Henri Ronse, Julia Kristeva, Jean-Lous Houdebine, Guy Scrapetta, Wien 1986, S. 72.

7

Siehe zum Begriff Interpenetration (in der Parsons’schen Fassung) Jensen, Stefan: „Interpenetration – Zum Verhältnis personaler und sozialer Systeme?“, in: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), S. 116 ff.; Münch, Richard: „Über Parsons zu Weber: Von der Theorie der Rationalisierung zur Theorie der Interpenetration“, in: Zeitschrift für Soziologie 9 (1980), S. 18 ff. Siehe direkt zum Parsons’schen Begriff Luhmann, Niklas: „Interpenetration bei Parsons“, in: Zeitschrift für Soziologie 7 (1978), S. 299 ff. Wir werden uns im Weiteren orientieren an Luhmann, Niklas: „Interpenetration: Zum

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2. G ESELLSCHAFT

ALS

K OMMUNIKATION

Interpenetration ist als Begriff und theorietraditionell für das Verhältnis zwischen psychischen und sozialen Systemen reserviert. Er bezieht sich auf den Sonderfall einer ‚Fundamentalgrenze‘, die durch die absolute Abschottung ‚körperverdeckter‘ psychischer Systeme gekennzeichnet ist, die füreinander intransparent sind und deswegen prinzipiell unausrechenbar. Das ist der Ausgangspunkt des Theorems doppelter Kontingenz, die als das Problem bestimmt wird, durch das Kommunikation (und damit soziale Systemik) katalysiert wird: Kommunikation wird deutbar als Lösung des Dauerproblems der Verbindung des Unverbindbaren. Damit gewinnt der Begriff der Interpenetration seine besondere Stellung. Er bezeichnet, wenn man so will, das Verfahren, durch das die Ko-Evolution oder Ko-Origination psychischer und sozialer Systeme möglich wird. Im Kern geht es um die Installation wechselseitiger Irritabilität im gemeinsamen Medium Sinn, genauer darum, dass sich beide Systemtypen ‚vorkonstituierte Eigenkomplexität‘ appräsentieren, die sie ausnutzen zum Aufbau je eigener Strukturalität und Prozessualität, ohne dass es zu einem Austausch, einem Transfer der Systemoperationen kommt. Beispielsweise liefern psychische Systeme (vorzugsweise sprachlich) Äußerungen an, die von sozialen Systemen, die selbst weder sprechen noch Sprache verstehen können, in Eigenselektivität arrangiert werden, so dass sich psychische Systeme auf diese andere Komplexität einlassen müssen. Ein anderes Beispiel ist, dass die Körper eine Ökonomie der Verräumlichung anbieten, die die Vorbedingung der Möglichkeit von Speicherung ist.8 Interpenetration ist, so gesehen, eine Technik, die von jeder Spezifik dessen absieht, worum es in Kognition und Kommunikation geht. Sie ist indifferent gegenüber Bedeutung und Bedeutsamkeit. Sie geschieht unabhängig davon, was Menschen umtreibt. Da man schlecht bezweifeln kann, dass Menschen existentiell betreffbare Einheiten sind, verwendet Luhmann an dieser Problemstelle den für ihn ungewöhnlichen Begriff der zwischenmenschlichen Interpenetration.9 Dieser Ausdruck bezeichnet die Ebene, auf der Menschen für Menschen (einschließlich der Körper) Bedeutsamkeit entfalten und damit einander eine anders

Verhältnis personaler und sozialer Systeme“, in: Zeitschrift für Soziologie 6 (1977), S. 62 ff., ferner am Kapitel „Interpenetration“ in N. Luhmann (Fn. 2), S. 286 ff. 8

Krämer, Sybille: „Friedrich Kittler í Kulturtechniken der Zeitachsenmanipulation“, in: Alice Lagaay/David Lauer (Hg.), Medientheorien. Eine philosophische Einführung, Frankfurt a.M./New York 2004, S. 201 ff. (hier S. 211).

9

N. Luhmann (Fn. 2), S. 303 ff.

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DER

G ESELLSCHAFT

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‚gestimmte‘ (differente statt indifferente) Komplexität offerieren. Luhmanns Beispiele dafür sind Moral und Systeme der Intimität. Es ist schnell zu sehen, dass Kritik an sozialen Strukturen und Prozessen auf dieser Ebene generiert und ethisch bzw. moralisch konditioniert wird. Ebenso deutlich ist aber, dass mit der zwischenmenschlichen Interpenetration die Referenz auf Menschen zentral wird. Sie substituiert den Bezug auf soziale Systeme durch den Bezug auf Menschen und aus Menschen zusammengesetzten Organisationen, die als ‚Täter‘ stilisierbar sind, schließt aber von da aus durch auf die ‚Täterschaft‘ der sozialen Großsysteme: auf die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme, die – was wir oben ausgeschlossen haben – als menschendurchsetzt imaginiert werden. Die Gesellschaft und ihre primären Subsysteme (Funktionssysteme) sind jedoch weder erreich- noch beeindruckbar. Sie haben keine soziale (ja nicht einmal eine postalische) Adresse, unter der sie sich anschreiben oder auffinden ließen. Daraus folgt, dass sie über kein Zentrum verfügen, durch das sie repräsentiert würden und dem Mitteilungshandlungen zugerechnet werden könnten. Sie sind zwar Kommunikationsverkettungen, aber sind selbst nicht Einheiten, die für Kommunikation als mitteilende Instanzen in Frage kommen. Anders ausgedrückt: Gesellschaftskritik trifft nicht die Gesellschaft, die Wirtschaft, die Politik […] an.10 Und die Gesellschaft ist kein responsible being: Sie kann nicht antworten. Dieses Problem spitzt sich dadurch zu, dass das, was wir Gesellschaft nennen, so etwas darstellt wie fungierende Indifferenz: Sie besteht „aus dem Zusammenhang derjenigen Operationen, die insofern keinen Unterschied machen, als sie einen Unterschied machen.“11 Das heißt: Gesellschaft konstituiert sich nicht über das, wovon Kommunikationen handeln, worauf sie sich beziehen, für wen sie welche Bedeutung haben. Sie ist beobachtbar als die Ausblendung jeder ‚quiditas‘ (Washeit). Ihr Urdatum ist die ‚Dassheit‘ (quoditas) der Kommunikation, gleichgültig, ob es um Exekutionskommandos oder Bachblütentherapie geht. Diese Lage entsteht durch die De-Hierarchisierung der sozialen Welt im Kontext der funktionalen Differenzierung und den damit einhergehenden Ausfall einer repraesentatio identitatis der Gesellschaft. Systemtheoretische Ausdrücke dafür sind: Polykontexturalität, Heterarchie, Hyperkomplexität. Der erste Begriff bezeichnet, geballt formuliert, die Unmöglichkeit einer einheitlichen (und nicht gegenbeobachtbaren) Beobachtung der Gesellschaft. Heterarchie verweist auf so

10 Das ist der Ausgangspunkt meiner Analysen zum Phänomen Terror in: Fuchs, Peter: Das System „Terror“, Versuch über eine kommunikative Eskalation der Moderne, Bielefeld 2004. 11 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, Bd. 1, S. 91.

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etwas wie die ‚Horizontalität‘ autonomer Funktionssysteme, die nicht im Schema einer Hierarchie angeordnet sind. Hyperkomplexität markiert die Situation, dass in ebendieser Gesellschaft Kommunikationen zirkulieren, die diesen Befund ‚bekanntgeben‘.12 Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen scheint Gesellschaftskritik nichts weiter als eine Donquichotterie zu sein. Sie stieße buchstäblich ins Leere. Sie wäre unter der Voraussetzung funktionaler Differenzierung der seltsame Fall der Stabilisierung spezifischer Kommunikation unter Dauer-Entmutigungsbedingungen. Diese ‚Hartnäckigkeit‘ ist erklärungsbedürftig, nicht zuletzt auch deswegen, weil „jede Kritik, jede Gegenkraft, das System nur ernährt.“13

3. G ESELLSCHAFTSKRITIK

UND

S YSTEMTHEORIE

Ein Weg, sich einer Erklärung zu nähern, ist der Funktionalismus dieser Systemtheorie.14 Der Begriff der Funktion ist in ihr so abstrakt gehalten, dass er methodisch nicht nur auf Systeme anwendbar ist. Die Methode besteht darin, je fragliche Phänomene als Lösungen von Problemen aufzufassen, die wissenschaftliche Beobachter konstruieren – in einem Tableau vergleichbarer (wechselseitig instruktiver) Problemkonstruktionen und Problemlösungen. Damit wird eine nicht ontologisierende, ‚flexible‘ Deutbarkeit möglich. Im Blick auf Gesellschaftskritik ist zunächst auffällig, dass sie – wesentlich ein Kind der Aufklärung – Imposanz gewinnt im Kontext der Umstellung der Gesellschaft von Stratifikation auf funktionale Differenzierung. Das legt nahe, diese gesellschaftliche Großtransformation in die Problemkonstruktion einzubeziehen und die Frage zu stellen, welche Effekte diese Veränderung so erzeugt, dass Gesellschafts- und Sozialkritik plausibel und folgenreich werden. • Ein zentrales Moment dieses Wandels ist, wie gesagt, die De-Hierarchisierung

der sozialen Ordnung. Die Gesellschaft verliert die sie repräsentierenden Instanzen und Mächte. Sie ist wie ihre Funktionssysteme inadressabel und wird

12 Vgl. umfangreicher Fuchs, Peter: Die Erreichbarkeit der Gesellschaft, Zur Konstruktion und Imagination gesellschaftlicher Einheit, Frankfurt a.M. 1992. 13 So die Formulierung in einem Interview von Jean Baudrillard in: Florian Rötzer (Hg.), Französische Philosophen im Gespräch, München 1987, S. 29. 14 Vgl. Fuchs, Peter: „Die Theorie der Systemtheorie – erkenntnistheoretisch“, in: Jens Jetzkowitz/Carsten Stark (Hg.), Soziologischer Funktionalismus. Zur Methodologie einer Theorietradition, Opladen 2001, S. 205 ff.

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DER

G ESELLSCHAFT

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von niemandem vertreten, ist also weder appellations- noch satisfaktionsfähig. Bemerkenswert daran ist, dass Gesellschaftskritik Konturen gewinnt im Moment, in dem der kritikable ‚Gegenstand‘ ausfällt. Das lässt die Vermutung zu, dass die Kritik ebendiesen Gegenstand selbst konstruieren muss. • Funktionale Differenzierung löst die Schichten und Stände auf, in denen wesentliche Lebens- und Kommunikationsbewandtnisse gleichsam lokal betreut wurden. Die damit verknüpften Funktionen werden de-lokalisiert und an gesellschaftsweit operierende Systeme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Erziehung, Religion, Kunst etc. delegiert, die jene Funktionen in autopoietischer Autonomie exklusiv ausüben. • Im selben Zuge ändert sich der Inklusions/Exklusions-Modus. Partizipation an relevanten sozialen Kontexten wird nicht mehr durch Eingeborensein in Schichten ermöglicht und reguliert. An diese Stelle tritt als neues Legitimationsprinzip die Gleichheit der Chancen jedes Individuums im Blick auf die Teilhabe an den Funktionssystemen. Gefordert ist der Form nach eine AllInklusivität, die – angesichts empirischer Ungleichheiten – wie ein Ungleichheitsdetektor arbeitet.15 Gesellschaftskritik gewinnt in diesem Zusammenhang ihre stärkste Plausibilitätsressource. • Mit der funktionalen Differenzierung geht eine ‚Kontingenzexplosion‘ einher: Alles, was geschieht, beobachtet und mitgeteilt wird, kann mehr und mehr als möglich, aber nicht notwendig behandelt werden.16 Was sich verliert, ist die Möglichkeit einer verbindlichen Welterzählung.17 Der Ausdruck dafür war in

15 Vgl. Fuchs, Peter: „Das Phantasma der Gleichheit“, in: Merkur 570/571 (1996), S. 959 ff. 16 Auf eine entscheidende Ausnahme komme ich gleich zurück. 17 In berühmter Formulierung: „Le grand récit a perdu sa crédibilité, quel que soit le mode d’unification qui lui est assigné: récit spéculatif, récit de l’émancipation.“ (Lyotard, Jean-François: La Condition postmoderne, Paris 1979, S. 63). Aber schon die Romantik lässt sich begreifen als seismographische Reaktion: „Die Romantik ist subjektivierter Occasionalismus, weil ihr eine occasionelle Beziehung zur Welt wesentlich ist, statt Gottes aber nunmehr das romantische Subjekt die zentrale Stelle einnimmt und aus der Welt und allem, was in ihr geschieht, einen bloßen Anlaß macht [...] Jetzt erst >nach dem Ausfall von Formeln wie Gott, Staat, P. F.@ entfaltet das Occasionelle die ganze Konsequenz seiner Ablehnung jeder Konsequenz. Jetzt erst kann wirklich alles zum Anlaß für alles werden und wird alles Kommende, alle Folge in einer abenteuerlichen Weise unberechenbar [...] Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne die Abhängigkeit des Funktionellen, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition [...] geführt nur vor der magischen Hand des Zufalls, the magic

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relativ naher Vergangenheit: Postmoderne. Jenes Ausufern von Kontingenz, lesbar als massiver Orientierungsverlust, müsste erneut Gesellschaftskritik entmutigen, tut es aber offenbar empirisch nicht. Diese Skizze eines Syndroms von Problemkonstruktionen lässt es zu, tentativ die Funktion von Gesellschaftskritik zu bestimmen. Sie speist, wenn man so sagen darf, Kommunikationen, durch die gesellschaftliche Polykontexturalität (Heterarchie etc.) als kontingent aufgefasst wird: als selbst nicht notwendig, als selbst anders möglich. Spitz formuliert: Sie setzt Kontingenz kontingent. Sie projiziert anders mögliche (vor allem: zukünftige) Gesellschaften, argumentativ flankiert durch die Schwierigkeiten, die mit der ‚Kontingenzformel‘ der modernen Gesellschaft (Gleichheit) auftreten. Kontingenz kontingent setzen, zwingt dann dazu, Momente der Notwendigkeit für jene Projektionen einzuführen. Das sind einerseits ethische Momente, die aus dem Bezirk zwischenmenschlicher Interpenetration abgezogen werden, in der es um die Bedeutsamkeit von Menschen für Menschen geht; andererseits muss die je aktuelle Gesellschaft so imaginiert werden, dass zu ihren Eigenschaften nicht nur Kritikempfindlichkeit, sondern vor allem Änderungsfähigkeit und Intervenierbarkeit gehören. Die Systemtheorie gerät ins Visier der Gesellschaftskritik jeglicher Couleur, weil sie gelesen werden kann als Theorie, die Kritik an Kritik übt. Diese Lesart muss man nicht teilen, aber sie lässt sich nachvollziehen, wenn man berücksichtigt, dass eine wissenschaftlich grundierte, komplexe Gesellschaftstheorie den Gesellschaftsprojektionen der Kritik den Boden entzieht aus den Gründen, die oben skizziert wurden: Die moderne Gesellschaft ist inadressabel und indifferent gegenüber jedem spezifischen Sinn, der durch Kommunikation prozessiert wird. Sie ist nicht hierarchisch geordnet und verfügt nicht über verbindliche Ziele, nicht über Einheitsformeln, die definieren könnten, was sie zu sein hat, aber nicht ist. Die Gesellschaftskritik kann dann die Systemtheorie verwerfen (etwa, wie es oft geschieht: als affirmativ) und an ihren jeweiligen Projektionen normativ festhalten oder sich auf lernbereit stellen, was nichts weiter heißt als: sich auf den systemtheoretischen Befund ernsthaft einzulassen. Das bedeutet nicht, auf Gesellschaftskritik zu verzichten, sondern sie anderen (komplexeren) Kognitionsund Kommunikationsbelastungen auszusetzen. Es ist sogar möglich, so die These, entsprechende Enttrivialisierungen vorzunehmen und die Systemtheorie dabei als Ressource zu nutzen.

hand of chance.“ (Schmitt, Carl: „Romantik“, in: Helmut Prang [Hg.], Begriffsbestimmung der Romantik, Darmstadt 1968, S. 73 ff. [hier S. 90 f.]).

D IE U NBEEINDRUCKBARKEIT

DER

G ESELLSCHAFT

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Wenn die Gesellschaft nicht adressabel ist, kann zum Beispiel gefragt werden: Ist sie (und sind ihre Funktionssysteme) denn irritabel? Kann man Anlässe lancieren für strukturell weitreichende Selbstständerungen? Wenn Durchgriffskausalität nicht funktioniert bei derart geschlossenen Systemen, lässt sich dann über das Mittel der Auslösekausalität nachdenken?

4. G ESELLSCHAFTSKRITIK

ALS

O RGANISATIONSKRITIK

Die Gesellschaft ist, wie wir sagten, unberührbar durch Kritik. Gleichgültig, was mit welchen Folgen für wen kommuniziert wird, sie ist gegenüber jeder Fremdreferenz absolut egalitär. Sie kennt als funktional differenzierte Gesellschaft keine durchgreifenden Verbindlichkeiten. Sie geschieht, wie sie geschieht. Darauf kann man den mit dieser Gesellschaftsform einsetzenden Boom der Ausdifferenzierung von Organisationen beziehen, die funktional in die Vakanz von Verbindlichkeit eintreten. Sie kopieren, wenn man so will, die Form der mittelalterlichen Stratifikation in segmentäre Einheiten, die qua Hierarchie eine Repräsentanz ihrer Identität herstellen, also wie nur noch Leute (vielleicht auch wie Familien) adressabel sind. Sie kommen mithin anders als die Gesellschaft und die Funktionssysteme als Mitteilungshandelnde in Frage, eben als responsible beings, denen Verantwortung unterstellt werden kann. Solche Systeme übernehmen die Funktion, die Kommunikationsströme der Funktionssysteme zu organisieren auf der Basis einer Autopoiesis von Entscheidungen, die via Weisungskette mit Verbindlichkeit ausgestattet werden. Organisationen erzeugen auf diese Weise Ontologien, in deren Rahmen gilt, was als entschieden behandelt wird. Sie sind Notwendigkeitsgeneratoren, die sich antreffen lassen, oder genauer: deren Identitätsrepräsentionen soziale Adressabilität garantieren. Summarisch formuliert: In gleicher Weise, wie unbeobachtbare Kommunikation sich phänomenalisiert in der ständig mitlaufenden Konstruktion von Mitteilungshandelnden, phänomenalisieren sich die Gesellschaft und ihre Funktionssysteme durch Organisationen. „Über Organisationen macht die Gesellschaft sich diskriminationsfähig, und zwar typisch in einer Weise, die auf Funktion, Code und Programme der Funktionssysteme abgestimmt ist.“18 Und: „Innerhalb der Organisationen und mit ihrer Hilfe lässt die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern. Sie wandelt sie gleichsam

18 Luhmann, Niklas: „Die Gesellschaft und ihre Organisationen“, in: Hans-Ulrich Derlien/Uta Gehrhardt/Fritz W. Scharpf (Hg.), Systemrationalität und Partialinteresse: Festschrift für Renate Mayntz, Baden-Baden 1994, S. 189 ff. (hier S.192).

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um in Grundsätze der Zukunftsoffenheit, nach denen immer noch und immer wieder anders entschieden werden kann, wie unterschieden wird.“19 Gesellschaftskritik ist unter diesen Voraussetzungen nur als Organisationskritik möglich. Zu berücksichtigen ist, dass auch Organisationen eine geschlossene Autopoiesis von Entscheidungen realisieren. Sie sind aber als adressable Systeme irritabel. Sie sind gegenüber Informationen (Fremdreferenzen der Kommunikation) nicht indifferent. Sie scannen in der Perspektivik ihrer Eigenrationalität und Eigenintelligenz die soziale Welt ab auf Ereignisse und Strukturen, die ihre Entscheidungspraxis kontextualisieren bzw. kontextualisieren könnten. Kritik, die nicht im Genre des Appellativen verbleiben will, müsste deswegen Perspektivenübernahmen leisten können, durch die es möglich wird, kritische Kommunikation für Organisationen lesbar zu machen – in der Form von Irritationstableaus, die von Durchgriffskausalität auf Auslösekausalität umsetzen.20 Eine Methode, die dabei helfen und sich systemtheoretisch empfehlen würde, wäre: Äquivalenzfunktionalismus. Diese Art des Funktionalismus, die wir oben schon skizziert haben, ist prima vista für Projekte der Gesellschaftskritik schädlich. Im Prinzip geht es ja um eine de-ontologisierende Heuristik, die rigides Tatsächlichkeitsdenken ausschließt. Das heißt nicht, dass Probleme im Zuschnitt der sozialen Welt als irreal behandelt würden, sondern nur, dass ein essentialistischer Zugriff auf solche Probleme flexibler mögliches Denken blockiert und schnell zu fundamentalistischen Positionen führt. Das Gegenmittel ist die Einführung von Beobachtern, die Soziallagen als Problemlösungen auffassen, für die das Problem (oder ein Set von vergleichbaren Problemen und äquivalenten Problemlösungen) rekonstruiert werden kann.21 Wenn man etwa mit Luhmann sagt, dass „die Gesellschaft die Grundsätze der Freiheit und der Gleichheit scheitern“ lässt in den Organisationen, dann kann man beklagen und kritisieren, dass es sich so verhält, aber auch mitsehen, dass dieses Scheitern funktional deutbar ist: als Lösung des Problems sozialer Ordnung in einer polykontexturalen Gesellschaft durch die lokale Inanspruchnahme der Form der Hierarchie, die segmentäre Verbindlichkeit garantiert. Das kann man als evolutionäre Errungenschaft, mithin als alternativlos auffassen oder funktionale Äquivalente entwerfen, die das je Gegebene ins Licht anderer Möglichkeit rücken.

19 Ebd. 20 Vgl. Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 401. Von hier aus lässt sich eine Parallele zur Welt der Organisationsberatung instruktiv ausziehen. 21 Ein schönes Beispiel für das Verfahren ist: Reiter, Uli: Lärmende Geschenke. Die drohenden Versprechen der Korruption, Weilerswist 2009.

D IE U NBEEINDRUCKBARKEIT

5. K OMPLEXITÄTSSTEIGERUNG

DER

DER

G ESELLSCHAFT

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K RITIK

Die eine Frage ist, ob sich systemtheoretische Denkfiguren fruchtbar eingemeinden lassen in gesellschaftskritische Diskurse; eine andere Frage dagegen, ob das Bild, das die Systemtheorie von der modernen Gesellschaft zeichnet, sich selbst – und sei es nur ansatzweise – einem kritischen Impetus verdankt. Das lässt sich auf den ersten Blick ausschließen, insofern die Theorie dezidiert der Wissenschaft zugeordnet ist und deren Produktion von irrtumsfähigen (wissenschaftsintern kritikablen) Sätzen. Andererseits ist kaum zu bestreiten, dass diese Systemtheorie rezipiert und diskutiert wird über die Grenzen der Wissenschaft hinaus. Luhmann spricht von Supertheorien. Sie „sind nicht einfach ‚Weltanschauungen‘ oder Ideologien. Sie beruhen auf der Ausdifferenzierung eines besonderen Kommunikationssystems für Wissenschaft innerhalb der Gesellschaft und beziehen sich funktional auf Strukturprobleme dieses Systems. Sie sind dadurch historisch abhängig von vorgängigen Prozessen gesellschaftlicher Differenzierung, die eine Ausdifferenzierung von Wissenschaft erst ermöglichen. Supertheorien gibt es erst in der neueren Zeit; vielleicht können wir sagen: erst nach Kant, der zum ersten Mal die Notwendigkeit sah, als Reaktion auf sich ausdifferenzierende Wissenschaft erkenntnistheoretische und moralische Fragen (und beide im Zusammenhang miteinander) neu zu formulieren.“

22

Systemtheorie als Supertheorie reflektiert ihre gesellschaftliche Bedingtheit mit. Sie berücksichtigt den Umstand, dass sie situiert ist in der Gesellschaft, die sie beschreibt. Ihr ‚Super‘ meint nicht: superior, sondern nur, dass sie nicht ‚bezirksfest‘, mithin eine ‚Spill-over-Theorie‘ ist. Sie vollzieht einerseits Wissenschaft und bezieht von hier aus ihre Nicht-Ignorabilität; andererseits kann sie nicht davon absehen, dass ihre ‚inkongruenten Perspektiven‘ gesellschaftsweit streuen: als Irritationen. In einem für diese Theorie typischen Duktus lässt sich sagen, dass sich das Kritikpotenzial der Systemtheorie auf der Ebene einer Kritik zweiter Ordnung herstellt. Sie beobachtet, wie Gesellschafts- und Sozialkritik ihre (historisch konditionierten) Unterscheidungen wählen und welche Ontologien durch diese Wahlen aufgespannt und betrieben werden. Sie kann gelesen werden als eine Ökonomie der Ent-Naivisierung der Kritik erster Ordnung. Diese Ökonomie ist – cum grano salis – nicht intendiert, sondern so etwas wie ein Epiphänomen des

22 Luhmann, Niklas: Die Moral der Gesellschaft (hrsg. v. Detlef Horster), Frankfurt a.M. 2008, S. 58.

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Supertheoretischen an der Systemtheorie, die kein Konkurrenzunternehmen zur Gesellschaftskritik sein kann, aber eine Gesellschaftstheorie liefert, die die Gesellschaftsprojektionen der Kritik als unterkomplex diskriminiert, kombiniert mit dem Angebot möglicher Komplexitätssteigerungen.

Begegnungen der anderen Art: Niklas Luhmann trifft auf Zygmunt Bauman L YANA F RANCOT -T IMMERMANS

Ein unerbittliches Gefühl der Unsicherheit verfolgt unsere Gesellschaft; es charakterisiert unsere Zeit und wir sehen uns seinen Manifestationen fast alltäglich ausgesetzt. Unsicherheit hat sozusagen eine proteische Qualität und zeigt sich in einer Fülle von Arten und Formen. Eine Art der Unsicherheit erwächst aus Ereignissen, über die wir keine Kontrolle haben, wie etwa Erdbeben oder Tsunamis. Aber sie mag sich ebenso aus einer von Menschen verursachten Krise ergeben, sei sie nun politischer, ökonomischer oder anderer Natur. Sie mag die Grenzen von Nationalstaaten ignorieren, wie etwa die Finanzkrise, und zu einer globalen, ökonomischen und finanziellen Erfahrung von Unsicherheit werden. Zur gleichen Zeit sickert sie bis auf die organisatorische und individuelle Ebene durch, treibt Firmen in den Bankrott und lässt Arbeitnehmer vielfach ohne Auskommen und soziale Würde zurück. Dieser Beitrag beschäftigt sich mit einer ganz spezifischen Art der Unsicherheit. Deren Ursprung ist, um präziser zu sein, der gegenwärtigen Erfahrung normativer Unsicherheit geschuldet.1 Zweifellos gibt es mehr als einen plausiblen Grund für die normative Verzweiflung, die gegenwärtig vor allem unsere grundlegenden Entscheidungen begleitet, etwa Probleme, die das Leben oder das Lebensende betreffen.2 Und es ist wahrscheinlich, dass das Zusammenspiel und die Gleichzeitigkeit der Entwicklungen diesen Zustand normativer Unsicherheit her-

1

Exemplarisch Heidbrink, Ludger: Handeln in der Ungewissheit – Paradoxien der Ver-

2

Vgl. etwa de Vries, Ubaldus/Francot, Lyana: „Information, Decision and Self-Deter-

antwortung, Berlin 2007. mination: Euthanasia as a Case Study“, in: Scripted 6/3 (2009), S. 558 ff.

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vorgebracht haben. Ohne vollständig sein zu wollen, könnte man an die überwältigende Zahl von Optionen und Alternativen denken, welche die Gesellschaft für unser Leben bereit hält und zwischen denen wir wählen müssen; an unsere angebliche Autonomie und das Recht zur Selbstbestimmung als Ergebnis des modernen Prozesses der Individualisierung und an den sogenannten Zerfall normativer Raster und Richtlinien, wie etwa in Form einer universellen Moral oder Religion, unter anderem durch den modernen Prozess der Säkularisierung. Insgesamt führt dies zu einer normativen Unsicherheit, die sich in der Erfahrung eines Verlusts an sozialer Kohäsion und sozialer Einheit zeigt, nicht als ein Ausnahmezustand, sondern als ständiger Wandel unserer sozialen Kontexte. Einer der Brennpunkte dieses Niedergangs ist die Moral und damit zugleich die Ethik, beides normative Strukturen3, die uns bei unseren Grundlagenentscheidungen leiten oder besser geleitet haben. Aber heutzutage scheinen Moral und Ethik an dieser Aufgabe deutlich zu scheitern – oder zumindest wird es so wahrgenommen. Man könnte nun vermuten, dass einer Diagnose der normativen Lage durch eine kritische Analyse dieser Erkenntnis gedient ist, die in möglichen Handlungsempfehlungen mündet. Allerdings beschränkt sich dieser Beitrag auf einer Ersterkundung der Möglichkeit einer kritischen Diagnose von Moral und Ethik innerhalb eines systemtheoretischen Rahmens. Insbesondere wenden wir uns Niklas Luhmanns Sicht von Moral und Ethik als kommunikative Strukturen innerhalb einer funktional differenzierten Gesellschaft zu (Teil 1). Von Anfang an ist es eindeutig, dass Luhmann nicht auf eine kritische Analyse gegenwärtiger Moral und Ethik abzielt, sondern versucht, eine ‚normativ neutrale‘ – so wird zumindest behauptet – Beobachtung und Beschreibung zu leisten. Es war nie sein Ziel, eine kritische Theorie zu formulieren; Luhmann weist ein solches Unterfangen explizit zurück und dementsprechend sollte man vorsichtig sein, seine Theorie aus dieser Perspektive zu lesen. Nichtsdestotrotz existiert hier eine Lücke, da strukturelle Entwicklungen in der Gesellschaft die Notwendigkeit eines kritischen Blicks und Engagements, anstelle des Blicks eines distanzierten Beobachters, evozieren. Daraus folgt, dass Luhmanns Theorie keine Gesellschaftskritik bereithält, obwohl sie ein Instrumentarium anbietet, um Moral und Ethik zu beobachten und zu beschreiben. Dies bedeutet, das, wenn es kritisches Potenzial in Luhmanns Systemtheorie gibt, sich dieses auf die Kritik alternativer theoretischer Konzepte beschränkt.4 Aber anstatt Luhmanns Theorie von Moral und Ethik zu

3

Neben anderen normativen Strukturen wie Recht, Religion, Tradition etc. Vgl. Francot, Lyana/de Vries, Ubaldus: „Normativity in the Second Modernity“, in: Rechtstheorie 39 (2008), S. 477 ff.

4

Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung, Bd. 4, Opladen 1987, S. 37.

B EGEGNUNGEN

DER ANDEREN

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einem ungastlichen Ort für Kritik tout court zu machen, versteht der Beitrag diese Lücke als eine Einladung zu einem ‚Upgrade‘ und sucht sie mit Maßstäben für Kritik zu füllen, um so eine weitere Ebene der theoretischen Möglichkeiten in Luhmanns Ansatz auszuloten. Um die normative Sterilität der Systemtheorie zu durchbrechen und ihr kritisches Potenzial auszuschöpfen, bedarf es der Hilfe einer anderen Perspektive. Zu diesem Zweck werde ich mich auf das Werk von Zygmunt Bauman beziehen und seine Sicht von Moral und Ethik genauer ausleuchten (Teil 2). In seiner „Postmodernen Ethik“ weist Bauman die Möglichkeit eines universalen ethischen Codes zurück, der in einem festen ontologischen Fundament gründet. Bauman konstatiert stattdessen, dass unsere gegenwärtige Gesellschaft an einer ethischen Krise leidet.5 Diese Krise äußert sich jedoch nicht in einem Mangel an ethischen Regeln. Vielmehr findet sie ihren Ausdruck in dem Umstand, dass die vorhandenen ethischen Regeln in einer hochkomplexen, fragmentierten und differenzierten Gesellschaft keine Anleitung mehr bieten können. Diese Regeln wurden auf die moderne Gesellschaft ausgelegt, wurden von einer modernen intellektuellen Elite formuliert und der ‚noch nicht aufgeklärten‘ Masse aufgedrängt. Da wir nun vermeintlich emanzipiert sind und individuelle Freiheit als eines unserer größten Güter gehandelt wird, kann ein von oben aufgedrängter Komplex ethischer Regeln nur versagen, so Bauman. Wir sind nicht geneigt, ethische Autoritäten zu akzeptieren oder ihnen zu vertrauen, aber gleichzeitig bedürfen wir normativer Orientierung, um in der Lage zu sein, mit der Unsicherheit des gegenwärtigen Lebens fertig zu werden.6 Diese normativen Orientierungen sollen nun – in welcher Form und Gestalt auch immer sie erscheinen mögen – unsere individuelle Autonomie nicht beeinträchtigen, sondern sie sollen diese vor fremdbestimmten Regeln und Mechanismen bewahren, die für unsere Gesellschaft typisch sind.7 Und wenn individuelle Autonomie eine der geschätzten Leistungen der Moderne ist, dann sollte eine soziologische Kritik der gegenwärtigen Moral und Ethik diese individuelle Autonomie eben zum Maßstab der Kritik machen (Teil 3).

5

Bauman, Zygmunt: Postmodern Ethics, Oxford 1993.

6

Vgl. Heidbrink, Ludger: Handeln in der Ungewissheit – Paradoxien der Verantwor-

7

Vgl. A. Fischer-Lescano, „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in die-

tung, Berlin 2007. sem Band, S. 13 ff. (hier S. 36).

114 | F RANCOT -TIMMERMANS

1. M ORAL

UND

E THIK

ALS

K OMMUNIKATION

Mit Unsicherheit umzugehen verlangt nach Institutionen, Mechanismen und Leitbildern, die die Unsicherheit reduzieren oder sie zumindest handhabbar machen. In der einen Gesellschaftsformation kann dies ein Gott sein, in einer anderen der demokratische Rechtsstaat oder – eher typisch für unsere gegenwärtige Gesellschaft: der Krieg gegen den Terror, der Kampf für Menschenrechte, gegen die globale Erwärmung und so fort. Innerhalb dieses Bezugsrahmens kann man moderne politische und rechtliche Systeme als Methoden verstehen, um mit Unsicherheit umzugehen. Das Gleiche gilt für das moderne Verständnis von Moral und Ethik, soweit diese Prinzipien und Regeln formulieren, die unsere Entscheidungen lenken und dadurch unseren Handlungsspielraum einschränken. Luhmann dagegen offeriert eine andere Sicht von Moral und Ethik. Innerhalb der Systemtheorie verweisen Moral und Ethik nicht auf einen Charakterzug, eine bestimmte Überzeugung oder auf ein System von Normen und Regeln. Stattdessen werden Moral und Ethik verstanden als Kommunikation, die durch eine spezifische Differenz codiert ist. Moralische Kommunikation bezieht sich auf Kommunikation zwischen Ego und Alter und schließt daher Kommunikationen ein, die sich auf Effekte einer solchen Qualifikation auf die Psyche und das soziale Umfeld von Ego und Alter beziehen.8 Folgt man Luhmann, dann ist Moral: „[E]ine besondere Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Mißachtung mitführt. Dabei geht es nicht um gute oder schlechte Leistungen in spezifischen Hinsichten […] sondern um die ganze Person, soweit sie als Teilnehmer von Kommunikation geschätzt wird. Achtung oder Mißachtung wird typisch nur unter besonderen Bedingungen zuerkannt. Moral ist die jeweils gebrauchsfähige Gesamtheit solcher Bedingungen. Sie wird keineswegs laufend eingesetzt, sondern hat etwas leicht Pathologisches an sich. Nur wenn es brenzlich wird, hat man Anlaß, die Bedingungen anzudeuten oder gar explizit zu nennen, unter denen man andere bzw. sich selber achtet oder nicht achtet. Der Bereich der Moral wird hiermit empirisch eingegrenzt und nicht etwa als Anwendungsbereich bestimmter Normen und Regeln definiert.“

9

Achtung und Missachtung sind die beiden Werte, die den ‚moralischen Code‘ konstituieren und ihren positiven oder negativen Wert, oder – um es anders zu

8

Luhmann, Niklas: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 3, Frankfurt a.M. 1993, S. 361.

9

Ders.: Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 256 ff.

B EGEGNUNGEN

DER ANDEREN

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formulieren – das „Gute und Böse“, qualifizieren.10 Nicht nur innerhalb der Theorie sozialer Systeme ist dies ein plausibler Ausgangspunkt: ohne das Gute gibt es kein Böses, ohne das Böse kann das Gute nicht wahrgenommen werden. Der Gegensatz dieser beiden Werte trägt zur Konstituierung moralischer Kommunikation bei. In diesem Fall wird Unsicherheit damit begegnet, dass Kommunikation symmetrisch strukturiert wird: Wenn man in diese Art von Kommunikation eintritt, dann bringt das die (relative) Sicherheit mit, dass jeder die gleichen Bedingungen hat oder den gleichen Bedingungen unterliegt.11 Systemtheoretisch betrachtet stellt Ethik die Reflexionstheorie der Moral dar. In dieser Perspektive besteht Ethik nicht in einer Theorie, die versucht, die Grundlagen der Moral auszuarbeiten oder aufzudecken, vielmehr „arbeitet“ Ethik mit der Moral, wie sie „ist“.12 Folgt man Luhmann, dann ist Ethik eine kognitive Beschreibung, die moralische Probleme betrifft und versucht, diese Probleme zu reflektieren.13 Die Unterscheidung zwischen Moral und Ethik ist eine evolutionäre Errungenschaft, zu der es kommt, wenn eine Gesellschaft hinreichend komplex geworden ist; im Grunde also, wenn die Grenzen sozialer Kontrolle durch die schiere Anzahl möglicher sozialer Beziehungen aufgebrochen werden. Soziale Komplexität ist hier in erster Linie quantitativer Natur. Sobald Kommunikation nicht mehr länger durch die Grenzen der Face-to-FaceBeziehung begrenzt wird, wird es möglich, individuelle Beziehungen mit jedermann überall zu haben.14 Um die Kontinuität oder mehr noch die Existenz von Moral zu sichern, fasst eine komplexe (moderne!) Gesellschaft ihre Moral in eine Semantik – eine Ethik –, die Moral in Regeln konsolidiert. Mit Blick auf die fortwährende Existenz von Moral ist die Entwicklung einer solchen Semantik besonders wichtig, um Moral auch im Licht der Abwesenheit formaler Organisationen abzusichern. Luhmanns Perspektive ist hierbei instruktiv, denn sie erlaubt es, Moral und Ethik zu lokalisieren: Beide existieren in der Kommunikation zwischen Ego und Alter und residieren deshalb nicht in Ego oder Alter selbst. Ihr Geist und ihre Seele bleiben einander verschlossen. Moral und Ethik werden verstanden als

10 Vgl. Luhmann, Niklas: „The Sociology of the Moral and Ethics“, in: International Sociology 11/1 (March 1996), S. 30 f. 11 Ders. (Fn. 9), S. 276 f. 12 Ders. (Fn. 8), S. 360. 13 Ebd., S. 361; hier heißt es: „Wir verstehen unter Ethik deshalb eine Reflexionstheorie der Moral, das heißt: jede kognitive Beschreibung, die sich auf die Probleme der Moral einläßt und sie zu reflektieren versucht.“ 14 Und dies wird durch technologische Entwicklungen wie das Internet noch verschärft.

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kommunikative Prozesse, die dazu beitragen, dass Gesellschaft mit Unsicherheit umgehen kann, indem sie Kommunikation um die Anerkennung und Nichtanerkennung von Werten strukturiert. So können wir bis zu einem gewissen Maß wissen, was erwartet wird.15 Allerdings folgt aus dem Gesagten nicht, dass Luhmann Moral als ein soziales System versteht, oder genauer: als ein Funktionssystem in einer ausdifferenzierten Gesellschaft. Moral erfüllt keine spezifische Funktion, wie etwa die Teilsysteme Recht, Wirtschaft, Politik und so fort. Im Gegenteil: Moral ist unspezifisch und nimmt eine Funktion an, wo immer und wann immer Teilsysteme ihr eine Funktion zuschreiben. Innerhalb der Theorie der Gesellschaft kommt Moral ein Status aparte zu: „Moral ist eine gesellschaftsweit zirkulierende Kommunikationsweise. Sie läßt sich nicht als Teilsystem ausdifferenzieren [...] Durch Ausdifferenzierung eines Normbezugs entsteht ein Rechtssystem, kein Moralsystem. [...] da fluide Moral dort ankristallisiert, wo Funktionssysteme ihm eine Funktion geben können.“

16

Das liegt daran, dass die Performanz der Moral in der Gesellschaft tief verwurzelt ist: „sie ist zu sehr mit den Prozessen der Bildung sozialer Systeme verquickt, als daß sie einem Sozialsystem zur besonderen Pflege übertragen werden könnte.“17 Folglich ist Moral kein Funktionssystem, sondern, so der Vorschlag Luhmanns, sie muss als eine Struktur sozialer Systeme verstanden werden.18 Die Tatsache, dass Moral kein gesellschaftliches Teilsystem ist, stellt eine Herausforderung für ihre Reflexionstheorie dar. Eine Reflexionstheorie, wie etwa die Rechtstheorie, macht sich gewöhnlich einen systemischen Bezug zu eigen, findet ihren Halt in den Grenzen des funktionalen Systems – wobei sie die Einheit des Systems und die Beziehungen zu ihrer Umwelt reflektiert. Luhmann geht dieses Problem an, indem er annimmt, dass eine Reflexionstheorie der Moral nur auf Grundlage einer Theorie der Gesellschaft möglich ist.19 Folgt man der Interpretation von Reese-Schäfer, dann sind die Grenzen der Moral keine systemischen Grenzen, sondern Grenzen, die von der Theorie der Gesellschaft gesetzt

15 Obwohl Moral und Ethik kommunikative Prozesse sind, die für die Gesellschaft eine Funktion erfüllen, nämlich die Reduktion von Komplexität und Kontingenz, sind beide doch keine sozialen Systeme, siehe etwa: N. Luhmann (Fn. 8), S. 433 ff. 16 Ebd., S. 433 ff. 17 Ders. (Fn. 9), S. 154. 18 Ebd., S. 97. 19 Ebd., S. 336.

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werden.20 Dies deutet an, dass Ethik, egal welches andere moralische Thema sie behandelt, die Grenzen von Moral reflektiert, die nicht von der Moral selbst gegeben sind, ihr aber von der Gesellschaft auferlegt wurden. Dies wirft also ein Licht auf die Funktion von Ethik, wie sie von Luhmann theoretisch angedacht wird. Moderne Ethik oder, wenn man so will, der traditionelle Ansatz verstand seine Funktion darin, die Grundlagen von Moral zu untersuchen und zu formulieren; folgt man nun aber Luhmann, so kann dies nicht länger die Funktion von Ethik in unserer modernen Gesellschaft sein.21 In der Tat schlägt Luhmann eine andere, eher unorthodoxe Funktion von Ethik vor. Als Reflexionstheorie der Moral muss Ethik die Reichweite und das Spielfeld von Moral bestimmen und begrenzen, wobei sie Möglichkeiten eröffnet, sich von Moral zurückzuziehen;22 oder, in Luhmanns provokativeren Worten, Ethik sollte vor Moral warnen und von einer moralischen Wertung derselben Abstand nehmen.23 Insgesamt führt dies zu einer soziologischen Beschreibung von Moral und Ethik. Das weicht von den traditionellen Ansätzen von Moral und Ethik als Systemen von Normen und Regeln ab und bietet eine deskriptive, keine normative Theorie von Moral und Ethik, die zum Standpunkt oder zur Einschätzung führt, dass eine universelle, fundamentalistische Moral weder möglich ist noch die gegenwärtige Gesellschaft vereint oder integriert.24

2. D IE H ETERONOMIE ALS A UTONOMIE

MODERNER

E THIK

VS .

M ORAL

Für Luhmann sind Moral und Ethik kommunikative Strukturen. Eine Kritik an den Leistungen von Moral und Ethik unter den Bedingungen einer sich ständig wandelnden Sozialstruktur kann in dieser beobachtenden Perspektive aber nicht entwickelt werden – anders die Denkform von Zygmunt Bauman, dessen sozio-

20 Reese-Schäfer, Walter: Grenzgötter der Moral, Frankfurt a.M. 1997, paraphrase, S. 569. 21 N. Luhmann (Fn. 9), etwa S. 281. 22 Ebd., S. 272. 23 Ebd., S. 266. 24 Allerdings ruft Moral Konflikte hervor und ist im Kern polemisch. Dies ist der Fall, weil die Kommunikation von Anerkennung und Nicht-Anerkennung die gesamte Person betrifft und nicht nur seine oder ihre Rolle, Position oder Funktion. Vgl. N. Luhmann (Fn. 9), S. 257.

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logische Analyse von Moral und Ethik in einer kritischen Einschätzung mündet.25 Luhmann und Bauman teilen eine profunde Ablehnung der Möglichkeit einer universellen Moral und Ethik, wenn auch auf unterschiedlicher Grundlage und aus unterschiedlichen Gründen. In Luhmanns Perspektive ist Moral dazu verdammt, bei der Integration und Vereinigung unserer Gesellschaft zu versagen, da sie eine polemische Natur aufweist. Bauman weist eine solche Möglichkeit mit Blick auf eine spezifische Interpretation von Moral und Ethik zurück, die in der Moderne Anklang fand und Ethik als eine Reihe von Regeln verstand, die rational begründet sein können und sollten und die alsbald zu universeller Geltung kommen würden. Bauman analysiert in Postmodern Ethics26 explizit den Zustand der gegenwärtigen Ethik, die er in der postmodernen Ära verortet. In seinen jüngeren Arbeiten gibt Bauman die Verwendung des Konzepts der Postmoderne auf und wendet sich stattdessen der Idee der „liquidity“ zu, die unsere Zeit nicht länger mit Begriffen der Postmoderne umschreibt, sondern als eine Phase der ‚flüssigen‘ Moderne betrachtet.27 Dies impliziert eine Kontinuität anstelle eines klaren Bruchs mit der Vergangenheit, die festgefügt war und in der die Gesellschaft Sicherheit und Verlässlichkeit bot – oder zumindest vorgab, dies auf der Basis eines vereinbarten ethischen Codes, der aber eigentlich auferlegt war, zu tun. Dieser terminologische Wandel und die Idee einer Kontinuität sozialer Entwicklung mindert aber Baumans démasqué fester Modernität in keiner Weise. Sein Ausgangspunkt bleibt ein sehr kritisches Argument gegen die sogenannten Leistungen der Moderne und ihre sozialen Konstrukte. Die feste Moderne war darauf angelegt, das Individuum zu emanzipieren, von Traditionen loszubrechen und von allem, was Fortschritt hindert oder verlangsamt, wie etwa Religion, freizumachen. Aber bei der Befreiung des Individuums von seinen alten Ketten ersetzte die Moderne diese durch eine andere Form der Rigidität. Diese moderne Rigidität propagiert individuelle Freiheit, bietet aber tatsächlich wenig Raum für Optionen und Wahlmöglichkeiten, wenn man nicht gerade Mitglied der intellektuellen Elite war. Folgt man Bauman, dann beinhaltet Modernität die Formierung von Normen, sowohl ethischer als auch rechtlicher Art, die Freiheit einschränken unter dem Vorwand, sie zu gewähren. Moderne Ethik geht mit Freiheit um, indem sie Konformität von oben fordert und deshalb Regeln und Codes

25 Allerdings behauptet Matthias Junge, dass Bauman dieses Ziel verfehlt; vgl. Junge, Matthias: „Zymunt Bauman’s poisoned gift of morality“, in: British Journal of Sociology 52/1 (2001), S. 105 ff. 26 Bauman, Zygmunt: Postmodern Ethics, Oxford 1993. 27 Ders.: Liquid Modernity, Cambridge 2000.

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auferlegt, die auf eine perfekte soziale Ordnung abzielen. Von der Vernunft wurde behauptet, sie sei universal, anzuwenden auf jeden überall und zu jeder Zeit, basierend auf einem objektiven Grund. Und Vernunft wurde präsentiert als abgekoppelt von unzuverlässigen Ideen wie moralischen Impulsen und Gefühlen; sie garantiere objektive, erkennbare und verlässliche Prinzipien, gefasst in einem universalen, fundamentalistischen ethischen Code.28 Baumans Einwand gegen einen solchen ethischen Code ist nicht primär die Tatsache, dass dieser Code dazu verurteilt war zu scheitern, sondern vielmehr, dass er unsere moralische Autonomie verneint und Regeln unterwirft, in der Tat, dass er unser tiefstes Selbst versklavt. Moderne Ethik ersetzte Autonomie durch Fremdbestimmung und moralische Verantwortung durch ethische Pflicht. Im Kern negierte die moderne Moral die Wahlfreiheit, eine Ethik zu wählen, die durch das eigene Leben führt. Der moderne ethische Code ist obligatorisch und in keiner Weise optional. Trotz oder vielleicht gerade wegen dieses verpflichtenden Aspekts war und ist moderne Ethik allerdings auch attraktiv. Die Anziehungskraft moderner Ethik liegt in der Sicherheit, die solch ein ethischer Code verspricht: Regeln, die uns sagen, wie wir uns entscheiden sollen, wie wir tun sollen, was gut ist, und was wir von anderen zu erwarten haben; das Ganze im Glauben an die Freiheit. Es macht Leben, „gelebt in der Verfolgung von Eigeninteresse”, komfortabel im Wissen um die Unterscheidung von richtig und falsch.29 Aber der Preis ist der Verlust unserer Autonomie und eine Distanz zwischen uns und den anderen.30 Der Zusammenbruch der Möglichkeit einer modernen Ethik impliziert aber nicht, folgt man Bauman, dass wir jetzt frei sind, unser Leben von Grund auf autonom zu gestalten – wir sind und bleiben von unserer sozialen Umwelt abhängig. Das bedeutet allerdings, dass es kein vorgefertigtes und fixes Gerüst gibt, dass unsere Identität als Einheit ‚natürlich‘ vorkonstituiert, wie es etwa im Fall eines Katholiken oder Sozialisten zu sein scheint. Stattdessen wird die gesamte Welt zu unserem Bezugsrahmen und überlässt die Konstruktion unserer (Teil-) Identitäten uns selbst – „endemisch und unheilbar unbestimmt”.31 Spezifischer sagt Bauman, dass wir mit moralischer Unsicherheit und Zweideutigkeit leben müssen, wenn sich alles ständig wandelt, ohne die Sicherheit zu haben, zu wissen, was gut und schlecht ist. Und Gesellschaft, flüssig wie sie nun einmal ist, stellt wenig oder keine Ankerpunkte bereit. Dies verhält sich so, weil wir nicht in

28 Ders. (Fn. 26), S. 66 ff. 29 Ebd., S. 78. 30 Ebd., S. 83. 31 Ebd.

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der Lage sind, die Konsequenzen unserer Handlungen abzusehen, sowohl trotz als auch wegen der generellen Rationalisierung wie auch wissenschaftlicher und technologischer Entwicklungen. Dieser Mangel an Voraussicht führt auch zu einem faktischen Bruch der Kausalität: Es gibt eine solche zeitliche und/oder räumliche Distanz zwischen Handlung und Konsequenz, zwischen Ursache und Wirkung, dass es zunehmend schwierig wird zu bestimmen, wer was, wann, wie und in welchem Maß getan hat. Kausalität ist bis an ihre Grenzen gespannt oder eben völlig gebrochen. Dies wird noch verstärkt durch die Fragmentierung des Individuums in Rollen, Funktionen, Spezialisierungen, die alle mit unterschiedlichen Regeln verbunden und oft miteinander unvereinbar sind. Beide, der Bruch linearer Handlungskausalität und die Fragmentierung des Individuums, kulminieren im Problem der ‚frei schwebenden‘ Verantwortung: „The guilt is spread so thinly that even a most zealous and sincere self-scrutiny or repentance of any of the partial actors’ will change little, if at all, in the final state of affairs. For many of us, quite naturally, this futility breeds belief in the ‚vanity of human efforts‘ and this seems to be good enough reason not to engage in self-scrutiny and account-settling at all.“32

In diesem recht bedauernswerten Zustand ethischer Angelegenheiten bleibt allerdings ein Anker, wenn auch ein ambivalenter: unser moralischer Impuls. Bauman führt dies auf die Tatsache zurück, dass Menschen weder essentiell gut oder böse, sondern moralisch ambivalent sind.33 Obwohl alle Menschen gleichermaßen mit Autonomie ausgestattet sind und obwohl dies eigentlich eine universelle Moral impliziert, ist es nicht Baumans Ziel, eine universelle postmoderne oder ‚flüssige‘ Ethik auf der Basis dieses universell geteilten Aspekts zu formulieren. Er entwickelt keine universellen Regeln; er verweist nicht einmal auf eine Pflicht, Verantwortung zu übernehmen. Es ist für ihn die autonome, ureigene Wahl des Individuums, Verantwortung zu übernehmen oder davon Abstand zu nehmen. Dies kann keine auferlegte Pflicht oder Verpflichtung sein: Verantwortung muss freiwillig getragen werden oder gar nicht, getragen vom moralischen Impuls, dies zu tun oder eben nicht. Moral ist eine vertrackte tägliche Praxis und keine ordentliche Theorie. Die Grundlage dieser vertrackten moralischen Praxis findet sich in den von Bauman

32 Ders. (Fn. 26), S. 18 f. Baumans Studie bezieht sich stark auf das Werk von Levinas. Für einen interessanten Ansatz zur Verantwortlichkeit siehe Veitch, Scott: Law and Irresponsibility – On the legitimation of human suffering, New York 2007. 33 Z. Bauman (Fn. 26), S. 10.

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gekennzeichneten Quellen der Moral: Moral ruht nicht in Vernunft, sondern ist zutiefst und unleugbar in unserem Wesen verankert. Sie ist ein charakteristischer Teil unseres innersten Wesens und ‚existiert‘ vor unserer Sozialität.34 In Baumans Perspektive entsteht Moral nicht in und durch unsere Interaktionen, nicht in uns dadurch, dass wir mit anderen sind; dennoch ist sie die notwendige Bedingung, die Interaktion erst ermöglicht. Wir müssen für den anderen da sein, ohne gefragt zu werden und ohne etwas im Gegenzug zu erwarten. Wir tun dies, indem wir Verantwortung für den anderen übernehmen.35 Diese Verantwortung, bereits bestehend und vorbehaltlos, konstituiert uns als moralische Personen, ja als autonome Individuen. Der Preis für diesen Zugewinn ist beachtlich: Verantwortung in dieser Art zu übernehmen, ist mit immenser Unsicherheit verbunden. Diese Verantwortung ist keine, die vergeben wird oder nach der gefragt wurde. Als Ergebnis können wir nicht wissen, ob unsere entsprechenden Handlungen gut oder schlecht sind. Es gibt keine Regeln und Prinzipien, die dies sicherstellen könnten oder die erlauben würden Handlungen, nach gut und böse zu bewerten – so wie dies in Fremdbestimmung immer der Fall wäre. Unsere eigene Verantwortung, der absolute Urgrund unserer Sozialität, und nichts anderes ist der Maßstab für das, was wir tun oder nicht tun. In unserer Moral sind wir Individuen; wir sind wahrlich und gänzlich alleine und uns selbst überlassen: „At the heart of sociality is the loneliness of the moral person.“36 Nichtsdestotrotz porträtiert Bauman diese Einsamkeit als conditio sine qua non der Nähe zwischen Menschen. Es ist die Verpflichtung in Einsamkeit, die uns näher an den anderen heranrückt: Der andere nimmt eine zentrale Position ein im Prozess, durch den wir zum moralischen Selbst werden, indem wir individuelle Autonomie erlangen. Die moralische ‚Beziehung‘ ist grundlegend asymmetrisch; man handelt zugunsten eines anderen, der dies nicht weiß und nicht danach fragt. Aber genau diese Einseitigkeit und nicht Wechselseitigkeit macht uns frei; nicht frei von Zwängen, sondern frei, unserem moralischen Impuls zu folgen. Und es ist genau diese Freiheit, die von der modernen Ethik beschnitten wurde. Baumans Hauptannahme ist, dass die Moderne nach einer universellen, objektiv fundierten Ethik strebt; durch das Scheitern, eine solche bereitzustellen, entsteht eine Krise, die sich noch verstärkt durch strukturelle Veränderungen, die in der Tat zum Großteil das Resultat moderner Bemühungen sind, die westliche Gesellschaft zu emanzipieren. Wenn man diesen Ausgangspunkt nicht teilt, mag

34 Vgl. ebd., S. 72 ff. 35 Ebd., S. 74. 36 Ebd., S. 61.

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die ethische Krise andere Formen annehmen, aus anderen Quellen herrühren oder aber gar nicht existieren oder betrachtet werden als unerledigte Sympathie mit dem emanzipierten Individuum. Dies mag nun sein, wie es will, die Gesellschaft hat sich verändert und verändert sich weiter mit hoher Geschwindigkeit. Als Folge ändern sich die Bedingungen von Ethik ebenfalls fundamental. Es genügt, an die hohe Geschwindigkeit zu denken, mit der Informationen durch das Internet verbreitet werden, oder an industrielle und technologische Leistungen, welche die Kette linearer Kausalität brechen und die folgende Abgrenzung eindeutiger Verantwortlichkeiten erschweren. Verkürzt läuft dies auf das hinaus, was Bauman als „technological disassembly of the moral self“ bezeichnet.37 Wie gesagt, hat Modernisierung eine Arbeitsteilung und Spezialisierung mit sich gebracht, die einhergeht mit der Differenzierung von Normkomplexen, welche die Ausübung einer bestimmten Rolle unterstützen. Recht häufig konkurrieren diese Normkomplexe miteinander und tragen zur modernen Fragmentierung des Selbst bei.38 Wenn überhaupt, dann gibt es eher ein Übermaß an Normen und Regeln, die miteinander konkurrieren und kollidieren. Dieser Zustand der Dinge intensiviert unsere Erfahrung von Unsicherheit: Welcher Normkomplex ist relevant und welcher der relevanten Komplexe hat Vorrang und setzt sich durch? Wenn es tatsächlich jemals etwas gegeben haben sollte wie einen universellen modernen ethischen Code, so scheint dieser den zentrifugalen Kräften der Modernisierung, der Differenzierung der Gesellschaft und der Fragmentierung des Individuums in Rollen nicht gewachsen zu sein. Es ist die Vielzahl normativer Komplexe, welche die Mängel eines modernen ethischen Codes aufzeigen und uns mit einem ethischen Defizit zurücklassen: der Mangel irgendeiner Art von Einheit in dieser Pluralität, die unsere Autonomie ausdrücken kann, anstatt sie durch eine Vielzahl von fremdbestimmten Regeln in Stücke zu reißen. Ich schlage allerdings nicht vor, dass die Hinwendung zu einer anderen, neuen einheitlichen Ethik notwendig oder möglich ist, geschweige denn glaube ich, dass sie überhaupt wünschenswert erscheint. Aber das oben genannte zeigt, dass moderne Ethik nicht länger in der Lage ist, zur Reduzierung von Unsicherheit in der gegenwärtigen Gesellschaft beizutragen. Wenn überhaupt, dann scheint moderne Ethik unsere Erfahrung von Unsicherheit stark zu vermehren. Für Bauman bezeichnet Moral eine Form der individuellen Autonomie, verstanden als moralischer Impuls, Verantwortung zu übernehmen. Moral ist ein vorsozialer Impuls, der bei Menschen anfällt und die ‚moral party of two‘ nicht

37 Ebd., S. 195 ff. 38 Ebd.

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übersteigt.39 Es ist offensichtlich, dass Baumans Verständnis sich in erster Linie auf den Prozess bezieht, der „within the black box“ stattfindet, in den Abgründen von Geist und Seele des Einzelnen. Folglich gehört die Baumansche Moral zur Umwelt der Gesellschaft – außerhalb der Gesellschaft. Gesellschaft existiert nicht in oder durch eine einseitige Beziehungsmoral zwischen mir und dem anderen, sondern „begins with the Third“.40 Genau an diesem Punkt ist es nun aber notwendig, Bauman zu hinterfragen und zu Luhmann zurückzukehren. Der moralische Impuls verstanden als Verantwortungsübernahme ist ein Ausgangspunkt, aber nicht das Ende von Moral. Obwohl Moral eine vollständig individuelle Sache ist, hat sie doch unzweifelhaft soziale Effekte im Sinne von Gewinnen und Verlusten, wenn sie denn kommuniziert wird. Mehr noch, nur wenn Moral kommuniziert wird, gewinnt sie auch soziale Relevanz. Die Dualität von Individualität und Sozialität kann nicht überwunden werden. In der Tat ist dies eine Dualität, die für Gesellschaft konstitutiv ist. Genau an diesem Punkt bleibt Baumans Verständnis mangelhaft und nicht zufriedenstellend. Moral mag sehr wohl die ultimative persönliche Sphäre sein, aber wir wollen und müssen dennoch miteinander leben: für einander, aber auch miteinander. Das Erste impliziert das Zweite, weil Moral nur in Beziehung zu anderen Relevanz und Sinn gewinnt. Baumans Verständnis von Moral versucht Nähe zu konstituieren. Genau hier begrenzt Bauman die prinzipiell unbegrenzte Verantwortung: Wir können uns nur um die uns nahen kümmern, um den anderen, der die „moral party of two“ vervollständigt. Aber Distanz, nicht nur als räumliche Beschreibung, sondern in jeder Schattierung des Worts, ist in unserer technologischen Gesellschaft unvermeidlich: Wir treten mit anderen in ‚Verbindung‘, die nicht in unserer unmittelbaren Nähe sind, durch Mobiltelefone, Email, Facebook, LinkedIn, Twitter, etc. und indirekt auch durch unsere Handlungen, von denen wir (nun) wissen, dass sie uns unbekannte andere betreffen. Bauman zielt auf eine Moral ohne Ethik, ein Verständnis von Moral als ein a priori zur Gesellschaft. Als Folge argumentiere ich, dass dieses Verständnis eine postmoderne oder flüssige Ethik konstituiert – eine solche ohne Regeln und eine, die keine Grundlagen für Moral formuliert. Bemerkenswerterweise setzt Bauman ein strenges Verständnis von ‚Ethik als Gesetz‘ an: Ethik, die Regeln formuliert, wie es der moderne ethische Code tat. In diesem Sinn versucht Bauman, nicht eine postmoderne Ethik zu formulieren, sondern ein postmodernes Verständnis

39 Ebd., S. 82 ff. 40 Ebd., S. 112.

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von Moral.41 Und dieses Verständnis von Moral konzentriert sich auf den moralischen Impuls als eine einseitige Beziehung, einen inner-individuellen Zustand, ohne auszubreiten, wie diese a priori Moral in einer moralischen Gemeinschaft Nachhall findet.

3. K RITISCHE B EGEGNUNGEN : H IN ZU EINER SOZIOLOGISCHEN K RITIK UND E THIK

VON

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Bauman arbeitet so ein kritisches Verständnis moderner Ethik und folglich moderner Moral aus. Seine zentrale kritische Aussage legt die Fremdbestimmung des modernen ethischen Codes offen42 und rekonstruiert ein Verständnis von Moral als unbegrenzter Verantwortung, die uns als autonome Individuen konstituiert, die aber durch uns auferlegte ethische Regeln bedroht ist. Bauman behauptet nicht, dass der gegenwärtige Zustand normativer Unsicherheit aus einem Mangel an Ethik folgt, sondern eher aus der Existenz wettstreitender Ethiken, jede gebunden an unterschiedliche Rollen und Funktionen, die wir ausfüllen; dies beinhaltet konfligierende Pflichten, die unsere Autonomie zerstückeln. Oder, um es anders zu fassen, der Kern der Kritik liegt in der Zurückweisung fremdbestimmter ethischer Regeln, die unsere moralische Autonomie unterjochen. Während also Luhmann die Unmöglichkeit einer universalen fundamentalistischen Ethik, aber nicht von Ethik an sich beobachtet, geht Bauman einen Schritt weiter und behauptet, dass eine solche Art von Ethik nicht wünschenswert ist. An dieser Stelle findet sich, was Luhmann nicht bereitstellen kann: eine Norm für Kritik. Moral und Ethik sollen – mindestens – individuelle Autonomie nicht bedrohen oder limitieren. Es war nicht Luhmanns Ziel, Gesellschaft zu verbessern oder eine kritische Theorie der Gesellschaft zu formulieren. Er strebte nach einer Form der Selbstaufklärung, der Schulung der Selbstbeobachtung der Gesellschaft durch seinen Beitrag zur Theorie sozialer Systeme. Die Systemtheorie stellt ein hochabstraktes und elaboriertes Instrumentarium bereit, um Gesellschaft zu beobachten und zu beschreiben, aber soweit es kritisches Potenzial in Luhmanns Ansatz gibt, zielt die Kritik auf andere Theorien der Gesellschaft.43 Diese ‚normative Neutralität‘, die charakterisiert, was mit ‚klassischer‘ Theorie sozialer Systeme ange-

41 Vgl. ebd., S. 34. 42 Code meint hier ein Bündel von Regeln. 43 Vgl. Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 4, Opladen 1987, S. 37.

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deutet werden kann, mag eine gerechtfertigte Haltung sein. Kann man aber wirklich an der Schwelle von Beobachtung und Beschreibung stehen bleiben, ohne die Ergebnisse normativ zu qualifizieren? Da Gesellschaft sich stetig weiter entwickelt, kann – erstens – als selbstverständlich oder doch als notwendig angenommen werden, dass Sozialtheorie das Gleiche tut, in erster Linie, um der sich immer vergrößernden Komplexität von Gesellschaft gerecht zu werden. Zweitens deckt eine verbesserte Beobachtung und Beschreibung nicht nur Krisen und Paradoxien auf, sie sollte auch in der Lage sein, den Bedarf und die Notwendigkeit von Wandel zu diagnostizieren und sich an der Frage nach dessen Ausrichtung beteiligen. Dies braucht, wie bereits gesagt, eine Norm als Maßstab der Kritik. Es muss eine Norm sein, die berücksichtigt, dass Kritik immanent ist – sie wird formuliert aus einer Position innerhalb der Gesellschaft und kann nichts anderes sein als partiell in ihrer Perspektive und ihrem Ziel. Schließlich ist auch eine Verlagerung oder besser eine Neuorientierung des Fokus angebracht. Während die ‚klassische‘ Theorie sozialer Systeme sich primär mit der Beobachtung und Beschreibung sozialer Systeme befasst, sollte nun auch der Umwelt dieser Systeme (im weitesten Sinn) Aufmerksamkeit zukommen. Dies ist ein bisher wenig beachteter Bereich, in dem das Potenzial eines kritischen Ansatzes zur Geltung kommen kann. Es ist Zeit, den ausschließlichen Akzent auf die operative Geschlossenheit sozialer Systeme aufzuweichen und die theoretischen Errungenschaften zur operativen Geschlossenheit mit einer intensiven Wendung zur Offenheit von Systemen zu ergänzen.44 Dies erlaubt es allerdings nicht, zu schlussfolgern, dass Luhmanns Theorie der Gesellschaft nichts zu bieten hat, sondern schlägt vor, die klassische Version zu transzendieren, weil die gegenwärtige Komplexität und ihre Manifestation in normativer Unsicherheit einen kritischen Ansatz braucht, der zu den Entwicklungen unserer Weltgesellschaft passt. Luhmanns Theorie ist, wie bereits gesagt, recht steril, wenn es darum geht, Gesellschaftskritik zu äußern; es ist deshalb unumgänglich, Ideen und Konzepte anderer theoretischer Ansätze einzuführen.45

44 Vgl. Philippopoulos-Mihalopoulos, Andreas: „Critical Autopoiesis – The Environment of the Law“, in: Ubaldus de Vries/Lyana Francot (Hg.), Law’s Environment-Critical Legal Perspectives, The Hague 2011, S. 45 ff. Solch eine Re-Fokussierung lädt also dazu ein, die Position des Individuums in seinem Verhältnis zu den sozialen Systemen neu zu überdenken oder erneut zu bestätigen. Es ist hier nicht möglich, sich allen oben genannten Aspekten zu widmen. 45 Obwohl das Vorangegangene die generelle Notwendigkeit bezeichnet, eine Kritische Theorie sozialer Systeme zu entwickeln, bleibt das Projekt selbst doch eine Frage der Arbeitsteilung oder, wenn man denn so will, der Differenzierung. Kritik innerhalb ei-

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Ich schlage daher vor, zu versuchen, Normativität in Luhmanns Ansatz einzuführen, indem Baumans Verständnis von Moral und Ethik mit Luhmanns Beobachtung und Beschreibung dieser Strukturen verknüpft wird. Da Luhmann und Bauman die Ablehnung einer universalen und fundierten Moral und Ethik teilen, kann dies zu einem fruchtbaren Zusammenspiel führen, zu verbesserter Beobachtung (Luhmann) und kritischer Beschreibung (Bauman). Darüber hinaus gibt es weitere Gemeinsamkeiten: Bei beiden kreist das Verständnis von Moral und Ethik um die individuelle Ebene, wenn auch in unterschiedlichen Weisen. Bei Luhmann ist die primäre Domäne von Moral und Ethik in der Interaktion zwischen Alter und Ego konstituiert. Bauman versteht Moral als das konstituierende Element der Autonomie eines Individuums: Moral entfalt ihre Autonomie konstituierende Kraft, bevor sie in der Interaktion manifest wird. In beiden Fällen ist Moral als ein a priori zur Gesellschaft gedacht: Gesellschaft ermöglicht oder erleichtert Moral nicht – wenn überhaupt, dann verhalten sich die Dinge umgekehrt.46 Für den angestrebten Zweck noch wichtiger als ein gemeinsames Fundament und eine geteilte Perspektive ist die Differenz zwischen Luhmanns und Baumans Verständnis von Moral und Ethik, wenn es um die Vorzüge und Schwächen geht. Ich beschränke mich hier auf das kritische Potenzial, das Bauman anzubieten hat und das Luhmann fehlt. Herauszustellen ist in diesem Fall Baumans Maßstab für Kritik: Individuelle Autonomie verbunden mit der Fähigkeit und Möglichkeit, Verantwortung für andere zu übernehmen – oder nicht. Mein Vorschlag ist, Autonomie, verstanden in Baumans Sinn, wieder in Luhmanns Verständnis von Moral und Ethik als Kommunikation einzuführen. Das Konzept der Autonomie per se ist Luhmann natürlich nicht fremd, aber er bezog sich immer auf operative Autonomie – die operative Geschlossenheit eines Systems – und weniger auf die Autonomie einer individuellen Person. Aber um das kritischemanzipatorische Potenzial der Theorie sozialer Systeme zu entfesseln, reicht es nicht länger aus, Autonomie als eine operative Kategorie zu verstehen; sie muss neu gedacht werden als eine moralisch/ethische Autonomie oder vielleicht mehr noch als ein normatives Konzept in systemtheoretischen Begriffen. Das ‚Sollen‘ in das ‚Sein‘ wiedereinzuführen, denn das ist, worum es hier geht, bedarf natürlich ausgiebiger Überlegung. An diesem Punkt kann ich nur auf einige wenige Punkte eingehen, die im Zuge dieses Unternehmens relevant werden könnten, sozusagen als eine erste Reiseroute auf dem Weg zu einer soziologischen Kritik von Moral und Ethik.

nes systemtheoretischen Rahmens ist nicht nur immanent, sondern auch immer partiell, wie bereits angemerkt wurde. 46 N. Luhmann (Fn. 8), S. 439; ders. (Fn. 9), S. 340.

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Diese Route bezieht sich auf die vorgeschlagene Wendung bzw. den Wandel im Bezug auf die Umwelt sozialer Systeme. Der Ort von Baumans Idee sozialer Autonomie ist, um es so zu sagen, nicht schon innerhalb der Gesellschaft zu finden, vielmehr gehört individuelle Autonomie zur (außergesellschaftlichen) Umwelt. Sie ist vorsozial im strengen Sinn und bezieht sich auf eine Qualität, die alle Menschen teilen. Menschen können nicht in die sozialen Systeme wiedereingeführt werden,47 da die fundamentale Differenz von sozialem System und Menschen unaufhebbar ist. Menschen sind nicht Teil der Gesellschaftsstrukturen. Da Menschen nicht als ein Element oder Teil von Gesellschaftsstrukturen gedacht werden können, bleibt individuelle Autonomie als solche ein Teil der gesellschaftlichen Umwelt. Sie erscheint als ein moralischer Impuls, der den Menschen drängt, Verantwortung für den anderen zu übernehmen. Auch wenn es sinnvoll sein mag, den moralischen Impuls von Menschen in der Umwelt und nicht innerhalb der Gesellschaft zu verorten, so führt dies doch zu einem Fremdbezug der Substanz individueller Autonomie, der sie zu einer gänzlich einseitigen Affäre ohne jede Reziprozität macht: eine Moral des Einzelnen. Wenn sie nicht irgendwie kommuniziert wird, bleibt sie eine solche. Aber dann bleibt sie auch ohne Effekt, was gut oder schlecht sein mag: sie gewinnt keinerlei soziale Relevanz. Verantwortung zu übernehmen – auf Grund unserer individuellen Autonomie zu handeln – ist eine kontingente Entscheidung; wir mögen sie treffen oder auch nicht. Aber wenn wir entsprechend handeln (kommunizieren!), dann gewinnt unsere individuelle Autonomie soziale Relevanz und betritt den Bereich der sozialen Systeme. Moral zu kommunizieren, konstituiert unvermeidlich eine bilaterale oder zweiseitige Beziehung zwischen Ego und Alter. Hier spricht Moral als Kommunikation ‚die ganze Person‘48 an und man könnte sich den re-entry individueller Autonomie in die moralische Kommunikation vorstellen, indem man sie einer Person zuschreibt, nicht einem Menschen, sondern dem sozialen Konstrukt des Menschen. Individuelle Autonomie wäre dann das ökologische Backup der beachteten und missachteten Werte des Codes. Kommunikation, die nach Beachten und Missachten strukturiert ist, würde sich so auf das Beachten und Missachten individueller Autonomie beziehen. Dies formuliert, so meine ich, eine Moral, die nicht für eine normative Integration von Gesellschaft optiert,

47 Vgl. auch A. Fischer-Lescano (Fn. 7), S. 17 ff. Für eine andere Perspektive zur Position von Menschen in sozialen Systemen siehe Fuchs, Christian/Hofkirchner, Wolfgang: „Autopoiesis and Critical Social Systems Theory“, in: Rodrigo Magalhães/Ron Sanchez (Hg.): Autopoiesis in Organization Theory and Practice, Emerald 2009, S. 111 ff. 48 Vgl. A. Fischer-Lescano (Fn. 7).

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sondern die anzeigt, welche Norm sich in der moralischen Kommunikation durchsetzen soll. Dieser Ansatz von Moral ist immer noch kompatibel mit einem Verständnis von Ethik als einer Reflexionstheorie, die nicht versucht, die Grundlagen der Moral zu formulieren oder zu bestimmen, sondern sie zu beschreiben. Ethik sollte hier im weitesten Sinne die Probleme reflektieren, die in der Ausübung individueller Autonomie anfallen. Bei Luhmann ist die Funktion von Ethik, vor zu viel Moral zu warnen; in der Tat sollte sie aber warnen vor fremdbestimmten Regeln, nicht nur moralischen, sondern auch solchen, die von sozialen Systemen ausgehen.49 Diese systemischen Kräfte, die in rücksichtslosen Rationalitäten wurzeln, sind in jedem Fall eine Bedrohung des Individuums und seiner (noch) nicht kommunizierten individuellen Autonomie. Und es ist genau dies, was eine Ethik signalisieren, ständig beobachten und wenn möglich ändern sollte.

4. A BSCHLIESSENDE B EMERKUNGEN Die theoretischen Anstrengungen Baumans und Luhmanns zu verbinden, mag abwegig erscheinen, besonders wenn es um den gegenwärtigen Stand von Moral und Ethik in der westlichen Gesellschaft geht. Der Ausgangspunkt für dieses Unterfangen ist eine erste Untersuchung der Möglichkeit, eine soziologische Kritik von Moral und Ethik zu formulieren, die auf Luhmanns Theorie sozialer Systeme beruht. Da Luhmanns Theorie an sich normativ neutral ist und nicht das Ziel hat, soziale Kritik zu üben, war ein anderer theoretischer Ansatz von Nöten, um Luhmanns Perspektive von Moral und Ethik zu ergänzen. Während Baumans Arbeit einen normativen Ansatz repräsentiert, der das ethische Defizit anspricht, optiert Luhmann für eine distanzierte Beschreibung von Moral und Ethik als Methode, um mit Unsicherheit in und durch Kommunikation umzugehen. Diese beiden Perspektiven sind allerdings nicht gänzlich inkompatibel, da es einige unerwartete Gemeinsamkeiten gibt. Beide teilen die Idee, dass die (moderne) Gesellschaft keine Bedingung ist, die Moral ermöglicht, sondern umgekehrt, dass Gesellschaft eine, um es so zu sagen, Konsequenz von Moral ist.50 Gesellschaft wird durch Moral erst möglich. Was die ‚Funktion‘ von Ethik betrifft, weisen beide Autoren die Idee zurück, dass Ethik in der Lage ist, eine Basis für Moral und deren Universalisierung zu bieten. Während aber Bau-

49 Man könnte etwa ein rechtliches Verbot der Beihilfe zur Selbsttötung als Einschränkung der individuellen Autonomie verstehen. 50 N. Luhmann (Fn. 8), S. 439; ders. (Fn. 9), S. 340.

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man dies aus normativen Gründen zurückweist – individuelle Autonomie sollte nicht durch fremdbestimmte Regeln ersetzt werden – schließt Luhmann, dass der Versuch, eine extern fundierte und universalisierte Ethik zu formulieren, fruchtlos bleibt. Stattdessen sollte Ethik ihre Distanz zur Moral wahren und die Probleme beschreiben, mit denen Moral konfrontiert ist.51 Allerdings bietet Bauman an, was in Luhmanns Perspektive fehlt und nie intendiert war: eine Kritik moderner Moral und Ethik, die sich auf individuelle Autonomie bezieht in einer Situation, in der sie sich von konfligierenden Regeln belagert sieht. Ich schlage darum vor, dass eine Re-Konzeptualisierung der individuellen Autonomie und ihrer Dependenz zur Operativität sozialer Systeme einen Maßstab bereitstellen könnte, der es ermöglicht, eine systemtheoretische Perspektive von Moral und Ethik kritisch zu wenden.

51 N. Lumann (Fn. 9), S. 272.

Luhmann und Bourdieu: Polyzentrische Theorien der „bürgerlichen Gesellschaft“ nach ihrer Kontingenzerfahrung J OACHIM F ISCHER

In der Soziologie geht das Gespenst einer Wiederkehr der Kritischen Theorie der Gesellschaft um, einer wiederaufgelegten neo-neomarxistischen Kapitalismustheorie. Die deutschen Soziologen verlangt es erneut nach robuster Analytik, sie möchten unter dem Titel „Soziologie – Kapitalismus – Kritik“ einfach mal wieder theoretisch, empirisch und normativ demonstrieren, dass der Kapitalismus weg muss.1 Inwieweit das Projekt einer „Kritischen Systemtheorie“, d.h. einer Verwandlung der Luhmannschen Systemsoziologie in eine eigene Kritische Theorie mit transformatorisch-emanzipatorischer Absicht in den Umkreis dieser Bemühungen gehört, ist nicht leicht auszumachen: ein gleitender Übergang von einer marxistisch-„materialistischen Systemtheorie“ zur „Kritischen Systemtheorie“, in der die Differenz zwischen kritischer Gesellschaftstheorie und der Theorie sozialer Systeme indifferent zu werden scheint, ist erkennbar.2 Dabei wird die klassische Kritik der Frankfurter Schule an der Systemtheorie (Habermas/Luhmann-Debatte)3 zugunsten einer raffinierten kritischen Ausrichtung von Luhmann zurückgenommen. Wo aber bleibt die klassische Kritik der Systemtheorie an allen Unternehmungen einer Kritischen Theorie des Kapitalismus? Bevor

1

Ein Beispiel unter vielen: Dörre, Klaus/Lessenich, Stephan/Rosa, Hartmut: Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, Frankfurt a.M. 2009.

2

Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in die-

3

Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie

sem Band, S. 13 ff. (hier S. 21). – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt a.M. 1971.

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man die Luhmannsche Systemtheorie als eigene „kritisch-emanzipative Gesellschaftstheorie“ in eine Nachfolge der Frankfurter Schule rückt, sollte man sich noch einmal umgekehrt das dezidierte Kritikpotenzial gerade dieser polyzentrischen Systemsoziologie an der monistischen Kapitalismustheorie klar machen. Man könnte diese Pointe einer ursprünglich „Kritischen Systemtheorie“ sehr gut als Gemeinsamkeit von Parsons und Luhmann herausarbeiten – hat Parsons doch als einer der wenigen Soziologen aus einer systemtheoretischen Logik den prinzipiellen (nicht zeitlichen) evolutionären Misserfolg moderner sozialistischer Gesellschaften vorherzusagen gewagt.4 Aber um den prinzipiellen Unterscheidungspunkt zwischen der Luhmannschen Systemtheorie und jeder klassischen Kritischen Theorie der Gesellschaft zu sehen, ist es vielleicht noch hilfreicher – und überraschender –, Luhmann und Bourdieu zusammen zu sehen, also die jeweils produktivsten soziologischen Theoretiker der europäischen 1970er bis 1990er Jahre, als deutsche und französische Parallelaktionen in der Sozialtheorie und Gesellschaftstheorie, die beide – in ihren jeweiligen nationalen Diskursen – mit der neomarxistischen Gesellschaftstheorie kategorisch gebrochen haben. Die polyzentrischen Theorielogiken beider haben die Schiffe einer Rückkehr zum Neomarxismus verbrannt, nach ihrer Theorieproduktion und -rezeption blickt man auf die „erloschenen Vulkane des Marxismus“5 zurück. Erst wenn man dieses Exerzitium durchlaufen hat, lässt sich vielleicht ermitteln, was eine „Kritische Systemtheorie“ neuen Typs sein und leisten könnte. Niklas Luhmann und Pierre Bourdieu sind moderne Klassiker der Soziologie.6 Seit 30 Jahren gelten ihre soziologischen Theorien als subtile Selbstbeschreibungen der „modernen“ Gesellschaft: Bourdieus Diagnose stratifikatorischer Distinktionen durch ökonomisches, kulturelles und soziales Kapital; Luhmanns Analyse funktional ausdifferenzierter Teilsysteme wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft etc. Beobachtet man beide Theorien oder Beobachtungssprachen vergleichend, verwandeln sie sich in einen raffinierten Selbstausdruck der „bürgerlichen Gesellschaft“ – nach deren Kontingenzerfahrung im 20. Jahrhundert. Diese innere Wahlverwandtschaft zwischen Luhmann und Bourdieu und beider zur „bürgerlichen Gesellschaft“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahr-

4

Parsons, Talcott: „Evolutionäre Universalien der Gesellschaft“ (1964), in: Wolfgang Zapf (Hg.), Theorien des sozialen Wandels, Königstein/Ts. 1979, S. 55 ff. (hier S. 70).

5

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt

6

Teile der Argumentation erstmals entwickelt in: Fischer, Joachim: „Bourdieu und

a.M. 1984, S. 13. Luhmann als Theoretiker der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ “ , in: Vorgänge Nr. 170, 44. Jg., Heft 2 (Juni 2005), S. 53 ff.

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B OURDIEU

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hunderts lässt sich sowohl in der Theorieanlage wie in der Erinnerung an den geschichtlichen Entstehungs- und Rezeptionszusammenhang dieser soziologischen Theorien zeigen. Es gibt selbstverständlich bereits neuere Versuche eines Theorienvergleichs zwischen Luhmann und Bourdieu,7 aber diesen Unternehmungen entgeht diese Pointe, weil sie beide Theorien immer auf die moderne Gesellschaft allgemein beziehen, nicht aber auf die bürgerliche Moderne nach ihrer Kontingenzerfahrung, das heißt der Erfahrung der realen Möglichkeit nichtbürgerlicher Gesellschaften der Moderne. Der Gedankengang wird in drei Schritten entfaltet: Zunächst geht es um einen internen Vergleich beider soziologischer Theorien (1), dann um die Beobachtung beider von einer dritten Theorie aus – nämlich der der „bürgerlichen Gesellschaft“ – (2) und abschließend die Entfaltung der These (3), inwiefern es sich bei Bourdieu und Luhmann um eine polyzentrische Theoriebeobachtung der „bürgerlichen Gesellschaft“ nach ihrer Liquidierungserfahrung handelt.

1. L UHMANN UND B OURDIEU : T HEORIENVERGLEICH IM H INBLICK T HEORIEKONSTRUKTION

AUF DIE

Der theorievergleichende Blick zwischen Luhmann und Bourdieu geht zunächst auf die Theoriekonstruktion, auf die Architektur der Theorien. Wie sind die Theorien gebaut? Dabei fallen theorietechnische Divergenzen, aber auch Konvergenzen der soziologischen Theorien von Bourdieu und Luhmann auf. Die Divergenz im Aufbau der Theorien erscheint offensichtlich. Sozialtheoretisch ist Bourdieus soziologische Theorie eher akteursorientiert – die Verhältnisse werden von Menschen gemacht –, Luhmanns systemorientiert – die Verhältnisse laufen eher von selbst. Gesellschaftstheoretisch beschreibt Bourdieu die Gegenwartsgesellschaft vertikal, stratifikatorisch, als Produktion von Klassifikation und Klassen,8 Luhmann hingegen horizontal, differenzierungstheoretisch, als Ensemble funktional differenzierter Teilsysteme.9

7

Nassehi, Armin/Nollmann, Gerd (Hg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich, Frankfurt a.M. 2004.

8

Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a.M. 1982.

9

Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984.

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Die Unterschiede sind klar. Durch die Unterschiede hindurch fallen in der Theoriearchitektur beider Theorien dennoch charakteristische Gemeinsamkeiten auf – zwei Gemeinsamkeiten, die vor dem Hintergrund anderer Theorieoptionen konturscharf werden. 1. Hinsichtlich der grundbegrifflichen Erschließung des Sozialen arbeiten beide soziologische Theorien mit Korrelatkategorien: Für soziale Realität setzt Bourdieu eine Korrelation zwischen „Feld“ und „Habitus“, Luhmann aber zwischen „System“ und „Umwelt“. Die erste theorietechnische Parallele besteht also zwischen den Begriffspaaren „Habitus-Feld“ und „Umwelt-System“. Man muss also die Begriffspaare parallel in der richtigen Reihenfolge lesen: „Habitus“ verhält sich zu „Feld“ wie „Umwelt“ zu „System“. Beide Begriffspaare ersetzen den Dualismus von „Individuen“ und „Gesellschaft“, von „Subjektivismus“ und „Objektivismus“. Bei Bourdieu wird auf den ersten Blick klar, dass es sich bei „Habitus“ und „Feld“ um die theoriekonstitutive Formulierung einer Verschränkung zwischen Individuum und Gesellschaft handelt, bei Luhmanns Korrelatbegriffen „Umwelt“ und „System“ auf den zweiten, wenn man sich klar macht, dass zur „Umwelt“ „sozialer Systeme“ prominent „Individuen“ oder „psychische Systeme“ gehören. Zwar gehört auch anderes zur „Umwelt“ sozialer Systeme (v.a. andere soziale Systeme), aber basal und prominent doch „psychische Systeme“, die in ihrer „Unergründlichkeit“ (Komplexität und Kontingenz) paradigmatisch dafür stehen, dass die Komplexität der „Umwelt“ immer größer ist als die des jeweiligen „sozialen Systems“, das auf diese Umwelt (aus „psychischen Systemen“) bezogen ist. Schlicht gesagt: „Soziale Systeme entstehen […] daraus, dass psychische Systeme einander in die Quere kommen“10 und für einander unergründlich bleiben; aus dieser Erfahrung „doppelter Kontingenz“ bilden sich autokatalytisch „Erwartungserwartungen“ als Kern „sozialer Systeme“, für welche die individuellen Seelen in ihrer uneinholbaren und füreinander unerträglichen Komplexität und Kontingenz zur „Umwelt“ gehören.11 Die erste Theorie-

10 Schimank, Uwe: „‚Gespielter Konsens‘: Fluchtburg des Menschen in Luhmanns Sozialtheorie“, in: Gunter Runkel/Günter Burkart (Hg.), Funktionssysteme der Gesellschaft – Beiträge zur Systemtheorie von Niklas Luhmann, Wiesbaden 2005, S. 265 ff. 11 Bevor man Luhmanns Systemsoziologie mit Theoriesorten wie der Kritischen Theorie von Horkheimer und Adorno, französischem Poststrukturalismus oder Medien- und Gendertheorien aufmischt, ist noch einmal die grundsätzliche Theorieaffinität zwischen Luhmanns Systemtheorie und der modernen deutschen Philosophischen Anthropologie (Scheler, Plessner, Gehlen) zu rekapitulieren – von Luhmann selbst in der ersten Vorstellung seines Theorieentwurfes mit Bezug auf Gehlen und Plessner aufgerufen: „Überhaupt trifft die hier skizzierte Theorie sozialer Systeme sich in wesentlichen Punkten mit

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konvergenz von Bourdieu und Luhmann besteht also darin, dass mit den Begriffspaaren „Habitus/Feld“ und „Umwelt/System“ grundlegend Verschränkungen von Individuum und Gesellschaft angesetzt werden. Man verfehlt diese Gemeinsamkeit, wenn man sagt, Bourdieu habe eine „Habitustheorie“, Luhmann eine „Systemtheorie“ entwickelt. Präzise gesprochen ist Bourdieus Theorie eine ‚Feld-Habitus‘-Theorie, Luhmanns Theorie eine ‚System-Umwelt‘-Theorie. In dieser Gemeinsamkeit unterscheiden sich beide Theorien von anderen soziologischen Theorien, die entweder bei den existentialen oder rationalen Kalkülen der Individuen ansetzen (aus denen Sozialität generiert wird: so z.B. die RationalChoice-Theorie) oder auf der anderen Seite bei der Gesellschaft als einer objektiven Strukturkategorie (durch die die Individuen formatiert und in die sie eingeschlossen sind), die sich dialektisch eigenständig entfaltet oder sich szientifisch als Sache auszählen lässt. In dieser grundlegenden Theoriearchitektur liegt die Gemeinsamkeit in der Sozialtheorie beider soziologischer Theorien von Luhmann und Bourdieu. 2. Die zweite Gemeinsamkeit der Theoriearchitektur wird in der Gesellschaftstheorie sichtbar. Beide soziologische Theorien arbeiten jeweils mit der Nichtaufeinanderrückführbarkeit der ausschlaggebenden „Größen“, die sie ins Spiel setzen, um Gesellschaft und damit moderne Gesellschaft zu beschreiben. Das betrifft die „Kapitalsorten“ bei Bourdieu, die nicht auf einander rückführbar sind; „ökonomisches Kapital“, „soziales Kapital“, „kulturelles Kapital“ folgen ihrer je eigenen Logik. Das betrifft die funktional ausdifferenzierten Teilsysteme (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Kunst etc.) der Gesellschaft, speziell die symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien bei Luhmann, die in ihren Logiken nicht auseinander abgeleitet werden können. „Kapitalsorten“ und „symbolisch generalisierte Kommunikationsmedien“ sind Größen, die je miteinander

einer anthropologischen Soziologie, welche die ‚Weltoffenheit‘ und die entsprechende Verunsicherung des Menschen zum Bezugspunkt von (letztlich) funktionalen Analysen macht. Siehe auch Helmuth Plessner, Conditio Humana, Pfullingen 1964.“ (Luhmann, Niklas: „Soziologie als Theorie sozialer Systeme“, in: ders., Soziologische Aufklärung 1. Aufsätze zur Theorie sozialer Systeme, Opladen 1970, S. 113 ff., hier: S. 131). Vgl. zu dieser Theorieaffinität auch Hahn, Alois: „Der Mensch in der deutschen Systemtheorie“, in: Ulrich Bröckling/Axel T. Paul/Stefan Kaufmann (Hg.), Vernunft – Entwicklung – Leben. Schlüsselbegriffe der Moderne. Festschrift für Wolfgang Eßbach, München 2004, S. 279 ff. Zur Philosophischen Anthropologie als soziologischer Theorie in der bundesrepublikanischen Soziologie: Fischer, Joachim: „Philosophische Anthropologie. Ein wirkungsvoller Denkansatz in der deutschen Soziologie nach 1945“, in: Zeitschrift für Soziologie 35/5 (2006), S. 1 ff.

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verglichen werden (als „Kapital“, als „Kommunikationsmedium“), ineinander übersetzt, aber nicht auseinander hergeleitet werden. Hinsichtlich dieser „Größen“ (Kapitalsorten oder Kommunikationsmedien) kennen beide Theorien – und das ist für alles Weitere ausschlaggebend – kein „primär“ und „sekundär“, kein Verhältnis von „Basis“ und „Überbau“, von „Primat“ und Nachrangigkeit. Von ihrem Konstruktionsprinzip her kennen beide Ansätze keine Hierarchie dieser „Größen“, kein Primat einer Größe. Sie betonen die Parataxe der Größen und die Übersetzungsarbeit zwischen ihnen als das Zentrum der Gesellschaft und damit der Gesellschaftsanalyse. Beide entwickeln „in einer azentrisch konzipierten Welt und einer azentrisch konzipierten Gesellschaft eine polyzentrische […] Theorie.“12 Das ist vor allem deutlich festzuhalten für die Theorie von Bourdieu, der mit der Übertragung des Kapitalbegriffs (den er natürlich von Marx nimmt) auf die Felder des Sozialen und des Kulturellen jede Basis-Überbau-Architektur (der Marxschen Theorie) sprengt. Diese theoriearchitektonische Gemeinsamkeit von Luhmann und Bourdieu wird kontrastscharf gegenüber diesem anderen Theorietypus, der Kritischen Theorie der Gesellschaft, die im Kern als Kritik der „politischen Ökonomie“ arbeitet, indem sie ein Hierarchieverhältnis von „Größen“ ansetzt. Demnach ist in der „kapitalistischen Gesellschaft“ das ökonomische Teilsystem oder eben das „ökonomische Kapital“ die ausschlaggebende Größe: Kapitalismus ist die Funktionsweise des Wirtschaftssystems, die so funktioniert, dass sie in der gesellschaftlichen Reproduktion ein Primat gegenüber z.B. Recht, Politik, Wissenschaft, Sport einnimmt, also den Teilsystemen, die umgekehrt dem kapitalistischen Wirtschaftssystem tendenziell zuarbeiten (in der ‚Privatautonomie‘, im ‚Eigentumsrecht‘, im ‚Gewaltmonopol‘, im ‚Positivismus‘

12 N. Luhmann (Fn. 5), S. 14. Diese Programmatik einer polyzentrischen Gesellschaftstheorie wurde zuerst systematisch entwickelt im Theorieprogramm der modernen Philosophischen Anthropologie, z.B. bei Arnold Gehlen in der anthropologischen Theorie einer Pluralität nicht aufeinander rückführbarer Normativitätsstandards (verschiedener koexistierender Quellen der Moral): Vgl. Gehlen, Arnold: Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik (1969), Frankfurt a.M. 2004 – mit kritischem Bezug bereits auf die neuere Geschichtsphilosophie einer monistischen Diskursrationalität bei Habermas. Zum relativen Recht von Gehlens pluralistischer Ethik im Verhältnis zu Habermas’ monistischer Diskursethik vgl. Honneth, Axel: „Problems of Ethical Pluralism. Arnold Gehlen’s Anthropological Ethics“, in: Iris. European Journal of Philosophy and Public Debate I, 1. April 2009, S. 187 ff.

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der Forschung, in der Naturalisierung des Konkurrenzprinzips etc.).13 Deshalb ist theorielogisch „Kapitalismus“ in der Kritischen Theorie der Gesellschaft nicht nur die Kennzeichnung der Struktur der Ökonomie, sondern der ganzen Gesellschaft. Nach der – von der neomarxistischen Krisentheorie erwarteten – vollzogenen Transformation der Gesellschaft in eine sozialistische Formation ist umgekehrt das politische Teilsystem oder – anders gesagt – das soziale Kapital (die politische ‚Solidarität‘ aller) die Führungsgröße. Die Gemeinsamkeit von Luhmann und Bourdieu liegt gesellschaftstheoretisch darin, dass sie von der parataktischen Architektur ihrer Theorien her eine solche Diagnostik nicht liefern können oder liefern wollen – jeder robuste Rückgriff auf die Letztgröße der Bewegungsgesetze der kapitalistischen Ökonomie oder einer rein politisch vermittelten sozialistischen Moderne ist von der Theorielogik her versperrt.

2. T HEORIEPRODUKTION UND T HEORIEREZEPTION – B EOBACHTUNG VON EINER DRITTEN K ATEGORIE AUS : B ÜRGERLICHE G ESELLSCHAFT Einen Schritt weiter geht der theorievergleichende Blick zwischen Luhmanns und Bourdieus Konzeptionen auf die Theorieproduktion und die Theorierezeption. Warum kam es wann zur Produktion und Rezeption dieser offensichtlich verschiedenen und in zwei Konstruktionsprinzipien der Theoriearchitektur doch charakteristisch ähnlichen soziologischen Theorien? Genauer gefragt, warum haben sich Luhmanns und Bourdieus Konzepte seit den 1970er Jahren des 20. Jahrhunderts nahezu parallel (unabhängig voneinander) entwickelt und warum fanden sie – noch wichtiger – in der Soziologie parallel im letzten Vierteljahrhundert bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts als einschlägige, angemessene Selbstbeschreibungen der Gegenwartsgesellschaft Resonanz, wurden rezipiert und akzeptiert? Um das zu klären, braucht man einen dritten Ort der Beobachtung. Sozialtheoretisch benötigt man immer einen dritten Punkt der Beobachtung, die Figur des Dritten14, um Kognitionen und Kommunikationen zwischen zweien auf Kon-

13 Adorno, Theodor W.: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“, in: Theodor W. Adorno (Hg.), Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Verhandlungen des 16. Deutschen Soziologentages, Stuttgart 1969, S. 12 ff. 14 Zur Sozialtheorie und Methodologie des „Dritten“ als Schlüsselfigur beobachteter Beobachtung des Sozialen: Fischer, Joachim: „Tertiarität / Der Dritte. Soziologie als Schlüs-

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vergenzen und Divergenzen hin zu beobachten, seien es auch Theorieperspektiven. Der Vorschlag ist, die beiden Theorien in ihrer konvergierenden Theorieproduktion und Theorierezeption von der Realkategorie „bürgerliche Gesellschaft“ aus zu beobachten. Die These – die zu entfalten ist – sei dann, dass sich Bourdieus und Luhmanns Theorien von ihrer im Kern gemeinsamen Architektur her als soziologische Doppelbeobachtung der europäischen bürgerlichen Gesellschaft nach ihrer Kontingenzerfahrung beobachten lassen. Das sieht nur auf den ersten Blick überraschend aus. Die Evidenz ist überwältigend, dass die Gegenwartsgesellschaft seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein transnationaler Zusammenhang bürgerlicher Vergesellschaftung ist. Die Kategorie „bürgerliche Gesellschaft“ meint hier nicht „Zivilgesellschaft“ oder eine neuerdings einsetzende so genannte „Verbürgerlichung“, sondern eher die Formation „civil-commercial-creative society“.15 Es erscheint theorietechnisch aussichtsreich, im Begriff der „bürgerlichen Gesellschaft“ diagnostisch den angelsächsischen Begriff „civil society“, der immer die Struktur der politischen Selbstverwaltung der Verhältnisse akzentuiert, und die deutsche Begriffstradition, welche die ökonomischen Strukturen des Kapitalismus betont, zusammenzuziehen und noch zusätzlich durch das Moment der kreativen Kultur, das im individualisierten Bildungsbürgertum mit angesprochen ist, anzureichern – ohne diese drei „Größen“ der bürgerlichen Gesellschaft aufeinander zu reduzieren. Man braucht übrigens historisch – das nur nebenbei gesagt – nur an das deutsche Bürgertum jüdischer Herkunft seit dem 19. Jahrhundert zu denken, um sofort die drei Trägergruppen der bürgerlichen Vergesellschaftung zu erkennen – Bourgeoisie, ziviles Vereinsbürgertum und sich individualisierendes Bildungsbürgertum. Aus der Perspektive einer historischen Soziologie ist es evident, dass gegenwärtig wie nie zuvor Strukturen und Praktiken der bürgerlichen Gesellschaft inmitten der Massengesellschaft dominant sind und in der Weltgesellschaft ten-

seldisziplin“, in: Thomas Bedorf/Joachim Fischer/Gesa Lindemann (Hg.), Theorien des Dritten. Innovationen in Soziologie und Sozialphilosophie, München 2010, S. 131 ff. 15 Zum Konzept einer soziologischen Theorie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ in gegenwartsdiagnostischer Absicht vgl. Fischer, Joachim: „Bürgerliche Gesellschaft. Zur historischen Soziologie der Gegenwartsgesellschaft“, in: Clemens Albrecht (Hg.), Die bürgerliche Kultur und ihre Avantgarden, Würzburg 2004, S. 97 ff.; ders.: „Bürgerliche Gesellschaft. Zur analytischen Kraft der Gesellschaftstheorie“, in: Heinz Bude/Joachim Fischer/Bernd Kaufmann (Hg.), Bürgerlichkeit ohne Bürgertum: In welchem Land leben wir?, München 2010, S. 203 ff.; ders.: Wie sich das Bürgertum in Form hält, Springe 2012.

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denziell implementiert werden.16 Man braucht nur an die etablierten Privateigentumsverhältnisse, die bürgerlichen Gerichtsverfahren (die auch in den Massenmedien eingeübt werden), transnational operierende Gerichtshöfe, zivilgesellschaftliche Bewegungen wie die Ökologiebewegung (die ‚das‘ ökonomische Kapital zur Investitionsumstellung zwingt) oder die Durchsetzung der modernen bildenden Kunst als kulturelles Distinktionsmerkmal in der Massengesellschaft zu denken, um plausibel machen, dass in der Gegenwartsgesellschaft inmitten der Massenkultur Strukturen und Akteursgruppen der „bürgerlichen Gesellschaft“ dominieren und einen transnationalen Verbund bilden, der mindestens die EU und Nordamerika als Großräume, Großmachträume bürgerlicher Vergesellschaftung umfasst. Die neo-institutionalistische Theorie (als eine Variante der soziologischen Theorie der bürgerlichen Gesellschaft) beobachtet die Durchsetzung dieser bürgerlichen Vergesellschaftungsmuster in allen (Bildungs-, Rechts- und Politik-)Organisationen auf Weltgesellschaftsebene.17 Ebenso evident ist, dass es sich bei dieser bürgerlichen Gesellschaft nicht um eine geschichtsphilosophische Notwendigkeit handelt, sondern dass der Kategorie die Kontingenz- und Vernichtungserfahrung im 20. Jahrhundert eingeschrieben ist (zu der das Wegbrechenkönnen von Privateigentumsstrukturen, von Rechtsstaatsverfahren, von Strukturen überraschungsoffener Öffentlichkeit etc. gehören). Seit 1917, seit 1933 und auch nach 1945 bis 1989 gehörte zur Erfahrung der Strukturen und Akteure bürgerlicher Gesellschaft ihr Nichtmehrseinkönnen mitten in der Moderne. Es gab andere Modernen – ganz andere ‚nicht-bürgerliche‘ Modernen – in denen es aus ist mit Privateigentumsstrukturen und einer Bourgeoisie, mit Rechtsstaatsstrukturen und selbstoperierenden Vereinen, Assoziationen, ‚Netzwerken‘, mit einer kritisch-riskierenden Kultur und dem entsprechenden Bildungsbürgertum. Der gesellschaftsrevolutionäre Umbruch 1989 in den ostmitteleuropäischen sozialistischen Modernen ist soziologisch gesehen die bedeutendste Fremdaffirmation dieser bürgerlichen Vergesellschaftung. Mitnichten handelt es sich dabei um eine „nachholende Revolution“18, da es sich ja um

16 Fischer, Joachim: „‚Weltgesellschaft‘ im Medium der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘“, in: Sociologia Internationalis, Bd. 43 H 1/2 (2005), S. 59 ff. 17 Meyer, John W.: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005. 18 Habermas, Jürgen: Die nachholende Revolution, Frankfurt a.M. 1990, S. 181: „Indem die nachholende Revolution in Osteuropa die Rückkehr zum demokratischen Rechtsstaat und den Anschluss an den kapitalistischen Westen ermöglichen soll, orientiert sie sich an Modellen, die […] durch die Revolution von 1917 schon überholt worden waren. Das mag einen eigentümlichen Zug dieser Revolution erklären: den fast vollständigen Man-

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die weltgeschichtlich erstmalige revolutionäre Affirmation der bürgerlichen Gesellschaft aus einer anderen Moderne heraus handelt (nicht aus einer Vormoderne heraus). Soziologisch gesehen hat sich am Ende des 20. Jahrhunderts geschichtlich so etwas wie ein wechselseitiges Anerkennungsverhältnis zwischen Bourgeoisie, Citoyen- oder Vereinsbürgertum und kritischem Bildungsbürgertum eingespielt – Akteursgruppen, die hinsichtlich ihrer Formation nicht aufeinander zurückgeführt werden können und die historisch bereits das immer in sich heterogene „Bürgertum“ bildeten. Oder anders formuliert: ein Akzeptanzverhältnis sich gegenseitig voraussetzender, nicht aufeinander rückführbarer Strukturfelder: Kapitalökonomie, Rechtsstaatsverhältnisse, kritisch-kreative Öffentlichkeit. Zur Kategorie „Bürgerliche Gesellschaft“ gehört, dass sie ein Korrelatbegriff ist, der Strukturen und Akteure in der Kategorie aufeinander bezieht – eben die Strukturprinzipien bürgerlicher Vergesellschaftung und ein „Bürgertum“, das diesen Strukturen entsprechend zuzurechnen ist.

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UND B OURDIEU : POLYZENTRISCHE T HEORIEBEOBACHTUNG DER BÜRGERLICHEN G ESELLSCHAFT NACH IHRER K ONTINGENZERFAHRUNG

1. Beobachtet man Luhmanns und Bourdieus soziologische Theorieproduktion und die Rezeption dieser Theorien von diesem Ort, von dieser Kategorie der „bürgerlichen Gesellschaft“ aus, dann wird plausibel, warum sie mit ihrer anfangs gezeigten gemeinsamen Theoriearchitektur als soziologische Theorien parallel aufsteigen, auffällig und akzeptiert werden. Die Theorieproduktion beider ist nicht der „Moderne“ überhaupt zuzurechnen, nicht pauschal als Selbstbeobachtung und -beschreibung der Moderne schlechthin zu rekonstruieren. Luhmanns und Bourdieus Theorieproduktion ist vielmehr in einem spezifischen Erfahrungs- und Erwartungsraum zwischen 1970 und 2000 in Europa gebildet worden, genauer im Raum der Europäischen Union, in der sich in diesem Zeitraum faktisch ein transnationaler Großraum bürgerlicher Vergesellschaftung ausbildete. Beide Theorien entstanden in den Kernstaaten dieses bürgerlichen Großraumes, Frankreich und der damaligen Bundesrepu-

gel an innovativen zukunftsweisenden Ideen.“ Habermas spielt tatsächlich den „innovativen“ Charakter der leninistischen Oktoberrevolution von 1917 gegenüber dem bloß „nachholenden“ Charakter der osteuropäischen Revolution von 1989 aus.

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blik Deutschland, wobei sich durchaus nationale Traditionen der Bürgertumsgeschichte in die Bildungsgeschichte der Theorievarianten übersetzen. Die Theorieproduktion bei beiden ist daher geladen mit der Kontingenzerfahrung bürgerlicher Gesellschaft, das heißt mit der Erfahrung, dass es andere Strukturen und Akteure moderner Gesellschaften gab. Beide Theoretiker gehören einer Generation an, deren Kindheit von einer nationalsozialistisch formierten Moderne – sowohl in Deutschland wie im besetzten Frankreich – beherrscht wird; beide produzieren ihre soziologischen Theorien vor dem Hintergrund des Kalten Krieges, der von der imponierenden Dauerpräsenz einer ebenfalls nichtbürgerlichen, vernunftsozialistischen Gesellschaftsmoderne (des „Sowjetsystems“) bestimmt ist (in Gestalt der DDR im deutschsprachigen Raum, in Gestalt einer starken KPF und marxistisch orientierten Intelligenz in Frankreich). Beobachtet man die Theorierezeption beider Konzepte, so kann man sagen, dass sich die Rezipienten von Luhmann und Bourdieu (oder von beiden zusammen) darüber aufklären lassen, dass eine soziologisch verfremdende Beschreibung der „bürgerlichen Gesellschaft“ zwar deren Kritik, nicht notwendig aber deren Ende oder Transformation bedeuten muss. Darin sind beide Theorien gemeinsam kontrastscharf rezipiert worden zur Kritischen Theorie bzw. neomarxistischen Kapitalismus-Kritik der Gesellschaft im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts, die in einer kritischen Zuspitzungskategorie den „Spätkapitalismus“ diagnostizierten19 und eine Transzendenz der bürgerlichen Gesellschaft auf eine andere ganz Moderne hin theorieimmanent erwarteten. Natürlich sind Bourdieus und Luhmanns Theorien als soziologische Theorien so formuliert, dass sie auch für andere soziale historische Kontexte analytisch benutzbar und mit kognitivem Gewinn kommunizierbar sind. Aber – das ist die These – im Kern hat die Theorieproduktion und -rezeption als Selbstthematisierung ihrer Gegenwartsgesellschaften funktioniert. Deshalb der Vorschlag: Luhmanns und Bourdieus Soziologien sind von der Theoriearchitektur her komplementäre und konvergierende Selbstbeschreibungs- und Selbststeuerungstheorien der bürgerlichen Gesellschaft der europäischen Gegenwart nach ihrer Liquidierungserfahrung im 20. Jahrhundert, der ihrer selbst gegenwärtigen „bürgerlichen Gesellschaft“. 2. Luhmanns und Bourdieus Theorieproduktion hat einen spezifisch diagnostischen Gehalt bezogen auf die „bürgerliche Gesellschaft“, weil sie soziologische Reformulierungen des Phänomens sind. Das ist bezogen auf das Phänomen „bürgerliche Gesellschaft“, die bisher eine vertragstheoretische bzw. geschichts-

19 Offe, Claus: „Politische Herrschaft und Klassenstrukturen. Zur Analyse spätkapitalistischer Gesellschaftssysteme“, in: Gisela Kress/Dieter Senghaas (Hg.), Politikwissenschaft. Eine Einführung in ihre Probleme, Frankfurt a.M., S. 155 ff.

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philosophische Selbstthematisierung kannte, neu. In dieser Hinsicht gewinnen die zwei Gemeinsamkeiten der Theoriearchitektur diagnostische Kraft: die sozialtheoretische und die gesellschaftstheoretische. Die sozialtheoretischen Formeln von ‚Habitus-Feld‘ bzw. ‚Umwelt-System‘ konzeptualisieren eine Verschränkung von Individuum und Gesellschaft. Individuum und Gesellschaft, Akteure und Strukturen sind damit in ein Entsprechungsverhältnis gebracht, in ein wechselseitiges Voraussetzungsverhältnis, so dass nicht das eine Moment das andere ‚verzehrt‘. Vor dem Hintergrund der Selbstthematisierungsgeschichte bürgerlicher Vergesellschaftung bedeutet das, dass nun soziologisch die „Autonomie“ des Individuums als eine durchgängig vermittelte verstanden und rekonstruiert wird, während umgekehrt die „Strukturen“ als angewiesen auf die Potenzialität der Subjektivität vorgestellt werden. Damit operiert die soziologische Reformulierung der „bürgerlichen Gesellschaft“ grundsätzlich anders als eine klassische vertragstheoretische Beschreibung (Hobbes, Locke, Rousseau), in der die Gesellschaft durch die autonomen Individuen gestiftet wird, und anders als eine geschichtsphilosophische Beschreibung, die das durch eine Selbstbewegung der Geschichte (Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse) hervorgebrachte Bürgertum (Marx) als Agent des Geschichtsprozesses erschließt und es zugleich dabei beobachtet, wie es auf Grund der unerträglichen Widersprüche seiner Hervorbringungen von der Geschichte auch wieder abgeräumt und notwendig durch eine andere Konstellation (Herrschaft der Arbeiter- und Bauernklassen) substituiert wird. Durch die Verschränkungsformeln ‚Habitus-Feld‘ und ‚Umwelt-System‘ wird also bürgerliche Gesellschaft soziologisch beschreibbar. Die auffällige Verschiedenheit beider Formeln lässt sich vielleicht mit den nationalen Bürgertumstraditionen aufklären, die den Anschauungshintergrund für die abstrakten Kategorienpaare bilden – nämlich die deutsche für Luhmann, die französische für Bourdieu. ‚Habitus-Feld‘ setzt den Schwerpunkt auf die körperlich eingeübte, zur dauerhaften Erscheinung gebrachte Koexistenz von psychischen und sozialen Systemen und verweist damit auf eine französische Bürgertumstradition, in der das zur Erscheinung gelangende Individuum, das in einer Haltung und in einem Bild auf Repräsentation angelegte Subjekt prominent ist. ‚Umwelt-System‘ setzt den Schwerpunkt hingegen auf die „tangentiale Existenz“20 von psychischem und sozialem System. Erwartungsmobil und gewitzt windet sich das Subjekt (das zur Umwelt gehört) zwischen den verschiedenen autopoietischen sozialen Teilsystemen, ohne dass das psychische System in seiner Möglichkeitsoffenheit von den sozialen Systemen wirklich erschöpft werden kann.

20 U. Schimank (Fn. 10).

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Das entspricht eher der deutschen Bürgertumstradition einer kultivierten ‚Innerlichkeit‘, der Reserve und dem Refugium gegenüber den Zumutungen der ‚Rollen‘. In der Theorielogik der Umwelt-System-Theorie, die die Seelen zur Umwelt zuordnet, die im Vergleich zum sozialen System immer komplexer als dieses sind, steht Luhmann tief in der deutschen humanistischen Innerlichkeitstradition. Wie auch immer, beide Theorien gelangen im sozialtheoretischen Grundansatz zu einer soziologischen Reformulierung der bürgerlichen Gesellschaft, die sie gesellschaftstheoretisch ausarbeiten. Gesellschaftstheoretisch ist für beide Theorien charakteristisch und neu, dass beide Ansätze parataktische Größen der Gesellschaft auszeichnen. Innerhalb der ‚Habitus-Feld‘-Korrelation reflektieren sie parataktisch Aktionsfelder (Bourgeoisie [ökonomisches Kapital], soziale Netzwerke [soziales Kapital], wissenschaftlich und kulturell Gebildete [kulturelles Kapital]) oder innerhalb der ‚Umwelt-System‘-Korrelation reflektieren sie nebeneinander angeordnete Teilsysteme (geldgesteuerte Ökonomie, Rechtssystem, Wissenschaft und Kunst etc.), ohne dass diese Größen aufeinander reduziert würden. Obwohl Bourdieu mit dem Kapitalbegriff operiert, schreibt seine soziologische Theorie vom Ansatz her der Wirtschaft gerade kein Primat zu (auch wenn manche praktischen Interventionen Bourdieus gelegentlich eine andere Tendenz hatten); vom Kapitalbegriff her sind Kultur und soziale Beziehungen als gleichursprüngliche, polyzentrische Größen neben der Ökonomie zu begreifen. Indem die distinktionstheoretische Beschreibung Akteure beschreibt, die sich ständig erneut in sozialen Feldern zu einer Klassengesellschaft subtil klassifizieren, öffnet sie den Blick für die unhintergehbaren Aufstiegs- und Abstiegsprozesse, für die Exklusionen und Inklusionen einer „bürgerlichen Gesellschaft“ – ohne dass das mit einer Transformationschance des ganzen Gefüges in der Theorie ausgezeichnet würde. Damit öffnet Bourdieus Beschreibung den Blick für die kritische Wahrnehmung des „Elends der Welt“, für soziale Ungleichheit und Kämpfe in der Gesellschaft, setzt den Dauerverdacht der bürgerlichen Gesellschaft gegen sich selbst fort, ohne dass ein Punkt, ein „soziales Feld“, eine Akteursgruppe oder eine Kapitalsorte in der Theorie ausgezeichnet würde, von dem/der aus das Ganze zu transzendieren wäre. Man könnte sagen: Selbst wenn Bourdieu tagesaktuell noch klassisch kritisch-emanzipativ gesonnen war, konnte er von der Theorieanlage her keine Fundamentalkritik an der bürgerlichen Gesellschaft mehr üben, weil deren Differenzlogik in die Triade seiner autonomen Kapitalarten eingeschrieben war. Indem die systemtheoretische Beschreibung das Funktionieren der funktionalen Ausdifferenzierung der Teilsysteme ohne Führungssystem demonstriert, belehrt sie im funktionalen Aufweis der Strukturen (Wirtschafts-, Rechts- und politisches System, Kunst, Wissenschaft) über eine auf Dauer gestellte bürgerliche

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Gesellschaft in der Moderne. Luhmanns Systemtheorie vermeidet natürlich systematisch den Begriff ‚bürgerliche Gesellschaft‘, weil dieser innerhalb seines westdeutschen Zeithorizontes durch die Gesellschaftstheorie vom Standpunkt einer politischen Ökonomie eingeebnet wurde zum Begriff ‚kapitalistische Gesellschaft‘. Seine Systemtheorie funktional ausdifferenzierter Teilsysteme der Moderne als soziologische Theorie der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ zu lesen, wird allerdings nahegelegt durch seine dezidierte Auseinandersetzung mit der ‚Gesellschaftskonzeption des Marxismus-Leninismus‘ bzw. der neomarxistischen Soziologie – sein Artikel zur „Gesellschaft“ war Ende der 1960er Jahre ein Hauptartikel in der „Vergleichenden Enzyklopädie“ „Sowjetsystem und demokratische Gesellschaft“.21 Die funktionalen Ausdifferenzierungen von Teilsystemlogiken sind von Konflikten getragen, aber diese Konflikte können wiederum funktional sein. Beide soziologischen Theorien haben kritisches Potenzial dann, wenn sie Überdehnungen eines Teilsystems, einer Kapitalsorte beobachten; aber wegen der von der Theorie her behaupteten grundsätzlichen Parataxe der ausschlaggebenden Größen gibt es keinen Punkt, von dem aus das Ganze gekippt oder transformiert werden könnte.22 3. Die drei Rekonstruktionen der Gemeinsamkeit zwischen Luhmann und Bourdieu, die der theorieinternen Architektur, die der Beobachtbarkeit der Theorien von einem dritten Ort („bürgerliche Gesellschaft) aus, den sie – drittens – soziologisch zur Sprache bringen, lassen schließlich eine weitere Gemeinsamkeit von Luhmann und Bourdieu beobachten: Beide soziologischen Theorien setzen eine Prämie auf Bildung, auf kulturelles Differenzierungsvermögen, egal ob im Fall sozialer Ungleichheit oder funktionaler Differenzierung. Sie bieten ihren Rezipienten, den Soziologen, die Chance zu ‚gebildeten‘, reflexiven Biographien inmitten komplexer Verhältnisse. Gleich ob Kapitalsorten-Verschiedenheit oder die Verschiedenheit symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien, immer

21 Luhmann, Niklas: „Gesellschaft“, in: ders., Sowjetsystem und Demokratische Gesellschaft. Eine vergleichende Enzyklopädie, Bd. 2, Freiburg/Basel/Berlin 1968, Sp. 959 ff. 22 In der Konzeption „polyzentrischer Theorien“ für eine „azentrisch konzipierte Welt und eine azentrisch konzipierte Gesellschaft“ (Luhmann) können durchaus mehr als drei autonome Größen veranschlagt werden – entscheidend ist, dass es mehr als zwei, d.h. mindestens drei sind, weil damit das Prinzip der Polyzentrik und Polykontexturalität statuiert ist. Zur Bauart dieser polyzentrischen Theoriebildung innerhalb der modernen Philosophischen Anthropologie bereits bei Cassirer, Scheler und Plessner vgl. Fischer, Joachim: „Neue Theorie des Geistes (Scheler, Cassirer, Plessner)“, in: Ralf Becker/Christian Bermes/Heinz Leonardy (Hg.), Die Bildung der Gesellschaft. Schelers Sozialphilosophie im Kontext, Würzburg 2006, S. 166 ff.

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geht es entlang einer ‚gepflegten Semantik‘ beider soziologischer Theorien um die Einübung in die Beherrschung differenter Codierungen, die auf keinen Fall verwechselt werden sollten, um von einer Kapitalsorte zur anderen oder von einem symbolisch generalisierten Kommunikationsmedium bzw. Teilsystem in das nächste überzugehen. Die Einheit des Verschiedenen in seiner Verschiedenheit aufzuweisen, ist aber grundsätzlich eine bildungsbürgerliche Leistung. In der Fortsetzung dieser Bildungsleistungen sind beide soziologischen Theorien als Selbststeuerungs- und Verständigungssemantiken eines neuen Bildungsbürgertums beobachtbar. Nachdem sie mit Luhmann und Bourdieu polyzentrisch konzipierte Soziologien als kritische Theorien gegenüber allen monistischen Kapitalismustheorien (Politische Ökonomie) durchlaufen haben, können diese neuen Bildungsbürger, die machtgeschützt in der ‚bürgerlichen Gesellschaft‘ nach ihrer Kontingenzerfahrung leben und denken, auch die Möglichkeit einer „Kritischen Systemtheorie“23 neuen Typs, die differenzierte „Normativitätsstandards“ einer „polykontexturellen Gesellschaft“ entbindet, pflegen.

23 A. Fischer-Lescano (Fn. 2).

B. Responsivität globaler Sozialsysteme

Paradoxien im Organisationsbereich: Globale Governance T ANJA H ITZEL -C ASSAGNES

1. E INLEITUNG Bei der Betrachtung von Globalisierungsprozessen, der Herausbildung internationaler Institutionen und internationaler Verrechtlichung gibt es mittlerweile durchaus erfolgsträchtige Versuche, nicht nur eine systemtheoretische Analytik auf Weltgesellschaft und das System globaler Politik bzw. globalen Rechts anzuwenden, sondern auch deren normativen Potenziale herauszuarbeiten, um sie für die Aufdeckung von Systempathologien und gesellschaftlichen Strukturantinomien zu nutzen. Dabei stehen insbesondere drei Forschungsstrategien im Vordergrund: Zum einen kann auf jene Arbeiten verwiesen werden, die die Auswirkungen der zweiten Moderne und die Möglichkeiten kosmopolitischer Bewältigungsstrategien eruieren1 und vor allem die Strukturen, Demokratisierungs- und Mobilisierungspotenzial der Weltgesellschaft in den Blick nehmen.2 Hier geht es gerade nicht nur darum, jene politisch institutionalisierten Formen globaler Governance, die sich im Schatten der Hierarchie staatlicher Akteure etablieren, zu analysieren, sondern darum, die Verdichtungen weltgesellschaftlicher und „transkultureller“ Strukturen im

1

Exemplarisch Beck, Ulrich/Grande, Edgar: „Varieties of second modernity: the cosmopolitan turn in social and political theory and research“, in: The British Journal of Sociology 61/3 (2010), S. 409 ff.

2

Vgl. insbesondere den Sammelband von Matthias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Beobachtungen globaler politischer Steuerung, Wiesbaden 2007.

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weiteren Sinne auszuloten.3 Ein weiterer Forschungsbereich wird durch jene Arbeiten bebildert, die die Reproduktionsmechanismen eines fragmentierten Weltrechts offenlegen4 und den Möglichkeiten einer Einhegung der selbstdestruktiven Mechanismen „totalisierender“ Regulierungsregime nachgehen – so etwa durch Bemühungen, Gerechtigkeit als „Transzendenzformel“ zu entfalten, konstitutionalisierende Strukturen höherer Ordnungsbildung zu identifizieren, Potenziale einer „Vermenschenrechtlichung“ funktionaler Regime auszuweisen oder das Protest- und Irritationspotenzial gesellschaftlicher Mobilisierung zu benennen.5 Ein dritter Schwerpunkt bezieht sich auf grundbegriffliche Reflektionen, in deren Rahmen Möglichkeiten ausgelotet werden, Systemtheorie mit neomarxistischen, hegemonietheoretischen und insbesondere dekonstruktivistischen Theorieansätzen zu verknüpfen.6 Der Fokus der Bemühungen richtet sich insbesondere darauf, die vermeintliche Neutralität weltgesellschaftlicher Strukturen und Regimes zu demaskieren, d.h. die subkutane „Politizität“ etwa des globalen Rechts und der globalen Wirtschaft ebenso wie das Öffentliche als umkämpfte Zone auszuweisen. Vor diesem Hintergrund findet sich ein durchaus elaboriertes argumentatives Feld, das insbesondere über das Recht der Weltgesellschaft den Blick auf die normativen Leerstellen, begründungstheoretischen Paradoxien und Machtasymmetrien globaler Strukturen lenkt. So sieht Fischer-

3

Vgl. John Boli/George M. Thomas (Hg.), Constructing World Culture. International Nongovernmental Organizations since 1875, Stanford 1999; Meyer, John W.: Weltkultur. Wie die westlichen Prinzipien die Welt durchdringen, Frankfurt a.M. 2005; auch Teubner, Gunther: „Verfassung ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes“, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat. Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, Frankfurt a.M. 2011, S. 49 ff.

4

Vgl. Fischer-Lescano, Andreas/Teubner, Gunther: Regimekollisionen, Frankfurt a.M. 2006.

5

Fischer-Lescano, Andreas: Globalverfassung. Die Geltungsbegründung der Menschenrechte, Weilerswist 2005; Teubner, Gunther: „Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?“, in diesem Band, S. 327 ff.

6

Teubner, Gunther: „Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, BadenBaden 2003, S. 25 ff.; Jessop, Bob: „Zur Relevanz von Luhmanns Systemtheorie und von Laclau und Mouffes Diskursanalyse für die Weiterentwicklung der materialistischen Staatstheorie“, in: Joachim Hirsch/John Kannankulam/Jens Wissel (Hg.), Der Staat der Bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, BadenBaden 2008, S. 157 ff.

P ARADOXIEN

IM

O RGANISATIONSBEREICH

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Lescano etwa die Programmatik aktueller Ansätze kritischer Systemtheorie (Frankfurter Schule) darin kulminieren, dass sie die „normative Forderung, die sich im Recht in paradoxer Form gegen das Recht wendet und jenes über sich hinaus ins ständige Kommen der Alteritätsgerechtigkeit treibt, [aufnimmt]. Sie argumentiert mit Recht gerechtigkeitssuchend durch Recht hindurch und unterwirft sich den systemischen Anschlusszwängen, um sich ihrer zu befreien und dazu beizutragen, ‚dass der Bann sich löse‘. In diesem Sinne lotet kritische Systemtheorie in einer ganzen Reihe von Arbeiten die Chancen einer sozialadäquaten, soziologisch informierten Rechtswissenschaft aus. Sie hat den Rechtsblick auf Netzwerke, auf Regime-Kollisionen, auf kollidierende Organisationsprinzipien von Gesellschaft und auf transnationale Matrices gelenkt.“7

Nimmt man nun jenseits des Rechts der Weltgesellschaft die Politik der Weltgesellschaft zum Ausgangspunkt der Betrachtung, werden sich die systematischen, gleichsam theoriearchitektonischen Erwägungen sicherlich ähneln, insbesondere über den gemeinsamen Bezug auf die Struktur der Weltgesellschaft, über die Erläuterung von Formen struktureller Koppelung und die normativen Fluchtpunkte, die sich neben Gerechtigkeit auf Demokratisierung und Politisierung beziehen. Anders stellt sich die Situation allerdings mit Blick auf den Organisationsbereich der Politik der Weltgesellschaft, d.h. auf das institutionalisierte System globaler Governance, dar. In diesem Rahmen scheint eine kritische systemtheoretische Diskussion noch in den Kinderschuhen zu stecken, geht sie doch kaum über die Analytik funktionaler Differenzierung und über einige kritische Verweise auf die segmentäre Struktur globaler Politik und das Schisma zwischen Zentrum und Peripherie hinaus. Sicherlich ist es in einer soziologisch aufgeklärten Perspektive kaum sinnvoll, transnationale Governance auf das institutionalisierte Ordnungsgefüge globaler Politik, wie wir es etwa im Rahmen der UN vorfinden, zu reduzieren – zu vielfältig sind die Akteure und Orte globaler Politik und zu virulent die Politisierungsbewegungen in den sektoralen Verfassungen der Weltgesellschaft. In konzeptioneller Hinsicht wäre es allerdings verkürzt, die Organisationsstruktur globaler Politik zu vernachlässigen, da sie für emanzipatorische Potenziale einen notwendigen Fluchtpunkt darstellt, an dem eine Koppelung weltgesellschaftlicher Bewegungen mit der institutionellen Ebene ermöglicht wird. Mit Blick auf die Struktur globaler Politik bzw. globaler Governance als institutionelle Konfiguration und Organisationsform finden sich allerdings recht weni-

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Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. (hier S. 32).

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ge Anknüpfungspunkte. Ich möchte diesen Umstand zum Ausgangspunkt meines Beitrags nehmen und mit dem Ziel, mögliche Paradoxien im Organisationsbereich globaler Governance aufzuspüren, einen Blick auf einige grundbegriffliche Weichenstellungen Luhmanns werfen, die es ermöglichen, einen kritischeren Blick auf globale Institutionalisierungsformen der Politik zu werfen und normative Herausforderungen wie Potenziale zu benennen. Das kann vor allem deshalb gelingen, weil Luhmann implizit mit der traditionellen, zuvorderst staatszentrierten Vorstellung bricht, Politik sei einzig auf die Herstellung kollektiv verbindlicher Entscheidungen bezogen. Mit Luhmann lässt sich, so die These, über Luhmann hinaus zeigen, dass das Leistungsspektrum von Politik insofern anders beschrieben werden muss, als eine Festschreibung des Kollektivsubjekts von Entscheidungen höchst prekär wird. Diese These lässt sich durch drei Arten von Überlegungen flankieren, zum ersten über die Idee der Institutionalisierung und ihren Sinn der reflexiven Ordnungsbildung (2.), womit sich zum zweiten zeigen lässt, dass sich die Politik der Weltgesellschaft in erster Linie dadurch auszeichnet, dass sie reflexive Institutionalisierungsformen bereitstellt (3.); im Anschluss daran können mit Luhmanns Überlegungen zu Demokratie und Verfahren einerseits und zu den Kontingenzformeln Legitimität und Gemeinwohl andererseits einige Strukturdefizite und Paradoxien globaler Governance sichtbar gemacht werden (4.), an die sich dann wiederum normative Thematisierungsmöglichkeiten anschließen können.

2. D ER B EGRIFF

DER I NSTITUTIONALISIERUNG

Luhmanns Auseinandersetzungen mit dem Institutionenbegriff sind vor allem deshalb instruktiv, weil er mit der „tradierten“ Vorstellung bricht, dass Institutionalisierungen in erster Linie auf Stabilisierung, d.h. auf die Festschreibung von Ordnungszusammenhängen zielen. Indem er den Institutionenbegriff formalisiert, eröffnen sich Generalisierungsmöglichkeiten, die eine prozessuale Transformation der Kategorie Institution und eine Rekonstruktion der reflexiven Strukturmerkmale des Institutionellen ermöglichen.8 Luhmanns Institutionenverständnis bezieht sich nämlich auf die Idee, dass Ordnung als Form differenzermöglichender Vereinheitlichung und Kontingenzbewältigung zu verstehen ist. Ausgangspunkt ist zunächst eine kritische Perspektive auf gesellschaftstheoretische Institutionenverständnisse, die ihm in begrifflicher Hinsicht als „alteuropäi-

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Vgl. zu folgenden Überlegungen auch Hitzel-Cassagnes, Tanja: Die Verfassung des Transnationalen. Reflexive Ordnungsbildung jenseits des Staates, Baden-Baden 2012.

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sche“ Reminiszenz und damit durch die Moderne überholt erscheinen. Die Konsequenz, die er daraus zieht, besteht, wie so häufig, darin, sich einer methodischen Nötigung des sich Wunderns zu unterziehen: „Je komplexer die Gesellschaft, desto voraussetzungsreicher und unwahrscheinlicher der Prozess der Institutionalisierung“.9 Weshalb Institutionalisierungen unwahrscheinlich sind, hängt mit den Strukturmerkmalen der Moderne zusammen, insbesondere mit der Erosion institutioneller Einheitsgeltung und der Pluralisierung normativer Orientierungen, womit notwendig ein Verzicht auf Letztbegründung einhergeht.10 Zugleich ist die Moderne jedoch nicht nur durch die „Verflüssigung“ von Normierungen, sondern auch durch Vereinheitlichung gekennzeichnet. Der Bruch mit traditionellen Institutionentheorien, die die stabilisierenden und vereinheitlichenden Integrationsleistungen in den Mittelpunkt stellen, erfolgt mit dem Gedanken, dass die Zunahme von Heterogenität und Pluralismen über institutionelle Mechanismen durch Koordinationsformen auf höherem Abstraktionsniveau kompensiert wird. Die Idee ist gerade nicht, dass über Institutionen einheitsstiftende Werte im konkreten und substantiellen Sinne festgeschrieben werden, sondern dass über Institutionalisierungen formale Strukturen bereitgestellt und Beziehungen ermöglicht werden, die „Einheit im Uneinheitlichen“11 zulassen und Formen höherer Ordnungsbildung geradezu provozieren. In der Profilierung des konzeptionellen Zuschnitts von Institutionen umreißt Luhmann dann vier Konstitutionsmerkmale des Institutionellen, zum ersten – und das betrifft die paradigmatische Anlage seines Ansatzes – die Einbettung von Institutionen in das soziale System und ihren Prozesscharakter; zum zweiten ihre Integration in ein über Erwartungserwartungen strukturiertes Interaktionssystem; zum dritten die Generierung von Generalisierungsmechanismen der Konsensunterstellung; und zum vierten schließlich ihren Modus der Konsensgeneralisierung. Insbesondere letzterer Aspekt verweist freilich darauf, dass für Luhmann nicht der Begriff der Institution, sondern der Begriff des sozialen Systems den Gegenstand von Gesellschaftstheorie bildet, d.h. Institutionen erhalten ihre Be-

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Luhmann, Niklas: „Institutionalisierung – Funktion und Mechanismus im sozialen System der Gesellschaft“, in: Helmut Schelsky (Hg.), Zur Theorie der Institution, Düsseldorf 1973, S. 27 ff. (hier S. 37).

10 Vgl. Luhmann, Niklas: Universität als Milieu, Bielefeld 1992; s. auch Rehberg, KarlSiegbert: „Institutionen als symbolische Ordnungen. Leitfragen und Grundkategorien zur Theorie und Analyse institutioneller Mechanismen“, in: Gerhard Göhler (Hg.), Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, BadenBaden 1994, S. 47 ff. (hier S. 53), im Anschluss an Luhmann. 11 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 776.

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deutung nur im Rahmen einer Theorie sozialer Systeme – allerdings konzediert er in seinen frühen Schriften, dass der Begriff der Institutionalisierung „zur Bezeichnung spezifischer Prozesse eingesetzt werden [kann], die in solchen Systemen ablaufen und in ihnen angebbare Probleme lösen“.12 Die Betrachtung sozialer Systeme wird zwar durch die Vorgabe angeleitet, spezifische Systemrationalitäten auszuzeichnen, zugleich aber bilden soziale Systeme gegen ihre Umwelten abgrenzbare Einheiten, die Sinnbeziehungen zwischen „Handlungen“ herstellen. Daraus folgt: „In solchen Sinnsystemen entstehen dadurch interne Probleme der sinnhaft-selektiven Verarbeitung hoher Komplexität. Mit Bezug auf diese Probleme lässt sich unter anderem auch der Mechanismus der Institutionalisierung funktional begreifen“.13 Hier deutet sich nun sowohl die Möglichkeit einer partiellen Ablösung des Institutionenbegriffs von konkret umrissenen, materialen Funktionen als auch die Möglichkeit, Ordnungsvorstellungen über Differenzierung zu erläutern, an. Vor diesem Hintergrund erschließen sich seine Beweggründe, nicht von Institutionen, sondern von einem Begriff der „Institutionalisierung“ auszugehen, der die prozesshaften und dynamischen Aspekte institutioneller Wirkkraft mit in den Blick nimmt.14 Diese Idee einer prozessual strukturierten und funktional differenzierenden Sinnstiftung ermöglicht es Luhmann, eine weitere Verschiebung vorzunehmen. Indem er darlegt, dass gesellschaftliche Interaktionsverhältnisse in komplexen und pluralen Gesellschaftsstrukturen nicht mehr alleine über Verhaltenssteuerung und Verhaltenserwartungen, sondern über Erwartungserwartungen,15 die einem potentiellen Enttäuschungsrisiko ausgesetzt sind, gesteuert werden, verschiebt er den Blick auf Institutionalisierungen höherer Ebene – Stabilisierung durch Institutionen erfolgt dann in erster Linie auf der Ebene der Erwartbarkeit von Erwartungen und dient vor allem der Konsensermöglichung: „Wir aber fragen, was Institutionalisierung leistet, und jetzt genauer: wie es möglich ist, trotz jenes eng begrenzten und nicht wesentlich erweiterbaren Potenzials für aktuellen Konsens in einer überaus komplexen, sinnhaft konstituierten Welt die notwendige Abstimmung des Erwartens und Verhaltens zu schaffen“.16 Wenn er davon ausgeht, dass „Institutionalisierung […] dazu [dient], Konsens erfolgreich zu überschätzen“,17 d.h., dass die als minimal einzuschätzenden Chancen, aktuelle Konsense zu erreichen, durch Institu-

12 Ders. (Fn. 9), S. 29. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 28. 15 Vgl. ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 130 ff. 16 Ders. (Fn. 9), S. 30. 17 Ebd.

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tionalisierung ausgeweitet werden, dann impliziert das ein Funktionsspektrum, das auf die Generalisierung von Konsens hin bezogen ist. In diesem Generalisierungsmechanismus ist nun insofern eine hegemoniale Wirkung eingeschrieben, als Konsensunterstellungen potentiell auch auf Dritte ausgedehnt werden, d.h. als unterstellbare Erwartungen auch auf nicht (an der Genese, Konstitution, Infragestellung und Entwicklung von Institutionen) beteiligte Personen übertragen werden. Abgesehen von dem Umstand, dass sich an dieser Stelle demokratietheoretische Thematisierungsperspektiven anschließen lassen, bedeutet es zugleich, dass die über Institutionalisierung gewährleistete Stabilisierung von Erwartungserwartungen einem anonymisierten Modus folgt,18 wodurch die Erfolgsaussichten auf Konsensgeneralisierung steigen: „Gerade die Unbestimmtheit, Uneinschätzbarkeit und Unbefragtheit der relevanten Dritten garantiert die Verlässlichkeit und Homogenität der Institutionen und verhindert, dass die jeweils kommunikativ erreichbaren Beteiligten sie durch Neuabstimmungen ihrer Meinungen außer Kraft setzen. Im Schutze unvollständiger Kommunikationsmöglichkeiten können anonym institutionalisierte Verhaltenserwartungen idealisiert und gegen Widerlegung durch faktisches Meinen einzelner immunisiert werden“.19

Fragt man nach den konkreten Mechanismen der Konsensgeneralisierung, verweist Luhmann auf die reflexiven Eigenschaften moderner Institutionalisierungsprozesse, die u.a. eine „Generalisierung der Sinngrundlagen der Institutionen auf abstraktere, möglichkeitsreichere Formen hin“20 beinhalten. Das läuft darauf hinaus, dass Institutionen die „Institutionalisierung des Prozesses der Institutionalisierung“ gewährleisten und sich entsprechend reflexive Strukturen zu eigen machen. Eine auch in normativer Hinsicht relevante Konsequenz ergibt sich dadurch, dass über das Strukturmerkmal Reflexivität Institutionen in weit stärkerem Maße „vorstellbar“ und damit kontrollierbar und vor allem rationalisierbar werden. Normative Implikationen werden besonders deutlich, wenn er davon spricht, Reflexivität spiegele sich darin,

18 Vgl. Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 45 2 (2006), S. 161 ff.; Prien, Thore: Fragmentierte Volkssouveränität. Recht, Gerechtigkeit und der demokratische Einspruch der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2008. 19 N. Luhmann (Fn. 9), S. 31. 20 Ebd., S. 34.

156 | H ITZEL -CASSAGNES „daß Freiheit auf doppelte Weise in Institutionen Berücksichtigung finden muss, nämlich erstens als Kontingenz des moralischen oder unmoralischen, erfüllenden oder verfehlenden Handelns des Menschen – und das heißt: als Notwendigkeit, die Institutionen auf Normen zu abstrahieren, die unabhängig davon gelten, ob sie im Einzelfall erfüllt werden oder nicht; und zweitens als Freiheit der Teilnahme am institutionalisierten Entscheidungsprozess des politischen Systems.“21

Diese Möglichkeiten werden dann wiederum über die Art der Verfasstheit moderner Gesellschaften, die sich als komplex, kontingent, zukunftsoffen und ihrer Struktur nach variabel wahrnehmen, erläutert. Desgleichen müssen solche „zukunftsoffenen“ Gesellschaften ihre Institutionalisierungsmechanismen offen halten und „für Unabsehbares wappnen“, sie müssen in der Lage sein, für nahezu Beliebiges Konsensunterstellungen erzeugen zu können. Wenn durch die Nötigung, institutionalisierende Mechanismen zu institutionalisieren, die offen lassen, für was Konsenserwartungen erzeugt werden, und in diesem Sinne zukunftsoffene Unbestimmtheiten präsent gehalten werden, dann müssen diese Prozesse aber zugleich stabilisiert werden. Hier schließt die Idee an, dass sich Institutionalisierungen im Sinne stabilisierender Generalisierungen zugleich auf die Möglichkeiten von Komplexitätsreduktion beziehen: „[I]institutionalisierbar muss sein die Erwartung der Kontinuität Komplexität reduzierender Systeme.“22 Es kommt also darauf an, die Beschaffung von unterstellbarem Konsens unter Würdigung der strukturellen Labilität und Änderungsfähigkeit von Systemen auszuzeichnen. Komplexität stellt dabei nicht nur ein zu lösendes Problem dar, sondern zugleich eine Chance der Selbststabilisierung. Komplexitätssteigernde Differenzierung ermöglicht, „mit sehr verschiedenartigen Bezugsgruppen und Realitätskonstruktionen nebeneinander zu leben und nur noch Medien der Kommunikation zwischen Systemen gesamtgesellschaftlich zu institutionalisieren“.23 Implizit wird damit Institutionalisierung gleichsam als Kontingenzformel eingeführt, weil sich Ordnung nicht als konkrete Festschreibung darstellt, sondern als stabilitätsverbürgende und vor allem differenzermöglichende Vereinheitlichung. Sicherlich resultiert auch in Luhmanns Perspektive jede gelungene Ordnung aus einem jeweils institutionalisierten Innen-/Außenverhältnis, womit potentiell Autonomieansprüche verbunden sind – allerdings wird das jeweilige Innen-/Außenverhältnis zur Disposition gestellt und potentiell neu adjustiert.24 In dieser Hin-

21 Ebd., S. 35. 22 Ebd., S. 39. 23 Ders.: Soziologische Aufklärung, Bd. 1, Frankfurt a.M., 1970, S. 40. 24 Vgl. ders. (Fn. 11), S. 60 ff. und ders. (Fn. 15), S. 277 ff.

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sicht gelingt eine differenzsensible Profilierung, die zum einen eine Rekonstruktion der prozessualen Dimension und zum anderen der reflexiven Strukturmerkmale von Institutionalisierung ermöglicht, was eine entscheidende Weichenstellung dafür darstellt, In- und Exklusionsprobleme in den Blick zu nehmen.25

3. I NSTITUTIONALISIERUNGEN

DER

W ELTGESELLSCHAFT

Diese Überlegungen lassen sich heuristisch nutzen, und zwar nicht nur mit Blick auf eine eingehendere Betrachtung des Systems Politik, sondern auch mit Blick auf die soziale Dimension der Weltgesellschaft und entsprechende funktionale Dimensionen von Institutionalisierungsformen auf weltgesellschaftlicher Ebene. In einer entscheidenden Dimension beziehen sich die Funktions- und Leistungserwartungen darauf, dass Institutionen bei der Herstellung von Sinnzusammenhängen auf Kontingenzbewältigung abstellen. Dabei informieren die Strukturbedingungen der Weltgesellschaft – die als pluralistisch und über die Paradoxien der „zweiten Moderne“ zudem als fragmentiert beschrieben werden können – den Institutionenbegriff insofern, als die formalen und prozessualen Aspekte – und damit die Reversibilität – in den Vordergrund gerückt werden. Dieser Umstand kommt auch darin zum Ausdruck, dass Institutionen als Instanzen der Herstellung und Gewährleistung von Reflexivität erscheinen. Insofern das Institutionelle immer auch in einem prekären Spannungsverhältnis zu individuellen Ansprüchen und Betroffenenperspektiven steht, bezieht sich die soziale Dimension auf die Generierung von Mechanismen, die Inklusions- und Exklusionsprobleme bewältigen. Das führt dazu, die reflexiven und prozessbezogenen Mechanismen zur Bewältigung der Spannung zwischen Faktizität und Normativität in den Vordergrund zu rücken: Das Spannungsverhältnis zwischen den faktischen Geltungsbehauptungen von Institutionen und deren normativer Einlösung bzw. Rechtfertigung muss reflexiv und prozessbezogen bewältigt werden. In diesem Sinne stabilisieren Institutionen bestenfalls einen „Zustand struktureller Nervosität“. Das bedeutet aber auch, dass Institutionen nicht nur über entsprechende Eigenlogiken generierte Autonomiespielräume sichern und gegeneinander abgrenzen, sondern auch synthetisierende und integrierende Funktionen erfüllen (und erfüllen müssen), um ihre Reproduktionsbedingungen nicht zu unterlaufen – in

25 Dazu auch Durkheim, Emil: Physik der Sitten und des Rechts. Vorlesungen zur Soziologie der Moral, Frankfurt a.M. 1991; und Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1998, S. 151 ff., 367 ff., 541 ff.

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dieser Hinsicht müssen sie mindestens ihre infrastrukturellen oder Kommunikationsvoraussetzungen gewährleisten. Dieser Aspekt einer Balancierung zwischen Öffnung und Schließung wird insbesondere in der Betrachtung von Differenzierungsprozessen zweiter Ordnung sichtbar, weil auf dieser Ebene deutlich wird, dass die Rationalisierungsleistung von Institutionen als Kontingenzbewältigung beschrieben werden kann.26 Wenn wir nämlich davon ausgehen können, dass Institutionen Sinn- und Ordnungszusammenhänge dadurch herstellen, dass sie zum einen Funktionszusammenhänge ausdifferenzieren und diese intern über die Ausbildung von Eigenlogiken strukturieren, zum anderen aber Integrationsleistungen erbringen, die gewährleisten, dass sie sich von dem institutionellen Gefüge, in das sie eingebunden sind, nicht vollständig entkoppeln, dann kristallisiert sich hier ein Spannungsverhältnis, das institutionellen Mechanismen konstitutiv zugrunde liegt. Dieses Spannungsverhältnis kann allerdings auch als Hinweis darauf dienen, dass mit der Beschreibung von Differenzierung bzw. Rationalisierung als primärem Leistungs- und Funktionsmerkmal noch gar nichts gewonnen ist, da es nicht um Differenzierung und Rationalisierung als solche gehen kann, sondern um die Ermöglichung von Rationalisierungsprozessen. Verschiebt man die Perspektive auf das Spannungsverhältnis, indem das Bezugsproblem abstrakter gefasst wird, kann die Bewältigung desselben ebenfalls nur auf höherer Ebene erfolgen – und zwar in der Form, dass die Institutionalisierung von Institutionalisierung und damit die Veränderungsmechanismen von Institutionalisierung in den Blick genommen werden. Mir scheint relativ unstrittig, dass unter Bedingungen weltgesellschaftlicher Strukturen auf partikularen Rationalitäten aufruhende, aber mit hegemonialem Anspruch ausgestattete institutionelle Mechanismen höchst prekär und fragil sind. Angesichts von Heterogenität und Pluralität können Geltungsansprüche weder umfassend aufrechterhalten werden noch können angesichts wechselnder Interdependenzen und sich ändernder Funktionszusammenhänge Vermittlungsund Integrationsfunktionen unhinterfragt erfüllt werden – zumindest nicht ohne die Gefahr einer Verstrickung in „institutionelle Selbstblockaden“.27 Die An-

26 Vgl. auch E. Durkheim (Fn. 25), S. 64 ff. und. 111 ff.; Münch, Richard: Die Struktur der Moderne. Grundmuster und differentielle Gestaltung des institutionellen Aufbaus der modernen Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, S. 261 ff. und 617 ff., auch Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1995, S. 332 ff. 27 Offe, Claus: „Fessel und Bremse. Moralische und institutionelle Aspekte ‚intelligenter Selbstbeschränkung‘“, in: Axel Honneth et al. (Hg.), Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1989, S. 739 ff.

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nahme, funktionale Zweckzusammenhänge seien stabil, unzugänglich und irreversibel, so dass Institutionen gleichsam immun gegenüber der Herausforderung sind, ihre eigenen Prämissen zu überprüfen und anzupassen, wird vor diesem Hintergrund höchst unplausibel. Sie müssen vielmehr als differenz- und differenzierungsermöglichende Formen der Koordination immer auch über differenzsensible Mechanismen verfügen, um ihre Ordnungs- und Reproduktionsvoraussetzungen gewährleisten zu können. Das legt es nahe, die Prozessualität und insbesondere Reflexivität institutioneller Mechanismen stärker in den Blick zu nehmen; erst dann wird ersichtlich, dass Institutionen in Anbetracht von Heterogenität und Pluralität (d.h. insbesondere in Anbetracht konkurrierender Sinn-, Ordnungs- und Geltungsansprüche) typischerweise mit der Herstellung von Einheitlichkeit (oder Konsensunterstellung) auf höherer Ebene reagieren. D.h. die Generierung erfolgreicher Konsensunterstellungen und Konsensgeneralisierungen erfolgt über eine Generalisierung der Sinngrundlagen auf abstraktere und damit möglichkeitsreichere Formen, was dann bedeutet, dass diese möglichkeitsreicheren und differenzsensibleren Formen vor allem auf die Institutionalisierung des Prozesses der Institutionalisierung selbst bezogen sind. In diesem Sinne können institutionelle Mechanismen, weil sie auf die institutionelle Ermöglichung von Institutionalisierung bezogen sind, als Mechanismen von Kontingenzbewältigung interpretiert werden. Wenn es in der Logik institutioneller Mechanismen liegt, für „nahezu Beliebiges“ Konsensunterstellungen generieren zu können, heißt das auch, dass nahezu Beliebiges in den institutionellen Gestaltungsbereich einbezogen – aber entsprechend auch wieder zur Disposition gestellt – werden kann. Das Paradox, dass Kontingenzbewältigung zugleich Kontingenzermöglichung ist, kann also nur über eine formale Strukturierung von Kontingenzspielräumen verarbeitet werden. Dass Kontingenzbewältigung neben der Herstellung von Reflexivität und Inklusionsmanagement eine angemessene Beschreibung des institutionellen Funktions- und Leistungsspektrums darstellt, zeigt sich nicht nur daran, dass damit plausibilisiert werden kann, wie institutionelle Mechanismen auf die Strukturbedingungen moderner Gesellschaften, insbesondere Heterogenität und Pluralität, reagieren: Nur über Kontingenzbewältigung kann erläutert werden, dass trotz faktisch bestehender und wechselnder Dissense Sinn- und Ordnungszusammenhänge hergestellt werden können, die zugleich offen und responsiv für die Vermittlungsmöglichkeiten von Dissensen sind. Hier kann insofern ein normativer Sinn unterstellt werden, als Kontingenzbewältigung als Voraussetzung der Vermittlung von Konflikten unter dem Vorzeichen von Heterogenität erscheint. Darüber hinaus müssen Institutionen auch in einer zweiten Hinsicht offen und responsiv reagieren können, nämlich dann, wenn es darum geht, Autonomiebe-

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hauptungen im institutionellen Gefüge gegeneinander und untereinander zu vermitteln: Kontingenzbewältigung impliziert in diesem Bereich, dass konkurrierende Autonomiebehauptungen und Differenzierungen ebenso wie Verflechtungs- und Interdependenzprobleme nur bewältigt werden können, wenn Institutionen ihre infrastrukturellen und kommunikativen Voraussetzungen gewährleisten können, die aber zugleich notorisch im Wandel begriffen sind. Vor diesem Hintergrund dient Kontingenzbewältigung der Ermöglichung einer strukturierten und offenen Form von Handlungskoordination. Damit werden allerdings solche Sicherungsstrategien, die über Festschreibungen des institutionellen Status quo oder über Rückbindungen an substantielle Wert- und Funktionsvorgaben erfolgen, verunmöglicht. Sicherung muss sich vielmehr reflexiv auf die Sicherungsvoraussetzungen selbst beziehen und Veränderungsmechanismen mit institutionalisieren. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen ergeben sich in zwei Hinsichten normative Anschlussthematisierungen, zum einen mit Blick auf die Strukturdefekte globaler Institutionalisierungsformen, die sich noch einmal verschärft darstellen, wenn Verfahrensaspekte mit berücksichtigt werden – dazu gleich mehr – und zum anderen mit Blick auf Inklusionsfragen. Die soziale Dimension wird in institutionellen Ordnungs- und Handlungskontexten ja in unterschiedlichen Hinsichten thematisch. Zum einen ist das in einem ganz basalen Sinne der Fall, weil soziale Akteure in Institutionen eingebunden und institutionellen Bindungswirkungen unterworfen sind. Nun wäre diese Beobachtung für die Profilierung von Institutionalisierungsformen banal, verstünde man sie so, dass die soziale Ebene nur in ihrem Objekt- bzw. Gegenstandsbezug eine Rolle spielt – etwa in dem Sinne, dass Institutionen zwar Auswirkungen auf die soziale Ebene haben, selbst aber gänzlich über Strukturdynamiken erläutert werden können, womit impliziert wäre, dass sich Institutionalisierung stets hinter dem Rücken von Akteuren vollzieht und durchsetzt. In konzeptioneller Hinsicht hätte dann das Soziale (geschweige denn Fragen der In- und Exklusion) keine konstitutive Bedeutung für einen Institutionenbegriff. Diese Annahmen sind aber in zumindest einer Hinsicht unplausibel, da institutionelle Ordnungsansprüche und Geltungsbehauptungen nicht per se erfolgreich sind oder sein können. Institutionalisierungen stellen sich als veränderbar, reversibel und hinterfragbar dar, und somit erweisen sich die institutionellen Inklusionssphären bzw. die In- und Exklusionsgrenzen von Institutionen als ebenso veränderbar, reversibel und hinterfragbar. Zudem sind Institutionen einerseits über einen entsprechenden Raum institutioneller Bindungswirkung auf Inklusion hin angelegt, andererseits können In- und Exklusionsprobleme nicht vermieden werden. In formaler Hinsicht stellt sich die In- und Exklusionsproblematik als organisationales Abgrenzungsproblem dar, bei dem es sich im eigentlichen Sinne um Zugangsfragen handelt. In diesem Zusammen-

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hang kann dargelegt werden, dass mit institutionellen Differenzierungsprozessen ein In- und Exklusionsmanagement einhergeht, das sich Rechtfertigungsanforderungen potentiell nicht entziehen kann – und gleichsam den normativen Sinn berührt, der in der sozialen Dimension zu unterstellen ist. In materialer Hinsicht kommt die In- und Exklusionsproblematik indirekt insbesondere dann in den Blick, wenn es darum geht, die Art und den Gehalt von Inklusion im Sinne von Teilnahme und Teilhabe zu spezifizieren. Wenn Institutionalisierungsprozesse selbst als im weitesten Sinne funktional bedingte Differenzierungsprozesse erscheinen, dann entstehen über die Etablierung und Restrukturierung funktionaler Steuerungs-, Regelungs- und Verantwortungsbereiche zugleich Abgrenzungsprobleme, die In- und Exklusionsmodalitäten thematisch werden lassen, so dass Fragen der Qualifizierung des Zugangs zu Institutionen und des Zugriffs von Institutionen ebenso wie Fragen nach prozessverändernden Beteiligungsformen dabei auch innerhalb institutioneller Funktions- und Reproduktionslogiken bewältigt werden müssen. Die Konsequenz, die sich aus diesen Überlegungen ergibt, liegt darin, dass die Frage nach In- und Exklusion dem Institutionellen immer schon eingeschrieben ist. Die Pluralität und Ausdifferenziertheit institutioneller Zugehörigkeit ebenso wie die Möglichkeit einer Thematisierung von Teilnehmer_innen- und Betroffenenperspektiven verweisen darauf, dass Institutionen ihre Inklusivität (oder Exklusivität) reflexiv thematisieren und infrage stellen können müssen. Dabei handelt es sich um ein strukturelles Erfordernis weltgesellschaftlicher Institutionen, das der Pluralität und Differenzierungsoffenheit der gesellschaftlichen Strukturen geschuldet ist.

4. V ERFAHREN – D EMOKRATIE – G EMEINWOHL Die Strukturdefizite von Institutionalisierungsformen globaler Politik bzw. globaler Governance können ein Stück weit transparenter gemacht werden, wenn man Luhmanns Rekonstruktion der evolutionären „Errungenschaften“ moderner politischer Systeme betrachtet und diese noch einmal auf die weltgesellschaftliche Ebene extrapoliert. Dabei sind es insbesondere seine Überlegungen zur Legitimation durch Verfahren,28 zur Demokratisierung von Politik bzw. zur Positivierung von Recht und damit zur strukturellen Koppelung von Politik und Recht29

28 Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M. 1983. 29 Ebd.; vgl. auch ders.: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 85 ff., 95 ff.; und ders. (Fn. 15), S. 407 ff.

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sowie zu den Kontingenzformeln Legitimität und Gemeinwohl,30 an denen sich die funktionalen und auch die normativen Defizite globaler Governance spezifizieren lassen – und zwar über allgemeine Institutionalisierungsdefekte und -paradoxien hinaus. Eine Legitimation durch Verfahren wird im eigentlichen Sinne nach Luhmann erst dann möglich, wenn die „Gleichheit der Chance, befriedigende Entscheidungen zu erhalten“,31 hierarchisch, hegemonial oder tauschförmig organisierte Konsense in den Hintergrund drängt; erst dann können Entscheidungen „eine Art generelle Anerkennung, die unabhängig ist vom Befriedigungswert der einzelnen Entscheidung,“32 finden, wobei die Komplexität moderner Gesellschaften konstitutiv auf die Notwendigkeit der Generalisierung des Anerkennens von Entscheidungen angewiesen ist: „Nur wenn man die Bindung des Legitimitätsbegriffs an die persönlich geglaubte Richtigkeit der Entscheidungen aufgibt, kann man die sozialen Bedingungen der Institutionalisierung von Legitimität und Lernfähigkeit in sozialen Systemen angemessen untersuchen“.33

Ähnlich wie mit Blick auf den Institutionalisierungsbegriff steht auch hier der Gedanke im Vordergrund, dass ein Lernen im sozialen System mit der Genese, Veränderung und Umstrukturierung von Erwartungen zusammenhängt.34 Im politisch-administrativen Teilsystem erfolgt eine Legitimation von Entscheidungen über institutionalisierte Lernprozesse als eine Form von Legitimation durch Verfahren, wobei hier noch nicht so sehr die strukturelle Koppelung mit dem Recht und die verfahrensrechtliche Einbettung politischer Entscheidungen gemeint ist, sondern Verfahren als Kommunikationsprozess in den Blick genommen wird, indem über die Umstrukturierung des Erwartens eine Generalisierung von Anerkennung ermöglicht wird.35 In dieser Perspektive tritt das „Eigenleben“ von Verfahren in zeitlicher, sachlicher und sozialer Hinsicht stärker hervor, das damit

30 Ders. (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 118 ff. 31 Ders. (Fn. 28), S. 30. 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd., S. 34. 34 Ders.: Soziologische Aufklärung 2. Aufsätze zur Theorie der Gesellschaft, Opladen 1991, S. 72 ff. 35 Ders. (Fn. 28), S. 35 ff.; vgl. Amstutz, Marc: „Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 1 (2008), S. 125 ff., der die Funktion einer Umstrukturierung von Erwartungen über den Latenzbegriff reformuliert.

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„zur sozialen Generalisierung der Ergebnisse“ beiträgt.36 Dass die Generalisierung von Anerkennung auf möglichkeitsreichere und abstraktere Formen der Institutionalisierung angewiesen ist, zeigte sich schon; dass sie zudem differenzsensibler und inklusionsoffener ausfallen muss, wird durch Luhmanns Einlassungen zur Demokratisierung von Politik anschaulich. „Der Effekt, den die Positivierung des Rechts, also die Variierbarkeit aller als Programm dienenden Entscheidungsprämissen, auf das politische System einer Gesellschaft haben muss,“37 bezieht sich nicht nur auf die Komplexität des Rechts und der Politik, sondern auch auf die Notwendigkeit „neuartiger Formen der Stabilisierung“ bzw. abstrakterer Formen der Symbolisierung, weil Alternativen „sichtbar“ und „politische Unterstützung zum permanenten Problem“ werden: „Die Mobilisierung der Entscheidungsprämissen und die Mobilisierung der Bedingungen politischer Unterstützung bedingen sich wechselseitig und führen zusammen jene strukturelle Unbestimmtheit des politischen Systems herbei, die für Systeme mit hoher Eigenkomplexität typisch und notwendig ist.“38

Hier wird deutlich, dass sich nicht nur am Verfahrensbegriff, sondern auch an seinen Überlegungen zu Demokratie normative Potenziale insofern ausweisen lassen, als auf einer abstrakten Betrachtungsebene sehr wohl gezeigt werden kann, dass Demokratisierung eine höhere Form der Ordnungsbildung darstellt, die sich nicht nur durch Inklusivität und Generalisierung von Anerkennung (oder Folgebereitschaft), sondern auch durch responsive Prozessualisierung auszeichnet – ein Aspekt, der geeignet ist, in einem weiteren Schritt die gesellschaftlichen Mobilisierungspotenziale, d.h. die Bottom-up-Struktur demokratischer Politik, in den Vordergrund zu rücken.39 Entsprechend sollte man sich mit Blick auf Luhmanns Demokratieverständnis durch seine zum Teil recht traditionell anmutenden Formulierungen etwa zur Funktion von Politik als „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“,40 zum Staat41 oder zum Machtbegriff42 nicht zu sehr beeindrucken lassen. Auch wenn er z.B. auf die Mystifizierbarkeit von Macht, Staatlichkeit und Souveränität verweist, ist doch die eigentli-

36 N. Luhmann (Fn. 28), S. 47. 37 Ebd., S. 151. 38 Ebd., S. 151. 39 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 90 ff. 40 Ebd., S. 84. 41 Ebd., S. 79. 42 Ebd., S. 35 ff.

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che evolutionäre Errungenschaft darin zu sehen, dass Macht als generalisiertes Kommunikationsmedium auf Legitimation angewiesen ist. Das Medium Macht „funktioniert […] nur auf der Basis einer Fiktion, einer nicht realisierten zweiten Realität […] es funktioniert nur dank der ‚Anwesenheit des Ausgeschlossenen‘.“43 Zugleich bedingt die Legitimationsbedürftigkeit von Macht die Demystifizierung der Ursprungsparadoxie: „Denn Legitimation ist nichts anderes als die Transformation des Abwesenden in die Anwesenheit von Werten in das tagespolitische Dauergeschäft des Umgang mit Klagen über die unzureichende Realisierung der Werte“.44 Nimmt man einmal den zynischen Beigeschmack dieser Formulierung heraus, eröffnet sich ein systematischer Verweis auf die Transformation des Abwesenden in Anwesenheit. D.h. der Zuwachs an Möglichkeiten durch Macht als generalisiertes Medium im System der Politik ruft zugleich die Notwendigkeit der „Einschränkung ihres Gebrauchs“ hervor,45 in Luhmanns Worten: Es geht darum, „dass das System über Möglichkeiten verfügt, Ungebundenheit (Willkür) und Entscheidungsänderung zu unterscheiden“.46 Dafür dient nicht nur die Institution des Verfahrens, sondern vor allem die strukturelle Koppelung von Politik und Recht – dieses „ausgetüftelte“ System des Rechtsstaats – sowie die Demokratisierung von Politik: „Wir können nunmehr auch sehen, weshalb die Evolution diese Funktion ‚wählt‘. Sie entspricht einem Problem, das die Gesellschaft mit oder ohne ausdifferenzierte Politik lösen muss, nämlich der Notwendigkeit, kollektive Verbindlichkeiten festzusetzen auch angesichts von Meinungsdivergenzen oder Meinungsschwankungen von Betroffenen. […] Das Bereitstellen einer entsprechenden Machtkapazität für kollektiv bindendes Entscheiden ist dann das nach außen abgrenzbare, nach innen hin offene Problem, das diese Funktion vorzeichnet“.47

Diese interne Offenheit ist von entscheidender Bedeutung, weil dadurch zum einen Asymmetrisierungen und Hierarchisierungen nicht mehr als natürlich vorausgesetzt werden können, d.i. potentiell legitimationsbedürftig werden, und weil zum anderen neue Modalitäten der Inklusion und Responsivität institutiona-

43 Ebd., S. 47. 44 Ebd. 45 Ebd., S. 56. 46 Ebd., S. 85; vgl. auch Fischer-Lescano, Andreas/Christensen, Ralph: „Auctoritas Interpositio. Die Dekonstruktion des Dezisionismus durch die Systemtheorie“, in: Der Staat (2005), S. 213 ff. 47 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 87.

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lisiert werden können. Damit wird Staat allerdings zum Etappenbegriff, ganz ähnlich der Idee, dass Gesellschaft zum „Horizontbegriff“ transformiert wird.48 Das kann auch mit Luhmanns Rekonstruktion von Demokratisierung bebildert werden: „Vielmehr ging es um ein Korrelat der Evolution des politischen Systems im Kontext der Umstellung auf funktionale Differenzierung der Gesellschaft. Man brauchte einen Begriff zur Bezeichnung neuer Modalitäten der Inklusion und, damit zusammenhängend, neuer Modalitäten der Vorbereitung von kollektiv bindenden Entscheidungen; einen Begriff, mit dem die gestiegene Komplexität und Kontingenz des politischen Systems aufgefangen werden konnte“.49

Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen wird nicht so recht plausibel, weshalb Luhmann in so großem Umfang auf weltgesellschaftlicher Ebene am „Staat“ festhält, konzediert er doch selbst, dass die Rolle und Funktion der klassischen Nationalstaaten nur noch vom Begriff der Weltgesellschaft her zu eruieren sind, dass raumbezogene Zentralismen transzendiert werden und dass eine kosmopolitische Weltöffentlichkeit entsteht: „Aber all diese Widerstände gegen den Begriff der Weltgesellschaft verlieren an Überzeugungskraft in dem Maße, als man dann mehr und mehr typische Merkmale der Moderne in den Begriff ‚globalisierender Tendenzen‘ einbringen muss. Die Abhängigkeit einzelner Staaten von bestimmten anderen Staaten nimmt ab und ihre Abhängigkeit vom politischen System der Weltgesellschaft nimmt zu“.

Damit verliert der Begriff der Souveränität seine Funktion des Schutzes gegen Übermacht und driftet in Richtung auf Verantwortung für regionale Ordnung. Weder in der Form von ‚Herrschaft‘ noch in der Form von ‚Kultur‘ oder ‚Werten‘ setzt der Begriff der Weltgesellschaft Zentralisation voraus.50 Zugleich und dennoch nimmt er die segmentäre Differenzierung des weltpolitischen Systems zum Ausgangspunkt einer Heuristik, nach der ein staatenbasiertes Modell eines weltpolitischen Systems alternativlos ist:

48 Dazu auch Stäheli, Urs: „The Outside of the Global”, in: The New Centennial Review 3:2 (2003), S. 1 ff. 49 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 97. 50 Ebd., S. 221.

166 | H ITZEL -CASSAGNES „Desungeachtet zwingt sich die segmentäre Differenzierung des weltpolitischen Systems allen Territorien auf. Es gibt keine Gebiete, die an Politik teilnehmen (und es gibt keine Gebiete, die das vermeiden können), ohne die Form von ‚souveränen‘ Staaten anzunehmen“.51

Zudem soll „[d]ie Segmentierung des weltpolitischen Systems in Staaten die […] Wahrscheinlichkeit [verringern], dass andere Funktionssysteme ‚politisiert‘ werden“.52 Beide Einschätzungen erscheinen mir unplausibel und auch empirisch mittlerweile höchst zweifelhaft: Gegen erstere sprechen die Ausdifferenzierung von Akteursqualitäten und die Transnationalisierung von Interessen- bzw. Betroffenenlagen, gegen letztere die horizontalen Effekte globaler Regimes, die „Selbstvergessenheit“ von Nationalstaaten und eine durch Segmentierung bedingte hegemoniale Strukturbildung.53 Das entscheidende Gegenargument in systematischer Hinsicht bezieht sich allerdings auf den Umstand, dass es Luhmann ja eigentlich um die (kollektive) Kommunikationsfähigkeit, die durch irgendeine Art stabiler Organisation gesichert sein muss, geht.54 In dieser abstrakten Fassung wären ganz unterschiedliche Organisationsformen und Institutionalisierungsmöglichkeiten denkbar. Nicht so recht klar wird dann, weshalb er organisierte Kommunikationsfähigkeit fast ausschließlich Staaten zubilligt und weshalb er die segmentäre Differenzierung des politischen Systems der Weltgesellschaft gleichsam festschreibt: „für die Weltpolitik unerlässlich ist die kollektive Kommunikationsfähigkeit der Staaten. Kollektive Kommunikationsfähigkeit kann aber nur durch Organisation gesichert werden. Sie ergibt sich nicht einfach schon aus der Durchsetzungsfähigkeit von Macht. Unter weltgesellschaftlichen Bedingungen wird man deshalb die organisierte Fähigkeit, ein Segment des weltpolitischen Systems intern und gegenüber anderen Segmenten kommunikativ zu vertreten, für ausschlaggebend halten müssen.“55

51 Ebd., S. 225. 52 Ebd., S. 223. 53 Vgl. Brunkhorst, Hauke: „Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft“, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2007, S. 63 ff.; Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas: „Emanzipatorische Gegenhegemonie im Weltrecht“, in: Regina Kreide/Andreas Niederberger (Hg.), Transnationale Verrechtlichung. Nationale Demokratien im Kontext globaler Politik, Frankfurt a.M./ New York 2008, S. 114 ff. 54 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 226. 55 Ebd., S. 226. An anderer Stelle konzediert Luhmann ja durchaus, dass die Gleichsetzung von politischem System und organisiertem Staat nicht gerechtfertigt ist und dass

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Demgegenüber verfügen jedoch auch inter-, trans- und supranationale Organisationen ebenso wie transnationale Bewegungen (insbesondere transnational agierende Menschenrechtsbewegungen, Opferbewegungen oder Rechtshilfeorganisationen) über (organisierte) Kommunikationsfähigkeit; zudem sind Interessen und Betroffenenperspektiven kaum mehr nur über staatliche Segmente im politischen System der Weltgesellschaft repräsentiert bzw. repräsentierbar. Ein Hauptproblem mit Blick auf die Legitimität globaler Politik liegt ja gerade darin, dass relevante Betroffenenperspektiven durch Segmente nicht angemessen repräsentiert werden, dass hegemoniale Strukturen invisibilisiert und dass In- und Exklusionsprobleme vernachlässigt werden. Vor diesem Hintergrund trifft dann weder die Einschätzung zu, dass „Segmentierung des weltpolitischen Systems in Staaten […] die Wahrscheinlichkeit [verringert], dass andere Funktionssysteme ‚politisiert‘ werden“56 – das Gegenteil ist der Fall –, noch, dass die „Segmentierung des weltpolitischen Systems […] die Eigendynamik anderer Funktionssysteme [schützt]“.57 Ein solcher Schutz wäre erst dann möglich, wenn das politische System der Weltgesellschaft strukturelle Koppelungsmechanismen ausbildet – denn nur über strukturelle Koppelungen werden wechselseitige Selbstbindungen bzw. Selbstbeschränkungen möglich – und wenn es seine Binnen- wie Außendifferenzierung in Kontingenzformeln umsetzen würde, die die funktionale Differenzierung der Weltgesellschaft stabilisieren. Nimmt man, anders als Luhmann, eine im stärkeren Sinne transnationale – und potentiell kosmopolitische – Perspektive ein, werden zudem die strukturellen Demokratie- und Legitimationsdefizite nationalstaatlicher Entscheidungs- und Gesetzgebungspraxis sichtbar.58 Wird nämlich einmal die idealtypische Unterstellung einer Kongruenz von Rechtsautor_innen und -adressat_innen im nationalstaatlichen Rahmen in der Betroffenenperspektive hinterfragt, ist zweifelhaft, ob und in welchen Hinsichten ein weltgesellschaftlicher Bezugspunkt noch ausgeschlossen werden kann.59 Wenn wir indessen die Verdachtsheuristik umkehren, werden insbesondere zwei

die Abhängigkeit von Organisation als eine Abhängigkeit von einer „Mehrheit von Organisationen“ gedacht werden muss. Ebd., S. 242 f. 56 Ebd., S. 223. 57 Ebd. 58 Vgl. auch Eriksen, Erik Oddvar/Joerges, Christian/Rödl, Florian: Law, Democracy and Solidarity in a Post-national Union, London/New York 2008; Joerges, Christian: „Rethinking European Law’s Supremacy: A Plea for a Supranational Conflict of Laws“, in: Beate Kohler-Koch/Berthold Rittberger (Hg.), Debating the Democratic Legitimacy of the European Union, Lanham 2007, S. 311 ff. 59 Vgl. H. Brunkhorst (Fn. 53).

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Probleme nationalstaatlicher Regulierung deutlich: dass das Selbstkonstitutionsparadox nationalstaatlicher Regulierung externalisiert wird, weil die Willkür und Rechtfertigungsnotwendigkeiten von In- und Exklusionsgrenzen invisibilisiert werden; und dass Nationalstaaten eine strukturell selbstbezügliche Regulierungspraxis unter potentieller Missachtung negativer Externalitäten und Betroffenenperspektiven jenseits des Nationalstaats zu Eigen ist. Nimmt man diese Bedenken ernst, dann treten Koordinations- und Kooperationsbedarfe in den Vordergrund, so dass mit Blick auf die Ausbildung höherer Ordnungsbildung Kooperationspflichten eingefordert werden können. Höhere Ordnungsbildung würde in dieser Perspektive zum Ersten auf die Überwindung von wechselseitigen Immunisierungsstrukturen zielen, zum Zweiten darauf, Formen höherer Ordnungsbildung reflexiv zu strukturieren, und zum Dritten darauf, Inklusionsdynamiken innerhalb dieses Prozesses in Gang zu setzen. Damit wird auch deutlich, dass die potentiell kosmopolitische Ausrichtung politischer Ordnung auf das Verweisungsverhältnis von Recht und Demokratie rückwirkt und dass politische Herrschaft über mindestens zwei Ebenen legitimiert werden muss: nicht nur intern, sondern auch extern durch die Herstellung von Kongruenz zwischen Regelungsautor_innen und -adressat_innen im Sinne von Betroffenenstandpunkten.60 Das sind entscheidende Aspekte, die im Rahmen einer Integration fragmentierter, asynchroner und mehrdimensionaler Ordnungsgebilde nicht aus dem Blick verloren werden sollten.61 Mit Luhmann werden normative Thematisierungsperspektiven dort am deutlichsten, wo seine Überlegungen zur Kontingenzformel des politischen Systems einsetzten, in deren Anschluss sich kritische Potenziale vor allem an den Verweisungszusammenhängen von Legitimation, Demokratie und Recht entbinden lassen – und zwar deshalb, weil sich der „Sinn der politischen Kontingenzformel auf das allgemeine Prinzip der Legitimität im Sinne einer öffentlichen Darstellbarkeit von Präferenzen, für die man sich politisch einsetzt“,62 bezieht, und weil

60 Vgl. Teubner, Gunther/Lindahl, Hans/Christodoulidis, Emilios/Thornhill, Chris: „Debate and Dialogue: Constitutionalizing Polycontexturality“, in: Social & Legal Studies 20 (2011), S. 209 ff. 61 Eine Folge dieser Weichenstellung wäre, dass Letztentscheidungsbefugnisse, Kompetenz-Kompetenzrechte oder, allgemeiner gesprochen, dass Entscheidungsprärogativen nicht mehr so einfach von oben nach unten oder umgekehrt verteilt werden können, weder durch abschließende Enumerationen noch durch klar geschnittene föderale oder Subsidiaritätsprinzipien. 62 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 122.

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Legitimität zugleich als „Korrelatbegriff zu Demokratie“63 bestimmt wird. Doch wie erläutert Luhmann diesen Zusammenhang? Die Funktion einer Kontingenzformel liegt bekanntlich in der Sinngebung des Systems über Selbsteinschränkungsmechanismen, d.h. es geht um „die Transformation von unbegrenzten Entscheidungsmöglichkeiten in Sinnhorizonte, die im System selbst als limitierend behandelt werden können.“64 Um eine verdeckte Paradoxie handelt es sich auch hier, weil „Kontingenzformeln [die] ‚Bedingungen der Möglichkeit‘, hier also Bedingungen politischer Thematisierung in einer Weise [benennen], die ihrerseits nicht mehr auf Bedingungen ihrer Möglichkeit hin aufgelöst werden [können].“65 Eine Verarbeitung der Paradoxie gelingt dann, wenn sich Entscheidungen im Sinnhorizont dessen, was wir als Gemeinwohl betrachten können, bewegen. Entscheidend ist hier der Gedanke, dass das Gemeinwohl nicht substantiell bestimmt wird, sondern dass die Grenze zwischen Gemeinwohl und Eigennutz bzw. zwischen öffentlichen und privaten Interessen nur politisch gezogen werden kann und dass damit die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten zur Disposition gestellt wird.66 In der stärksten Lesart dieser Formulierungen ist es möglich, die Leistung demokratischer Politik gerade darin zu sehen, dass der Umgang mit Paradoxien nicht auf Invisibilisierung hinausläuft – ein Vorwurf, der Luhmann vor allem auch von jenen Autor_innen entgegengebracht wird, die das kritische Potenzial von Systemtheorie entweder in der Transformation von Kontingenz- in Transzendenzformeln identifizieren und/oder die dekonstruktiven Potenziale, d.h. die Möglichkeiten der Aufdeckung und Demystifizierung von Ursprungs- und Gründungsparadoxien zu benennen suchen.67 Wenn also in diesem Sinne die Kontingenzformel „Gemeinwohl“ mit der Formel der „Legitimität“ komplementiert wird – und da auch diese Formel paradox ist, „da sie unterstellt, was sie leisten soll“68 – dann korrespondiert sie mit der demokratischen Offenheit politischer Entscheidungsfindung.69 Hier könnte man analog zu der Idee, dass das Recht sich durch den internalisierten Bezug auf Gerech-

63 Ebd., S. 124. 64 Ebd., S. 118. 65 Ebd., S. 120. 66 Ebd., S. 121 f. 67 Vgl. M. Amstutz (Fn. 35), S. 126, der diese Verdachtsheuristik mit folgender Formulierung zuspitzt: „Urspungslosigkeit ist die Marke der Differenzlogik“; s. auch Arfi, Badredine: „Rethinking International Constitutional Order: The Auto-immune Politics of Binding Without Binding“, in: Millennium 39 (2010), S. 299 ff. 68 N. Luhmann (Fn. 29), Die Politik der Gesellschaft, S. 123. 69 Ebd.

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tigkeit selbst transzendiert, argumentieren, dass sich Politik durch den internalisierten Bezug auf (ein notwendig politisiertes und damit demokratisch generiertes) Gemeinwohl selbst transzendiert. D.h. Legitimität entbindet sich in erster Linie an einer Prozeduralisierung und an Reflexivität, weil „die Möglichkeit anderer Präferenzsetzungen“70 zugelassen und das „Beteiligungsrecht anderer Meinungen“71 institutionalisiert wird: „Wie im Rechtssystem greift man auch im Politiksystem zur Umsetzung der Kontingenzformel (zur Entfaltung der durch sie verdeckten Paradoxie) auf die Idee eines fairen, nicht im Ergebnis durch Machteinsatz schon vorbestimmten Verfahrens zurück. Verfahren müssen mit ehrlicher Ungewissheit über den Ausgang eingeleitet werden. Die sogenannte ‚Prozeduralisierung‘ der Legitimität heißt im Wesentlichen: Einstellung auf eine unbekannte Zukunft, in der entgegengesetzte Wertungen zum Zuge kommen können.“72

Die normativen Potenziale dieses Verweisungszusammenhangs liegen darin begründet, dass eine sachliche und soziale Schließung von Konflikten und eine gesellschaftliche Versäulung von In- und Exklusionsgrenzen ausgeschlossen werden soll. In den Vordergrund rücken hingegen – und daran entbindet sich das emanzipatorische Potenzial des Systems der Politik – die Temporalisierung von Kontingenzbewältigung, d.h. der Wiedergewinn von Nichtwissen und anderer Möglichkeiten ebenso wie die Legitimationsbedürftigkeit von Herrschaft: „[D]er Einbau von Kontingenzerfahrungen in die Parameter der Situation [zwingt] zum Verzicht auf absolute (unangreifbare) Rechtfertigungen.“73 Damit findet Demokratie „in der Ausbeutung von Nichtwissen, eine wichtige, wohl unentbehrliche Bedingung ihrer Möglichkeit.“74 Diese normativen Potenziale können dann auf die Innen-/Aussendifferenzierung des Systems rückwirken – ein Aspekt, der u.a. in Betrachtung der strukturellen Koppelungen relevant wird: „Und während die Politik es so sehen muss, dass ohne legitimationsbedürftige Optionen keine Politik nötig wäre, sieht die externe Beschreibung es umgekehrt: ohne ausdifferenziertes politisches System keine Probleme mit Legitimität.“75

70 Ebd., S. 124. 71 Ebd. 72 Ebd. 73 Ebd., S. 153. 74 Ebd., S. 161. 75 Ebd., S. 126.

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5. A USBLICK Das kritische Potenzial systemtheoretischer Überlegungen entbindet sich zum einen daran, dass aufgezeigt werden kann, weshalb sich die Institutionalisierungsformen globaler Politik nicht gegen die Inklusion weltgesellschaftlicher Ansprüche und gehaltvollere Formen der Demokratisierung jenseits vertragsbasierter Staatenkonsense immunisieren lassen und damit auf die Ausbildung reflexiver Formen höherer Ordnungsbildung angewiesen sind. In dieser Perspektive können einerseits Exklusionsprobleme und andererseits Asymmetrien interner Entscheidungsmechanismen sichtbar gemacht werden. Dabei können insbesondere die Paradoxien und Widersprüche nicht nur funktionaler Differenzierung auf der Ebene der Politik der Weltgesellschaft offengelegt werden – wobei sich zeigt, dass vor allem die segmentären Strukturen stratifikatorische Auswirkungen haben, die hegemoniale Asymmetrien und den Ausschluss von „Gesellschaften“ und Betroffenen bedingen. Über die Erläuterung des Verweisungszusammenhangs zwischen Verfahren, Legitimation und Demokratie wird besonders deutlich, dass in der gegenwärtigen Form globaler Governance Schließungsstatt Öffnungsoptionen privilegiert werden, weil politische Entscheidungen auf globaler Ebene strukturell macht- bzw. hegemoniebasiert sind, und dass damit gerade keine gleiche Chance auf Konsensgeneralisierung besteht. Ähnliche Überlegungen schließen an die Kontingenzformel des Systems der Politik an. Vor dem Hintergrund dessen, dass über „Gemeinwohl“ als Kontingenzformel eine Öffnung und Politisierung von Sinnzusammenhängen ermöglicht wird, könnten hier insbesondere die Diskurse zur Sicherheit kritisch in den Blick genommen werden. Denn auf globaler Ebene scheint der Gemeinwohlbegriff geradezu notorisch auf idiosynkratische Sicherheitsbegriffe zurückgestutzt zu werden und damit einer Entformalisierung der Gemeinwohlformen Vorschub zu leisten. Zum anderen zeigt sich das kritische Potenzial einer systemtheoretischen Analytik in der Durchleuchtung der strukturellen Koppelung zwischen Politik und Recht und den damit einhergehenden Möglichkeiten der Selbstbindung und der Herstellung gesellschaftlicher Responsivität. Globale Politik ist in diesen Hinsichten zweifellos auf eine strukturelle Koppelung mit dem Recht der Weltgesellschaft angewiesen, wenn auch nicht über Gesetzespositivismus, sondern über „vermenschenrechtlichtes“ Recht. D.h. in diesem Rahmen muss insbesondere mit der Schwierigkeit umgegangen werden, dass die Koppelung angesichts fragmentierter Regulierungsregime nicht wie im klassischen nationalstaatlichen Rahmen über einen Gesetzespositivismus bzw. über positivkodifiziertes Recht erfolgen kann. Entsprechend müssten die Potenziale eruiert werden, einen produktiven Verweisungszusammenhang zwischen Politik und Recht über eine

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„globale Menschenrechtsverfassung“ zu entfalten, vor allem weil Menschenrechte auf der Ebene der Weltgesellschaft bis dato nahezu konkurrenzlos die „Platzhalter demokratischer Autonomie“76 darstellen.

76 H. Brunkhorst (Fn. 53).

Subalterne Konstitutionalisierung: Zur Verfassung von Evolution und Revolution in der Weltgesellschaft K OLJA M OELLER „[...] dass Theorie heute in die Zwangslage versetzt wird, ebenso System wie Nicht-System zu sein, System insofern, als sie die Geschlossenheit der Gesellschaft […] ausdrücken muss, auf der andern Seite aber auch Nicht-System insofern, als sich gezeigt hat, dass diese Geschlossenheit ihrerseits durch sich selbst die Antagonismen reproduziert, sich also gezeigt hat, dass diese Einheit selber in ihrer Absolutheit die Entzweiung aus sich heraus produziert.“1 THEODOR W. ADORNO

Kritische Systemtheorien des Rechts haben in den letzten Jahren innovative Impulse in die zeitgenössische Diskussion um die Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft eingebracht. Ihre These besteht darin, dass die transnationalen Sozialregimes der Globalisierung eigene Verfassungsinstitutionen – „globale Zivilverfassungen“ – hervorbringen.2 Demnach ist die verfassungstypische Koppe-

1

Adorno, Theodor W.: Philosophische Elemente einer Theorie der Gesellschaft (1964), Frankfurt a.M. 2008, S. 125.

2

Teubner, Gunther: „Zivilverfassungen, Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie“, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 1 ff.; siehe auch Ladeur, Karl-Heinz/Viellechner,

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lung von Recht und Politik nicht auf das internationale Staatensystem beschränkt. Im transnationalen Wirtschaftsrecht oder im Cyber-Space sind schon längst Verfassungsprozesse aufzufinden. Sie stehen in einem eigentümlichen Zwielicht zwischen Verselbstständigung und Emanzipation. Indem sie den Expansionsdrang der globalen Funktionssysteme abstützen, sind sie in die teils zerstörerische Verselbstständigung funktionaler Selbstreferenz verstrickt. Als Verfassungsinstitutionen sind sie gleichsam der Ausgangspunkt, um die neuartigen Ordnungsmuster einzuhegen und „eine Dissipation der Macht und damit eine Demokratisierung der Gesellschaft“ zu befördern.3 Die systemtheoretische Herangehensweise stößt allerdings an Grenzen, die den Dialog mit kritischen Verfassungstheorien erforderlich machen. Beispielsweise sieht sie in der weltweiten Wirtschaftskrise ein „Hitting the bottom“, einen Zusammenbruch angelegt, der als „constitutional moment“ zu einer Reform des Finanzsektors zu nutzen ist.4 Nun ist die Evolution offensichtlich nicht von sich aus zur Selbstkorrektur fähig. Schon um Adornos Diktum zu erfüllen, dass niemand mehr hungern müsse,5 ist sie alleine der falsche Ansprechpartner. Nötig wäre eine Revolution im Wortsinn: eine Umwälzung der globalen Verfassungsevolution hin zur Gewährleistung globaler sozialer Rechte und die Abkehr vom Schutz scheinbar sakrosankter Eigentumsrechte transnationaler Unternehmen. Dies wirft die Frage auf, wie eine kritische Verfassungssoziologie der Weltgesellschaft auszusehen hätte, der es gelingt, die Verfassung als „Erwartungsstabilisierung“ und „Medium praktischer Weltveränderung“, als „paradoxe Kombination repressiver Stabilisierungsleistungen mit emanzipatorischer Macht“ zu konzeptualisieren.6

Lars: „Die transnationale Expansion staatlicher Grundrechte: Zur Konstitutionalisierung globaler Privatrechtsregimes“, in: Archiv des Völkerrechts 46 (2008), S. 42 ff. 3

Teubner, Gunther/Fischer-Lescano, Andreas: Regime-Kollisionen, Frankfurt a.M. 2006, S. 64.

4

Teubner, Gunther: „A Constitutional Moment? The Logics of ‚Hitting the Bottom‘“, in: Poul F. Kjaer/Gunther Teubner/Alberto Febbrajo (Hg.), ‚The Financial Crisis in Constitutional Perspective: The Dark Side of Functional Differentiation, Oxford 2011, S. 9 ff.; siehe auch Renner, Moritz: „Death by complexity – The Crisis of Law in World Society“, in: Ebd., S. 93 ff.

5

Adorno, Theodor W.: Minima Moralia (1951), Frankfurt a.M. 2003, S. 178.

6

Brunkhorst, Hauke: „Düstere Aussichten – Die Zukunft der Demokratie in der Weltgesellschaft“, in: KJ (1) 2010, S. 13 ff. (hier S. 15 u. 16). Zur Verfassungssoziologie als Disziplin siehe jüngst Thornhill, Chris: „Niklas Luhmann and the Sociology of Constitutions“, in: Journal of Classical Sociology 10/3 (2010), S. 315 ff.

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Angefangen von Ferdinand Lassalle über die Marxschen Frühschriften bis hin zur Rechtsstaatslehre der Frankfurter und Marburger Schule halten kritische Theorien eine Herangehensweise bereit, die Verfassungsevolution und Verfassungsrevolution differenzierter aufeinander bezieht.7 Denn soziale Kämpfe satteln hier nicht nur nachgängig und in gewisser Weise parasitär auf der Verfassungsbildung auf; vielmehr gehen sie als Kräfteverhältnis in den modernen Konstitutionalismus ein. Gerade die demokratische Verfassung, so haben kritische Verfassungstheorien immer wieder gezeigt, ist als Ort zu verstehen, in der sich die sozialen „Klassen und ihre Werte kreuzen und begegnen [...], sie ist die Form, in der zu einem bestimmten Zeitpunkt des Klassenkampfes die gegensätzlichen Kräfte sich gruppieren.“8 Im Folgenden sollen erste Schritte in Richtung einer Verbindung von systemtheoretischer und kritischer Verfassungstheorie erfolgen. Die Annahme ist dabei, dass es auf diese Weise gelingt, die Strukturkonflikte der Weltgesellschaft besser lesbar zu machen. Drei Thesen sollen den Leitfaden bilden: (1) Der kritische Impuls des systemtheoretischen Registers bleibt zu zahm. Die Annahmen zu heterarchischer Ausdifferenzierung in der Weltgesellschaft sind um kritische Theorien der Verfassung zu erweitern, die den Konflikt zwischen herrschenden und subalternen Klassen sowie eine mögliche Revolutionierung der Verfassungsevolution präsent halten.9 Dabei wird der Klassenbegriff ent-ökonomisiert und auf das Verhältnis sozialer Kräfte in den unterschiedlichen Regimen der Weltgesellschaft hin ausgebaut.

7

Zu dieser Linie Böckenförde, Ernst-Wolfgang: „Geschichtliche Entwicklung und Bedeutungswandel der Verfassung“, in: Arno Buschmann et al. (Hg.), Festschrift für Rudolf Gmür, Bielefeld 1983, S. 7 ff. (hier S. 15).

8

Kirchheimer, Otto: „Zur Staatslehre des Sozialismus und Bolschewismus“ (1928), in: ders., Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung (hrg. v. W. Luthardt), Frankfurt a.M. 1976, S. 32 ff. Für eine Aktualisierung materialistischer Rechtstheorie siehe Buckel, Sonja: Subjektivierung und Kohäsion, Weilerswist 2007.

9

Im Folgenden wird der Begriff der Subalternität benutzt, um Beherrschungs- und Unterwerfungsstrukturen zu kennzeichnen. Er geht auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zurück, der am Beispiel der italienischen Entwicklung von einer Pluralität „subalterner“ Klassen ausgeht, die sich nicht auf das Industrieproletariat reduzieren lässt (siehe z.B. ders.: Gefängnishefte, Hamburg 1991, H.3 §18, S. 346 ff.). Der Postkolonialismus hat dieses Konzept erneut versucht fruchtbar zu machen (siehe etwa Gayatari Spivak: Can the subaltern speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation, Wien 2008).

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(2) Die Voraussetzung für eine hybride Koppelung von Macht und Gegenmachtkreisläufen in den globalen Verfassungsregimen ist eine vorgängige subalterne Konstitutionalisierung auf dem zivilgesellschaftlichen Terrain. (3) Eine solche subalterne Konstitutionalisierung findet durchaus Anknüpfungspunkte in einzelnen Sektoren des Weltrechts. Sie kann eine Verbindung zu diesen Rechtssektoren eingehen und so eventuell diejenigen Konflikte provozieren, die längerfristig auf eine Revolutionierung der globalen Verfassungsevolution hinauslaufen. Nachdem die Potentiale und Grenzen der Zivilverfassungstheorie pointiert sind (1.), soll die Traditionslinie kritischer Verfassungstheorie als Erweiterung dienen (2.), um schließlich in einer Verbindung beider Argumentationslinien eine subalterne Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft zu identifizieren (3.).

1. G RENZEN UND P OTENTIALE DER Z IVILVERFASSUNGSTHEORIE Die systemtheoretischen Überlegungen gehen davon aus, dass die rechtlichpolitische Ordnungsbildung im Übergang zur Weltgesellschaft eine grundlegende Transformation erlebt. Während Recht und Politik im Nationalstaat in der Staatsverfassung durch „strukturelle Koppelung“ ihre gegenseitigen Einflussnahmen ermöglichen und beschränken,10 beobachtet die Systemtheorie eine neue Entwicklungslinie, in der sich das Recht zunehmend vom Staat und vom internationalen Staatensystem löst. Die Ausdifferenzierung sozialer Subsysteme – Wirtschaft, Wissenschaft oder Religion – im globalen Maßstab bringt jeweils teilbereichsspezifische Verfassungsregimes hervor. Die zentralen Strukturmerkmale der Verfassung, beispielsweise Machtkontrolle und die Koppelung mit anderen Sozialprozessen, sind nicht mehr zwangsläufig an den Nationalstaat gebunden, sondern evoluieren in globalen Funktionssystemen.11 Den Schritt von Rechtsphänomenen zu Verfassungsphänomenen bindet die Theorie globaler Zivilverfassungen an eine Struktur doppelter Reflexivität an. Erst wenn ein „voraussetzungsreiche[s] Zusammenspiel von autonomen Sozialprozessen und autonomen

10 Luhmann, Niklas: „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 ff. (hier S. 193 ff.). 11 Teubner entfaltet seinen Verfassungsbegriff auf drei Ebenen: konstitutive und limitative Funktionen der Verfassung, Prozesse doppelter Reflexivität sowie Verfassungsstrukturen, die auf einer höherrangigen Meta-Codierung verfassungsmäßig/verfassungswidrig beruhen; siehe ders. (Fn. 4), S. 20 ff.

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Rechtsprozessen“ stattfindet, liegen Verfassungsinstitutionen vor.12 In den Reflexionsprozessen der Regime scheinen dann diejenigen Potenziale für eine progressiv gewendete Verfassungsbildung zu schlummern, die Spielräume für eine Einhegung der Funktionssysteme eröffnen. Dies mündet in die Forderung nach teilbereichsspezifischen Reflexionsmustern, nach „innere(n) Selbstbeschränkungen, die auch tatsächlich greifen.“13 Der Hauptimpuls besteht in der Forderung nach responsiver Konstitutionalisierung, die es den sozialen Umwelten dauerhaft ermöglicht, begrenzend auf die funktionale Selbstreferenz einzuwirken. Die Koppelung zwischen dem Machtkreislauf des jeweiligen Regimes mit einem regimespezifischen Gegenmachtkreislauf avanciert zum Leitbild einer hybriden Verfassungsbildung.14 Als Träger treten insbesondere zivilgesellschaftliche Gegenmachtakteure auf, die das nötige Gegengift zur Eigenrationalitätsmaximierung injizieren sollen. Damit erhält das Politische einen neuen Ort; es wird vom internationalen Staatensystem gelöst und in die Sozialprozesse der jeweiligen Regime hineinverlegt. Allerdings verstrickt sich die Zivilverfassungstheorie in eine Problemlage, wenn sie alleine auf Reflexion und zivilgesellschaftliche Beteiligung setzt. Es ist durchaus zu beobachten, dass unter dem Leitmotiv „Governing without government“ insbesondere expansionsaffine Sozialbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft und Technik in den vergangenen Jahrzehnten starken Gebrauch von reflexiven Prozessen, von Wissensakquise und Stake-Holder-Beteiligung gemacht haben.15 Oft haben diese Mechanismen keine begrenzenden, sondern geradezu legitimationsbeschaffende Funktionen für den Expansionsdrang der Funktionssysteme erfüllt. Im Grunde handeln sich die Zivilverfassungen nur allzu leicht ein demokratisches Defizit ein, das Marx schon in der Ständeverfassung der Hegelschen Rechtsphilosophie angelegt sah: „Das Volk ist hier schon so zubereitet, wie es in dem betrachteten Organismus zubereitet sein muß, um keinen entschiedenen Charakter zu haben.“16 Von daher bleibt bisher offen, ab wann teilbereichsspezifische Reflexionsmuster auch herrschaftskritische Dignität erhalten. Wenn sich die Institutionen der Global Governance selbst ‚ihr‘ Volk herbeikonstruieren, stützen sie ihren Expansionsdrang häufig reflexiv ab.

12 G. Teubner/A. Fischer-Lescano (Fn. 3), S. 55. 13 G. Teubner (Fn. 4), S. 13. 14 Ebd. 15 Zum Governing without government klassisch: Rosenau, James/Czempiel, Ernst-Otto: Governing without Government: Order and Change in World Politics, Cambridge 1992. 16 Marx, Karl: „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ (1843), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1972, S. 203 ff. (hier S. 273).

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Dieser Kurzschluss verweist auf die Ergänzungsbedürftigkeit des systemtheoretischen Registers. Zunächst einmal ist es fraglich, ob die Konstitutionalisierung des Weltrechts ausschließlich auf die Ausdifferenzierung von Verfassungsregimen zurückzuführen ist. Die prägenden Tendenzen im Globalisierungsprozess lassen die Gegenbeobachtung – Hegemonie statt Heterarchie – jedenfalls ähnlich plausibel erscheinen.17 So haben Studien aus der internationalen politischen Ökonomie eindrucksvoll gezeigt, wie es den freihandelsorientierten Institutionen um WTO, IWF und Weltbank gelungen ist, das Projekt eines „disziplinierenden Neoliberalismus“ zunehmend zu verallgemeinern.18 Sie haben substantielle Orientierungen an Freihandel und Sparpolitik in die höherrangigen Ordnungen des Weltwirtschaftsregimes eingeschrieben. Der Rückgriff dieser Studien auf das Hegemoniekonzept des italienischen Kommunisten Antonio Gramsci führt dabei diejenigen Unterscheidungsmuster wie Teil/Ganzes und Oben/Unten wieder ein, die die Systemtheorie als alt-europäisch verwirft. Globale Hegemonie entsteht dadurch, dass es den transnationalen Kapitalfraktionen gelingt, ihre Interessenslagen zu universalisieren, ihren Teil also fürs Ganze auszugeben. Die kritische Systemtheorie wird diese alt-europäischen Geister nicht gänzlich los. Sie spielt immer wieder auf die Dominanz von Regimes an, die auf einer instrumentellen Rationalität beruhen. Die Gefährdungslagen gehen von der Eigenrationalitätsmaximierung der Weltwirtschaft oder der Sicherheitspolitik aus, nicht von der lex humana oder der lex ecologica. In die Ausdifferenzierungsdiagnose scheint sich ein subkutanes Schema einzunisten, das eigentlich eine Herrschaftssemantik erforderlich macht: oben die verselbstständigten anonymen Matrices, unten die „geschundenen Körper“19. Die postnationale Konstellation ist eine Hegemoniekonstellation, in der die Verfassungen der anonymen Matrices regelmäßig den Vorrang vor anderen Regimen, etwa Umwelt- oder Sozialregime, behaupten.20 Um die Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft les-

17 Chimni, B.S.: „International Institutions Today: An Imperial Global State in the Making“, in: European Journal of International Law 15/1 (2004), S. 1 ff. 18 Siehe etwa Gill, Stephen: „Constitutionalizing inequality and the clash of globalizations“, in: International Studies Review 4 (2002), S. 47 ff.; siehe auch Möller, Kolja: „Progressiver Konstitutionalismus oder marktliberale Rechtsstaatlichkeit? Zur Unbestimmtheit der Globalverfassung“, in: KJ 3 (2009), S. 239 ff. 19 Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 45 (2006), S. 161 ff. (hier S. 172). 20 Dagegen hatte Luhmann den Herrschaftsbegriff als „wissenschaftsimmanent erzeugte Politisierung“ der Sozialwissenschaften abqualifiziert, siehe ders.: „Systemtheoretische Argumentationen. Eine Entgegnung auf Jürgen Habermas“, in: ders./Jürgen Ha-

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bar zu machen, muss die Systemtheorie mit hegemonietheoretischen Überlegungen erweitert werden. Einerseits ist beobachten, dass einzelne Sozialregime andere Regime unterwerfen und aus der Differenz eine dauerhafte Hegemonie errichten, indem sie sich für das Ganze der Weltgesellschaft auszugeben vermögen.21 Andererseits muss diese Hegemonie immer wieder in sozialen Auseinandersetzungen hergestellt werden, die auch divisionalen Mustern folgen.22 Dadurch fällt der Vorrang einer funktionalen Differenzierung, auf der soziale Kämpfe und negative Externalitäten bloß nachgängig aufruhen. Von Beginn an gehen soziale Kräfteverhältnisse und antagonistische Logiken in die soziale Evolution ein.23 Deshalb kann der Übergang zur Weltgesellschaft nicht auf eine einseitige Ausdifferenzierung von Funktionssystemen zurückgeführt werden. Erst wenn diejenigen sozialen Kräfteverhältnisse und antagonistischen Konfliktprozesse ins Blickfeld rücken, die der postnationalen Konstellation ihren Stempel aufdrücken, kann die globale Verfassungsfrage adäquat behandelt werden. Dies wiederum führt zu einem Kernstück kritischer Gesellschafts- und Verfassungstheorie. Denn für die Frage nach den Kräfteverhältnissen sind Klassenkämpfe zentral, in denen es sozialen Gruppen gelingt, ein gewisses Maß an politischer Selbstorganisierung zu erlangen, sich fürs Ganze auszugeben und damit Herr-

bermas, Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?, Frankfurt a.M. 1971, S. 291 ff. (hier S. 399). 21 Siehe etwa die Beobachtung einer Totalisierungstendenz der Regime bei Koskenniemi, Marti: „The Politics of International Law – 20 Years Later“, in: European Journal of International Law 20 (2009), S. 1, 7 ff. Hier ergeben sich auch Anschlüsse an Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus, Wien 1991, sowie an die Rekonstruktion einer ökologischen Dominanz von kapitalistischer Wirtschaft und Staatlichkeit bei Jessop, Bob: „Zur Relevanz von Luhmanns Systemtheorie und von Laclau und Mouffes Diskursanalyse für die Weiterentwicklung der materialistischen Staatstheorie“, in: Joachim Hirsch/John Kannankulam/Jens Wissel, Der Staat der bürgerlichen Gesellschaft. Zum Staatsverständnis von Karl Marx, Baden-Baden 2008, S. 157 ff. 22 Beispielhaft wären hier die Auseinandersetzungen um eine transnationale Unternehmensverfassung und die Diskussion um corporate social responsibility-Abkommen zu nennen. Hier tritt jedenfalls mit dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit eine Kollisionslinie auf, die einem divisional-vertikalen Muster folgt. Siehe etwa Kocher, Eva: „Corporate Social Responsibility: Eine gelungene Inszenierung?“, in: KJ 1 (2010), S. 29 ff. Siehe dagegen Luhmanns Kritik an der Unterscheidung Kapital/Arbeit in: ders., Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 151. 23 So auch S. Buckel (Fn. 8), S. 213.

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schaft – sei es mit Waffen, mit Sprachspielen, mit Recht oder Kapital – auszuüben.24 Auf der Gegenseite entstehen Subalternitätslagen. Damit sind diejenigen Unterwerfungen, Ausschlüsse und Kolonisierungen angesprochen, die der jeweils hegemoniale Modus des Zusammenspiels sozialer Klassen und systemischer Rationalitäten hervorruft. Systemdifferenzierung und soziale Kräfteverhältnisse müssen als ineinander verschränkte Momente begriffen werden, die den Übergang zur Weltgesellschaft erst umfassend lesbar machen. Aus dieser Überschneidung speisen sich sowohl die (äußeren) Hegemonieverhältnisse der jeweiligen Regime als auch ihre ständige (innere) Prekarität, wenn kommunikative Anschlüsse fehlschlagen und um systemspezifische Codes gerungen wird.25

2. K RITISCHE T HEORIEN

DER

V ERFASSUNG

Um diese Herrschaftsvergessenheit einzuholen, bieten sich kritische Theorien der Verfassung in der Marxschen Tradition an. Dass die moderne Verfassung die Herrschaftsverhältnisse der kapitalistischen Gesellschaftsformation zum Ausdruck bringt, ist der Einsatz dieses theoretischen Registers. Demzufolge geht der moderne Konstitutionalismus mit einer grundlegenden Stabilisierungsleistung einher. Die Verfassung ist derjenige Ort, an dem die Verkehrsformen der bürgerlichen Gesellschaft – Staatsform, Rechtsform und Warenform – aufeinander bezogen sind und dauerhaft institutionalisiert vorliegen.26 Die marxistische Verfassungssoziologie weist jedoch über diese funktionale Herangehensweise hinaus. Denn die Verfassung kann nicht auf den Vollzug sozialer Evolution reduziert werden. Als demokratische Verfassung ist sie auch eine revolutionäre Errungenschaft, die einen Ausweg aus der Krise blockierter Evolution gewiesen und ihre Richtung radikal verändert hat.27 Sie ist das Resultat von Kämpfen zwischen sozialen Klassen. Nur Klassenkämpfe vermögen es, die „versteinerten Verhältnisse

24 Siehe zum Zusammenhang von Kräfteverhältnissen und Klassenkämpfen Gramsci, Antonio: Gefängnishefte, Hamburg 1991 ff., S. 1560 ff. 25 Siehe dazu Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche. Eine dekonstruktive Lektüre von Niklas Luhmanns Systemtheorie, Weilerwist 2000, insbes. S. 230 ff. 26 Preuß, Ulrich K.: „Zum Strukturwandel politischer Herrschaft im bürgerlichen Verfassungsstaat“, in: Claudio Pozzoli (Hg.), Rahmenbedingungen und Schranken staatlichen Handelns. Zehn Thesen, Frankfurt a.M. 1976, S. 71 ff. 27 So auch Berman, Harold J.: Recht und Revolution. Die Bildung der westlichen Rechtstradition, Frankfurt a.M. 1991, S. 41 ff.

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[...] zum Tanzen >zu@ zwingen“28, die festgefahrenen und verselbstständigten Ordnungsmuster wenigstens kurzzeitig zu lösen. Oft ist das Resultat dieser Kämpfe nicht eindeutig. Nicht selten sind Verfassungen deshalb nur als „Traktat wesentlich heterogener Gewalten“ lesbar, die je „verschiedenem Prinzip“ folgen.29 An diesen Einsichten haben in den 1920er und 1930er Jahren Theoretiker im Umfeld der Frankfurter Schule wie Otto Kirchheimer und Franz L. Neumann angeknüpft und die kritische Verfassungstheorie für den modernen Verfassungsstaat weiterentwickelt. Zwischenzeitlich klassisch ist der Verweis geworden, dass es sich bei demokratischen Verfassungen um Klassenkompromisse handelt. Am prominentesten hat Wolfgang Abendroth in seiner Interpretation des Grundgesetzes diesen Deutungsansatz ins Spiel gebracht. Doch schon bei Otto Kirchheimer und Franz L. Neumann ist dieser Befund in nuce zu finden.30 Gerade Kirchheimer schlägt in seiner Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung einen Zugang vor, der Klassenkampf und Verfassungsordnung aufeinander bezieht. Er zeigt, dass die Weimarer Verfassung nicht einfacher Ausdruck bürgerlicher Verkehrsverhältnisse ist, sondern ein antagonistisches Arrangement bereithält: Zwischen Arbeiter_innenklasse und bürgerlicher Klasse findet eine Begegnung statt, die jedoch die Verallgemeinerung des jeweiligen Gesellschaftsmodells – bürgerliches oder sozialistisches – blockiert und in der Schwebe hält. Die demokratische Verfassung ist dadurch zu kennzeichnen, dass „ein annäherndes Gleichgewicht der sich bekämpfenden sozialen Klassen [besteht] [...].“31 In dieser Diagnose schwingt freilich der Umstand mit, dass vor der Verfassung soziale Kämpfe stattfinden, die überhaupt erst das Möglichkeitsfeld für eine demokratische Konstitutionalisierung eröffnen.32 Bevor sich die Klassen in der Staats-

28 Marx, Karl: „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“, in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, Berlin 1972, S. 378 ff. (hier S. 381). 29 Ders.: „Kritik des Hegelschen Staatsrechts“ (1843), in: ebd., S. 203 ff. (hier S. 260 u. 261). 30 Siehe etwa Abendroth, Wolfgang: „Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“(1954), in: Michael Buckmiller/Joachim Perels/Uli Schöler (Hg.), Wolfgang Abendroth, Gesammelte Schriften, Bd. 2, Hannover 2008, S. 338 ff.; und Neumann, Franz: „Die Bedeutung der Grundrechte in der Weimarer Verfassung“ (1930), in: Alfons Söllner (Hg.), Franz L. Neumann, Wirtschaft, Staat, Demokratie. Aufsätze 1930-1954, Frankfurt a.M. 1978, S. 57 ff. 31 O. Kirchheimer (Fn. 8), S. 35. 32 Konsequenterweise hat Kirchheimer deshalb auch in den rechtspolitischen Diskussionen der Weimarer Republik stets für die Konsolidierung proletarischer Klassenmacht

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verfassung kreuzen und eine Verrechtlichung der modernen Industriegesellschaft entsteht, die bis in die entlegendsten Bereiche des Lebens reicht,33 findet ein Kampf antagonistischer sozialer Klassen statt. Er ist der archimedische Punkt, auf den Kirchheimer seine Argumentation zurückführt. Das hat ihm nicht selten den Vorwurf des Links-Schmittianismus eingebracht. Findet sich etwa in Kirchheimers Kampfprinzip die linke Variante von Carl Schmitts konstituierender Macht, die er der radikalen Demokratie entwendet und völkisch umgearbeitet hatte? Mein Interpretationsvorschlag ist es nun, dass Kirchheimer diesen antagonistischen Moment ausdrücklich nicht dezisionistisch verdunkelt. Die konstituierende Macht ist an Selbstorganisierungsprozesse angebunden, die demokratische Form und sozialistischen Inhalt stets verknüpfen sollen.34 Für Kirchheimer stand wie für die meisten anderen Protagonisten einer kritischen Verfassungstheorie fest, dass einzig die Selbstorganisierung der Arbeiter_innenbewegung die Ressourcen bereithält, um einer autoritären Transformation entgegenzuwirken. Dies gilt sowohl nach außen, als „Gegen-Macht“ gegen die autoritären Ordnungsvorstellungen der bürgerlichen Klasse, als auch nach innen. In der Selbstorganisierung der Subalternen zeichnete sich eine proletarische „Gegen-Gesellschaft“ ab, in der kollektive Praktiken der Solidarität und Demokratie auf Dauer gestellt

und nicht für Staatsverfassungspatriotismus plädiert, siehe Kirchheimer, Otto: „Verfassungsreform und Sozialdemokratie“ (1933), in: ders., Funktionen des Staates und der Verfassung, Frankfurt a.M. 1972, S. 79 ff. (hier S. 83). 33 Zur Verrechtlichung bei Kirchheimer siehe Teubner, Gunther: „‚Man schritt auf allen Gebieten zur Verrechtlichung‘: Rechtssoziologische Theorie im Werk Otto Kirchheimers“ in: Marcus Lutter/Ernst C. Stiefel/Michael Hoeflich (Hg.), Der Einfluss deutschsprachiger Emigranten auf die Rechtsentwicklung in den USA und in Deutschland, Tübingen 1993, S. 505 ff. 34 Siehe etwa Kirchheimers Kritik am autoritären Parteiverständnis bei Lenin: Kirchheimer, Otto: „Marxismus, Diktatur und Organisationsformen des Proletariats“ (1933), in: ders., Funktionen des Staats und der Verfassung, 10 Analysen, Frankfurt a.M. 1972, S. 100 ff. Kirchheimer zieht eine direkte Verbindung zwischen „vorrevolutionären Organisationsformen“ und der „Ausgestaltung des proletarischen Staats“ ein (S. 112). Ein „Mangel an demokratischer Grundstruktur“ (S. 113) schon in der Parteiorganisation führe letztlich zu einem „stärkeren Druck der staatlichen Repressivgewalt“ (S. 113). Kirchheimer plädiert für ein linkssozialistisches Organisationsverständnis, das „ebenso Gewähr bietet für die ausschlaggebende Rolle einer festgefügten proletarischen Organisation [...] wie für die notwendige Bewahrung der breitesten Vertrauensbasis des ganzen arbeitenden Volkes“ (S. 113 f.).

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sind.35 Diese Verschiebung der konstituierenden Macht auf die Arbeiter_innenbewegung wirft ein anderes Licht auf den sozialen Kompromiss in der Staatsverfassung. Er ist nicht nur eine Art ‚Deal‘ kompakter Klassenfraktionen; vielmehr ermöglicht es der Verfassungskompromiss, diejenigen Selbstorganisierungen rechtlich abgesichert weiterzuführen, die schon vor der Staatsverfassung entstanden sind. Um diese Anbindung des Verfassungskompromisses an Selbstorganisierungsprozesse zu akzentuieren, ist es vielleicht hilfreich das Konzept der Zivilverfassung in veränderter Weise wieder aufzunehmen. Wenn der Verfassungsbegriff vom Staat gelöst und auf die zivilgesellschaftlichen Organisierungsprozesse sozialer Klassen hin umgearbeitet wird, ergibt sich das Bild einer Kollision. Die subalterne Eigenverfassung mit ihren Parteien, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Gewerkschaften und Konsumgenossenschaften trifft auf eine bürgerliche Klasse, die mit organisierten Bereichen, Unternehmerverbänden bis hin zu einzelnen Verwaltungsapparaten ebenfalls durch eigene Konstitutionalisierungsprozesse geprägt ist. Statt von einer systemtheoretisch inspirierten Eigenverfassung unterschiedlicher Sozialbereiche auszugehen, ist es hier jedoch eine kollektive, unterworfene Position des Beherrscht-Werdens oder des Herrschens, die zum Ausgangspunkt gesellschaftlicher Selbstorganisierung avanciert. Die Annahme würde darin bestehen, dass in zivilgesellschaftlichen Selbstorganisierungsprozessen eine vom Staat distanzierte, zivile Verfassungsbildung stattfinden kann.36 Denn stets generieren auch solche Organisationsformen basale Muster struktureller Koppelung von Recht und Politikprozessen (Ermöglichung und Beschränkung politischer Macht, die dann nochmals in einem konstitutionellen Diskurs entlang des Codes ‚Verfassungskonform/Verfassungswidrig‘ beobachtet wird). Während klassische Versuche soziale Kämpfe vor allem auf die Machtpotenziale der gesellschaftlichen Konfliktparteien abstellen, ist so besser zu zeigen, wie politische Handlungsfähigkeit aus der netzwerkartigen Koppelung von Sozialstrukturen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Teilbereichen entsteht. In normativer Hinsicht werden Fragen zivilgesellschaftlicher Selbstorganisierung nicht einem einfachen Effizienzgebaren des politischen Konflikts untergeordnet; vielmehr kopiert die aufgemachte Perspektive die Verfassungsfrage direkt in die konstituierende Macht hinein. Es geht um die Verfassung vor der

35 Balibar, Etienne: „Eine utopische Rettung. Geschlechterverhältnisse und Parteiform“, in: prager frühling 2 (2011), S. 41 ff. 36 Siehe zu einer solchen Verwendung des Verfassungsbegriffs für Verbände: Teubner, Gunther: Verbandsverfassung und Organisationsdemokratie, Rechtsmodelle für politisch relevante Verbände, Tübingen 1978.

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Verfassung und damit stellen sich gleichsam normative Fragen nach Demokratie, Recht und Legitimation schon hier. Die vorgeschlagene Interpretationslinie deutet an, dass die aktuell wieder stark reüssierende Gegenüberstellung von Dezisionismus und Rule of Law, von wilder Entscheidung auf Seiten der konstituierenden Macht des Volkes und zivilisiertem Rechtszustand, von Carl Schmitt oder Hans Kelsen nicht alternativlos ist. Der Verfassungsdiskurs holt selbst das ein, was scheinbar außerhalb der Verfassung steht. Wolfgang Böckenfördes berühmte These, dass die Voraussetzung der demokratischen Verfassung nicht von der Staatsverfassung alleine geschaffen würde, liest sich wie eine Zusammenfassung der Überlegungen Kirchheimers.37 Gegen die Mystifizierung der verfassungsgebenden Gewalt als Dezision und Patriotengemeinschaft durch die SchmittSchule geht Kirchheimer jedoch davon aus, dass demokratische Verfasstheit und herrschaftskritische Praxis in der konstituierenden Macht unmittelbar zusammenlaufen. Die zivile Konstitutionalisierung von herrschaftskrititischen Gegenkreisläufen schafft die Grundlage für einen sozialen Kompromiss in der Staatsverfassung. Kirchheimer verfolgt die Kollisionslagen in Staat und Gesellschaft weiter. Im Staatsorganismus sieht er den Klassenkonflikt wieder aufscheinen. Er entdeckt eine bürokratische Direktionssphäre in Staat, Militär und Polizei, die von der bürgerlichen Klasse dominiert wird. Ihre „Beamten befinden sich zufolge [...] der realen wirtschaftlichen Machtverhältnisse im Einflussbereich des Bürgertums und seiner großen wirtschaftlichen Organisationen.“38 Darüber hinaus ist eine Verteilungssphäre auszumachen, die den Interessen der subalternen Klassen nicht gänzlich verschlossen ist. Sie besteht aus den Arbeits- und Sozialministerien und den dort angestellten Beamtenfraktionen. Da sie „zu ihrer Amtsführung [...] mindestens einer wohlwollenden Haltung dieser Organisationen (der Arbeiterbewegung) [bedürfen], die durch Presse, Versammlungen usw. viele Menschen beeinflussen.“39 Zusätzlich ist im gesellschaftlichen Raum eine Konstitutionalisierung des Klassenantagonismus, etwa in der Mitbestimmung und Wirtschaftsverfassung, zu beobachten. Neben der Staatsverfassung findet eine Verfassungsbildung in unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären statt. Die Abfolge lautet: Zivilverfassung sozialer Klassen, Klassenkonflikt in der Staatsverfassung, Institutionalisierung des Konfliktes in Staatsapparaten (Direktions- und Verteilungssphäre) und Gesellschaft (Gesellschaftsverfassung). Funktional spezialisierte Verrechtlichung und Klassenkampf machen in Kirchheimers

37 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt a.M. 1976, S. 60. 38 Kirchheimer, Otto: „Weimar – und was dann? Analyse einer Verfassung“ (1930), in: ders., Politik und Verfassung, Frankfurt a.M. 1964, S. 9 ff. (hier S. 47). 39 Ebd.

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Argumentation den verfassungstheoretischen Deutungshorizont auf, der immer wieder auf die Klassendimension als archimedischen Punkt zurückgeführt wird. Es war Wolfgang Abendroth, der in seiner Interpretation des Grundgesetzes auf die Überlegungen zum Kompromisscharakter der Verfassung wieder zurückgegriffen hat. Abendroth und Kirchheimer sind als Theoretiker einer hybriden Konstitutionalisierung zu lesen, in der Kreisläufe der Herrschaftsausübung und der Herrschaftskritik strukturell verknüpft sind. Die Verfassung ermöglicht gegenseitige Einflussnahme herrschender und subalterner Klassen (bspw. in Parlamentarismus und Tarifautonomie) und begrenzt sie (bspw. der Ausschluss des Bürgerkriegs als Form der Auseinandersetzung). Während Kirchheimer zeigt, dass ein solches hybrides Verfassungsarrangement immer Gefahr läuft, an Bindungswirkung zu verlieren, wenn es sich zu Gunsten des Herrschaftskreislaufs verselbstständigt, verdeutlicht Wolfgang Abendroth die hybride Stabilisierungsleistung am Beispiel des Grundgesetzes.40 Darüber hinaus findet man bei Abendroth ebenso einige Spuren, die das Verhältnis von Verfassungsevolution und Verfassungsrevolution betreffen und damit eine weitere Leerstelle der Systemtheorie einholen können. Er verlegt das revolutionäre Moment gesellschaftlicher Veränderungen zumindest teilweise in die Verfassung: Da die herrschenden Klassen in Wirtschaft und staatlicher Bürokratie häufig zu autoritären Varianten im Umgang mit sozialen Konflikten neigen, liefert das hybride Arrangement des Grundgesetzes – sein Sozialstaatsprinzip, seine Mitbestimmungs- und Streikrechte – die notwendigen Provisionen, um mit subalterner Gegenmacht einer autoritären Transformation der Demokratie entgegenzuwirken.41 Da sich das Grundgesetz als Klassenkompromiss nicht auf eine Wirtschaftsform festgelegt hat, bleibt die Möglichkeit einer Revolution im Wortsinn, einer Umwälzung der Herrschaftsverhältnisse erhalten. Dazu braucht es keinen Staatsstreich mehr; Revolutionierung ist jetzt dadurch möglich, dass die Verfassung herrschaftskritischer Gegenkreisläufe ausgeweitet wird. Sie können Umkehrungen bewirken, ohne die politische Verfassung zu suspendieren. Der „Prozess einer Überwindung von Staat und Gesellschaft aus einem System von Herrschaftsformen [...]

40 Siehe Kirchheimers defensive Einschätzung zur Weimarer Verfassung: ebd., S. 52; dagegen Wolfgang Abendroths Perspektive auf das Grundgesetz: „Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland“ (1954), in: W. Abendroth (Fn. 30), S. 338 ff., insbes. S. 354. 41 Abendroth, Wolfgang: „Funktion der Gewerkschaften in der westdeutschen Demokratie“ (1952), in: ders. (Fn. 30), S. 216 ff. (hier S. 222).

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in ein System der Selbstverwaltung der Gesellschaft“ wird zumindest denkbar.42 Im hybriden Arrangement ist eine mögliche Revolutionierung der Gesellschaft schon institutionalisiert, es liegt nur an einer grundlegenden Veränderung im Kräfteverhältnis zwischen Kreisläufen der Herrschaftsausübung und der Herrschaftskritik, dass praktische Umwälzungen möglich werden.43 Diese Überlegungen sind folgenreich, wenn sie auf den transnationalen Konstitutionalismus übertragen werden. Eine Verfassungsbildung, die bestehende Rationalitäten nicht nur abstützt, sondern öffnet und befragbar macht, ist ohne eine vorgängige, dauerhafte Selbstorganisierung subalterner sozialer Kräfte im Medium eigener Organisationsverfassungen nicht realistisch. Unter subalterner Konstitutionalisierung wäre zu verstehen, dass sich unterworfene soziale Klassen in Selbstorganisierungsprozesse begeben, in denen demokratische Organisationsverfassungen entstehen, die herrschaftskritische politische Praktiken rechtlich abstützen und ihnen durch Formgebung eine Dauer verleihen. Das ist die Grundlage dafür, dass es soziale Kräfte gibt, die Widersprüche und Paradoxien überhaupt in sozialen Auseinandersetzungen systematisch sichtbar machen. Freilich rufen auch solche Zivilverfassungen ihre eigenen Autologien hervor. Sie ruhen auf einem Sockel von Ausschlüssen und anmaßenden Repräsentationsverhältnissen. Aber wie Jacques Derrida gezeigt hat, liegt in der Anmaßung der konstitutionellen Gründungsakte auch eine Chance.44 Wenn die founding fathers die amerikanische Verfassung durch Unterschrift besiegeln und damit das amerikanische Volk schaffen, entstehen die Möglichkeitsspielräume für demokratische Politik genauso wie für eine radikale Kritik der sichtbar gemachten Form. Diese Züge, die sich aus der kritischen Verfassungstheorie herausarbeiten lassen, sollen nicht über ihre objektiven Schwächen hinwegtäuschen. Sie bestimmen das Verfassungsproblem noch stark von einer Konfliktdimension, nämlich von den Spaltungslinien im ökonomischen Produktionsprozess, her. Insofern könnte die kritische Verfassungstheorie umgekehrt von einer systemtheoretischen Aufklärung profitieren, die auf die Pluralität der System/Umwelt-Unterscheidungen und der Grenzverhältnisse funktionaler Differenzierung abstellt.

42 Abendroth, Wolfgang: „Die Verwirklichung des Mitbestimmungsrechts“ (1954), in: ders. (Fn. 30), S. 358 ff. (hier S. 360). 43 So auch Kirchheimer: „Daraus ergibt sich, daß dort, wo eine historisch meist unter entscheidender Mitwirkung des Proletariats erkämpfte Demokratie besteht, eine maximale Chance für die friedliche Umwandlung des bürgerlichen in einen proletarischen Staat gegeben ist.“ (O. Kirchheimer, Fn. 34, S. 102). 44 Derrida, Jacques: „Unabhängigkeitserklärungen“, in: ders./Friedrich Kittler (Hg.), Nietzsche – Politik des Eigennamens, Berlin 2000, S. 9 ff. (hier S. 13 ff.).

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Wenn jedes Verfassungsregime eigene Subalternitätslagen produziert, übersteigt dies die ökonomische Klassenspaltung und vervielfältigt die Forderung nach hybrider Konstitutionalisierung in den unterschiedlichen Sozialbereichen der Weltgesellschaft.

3. S UBALTERNE K ONSTITUTIONALISIERUNG W ELTGESELLSCHAFT

IN DER

Aus dem Dialog der beiden verfassungstheoretischen Linien kann eine produktive Verbindung entstehen, welche die Schwächen beider Ansätze – Herrschaftsvergessenheit (Systemtheorie) und Differenzierungsvergessenheit (Marxismus) – wechselseitig ausgleicht. Subalternität kann nicht auf die Unterwerfung im ökonomischen Reproduktionsprozess reduziert werden. In der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft bringen die jeweiligen Regime je eigene Beherrschungsmechanismen hervor. Dies gilt sowohl nach innen (Binnendifferenzierung) als auch nach außen, gegenüber ihren Umwelten und anderen Regimen (hegemoniale Kolonialisierung).45 Die Individuen werden zu „Schnittpunkten, an denen sich die mannigfaltigen und zueinander quer liegenden Achsen der Benachteiligung kreuzen.“46 Damit verschiebt sich die Frage nach einer hybriden Verfassungsbildung von einer allseitigen Öffnung der Institutionen hin zum Problem, wie Kreisläufe der Herrschaftskritik einen effektiven Re-Entry in die Weltgesellschaft finden. Erst eigene „Bastionen“ halten die Grundlage dafür bereit, dass Verfassungskompromisse überhaupt denkbar werden. Erst dauerhafte subalterne Eigenverfassungen, die das schon jetzt vorhandene demokratische und soziale Recht globaler Verteilungssphären gegen die verselbstständigten Ordnungsmuster wenden, eröffnen die Spielräume für Ordnungskämpfe, an deren Ende möglicherweise hybride Kompromisskonstellationen stehen. Dabei ist unter subalterner Eigenverfassung zu verstehen, dass die unterworfenen Kommunikationsstrukturen, Rationalitäten und Akteurskonstellationen – die subaltern villages der Weltgesellschaft – eine Konstitutionalisierung durchlaufen. Am Beispiel des Weltsozialforums können wenigstens basale Elemente

45 Das entgeht neo-republikanischen Theorien der Beherrschung. Sie insistieren auf dem Kriterium der Willkürlichkeit der Herrschaftsausübung, siehe etwa Phillip Pettit: Republicanism. A Theory of Freedom of Government, Oxford 1997, S. 52 ff. 46 Fraser, Nancy: „Soziale Gerechtigkeit im Zeitalter der Identitätspolitik“, in: dies./Axel Honneth (Hg.), Umverteilung oder Anerkennung? Frankfurt a.M. 2003, S. 13 ff. (hier S. 80).

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einer solchen Verfassungsbildung exemplarisch nachvollzogen werden. Auch wenn das Weltsozialforum seine Selbstbeschreibung um eine prinzipielle Offenheit, Netzwerkorientierung und Formlosigkeit herstellt, ist trotzdem auffällig, dass verfassungstypische Elemente vorliegen. Unterschiedliche Akteure, von NGOs über Gewerkschaften bis hin zu aktivistischen Netzwerken, treffen sich in regelmäßigen Abständen als ‚Gegentreffen‘ zum Weltwirtschaftsforum. Mit der Charta von Porto Alegre, wo das erste Sozialforum stattfand, liegt ein Textkörper vor, der die Grundlagen der netzwerkartigen Zusammenarbeit festhält. Er hält Grundsätze für die politische Ausrichtung des WSF fest, die maßgeblich in einer emanzipativen Kritik an der neoliberalen Globalisierung besteht.47 Darüber hinaus regelt die Charta die Frage, wer am WSF und seinen Diskussionsveranstaltungen teilnehmen darf. So sind Vertreter von Parteien und Staatsapparaten kategorisch ausgeschlossen. In der Charta ist darüber hinaus ein starkes Prinzip der Nicht-Repräsentativität eingelassen: Weder fällt das WSF eindeutige Beschlüsse noch nimmt es für sich in Anspruch, alle sozialen Bewegungen der Welt zu repräsentieren. Insofern begrenzt die Charta das Spektrum möglicher Kompetenzen und installiert eine schwache Variante der Organisationsverfassung. Im Kern sind zwei Institutionen maßgeblich: der internationale Rat, der über die Charta des Weltsozialforums ‚wacht‘ und die politische Ausrichtung prägt, sowie ein örtliches Organisationskomitee, das sich um die organisatorische Umsetzung bemüht.48 Neben diesen Entscheidungszentren bilden die Treffen des Weltsozialforums eine institutionelle Peripherie. Sie selbst fällen keine Beschlüsse (Art. 6 der Charta), sind kein ‚Ort der Macht‘, sondern bilden einen dezentral vernetzten Raum der Beratschlagung. Interessanterweise hat sich um das Gründungsdokument der Charta ein konstitutioneller Diskurs entwickelt. Der Gründungsmythos der Charta von Porto Alegre dient als Folie für die Streitschlichtung im Falle interner Konflikte.49 Sie werden in Interpretationskonflikte der Charta transformiert. Insofern können an diesem Beispiel einige Verfassungselemente nachvollzogen werden. Selbst der ambitionierte Versuch einer formlosen Politik kann sich einer basalen Konstitutionalisierung nicht entziehen. An diesem Beispiel wird deutlich, dass eine subalterne Konstitutionalisierung heute nicht mehr auf

47 Weltsozialforum, Charta der Prinzipien vom 09.04.2001, http://weltsozialforum.org/ prinzipien/index.html (Stand 20.03.2013). 48 Siehe De Sousa Santos, Boaventura: The world social forum. A user’s manual, Madison 2004, S. 37 ff. 49 Zum Porto Alegre Konsensus siehe ebd., S. 35; siehe auch ders.: „The World Social forum and the global left“, in: Politics and Society 36 (2008), S. 247 ff.

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einem einheitlichen Kollektivsubjekt, etwa ‚Volk‘ oder ‚Klasse‘ gründen kann. Erforderlich ist eine Umstellung auf Netzwerke, die Akteure mit sozialen Umwelten in Beziehung setzen. Die subalterne Eigenverfassung muss politisch hergestellt werden, sie ist nicht das unmittelbare Produkt einer Selbstbewegung der Paradoxie oder der veränderten Produktionsverhältnisse, sie muss sich eine Form geben.50 Mit der Unterscheidung von Verteilungs- und Direktionssphären hatte Kirchheimer gezeigt, wie sich die Ansprüche subalterner Klassen in den Staatsapparat einschreiben. Auch die Weltgesellschaft ist nicht glatt verfasst; vielmehr sind durchaus globale Verteilungssphären zu beobachten, in denen es subalternen Kräften gelungen ist, ihre Ansprüche in den internationalen Rechtsdiskurs einzuspeisen.51 Dies gilt etwa für die UN-Pakte über zivile und soziale Rechte oder für die Deklaration über die Rechte indigener Völker. An diesen Orten liegen Normbestände vor, die der marktliberal-hegemoniale Konstitutionalismus gerade unterläuft. Sie sind das weltgesellschaftliche Pendant zu Kirchheimers Verteilungssphären, die er in einzelnen Apparaten des Nationalstaats lokalisierte. Auf dem Terrain der Weltgesellschaft sind Rechtsquellen und Institutionen auszumachen, die gegenhegemonial ausgerichtet sind: „Es gibt ausgeprägte globale „soziale“ Ideen und Normen, die dem normativen Gefüge der Weltgesellschaft einen „sozialen“ Stempel aufdrücken. Erstens sind internationale soziale Standards und Pakte zu nennen, insbesondere soziale Menschenrechte. Grundlegend ist der Internationale Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte der Vereinten Nationalen von 1966. Auf der Ebene der Weltregionen sticht die europäische Sozialcharta des Europarats von 1961 [...] hervor.“52

Eine hybride Konstitutionalisierung der Weltgesellschaft wird zur Option, wenn die sozialen Rechte aus ihrem unterworfenen Status befreit werden, wenn ihnen diejenige Rechtskraft zukommt, die dem globalen Schutz der Eigentumsrechte von Unternehmen beispielsweise schon längst zugeeignet ist. Die Zukunftsfrage

50 Im Gegensatz dazu Antonio Negri zu einer Art Form der Formlosigkeit der konstituierenden Macht als absolute Demokratie: ders.: Insurgencies. Constituent power and the modern state, Minneapolis 1999, S. 321. 51 Rajagopal, Balakrishnan: International law from below. Development, social movements and third world resistance, Cambridge 2003. 52 Leisering, Lutz: „Gibt es einen Weltwohlfahrtsstaat?“, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit. Beobachtungen globaler politischer Strukturbildung, Wiesbaden 2007, S. 185 ff. (hier S. 188).

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der Weltgesellschaft lautet, ob der soziale und demokratische Rechts- und Institutionennexus um Sozialpakt, Europäische Sozialcharta, Rechte indigener Völker und ILO dem marktliberalen Institutionennexus seine Hegemonie streitig macht. In diesen Konfliktarenen der Weltgesellschaft entstehen Anknüpfungspunkte für eine Verschiebung von Kreisläufen der Herrschaftsausübung und der Herrschaftskritik.

4. V ERFASSUNGSREVOLUTION Die Verfassungstheorie der Weltgesellschaft gleichzeitig als Systemtheorie und Nicht-Systemtheorie auszuarbeiten, ist folgenreich für das Verhältnis von Evolution und Revolution. Die Evolutorik alleine kann noch keine befriedigende Antwort darauf geben, wie zwischen der Forderung nach einer responsiven Öffnung der Verfassungsinstitute und dem Ideal eines „Vereins freier Menschen“ (Marx) ein Zusammenhang entstehen kann. Sowohl die gewünschte Hybridität als auch der Transzendierungsprozess – Marx’ wirkliche Bewegung also – müssen von irgendwo herkommen und die Paradoxien durcharbeiten. Selbst die „Meuterei auf der Bounty“53 muss erst sichtbar gemacht werden und halbwegs erfolgreich sein. Finden die Irritationen keinen Anschluss an Deck oder bringen nicht die Kraft auf, das Regime umzuwälzen, scheitern sie. In der Regel geraten sie in Vergessenheit und prallen an den verselbstständigten Ordnungsmustern ab. Das Potenzial einer kritisch-systemtheoretischen Verfassungslehre besteht darin, dass sie es ermöglicht, zwischen der Beobachtung neuartiger Verfassungsinstitutionen, dem Lob der Subversion und dem normativen Richtungssinn rechtlicher Institute zu vermitteln. Wenn gegenhegemoniale Eigenverfassungen mit dem Recht der Weltgesellschaft in netzwerkartigen Arrangements verkoppelt sind, findet eine Korrektur der globalen Verfassungsevolution möglicherweise ihre Haltepunkte. Dadurch öffnet sich die komplexitätsadäquate Umwälzung weltgesellschaftlicher Verhältnisse, ihre Revolutionierung für die einen als Option, für die anderen droht sie als Gefahr. Eine kritische Theorie der Globalverfassung muss berücksichtigen, dass „große verfassungsrechtliche Innovationen der modernen Gesellschaft nicht die Folge allmählicher Anpassungen, sondern plötzlicher Umwälzungen sind. Vor allem in den großen Rechtsrevolutionen haben sich normative Lernprozesse, die durch strukturelle Klas-

53 So die „Botschaft“ für die „juridische Gerechtigkeit“, siehe G. Teubner, „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 327 ff. (hier S. 345).

S UBALTERNE K ONSTITUTIONALISIERUNG

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senkonflikte [...] ausgelöst worden [...] zu umfassenden Gesellschaftsreformen verdichtet.“54

Diesen Horizont nicht aus dem Auge zu verlieren, ist mehr als ein normatives Desiderat. Es ist schwer vorstellbar, dass der Druck aus den sozialen Umwelten tatsächlich greift, ohne dass sich in den verselbstständigten Regimes die Furcht vor einer möglichen Revolutionierung breit macht.

54 Brunkhorst, Hauke: „Legitimationsverhältnisse. Replik auf Ingeborg Maus“, in: Oliver Eberl (Hg.), Transnationalisierung der Volkssouveränität. Radikale Demokratie diesseits und jenseits des Staates, Stuttgart 2011, S. 317 ff. (hier S. 322 f.).

Politiken der Entparadoxierung*: Versuch einer Bestimmung des Politischen in der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft J OHAN H ORST „ Das ISDA EMEA Credit Derivatives Determinations

Committee hat am 09. März 2012 einstimmig beschlossen, dass in Bezug auf die Hellenische Republik (Griechenland) ein Kreditereignis der Restrukturierung […] eingetreten ist, weil die Hellenische Republik von ihren Umschuldungsklauseln in Bezug auf von ihr ausgegebene Anleihen […] Gebrauch gemacht und dadurch die Zahlungsansprüche der Eigentümer dieser Anleihen re1

duziert hat.“

INTERNATIONAL SWAPS AND DERIVATIVES ASSOCIATION

Die ISDA (International Swaps and Derivatives Association, Inc.) ist eine rein private Organisation, die sich nach eigener Zuschreibung zum Ziel gesetzt hat,

*

Der Titel lehnt sich an Urs Stähelis Projekt einer ‚Politik der Entparadoxierung‘ an,

1

Dies ist eine freie Übersetzung der ISDA News Release vom 19. März 2012, abrufbar

vgl. Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche, Weilerswist 2000. unter: http://www2.isda.org/asset-classes/credit-derivatives/greek-sovereign-cds (Stand 20.03.2013).

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den Handel mit außerbörslich gehandelten (OTC) Finanzderivaten2 sicher und effizient zu machen. Derivative Finanzinstrumente zeichnen sich dadurch aus, dass ihre „Werte von anderen Werten, den Basiswerten, abgeleitet werden.“3 Im oben genannten Beispiel beziehen sich die Kreditderivate auf eine bestimmte Klasse griechischer Staatsanleihen als Basiswert. Außerbörslich gehandelte Finanzderivate werden traditionell direkt zwischen zwei Marktteilnehmern geschlossen, d.h. insbesondere, dass diese Kontrakte nicht über eine dritte Partei vermittelt werden, die das Ausfallrisiko der jeweiligen Vertragspartei abfedert.4 Die ISDA hat sich zum quasi Monopolisten für die Standardsetzung auf den internationalen Derivatemärkten entwickelt.5 Die von ihr entwickelten Standardverträge dominieren den Markt und das ISDA Master Agreement wird als Fundament und Nukleus des OTC-Derivatemarktes6 oder sogar als dessen industry-wide constitution bezeichnet.7 Die ISDA hat mittlerweile über 840 Mitglieder aus 59 Ländern.8 Ein großer Teil davon sind Marktteilnehmer, wie Banken und Versicherungen, aber auch Anwaltsfirmen, die Dienstleistungen für diesen Markt anbieten. Die ISDA wird wegen ihrer überaus hohen Mitgliederzahl von vielen als die größte „global financial trade as-

2

Vgl. zu außerbörslich gehandelten Finanzderivaten: Jean-Claude Zerey (Hg.), Finanzderivate. Rechtshandbuch, Baden-Baden, 3. Aufl. 2012.

3

Schüwer, Ulrich/Steffen, Sascha, ebd., § 1, Rn. 1.

4

Allerdings werden mittlerweile einige außerbörslich gehandelte Derivate über private Clearingstellen, wie z.B. Central Counter Parties, abgewickelt. Zudem schreiben einige Regulierungsvorhaben eine Clearingpflicht fest. So normiert der unter dem Namen EMIR (European Market Infrastructure Regulation) bekannt gewordene Verordnungsentwurf des Europäischen Parlaments in Art. 3 eine Clearingpflicht für standardisierte außerbörslich gehandelte Finanzderivate.

5

Biggins, John/Scott, Colin: Extending and Contracting Jurisdictions in a Transnational Private Regulatory Regime: Efficency, Legitimacy, ISDA and the OTC Derivatives Markets, University College Dublin Working Papers in Law, Criminology & SocioLegal Studies, Research Paper No. 51/2011, S. 32.

6

Vgl. Baker, Colleen M.: „Regulating the Invisible: The Case of Over-The-Counter Derivatives“, in: Notre Dame Law Review 85 (2009-2010), S. 1287 ff. (hier S. 1361).

7

Gelpern, Anna/Gulat, Mitu: CDS Zombies, Draft, 29. August 2012, S. 9. Aufsatz ist nunmehr erschienen: Gelpern, Anna/Gulati, Mitu: CDS Zombies, in: European Business Organization Law Review 13 (2012), S. 347 ff. (hier S. 357).

8

Vgl. ISDA, About ISDA, http://www2.isda.org/about-isda (Stand 20.03.2013).

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ENTPARADOXIERUNG

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sociation“ bezeichnet.9 Sie ist mittlerweile aber auch zu einem institutionell weit verzweigten Gebilde herangewachsen,10 das für Teile seiner Vertragswerke auch über gerichtsähnliche Instanzen11 verfügt. So hat sie für Credit Default Swaps sog. Credit Derivatives Determination Committees geschaffen, die nach eigenen prozessualen Regeln12 über den Eintritt eines Kreditereignisses in Bezug auf den Referenzschuldner entscheiden.13 Eine Entscheidung eines solchen Committees ist oben wiedergegeben. Dem für Europa zuständigen EMEA Committee gehören derzeit neben zehn Großbanken14 fünf Investmentfirmen15 an. Die Entscheidung legt fest, dass wegen einer von Griechenland vorgenommenen Umstrukturierung ein Kreditausfall in Bezug auf die auf sie bezogenen Derivate griechischer Staatsanleihen eingetreten ist. Diese Entscheidung ist für alle Verträge, die nach den ISDA-Standards abgeschlossen wurden, verbindlich. Die zitierte Entscheidung erfolgte zu einer Zeit, da Griechenland konkret von einem Staatsbankrott bedroht war, mit teils schwerwiegenden Folgen für die Zivilbevölkerung. Die Preisentwicklung für Derivate von Staatsanleihen kann insbesondere in Krisenzeiten starke Rückwirkung auf den Markt für staatliche Schuldtitel und damit auf die Refinanzierungsmöglichkeiten der entsprechenden Staaten haben.16 Dass die Entscheidung der ISDA mas-

9

Vgl. Johnson, Kristin: „Things Fall Apart: Regulating the Credit Default Swap Commons“, in: U. Colo. L. Rev. 82 (2011), S. 167 ff. (hier S. 229).

10 Vgl. ISDA, OTC Derivatives Industry Governance Structure, 15. Dezember 2010 (erhältlich über die Website der ISDA). 11 A. Gelpern/M. Gulat (Fn. 7), S. 350, sprechen insofern von einem Sonderfall einer „private commercial adjudication“. 12 Credit Derivatives Determinations Committees Rules (Version 11. Juli 2011), abrufbar unter: http://www.isda.org/credit/revisedcrules.html (Stand 20.03.2013). 13 Vgl. zur Funktion und Arbeit der Determination Committees: ISDA, The ISDA Credit Derivatives Determination Committees, Mai 2012 (erhältlich über die Website der ISDA). 14 Bank of America N.A.; Barclays Bank plc; BNP Paribas; Citibank, N.A.; Credit Suisse International; Deutsche Bank AG; Goldman Sachs International; JPMorgan Chase Bank, N.A.; Morgan Stanley & Co. International plc; UBS AG. 15 BlueMountain Capital Management, LLC; Citadel LLC; D.E. Shaw Group & Co., L.P.; Elliott Management Corporation; Pacific Investment Management Co., LLC. 16 Zwar wird dieser Zusammenhang teilweise bestritten (vgl. Fontana, Alessandro/ Scheicher, Martin: „An Analysis of Euro Area Sovereign CDS and their relation with Government Bonds“, European Central Bank Working Paper Series No 1271, Dezember 2010). Jedoch zeigen nicht nur die gesetzlichen Reformen der jüngsten Zeit in Deutschland (Einführung von § 30j WpHG) und auf europäischer Ebene (vgl. hierzu

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sive Auswirkungen auf die fiskalische Situation und die politischen Entscheidungsspielräume betroffener Staaten hat, ist deshalb nicht von der Hand zu weisen.17 Was zeigt uns dieses Beispiel? Eine private Organisationsform entscheidet nach den eigenen internen Normen über einen Sachverhalt mit potentiell massiven politischen Auswirkungen. Dies ist kein Einzelfall. Mit Blick auf die Normierungsformen im transnationalen Wirtschaftsrecht dürfte dies eher Ausdruck einer tiefgreifenden Umstellung sein, die zunehmend zum Regelfall wird. Neu ist diese Erkenntnis nicht und das Problem wird benannt: Die Politik verliert den Alleinzugriff auf die Entscheidung politischer Sachverhalte, d.h. politische Entscheidungen werden zunehmend auch außerhalb der staatlich und zwischenstaatlich organisierten Politik getroffen. Die kritischen Auseinandersetzungen mit diesem Phänomen gehen meist dahin, die Rolle des Staates zu untersuchen und sich auf die Suche nach inter- und supranationalen Äquivalenten staatlicher Herrschaftsausübung zu machen.18 Die völkerrechtliche und politikwissenschaftliche Debatte um eine Konstitutionalisierung jenseits des Nationalstaates kann in weiten Teilen hier eingeordnet werden.19 Das Problem dieser Ansätze ist, dass sie dabei weitgehend auf einen Begriff der Politik aus dem Restbestand verfassungsstaatlicher Theoriebildung zurückgreifen, dessen Tauglichkeit unter den Bedingungen der Weltgesellschaft gerade zweifelhaft geworden ist. Denn es ist nicht davon auszugehen, dass die Politik und die Vollzugsformen des Politischen selbst vom Fundamentalprozess der funktionalen Ausdifferenzierung unberührt bleiben.

Litten, Rüdiger/Bell, Matthias: „Regulierung von Kreditderivaten im Angesicht der globalen Finanzmarktkrise“, in: BKR 8 (2011), S. 314 ff.), dass zumindest die Staaten der EU davon ausgehen, dass ein solcher Effekt besteht. 17 Dies erkennen auch auf allgemeiner Ebene J. Biggins/C. Scott (Fn. 5), S. 12. 18 Vgl. Habermas, Jürgen: Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M. 2004, S. 112 ff.; ders.: „Eine politische Verfassung für die pluralistische Weltgesellschaft?“, in: KJ 38 (2005), S. 222 ff. 19 Bogdandy, Armin von: „Constitutionalism in International Law: A Proposal from Germany“, in: Harv. Int. Law Journal 47 (2006), S. 223 ff.; ders./Dellavalle, Sergio: „Universalism Renewed: Habermas’ Theory of International Order in Light of Competing Paradigms“, in: German Law Journal 10 (2009), S. 5 ff.; Kadelbach, Stefan/ Kleinlein, Thomas: „Überstaatliches Verfassungsrecht. Zur Konstitutionalisierung im Völkerrecht“, in: Archiv des Völkerrechts 44 (2006), S. 235 ff.; Milewicz, Karolina: „Emerging Patterns of a Global Constitutionalization: Towards a Conceptual Framework“, in: Ind. J. of Global Legal Stud. 16 (2009), S. 413 ff.

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Dieser Aufsatz unternimmt deshalb den Versuch einer (Neu-)Bestimmung des Politischen unter den Bedingungen funktionaler Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist eine dekonstruktiv informierte Auseinandersetzung mit dem systemtheoretischen Problemkontext von Unentscheidbarkeit und Paradoxie. Die Untersuchung gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil wirft einen freilich kursorischen Blick auf Luhmanns Begriff der Politik. Hierbei soll aufgezeigt werden, dass unter den Bedingungen der Weltgesellschaft die Systemtheorie selbst schon eine Konzeption des Politischen nahelegt, die über die Politik der Gesellschaft hinausgeht. Denn, so die These, die Ablösung normativer durch kognitive Erwartungsstrukturen und die von Luhmann selbst verzeichnete zunehmende Unfähigkeit des Funktionssystems Politik zum Bereithalten der Kapazität kollektiver Entscheidungen fordert dazu auf, nach funktionalen Äquivalenten zu suchen – dies, richtig verstanden, nicht so sehr auf Organisationsebene des Staates, sondern tiefer liegend außerhalb des Funktionssystems Politik selbst. Hieran anknüpfend soll dann im zweiten Teil dargestellt werden, wie eine dekonstruktiv orientierte Systemtheorie das Politische jenseits der Politik konzeptionalisiert. Es wird dabei zunächst darzustellen sein, dass das Politische als Entscheidung im Medium der Unentscheidbarkeit verortet wird. Daran anschließend sollen zwei Erweiterungen des Begriffs des Politischen vorgenommen werden: Erstens wird im Anschluss an Urs Stähelis Entwurf einer Politik der Entparadoxierung als Antagonisierung die These entwickelt, dass die Entparadoxierung nicht nur die Programmebene erfasst, sondern auch auf den Code durchschlägt, welcher dadurch als prinzipiell veränderbar ausgewiesen wird. Dies ermöglicht es – so die These – die Systemfrage im System zu stellen. Zweitens soll im Anschluss an Gunther Teubners Programm des gesellschaftlichen Konstitutionalismus eine Diversifizierung der Vollzugsformen des Politischen vorgeschlagen werden. Demnach gibt es keine einheitliche Vollzugsform des Politischen, sondern diese ist teilsystemspezifisch zu kontextualisieren. Abschließend wird dann eine kurze Einordnung dieses neu gewonnen Begriffs des Politischen für das Projekt einer kritischen Systemtheorie versucht.

1. D AS P ROBLEM : D AS P OLITISCHE

IN DER

W ELTGESELLSCHAFT

Gesellschaft als Gesamtheit funktional ausdifferenzierter Kommunikationszusammenhänge ist unter den Bedingungen globaler Kommunikation stets Welt-

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gesellschaft.20 Politik in der funktional ausdifferenzierten Gesellschaft ist demnach je eingebettet in weltgesellschaftliche Kommunikation. Aus systemtheoretischer Perspektive sind Politik in formaler Bestimmung die weltweit nach dem binären Code von machtüberlegen/machtunterlegen bzw. Regierung/Opposition21 operierenden Kommunikationen. Als operativ geschlossenes Funktionssystem weist Politik bei Luhmann eine weitgehend segmentäre Binnendifferenzierung in Territorialstaaten22 auf.23 In Die Politik der Gesellschaft setzt sich Luhmann auch mit der Rolle des Territorialstaates in der Weltgesellschaft auseinander.24 Hierbei hält er fest, dass die Funktion der Politik, die im „Bereithalten der Kapazität zu kollektiv bindendem Entscheiden“25 besteht, „wenn »Demokratie« denn ein Indikator dafür ist, nur über segmentäre Zweitdifferenzierung erreicht werden [kann]“.26 Gerade in der Weltgesellschaft behält der Territorialstaat als Ausdruck der segmentären Zweitdifferenzierung folglich die elementare Bedeutung zur Gewährleistung der Politikfunktionen. Diesbezüglich lässt sich durchaus von Rudimenten eines methodologischen Etatismus in Luhmanns Konzept der Weltgesellschaft sprechen.27 Gleichwohl erkennt Luhmann, dass unter den Bedingungen der Weltgesellschaft das Funktionssystem Politik unter Druck gerät. Dies problematisiert er im Zusammenhang mit der bekannten These der graduellen Ablösung normativer durch kognitive Erwartungsstrukturen in der Weltgesellschaft.28 Denn es ist gerade diese Entwicklung, die „es fraglich erscheinen [lässt], ob Recht und Politik [als normativ geprägte Erwartungsstrukturen] weiterhin die evolutionär führenden Risikoträger der Menschheitsentwicklung bleiben werden.“29 Aber was bedeu-

20 Vgl. Luhmann, Niklas: „Die Weltgesellschaft“, in: ders., Soziologische Aufklärung 2, 5. Aufl. Wiesbaden 2005, S. 63 ff. (hier S. 66). 21 Vgl. ders.: Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 99. 22 Vgl. ebd., S. 222. 23 Vgl. hierzu auch Stichweh, Rudolf: Die Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 2000, S. 23. 24 Vgl. N. Luhmann (Fn. 21), S. 220 ff. 25 Vgl. ebd., S. 84. 26 Vgl. ebd., S. 223. 27 Vgl. Stichweh, Rudolf: „Zum Gesellschaftsbegriff der Systemtheorie: Parsons und Luhmann und die Hypothese der Weltgesellschaft“, in: Zeitschrift für Soziologie, Sonderheft „Weltgesellschaft“ 2005, S. 174 ff. (hier S. 183); Albert Mathias: „Politik der Weltgesellschaft und Politik der Globalisierung: Überlegungen zur Emergenz von Weltstaatlichkeit“, ebd., S. 223 ff. (hier S. 226). 28 Vgl. N. Luhmann (Fn. 20), S. 63 ff. (hier S. 69). 29 Ebd., S. 63 ff. (hier S. 71).

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tet dieser Befund für das Politische in der Weltgesellschaft? Spitzen wir diesen Befund auf die Gefahr einer gewissen Vereinfachung hin zu, dann können wir festhalten: Unter den Bedingungen der Weltgesellschaft ist das Funktionssystem Politik nur noch teilweise in der Lage, die Funktion des Bereithaltens kollektiver Entscheidungen zu übernehmen. Die mit dem Territorialstaat angesprochene Organisationsstruktur hat in der Weltgesellschaft keine Entsprechung. Es kommt infolge dessen in anderen Funktionssystemen (z.B. Wirtschaft) zur Ausbildung funktionaler Äquivalente für Leistungen des Teilsystems Politik. D.h. aber, (das Funktionssystem) Politik verliert in der Weltgesellschaft den Alleinzugriff auf das Politische. Politische Entscheidungen werden auch – und in zunehmendem Maße – anderswo getroffen. Dieser Befund wird nicht nur von systemtheoretisch orientierten Ansätzen weitgehend geteilt. Es bleibt dann allerdings die Frage, wie das Politische in der Weltgesellschaft neu verortet werden kann. Die Rolle des Staates, die Frage nach der (kommenden) Demokratie und die ‚neue‘ Verfassungsfrage30 entspringen dieser prekären Lage des Politischen in der Weltgesellschaft. Was aber ist hier das spezifische Projekt einer kritischen Systemtheorie? Man kann dieser die Aufgabe des emanzipatorischen Ideals zuschreiben und das Kernanliegen einer kritischen Systemtheorie folgerichtig in der „Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse“ erblicken.31 Für die Frage nach dem Politischen in der Weltgesellschaft heißt dies dann aber, einen Begriff des Politischen zu entwickeln, der über das Funktionssystem Politik hinausgeht. Und dies in zwei Hinsichten: Erstens muss dieser Begriff politische Elemente jenseits der Politik in den Blick nehmen können. Zweitens muss sich dieser Begriff auch Vollzugsweisen des Politischen öffnen, die nicht der Vollzugsweise der Produktion kollektiver Entscheidung im Rahmen der organisierten Politik entsprechen. Denn es ist nicht zu erwarten, dass die Vollzugsweisen des Politischen außerhalb des Funktionssystems Politik mit diesem identisch bleiben.

30 Vgl. Teubner, Gunther: Verfassungsfragmente, Frankfurt a.M. 2012, S. 11 ff. 31 Vgl. Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. (hier S. 36).

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2. D IE THEORIEARCHITEKTONISCHE V ERORTUNG P OLITISCHEN IN DER S YSTEMTHEORIE a.

DES

le politique und la politique

Die Aufgabe ist dann zunächst, das Politische oder Momente des Politischen jenseits der Politik aufzuspüren. Aber wie kann dies theoriearchitektonisch geschehen? Eine dekonstruktiv informierte Lesart der Luhmannschen Systemtheorie nimmt hier eine spezifische Theorietradition auf, die zwischen le politique und la politique unterscheidet. Es soll hier gar nicht erst versucht werden, diese äußerst aufgefächerte Diskussion um den Begriff des Politischen in seiner Vollständigkeit wiederzugeben.32 Wir wollen den Begriff des Politischen hier lediglich in Bezug zu den oben genannten Strukturproblemen der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft setzen. In Bezug auf diese Herausforderung hält der Begriff des Politischen zwei wesentliche Innovationen bereit. Erstens wird das Politische in Abgrenzung zur institutionalisierten Politik profiliert. Dies eröffnet die Möglichkeit, Momente des Politischen jenseits des Funktionssystems Politik in den Blick zu nehmen. Solch ein Begriff des Politischen verspricht demnach, genau auf die strukturellen Schwierigkeiten des Denkens des Politischen in der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft zu antworten. Zweitens wird das Politische theoriearchitektonisch in Momenten der Paradoxieentfaltung verortet. Nicht ein inhaltlich bestimmter Katalog politischer Forderungen, kein politisches Projekt, ist also mit dem Begriff des Politischen angesprochen, sondern eine formale Verortung in Momenten der Unentscheidbarkeit. Demnach entstehen „[p]otentielle Orte des Politischen [...] in Situationen, in denen ein System und seine Programme die différance der Code-Paradoxie nicht länger organisieren können.“33 Eben dieser Anknüpfungspunkt lässt diesen Begriff aber besonders geeignet für eine systemtheoretische Rekontextualisierung erscheinen. Denn diese geht gerade von der Fundierung eines jeden Funktionssystems in einer ursprünglichen Paradoxie aus. Es gilt hier nun deshalb, die paradoxalen Elemente in der Systemtheorie zu lokalisieren, innerhalb derer der dargelegte Begriff des Politischen rekontextualisiert werden soll.

32 Vgl. hierzu z.B. Marchart, Oliver: Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben, Berlin 2010. 33 Stäheli, Urs: Sinnzusammenbrüche, Weilerswist 2000, S. 271.

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Der Ausgangspunkt: Paradoxie und Unentscheidbarkeit

In der Systemtheorie lassen sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich zwei Paradoxiephänomene voneinander unterscheiden, die freilich in einem engen Verhältnis zueinander stehen.34 Das erste könnte man näherungsweise als Ursprungsparadoxie bezeichnen. Dies ist der Moment der Anwendung der Unterscheidung eines Codes auf seine eigene Unterscheidung. Das zweite spricht das grundlegende Problem der Entscheidungsparadoxie an. Gemeint ist hier das auch außerhalb der Systemtheorie vielschichtig erörterte Problem der Unentscheidbarkeit als Voraussetzung einer jeden Entscheidung. aa. Die Ursprungsparadoxie Die Ursprungsparadoxie bezeichnet den Umstand, dass jedes Funktionssystem auf der Einführung einer unbegründbaren Unterscheidung basiert, auf der Einführung eines binären Codes. Auf der Ebene des Codes tritt diese Paradoxie dann zu Tage, wenn der Code eines Funktionssystems in reflexiver Bewegung auf sich selbst angewandt wird. D.h. wenn das Funktionssystem Recht, welches entlang der Unterscheidung von Recht/Unrecht operiert, sich der Frage aussetzt, ob diese Unterscheidung, also die Unterscheidung Recht/Unrecht, selbst rechtmäßig oder unrechtmäßig ist.35 Das Problem der ursprünglich unbegründbaren Unterscheidung kann systemtheoretisch auch als Paradoxie der Form36, als Paradoxie der Beobachtung oder im Kontext des Ursprungs der System/Umwelt-Unterscheidung reformuliert werden.37 Bleiben wir aber einstweilen bei der Beschreibung der Paradoxie in Gestalt der Anwendung des Codes auf die eigene Unterscheidung: Was diese visibilisiert, ist das Problem des radikalen Mangels der Fundierung.38 Genauer, in der Anwendung des Co-

34 Vgl. ders.: „Politik der Entparadoxierung. Zur Artikulation von Hegemonie- und Systemtheorie“, in: Oliver Marchart (Hg.), Das Undarstellbare der Politik. Zur Hegemonietheorie Ernesto Laclaus, Wien 1998, S. 52 ff. (hier S. 58 f.). 35 Vgl. Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 188; Baraldi, Claudio/Corsi, Giancarlo/Esposito, Elena: GLU. Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie Sozialer Systeme, Frankfurt a.M. 1997, S. 133. 36 Vgl. hierzu Luhmann, Niklas: „Die Paradoxie der Form“, in: Dirk Baecker (Hg.), Kalkül der Form, Frankfurt a.M., S. 45 ff. 37 Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 60 ff. 38 Vgl. U. Stäheli (Fn. 33), S. 262.

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des auf sich selbst erfährt das System die radikale Kontingenz der Einführung des eigenen Codes.39 bb. Paradoxien des Entscheidens: Unentscheidbarkeiten40 Neben der genannten Ursprungsparadoxie setzt sich die Systemtheorie Luhmannscher Provenienz noch mit der Paradoxie des Entscheidens auseinander.41 „Entscheidungsparadoxien sind unentscheidbar, weil jede Entscheidung ihr Gegenteil enthält. Aber Unentscheidbarkeiten im Sinne Gödels sind zugleich die Voraussetzung für die Möglichkeit des Entscheidens, sie können überhaupt nur durch Entscheidung aufgelöst werden“.42 Entscheidung und Unentscheidbarkeit sind also derart aufeinander bezogen, dass nur in Situationen prinzipieller Unentscheidbarkeit eine Entscheidung, die mehr ist als ein Automatismus, überhaupt möglich ist, oder, um es mit dem von Luhmann vielzitierten Satz von Heinz von Foerster zu sagen: „Only those questions that are in principle undecidable, we can decide“.43 Die Entscheidungsparadoxie stellt sich sonach als das Moment der fundamentalen Ungewissheit dar, welcher jeder Verknüpfung von Struktur und Operation und jeder Regel und ihrer Anwendung innewohnt.44 c.

Einordnung der Paradoxiephänomene

Fragt man sich nun, was die Ursprungsparadoxie von der Paradoxie des Entscheidens unterscheidet, dann möchte ich hier eine formale Einordnung vorschlagen: Die Ursprungsparadoxie ist auf der Ebene des Codes angesiedelt, hingegen ist die Paradoxie des Entscheidens auf der Ebene der Programme zu verorten. Der Sinn dieser Einordnung erschließt sich, wenn wir den eigentüm-

39 Vgl. ebd., S. 263. 40 Vgl. Luhmann, Niklas: „Die Paradoxie des Entscheidens“, in: ders., Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, S. 123 ff. 41 Vgl eine ausführliche und kritische Auseinandersetzung mit der Paradoxie des Entscheidens: Lahusen, Benjamin/Renner, Moritz: „Gespenster zweiter Ordnung“, in: Gralf-Peter Calliess et al. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz. Festschrift für Gunther Teubner zum 65. Geburtstag, Berlin 2009, S. 69 ff. 42 N. Luhmann (Fn. 40), S. 123 ff. (hier S. 132). 43 Foerster, Heinz von, zitiert nach N. Luhmann, ebd., S. 123 ff. (hier S. 132). 44 Vgl. Teubner, Gunther: „Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?“, in diesem Band, S. 327 ff.

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lichen Begriff der Funktion in den Blick nehmen. Wir nennen diesen Begriff eigentümlich, weil er bei Luhmann eine besondere Rolle einnimmt. Zwar definiert Luhmann an einer Stelle Funktion knapp als die Beobachtung des Gesamtsystems durch das jeweilige Teilsystem45 und einige Jahre früher hält er fest, dass „[d]ie Funktion der Gesellschaft [...] in der Ausgrenzung unbestimmbarer und der Einrichtung bestimmter oder doch bestimmbarer für ihre Teilsysteme und letztlich für das Verhalten tragbarer Komplexität“46 liege. Der Funktionsbegriff ist damit stets bezogen auf das Problem der Komplexitätsreduktion. Jedoch ist damit die Rolle des Funktionsbegriffs weit von einer Klärung entfernt. Die Bedeutung des Funktionsbegriffs erschließt sich erst im Zusammenhang mit Luhmanns These des Primats der funktionalen Ausdifferenzierung.47 In einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft erfüllen die jeweiligen Funktionssysteme ihre Funktion. Die Funktion eines Funktionssystems kann nicht von einem anderen Funktionssystem übernommen werden. Funktionale Äquivalente kann es vielmehr nur auf der Leistungsebene48 geben. Nun gibt es für die funktional ausdifferenzierte Gesellschaft aber keinen numerus clausus notwendiger Funktionen. Vielmehr geht Luhmann davon aus, dass sich Funktionen nur im Hinblick auf historisch variable Gesellschaftsstrukturen bestimmen lassen.49 „Man kann nur induktiv vorgehen und mit einer Art Gedankenexperiment testen, wie das Gesellschaftssystem seine Strukturen zur Aufrechterhaltung seiner Autopoiesis ändern müsste, wenn bestimmte Funktionen nicht mehr erfüllt würden [...].“50Anders als noch bei Parsons stellt sich evolutiv heraus, durch welche Ausdifferenzierungen gesellschaftlicher Funktionsbereiche in Funktionssysteme Komplexitätssteigerungen der Gesellschaft möglich sind. So kann Luhmann mit der Entwicklungshilfe ein Funktionssystem in the making beobachten, deren Notwendigkeit sich evolutiv erst noch zu bewähren hat.51 Die Funktionen und die für die Einrichtung der Autopoiesis jeweils notwendigen spezifischen binären Codes eines Funktionssystems sind demnach historisch kontingent, in dem Sinne, dass die Erreichung eines gesellschaftlichen Komplexitätsniveaus evolutionär auch anders möglich sein kann. Diese Schlussfolgerung ist zunächst trivial. Brisant wird sie in die-

45 N. Luhmann (Fn. 37), S. 757. 46 Ders.: Gesellschaft, in: ders., Soziologische Aufklärung, Opladen 1970, S. 137 ff. (S. 149). 47 Ders. (Fn. 37), S. 747. 48 Vgl. zur Unterscheidung von Funktion und Leistung: ebd., S. 757 ff. 49 Ebd., S. 747. 50 Ebd., S. 747. 51 Ebd., S. 633.

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sem Zusammenhang jedoch, wenn man sie mit einer weiteren Schlussfolgerung Luhmanns zusammenstellt, nämlich mit der (Un-)Möglichkeit der Kritisierbarkeit einer funktional differenzierten Systemordnung. Denn Luhmann geht davon aus, dass eine Kritik im Sinne des Aufzeigens einer alternativen Gesellschaftsordnung in einer funktionsorientierten Ordnung nicht möglich sei. „Der Grund dafür dürfte sein, dass eine an Funktionen orientierte Systemordnung das, was für sie latent bleiben muß, nicht funktionalisieren kann, weil sie es eben dadurch in die Ordnung selbst einbeziehen würde. Was möglich bleibt, ist dann nur noch eine Art blinder, sprachloser, funktionsloser Terrorismus: eine auf Existenz reduzierte Gegenkontingenz.“52 Paradoxerweise führt also gerade die Tatsache, dass eine Funktionsorientierung das Auch-andersSein immer schon mitführt, dazu, dass die Artikulation einer radikalen Andersheit innerhalb einer Funktionsordnung ausgeschlossen ist. Luhmann postuliert mithin, dass die Funktion und der ihr zugehörige binäre Code zwar historisch kontingent sind, gleichwohl die Kritik derselben innerhalb der Funktionsordnung unmöglich ist. Funktion und Code sind also in einer funktional ausdifferenzierten Gesellschaft alternativlos. Dieses Ergebnis erhellt nun, warum wir in Bezug auf die Paradoxien zwischen der Codeebene auf der einen und der Programmebene auf der anderen Seite unterschieden haben. Denn nur auf der Programmebene ist nach Luhmann eine kritische Reflexion im Rahmen einer Paradoxieentfaltung möglich. Dies können wir anhand von Luhmanns Gerechtigkeitsbegriff beispielhaft aufzeigen. Luhmann weist der Gerechtigkeit bekanntlich die Theoriestelle einer Kontingenzformel zu.53 Sie ist als Repräsentation der Einheit des Systems im System Selbstbeobachtung und Selbstbeschreibung desselben.54 Eben dies ist aber auf der Ebene des Codes nach dem Gesagten nicht möglich. Denn Gerechtigkeit als Selbstbeobachtung des Systems würde auf der Ebene des binären Codes die Selbigkeit von Recht und Unrecht behaupten müssen und folglich notwendig in eine Paradoxie münden.55 Der Code könne deshalb weder gerecht noch ungerecht sein.56 Mit anderen Worten stellt sich die Frage der Gerechtigkeit des Codes gar nicht, dieser bleibt vielmehr selbst stets stabil. Folgerichtig verortet Luhmann das Problem der Gerechtigkeit allein auf der Ebene der Programme.57

52 Ders.: Soziale Systeme, Frankfurt a.M. 1984, S. 465. 53 Ders. (Fn. 37), S. 214 ff. 54 Ebd., S. 217. 55 Ebd., S. 217. 56 Ebd., S. 218. 57 Ebd., S. 217.

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ENTPARADOXIERUNG

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Daraus folgt, dass – wenn wir das Politische als Form der Paradoxieentfaltung in den jeweiligen Funktionssystemen in Anspruch nehmen wollen – hierfür zunächst nur die Entscheidungsparadoxie auf der Ebene der Programme in Frage kommt, da eine Politisierung auf der Funktionsebene nach Luhmann stets nur „als blinder, sprachloser, funktionsloser Terrorismus“ vorstellbar ist. Allerdings eröffnet gerade die Reflexion der Funktionsebene wichtige Politisierungschancen. Die auch von Luhmann konzedierte Veränderbarkeit gesellschaftlicher Funktionsbereiche würde aus dem Blick geraten. Damit aber wird der internen Politisierung der Funktionssysteme die Möglichkeit genommen, sich selbst in Frage zu stellen, d.h. im System die Systemfrage zu stellen. Dies scheint für das Programm einer kritischen Systemtheorie ungenügend. Und die Selbstbeschränkung von Luhmann in Form des Reflexionsverbots auf der Code-Ebene ist keinesfalls notwendig. Vielmehr kann mittels einer dekonstruktiven Lesart der Systemtheorie gezeigt werden, wie deren Politisierungspotenziale auch auf die Code-Ebene ausgeweitet werden können.58

3. P OLITIK

DER

E NTPARADOXIERUNG

„Das Konzept einer Politik der Entparadoxierung zielt auf eine Supplementierung von Luhmanns enger Fassung des politischen Systems. Im Gegensatz zu einem Funktionssystem ist die Politik der Entparadoxierung nicht an ein bestimmtes System gebunden, sondern kann auftauchen, wo immer Paradoxien konstruiert und entfaltet werden.“

59

An diesem Zitat wird zunächst deutlich: Das Programm der Politik der Entparadoxierung nimmt die Innovation des eingangs erläuterten Begriffs des Politischen auf und entdeckt folgerichtig auch Momente des Politischen in anderen Funktionssystemen. Neben dieser Erweiterung auf andere Systeme enthält das Programm der Politik der Entparadoxierung aber auch noch eine Erweiterung hinsichtlich der Art der Entparadoxierung. Dies wird mit dem von Derrida übernommenen Begriff des Supplements angezeigt. Stäheli arbeitet hier heraus, dass nicht nur die Ebene der Programme von der Politisierung erfasst wird, sondern auch der Code selbst wird in der Politik der Entparadoxierung als variabel und veränderbar vorgestellt. Es gilt nun aber, diese Radikalisierung des Konzepts des Politischen systematisch nachzuvollziehen.

58 Diese Lesart orientiert sich an Stähelis Programm der Politik der Entparadoxierung, vgl. U. Stäheli (Fn. 33), S. 230 ff. 59 Ebd., S. 296.

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Im Ausgangspunkt erhält das Politische die Rolle eines parasitären Codes der Antagonisierung in einem Funktionssystem. Nicht alle Formen der Entparadoxierung sind dabei politisch, sondern nur solche, die in der Form der Antagonisierung vollzogen werden.60 Nun hält Stäheli fest, dass bei Luhmann die „paradoxalen Effekte des Codes [...] auf eigentümliche Weise auf die Programm- und Selbstbeschreibungsebene des Systems beschränkt [bleiben]“.61 Dies sei hingegen wenig überzeugend, da „auch ein Code [...] nicht für sich allein stehen“62 könne. Vielmehr gewinne der Code seine Bedeutung erst in seinem Vollzug und der Vollzug des Codes bedarf notwendig der Programme.63 Wenn aber der Code seinen Sinn nur in seinem Vollzug mittels der Programme erlangt, d.h. auf kein invariables Sinnreservoir zurückgreifen kann, das „außerhalb der sozialen und zeitlichen Sinndimensionen angesiedelt“64 ist, dann müssen all diejenigen Bedeutungsverschiebungen, die sich in die Iteration des Vollzugs einschreiben, auch den Code selbst betreffen. Stäheli erläutert dies mit Bezug auf Derrida als die Supplementhaftigkeit des Programms für den Code. Schon Luhmann selbst betont bekanntlich die supplementierende Funktion des Programms mit Blick auf den Code. Das Programm ist demnach konstitutiv für den Code im dem Sinne, dass der Code selbst keine Kriterien für die Feststellung der Werte Recht und Unrecht bereithält. Eine codierte Operation setzt also immer voraus, dass in Form von Programmen Kriterien für die Verteilung der jeweiligen Werte zur Verfügung stehen (im Recht also Gesetze). Darüber hinaus weist Stäheli aber darauf hin – und das ist die zweite Bedeutung von Supplement –, dass der Code jenseits seiner Aktualisierung durch und in den Programmen gar keinen Sinn haben kann.65 In der Aktualisierung des Codes mittels der Programme gibt es somit immer auch die Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung des Codes selbst. Die konstitutive Funktion der Programme für den Code bezieht sich demnach nicht nur auf die Aktualisierung des Codes als dessen Vollzug, sondern auch auf die Bestimmung der Bedeutung des Codes in diesem Vollzug. Eben deshalb können die paradoxalen Effekte des Codes auch auf diesen selbst durchschlagen. Eine dekonstruktiv informierte Ausdeutung des Supplementcharakters des Programms für den Code setzt diesen in der Paradoxieentfaltung selbst der Veränderung aus. Die

60 Ebd., S. 272. 61 Ebd., S. 281. 62 Ebd., S. 282. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 286. 65 Ebd.

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Politik der Entparadoxierung erweitert demnach die Politisierungschancen auf die Code-Ebene. Wir können also festhalten: In der Systemtheorie lassen sich die Ursprungsparadoxie und die Entscheidungsparadoxie unterscheiden. Die Ursprungsparadoxie ist auf der Ebene des Codes angesiedelt, die Entscheidungsparadoxie hingegen auf der Ebene der Programme. Gleichwohl besteht zwischen diesen beiden paradoxalen Momenten eine Beziehung, die wir mit Stäheli als Supplementierung umschreiben können. Daraus folgt, dass, anders als bei Luhmann, die paradoxalen Effekte auch auf den Code durchschlagen können; auch dieser wird zur Disposition gestellt und somit prinzipiell veränderbar.

4. G ESELLSCHAFTLICHER K ONSTITUTIONALISMUS DAS P OLITISCHE 66

UND

Nach dieser ersten Erweiterung soll nun mit dem gesellschaftlichen Konstitutionalismus Teubners ein weiteres Projekt vorgestellt werden, das die Unterscheidung von der Politik und dem Politischen aufnimmt67 und die Momente des Politischen ebenfalls in dem „Umgang der Sozialsysteme mit ihren je eigenen Gründungs- und Entscheidungsparadoxien“68 verortet. Die Programme der Politik der Entparadoxierung und des gesellschaftlichen Konstitutionalismus teilen mithin einen gemeinsamen Ausgangspunkt. a.

Kritik am gesellschaftlichen Konstitutionalismus

Das Konzept des gesellschaftlichen Konstitutionalismus bleibt jedoch in einem bestimmten Gesichtspunkt hinter einer Politik der Entparadoxierung zurück. Wir haben mit Stäheli herausgearbeitet, dass die Politik der Entparadoxierung auch auf den Code selbst durchschlagen muss. Im Gegensatz dazu scheint der gesellschaftliche Konstitutionalismus sich in gewisser Weise in einer als unveränderbar angenommenen funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft einzurichten. Ich will dies mit Blick auf Teubners Diskussion einer Politisierung der Wirtschaft erläutern. Teubner macht in den jeweiligen Funktionssys-

66 Vgl. G. Teubner (Fn. 30), S. 174 ff. 67 Vgl. ebd. 68 Vgl. ebd., S. 176.

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temen Organisations- und Spontanbereiche aus.69 In der Wirtschaft steht dem organisierten Bereich in Form von Unternehmen ein Spontanbereich in Form der Verbraucher entgegen. Der Spontanbereich biete Potenziale für die interne Politisierung der jeweiligen Funktionssysteme.70 So sieht Teubner in der Politisierung der Verbraucherpräferenzen eine Möglichkeit der Eigenpolitisierung der Wirtschaft. „Consumer Activism, Verbraucherkampagnen, Boykottaktionen, Produktkritik […]“71 bieten demnach als Politisierungsreservoir die Möglichkeit, den Zahlungskreislauf und damit letztlich die innere Konstitution des Systems systemintern zu verändern.72 Man mag die Politisierungschancen dieser Artikulationsformen unterschiedlich bewerten, klar scheint jedoch, dass durch Produktkritik der Konsumenten allein die wirtschaftsinterne Differenzierung in Verbraucher und Unternehmen nicht aufgehoben, ja ihre gesellschaftsstrukturellen Voraussetzungen gar nicht in den Blick genommen werden können. Auch bei der Einordnung der Rolle der Zentralbanken begegnet uns diese Form der eingeschränkten Politisierung. Den Zentralbanken wird die Rolle einer Monetative, d.h. von Verfassungsorganen des Wirtschaftssystems mit möglichst hoher Autonomie vom Zugriff anderer Funktionsbereiche, zugewiesen.73 Entsprechend werden die ‚hochpolitischen‘ Entscheidungen der Zentralbanken systemintern politisiert. Dabei steht jedoch die Rolle der Zentralbanken als Hüterinnen der Geldwertstabilität von vornherein nicht mehr zur Disposition. An dieser Stelle soll nicht bestritten werden, dass für diese Aufgabenzuschreibung der Zentralbanken im Rahmen einer Vollgeldreform sicherlich viele polit-ökonomischen Erwägungen sprechen. Es soll lediglich daran erinnert werden, dass diese Aufgabenzuschreibung selbst variabel ist und durchaus (und auch in Marktwirtschaften) anders gelöst werden kann.74 Aber eben deshalb muss auch die Aufgabenzuschreibung der Zentralbanken der Politisierung offen stehen. Obwohl Teubner zwar festhält, dass die interne Politisierung auch die Möglichkeit eröffnen muss, über die gesamtgesellschaftliche Bedeutung des Sozialbereichs zu streiten,75 gelingt es dem gesellschaftlichen

69 Vgl. ebd., S. 140 ff. 70 Vgl. ebd., S. 143. 71 Vgl. ebd. 72 Vgl. ebd. 73 Vgl. ebd., S. 184. 74 So haben die Zentralbanken in vielen Ländern ein explizit politisches Mandat, welches nicht nur die Geldwertstabilität umfasst, sondern auch andere Formen teils massiver monetärer Intervention. 75 Vgl. G. Teubner (Fn. 30), S. 256.

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Konstitutionalismus nicht, einen Begriff des Politischen zu entwickeln, der dies zu leisten im Stande ist. Generalisierend lässt sich zusammenfassen, dass es dem gesellschaftlichen Konstitutionalismus nicht gelingt, im Rahmen der internen Politisierung der Wirtschaft als Eigenkonstitutionalisierung ihre eigene Funktion zu reflektieren, d.h. die Systemfrage im System zu stellen. Als Grund für die begrenzte Reichweite der internen Politisierungschancen des gesellschaftlichen Konstitutionalismus können wir die oben dargelegte Begrenzung der Reflexion auf die Programmebene annehmen. Demnach kann hier insofern das Projekt der Politik der Entparadoxierung zu einer Erweiterung der Politisierungschancen auch des gesellschaftlichen Konstitutionalismus beitragen. b.

Diversifizierung des Politischen im gesellschaftlichen Konstitutionalismus

Bei einem weiteren Problem der Verortung des Politischen in der Systemtheorie kann das Programm des gesellschaftlichen Konstitutionalismus nunmehr herangezogen werden, um seinerseits ein wichtiges Defizit der Politik der Entparadoxierung zu beheben. Im Rahmen von Stähelis Politik der Entparadoxierung wird das Politische in Anlehnung an Luhmanns Einordnung der Moral als parasitärer Code verstanden.76 Der Vollzug des parasitären Codes des Politischen eröffnet die Möglichkeit der Antagonisierung des jeweiligen Funktionssystems. Er überschreibt im Rahmen der Antagonisierung des Codes und der System/UmweltUnterscheidung den Code des Systems mit einer Freund/Feind-Unterscheidung.77 Diese Funktionsbestimmung des Politischen als Antagonisierung gilt unabhängig vom funktionssystemspezifischen Kontext allgemein. Der Vollzug des Politischen in den einzelnen Funktionssystemen würde nach dieser Vorstellung demnach jeweils den gleichen Regeln folgen. Auch das Politische jenseits der Politik wird bei Stäheli daher als einheitlich vorgestellt. Es gibt nur eine Vollzugsform des Politischen, nämlich die Antagonisierung. Der Grund für diese Reduzierung des Politischen scheint in einer eigentümlichen Engführung von Politischem und Antagonisierung zu liegen, die Stäheli von Laclau übernimmt. Um dies zu erläutern, müssen wir zwei Momente im Vollzug der

76 Vgl. U. Stäheli (Fn. 33), S. 303; vgl. zu Niklas Luhmanns Einordnung der Moral: Luhmann, Niklas: „Politik, Demokratie, Moral“, in: ders., Die Moral der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 175 ff. 77 U. Stäheli (Fn. 33), S. 302.

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Entparadoxierung auseinanderhalten: Erstens das Moment der Konstruktion der Paradoxie. „Wesentlich ist, dass die Paradoxie selbst nicht automatisch auftaucht. Ihre Konstruktion ist der erste Schritt einer Politik der Entparadoxierung [...].“78 Der zweite Schritt ist der der Entscheidung. „Denn „[i]m Gegensatz zur bloßen Zelebrierung der Unmöglichkeit jeder Invention muss die Politik der Entparadoxierung, wie jede andere Form der Politik, eine Entscheidung treffen.“79 Der erste Schritt besteht demnach in der Visibilisierung der Unentscheidbarkeit. Sie bricht vorstrukturierte, technisierte, hegemonial überformte Entscheidungen unter Verweis auf ihre prinzipielle Unentscheidbarkeit auf. Dadurch wird ein Artikulationsraum eröffnet, der aufweist, dass überhaupt eine Entscheidung getroffen wird, und damit notwendig auch zeigt, dass die Entscheidung auch anders möglich ist. Auf dieser Ebene spielt die Antagonisierung zunächst keine Rolle. Sie tritt erst im zweiten Schritt der Entparadoxierung hinzu, d.h. bei der Frage, in welchem Modus die Unentscheidbarkeit entschieden wird. Hieran wird nun die Engführung des Politischen und der Antagonisierung deutlich. Zwar wird der theoretische Ort des Politischen grundsätzlich in Orten der Unentscheidbarkeit gesehen. Zugleich wird diese Bestimmung des Politischen aber wieder eingeschränkt, indem nur solche Vollzugsformen der Entscheidung der Unentscheidbarkeit im Modus der Antagonisierung als politisch verstanden werden. Diese Engführung kann mit einer Lektüre des gesellschaftlichen Konstitutionalismus aufgebrochen werden: Der gesellschaftliche Konstitutionalismus richtet sich nicht nur „gegen die Zentralisierung der grundlegenden gesellschaftspolitischen Fragen auf das politische System der Weltgesellschaft“ und plädiert stattdessen für „eine Vervielfältigung der Orte, [...] [in welchen] über das ‚Politische‘ in der Gesellschaft gestritten und entschieden wird.“80 Er stellt vielmehr auch heraus, „dass die ‚interne‘ Politisierung gesellschaftlicher Teilsysteme jeweils unterschiedlich verläuft, entsprechend den Eigenheiten ihres Kommunikationsmediums.“81 Er wehrt sich deshalb auch dagegen, „gesellschaftsrelevante Auseinandersetzungen in anderen gesellschaftlichen Teilsystemen [als der Politik] als Technokratenherrschaft zu disqualifizieren.“82

78 Ebd., S. 292. 79 Ebd., S. 293. 80 G. Teubner (Fn. 30), S. 186. 81 Ebd., S. 185. 82 Ebd.

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Hier erschließt sich die volle Bedeutung des Begriffs der Eigenpolitik als „Umgang der Sozialsysteme in ihren je eigenen Gründungs- und Entscheidungsparadoxien.“83 Eigenpolitik ist nicht nur im Sinne einer internen Politisierung, sondern auch im Sinne einer ‚eigenen‘, d.h. systemspezifischen Form der Politisierung zu verstehen. Das Programm des gesellschaftlichen Konstitutionalismus schlägt also eine teilsystemspezifische Diversifizierung der Formen des Politischen vor. Die Vollzugsformen des Politischen unterscheiden sich danach in den jeweiligen Teilsystemen. Diese Diversifizierung der Vollzugsformen des Politischen scheint den Bedingungen der funktional ausdifferenzierten Weltgesellschaft aus zwei Gründen eher Rechnung zu tragen. Erstens kann ein derart diversifizierter Begriff zunächst jedes Moment der Unentscheidbarkeit in den Blick nehmen. Dies ist deshalb wichtig, weil auf diese Weise die Frage, wie entschieden wird, d.h. auf welche Art eine Paradoxie entfaltet wird, für die gesellschaftliche Diskussion geöffnet wird. Mit anderen Worten: Die Frage, ob eine Entparadoxierung in Form der Technisierung (etwa durch Experten), der Partizipation etc. vollzogen wird, ist selbst schon hochpolitisch. Zweitens trägt die Diversifizierung der Tatsache Rechnung, dass in den jeweiligen Funktionssystemen unterschiedliche Modi der Entparadoxierung in Frage kommen können. Teubner verweist hier auf die Eigenheiten der jeweiligen Kommunikationsmedien. Die Formen der Entparadoxierung sind also jeweils mit Blick auf die jeweiligen teilsystemspezifischen Besonderheiten zu bestimmen. Wir können demnach festhalten: Das Programm des gesellschaftlichen Konstitutionalismus weist darauf hin, dass es nicht nur eine Vollzugsform des Politischen gibt, vielmehr ist die Frage des Modus des Vollzugs der Entparadoxierung selbst schon als Teil des Politischen zu begreifen. Ferner divergieren die Modi des Vollzugs des Politischen in den unterschiedlichen Teilsystemen der Gesellschaft. Das Programm heißt dann: diversifizierte und teilsystemspezifische Politiken der Entparadoxierung.

5. D IE V OLLZUGSFORMEN DES P OLITISCHEN ALS R EALISIERUNGSMÖGLICHKEIT DES EMANZIPATORISCHEN I DEALS ? D AS B EISPIEL ISDA Eine dekonstruktiv orientierte Systemtheorie nimmt die Theorietradition der Unterscheidung von Politik/Politischem auf. Dies ermöglicht ihr, Momente des

83 Ebd., S. 176.

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Politischen jenseits der Politik in den Blick zu nehmen (1. Schritt). Stähelis Konzept der Politik der Entparadoxierung weist darauf hin, dass die Politisierung nicht nur auf Ebene der Programme zu verorten ist, sondern auch den Code selbst erfasst. Dies eröffnet die Möglichkeit einer weitergehenden Politisierung, die im System das System in Frage stellen kann (2. Schritt). Mittels einer Lektüre des gesellschaftlichen Konstitutionalismus Teubners konnten wir eine Diversifizierung der Vollzugsformen des Politischen aufweisen, d.h. das Politische ist nicht als einheitliche Vollzugsform aufzufassen, sondern als Vielzahl teilsystemspezifischer Vollzugsformen (3. Schritt). Wenn wir nun aber den Begriff des Politischen dergestalt bestimmen, ist abschließend zu erörtern, ob eine solche dekonstruktiv informierte systemtheoretische Bestimmung für das Programm einer kritischen Systemtheorie weiterführend ist. Die Aufgabe derselben wird unter Verweis auf das emanzipatorische Ideal in der „Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse“84 gesehen. Auf den ersten Blick scheint diese Bestimmung im Widerspruch zu dem hier profilierten Begriff des Politischen zu stehen. Denn ein über die Antagonisierung hinausgehendes normatives Projekt kann hieraus nicht abgeleitet werden. „Die Politik der Entparadoxierung verpflichtet sich [...] keinem politisch-ethischen Programm, welches a priori das Moment der Unentscheidbarkeit offenzuhalten versucht.“85 Versuche, die Dekonstruktion mit Hilfe unterschiedlicher Theorieelemente normativ aufzuladen, sind demnach auch wenig überzeugend. Dies gilt sowohl für das Projekt einer anarchic meta-politics86 als auch eines radical atheism.87 Es greift aber auch zu kurz, wollte man hiermit die Debatte beenden. Denn das emanzipatorische Ideal der kritischen Systemtheorie war nie ein normatives Projekt im Sinne eines Parteiprogramms. Das Programm der Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse besteht vielmehr im Aufweis von Strukturbedingungen für die Politisierung gesellschaftlicher Teilbereiche der Weltgesellschaft nach je eigenen Bedingungen. Gerade dafür bietet der hier profilierte Begriff des Politischen aber einige wichtige Anhaltspunkte, die nachfolgend exemplarisch in Bezug auf das eingangs erwähnte Beispiel der ISDA aufgezeigt werden sol-

84 Vgl. A. Fischer-Lescano (Fn. 31), S. 36. 85 U. Stäheli (Fn. 33), S. 293. 86 Critchley, Simon: Infinitely Demanding: Ethics of Commitment, Politics of Resistance, London/New York 2007, S. 88 ff. (hier S. 132). 87 Hägglund, Martin: Radical Atheism. Derrida and the Time of Life, Stanford 2008, S. 164 ff.

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len. Die Politisierung der ISDA wird dabei analog zu den Ergebnissen der Untersuchung zum Begriff des Politischen in drei Schritten vorgestellt. 1.

Erster Schritt: Politisierung jenseits der Politik

In der Literatur, die sich mit der Arbeit der ISDA auseinandersetzt, wird zwar teilweise zur Kenntnis genommen, dass ihre Tätigkeit politische Implikationen hat.88 Dies führt aber meist nicht zu einer Analyse der Politisierungschancen der ISDA. Stattdessen wird sie oft als private Organisation behandelt, die zwar Einfluss auf die regulatorische Ausgestaltung der Derivatemärkte nimmt, aber letztlich auf die staatliche Durch- und Umsetzung ihrer Regelungen angewiesen bleibe.89 Selbst die Untersuchungen, die die ISDA als eigenständigen privaten rule maker charakterisieren und folgerichtig auch zu Fragen der Legitimation dieser Ordnungsbildung (insbesondere mit Blick auf Drittbetroffene und Externalitäten) kommen, suchen dann meist in einer staatlichen (aufsichtsrechtlichen) Einhegung der privaten Marktordnungen nach Lösungen.90 Der hier profilierte Begriff des Politischen nimmt hingegen zur Kenntnis, dass eine Politisierung nicht primär auf die Rückeroberung staatlich aufsichtsrechtlicher Zugriffsbefugnisse setzen kann. Dies soll nicht heißen, dass eine stärkere staatliche oder zwischenstaatliche Regulierung in jedem Fall abgelehnt wird.91 Diese Forderungen greifen aber zu kurz. Denn erstens haben staatliche oder zwischenstaatliche Foren den Alleinzugriff auf die Entscheidung politischer Sachverhalte längst verloren und es ist nicht zu erwarten, dass diese Entwicklung zurückgenommen werden kann.92 Zweitens ist zu beachten,

88 So z.B. mit Blick auf die netting-Regelungen im ISDA Master Agreement: Morgan, Glenn: „Market formation and governance in international financial markets: The case of OTC derivatives“, in: Human Relations 61 (2008), S. 637 ff. (hier S. 649). 89 In diese Richtung jüngst Pistor, Katharina: Towards a Legal Theory of Finance, Discussion Paper No. 9235, 2012, Center for Economic Policy Research, London, S. 23. 90 Vgl. z.B. K. N. Johnson (Fn. 9), S. 167 ff., die letztlich auch eine stärkere Regulierung durch eine staatlich kontrollierte Institution vorschlägt. 91 So enthalten z.B. die unter EMIR (European Market Infrastructure Regulation) bekannt gewordenen europäischen Reformbemühungen zur Regulierung des OTC Derivatemarktes einige gute Ansätze. Vgl. den Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über OTC-Derivate, zentrale Gegenparteien und Transaktionsregister, Brüssel, 15.9.2010, KOM(2010) 484, endgültig 2010/0250 (COD). 92 Denn diese Entwicklung ist letztlich Folge der funktionalen Ausdifferenzierung der Weltgesellschaft selbst. Vgl. zu dieser These die Einleitung zu diesem Aufsatz.

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dass gerade auf transnationaler Ebene ein Mehr an staatlichem Zugriff oft nicht einher geht mit der Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse. Oft ist vielmehr das Gegenteil der Fall. Dies kann z.B. mit Blick auf die Diskussion um die einstweilen gescheiterte Neuregulierung des Internets unter Führung der ITU, einer Unterorganisation der UN, aufgezeigt werden. Hier sollte ein ursprünglich weitgehend von der ICANN regulierter Bereich stärker staatlichen Zugriffen geöffnet werden. Internetaktivisten und auch das Europäische Parlament nahmen dies zum Anlass, vor einer Beschränkung des freien Informationsflusses durch staatliche Einflussnahme zu warnen.93 Mit Blick auf die ISDA wird hier deshalb in einem ersten Schritt vorgeschlagen, neben einer staatlich vermittelten Interventionen vor allem die ISDA selbst in den Blick zu nehmen, d.h. eine interne Politisierung derselben zu erreichen. Diese Überlegung setzt dann zunächst dabei an, die Arbeit der ISDA als politische Entscheidungstätigkeit außerhalb der Politik zu visibilisieren. Dies eröffnet überhaupt erst den Horizont für gesellschaftliche Irritationen. Denn sobald die Entscheidung auch als anders möglich ausgewiesen wird, kann die Frage erhoben werden, inwiefern konfligierende Anforderungen der gesellschaftlichen Umwelten zu berücksichtigen sind. Darf etwa die ISDA auch dann den Eintritt eines Kreditereignisses erklären, wenn zu befürchten steht, dass dies massive Auswirkungen auf die Refinanzierungsmöglichkeiten Griechenlands hat? Ist es im Rahmen der Entscheidung des Determination Committees zu berücksichtigen, dass durch einen drohenden Staatsbankrott die Gesundheitsversorgung der griechischen Bevölkerung gefährdet werden könnte? Diese Fragen geraten in den Blick, sobald die Entscheidungstätigkeit der ISDA als politisch ausgewiesen wird. Die interne Politisierung der ISDA besitzt dabei eine institutionelle und eine rechtliche Dimension. Sobald die Auswirkungen auf gesellschaftliche Umwelten thematisiert werden, stellt sich institutionell die Frage der Repräsentation dieser Interessen in der ISDA. Ist es etwa angemessen, dass nur Markt-

93 European Parliament resolution on the forthcoming World Conference on International Telecommunications (WCIT-12) of the International Telecommunication Union, and the possible expansion of the scope of international telecommunication regulations (2012/2881[RSP]). Freilich mag bei der Auseinandersetzung um die Internetregulierung auf europäischer und vor allem US-amerikanischer Seite durchaus auch die Angst um den Verlust des eigenen Einflusses eine Rolle spielen.

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teilnehmer stimmberechtigte Mitglieder94 der ISDA sein können? Hier wäre die Forderung nach institutionell angemessener Partizipation betroffener gesellschaftlicher Umwelten durch Teilnahme an Abstimmungen einzuordnen. Im Recht kann diese Politisierung der ISDA durch eine bereichsregimespezifische Reformulierung der Menschenrechte abgesichert werden. Voraussetzung und erste Forderung ist hier die Bindung der ISDA an die Menschenrechte. Freilich bedarf es hier einiger dogmatischer Anpassungen.95 Im Kern muss die bereichsspezifische Funktion der Menschenrechte darin gesehen werden, jeweils humane, ökologische und kommunikative Entfaltungsräume zu eröffnen96 und diese gegen das Übergreifen der Expansionstendenzen des jeweiligen Subsystems zu verteidigen,97 um dadurch jeweils „die demokratische Aneignung der gesellschaftlichen Gewalten und ihre menschen-gerechte Gestaltung“98 zu ermöglichen. 2.

Zweiter Schritt: Systemfrage im System

Der zweite Schritt der Politisierung setzt noch tiefer an. D.h. in Bezug auf die ISDA geht es dann nicht mehr nur um die Frage, welchen Responsivitätsanforderungen das Determination Committee unterliegt, sondern darum, ob die Struktur der ISDA überhaupt eine gesellschaftsadäquate Instanz für die Feststellung von derlei Kreditereignissen ist. Hier wird also die Kontingenz der Institution selbst ausgewiesen, die in der Institution die Infragestellung der Institution ermöglicht. Dies öffnet den Raum nicht nur für Forderungen nach einer Reform der ISDA, sondern auch für Fragen nach der Abschaffung, Entmachtung oder Ersetzung derselben. Die ISDA erscheint damit als das, was sie ist: eine kontingente weltgesellschaftliche Institutionalisierung einer bestimmten Bereichsrationalität, die auch anders ausgebildet werden könnte. Hier kann dann thematisiert werden, dass die Rationalität der Standardsetzung durch die ISDA allein auf einen effizienten und sicheren Handel mit Finanzprodukten für die Marktteilnehmer ausgerichtet ist. Diese Rationalität ist abänderbar. Sie

94 Nach den ISDA-By-Laws (By-Laws of International Swaps and Derivatives Association, Inc. (As Amended through November 2012) sind gemäß Art. V Sec.10 nur die sog. Primary Members (vgl. Art. III Sec. 1 a) stimmberechtigt. 95 Hierzu grundlegend Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 44 (2006), S. 161 ff. 96 Fischer-Lescano, Andreas: Rechtskraft, Berlin 2013 (i.E.). 97 G. Teubner (Fn. 95), S. 161 ff. 98 A. Fischer-Lescano (Fn. 96), S. 39 des Manuskripts.

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kann auch auf die adäquate Berücksichtigung anderer gesellschaftlicher Belange umgestellt werden. In Bezug auf die WTO gibt es diese Diskussion – die bisher freilich weitgehend folgenlos geblieben ist – schon lange. Ob die einseitige Ausrichtung derselben an der Freihandelsdoktrin und David Ricardos Principle of Comparative Advantage noch tragfähig ist, wird offen bezweifelt und die hegemonialen Implikationen dieser Ordnung wurden hinlänglich beschrieben.99 Richtig verstanden geht es hier nicht lediglich darum, in einer liberalen Freihandelsordnung bestimmte Beschränkungen zum Schutz bestimmter Güter zu erkämpfen, d.h. Ausnahmetatbestände in der herrschenden Ordnung zu schaffen. Die Kernforderung geht tiefer. Es geht um eine Freihandelsordnung, die sich von vornherein einer anderen Rationalität verschreibt, einer Rationalität, in welcher Belange des Umweltschutzes, der Grundversorgung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten nicht mehr als Einschränkung, sondern als Verwirklichung des Freihandels selbst charakterisiert werden.100 Auch für die ISDA wäre diese Diskussion zu führen. 3.

Dritter Schritt: teilsystemspezifische Vollzugsform

Schließlich sind in einem dritten Schritt der Politisierung der ISDA teilsystemspezifische Vollzugsformen des Politischen auszuweisen. Wenn etwa die Forderung der Demokratisierung der Finanzmärkte101 erhoben wird, dann sollte dies in diesem Kontext verstanden werden. Es geht nicht um die Ersetzung eines marktmäßigen Preisbildungsmechanismus durch ein parlamentarisches System. Es geht auch nicht primär darum, dem Funktionssystem Politik (so es denn demokratisch organisiert ist) zur Herrschaft über das Funktionssystem Wirtschaft zu verhelfen.102 Die Aufgabe heißt: Teilsystemspezifische Demo-

99

Vgl. zu einem Überblick über die Diskussion: Münch, Richard: Das Regime des Freihandels. Entwicklung und Ungleichheit in der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M. 2011, S. 11 ff.

100 In Anlehnung an eine Formulierung Adornos zum Tauschprinzip könnte man sagen: Es geht um die Verwirklichung des Ideals des freien und gerechten Welthandels. Vgl. hierzu: A. Fischer-Lescano (Fn. 31), S. 30. 101 Becker, Florian: „Die Demokratisierung des Finanzsystems“, in: Eberhard Kempf/ Klaus Lüderssen/Klaus Volk (Hg.), Ökonomie versus Recht im Finanzmarkt?, Berlin 2011, S. 195 ff. 102 Dies ist nicht als Plädoyer für eine Selbstregulierung der Märkte und gegen ein staatliches Aufsichtsrecht zu verstehen. Gemeint ist hier vielmehr die grundlegende systemtheoretische Annahme, dass unter den Bedingungen der funktionalen Ausdiffe-

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kratisierung, d.h. Demokratisierung unter den spezifischen Bedingungen der teilsystemspezifischen Kommunikationsmedien.103 Diese Andeutungen zu einer Politisierung der ISDA müssen hier rudimentär bleiben. Aber sie zeigen, worum es einer Neubestimmung des Politischen in der fragmentierten Weltgesellschaft geht: Wenn überhaupt, dann lässt sich das emanzipatorische Ideal der Instaurierung weltgesellschaftlicher Selbstbestimmungsverhältnisse nicht zentral und auch nicht in einer einzigen Form verwirklichen: Es geht darum den Kampf um Partizipation und Selbstbestimmung in die weltgesellschaftlichen Teilbereiche zu tragen und dort nach je eigenen Formen der Politisierung zu suchen.

renzierung der Weltgesellschaft eine Steuerung eines Funktionssystems durch ein anderes nicht möglich ist. 103 G. Teubner (Fn. 30), S. 185.

Die Wirtschaft der Weltgesellschaft: Möglichkeitsräume für eine systemtheoretische Kritik M ORITZ R ENNER

Niklas Luhmanns „Wirtschaft der Gesellschaft“ aus dem Jahr 1988 ist kein Klassiker der Kapitalismuskritik. Luhmann selbst hätte sich gegen eine solche Einordnung wohl auch mit Händen und Füßen gewehrt. Dennoch war gerade die Luhmannsche Analyse des Wirtschaftssystems für die Entwicklung der Kritischen Theorie in der späten Frankfurter Schule durchaus folgenreich. Nach verbreiteter Einschätzung hat nicht zuletzt die systemtheoretische Ernüchterung Habermas dazu veranlasst, „die kapitalistische Ökonomie als unausweichlichen und unaufhebbaren Bestandteil moderner Gesellschaften zu begreifen“.1 In fast schon resignativem Tonfall stellt Habermas im Jahr 2011 fest: „As economic globalization progresses, the picture that systems theory sketched of social modernization is acquiring ever sharper contours in reality.“2 Damit ist aber keineswegs gesagt, dass eine Kritik des Wirtschaftssystems unter den Bedingungen seiner systemtheoretischen Reflexion unmöglich geworden ist. Vielmehr gilt das Gegenteil: Eine Kritik des Wirtschaftssystems ist heute nur noch als systemtheoretische Kritik möglich. Diese These gilt es im Folgenden in drei Schritten zu entfalten. Zunächst soll Luhmanns – wenig rezipierte – Beschreibung des Wirtschaftssystems der Weltgesellschaft vor dem Hintergrund

1

So etwa Hartmann, Martin/Heins, Volker: „Kritische Theorie“, in: Martin Hartmann/Claus

2

Habermas, Jürgen: „The Political – The Rational Meaning of a Questionable Inheri-

Offe (Hg.), Politische Theorie und Politische Philosophie, München 2011, S. 38. tance of Political Theology“, in: Judith Butler et al. (Hg.), The Power of Religion in the Public Sphere, New York 2011, S. 15.

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der gesellschaftstheoretischen Grundannahmen der Systemtheorie sorgfältig rekonstruiert werden (unten 1). In einem zweiten Schritt wird gezeigt, dass eine Kritik des Wirtschaftssystems, die von diesen Annahmen ausgeht, immer nur immanente Kritik sein kann, indem sie die unausgesprochenen Voraussetzungen ökonomischer Interaktion explizit macht und auf die Möglichkeit ihrer Verwirklichung befragt (unten 2). Hiervon ausgehend ist es aber auch, in einem dritten Schritt, möglich, die konkreten historisch-sozialen Bedingungen zu benennen, unter denen die Vermittlung von Wirtschaft und Gesellschaft gelingen kann (unten 3). Die systemtheoretische Kritik der globalen Ökonomie bleibt damit nicht aporetisch; sie ist auch nicht bloße „Apologie des Bestehenden um seiner Bestandserhaltung willen“.3 Allerdings liegt das kritische Potenzial einer systemtheoretischen Beschreibung des Wirtschaftssystems nicht in deren Offenheit für Theorieanschlüsse vermeintlich kritischer Provenienz, sondern gerade in der Radikalität des konsequenten Beharrens auf der Selbstreferentialität ökonomischer Kommunikation. Dieses Beharren erst legt nämlich die (Un-)Möglichkeitsbedingungen eines funktional ausdifferenzierten globalen Wirtschaftssystems offen. So erweist sich paradoxerweise die systemtheoretische Affirmation der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft zugleich als ihre bestimmteste Negation.

1. A USDIFFERENZIERUNG

DES

W IRTSCHAFTSSYSTEMS

In seiner Fortführung der Theorie funktionaler Ausdifferenzierung4 unter radikal-konstruktivistischen Vorzeichen5 beschreibt Luhmann die Wirtschaft als autopoietisches System, das alle Kommunikationen umfasst, die sich an dem binären Code Zahlen/Nicht-Zahlen orientieren. Es ist zugleich Ursache und Ergebnis dieser Kommunikationen, die in einem endlosen Netzwerk aufeinander verweisen, weshalb es „keinen Sinn hat, nach Anfängen oder nach externen Ursachen zu fragen“.6 Das Wirtschaftssystem besteht also aus Ereignissen, nicht aus festen

3

So Habermas, Jürgen: „Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luhmann“, in: ders./Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1972, S. 142.

4

Durkheim, Emile: De la division du travail social, Paris 1893; Weber, Max: Wirt-

5

Vgl. etwa von Foerster, Heinz: Sicht und Einsicht. Versuche zu einer operativen Er-

6

Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988, S. 105.

schaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, Tübingen 1972. kenntnistheorie, Heidelberg 1999.

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Strukturen – aus Ereignissen allerdings, die paradoxaler Natur sind. Denn die Wirtschaft beruht für Luhmann auf der „Knappheitsparadoxie“: „Darunter soll verstanden werden, dass jeder Zugriff auf knappe Güter, der der Minderung von Knappheit dient, die Knappheit vermehrt“;7 „der Zugriff erzeugt mithin Knappheit, während zugleich Knappheit als Motiv für den Zugriff fungiert“.8 Und wie alle sozialen Sinnsysteme dient auch die Wirtschaft bei Luhmann nur dem einen Zweck, die ihr zugrunde liegende Paradoxie zu entparadoxieren. Die Paradoxie hat also keine lähmende Wirkung, für Luhmann ist sie als „kreatives Prinzip“9 gerade der Ursprung gesellschaftlicher Sinnbildung. Geschaffen und zugleich aufgelöst wird diese Knappheitsparadoxie im Wirtschaftssystem durch den Akt der Zahlung als dem basalen „unit act“ des Wirtschaftssystems10, denn jeder Zahlungsakt verdeckt seine eigene Grundlosigkeit, indem er sogleich zum Anschlusspunkt weiterer Zahlungen gemacht wird. Dabei werden „die Weiterleitung von Zahlungsfähigkeit und die Weiterleitung von Zahlungsunfähigkeit getrennt und unterschiedlich konditioniert“.11 Für die Zahlungsfähigkeit ist dies vergleichsweise einfach vorstellbar: Sie wird weitergeleitet durch jeden nachfolgenden Zahlungsakt. Die Zahlungsunfähigkeit dagegen kann auf unterschiedliche Weise weitergegeben werden, deren wichtigste wohl die Kreditaufnahme ist, welche eine Temporalisierung des Problems unter dem Gesichtspunkt der Rentabilitätsrechnung erlaubt.12 Anschlussfähig werden Kommunikationen – sei es der Zahlungsfähigkeit oder der Zahlungsunfähigkeit – im Wirtschaftssystem in erster Linie dadurch, dass mit dem Medium Geld ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ zur Verfügung steht, das mögliche Reaktionen auf Kommunikationsangebote von vornherein in der Binarität von Zahlen/Nicht-Zahlen strukturiert.13 a.

Wirtschaft als selbstreferentielles System

Historisch entscheidend für die Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems und den Verlust seiner sozialen Einbettung ist für Luhmann der Übergang zur Geld-

7

Ebd., S. 98.

8

Ebd., S. 179.

9

Luhmann, Niklas, Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 170.

10 N. Luhmann (Fn. 6), S. 52. 11 Ebd., S. 148. 12 Ebd., S. 139 und 144 ff. 13 Ebd., S. 69.

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wirtschaft.14 Deutliche Parallelen zeigen sich sowohl zu Polanyis Analyse des frühmodernen Kapitalismus15 wie auch zu Foucaults These der graduellen Abkopplung ökonomischen Wissens vom Prinzip der Repräsentation.16 Zugleich reformuliert Luhmann hierbei den Hegelschen Entfremdungsbegriff kommunikationstheoretisch und wissenssoziologisch. Letztlich führt er damit aber nur einen Gedanken zum Ende, der schon bei Hegel selbst angelegt ist. Entfremdung ist nämlich schon bei Hegel eine Folge gesellschaftlicher Ausdifferenzierung, sie bezeichnet das Problem der Exklusionseffekte ausdifferenzierter Kommunikation: „Die Möglichkeit der Teilnahme an dem allgemeinen Vermögen, das besondere Vermögen, ist aber bedingt, teils durch eine unmittelbare eigene Grundlage (Kapital), teils durch die Geschicklichkeit, welche ihrerseits wieder selbst durch jenes, dann aber durch die zu17

fälligen Umstände bedingt ist […].“

Während aber Hegel diesen Gedankengang auf das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft bezieht und Marx ihn später deutlicher auf die Produktionsfaktoren Kapital und Arbeit verweisen lässt, nimmt Luhmann konsequent den radikal-konstruktivistischen Standpunkt eines Beobachters von Beobachtungen ein. Er versucht, der Verselbständigung des ökonomischen Wissens auch analytisch Rechnung zu tragen, indem er die theoretische Orientierung an Produktionsfaktoren durch eine Beschreibung der „Codierung von Kommunikation“18 ersetzt. Wirtschaft bleibt dabei als kommunikatives System zwar „Mitvollzug der gesellschaftlichen Reproduktion“19, orientiert sich aber allein am autopoietischen Code von Zahlungen, die, indem sie preisbildend wirken, weitere Zahlungen ermöglichen,20 also im Wesentlichen an einem Prinzip fortwährender Zirkulation. Alle anderen Bezugsgrößen erscheinen demgegenüber als rein ‚derivativ‘, was sich etwa im Auseinanderfallen von Preis und Wert äußert.21 Auch die (ab dem aus-

14 Ebd., S. 316. 15 Polanyi, Karl: The Great Transformation: The Political and Economic Origins of Our Time, Boston 1944. 16 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a. M. 1989, S. 269 ff. 17 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm: Grundlinien der Philosophie des Rechts, in: Eva Moldenhauer/Karl Markus Michel (Hg.), Werke Bd. 7, Frankfurt a. M. 1979, S. 353 (§ 200). 18 N. Luhmann (Fn. 6), S. 46. 19 Ebd., S. 51. 20 Ebd., S. 52. 21 Ebd., S. 55.

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gehenden 18. Jahrhundert universelle) Semantik des Bedürfnisses ist eine wirtschaftssysteminterne Konstruktion, die aus historischer Perspektive zunehmend von gesellschaftlichen Bedürfnissen unabhängig wird.22 Die Selbstreproduktion der Wirtschaft kulminiert schließlich in der von Polanyi beschriebenen Einbeziehung der „fictitious commodities“23 in den monetären Kreislauf: „Der letzte Schritt zur Abhängigkeit der Umweltabhängigkeit des Systems vom System ist mit dem Übergang zur Industriegesellschaft getan und seitdem so gut wie irreversibel. Er bedeutet unter anderem, dass auch Boden (wie alle anderen Ressourcen) und Arbeit nur noch für Geld zu haben sind. Erst jetzt ist die Wirtschaft ein monetär integriertes System und als solches in allem, was seine Reproduktion betrifft, ausdifferenziert. Die Gesellschaft gibt jede Verantwortung für ihre eigene Wirtschaft auf, und es gibt ja auch keine Instanzen mehr, an die man sich wenden könnte, um eine solche Verantwortung anzu24

mahnen.“

Wirtschaftliches Handeln verfolgt keinen über sich selbst hinausreichenden Zweck, sondern allein den Zweck der Selbstreproduktion: „Die Autopoiesis der Wirtschaft transzendiert alle wirtschaftlichen Zwecke und macht sie gerade dadurch sinnvoll.“25 Systeminternes Orientierungskriterium ist der Profit, was der Autopoiesis des Wirtschaftssystems ein Absehen von allen außerwirtschaftlichen Motivationslagen ermöglicht.26 Vor allem erlaubt die Profitorientierung auch ein Absehen von dem im Tauschparadigma dominanten Motiv der Reziprozität.27 Das „Bezugsproblem“ der Wirtschaft, nämlich „das soziale Problem des gegenwärtigen Leidens an der Knappheit, die andere verursachen“,28 wird dadurch reduziert auf die künstliche Knappheit des Mediums Geld29 und durch den Verweis auf zukünftige Gewinnmöglichkeiten temporalisiert.

22 Ebd., S. 60 ff. 23 K. Polanyi (Fn. 15), S. 71 ff. 24 N. Luhmann (Fn. 6), S. 62 f. 25 Ebd., S. 59. 26 Ebd., S. 56. 27 Ebd., S. 57 f. 28 Ebd., S. 65. 29 Ebd., S. 197.

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b.

Der Markt als innere Umwelt des Wirtschaftssystems

Vor diesem Hintergrund ist das, was gemeinhin als „Markt“ bezeichnet wird, nichts anderes als ein Beobachtungswerkzeug zur Reduktion von Komplexität.30 Für die Teilnehmer des Wirtschaftssystems fungiert der Markt als ein „Spiegel“, ein Spiegel freilich, in dem man „mehr sieht als nur sich selbst“.31 Produzenten, die den Markt beobachten, beobachten also nicht etwa den Konsum – sondern sich selbst, sich selbst in Relation zu anderen Produzenten. Es treten demnach über den Markt nicht etwa Käufer und Verkäufer miteinander in Kontakt, sondern der Markt ist allein eine Funktion der Selbst- und Fremdbeobachtung von Teilsystemen des Wirtschaftssystems – was zugleich eine angebotsorientierte Betrachtung des Wirtschaftsprozesses impliziert.32 Der Markt hat also, ähnlich wie bei Hayek33, eine entscheidungsleitende Funktion, indem er die „interaktionsfreie Beschaffung von Informationen“34 ermöglicht. Die Idee von Konkurrenz und Wettbewerb lässt sich dann reformulieren als „Möglichkeit, das Einwirken anderer auf das Erreichen eigener Ziele angesichts knapper Ressourcen einzuschätzen“.35 Sie ermöglicht „eine fast gleichzeitige Reaktion auf das, was viele als Reaktion anderer unterstellen“, wodurch wiederum eine „hohe, praktisch unkontrollierbare Eigendynamik freigesetzt“ wird; reagiert wird nicht auf „Strukturvorgaben, sondern auf Veränderungen, und jede Intervention […] ist vor allem als Ereignis wirksam“.36 Diese steuerungspessimistische Sichtweise sieht rechtliche Interventionen als ebenso wirkungslos an wie die Suche nach einer ökonomischen „Rahmenordnung“.37 Auch die verbreitete Forderung nach einer „Moralisierung der Märkte“38 ist danach sinnlos, sie ist für Luhmann Zeichen völliger Hilflosigkeit gegenüber der

30 Ebd., S. 93. 31 Ebd., S. 108, Fn. 33. 32 Ebd., S. 110: „Nachfrage, wie immer, fiktiv“. 33 von Hayek, Friedrich August: „Der Wettbewerb als Entdeckungsverfahren“, in: ders., Freiburger Studien, Tübingen 1969, S. 249 ff. 34 N. Luhmann (Fn. 6), S. 109. 35 Ebd., S. 102. 36 Ebd., S. 103. 37 Ebd., S. 104, Fn. 26; vgl. dazu auch Teubner, Gunther: „Das regulatorische Trilemma: Zur Diskussion um post-instrumentale Rechtsmodelle“, in: Gert Brüggemeier/Christian Joerges (Hg.), Materialien des Zentrums für Europäische Rechtspolitik 4, Bremen 1984, S. 94. 38 Vgl. Stehr, Nico: Die Moralisierung der Märkte, Frankfurt a. M. 2007.

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Komplexität ökonomischer Zusammenhänge, ja sie konserviert sogar letztlich den status quo: „Die Position so komplexer, theoretisch ungeklärter Wertverhältnisse wird heute faktisch durch eine Trivialmoral und durch Forderungen und Appelle an die Adresse der ‚Wirtschaft‘ ausgefüllt. Diese kommt durch ‚social auditing‘, Pflege der ‚coporate identity‘, Festansprachen und auf höchster Ebene vereinbarte Kompromisse entgegen. […] Es ist jedoch nicht zu sehen, wie von diesen Positionen aus eine Theorie des gesellschaftlichen Kontextes der Wirtschaft geschrieben werden könnte. Und das hat unter anderem zur Folge, dass die klassischen oder neoklassischen Reflexionstheorien des Wirtschaftssystems 39

angefochten, aber ungerührt fortgeschrieben werden können.“

Danach ist es gerade das Wesen einer funktional ausdifferenzierten Wirtschaft, dass sie es erlaubt, von der „äußeren Umwelt“ abzusehen und mit den Mechanismen des Marktes zu beobachten, d.h. in erster Linie anhand von Preisen: „Das Wirtschaftssystem macht […] sich selbst zur Umwelt, um auf diese Weise Reduktionen zu erreichen, mit denen es sich selbst und anderes in einer Umwelt beobachten kann“.40 Die ‚klassischen Gegenbegriffe‘ zum Markt, „sei es Plan, sei es Staat“, verlieren aus dieser post-ideologischen Perspektive allerdings an Bedeutung: Dass selbstreferentielle Systeme „nicht geplant werden können“, versteht sich für Luhmann „von selbst“.41 Die Bezugnahme auf den Staat etwa gebe nur „einen Aspekt des allgemeinen Schemas funktionaler Gesellschaftsdifferenzierung wieder“, ebenso gut könne man „von einem Gegensatz von Marktwirtschaft und Wissenschaft oder von Marktwirtschaft und Familie oder von Marktwirtschaft und schulförmiger Erziehung“ ausgehen.42 Wesentlich sei vielmehr, dass eine Marktwirtschaft im Unterschied zur Subsistenzwirtschaft monetär vermittelt sei und damit einerseits die Entwicklung einer Eigenlogik des Marktes und andererseits deren Beobachtung über den Preismechanismus ermögliche. Die wichtigste Eigenschaft des Preismechanismus ist für Luhmann, „dass er identifiziert werden kann und gleichwohl für verschiedene Teilnehmer am Wirtschaftssystem Verschiedenes bedeutet“, ebenso wie diese ja auch den Markt als gemeinsame innere Umwelt des Wirtschaftssystems je unterschiedlich beobach-

39 N. Luhmann (Fn. 6), S. 90. 40 Ebd., S. 95. 41 Ebd., S. 96. 42 Ebd., S. 97.

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ten.43 Das Kalkulieren unter Preisgesichtspunkten führt nun dazu, dass Ereignisse am Markt allein nach ihrer wirtschaftlichen, nicht nach ihrer sozialen Relevanz bewertet werden.44 Folge ist: „Der Markterfolg entscheidet über das, was das System als Umwelt sehen und behandeln kann“; Preise sind dabei „Strategien, Bedürfnisse zu entdecken und Geld zu entdecken“.45 Der Konsument wird auf dem Markt mit Preisen konfrontiert, die sich seiner Einflussnahme entziehen – er kann immer nur entweder zahlen oder nicht zahlen. Dies veranlasst Luhmann schließlich zu der Feststellung, die Unterschiede zwischen geregeltem und liberalem Markt seien, „was Freiheit betrifft, trivial“.46 Damit ist nicht nur jeder Gedanke an Konsumentensouveränität erledigt, sondern auch die Möglichkeit rationalen Markthandelns selbst wird fragwürdig. Eine zweiwertige Logik des objektiv richtigen und falschen Markthandelns lässt sich jedenfalls nicht aufrechterhalten: „Wenn alle Anbieter annehmen, dass für ein Gut ein für sie profitabler Preis bezahlt werden wird, ist diese Annahme falsch, weil es dann zur Überproduktion kommt. Das System funktioniert. Wenn alle Anbieter annehmen, dass für ein Gut ein für sie profitabler Preis nicht bezahlt werden wird, ist diese Annahme wahr, weil es dann nicht zur Produktion 47

kommt.“

Man kann „die Rationalität des eigenen Verhaltens (also) nicht daraus gewinnen, dass man ein rationales Verhalten des anderen unterstellt“; hier gibt es „nur Unentscheidbarkeiten“. Entscheidend ist letztendlich nicht die Richtigkeit der Entscheidung, auch nicht „irgendwelche Effizienzkriterien“48, sondern „eine Differenz an Durchhaltevermögen“49. Mit anderen Worten: Es ist die Logik des „too big to fail“, die den Wirtschaftsprozess bestimmt, nicht das Gleichgewichtsideal eines effizienten Marktes rationaler Akteure.

43 Ebd., S. 110 f. 44 Ebd., S. 112. 45 Ebd., S. 113. 46 Ebd. 47 Ebd., S.119. 48 Ebd., S. 122. 49 Ebd., S. 120.

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2. S YSTEMTHEORIE

UND

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W IRTSCHAFTSDEMOKRATIE

Die systemtheoretische Beschreibung des Wirtschaftssystems führt somit zu einem ebenso treffenden wie ernüchternden Befund. Weder gibt es angesichts der selbstreferentiellen Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems Hoffnung auf eine unmittelbare Steuerung des Wirtschaftsprozesses von außen, noch können Marktprozesse angesichts der kognitiven Begrenzungen des Preismechanismus durch zweckgerichtetes Handeln der Markakteure selbst gezielt beeinflusst werden. Eine systemtheoretische Kritik des Wirtschaftssystems kann danach nur an den Voraussetzungen seiner kommunikativen Reproduktion selbst ansetzen. Dabei gilt es insbesondere, die verbleibenden Möglichkeiten einer Interaktion des Wirtschaftssystems mit anderen gesellschaftlichen Teilsystemen in den Blick zu nehmen. a.

Komplexitätsprobleme des Wirtschaftssystems

Voraussetzung für die Ausdifferenzierung der Wirtschaft ist nach der Systemtheorie in erster Linie ein „Komplexitätsgefälle“50 zwischen dem ökonomischen System und seiner Umwelt. Dies gilt allerdings in zweierlei Hinsicht. Auf der einen Seite wird die Komplexität der nicht-ökonomischen Umwelt reduziert, auf der anderen Seite entwickelt das ökonomische System aber selbst immer komplexere Eigenstrukturen. An die Stelle der „unstrukturierten“ Komplexität der Umwelt tritt die „strukturierte“ Komplexität des Systems.51 Das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt ist also kein Gefälle zwischen mehr und weniger Komplexität, sondern zwischen unterschiedlichen Formen von Komplexität.52 Luhmann zufolge entwickelt jedes soziale System eigene Mechanismen, um sowohl Umweltkomplexität („noise“) zu reduzieren wie auch Eigenkomplexität („order“) zu erzeugen. Die unterschiedlichen Mechanismen des Umgangs mit Komplexität sind zugleich unterschiedliche Mechanismen der Organisation von gesellschaftlichem Wissen, verstanden als die Generalisierung der Voraussetzungen von Kommunikation in einem bestimmten sozialen System.53 Diese Mechanismen allerdings sind äußerst prekär, und hier liegt der zentrale Ansatzpunkt für eine systemtheo-

50 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1987, S. 249. 51 N. Luhmann (Fn. 50), S. 383 f. 52 Ebd., S. 446. 53 Ebd., S. 447.

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retische Kritik des Wirtschaftssystems. Gerade die jüngsten Krisenerscheinungen des globalen Wirtschaftssystems lassen sich nämlich als Probleme der Organisation und Verarbeitung sozialen Wissens deuten.54 Zentral für die Analyse dieser Komplexitätsproblematik ist eine Unterscheidung, die Luhmann bereits in seinen frühen soziologischen Schriften prägt und später vor allem in seinem berühmten Aufsatz zur Weltgesellschaft entfaltet: die Unterscheidung zwischen kognitiven und normativen Erwartungen.55 Kognitive Erwartungen sind danach alle Erwartungen, die im Enttäuschungsfall angepasst werden und damit soziale Lernprozesse ermöglichen; normativ hingegen sind für Luhmann diejenigen Erwartungen, die auch im Enttäuschungsfall kontrafaktisch aufrechterhalten werden. Erstere werden daher als Synonym für „Wissen“, letztere als Synonym für „Recht“ verwendet. Diese grundlegende Unterscheidung zwischen zwei unterschiedlichen Formen gesellschaftlicher Erwartungen hängt wiederum eng mit der These funktionaler Ausdifferenzierung zusammen. Luhmann geht zwar davon aus, dass rudimentäre Formen von Wissen wie auch von Recht in jedem sozialen System produziert werden, meint aber, dass die gesellschaftliche Arbeitsteilung zur Entstehung spezialisierter Strukturen für die Bearbeitung kognitiver und normativer Erwartungen im Wissenschaftssystem einerseits und im Rechtssystem andererseits führt. Danach ist die epistemische Differenz von Recht und Wissenschaft, die sich um das Jahr 1800 in den kontinentaleuropäischen Rechtssystemen abzuzeichnen beginnt,56 womöglich ein notwendiger Vorläufer der „Great Transformation“57, die nahezu zeitgleich zu einer Entkopplung von ökonomischer und politischer Rationalität führt. Jedenfalls erlaubt es die Ausdifferenzierung des Rechts insbesondere dem ökonomischen System, auf normative und kognitive Strukturen zu verweisen, die für sein Funktionieren notwendig sind, die aber innerhalb des Wirtschaftssystems selbst nicht produziert werden können.

54 Dazu und zum Folgenden Renner, Moritz: „Death by Complexity – the Financial Crisis and the Crisis of Law in World Society“, in: Gunther Teubner/Poul F. Kjaer/Alberto Febbrajo (Hg.), The Financial Crisis in Constitutional Perspective: The Dark Side of Functional Differentiation, Oxford 2011, S. 93. 55 N. Luhmann (Fn. 50), S. 436 ff.; ders.: „Die Weltgesellschaft“, in: Archiv für Rechtsund Sozialphilosophie 57 (1971), S. 1. 56 Dazu vgl. eingehend Lahusen, Benjamin: Rechtspositivismus und juristische Methode, Weilerswist 2011. 57 K. Polanyi (Fn. 15).

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b.

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Wirtschaftsverfassung

Der Preis der funktionalen Ausdifferenzierung des Wirtschaftssystems ist damit paradoxerweise eine immer stärkere Abhängigkeit von anderen Funktionssystemen: Je stärker das Komplexitätsgefälle zwischen System und Umwelt, desto schwieriger wird die Selektion und Verarbeitung von Umweltinformationen. Dieses für jede systemtheoretische Kritik grundlegende Paradox begründet die Notwendigkeit von strukturellen Kopplungen zwischen den Funktionssystemen. Indem die systemspezifischen Kommunikationsformen immer komplexer werden, sind sie zugleich immer weniger in der Lage, auf Ereignisse in ihrer Umwelt zu reagieren. Strukturelle Kopplungen, die „Systeme zugleich trennen und verbinden“,58 ermöglichen es demgegenüber, dass „ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt“.59 Kognitive wie normative Erwartungen, die in anderen Funktionssystemen erzeugt werden, können somit systemspezifisch rekonstruiert werden. Offensichtlich ist dies für kognitive Erwartungsstrukturen der Risikokalkulation und -prognose, die vom Wirtschaftssystem immer stärker in die wissenschaftliche Ökonometrie verlagert werden. Für das Verständnis gegenwärtiger Krisenphänomene des ökonomischen Systems ist aber die Einsicht entscheidend, dass das Wirtschaftssystem nicht allein auf kognitiven Erwartungen beruht, sondern in hohem Maße auch von normativen Erwartungsstrukturen abhängig ist, die in einem engen Zusammenspiel mit dem Politik- und dem Rechtssystem erzeugt werden.60 Die Wirksamkeit von Eigentumsrechten, die Bindungswirkung von Verträgen und auch die grundlegenden Regeln des wirtschaftlichen Wettbewerbs liegen als kontrafaktische Vorbedingung jeder Markttransaktion voraus. Das Wirtschaftssystem kann diese Erwartungen selbst aber weder erzeugen noch aufrechterhalten; weder können sie im binären Code von Zahlen/Nicht-Zahlen artikuliert, noch im Geldmedium kommuniziert werden. Hier erweist sich jedoch, dass das Wirtschaftssystem über eine enge strukturelle Kopplung mit dem Rechtssystem verfügt. Gegenüber dem Wirtschaftssystem erfüllt das Rechtssystem die Funktion der Stabilisierung normativer Verhaltenserwartungen.61 Denn die selbstreferentielle Reproduktion des Rechtssystems

58 N. Luhmann (Fn. 9), S. 441. 59 Ebd., S. 441 f. 60 North, Douglass: „Institutions“, in: Journal of Economic Perspectives 5 (1991), S. 97; Granovetter, Marc: „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness“, in: American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481. 61 N. Luhmann (Fn. 9), S. 131.

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ist letztlich nichts anderes als ein raffinierter Mechanismus, der darüber entscheidet, welche sozialen Erwartungen kontrafaktisch aufrecht erhalten werden, d.h. als normativ anzusehen sind – und welche nicht. Wenn nötig fällt diese Entscheidung ein Gericht, weshalb das Rechtssystem von einer internen Differenz zwischen Zentrum (Gerichten) und Peripherie (Gesetzgebung, Rechtsdogmatik usf.) gekennzeichnet ist. Vor diesem Hintergrund kann das Wirtschaftssystem die Verarbeitung normativer Erwartungen gleichsam an das Rechtssystem delegieren und zugleich seine eigenen internen Strukturen auf die Verarbeitung kognitiver Erwartungen spezialisieren. Dieses Zusammenspiel wird noch komplexer durch die Interaktion beider Systeme mit dem Politiksystem. Indem das Rechtssystem normative Erwartungen in rekursiver Weise verarbeitet, werden notwendigerweise Legitimationsund Rechtfertigungsprobleme aufgeworfen. Die Begründungstautologie des selbstreferentiellen Rechtssystems „Recht ist Recht, weil es Recht ist“62 kann durch die Strukturen juristischer Argumentation nur sehr unzureichend verdeckt werden. Daher ist das Rechtssystem seinerseits eng an das Politiksystem gekoppelt: Durch Verfassung und Gesetzgebung kann die Legitimationsfrage in den politischen Prozess externalisiert werden, indem das Rechtssystem die Gültigkeit derjenigen kollektiv getroffenen Entscheidungen voraussetzt, die bestimmte prozedurale Vorgaben erfüllen.63 So zeigt sich, dass die spätmoderne Gesellschaft die Erzeugung normativer Erwartungen in einer historisch bislang einmaligen Konstellation dreier unterschiedlicher Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Politik) organisiert, die jeweils über unterschiedliche interne Organisationsmechanismen verfügen (Markt, Autorität, Demokratie). Die Funktionsweise dieser triadischen Konstellation lässt sich etwa am Beispiel des Wettbewerbsrechts illustrieren. Wenngleich eine externe Determination des Wirtschaftsgeschehens nicht möglich ist, müssen die wirtschaftlichen „Spielregeln“ doch notwendigerweise außerhalb des Wirtschaftssystems geschaffen werden, da die oben beschriebene Logik des marktlichen Austauschs als eines Wettbewerbs um „Durchhaltevermögen“ ansonsten den für ihr eigenes Funktionieren zentralen Preismechanismus durch die Bildung von Monopolen und das Ausnutzen wirtschaftlicher Machtstellungen außer Kraft setzen würde.64 Diese Funktionsvoraussetzungen des Marktes werden daher als Rechtsregeln stabili-

62 Ebd., S. 168. 63 Luhmann, Niklas: „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, in: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176. 64 Böhm, Franz: Wettbewerb und Monopolkampf, Berlin 1933.

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siert, sie werden im juristischen Diskurs geschaffen und fortentwickelt. Auch der Inhalt dieser Rechtsregeln bleibt freilich in hohem Maße kontingent. In ihnen können sich höchst unterschiedliche Konzeptionen von Wettbewerb und Wettbewerbsrecht äußern, was schon ein oberflächlicher Blick auf die deutlichen Divergenzen europäischer und US-amerikanischer Wettbewerbspolitik zeigt.65 Daher werden die Regeln des Wettbewerbs in letzter Instanz durch den politischen Diskurs festgelegt, in den verfassungsrechtlich vorgegebenen Formen des Zusammenspiels von Recht und Politik. In der juristischen Diskussion wird diese Konstellation von Wirtschaft, Recht und Politik unter dem Begriff der „Wirtschaftsverfassung“ diskutiert.66 Bezeichnet wird damit der Sachverhalt, dass im Verfassungsstaat der Spätmoderne das Verhältnis von Wirtschaft und Politik „nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung gelöst und als Rechtsfrage formuliert wird“.67 Die sehr allgemeine Definition lässt den konkreten Gehalt der Wirtschaftsverfassung bewusst offen. Dementsprechend werden sehr unterschiedliche, teils auch widersprüchliche Modelle der Wirtschaftsverfassung diskutiert, die von ordoliberalen Konzeptionen zu stärker interventionistischen Ansätzen reichen. Angesichts der Tatsache, dass sowohl das Rechtssystem als auch das Politiksystem in hohem Maße territorial segmentiert sind, führt das zur Koexistenz einer Vielzahl von unterschiedlichen Kapitalismusmodellen, insbesondere einer deutlichen Unterscheidung zwischen den angelsächsischen „liberalen Marktwirtschaften“ und den „koordinierten Marktwirtschaften“ des rheinischen Kapitalismus.68 Trotz aller Unterschiede stimmen diese Modelle aber insofern überein, als sie dem Rechtssystem eine

65 Vgl. nur Basedow, Jürgen: Weltkartellrecht, Tübingen 1998. 66 Zacher, Hans: „Aufgaben einer Theorie der Wirtschaftsverfassung“, in: Helmut Coing/ Heinrich Kronstein/Hans-Joachim Mestmäcker (Hg.), Wirtschaftsordnung und Rechtsordnung. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz Böhm, Karlsruhe 1965, S. 63; Mestmäcker, Ernst-Joachim: „Macht – Recht – Wirtschaftsverfassung“, in: Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht und Wirtschaftsrecht 173 (1973), S. 97; Behrens, Peter: „Weltwirtschaftsverfassung“, in: Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie 19 (2000), S. 5 ff. 67 P. Behrens (Fn. 66), S. 8 (Hervorhebung im Original); ähnlich E.J. Mestmäcker (Fn. 66), S. 104: „Gewaltenteilung in der Gesellschaft als Grundlage einer Wirtschaftsverfassung ist nur nach dem Prinzip der funktionalen Differenzierung möglich. Das wichtigste Mittel funktionaler Differenzierung ist das Recht.“ (Hervorhebung im Original). 68 Hall, Peter/Soskice, David: „An Introduction to Varieties of Capitalism“, in: dies. (Hg.), Varieties of Capitalism, The Institutional Foundations of Comparative Advantage, Oxford 2001.

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vermittelnde Rolle zwischen Wirtschafts- und Politiksystem zuweisen und davon ausgehen, dass normative soziale Erwartungen im Zusammenspiel dieser drei Funktionssysteme erzeugt werden. c.

Wirtschaft und Demokratie

Es griffe allerdings zu kurz, die systemtheoretische Neuformulierung des Konzepts der Wirtschaftsverfassung als bloße Beschreibung des ordoliberalen status quo der Bonner Republik zu lesen. Die Beschreibung wirtschaftlicher Ausdifferenzierung als Komplexitätsproblem bildet vielmehr die Grundlage für eine immanente Kritik der systemischen Reproduktion, indem sie zeigt, wie prekär die Mechanismen der Erzeugung und Stabilisierung normativer Erwartungen im Zusammenspiel von Wirtschaft, Recht und Politik sind. Luhmann selbst sieht diese Prekarität deutlich, wenn er in seinem Aufsatz zur Weltgesellschaft davon ausgeht, dass der Globalisierungsprozess zu einer graduellen Ersetzung normativer durch kognitive Erwartungsstrukturen führt.69 Gegenwärtig wird eine solche Verschiebung etwa dort erkennbar, wo in der Architektur des internationalen Finanzsystems infolge akuter Krisenphänomene normative Haftungszuweisungen durch das Risikomanagement privater Rating- und staatlicher Rettungsagenturen ersetzt werden.70 Eine systemtheoretische Analyse legt dabei nahe, dass die Erosion der normativen Erwartungsstrukturen, die für das Wirtschaftssystem funktionsnotwendig sind, nicht durch Imaginationen eines stabilen gesamtwirtschaftlichen Ordnungsrahmens verhindert werden kann, vom ordo des Rechts allein also keine Rettung zu erwarten ist. Vielmehr ist erforderlich, dass das Wirtschaftssystem über das Rechtssystem mit Strukturen des Politiksystems vermittelt wird, die ihrerseits die Risiken der Weltgesellschaft komplexitätsadäquat verarbeiten können. Und dies sind, so deutet Luhmann an anderer Stelle71 an, allein demokratische Strukturen. Denn demokratische Strukturen sind in besonderer Weise geeignet, die Bildung normativer Erwartungen mit einem hohen Grad an kognitiver Offenheit gegenüber ihrer Umwelt zu verbinden.72 Der demokratische politische Diskurs erzeugt nämlich immer eine paradoxe Situation: „Alles könnte anders

69 N. Luhmann (Fn. 55). 70 Dazu eingehend M. Renner (Fn. 54). 71 Luhmann, Niklas: „Komplexität und Demokratie“, in: ders., Politische Planung. Aufsätze zur Soziologie von Politik und Verwaltung, Opladen, 1994, S. 38. 72 Ebd.

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sein – und fast nichts kann ich ändern“.73 Das heißt nichts anderes, als dass der politische Entscheidungsprozess durch repräsentative Verfahren institutionell kanalisiert und dadurch bewusst erschwert wird. Zugleich werden die Ergebnisse dieser Entscheidungsprozesse aber als allgemein verbindlich akzeptiert, unabhängig von ihrer tatsächlichen Richtigkeit. Der demokratische Prozess ermöglicht somit durch seine repräsentative Struktur eine lose Kopplung von kognitiven und normativen Erwartungen. An dieser Stelle zeigt sich auch der wesentliche funktionale Unterschied demokratischer Entscheidungsstrukturen gegenüber der dezentralen Wissenserzeugung auf Märkten. Denn das Wirtschaftssystem verfügt schlicht über keine Mechanismen, die kognitive in normative Erwartungen transformieren könnten. Das kritische Potenzial einer systemtheoretischen Analyse des Wirtschaftssystems verweist damit letztlich auf die Notwendigkeit einer (rechtlichen) Vermittlung von Markt und Demokratie. Eine systemtheoretische Kritik des Wirtschaftssystems fragt nach den Möglichkeitsbedingungen der Verarbeitung sozialer Komplexität im Zusammenspiel von Wirtschaft, Recht und Politik. Sie geht davon aus, dass wirtschaftliche Kommunikation auf Funktionsvoraussetzungen angewiesen ist, die sie selbst nicht schaffen kann, und dass diese Funktionsvoraussetzungen im demokratischen politischen Prozess geschaffen und durch Recht stabilisiert werden. So gelesen ist die Systemtheorie der Wirtschaft eine Theorie der Wirtschaftsdemokratie. Allerdings besteht sie gegenüber optimistischeren wirtschaftdemokratischen Ansätzen auf der grundsätzlichen Inkommensurabilität gesellschaftlicher Teilsysteme, die eine Vermittlung von Wirtschaft, Recht und Politik nicht durch Entdifferenzierung, sondern nur im Rahmen systemspezifischer Kopplungsmechanismen erlaubt. Hoffnungen auf eine immanente Politisierung oder Konstitutionalisierung gesellschaftlicher Teilsysteme jenseits von Recht und Politik finden damit in der Luhmannschen Systemtheorie keine Grundlage und sind mit deren analytischen Prämissen unvereinbar. Das gilt insbesondere für den Versuch, den Begriff des „Politischen“ jenseits des politischen Systems zu verorten und ihn für eine „innere Politisierung der Wirtschaft“ nutzbar zu machen.74 Die Rede von der „Eigenpolitik“ der Wirtschaft führt nämlich in letzter Konsequenz zur Aufgabe einer am einzelnen Kommunikationsakt ansetzenden Theorie gesellschaftlicher Differenzierung. Beschreibt man etwa, wie Gunther Teubner, die Zentralbank als eine Institu-

73 Ebd., S. 44. 74 So insbesondere Teubner, Gunther: „Verfassungen ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes“, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat: Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, Frankfurt a. M. 2011, S. 49 ff.

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tion, die „im Wirtschaftssystem hochpolitische Entscheidungen“ trifft, ohne Teil des politischen Systems zu sein, wird ohne Not von einer kommunikations- auf eine akteursbezogene Perspektive umgeschwenkt. Ob und unter welchen Voraussetzungen bestimmte Kommunikationsakte der Zentralbank (Geldmengenerhöhung, Zinssenkungen etc.) als ökonomische und/oder als politische Kommunikationen im jeweiligen Funktionssystem anschlussfähig sind und wie sie dort verarbeitet werden, gerät dabei zugunsten einer letztlich normativen Aussage („Die Zentralbank muss vom politischen System unabhängig sein“) aus dem Blick. Dabei würde eine systemtheoretische Perspektive offenbaren, dass gerade diese Aussage über die Unabhängigkeit der Zentralbank eine politische Aussage ist, die den Anschlusszwängen des politischen Systems unterliegt – und dass deshalb die Unabhängigkeit der Zentralbanken nicht erst mit der jüngsten Finanz- und Schuldenkrise prekär geworden ist. Das kritische Potenzial der systemtheoretischen Analyse liegt also gerade darin, dass sie auch politisch-normative Aussagen über die soziale Realität relativiert und ihres Absolutheitsanspruchs beraubt – ebenso wie sie dies für juristische oder ökonomische Postulate tut.

3. S TRUKTURELLE K OPPLUNGEN , OPERATIVE K OPPLUNGEN Die Mechanismen einer Interaktion des Wirtschaftssystems mit anderen Kommunikationssystemen können sehr unterschiedliche Gestalt annehmen. In der Terminologie der Systemtheorie sind sie einerseits denkbar als strukturelle Kopplung auf der Ebene der Funktionssysteme selbst, andererseits als operative Kopplung unterschiedlich codierter Kommunikationen auf der Ebene formaler Organisationen. Die strukturelle Kopplung von Wirtschaft, Recht und Politik zeigt sich insbesondere im Spannungsverhältnis von marktlichem Austausch, Vertragsrecht und regulierender Gesetzgebung. Der Vertrag als Kopplung von Wirtschaft und Recht und zugleich als „eine der bedeutendsten Errungenschaften der Gesellschaftsgeschichte“ stabilisiert „auf Zeit eine spezifische Differenz unter Indifferenz gegen alles andere, inclusive die Betroffenheit von am Vertrag nicht beteiligten Personen und Geschäften“.75 So wird der Vertrag einerseits zum Ausgangspunkt rechtlicher Autopoiesis, indem das ökonomische Tauschverhältnis in ein Rechtsverhältnis transformiert wird, andererseits kann das Wirtschaftssystem die Bindungswirkung des Vertrags voraussetzen und sich auf die kognitive Verarbeitung seiner ökonomischen Folgen beschränken (etwa: „Wann ist der Ver-

75 N. Luhmann (Fn. 9), S. 459.

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tragsbruch effizient?“76). Das Rechtssystem wiederum ist über die Mechanismen von Gesetzgebung und Verfassung an das politische System gekoppelt. Die Reichweite der vertraglichen Bindungswirkung wird daher letztlich vom Gesetzgeber determiniert (durch so genannte „zwingende Normen“ etwa zum Verbraucherschutz, im Wettbewerbs- oder im Arbeitsrecht77). Mit dieser doppelten strukturellen Kopplung wird der wirtschaftliche Austausch durch stabilisierte normative Erwartungen zugleich ermöglicht wie auch begrenzt. Dass die Mechanismen struktureller Kopplung gerade in diesem Bereich versagen können, hat die jüngste Finanzkrise deutlich gemacht. Denn die Ursachen der Krise liegen vor allem dort, wo die strukturellen Kopplungen von Wirtschaft und Recht einerseits und von Recht und Politik andererseits sich in den letzten Jahrzehnten aufgelöst haben. Zum Versagen der Kopplung von Wirtschaft und Recht führte insbesondere die Transformation (normativer) rechtlicher Haftungsmechanismen in die vermeintlich kalkulierbaren (kognitiven) Risiken von Kreditderivaten.78 Der Versuch einer Loslösung des ökonomischen Tauschs aus seiner rechtlichen Fundierung durch eine „Kognitivierung normativer Erwartungen“ ist hier auf spektakuläre Weise gescheitert. Zum Versagen der Kopplung von Recht und Politik schließlich führte der Irrglaube, stabile normative Erwartungsstrukturen ließen sich durch „Selbstregulierung“ im Zusammenspiel von Wirtschaft und Recht unter Umgehung des politischen Diskurses schaffen, etwa durch die Regelsitzung des Basler Ausschusses für Bankenaufsicht.79 Jenseits der strukturellen Kopplungen von Wirtschaft, Recht und Politik ist eine Vermittlung der drei Diskurse jedoch auch auf der Ebene formaler Organisationen denkbar. Luhmann selbst hat diese Möglichkeit einer operationellen Verschleifung von Funktionssystemen kaum behandelt, sie ist aber ein zentrales Thema der neueren systemtheoretischen Diskussion.80 Ansatzpunkt für ein solches Konzept ist vor allem die Figur des Unternehmens. Das Unternehmen als semantische Konstruktion wie auch als sozialer Akteur ist nämlich immer Teil

76 Vgl. Goetz, Charles/Robert, Scott: „Liquidated Damages, Penalties, and the Just Compensation Principle: A Theory of Efficient Breach“, in: Columbia Law Review 77 (1977), S. 554. 77 Zum Begriff des zwingenden Rechts vgl. Renner, Moritz: Zwingendes transnationales Recht, Baden-Baden 2011, S. 24 ff. 78 Dazu M. Renner (Fn. 54). 79 Ebd. 80 Vgl. etwa Tacke, Veronika: „Systemrationalisierung an ihren Grenzen – Organisationsgrenzen und Funktionen von Grenzstellen in Wirtschaftsorganisationen“, in: Managementforschung 7 (1997), S. 1.

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unterschiedlicher Diskurse: als Anbieter oder Nachfrager auf dem Markt, als rechtsfähige juristische Person, als politischer Akteur. Diese Rollenvielfalt zwingt eine formale Organisation wie das Unternehmen dazu, seine internen Strukturen auf die Verarbeitung unterschiedlicher Formen von Kommunikation einzustellen. Das Unternehmen kann sich damit letztlich nicht auf ökonomische Profitorientierung beschränken („the only corporate social responsibility is to make profits“81), sondern muss immer auch rechtliche und politische Erwartungen reflektieren. Auf diese Notwendigkeit gründen sich die aktuellen Diskussionen über die Menschenrechtsverantwortlichkeit transnationaler Unternehmen, „Corporate Social Responsibility“ und „Compliance“.82 Diese Diskussionen kranken allerdings daran, dass sie sich allzu leicht in der von Luhmann beklagten „Trivialmoral und Festansprachen auf höchster Ebene“ verlieren, anstatt mit konkreten Zuschreibungskriterien rechtlicher und politischer Verantwortlichkeit zu operieren.

4. P ERSPEKTIVEN

SYSTEMTHEORETISCHER

K RITIK

Luhmanns systemtheoretische Analyse des Wirtschaftssystems steht in der Tradition der großen Theorien der Politischen Ökonomie kontinentaleuropäischer Prägung. Sie sucht nach einer Beschreibung des Verhältnisses und Zusammenspiels von Wirtschaft, Recht und Politik. Dabei zeigt sie, dass dieses Zusammenspiel schon für die Reproduktion des Wirtschaftssystems selbst funktionsnotwendig ist. Gleichzeitig radikalisiert Luhmanns Analyse die von Hegel, Marx und Weber formulierte These der Ausdifferenzierung der Wirtschaft auf der Grundlage der radikal-konstruktivistischen und poststrukturalistischen Erkenntnistheorie. Ohne sich selbst als kritische Theorie zu verstehen, umschreibt sie damit präzise die Möglichkeitsräume für eine Kritik der Ökonomie in der Weltgesellschaft. Die Stärke der systemtheoretischen Kritik erwächst dabei gerade aus der Genauigkeit ihres analytischen Instrumentariums, das weniger der normativen Ergänzung als vielmehr der konsequenten Anwendung bedarf.

81 Friedman, Milton, in: The New York Times Magazine, 13. September 1970. 82 Zur Regulierung transnationaler Unternehmen vgl. die Beiträge im Special Issue on Transnational Corporations, Indiana Journal Global Legal Studies 2011.

Organisationsversagen und organisationale Pathologien Sondierungen an der Schnittstelle von Systemansatz und Kritischer Theorie M ARTIN H ERBERG

Moderne Gesellschaften sind Organisationsgesellschaften – weder Politik, noch Wirtschaft, Erziehung und Wissenschaft in ihrer heutigen Form wären möglich, gäbe es nicht Organisationen, in denen Prozesse der demokratischen Willensbildung, unternehmerisches Handeln, pädagogische Praxis und wissenschaftliche Erkenntnissuche in geregelter Weise stattfinden können.1 Organisationen erbringen aber nicht nur wichtige Leistungen für die Gesellschaft, oft produzieren sie auch negative Effekte und Schäden. Organisationen sind Orte professionellen Handelns, teilweise werden sie aber auch zum Schauplatz der Deprofessionalisierung. Während der Begriff des Organisationsversagens lange Zeit mit einer zu starren und bürokratischen Organisationsform in Verbindung gebracht wurde, stellt sich nun heraus, dass auch flexible und post-bürokratische Organisationen jederzeit in die Krise geraten können.2 Mit einem Wort: „Organizations fail often and they fail in important ways.“3

1

Vgl. Perrow, Charles: „Eine Gesellschaft von Organisationen“, in: Journal für Sozialforschung 28 (1989), S. 3 ff.

2

Vgl. Kühl, Stefan: Wenn die Affen den Zoo regieren. Die Tücken der flachen Hierarchien, Frankfurt a.M. 1998.

3

Clarke, Lee/Perrow, Charles: „Prosaic Organizational Failure“, in: American Behavioural Scientist 8 (1996), S. 1040 ff. (hier S. 1040).

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Angesichts der faktischen Bedrohung, die das Phänomen des Organisationsversagens für die Ordnung moderner Gesellschaft darstellt, ist es erstaunlich, wie wenig Aufmerksamkeit das Thema in der organisationssoziologischen Literatur gefunden hat.4 Das Spektrum möglicher Beispiele reicht von Industrieunfällen über Korruption, Betrug und Bilanzfälschung bis hin zu ärztlichen Kunstfehlern, Justizirrtümern und diversen anderen unprofessionellen Praktiken in Schulen, Krankenhäusern und vielen anderen institutionellen settings. Zum Teil werden Probleme wie diese nicht in der Organisationssoziologie, sondern in anderen Bindestrichsoziologien erörtert (etwa: der Umwelt- und Techniksoziologie, der Kriminalsoziologie oder der Professionssoziologie). Vielfach werden die genannten Aspekte auch eher indirekt und in einer eigentümlich ‚verschämten‘ Weise thematisiert, nämlich als Probleme, die sich durch organisationales Lernen vermeiden lassen.5 Wie im Folgenden genauer auszuführen sein wird, ist die Arbeit an einem stärker systematisierten, theoretisch fundierten und empirisch anwendbaren Konzept des Organisationsversagens ein wichtiges Desiderat für den organisationssoziologischen Diskurs. Für das Projekt einer „kritischen Systemtheorie“6 ist ein solches Konzept deshalb besonders nützlich, weil es eine Synthese von empirisch-analytischer und kritisch-emanzipatorischer Forschung ermöglicht. Wie Axel Honneth gezeigt hat, beruhen alle gesellschaftstheoretischen Konzepte Kritischer Theorie auf einem „Vokabular, das in der basalen Unterscheidung von ‚pathologischen‘ und ‚intakten‘, nicht-pathologischen Verhältnissen begründet ist.“7 Jeder Versuch, die Tradition Kritischer Theorie für die Gegenwart fruchtbar zu machen, müsse daher diese Unterscheidung zur Grundlage nehmen.8

4

Wichtige Ausnahmen sind: L. Clarke/C. Perrow (Fn. 3); Seibel, Wolfgang: Erfolgreich scheiternde Organisationen, Baden-Baden 1999; Türk, Klaus: Grundlagen einer Pathologie der Organisation, Stuttgart 1976; sowie Ortmann, Günther: Organisation und Moral, Weilerswist 2010.

5

Zur überbordenden Literatur über die lernende Organisation vgl. Horst Albach (Hg.): Organisationslernen – institutionelle und kulturelle Dimensionen, Berlin 1998.

6

Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff.

7

Vgl. Honneth, Axel: Pathologien der Vernunft. Geschichte und Gegenwart der Kritischen Theorie, Frankfurt a.M. 1997, S. 31. Hinzugefügt sei, dass das Interesse an Formen gestörter Normalität in der Soziologie eine lange Tradition hat, von Émile Durkheims Untersuchungen zu Situationen der Anomie bis hin zu den „breaching experiments“ der Ethnomethodologie.

8

Ebd., S. 32.

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P ATHOLOGIEN

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Für den Ansatz einer kritisch-systemtheoretisch orientierten Organisationssoziologie impliziert dies, den Blick stärker als bisher auf das Unvermögen einzelner Organisationen zu richten, das in ihnen angelegte Vernunftpotenzial in einzelnen Phasen ihrer System- und Lebensgeschichte angemessen zur Geltung zu bringen. Benötigt wird hierfür zunächst ein theoretisches Vorverständnis dessen, was Organisationen als soziale Gebilde überhaupt auszeichnet, und worin ihr immanentes Rationalitäts- und Selbststeuerungspotenzial besteht (hierzu 1). Hierauf aufbauend (und in Auseinandersetzung mit empirischen Ergebnissen aus unterschiedlichen Praxisfeldern) sind einige wichtige Erscheinungsformen organisationaler Pathologien zu identifizieren (hierzu 2). Das Thema Organisationsversagen wirft zudem eine Reihe methodologischer Probleme auf, nicht zuletzt aufgrund der Herausforderung, organisationale Defekte überhaupt erst zu entdecken (hierzu 3).

1. ‚C RITICAL A UTOPOIESIS ‘: O RGANISATIONEN AUS DER S ICHT K RITISCHER S YSTEMTHEORIE In „Organisation und Entscheidung“ verwendet Luhmann die Theorie autopoietischer Systeme, um zu einem neuen Verständnis organisierter Sozialsysteme zu gelangen.9 Das Werk ist zugleich ein Versuch, die Erkenntnisse ganz unterschiedlicher Organisationstheorien – vom älteren Strukturfunktionalismus über die verhaltenswissenschaftliche Entscheidungstheorie bis hin zum Organisationskulturansatz – zu einem neuen Paradigma zu verdichten.10 Auch der chronische Konflikt zwischen ‚positivistischer‘ und ‚anti-positivistischer‘ Organisationssoziologie wird hierbei überwunden – die Theorie autopoietischer Organisationen sucht einen dritten Weg „jenseits der klassischen Einteilung von normativen und deskriptiven Theorien.“11

9

Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung, Wiesbaden 2011.

10 Zu Paradigmenvielfalt und Paradigmenstreit in der Organisationssoziologie vgl. den viel zitierten Klassifikationsversuch von Burrell, Gibson/Morgan, Gareth: Sociological Paradigms and Organizational Analysis, London 1979. 11 N. Luhmann (Fn. 9), S. 9. Auf das komplizierte Verhältnis von ‚Sein‘ und ‚Sollen‘ kann hier nur in aller Kürze eingegangen werden. Dass alle organisationssoziologischen Konzepte und Modelle immer auch Werturteile enthalten, entbindet den Forscher keineswegs von der Pflicht, seine Annahmen ständig mit der Realität zu konfrontieren. Genau hierin liegt der Unterschied zu einer rein normativen Herangehens-

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Für Luhmann sind Organisationen emergente Einheiten, die sich nicht auf das Handeln ihrer Mitglieder reduzieren lassen, sondern sich autopoietisch durch eigene Operationen reproduzieren. Organisationen existieren nur in und durch Kommunikation, und umgekehrt prägen sie der stattfindenden Kommunikation ihren unverwechselbaren Stempel auf.12 Gegenüber anderen sozialen Systemen zeichnen sie sich dadurch aus, dass sie auf Entscheidungen als besonderer Form von Kommunikation beruhen, d.h. alles, was in ihnen stattfindet, ist entweder eine Entscheidung, eine Kommunikation im Vorfeld einer Entscheidung oder eine Reaktion auf eine Entscheidung. Die Verknüpfung der einzelnen Operationen erfolgt sequentiell: Jedes kommunikative Ereignis erzeugt Überschüsse an Möglichkeiten, aus denen im nächsten Schritt etwas Passendes ausgewählt wird. Die Entscheidung darüber, was passend ist und was nicht, erfolgt auf der Basis spezieller, organisationsinterner Entscheidungsprämissen, die in ihrer Gesamtheit die Struktur einer Organisation ergeben. Organisationen lassen sich daher als rekursive Entscheidungszusammenhänge konzeptualisieren, die Signale aus ihrer Umwelt aufgreifen, die dies aber immer nur nach Maßgabe ihrer eigenen Strukturen tun können. Dies leitet über zu der für Luhmanns Spätwerk so zentralen Figur der paradoxen Einheit von System und Umwelt: Organisationen sind Teil der Welt und sind es doch nicht. Sie machen sich ein Bild von ihrer Umwelt, müssen aber damit zurechtkommen, dass es sich hierbei immer nur um eigene, selbstreferenzielle Konstruktionen handelt. Organisationen befinden sich daher „im Dauerzustand der Unsicherheit über sich selbst im Verhältnis zur Umwelt.“13 Das Bild, das Organisationen sich von ihrer Umwelt machen, steht unter dem ständigen Vorbehalt seiner Widerlegung, und dies gibt Anlass zur Entstehung spezieller Mechanismen der Unsicherheitsabsorption und Risikovorsorge. Insofern sind alle Organisationen eigentümlich paradoxe Gebilde, gleichzeitig sind sie aber auch Meister der Entparadoxierung. Gerade für das Projekt einer

weise, die sich nicht auf eine intensive Auseinandersetzung mit ihrem Gegenstand einlässt, sondern ihre Maßstäbe – in den Worten Adornos – als gegeben voraussetzt und sie gleichsam „fetischisiert“; vgl. Adorno, Theodor W.: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: ders., Prismen, Frankfurt a. M. 1976, S. 12. 12 „Organisations are talked into being“, heißt es in der konversationsanalytischen Organisationsforschung, vgl. Bargiela-Chiappini, Francesca/Harris, Sandra: Managing language. The discourse of corporate meetings, Amsterdam 1997, S. 4. Zur Verknüpfung der Luhmannschen Systemtheorie mit der linguistisch fundierten Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung vgl. unten, Abschnitt 3. 13 N. Luhmann (Fn. 9), S. 47.

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kritischen Systemtheorie ist das Paradoxiekonzept besonders hilfreich, lenkt es doch den Blick auf die zentralen Widersprüche und Rationalitätsdilemmata moderner Gesellschaften, die nie endgültig gelöst, sondern immer nur flexibel in einzelnen Situationen bewältigt oder ‚entfaltet‘ werden können.14 Bezogen auf die Organisationsforschung eröffnet das Paradoxiekonzept einen Weg zur Überwindung der häufig kritisierten objektivistischen, rationalistischen und positivistischen Denktraditionen des Fachs.15 Die Strukturen und Entscheidungsroutinen einer Organisation sind, so könnte man in Zuspitzung der Luhmannschen Gedanken sagen, nichts anderes als sedimentierte Formen der Krisenbewältigung; sie entstehen in kritischen Situationen, die als solche stets neuartig sind und von jeder Organisation individuell gemeistert werden müssen.16 Eine weitere Paradoxie hat ihren Ursprung in der für Organisationen konstitutiven Grundoperation des Entscheidens. Entscheidungen sind stets kontingent, d.h. sie hätten in einer gegebenen Situation immer auch anders ausfallen können. Zweifellos gibt es im Alltag auch eine Reihe von ‚unproblematischen Problemen‘, die sich durch pures Subsumieren unter Bekanntes lösen lassen. Demgegenüber sind Entscheidungen im engeren Sinne immer krisenhaft, weil sie zwar begründet werden müssen, aber nicht ohne weiteres aus vorgegebenen Kriterien abgeleitet werden können. Insofern bleibt stets eine „Kluft der Kontingenz“17, die zwar stellenweise überbrückt, aber niemals ganz eliminiert werden kann. Auch hier gibt es Techniken der Entparadoxierung; darunter das Bemühen um bessere Entscheidungsgrundlagen (etwa im Sinne der gründlichen Prüfung von Alternativen, die aber nie erschöpfend sein kann) oder der Einbau verschiedener Mechanismen der nachträglichen Fehlerkorrektur (was aber voraussetzt, dass zunächst eine hinreichend eindeutige Entscheidung getroffen wurde).

14 „Wir verstehen unter einer Paradoxie eine als sinnvoll zugelassene Aussage, die gleichwohl zu Antinomien oder zu Unentscheidbarkeiten führt“, (Luhmann, Niklas: Soziologische Aufklärung 5, Opladen 2005, S. 44 f.). 15 Vgl. den in weiten Teilen immer noch aktuellen Überblick von Türk, Klaus: Neuere Entwicklungen in der Organisationsforschung. Ein Trend Report, Stuttgart 1989. 16 Zur soziologischen Relevanz des Begriffs der Krise vgl. Oevermann, Ulrich: „Die Philosophie von Charles Sanders Peirce als Philosophie der Krise“, in: Hans-Josef Wagner (Hg.), Objektive Hermeneutik und Bildung des Subjekts, Weilerswist 2001, S. 209 ff. Ebenso wie Luhmanns Paradoxiebegriff eröffnet das Konzept der Krise einen Gegenhorizont zu der gängigen Annahme, Rationalität sei gleichbedeutend mit zweckrationalen Kosten/Nutzen-Kalkülen oder einer Logik des optimalen Interessenausgleichs. 17 Martens, Will/Ortmann, Günther: „Organisationen in Luhmanns Systemtheorie“, in: Alfred Kieser/Mark Ebers (Hg.), Organisationstheorien, Stuttgart 2006, S. 427 ff. (hier S. 438).

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Aus der Tatsache, dass Organisationen in der Regel nicht eindeutig einem der Funktionssysteme Wirtschaft, Politik, Wissenschaft usw. zugeordnet werden können, sondern ständig den Spagat zwischen unterschiedlichen Funktionslogiken leisten müssen, ergeben sich weitere Widersprüche, etwa der Konflikt zwischen Ökonomie und Medizin im Krankenhaus oder das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Recht in vielen Ministerien und Verwaltungseinheiten.18 Professionsorientierte Organisationen wie etwa Schulen, Krankenhäuser oder Universitäten sind zudem mit zahlreichen, für die Strukturlogik professioneller Praxis typischen Autonomie-, Sozialisations- und Routinisierungsdilemmata konfrontiert: Als Akteure „stellvertretender Krisenbewältigung“19 müssen Ärzte und Therapeuten Lebenshilfe leisten, ohne neue Formen der Abhängigkeit zu erzeugen. Pädagogen müssen auf Seiten der Schüler soziale und moralische Kompetenzen voraussetzen, die es erst noch zu erreichen gilt. Fast immer erfordert professionelles Handeln ein radikales Sich-Einlassen auf den Einzelfall, was sich oft nur schwer mit einer geordneten, verfahrensförmigen Ablaufstruktur vereinbaren lässt. Die Liste der genannten Paradoxien ließe sich noch erheblich erweitern. Die Pointe für eine Soziologie des Organisationsversagens besteht nun darin, dass prinzipiell alle genannten Probleme durch geeignete Strukturen abgefedert und ‚kleingearbeitet‘ werden können, dass empirisch allerdings auch Fälle auftreten können, bei denen die paradoxe Ausgangslage durch inadäquate Regeln und Routinen zusätzlich verschärft wird. In der verschieden ausgeprägten Fähigkeit einzelner Organisationen, Paradoxien zu handhaben, liegt der Unterschied zwischen rationalen und funktionsfähigen Systemen auf der einen Seite und irrationalen oder pathologischen Fallkonstellationen auf der anderen Seite. Was wären mögliche Beispiele und wie lässt sich das so gewonnene Konzept des Organisationsversagens weiter auffächern?

18 Deutlich erkennbar wird diese Gratwanderung zwischen rechtlichen und (kommunal-) politischen Belangen vor allem in den Ergebnissen der sog. Implementationsforschung, vgl. die klassische Studie von Mayntz, Renate/Hansmeyer, Karl-Heinrich: Vollzugsdefizite der Umweltpolitik, Stuttgart 1978. 19 Oevermann, Ulrich: „Profession contra Organisation“, in: Werner Helpser et al. (Hg.), Pädagogische Professionalität in Organisationen, Wiesbaden 2008, S. 55 ff. (hier S. 63).

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2. O RGANISATIONSVERSAGEN

ALS F OLGE PARADOXIEVERSTÄRKENDER E IGENSTRUKTUREN

Wenn Organisationen emergente soziale Gebilde darstellen, die sich nicht auf das Handeln ihrer Mitglieder reduzieren lassen, dann können auch Formen des Organisationsversagens nicht einfach als Summe der in einer Organisation auftretenden individuellen Fehler und Versäumnisse betrachtet werden. Obwohl viele irrationale oder schädigende Praktiken zunächst eher zufällig, chaotisch oder ‚strukturlos‘ erscheinen mögen, erweisen sie sich bei näherem Zusehen doch als strukturierte Phänomene: Alle auftretenden Fehler werden durch die Strukturen der betreffenden Organisation hervorgebracht und tragen umgekehrt dazu bei – jedenfalls ab einer gewissen Häufigkeit –, diese Strukturen als pathogene Strukturen zu reproduzieren.20 Für eine Auffächerung der Thematik bietet es sich an, mit Luhmann drei Dimensionen von Organisationsstruktur zu unterscheiden. Die sichtbarste Schicht bildet die Formalstruktur einer Organisation, bestehend aus den Zielen einer Organisation, ihren Entscheidungsprogrammen und Kommunikationskanälen. Formelle Vorgaben wie diese fungieren als eine Art „positives Recht“ im Inneren einer Organisation;21 sie definieren den Rahmen für alle weiteren Entscheidungen und werden ihrerseits durch Entscheidungen geschaffen und geändert. Diese Positivität gilt aber nicht für alle Strukturen einer Organisation, insbesondere nicht für die Ebene der Organisationskultur als zweiter Strukturebene. Hierher gehören alle nicht-formalisierten Gepflogenheiten, Selbstverständlichkeiten und informellen Normen einer Organisation.22 Hinzu kommt, als dritte Strukturebene, die Schicht der kognitiven Routinen, die die Wissensgewinnung und Sachverhaltsermittlung einer Organisation steuern.

20 Das Gesetz der Rekursivität von Ereignis und Struktur gilt also, so könnte man vielleicht sagen, im ‚Guten‘ wie im ‚Schlechten‘ – auch alle noch so irrationalen Praktiken haben ihre eigene ‚generative Grammatik‘, zu diesem Konzept vgl. Chomsky, Noam: Aspekte der Syntax-Theorie, Frankfurt 1969, S. 19. 21 Vgl. N. Luhmann (Fn. 9), S. 271. Zum Binnenrecht von Organisationen am Beispiel multinationaler Konzerne vgl. Teubner, Gunther: „Codes of Conduct multinationaler Unternehmen: Unternehmensverfassung jenseits von Corporate Governance und gesetzlicher Mitbestimmung“, in: Armin Höland et al. (Hg.), Arbeitnehmermitwirkung in einer sich globalisierenden Arbeitswelt, Berlin 2005, S. 109 ff. 22 Das Interesse an informellen Strukturen prägt bereits die frühe Schaffensphase Luhmanns, vgl. nur den viel zitierten Begriff der „brauchbaren Illegalität“, Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964, S. 304.

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Im Normalfall erbringen alle drei Strukturkomponenten einen Beitrag zur Entparadoxierung, im umgekehrten Falle können sie aber auch paradoxieverstärkend wirken. 1. Was die Ebene der Formalstrukturen betrifft, so besteht das Paradebeispiel für strukturelle Defizite in möglichen Organisations- und Regelungslücken.23 Auch dort, wo sozialregulative Belange wie Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz staatlicherseits bis ins letzte Detail geregelt sind, erfordert die Erfüllung dieser Aufgaben doch die organisationsinterne Schaffung spezieller Verhaltensvorschriften und Zuständigkeiten. Empirisch ist zwar stets der Fall denkbar, dass das Fehlen solcher Vorschriften auf informellem Wege kompensiert wird. Paradox wäre es allerdings zu glauben, ein rechtskonformer Zustand ließe sich auch ohne geeignete organisationsinterne Vorschriften erreichen, da eine solche Vorstellung dem Wesen formaler Organisationen völlig zuwider liefe: Formelle Regeln definieren, was man leisten muss, um Mitglied einer Organisation zu sein, sie haben gleichzeitig aber auch die Funktion, den einzelnen von darüber hinausgehenden Erwartungen zu entlasten.24 Dass ganze Aufgabenbereiche ungeregelt bleiben, dürfte zumindest in größeren Organisationen die absolute Ausnahme darstellen. Es bleibt aber die Gefahr widersprüchlicher und inkonsistenter Programme und anderer Formen einer „paradoxen, sich selbst dekonstruierenden Kommunikation“.25 Innerhalb gewisser Grenzen sind Reibungen zwischen den internen Regeln und Handlungsprogrammen einer Organisation zwar unvermeidlich: Verschiedene Teilumwelten erzeugen organisationsinterne Konflikte, und neue Regeln müssen immer erst nach und nach mit den bestehenden Vorschriften verflochten werden. Eine kritische Schwelle ist allerdings dann überschritten, wenn die Befolgung einer Vorschrift A, die für die Mitgliedschaft in der betreffenden Organisation von konstitutiver Bedeutung ist, zugleich zur Missachtung der ebenso bedeutsamen Vorschrift B führt.26

23 Auch im juristischen Schrifttum firmieren lückenhafte Formalstrukturen als der ‚klassische‘ Fall des Organisationsversagens, vgl. Matusche-Beckmann, Annemarie: Das Organisationsverschulden, Tübingen 2001. 24 Zu dieser Doppelfunktion formaler Regeln vgl. N. Luhmann (Fn. 22), S. 60. 25 N. Luhmann (Fn. 9), S. 115. 26 Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das Dilemma, das in überbelegten Krankenhäusern entsteht, nämlich wie man alle Patienten mit der gleichen Sorgfalt behandeln und gleichzeitig den medizinischen state of the art aufrechterhalten soll, vgl. Vogd, Werner: „Verändern sich die Handlungsorientierungen von Krankenhausärzten unter den neuen organisatorischen Rahmenbedingungen?“, in: Sozialer Sinn 2 (2006), S. 197 ff.

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Das Phänomen paradoxieverstärkender Formalstrukturen erschöpft sich aber keineswegs in lückenhaften oder sich widersprechenden Vorgaben. Mindestens ebenso wichtig sind Formen der Überregulierung und der Vorschrifteninflation. Aus der Sicht der Luhmannschen Systemtheorie sind alle Strukturen letztlich nichts anderes als Unterscheidungen: Indem Passendes von Unpassendem unterschieden wird, ermöglichen Strukturen die systematische Beobachtung des weiteren Geschehens und damit Kritik- und Lernfähigkeit.27 Genau dies geht aber verloren, wenn Organisationen alle nur denkbaren Rechtsvorschriften und andere institutionelle Fertigprodukte ungefiltert in ihre Formalstrukturen inkorporieren, ohne diese an die Besonderheiten ihrer individuellen System- und Lebensgeschichte anzupassen. Weil hier gerade keine Entscheidung für etwas Bestimmtes erfolgt, ist ein solches Bemühen um eine allumfassende Regelung letztlich nichts anderes als eine Form der Nicht-Entscheidung und damit eine ernsthafte Gefahr für die Autopoiesis der betreffenden Organisation.28 2. Was die zweite der genannten drei Strukturkomponenten betrifft, die Ebene der Organisationskultur, so hat diese das Potenzial, viele der Folgeprobleme formaler Organisation zu kompensieren: Informale Kommunikationskanäle überwinden die hohe Selektivität der formellen, an vorgegebenen Themen und Dienstwegen orientierten Kommunikation.29 Gemeinsame Wertvorstellungen

27 Vgl. die erhellende Interpretation von Drepper, Thomas: Organisationen der Gesellschaft, Wiesbaden 2003, S. 137. Lernen bezieht sich in diesem Zusammenhang vor allem auf kognitive Erwartungen und deren Revision im Enttäuschungsfall. Dies schließt keineswegs aus, dass Organisationen sich auch ein Bild von den an sie gerichteten normativen Erwartungen machen – die aber immer nur nach Maßgabe der internen Strukturen aufgegriffen und verarbeitet werden können. 28 Solche Erscheinungen sind keine Seltenheit; man denke nur an die weit verbreiteten Umwelt- und Qualitätsmanagementsysteme der ISO (International Standardization Organization), die nicht zu Unrecht als moderner Ritualismus und leerlaufende Routine charakterisiert werden. Paradoxieverstärkend sind diese Managementmodelle nicht zuletzt aufgrund der Annahme, man könne ein und dasselbe Schnittmuster auf sämtliche Firmen aus allen Branchen und Ländern der Welt anwenden. Tatsächlich sind die betreffenden Regeln so praxisfern und unnötig kompliziert, dass sie den Praktiker kaum noch darüber informieren, worauf er denn nun eigentlich achten soll und auf was nicht. Vgl. Rieker, Jochen: „ISO 9000 – Norm ohne Nutzen?“, in: ManagerMagazin 12 (1995), S. 202 ff.; ferner Power, Michael: The Audit Society. Rituals of Verification, New York, 1997; und Herberg, Martin: Globalisierung und private Selbstregulierung, Frankfurt a.M. 2007, S. 127 ff. 29 Vgl. N. Luhmann (Fn. 22), S. 196.

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und Überzeugungen mobilisieren zusätzliche motivationale Ressourcen und zudem leistet die informelle Kommunikation in Organisationen einen wichtigen Beitrag, die aus ambivalenten Organisationszielen und inkonsistenten Programmen resultierenden Spannungen produktiv zu verarbeiten. Allerdings sind solche informellen Elemente nicht per se vorteilhaft oder funktional – zum Teil können sie die vorhandenen Paradoxien auch verstärken. So kann empirisch der Fall auftreten, dass sich auf organisationskultureller Ebene Identitäten und Selbstbilder herausbilden, die die spannungsreiche Komplexität der anstehenden Aufgaben in eine zu einseitige Version bringen und hierbei andere wichtige Dimensionen der Sachmaterie systematisch vernachlässigen.30 Teilweise stehen die informalen Praktiken auch in diametralem Gegensatz zu den geltenden Regeln des betreffenden Berufs- und Praxisfeldes (man denke an körperliche Misshandlungen an Schulen, aber auch an die Missachtung der Arbeitsschutzregeln in einem Industriebetrieb), teilweise sind die Probleme aber auch subtiler und von einem eher unterschwelligen Charakter: Demütigende und latent aggressive Kommunikationsformen in Schulen, Altenheimen und in der Sozialverwaltung verstoßen nicht unmittelbar gegen geschriebenes Recht, sie verletzen aber die Standards der betreffenden Profession ebenso wie die gesellschaftlich geteilten Erwartungen an das, was in der betreffenden Organisation stattfinden sollte und was nicht.31

30 Empirisches Anschauungsmaterial für ein solches verkürztes Aufgabenverständnis seitens der Ausführenden findet sich vor allem in der professionssoziologischen Literatur. Klassische Beispiele sind Wissenschaftler, die sich nur noch als Spezialisten für Fragen der Drittmittelakquise verstehen, oder Lehrer, die sich ganz und gar auf die disziplinierenden Aspekte ihrer Tätigkeit konzentrieren, vgl. den Überblick bei Oevermann, Ulrich: „Theoretische Skizze einer revidierten Theorie professionalisierten Handelns“, in: Arno Combe/Werner Helsper (Hg.), Pädagogische Professionalität. Untersuchungen zum Typus pädagogischen Handelns, Frankfurt a.M. 1996, S. 70 ff. 31 Zu Demütigungsprozeduren in der Sozialverwaltung vgl. die immer noch aktuelle Analyse von v. Harrach, Eva-Marie/Loer, Thomas/Schmidtke, Oliver: Die Verwaltung des Sozialen, Konstanz 2000. Zu demütigenden und infantilisierenden Praktiken im Altenheim vgl. die konversationsanalytische Arbeit von Sachweh, Svenja: „Schätzle hinsitze.“ Kommunikation in der Altenpflege, Konstanz 1999. Instruktiv in diesem Zusammenhang sind auch die Ergebnisse der Polizeiforschung, insbesondere die Beobachtung, dass viele der Konflikte, die es zu bewältigen gilt, teilweise erst durch ein latent aggressives Auftreten der Beamten hervorgerufen werden, vgl. Krasmann, Susanne: Kontingenz und Ordnungsmacht, Münster 1993, S. 196 ff.

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Aus systemtheoretischer Sicht ist wichtig, dass vieles, was auf den ersten Blick als abweichende Praxis einiger Einzelpersonen erscheint, aufs Engste mit den kollektiv geteilten Normen der betreffenden Organisation verflochten ist: Viele Fehler und unprofessionelle Praktiken sind nur deshalb möglich, weil sie von den Kollegen geduldet werden. Ob solche Formen der kollusiven Fehlervertuschung auf einem tauschförmigen Arrangement basieren oder auf engen freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Kollegen, stets sind sie eine Form der Usurpation einer Organisation durch die persönlichen Interessen ihrer Mitglieder.32 Auch die Beziehungen zwischen Vorgesetzten und Untergebenen können solche komplizenhaften Züge annehmen, etwa wenn der Chef seinen Mitarbeitern signalisiert, dass mit seiner Einmischung nicht zu rechnen ist, solange ihn niemand mit den betreffenden Problemen behelligt. Wie können solche organisationskulturellen Deformationen korrigiert werden? Mit neuen Vorschriften und formalen Regeln sind die informellen Strukturen einer Organisation jedenfalls nicht ohne weiteres zu beeindrucken. Es ist genau diese dilemmatische Situation – die Tatsache, dass keine Regel ihre eigene Anwendung steuern kann33 – aus der sich die anhaltende Konjunktur der Organisations- und Prozessberatung erklärt.34 Das Vertrauen in die Person des Beraters kann für eine gewisse Übergangszeit das fehlende Systemvertrauen ersetzen; und die Einrichtung zusätzlicher Ebenen der Selbstbeobachtung kann helfen, blinde Flecken und perspektivische Barrieren zu überwinden. Dass all dies oft mit zusätzlichen paradoxen Effekten einhergeht, sei hier nur am Rande vermerkt; wie jede Form der Intervention in selbstreferenzielle Systeme ist Beratung letztlich immer nur „als Eigenleistung des zu beratenden Systems möglich“.35 3. Die dritte Strukturkomponente schließlich, die Ebene der kognitiven Routinen, umfasst verschiedene Techniken der Erzeugung und Verarbeitung von entscheidungsrelevantem Wissen; darunter Bilanzen und Statistiken, Methoden

32 Zu verschiedenen Facetten der kollusiven Fehlervertuschung vgl. N. Luhmann (Fn. 22), S. 183. Luhmanns Theorieentscheidung, die Menschen in der Umwelt des Organisationssystems zu verorten, ist offenbar nicht so ‚anti-humanistisch‘, wie immer wieder behauptet wird – dies nicht zuletzt deshalb, weil allzu enge Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer Organisation oft genug auf Kosten Dritter gehen. 33 Vgl. Wittgenstein, Ludwig: Bemerkungen über die Grundlagen der Mathematik, Frankfurt a.M. 2009, S. 113. 34 Vgl. die Beiträge in Rudolph Wimmer (Hg.), Organisationsberatung. Neue Wege und Konzepte, Wiesbaden 1995. 35 Willke, Helmut: „Beobachtung, Beratung und Steuerung von Organisationen in systemtheoretischer Sicht“, in: R. Wimmer (Fn. 34), S. 37.

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der Marktforschung, schriftliche Dokumentationssysteme und apparative Messgeräte. Auch bei diesen Strukturen handelt es sich um „unentscheidbare Entscheidungsprämissen“36, da sie auf vielen unhinterfragten Elementen aufbauen, die meist nur gegen großen Widerstand veränderbar sind. Die Paradoxie besteht hier darin, dass fast alle Entscheidungen einer Organisation eine detaillierte Kenntnis der Sachmaterie voraussetzen, dass der Suche nach geeigneten Informationen aber aufgrund der Notwendigkeit zeitnaher Entscheidungen enge Grenzen gesetzt sind. Entfaltet wird die Paradoxie durch die Ausbildung spezieller Routinen: Indem ein Großteil der Fälle nach einem festen und einheitlichen Schema abgearbeitet wird, entsteht Spielraum für die genauere Analyse der ‚komplizierteren‘ Fälle.37 Teilweise können die kognitiven Routinen einer Organisation die bestehenden Paradoxien aber auch vergrößern. So hat die Einführung standardisierter Erfassungs- und Dokumentationssysteme oft den Effekt, dass das individuell Besondere der Bearbeitungsfälle systematisch aus dem Blick gerät.38 Hinzu kommt die Gefahr der Überfokussierung auf rein äußerliche Merkmale, die bezüglich der anstehenden Entscheidungen völlig irrelevant sind (etwa wenn bei einem Umweltund Sicherheitsaudit in einem Industriebetrieb nur der Bestand an internen Dokumenten, nicht aber der Zustand der technischen Apparaturen geprüft wird).39 Ungeeignete kognitive Routinen wie diese führen nicht zu einer Entlastung, sondern zu einer zusätzlichen Belastung der Entscheidungsträger, und zudem bergen sie die Gefahr, dass organisationsintern nur noch solche Argumente Gehör finden, die in der Sprache der bestehenden Informations- und Dokumentationssysteme formulierbar sind:40 Was mit den Methoden des organisationseigenen Wissensmanagements nicht erfassbar ist, wird nur allzu schnell als nicht-

36 N. Luhmann (Fn. 9), S. 241. 37 Hinzugefügt sei, dass diese Unterscheidung zwischen einfachen und komplizierten Fällen nie eine endgültige sein kann, sondern immer nur den Status einer entparadoxierenden Arbeitshypothese hat. 38 In verschärfter Form stellt sich dieses Problem in professionsnahen Organisationen wie der Schule, dem Krankenhaus und der Polizei. Zur Analyse des (inzwischen reformierten) kriminalpolizeilichen Meldedienstes als besonders anschaulichem Beispiel für ein verfehltes und bürokratisch ‚verselbstständigtes‘ Informationssystem vgl. Oevermann, Ulrich/Schuster, Leo/Simm, Andreas: Zum Problem der Perseveranz in Delikttyp und modus operandi, Wiesbaden 1985. 39 Vgl. M. Herberg (Fn. 28), S. 127 ff. 40 Zu dieser Gefahr einer „leerlaufenden Selbstreferenz“ vgl. T. Drepper (Fn. 27), S. 83 und 93.

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existent betrachtet. Nicht zufällig hatten einige der größten Skandale und Industrieunfälle der jüngeren Geschichte ihren Entstehungsort in Organisationen, in denen Einwände gegen die internen Wissensroutinen über längere Zeit unterdrückt und ignoriert wurden.41 Wie der Überblick zeigt, kann die Auffächerung des Organisationsbegriffs in die drei Ebenen Formalstruktur, Organisationskultur und kognitive Routinen dazu verwendet werden, eine vorläufige Heuristik organisationaler Pathologien zu entwickeln. Hinzugefügt sei, dass Defizite, die auf einer der Ebenen auftreten, teilweise auf einer anderen Ebene kompensiert werden können, dass paradoxieverstärkende Tendenzen in einzelnen Fällen aber auch von einer Ebene auf die andere ‚durchschlagen‘ können. Auf den Versuch, das Zusammenspiel der drei Ebenen genauer zu modellieren, muss hier verzichtet werden; grundsätzlich dürfte aber gelten, dass der Schutz einer Organisation vor destruktiven Kausalschleifen umso größer ist, je besser es gelingt, die einzelnen Strukturkomponenten in ihrer Eigenständigkeit zu unterstützen und zu stabilisieren: „Lebensfähige, stabile Systeme müssen lose gekoppelt sein.“42

3. K RITISCHE S YSTEMTHEORIE UND FALLREKONSTRUKTIVE O RGANISATIONSFORSCHUNG Unentscheidbarkeiten im Entscheidungsprozess, die das Modell der Zweckrationalität überfordern; Widersprüche zwischen unterschiedlichen Funktionslogiken, die flexibel auf praktischer Ebene bewältigt werden müssen; und organisationale Pathologien, die auch in scheinbar erfolgreichen Organisationen auftreten – all dies sind Themen an der Schnittstelle von Systemtheorie und Kritischer Theorie, auf denen das Projekt einer Kritischen Systemtheorie aufbauen kann. Allerdings: Wenn von den Querbeziehungen zwischen beiden Denkschulen die Rede ist, darf die sozialwissenschaftliche Methodendiskussion nicht fehlen; haben doch gerade die Vertreter Kritischer Theorie immer wieder auf den engen Zusammenhang zwischen Methodenfragen und gesellschaftstheoretischen Grundpositionen hingewiesen.43 Oder, anders gesagt: Wenn die Stärke der autopoietischen Sys-

41 Vgl. hierzu die Analysen zum Contergan-Desaster und der BSE-Krise in Luhmann, Hans-Jochen: Die Blindheit der Gesellschaft. Filter der Risikowahrnehmung, München 2001. 42 Luhmann, Niklas: Einführung in die Systemtheorie, Heidelberg 2009, S. 227. 43 Vgl. vor allem Adorno, Theodor W.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Darmstadt/Neuwied 1978.

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temtheorie darin besteht, Verdinglichungen zu vermeiden und die Herstellung von Ordnung als spannungsreichen und kontingenten Prozess zu beschreiben, dann wäre es wenig konsequent, bei der Einlösung dieses Forschungsprogramms auf Methoden zurückzugreifen, denen eine ganz andere (oder genau konträre) Ontologie zugrunde liegt. Was muss erfüllt sein, damit eine Forschungsmethode systemtheoriekompatibel ist? Vieles spricht dafür, Organisationen nicht – wie in der standardisierten Forschung – als Träger bestimmter Variablenmerkmale zu konzeptualisieren, sondern sich stärker um einen fallorientierten Zugang zu bemühen, bei dem konkrete Organisationen ins Zentrum der Analyse gestellt werden. Wichtig ist hierbei der Gedanke der Rekursivität: Wenn die Strukturen einer Organisation durch die Verkettung kommunikativer Ereignisse reproduziert werden, dann muss auch die Strukturrekonstruktion auf die Grundlage dieses „echtzeitlichen Nacheinanders“44 real auftretender Kommunikationsereignisse gestellt werden. Dies leitet über zum Aspekt der Selektivität: Weil jeder Kommunikationsprozess eine Auswahl aus mehreren Bedeutungsmöglichkeiten darstellt, müssen bei der Analyse auch die nicht-realisierten Optionen beachtet werden; erst vor diesem Hintergrund nimmt die konkrete Organisation Gestalt an. Bei den Methoden, die diese Art der Analyse ermöglichen, handelt es sich um die Verfahren der rekonstruktiven Soziologie, darunter die Konversationsanalyse,45 das narrative Interview46 und die objektive Hermeneutik.47 Gemeinsam ist den genannten Ansätzen eine streng sequenzanalytische Vorgehensweise:48 Indem die Analyse sich eng an den Verlauf konkreter Interaktionsprozesse

44 Nassehi, Armin: „Rethinking Functionalism. Zur Empiriefähigkeit systemtheoretischer Soziologie“, in: Stefan Hirschauer/Herbert Kalthoff/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie, Frankfurt a.M. 2008, S. 79 ff. (hier S. 88). 45 Vgl. Paul Drew/John Heritage (Hg.), Talk at work. Interaction in institutional settings, Cambridge 1992. 46 Vgl. Holtgrewe, Ursula: „Narratives Interview“, in: Stephan Kühl/Petra Strodtholz (Hg.), Methoden der Organisationsforschung. Ein Handbuch, Reinbek 2002, S. 71 ff. 47 Vgl. Oevermann, Ulrich: „Die Methodologie einer ‚objektiven Hermeneutik‘ und ihre allgemeine forschungslogische Bedeutung in den Sozialwissenschaften“, in: HansGeorg Soeffner (Hg.), Interpretative Verfahren in den Sozial- und Textwissenschaften, Stuttgart 1979, S. 352 ff. 48 Vgl. die instruktiven Überlegungen von Schneider, Wolfgang L.: Die Bedeutung von Kommunikation, Opladen 1994; ferner ders.: „Systemtheorie und sequenzanalytische Forschungsmethoden“, in: Stefan Hirschauer/Herbert Kalthoff/Gesa Lindemann (Hg.), Theoretische Empirie, Frankfurt a.M. 2008, S. 129 ff.

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anschmiegt, gelingt es, sowohl den Erfindungsreichtum der Praxis auszuloten, als auch mögliche Deformationen und Anomalien dingfest zu machen. Möglich wird dies dadurch, dass die Interpretation sich gerade nicht an den subjektiv intendierten Sinn der Teilnehmer bindet, sondern nach den sequentiellen Implikationen der einzelnen Gesprächsereignisse fragt. Für jede einzelne Äußerung wird herausgearbeitet, wie sie an den bisherigen Verlauf der Interaktion anschließt und welche zusätzlichen Bedeutungsmöglichkeiten durch sie eröffnet werden.49 Das Selektionsmuster, das hierbei zu Trage tritt, gibt Auskunft über die Fallstruktur des betreffenden sozialen Systems. Anders als die Methoden standardisierter Forschung basieren die genannten sequenzanalytischen Verfahren nicht auf umfangreichen Zufallsstichproben, sondern auf einer relativ überschaubaren Menge von Protokollen und Textausschnitten, die für die Besonderheit des untersuchten Falles besonders aufschlussreich sind. Oft gelangt man bereits auf der Grundlage einer oder einiger weniger Interaktionssequenzen zu einer ersten Fallstrukturhypothese, die dann anhand weiterer Passagen überprüft und modifiziert wird. Hinter dieser Arbeitsweise steht der Gedanke, dass die Struktur eines Systems in sämtlichen Hervorbringungen dieses Systems ihren „Fingerabdruck“50 hinterlässt, und zwar auch und gerade in allen noch so chaotisch, irrational oder zufällig anmutenden Details. Voraussetzung für diese Art der Analyse sind Daten von hoher Authentizität und Detailtreue.51 Der ‚Königsweg‘ besteht hierbei in der Verwendung von Tonbandaufnahmen real stattfindender Interaktionen, darunter Dienstbesprechungen, Beratungs- und Verkaufsgespräche und viele andere Formen der verbalen Interaktion, die es erlauben, die betreffende Organisation ‚in Aktion‘ zu studieren. Über die Jahre ist das Spektrum an empirischen Materialien sukzessive erweitert

49 Die Erkenntnis, dass jede menschliche Äußerung in einem doppelten zeitlichen Horizont steht und sowohl als ‚context-shaped‘ als auch als ‚context-renewing‘ zu betrachten ist, markiert die Geburtsstunde aller sequenzanalytischen Verfahren, vgl. Heritage, John: Garfinkel and Ethnomethodology, Cambridge 1984, S. 242 ff. 50 P. Drew/J. Heritage (Fn. 45), S. 26. Zur Arbeit am Detail und der erschließenden Funktion gerade solcher Passagen, die auf den ersten Blick unverständlich erscheinen, vgl. H.-J. Wagner (Fn. 16), S. 120 ff. 51 Bei den Daten rekonstruktiver Forschung handelt es sich stets um Texte, da erst die schriftliche Fixierung des Interaktionsgeschehens eine methodisch kontrollierte und intersubjektiv nachprüfbare Analyse ermöglicht, vgl. Bergmann, Jörg: „Flüchtigkeit und methodische Fixierung sozialer Wirklichkeit“, in: Wolfgang Bonß/Heinz Hartmann (Hg.), Entzauberte Wissenschaft, Sonderband 3 der Zeitschrift Soziale Welt, Göttingen 1985, S. 299 ff.

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worden: Auch schriftliche Dokumente, etwa Geschäftsbriefe und technische Handbücher sind Daten, auf die das Prinzip der Sequentialität sinnvoll angewendet werden kann;52 als „aktive Texte“53 richten sie sich stets an einen speziellen Kreis von Rezipienten und beziehen sich implizit oder explizit auf relevante gesellschaftliche Sachverhalte und Erwartungen. Auch verschiedene Formen von Interviews können die genannten Anforderungen an die Qualität der Daten erfüllen, sofern es gelingt, den Schleier der symbolischen Selbstdarstellung einer Organisation zu durchbrechen und zu den Strukturen der Praxis vorzudringen.54 Wichtig ist, dass die genannten Methoden sich sowohl zur Rekonstruktion erfolgreicher und kontextadäquater Formen der Paradoxieentfaltung, als auch für die Analyse pathologischer Strukturen eignen. Bei der konkreten Rekonstruktionsarbeit wird man sich stets davor hüten müssen, alles, was auf den ersten Blick abweichend oder ungewohnt erscheint, vorschnell als ‚pathologisch‘ zu klassifizieren – eine Gefahr, der sich nur durch die detaillierte Einarbeitung des Forschers in das jeweilige Praxisfeld begegnen lässt. Je gründlicher man die ‚normalen‘ Paradoxien rekonstruiert, mit denen jede Organisation zurechtkommen muss, desto treffsicherer lassen sich Formen der gelungenen Krisenbewältigung von Fällen unterscheiden, in denen die Krise chronisch geworden ist. Was auf diesem Wege möglich wird, ist die Entwicklung einer allgemeinen Kasuistik typischer Strukturdefizite, die sicher nicht nur von akademischem Nutzen wäre, sondern auch für praktisch-diagnostische Zwecke eingesetzt werden könnte. Für die einzelnen Funktionssysteme und Praxisfelder der Gesellschaft wird man hier zu sehr unterschiedlichen Ergebnissen gelangen; in der Strategie des minimalen und maximalen Kontrasts zwischen verschiedenen Organisationen aus unterschiedlichen Bereichen liegt aber die Chance, das Phänomen des Organisationsversagens in einer präziseren und sachhaltigeren Weise zu bestimmen als bisher. Genau dieses Interesse an Sachhaltigkeit ist es, so sei hinzugefügt, was die heutige (Organisations-)Soziologie von den Klassikern der Frankfurter

52 Vgl. Wolff, Stephan: „Dokumenten- und Aktenanalyse“, in: Uwe Flick/Ernst v. Kardorff/ Ines Steinke (Hg.), Qualitative Forschung. Ein Handbuch, Reinbek 2000, S. 502 ff. 53 Smith, Dorothy: „The active text“, in: dies. Texts, Facts and Femininity: Exploring the Relations of Ruling, Boston 1986, S. 120 ff. 54 Ein Sonderfall ist die Durchführung biographischer Interviews mit den Mitgliedern einer Organisation, was gerade bei der Erforschung organisationaler Krisen sehr hilfreich sein kann. Die Systemgeschichte einer Organisation ist zwar nicht deckungsgleich mit den Biographien ihrer Mitglieder, sie hinterlässt aber doch ihre Spuren in diesen, etwa in Gestalt von Ereignisknotenpunkten zwischen Phasen der Problemverleugnung und Phasen des Aufbrechens latenter Strukturen und Krisen.

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Schule lernen kann, und was der Tradition Kritischer Theorie ihre ‚ewige Jugendlichkeit‘ verleiht.55 Von einer ‚Apologetik‘ des Bestehenden ist bereits die Systemtheorie in ihrem jetzigen, autopoietischen Stadium weit entfernt56 und die Verknüpfung mit empirisch-rekonstruktiven Forschungsmethoden ermöglicht es, die Maßstäbe der Kritik, statt sie als gegeben vorauszusetzen, in eine reflexive und kontextsensitive Form zu bringen. Fazit: Als Meister der Entparadoxierung verfügen formale Organisationen über die Fähigkeit, viele Strukturkonflikte moderner Gesellschaften zu bewältigen und abzufedern. Die Zeit, in der man in der Organisationsforschung noch an den one best way glaubte, ist heute unwiederbringlich vorüber. Die Kriterien und Bezugspunkte, die nun stattdessen in den Vordergrund treten, lassen sich vielleicht ganz gut als die ‚Minima Moralia‘ erfolgreichen Organisierens beschreiben – im Sinne der Vermeidung pathogener und paradoxieverschärfender Strukturen, die je nach Aufgabe und Praxisfeld ganz unterschiedliche Ausprägungen annehmen können. Auch die Diskussion über die Lernfähigkeit von Organisationen und ihre gesellschaftliche Einbettung wird hierdurch auf eine neue Grundlage gestellt. Dies hat sowohl eine empirische, als auch eine normative Seite: Empirisch gilt es, verschiedene Formen des Organisationsversagens noch genauer als bisher zu rekonstruieren und zu klassifizieren; und in normativer Hinsicht trägt das Programm einer kritisch-autopoietischen Organisationsforschung dazu bei, Kriterien guter Praxis zu entwickeln, die freilich nicht in abstrakten Sollensvorstellungen ihren Ursprung haben, sondern die aus der Sache selbst heraus entwickelt werden.

55 Vgl. Oevermann, Ulrich: „Zur Sache. Die Bedeutung von Adornos methodologischem Selbstverständnis für die Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse“, in: Ludwig von Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.), Adorno-Konferenz, Frankfurt a.M. 1983, S. 234 ff. 56 Zu diesem Einwand vgl. die berühmte Luhmann/Habermas-Kontroverse, die sich allerdings noch weitgehend auf eine prä-autopoietische, primär an Fragen der Systemund Bestandserhaltung interessierte Version der Systemtheorie bezog, Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Frankfurt a.M. 1971.

Ideologiekritik der vernetzten Weltwirtschaft: Paradoxien der Arbeit I SABELL H ENSEL

Die Globalisierung der Gesellschaft ist gekennzeichnet durch dramatische Ungleichzeitigkeiten. Während die Wirtschaft losgelöst von den Fesseln der Nationalstaaten globale Strukturen ausbildet und festigt, zeichnet sich in den nichtökonomischen Funktionsbereichen ein anderes Bild. Systemstrukturen scheinen auf politische und insbesondere nationalstaatliche Mechanismen zur Stabilisierung der Funktionsautonomien angewiesen und sind, wo diese versagen, der grenzüberschreitend agierenden Wirtschaft schutzlos ausgeliefert. Die alte Rede von einem Primat der Wirtschaft erlangt im globalen Raum neue Realität. Entfesselte wirtschaftliche Dynamiken gefährden gesellschaftliche Autonomiebereiche, ohne dass sie rechtlich und politisch eingebettet werden könnten. Diese Entgrenzungsphänomene zeigen sich besonders deutlich daran, wie globale Wirtschaftsnetzwerke den Prozess der Arbeit vereinnahmen und in ihre Eigenstrukturen einbauen. Die Flexibilisierung der Arbeit und die Auflösung des „Normalarbeitsverhältnisses“ sind Folgen einer neuen Kommodifizierungsbewegung. Während die Kommodifizierungswelle der Industrialisierung noch – zumindest in Teilen – durch den Wohlfahrtsstaat aufgefangen werden konnte, ist die Dekommodifizierung der Arbeit im globalen Raum mit politischem Paternalismus allein nicht mehr zu erreichen. Gesellschaftliche Einbettungsstrukturen fehlen in der Weltgesellschaft. Arbeit wird ‚einseitig‘ von der Wirtschaft als Ware konsumiert. Dass Arbeit auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen eine zentrale Funktion hat, dass Arbeit sowohl für die Selbstkonstituierung von Individuen, als auch für die Systeme Familie, Bildung, Politik, Sport, ja gar Recht von entscheidender Bedeutung ist, bleibt bei dieser Fundamentalökonomisierung auf der Strecke.

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Was bedeutet das für ein transnationales Arbeitsrecht, das die gesellschaftlichen Funktionen der Arbeit gegen die totale Ökonomisierung durchsetzen muss? Vermag es eine Kritische Systemtheorie, für diese Herausforderung der transnationalen Konstellation normative Haltepunkte zu bieten? Um diese Frage zu beantworten, will ich zum einen das theoretische Potenzial einer Kritischen Systemtheorie ausloten und zum anderen einen Begriff der Arbeit entwickeln, der das Verhältnis Arbeit/Kapital so reformuliert, dass ein transnationales Arbeitsrecht ohne Staat/jenseits des Staates denkbar wird. Das Ziel ist, die Exzesse kapitalistischer Triebhaftigkeit und entfesselter Arbeitsverhältnisse rechtlich einzufangen und die Möglichkeiten unabhängiger Arbeit auszuloten. Das macht zunächst eine Kritik an transnationalen Netzwerken als Weltgesellschaftskritik nötig, die sowohl der polykontexturalen Einbettung der Arbeit Rechnung trägt, als auch die Frage beantwortet, wie die normativen Desiderate, gesellschaftliche Freiräume und Selbstbestimmungsrechte zu ermöglichen, in diesen pluralen Kontexten realisiert werden können.

1. I DEALISMUSKRITIK ‚ IM

EIGENTLICHEN

S INN ‘

Vor dem Hintergrund der sog. Netzwerkkultur erweist sich das Bild des „Normalarbeitsverhältnisses“ als unproduktive Ideologie. Die Rückwirkungen der Netzwerkentwicklung gefährden Gesellschaft und Menschen auf neuartige Weise. So setzen Wirtschaftsnetzwerke beispielsweise in der als Konzern organisierten Form ihre Organisations- und Vertrags-„Knoten“ auf der transnationalen Ebene unter strukturellen Anpassungs-, insbesondere Flexibilisierungsdruck und gefährden so die soziale Einbettung der Arbeitsverhältnisse als kleinste vertragliche und organisatorische Einheiten. Will man diesen Gefahren wirksam begegnen, muss man an dem Flexibilisierungsbedürfnis der globalen Netzwerke selbst ansetzen. Ausgehend von einer reflexiven Autonomie der Arbeit gilt es, insbesondere Phänomene der strukturellen ökonomischen Macht und Entfremdung zu thematisieren, um ein transnationales soziales Arbeitsrecht zu denken. Gerade für die Gewährleistung der gesellschaftlichen Responsivität bietet eine kritisch gewendete Form der Luhmannschen Systemtheorie bis dato ungenutztes Potenzial. Schon am Netzwerkbegriff wird die Doppelbewegung des Kritikreservoirs einer Kritischen Systemtheorie deutlich, wenn die Reformulierung des Netzwerkbegriffs mit einer Kritik am Netzwerkbegriff einhergeht. In dieser Doppelbewegung reflektiert Kritische Systemtheorie ihren Blick auf Gesellschaft und beobachtet sich selbst im Prozess der Evolution. Das führt einen Begriff von Wahrheit ein, der nicht subjektive Wahrheitsansprüche, sondern Ver-

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stehensmomente umschreibt.1 Damit läuft der blinde Fleck der theoretischen Beobachtungsleistung immer mit. Mit diesem reflexiven Wahrheitsbegriff kann man gesellschaftliche Normativitäten irritieren, gerade ohne selbst normativ zu sein. Mit dem Verzicht auf die Setzung idealer Vernunfts- und Herrschaftskategorien aus einer autoritativen Metaposition gibt eine solchermaßen kritisch gewendete Systemtheorie den Ideologievorwurf an die moralkonservativen Absender zurück.2 Dieses Kritikprogramm ähnelt einer Rechtskritik als Ideologiekritik im Marxschen Sinn, die über eine Aufdeckung der Differenz zwischen geltendem Recht und gesellschaftlichem Sein bzw. zwischen Rechtstheorie und Rechtspraxis hinausgeht und das Selbstverständnis des Rechts und seiner Theorie mit einbezieht.3 Die gesellschaftskritischen Fragestellungen werden auf die Theorie zurückgewendet, um „existierende Unwahrheiten“4 als festgefahrene Kategorien, Selbstverständnisse und Begriffe zu reflektieren. Dies betrifft im Kern das Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik. Dieses Verhältnis in den Blick nehmend, können wir zum einen über die nachträglichen, kompatiblen auf funktionale Selbstbeschreibung gerichteten Semantiken zu den Systemstrukturen vordringen5 und zum anderen das konstitutive Potenzial der Semantik für diese Systemstrukturen ausnutzen.6 Erst so ist es möglich, einseitige Determinierungen aufzubrechen, die diskursive Kraft über das soziale Leben gesellschaftlich, emanzipatorisch zurück zu gewinnen und dem sozialstrukturellen Anpassungsdruck auf die Semantik – zentral: die Semantik der Arbeit – insbesondere an die Bedürfnisse der Ökonomie entgegenzutreten.

1

Vgl. Luhmann, Niklas: „Die Praxis der Theorie“, in: ders. (Hg.), Soziologische Auf-

2

Zum gegenseitigen Ideologievorwurf, Jürgen Habermas/Niklas Luhmann (Hg.), Theo-

klärung 1, 8. Aufl., Wiesbaden 2009, S. 317. rie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie, Was leistet die Systemforschung?, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1974, insb. S. 144 f., 167 ff., 239 ff., 330 ff.; Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, 3. Aufl., Opladen 1987, S. 85. 3

Zur transzendenten Ideologiekritik des Rechts bei Marx siehe, Paul, Wolf: Marxistische Rechtstheorie als Kritik des Rechts, Frankfurt a.M. 1974, S. 122 ff. Werner Maihofer spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ideologiekritik im eigentlichen Sinn“, ders.: Ideologie und Recht, Frankfurt a.M. 1969, S. XVI.

4

Marx, Karl: Kritik der Hegelschen Staatsrechts, in: ders., MEW, Bd. 1, 16. Aufl., Ber-

5

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 883.

6

Stäheli, Urs: „Zum Verhältnis von Sozialstruktur und Semantik“, in: Soziale Systeme

lin 2006, S. 201 ff. (hier S. 230).

4 (1998), S. 315 ff.

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Ziel einer Kritischen Systemtheorie ist es dabei, den Blick darauf frei zu legen, dass über die semantische Fassung von Widersprüchen, Exklusionsereignissen, Ambivalenzen und Paradoxien Druck auf die Systemoperationen erzeugt werden kann, der diese dazu anregt, das „Nicht-Integrierbare“ im System kommunikabel zu machen.7 Der Aufbau und die Verschiebung von semantischen Netzwerken im Dreieck Recht-Theorie-Wirtschaft kann dann Komplexitätsadäquanz und Systemstruktur produzieren und einen Beitrag leisten, systeminternen Widerstand aufzubauen. Im Hinblick auf den Faktor Arbeit geht es dann konkret darum, Arbeit als widerständigen Gegenbegriff in die Selbstbeschreibungsformel Netzwerk einzubauen, um eine systemische Komplexitätsreduzierung zu Lasten der polykontexturalen Einbettung und der Responsivität der Arbeit zu verhindern. Die theoretische Reformulierung der Arbeit ist ‚nur‘ „normativ bedeutsame“8 Irritation, die einer Änderung der Selbstbeschreibungsformen der Netzwerke den Weg bereiten kann, indem sie systeminterne Sichtweisen unter Veränderungs- und Selbstreflexionsdruck setzt und mit sozialen Erwartungen konfrontiert.9 Hier werden die Wechselwirkungen zwischen Praxis und Theorie und die Doppelbewegungen von Dekonstruktion und Konstruktion sichtbar. Während die Beobachtungsleistungen einer klassischen Systemtheorie die Funktionslogiken von Recht und Wirtschaft offen legen, deckt die weitergehende Kritische Systemtheorie gesellschaftliche Interdependenzen und strukturelle Usurpationen auf. Das Marxsche Programm einer transzendenten normativen Kritik des Rechts im emanzipatorischen Sinn erhält so einen neuen Sinn. Das Programm einer Kritischen Systemtheorie lässt sich dann in fünf Schritte unterteilen: (I.) Gesellschaft als Sozialstruktur wird beobachtet und theoretisch reformuliert10 – „Emergenz von Netzwerken“ (hierzu 2.); (II.) Strukturwandlungsprozesse und ihre gesellschaftlichen Folgen werden analysiert – „Kritik am Netzwerk“ (hierzu 3.); (III.) Kritik an den Selbstbeschreibungs- und Transformationsmechanismen des Rechts wird möglich – „Arbeit als Rechtsproblem“ (hierzu 4.); (IV.) theoretische Reflexion kann daran anknüpfen und „normativ be-

7

Ebd., Kap. V.

8

Amstutz, Marc: „Der zweite Text. Für eine Kritische Systemtheorie“, in diesem Band,

9

U. Stäheli (Fn. 6), S. 337 f.

S. 365 ff. (hier S. 370 u. 388). 10 Zur Empirienähe, Teubner, Gunther: „Wie empirisch ist die Autopoiesis des Rechts?“, in: Renate Martinsen (Hg.), Das Auge der Wissenschaft. Zur Emergenz von Realität, Baden-Baden 1995, S. 137 ff. (hier S. 144); Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 360 f.

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deutsame“ Gegenpositionen formulieren – „Paradoxien der Arbeit“ (hierzu 5.); (V.) normative Anknüpfungspunkte können formuliert werden – „Konturen eines transnationalen sozialen Arbeitsrechts“ (hierzu 6.).

2. N ETZWERK ALS K RITIK : E MERGENZ VON N ETZWERKEN Die jüngere Systemtheorie interessiert sich insbesondere für soziale Netzwerkphänomene, die als Marktnetzwerke (wie Zuliefersysteme und Franchising), als Organisationsnetzwerke (wie Konzerne, Joint Ventures) oder auch als Verwaltungsnetzwerke auftauchen.11 Sie knüpft dazu an den Netzwerkansatz Niklas Luhmanns an, der Netzwerkanalysen als „System-System-Unterscheidungen“ für erforderlich hielt, um die neuen Phänomene theoretisch fassen zu können.12 Durch die Modifizierung eines Netzwerkbegriffs, den er für die Adaption von Maturanas Autopoiesis-Konzept von lebenden auf soziale Systeme zur Beschreibung ihrer Selbstreferenz gebraucht hatte,13 beschreibt und analysiert Luhmann mit der Netzwerkterminologie neuartige, hybride, symbiotische Abhängigkeitsverhältnisse über „soziales“ Kapital“ wie Vertrauen, persönliche Beziehungen, Koordination usw. zwischen in erster Linie wirtschaftlichen Organisationen.14 Netzwerkbildung ist für ihn also ein komplexitätsreduzierender Mechanismus der Flexibilität und Lernfähigkeit als Reaktion der Organisationen auf die zunehmenden Umweltturbulenzen und Unsicherheiten.15 Sie könnten sich

11 Ein Überblick über die allgemeine Netzwerkdebatte, Emden, Christian J.: „Netz“, in: Ralf Konersmann (Hg.), Wörterbuch der philosophischen Metaphern, Darmstadt 2007, S. 248 ff.; zur sozialwissenschaftlichen Debatte, Weyer, Johannes (Hg.), Soziale Netzwerke, München 2000. 12 Luhmann, Niklas: Funktionen und Folgen formaler Organisation, 4. Aufl., Berlin 1995, S. 403; ders. (Fn. 5), S. 312 ff., 846; Baecker, Dirk: Womit handeln Banken? Eine Untersuchung zur Risikoverarbeitung in der Wirtschaft, Frankfurt a.M. 1991, S. 177. 13 Maturana, Humberto/Varela, Francisco: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit, Braunschweig 1982, S.184 f. 14 Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheiden, 2. Aufl., Wiesbaden 2006, S. 407 ff.; Marc Granovetter benutzt an dieser Stelle den Begriff der „social embeddedness“, ders.: „Economic Action and Social Structure: The Problem of Embeddedness“, in: American Journal of Sociology 91 (1985), S. 481 ff. 15 N. Luhmann (Fn. 14), S. 409.

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auch zu eigenen sozialen Systemen verdichten, ohne den Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung aufzuheben.16 Diese teilweise noch metaphorisch bleibenden Ansätze bei Luhmann werden von der aktuellen systemtheoretischen Netzwerkforschung aufgegriffen und in verschiedene Richtungen weiterentwickelt.17 Im Vordergrund stehen hier in erster Linie Ansätze, die Netzwerke als emergente, neuartige Systeme beschreiben.18 Ausgehend von der Beobachtung neuer sozialer Phänomene der Koordination und Kooperation innerhalb der Wirtschaft werden Netzwerke als heterarchische Ordnungsmuster eigener Form thematisiert.19 Über diese herkömmlichen Theoriemodelle gehen Arbeiten hinaus, die im Rahmen einer soziologischen Jurisprudenz20 das Recht der transnationalen Netzwerke an die gesellschaftlichen Reflexionspraktiken koppeln möchten. So beschreibt Gunther Teubner in seiner rechtlichen Behandlung der Netzwerkphänomene Wirtschaftsnetzwerke als neuartige Systeme dritter Ordnung jenseits von Markt und Organisation, die sich durch einen re-entry der Unterscheidung Markt (Austausch) und Hierarchie (Kooperation) in sich selbst auszeichneten.

16 Ebd., S. 408. 17 So fasst bspw. Veronika Tacke Netzwerke als bloße organisationsinterne Prozesse, dies., „Netzwerk“ als Formel für die Selbstbeschreibung von Organisationen, Bielefeld 1995. Richard Münch hat dagegen schon früh auf grenzüberschreitende Kommunikation abgestellt, ders.: „Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme“, in: Berliner Journal für Soziologie 5 (1995), S. 5 ff. (hier S. 14 f.). 18 Dazu Teubner, Gunther: „Die vielköpfige Hydra, Netzwerke als kollektive Akteure höherer Ordnung“, in: Wolfgang Krohn/Günter Küppers (Hg.), Emergenz: Die Entstehung von Ordnung, Organisation und Bedeutung, Frankfurt a.M. 1992, S. 189 ff. (hier S. 190). Zu den empirischen Grundlagen Gunther Teubner (Hg.): Netzwerke als Vertragsverbund: Virtuelle Unternehmen, Franchising, Just in Time in sozialwissenschaftlicher und juristischer Sicht, Baden-Baden 2004. 19 Vgl. statt vieler Ladeur, Karl-Heinz/Vesting, Thomas: „Geistiges Eigentum im Netzwerk“, in: Martin Eifert/Wolfgang Hoffmann-Riem (Hg.), Innovationsrecht, Bd. I, Berlin 2008, S.123 ff. (hier S. 135 f.); Ladeur, Karl-Heinz: „Von der Verwaltungshierarchie zum administrativen Netzwerk“, in: Die Verwaltung 26 (1993), S. 137 ff.; Windeler, Arnold: Unternehmensnetzwerke: Konstitution und Strukturation, Wiesbaden 2001, insb. S. 39 ff., 200 ff. 20 Dazu Teubner, Gunther: „Coincidentia oppositorum: Das Recht der Netzwerke jenseits von Vertrag und Organisation“, in: Marc Amstutz (Hg.), Die vernetzte Wirtschaft, Zürich 2004, S. 11 ff. (hier S. 18 ff).; Gralf-Peter Calliess et al. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Festschrift für Gunther Teubner, Berlin 2009.

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Die daraus folgende Doppelkonstitution von Vertrag und Organisation mache eine Doppelorientierung von Handlungen notwendig: jede Handlung im Netzwerk müsse sowohl den normativen Anforderungen der Sozialbeziehungen zwischen den einzelnen Akteuren (vertragliche Bindung an Akteurmotive) als auch denen des Netzwerks (institutionelle Bindung an das Kollektiv) genügen.21 Netzwerke sind hier im Gegensatz zu interorganisationalen Ansätzen nicht bloß Steuerungsmechanismen zwischen Systemen bzw. Organisationen, sondern autopoietische Systeme, wenn sie diese Doppelorientierung in ihre Selbstbeschreibung und -operation aufnehmen.22 Teubner führt dazu einen an die Systemtheorie angepassten, differenzierten Begriff der Netzwerkemergenz ein.23 Die „selbstreferentiell-systemische Neugruppierung gegebenen Materials“ sei eine qualitative Autonomiesteigerung als evolutive, experimentelle Folge des Steuerungs-, Markt- und Organisationsversagens zur Bewältigung der Komplexitätssteigerung der globalen Gesellschaft.24 Die dezentrale Netzwerkorganisation ermögliche es, die Umweltbeobachtungen zu vervielfältigen und einen neuen Grad der Flexibilität und Effizienz zu erreichen.25 Durch die Koexistenz von Kollektiv- und Individualzwecken entwickle sich eine eigenständige Netzwerkdynamik, die nicht, und hier liegt der emergente Charakter begründet, durch Eigenschaften oder Relationen der beteiligten Elemente erklärt werden könne.26

21 G. Teubner (Fn. 20), S. 28. Zur eigenständigen Form der Netzwerke bereits Powell, Walter: „Neither Market nor Hierarchy: Network Forms of Organisation“, in: Research in Organizational Behavior 12 (1990), S. 295 ff. 22 Dazu G. Teubner (Fn. 18), Vertragsverbund, S. 43 ff., 94 ff. 23 G. Teubner (Fn. 18), Die vielköpfige Hydra, S. 190. Kritisch unter Verweis auf die Traditionen der Emergenztheorie Stephan, Achim: Emergenz: Von der Unvorhersehbarkeit zur Selbstorganisation, München 1999, S. 238 ff. Zu einem spezifischen Emergenzbegriff der Systemtheorie siehe Bütterlin, Veit: Das Modell sozialwissenschaftlicher Erklärung und das Emergenzproblem, Marburg 2006, S. 305 f. 24 G. Teubner (Fn. 18), Die vielköpfige Hydra, S. 192. 25 Teubner, Gunther: „‚So ich aber die Teufel durch Beelzebub austreibe, […]‘: Zur Diabolik des Netzwerkversagens“, in: Ino Augsberg (Hg.), Ungewissheit als Chance, Perspektiven eines produktiven Umgangs mit Unsicherheit im Rechtssystem, Tübingen 2009, S. 109 ff. (hier S. 110). 26 Ähnliche Emergenzerwägungen hinsichtlich neuer sozialer Phänomene schon bei Durkheim, Émile: „Individuelle und kollektive Vorstellungen“, in: ders. (Hg.), Soziologie und Philosophie (1898), Frankfurt a.M. 1967, S. 45 ff.; ähnlich auch Mill, John Stuart: A System of Logic, Ratiocinative and Inductive (1843), Collected Works, Bd. VII, VIII, Toronto 1974. Dazu näher auch Vanberg, Viktor: Die zwei Soziologien, In-

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3. K RITIK AM N ETZWERK – N ETZWERKVERSAGENS

DIE ANDERE

S EITE

DES

In einer idealen Beschreibung der Netzwerkkonstruktionen bleiben die Teilnehmerinnen und Teilnehmer trotz dieser neuartigen Kollektivorientierung autonom.27 Dabei läge angesichts der Asymmetrien in der Weltwirtschaft die Vermutung nahe, dass sich die Flexibilitäts- und Abhängigkeitssteigerung im Netzwerk auf die Selbstorganisation der Netzwerk-„Knoten“ auswirkt und damit deren Autonomie durch neue Dependenzen gefährdet. In der transnationalen Wirtschaft sind Auflösungs- und Zerfaserungsprozesse zu beobachten, die die interne Stabilisierungsfunktion der Knoten massiv in Frage stellen. An den Enden des Arbeitsverhältnisses lösen sich die Zurechnungsmöglichkeiten auf. Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gibt es in der postoperaistischen Gesellschaft im klassischen Sinn kaum noch. Und, auf der anderen Seite, wandeln sich Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber vom organisierten Betrieb in eingerichtete und ausgeübte Netzwerkhybride. Verantwortung für Rechtsverletzungen und Partizipationsversagen ist nur noch schwer attribuierbar. Die Eigenrationalitätsmaximierung der Wirtschaft führt zu einem Netzwerkversagen, das die gesellschaftlichen Voraussetzungen seiner selbst zu Nichte macht und damit gesellschaftliche Gefährdungen dramatischen Ausmaßes evoziert. a.

Die Überwindung des Mikro-Makro-Problems der Sozialwissenschaften

Eine kritische Netzwerkanalyse muss versuchen, diese soziale Dimension der Netzwerke in den Blick zu bekommen. Der Beschreibung von Netzwerken als „polykorporative Kollektive“ höherer Ordnung liegt die Idee eines sich verselbstständigenden Beziehungsgeflechts zugrunde. Damit überwindet die Systemtheorie das Mikro-Makro-Problem der Sozialwissenschaften.28 Über ihren Ordnungsbegriff kann sie die eigentümliche Bedingtheit zwischen niedrigen und höheren Ordnungen hinterfragen, ohne das Bild der Selbstreferenz aufgeben zu

dividualismus und Kollektivismus in der Sozialtheorie, Tübingen 1975, S. 157 ff.; siehe auch Bohnen, Alfred: „Die Systemtheorie und das Dogma von der Irreduzibilität des Sozialen“, in: Zeitschrift für Soziologie 23 (1994), S. 292 ff. 27 G. Teubner (Fn. 18), Die vielköpfige Hydra, S. 208. 28 Zu diesem Problem der Sozialwissenschaften Mayntz, Renate: Soziale Dynamik und politische Steuerung, Frankfurt a.M. 1997, S. 318 f.; zur Überwindung N. Luhmann (Fn. 14), S. 39.

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müssen. Das „Makroereignis“ Netzwerk wird nicht durch „Mikrohandlungen“ erzeugt und kann folglich auch nicht durch diese erklärt werden. Das Zusammenwirken selbst lässt sich nicht kausal fassen und auf Intentionen und Akteursmotive zurückführen ohne zwangsläufig eine reduktionistische, weil zufällige und einseitige Perspektive einnehmen zu müssen. Die Luhmannsche Systemtheorie macht hier stattdessen nicht-kausale Interdependenzbeziehungen zwischen den Ordnungsmustern zum Thema und beschreibt soziale Grenzbeziehungen als System/Umwelt-Unterscheidungen. Das macht sichtbar, wie die Gesellschaft auf Menschen, in der Umwelt der Systeme, zugreift und diese in die Vielzahl von sozialen Prozessen einzieht. Über die strukturelle Beobachtungsebene hinaus kann man so nach dem Zusammenhang von Systemzwang und Subjektivität fragen.29 Die Analyse dieser Prozesse zwingt die Theorie dazu, ihre Verwendung des Emergenzbegriffs als Erklärungsmodell gesellschaftlicher Phänomene zu konkretisieren. Die Differenzierung von Gesellschaft und menschlicher Umwelt wird dann zur Stärke der Theorie, wenn sie die polykontexturalen funktionalen Zugriffe und Usurpationen der Gesellschaft auf den Menschen identifizieren kann. Nicht der strengen Dialektik von Subjekt und Objekt folgend, setzt die Theorie auf einen kombinatorischen Gewinn, wenn sie diese Dichotomie in Korrelation mit den Systemstrukturen relativiert und auf die Unterscheidung System/Umwelt umstellt.30 In dieser neuen Unterscheidung läuft das Individuum zum einen im Operationsbegriff über die Rollen- und Schließungssemantik und zum anderen in der Differenz Gesellschaft/Interaktion ständig mit. Obwohl eine Identifikation des Individuums unmöglich ist, kann sich Systemtheorie so der Individualität hin öffnen und die Gleichursprünglichkeit individueller und gesellschaftlicher Autonomieräume begründen. Damit rückt die Frage nach den veränderten Grenzverhältnissen und nach der Gewalt gesellschaftlicher Strukturbildungsprozesse in den Vordergrund. Die Strukturdominanz und die eigene Normativität des Netzwerks beeinflussen nicht nur die Selbstbeschreibung der Elemente Organisation und Vertrag, sondern sie greifen über diese Mechanismen auch in die Sozialisationsprozesse der Individuen ein. Die These ist, dass die Netzwerkbildung Entgrenzungskräfte freisetzt, die den Inklusionsmechanismus von Organisation und Vertrag stören und damit die strukturelle Einbettung ihrer Umwelten bedrohen. Mit anderen Worten: Das klassische Normalarbeitsverhältnis mit seinen sozialen Schutzvorrichtungen

29 Dazu Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. (hier S. 14) mit Verweis auf die Parallele zur Frankfurter Schule. 30 Luhmann, Niklas: „Systemtheoretische Argumentationen“, in: Jürgen Habermas/ders. (Fn. 2), insb. S. 326 f.

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wird durch transnationale Netzwerkprozesse, auch auf der lokalen Ebene, untergraben. Der Status des Arbeitsverhältnisses und die daraus abgeleiteten Rechte existieren noch auf dem Papier, die Realität spiegelt das aber nicht wider. Die gelebte Arbeitsverfassung korrespondiert nicht mehr mit den Rechtstexten. Durch diese Entwicklung wird das in langwierigen Prozessen heraus gebildete und einigermaßen stabile Geflecht sozialer Beziehungen mit seinen sensiblen Grenzverhältnissen zu den natürlichen und menschlichen Umwelten in Gefahr gebracht. Netzwerke werden durch ihren Zugriff auf „Sozial- und Humankapital“ zum Störfaktor sozialer Prozesse, indem sie neue Unruhen und Unsicherheiten auslösen, neue Koordinations- und Abhängigkeitsbeziehungen begründen, beständige Kopplungsverhältnisse trennen, Risiken verlagern und Machtasymmetrien erzeugen.31 Die Dynamik von Wirtschaftsnetzwerken, wie bspw. von Konzernen aber auch von anderen Geschäftsmodellen wie Franchising oder Just-in-Time, erzwingt eine Anpassung der Organisations- und Personalstrukturen. Der Faktor Arbeit wird durch die Netzwerke strukturell korrumpiert und aus den gesellschaftlichen Verflechtungen gelöst. Das Netzwerkversagen wird zur Regel. Im Bereich der Arbeitsverhältnisse tritt der Strukturkonflikt als sozialer Konflikt besonders deutlich hervor. b.

Wandel des Normalarbeitsverhältnisses durch globale Netzwerkstrukturen

Der Strukturwandel der Wirtschaft wirkt macht- und marktförmig auf die organisatorisch-vertraglichen Kontexte der Arbeitsverhältnisse und setzt die traditionellen Formen der Beschäftigung unter Veränderungsdruck.32 Trotz der Doppelorientierung des Netzwerks auf das Kollektiv und die Individualzwecke der Netzwerkpartner, wandelt sich das individuelle Interesse der Netzwerkteilnehmer im Netzwerkgefüge. Neben eine Profitorientierung treten insbesondere eine ungehemmte Risikobereitschaft sowie eine Orientierung auf die Radikalisie-

31 Dazu G. Teubner (Fn. 25), S. 110. 32 Vgl. Senghaas-Knobloch, Eva: Wohin driftet die Arbeitswelt?, Wiesbaden 2008, S. 15 ff., 110 ff.; Rogowski, Ralf/Schmid, Günther: „Reflexive Deregulierung. Ein Ansatz zur Dynamisierung des Arbeitsmarkts“, in: WSI-Mitteilungen 50 (1997), S. 568 ff.; Castells, Manuel: The rise of the network society. The information age, Bd.1, Oxford 1996; Dietrich, Thomas: „Tarifautonomie: Altes Modell – neue Realität“, in: Kritische Justiz 41 (2008), S. 71 ff.

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rungsmöglichkeiten des Standortwettbewerbs. Die wirtschaftliche Entwicklung hat dramatische Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Zahlreiche soziologische Arbeiten bestätigen die Vermutung, dass durch die Netzwerkeinbindung der Betriebe neuartige Leistungs- und Flexibilisierungsanforderungen an die Arbeitsverhältnisse gestellt werden und dass dadurch neue Beschäftigungsrisiken und soziale Unsicherheiten entstehen.33 Neue Produktions- und Managementformen greifen rein marktförmig auf die Arbeitskraft zu. Die Betriebe als Netzwerkknoten sind dem oft arbeitsteilig organisierten Netzwerk in neuer Weise zur Produktivität verpflichtet (bspw. durch Auftrag, Zielvereinbarung, Lieferungstermine, Outsourcing, Rationalisierung), müssen flexibel auf die Umweltanforderungen reagieren können, offen für kurzfristige Veränderungen bleiben und etablierte Prozeduren und Problemlösungsstrategien an die Netzwerkdynamik anpassen. An Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer werden dadurch veränderte Erwartungen gestellt. Insbesondere lässt sich im globalen Wettbewerb ein Trend hin zur Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich Arbeitsort (Mobilisierung), -zeit (Arbeitskonten, Gleitzeit mit der Folge von Überstunden und ungewöhnlichen Arbeitszeiten), -steuerung (Flexiblerer Arbeitseinsatz durch Multiskilling, Jobrotation, Weiterbildung, dezentrale Verantwortlichkeiten), -form (Teilzeit, ‚Minijobs‘, neue Formen der Selbstständigkeit, befristete Arbeit, Mehrfacharbeit, Leiharbeit)34 und -entlohnung (Lohnkonkurrenz) erkennen. In aktuellen Debatten wird aufgrund dieser strukturellen wirtschaftlichen Entwicklungen die Erosion des „Normalarbeitsverhältnisses“ und der Bedeutungsverlust der Erwerbstätigkeit konstatiert. Normalarbeitsverhältnisse als normatives Leitbild werden herkömmlich definiert als dauerhafte, vertragliche, auf Vollzeit angelegte, weisungsgebundene und durch persönliche Abhängigkeit des Arbeitnehmers vom Arbeitgeber gekennzeichnete Arbeitsverhältnisse, die – so

33 Pfarr, Heide: „Soziale Sicherheit und Flexibilität: Brauchen wir ein ‚Neues Normalarbeitsverhältnis‘?“, in: WSI Mitteilungen 2 (2000), S.279 ff.; Willke, Gerhard: „Globalisierung und Wissensgesellschaft“, in: Michael Bröning/Peter Oesterdiekhoff (Hg.), Deutschland in der globalen Wissensgesellschaft, Gutachten der FES, Bonn 2004, S. 93 ff. (hier S. 116 ff.); Castel, Robert: Die Metamorphose der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit, Konstanz 2000. 34 Siehe die aktuellen Statistiken der OECD: Employment Outlook, Paris 2012, abrufbar unter: http://www.oecd.org/els/emp/oecdemploymentoutlook.htm# (Stand 20.03.2013); European Labour Force Survey, Eurostat-Daten 1983-2010, abrufbar unter: http://epp. eurostat.ec.europa.eu/portal/page/portal/employment_unemployment_lfs/data/main_ tables (Stand 20.03.2013).

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zumindest das Ideal – durch ein tarifvertraglich festgesetztes und existenzsicherndes Entgelt mit Sozialversicherungspflicht entlohnt wurden und durch Teilhaberechte abgesichert waren.35 Dieser Definition ist aber in der transnationalen Konstellation das soziale Substrat abhanden gekommen. Atypische, prekäre Beschäftigungsverhältnisse als Abweichung von der formellen Norm entwickeln sich de facto zu den neuen „Normal“-Arbeitsverhältnissen.36 Wie sich insbesondere an den neuen Teilzeit- und Befristungsformen, der Leiharbeit, der Figur des „Neuen Selbstständigen“ als sog. Arbeitskraftunternehmer/in, die/der die Arbeitskraft selbst managt,37 oder an der verstärkten Einbindung von sog. „freelancern“38 zeigt, verändert sich die Form der Arbeitsleistungserbringung. Der Zugriff auf die Arbeit verläuft zunehmend ergebnis- und marktorientiert. Es lässt sich eine Vielfalt von atypischen Beschäftigungsformen ausmachen, die sich aus räumlichen und organisationsrechtlichen Strukturen lösen. Hier bilden sich neue Managementstrukturen und indirekte Formen der Kontrolle ab, die zu neuem Leistungsdruck und zu einer Verlagerung der Verantwortung und des Risikos auf die Beschäftigten führen.39 Der Betrieb ist nicht länger der primäre Beschäftigungsrahmen. Vielmehr verlangt die Wirtschaft immer stärker nach mobilen, zeitlich flexiblen und kooperativen Arbeitskräften. Insbesondere die auf arbeitsteilige, nachfragegebundene Bereitstellung von innovativen Dienstleistungen und Produkten gerichteten wirtschaftlichen Netzwerke fordern diese Ent-

35 Vgl. Dombois, Rainer: „Der schwierige Abschied vom Normalarbeitsverhältnis“, in: Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.), Politik und Zeitgeschichte, Beilage, Bd. 37, Bonn 1999, S. 13 ff. (hier S. 13); Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung: Die Finanzkrise meistern – Wachstum stärken, Jahresgutachten 2008/09, Paderborn 2008, S. 301 ff.; Bosch, Gerhard: „Towards a new standard employment relationship in Western Europe“, in: British Journal of Industrial Relations 42 (2004), S. 617 ff. 36 Zur Debatte des Prekariats in den Sozialwissenschaften Janowitz, Klaus: „Prekarisierung“, in: Sozialwissenschaften und Berufspraxis 29 (2006), S. 335 ff. 37 Pongratz, Hans/Voß, Günter:, „Vom Arbeitnehmer zum Arbeitskraftunternehmer – Zur Entgrenzung der Ware Arbeitskraft“, in: Heiner Minssen (Hg.), Begrenzte Entgrenzungen, Berlin 2000, S. 225 ff.; Gerst, Detlef: „Wandel betrieblicher Kontrollpraktiken im Lichte einer poststrukturalistischen Machtanalytik“, in: SOFI-Mitteilungen 30 (2002), S. 91 ff. (hier S. 92). 38 Vgl. Fraser, Nancy: „Soziale Gerechtigkeit in der Wissensgesellschaft: Umverteilung, soziale Anerkennung und Teilhabe“, in: Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.), Gut zu Wissen, Münster 2002, S. 50 ff. 39 Vgl. zu diesen neuen Machtverhältnissen D. Gerst (Fn. 37).

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wicklung heraus. Sie sind begleitet von neuen Asymmetrien der Beschäftigungsverhältnisse, die soziale Ungleichheiten und Unsicherheiten mit sich bringen. Einkommensungleichheiten innerhalb der Netzwerke, Lohnkonkurrenz, unterschiedliche Beschäftigungsbedingungen, ein Wettbewerb der Arbeit, nur kurzfristige Bindungen und damit Planungsunsicherheit für die Beschäftigten und oftmals die Entkopplung von sozialen Lebensverhältnissen sind nur einige Aspekte dieser neuen Arbeitsmarktsituation.

4. A RBEIT ALS R ECHTSPROBLEM : E NTGRENZUNGSPHÄNOMENE Der durch die Netzwerkdynamik erzeugte Veränderungsdruck auf die vernetzten Einheiten führt zu einer Entfesselung des entgrenzten warenförmigen Zugriffs auf die Arbeitskraft. Zugleich wird die Einbettung in steuerungspolitische, vertragliche und organisatorische Strukturen aufgelöst. Alternative Strukturen entwickeln sich nur sehr langsam oder gar nicht. a.

Grenzen aktiver Arbeitsmarktpolitik

Während der nationale Gesetzgeber früh die Schutzbedürftigkeit der strukturell unterlegenen Arbeitnehmerschaft durch die Gestaltung des Rahmens der Vertragsfreiheit der Parteien des Arbeitsverhältnisses in Form von aktiven politischen Korrekturen und Präventionen auszugleichen versucht hat,40 versagen die dekommodifizierenden Steuerungsmechanismen der Nationalstaaten in transnationalen und prekären Arbeitsbeziehungen:41 (1) Der institutionelle Schutz der

40 Vgl. Simitis, Spiros: Arbeitsrecht – Unwägbarkeiten und Dilemmata, Frankfurt a.M. 2005, S. 271 ff. 41 Dazu Kocher, Eva: „Diskontinuität von Erwerbsbiografien und das Normalarbeitsrecht – Der Umgang mit Unsicherheiten“, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht 15 (2010), S. 841 ff.; Keller, Berndt/Seifert, Hartmut: „Atypische Beschäftigungsverhältnisse“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 27 (2009), S. 40 ff.; Brehmer, Wolfram/ Seifert, Hartmut: „Sind atypische Beschäftigungsverhältnisse prekär? Eine empirische Analyse sozialer Risiken“, in: Zeitschrift für ArbeitsmarktForschung 4 (2008), S. 501 ff.; Dietz, Martin/Walwei, Ulrich: „Beschäftigungswirkungen des Wandels der Erwerbsformen“, in: WSI Mitteilungen 5 (2006), S. 278 ff.; Joerges, Christian/Rödl, Florian: „Formalized Law and the ‚Social Deficit‘ of European Integration: Reflecti-

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Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Tarifvertrag, Arbeitnehmervertretung und die sog. Solidarnormen42 wird vakant.43 (2) Die an dem Leitbild des Normalarbeitsverhältnisses ausgerichteten nationalen Arbeits(-schutz-)rechte können die globalen Sachverhalte nicht hinreichend erfassen.44 Die vielerorts vernehmbaren Re-Regulierungsrufe, die eine Anpassung des Leitbildes der Arbeitnehmerin und des Arbeitnehmers an diese neuen Unsicherheiten um das Arbeitsverhältnis einfordern, scheitern bereits an dem Versuch, den Arbeitsbegriff umfassend zu definieren.45 (3) Die wohlfahrtsstaatlichen Sicherungssysteme sind zum einen regelmäßig an nationale Grenzen gebunden und zum anderen nicht auf die neuen Beschäftigungsformen ausgerichtet.46 Konzipiert zur Wiedereinbettung der expandierenden industriellen Arbeit in ein System der Solidarität sind die Sozialversicherungsleistungen in erster Linie an die vorherige Beitragszahlung gekoppelt und setzen damit lückenlose Vollzeitarbeit voraus. Die nationalen politischen Institutionen können den transnationalen Flexibilisierungsdynamiken nichts entgegen setzen. Und im globalen Raum fehlt es an einer politischen Rahmung, die (Regulierungs-)Druck auf die Wirtschaft aufbauen könnte. Im Gegenteil kündigte bspw. die Lissabon-Strategie für Wirtschaft und Beschäftigung des Europäischen Rates die Herstellung eines europäischen Wirtschaftsraumes durch eine Kombination aus Flexibilität und Sicherheit an.47 Und weiter wird in einer Mitteilung zur Lissabon-Strategie die Anpassungsfä-

ons after the Judgements of the ECJ in Viking and Laval“, in: European Law Journal 15 (2009), S. 155 ff. 42 Sinzheimer, Hugo: Der korporative Arbeitsnormenvertrag, 2. Aufl., Berlin 1977, S. 52. 43 Dazu T. Dietrich (Fn. 25); Müller, Torsten/Platzer, Hans-Wolfgang/Rüb, Stefan: „Globalisierung und gewerkschaftliche Internationalisierung – Zur Politik der Global Union Federations“, in: WSI-Mitteilungen 11 (2003), S. 666 ff. Zu einem für die nationalen Gewerkschaften schwierigen Handlungskontext auch Fichter, Michael/Gester, Jochen/Zeuner, Bodo: „Zukunft der Gewerkschaften“, Arbeitspapier der HansBöckler-Stiftung 44 (2001), S. 113 ff.; Glucksmann, Miriam: „Shifting Boundaries and Interconnections: Extending the ‚Total Social Organisation of Labour‘“, in: Jane Parry et al. (Hg.), A New Sociology of Work?, Malden 2005, S. 19 ff. 44 Rebhahn, Robert: „Der Schutz gegen Kündigungen in den EU-Staaten“, in: ZfA (2003), S. 163 ff. 45 Dazu eingehend Baecker, Dirk: „Die gesellschaftliche Form der Arbeit“, in: ders. (Hg.), Archäologie der Arbeit, Berlin 2002, S. 203 ff. 46 Vgl. H. Pfarr (Fn. 33), S. 282. 47 Europäischer Rat, Lissabon 2000, abrufbar unter: http://www.europarl.europa.eu/ summits/lis1_de.htm (Stand 20.03.2013).

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higkeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an den flexiblen Arbeitsmarkt eingefordert.48 Erst das Folgeprogramm der EU „Europa 2020“ verspricht eine ‚intelligente‘ Regulierung sich wandelnder Beschäftigungsmuster, gibt diese Aufgabe aber zum größten Teil an die Mitgliedstaaten ab und verkennt damit den transnationalen Charakter des Themas und die begrenzten Regelungsmöglichkeiten der Nationalstaaten.49 b.

Auflösung vertraglicher und organisatorischer Strukturen: Das Beispiel transnationaler Unternehmen

Am Beispiel der transnationalen Unternehmen, die exemplarisch für die grenzüberschreitende Vernetzung stehen, wird deutlich, wie diese die Verantwortung für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer externalisieren. Während sich ein Konzerngesellschaftsrecht in Form von Gläubiger- und Gesellschafterschutz parallel zur Vernetzungsdynamik herausgebildet hat, mangelt es trotz des wachsenden Zugriffs auf atypische Beschäftigungsformen und neuer Gefährdungslagen an der Ausgestaltung eines transnationalen Konzernarbeitsrechts. Der Arbeitsschutz verharrt mit Zustimmung der nationalen Rechtsprechung in seinem Betriebs- und Unternehmensbezug.50 Die Transnationalisierung der Arbeitsbeziehungen findet im Recht keine Entsprechung. Das Beschäftigungsrisiko wird auf die Beschäftigten abgewälzt.

48 Vgl. dazu Punkt 3.4.2 der Mitteilung für die Frühjahrstagung des Europäischen Rates: Steigerung der Anpassungsfähigkeit von Erwerbstätigen und Unternehmen sowie der Flexibilität der Arbeitsmärkte, Brüssel 2005, abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/ smartapi/cgi/sga_doc?smartapi!celexplus!prod!DocNumber&type_doc=COMfinal& an_doc=2005&nu_doc=24&lg=de (Stand 20.03.2013). 49 Mitteilung der Kommission, Europa 2020. Eine Strategie für intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum, Brüssel 2010, abrufbar unter: http://eur-lex.europa. eu/Lex UriServ/LexUriServ.do?uri=CELEX:52010DC2020:de:NOT (Stand 20.03.2013). Vgl. zum Normbestand einer europäischen Arbeitsverfassung, Rödl, Florian: „Arbeitsverfassung“, in: Armin v. Bogdandy/Jürgen Bast (Hg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2. Aufl., Berlin/Heidelberg 2009, S. 855 ff. 50 Vgl. bspw. BAG, Urt. v. 23.04.2008, Az. 2 AZR 1110/06, Rdn. 23: „Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats ist das Kündigungsschutzgesetz nicht konzernbezogen. Der Arbeitgeber ist vor Ausspruch einer betriebsbedingten Kündigung grundsätzlich nicht verpflichtet, den Arbeitnehmer in einem anderen Betrieb eines anderen Unternehmens unterzubringen.“

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Mit der Netzwerkdynamik gehen Entgrenzungsphänomene einher, die zu einer Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital führen. Das Arbeitsverhältnis verliert seine individualschützende Basis durch den Arbeitsvertrag, wenn die Arbeitgebereigenschaft verschwimmt. Diese Problematik zeigt sich zum einen bei konzernweitem Arbeitseinsatz, da dann aufgrund der tatsächlichen Beschäftigung dogmatisch unklar ist, ob der Konzern oder das einzelne Unternehmen Vertragspartner wird oder bleibt.51 Ähnlich vakant wird der vertragliche Schutz auch bei dem Rückriff auf Leih- oder Zeitarbeit. Nach der deutschen Konstruktion des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes bleibt der entleihende Betrieb bzw. die Zeitarbeitsfirma Arbeitgeber. Leiharbeiterinnen und Leiharbeiter sind danach arbeitsvertraglich Beschäftigte des Einsatzbetriebes also des Verleihers, betriebsverfassungsrechtlich, beschäftigungspolitisch und weisungstechnisch haben sie jedoch zwei Arbeitgeber. Die vertragliche Unsicherheit und instabile Organisationsmitgliedschaft wird durch institutionelle Probleme noch verstärkt. Sowohl auf nationaler Ebene als auch auf globaler Ebene erweist es sich als schwierig, die neuen prekären Beschäftigungsformen in die betriebliche und überbetriebliche Organisation der Interessenvertretung einzubeziehen. Während sich die Diskussionen in Deutschland in erster Linie auf die Fragen beschränken, in welchen Betrieben Mitbestimmungsrechte bestehen müssen (Entleiherbetrieb oder Leihbetrieb) und wie die prekär Beschäftigten nach dem equal-pay-Grundsatz in die Tarifpolitik einbezogen werden sollten, verschärft sich die Lage im globalen Raum. Auch hier offenbart die Netzwerkanalyse, dass im Gegensatz zur wirtschaftlichen Strukturentwicklung die Einbindung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und der rechtliche Ausgleich der Interessenvielfalt prekär bleiben. Zwar gibt es Ansätze globaler Gewerkschaftspolitik und auch die betriebliche Interessenvertretung wird in der Normierung der Europäischen Betriebsräte und sog. Konzern- oder Gesamtbetriebsräte fokussiert, Realität und Zahlen sehen aber anders aus.52 Insbesondere lässt sich ein Trend zur Verbetrieblichung durch ständige Tarifkorrektur, Öffnungsklauseln für betriebliche Abweichungen, Härteklauseln und Arbeitszeitkorridore feststellen,53 der die alte Frage der Durchset-

51 Vgl. bspw. Eser, Gisbert: Das Arbeitsverhältnis in Multinationalen Unternehmen, Heidelberg 1996, S. 34 ff. 52 Zum Ausnahmefall von Rahmenvereinbarungen zwischen transnationalen Konzernen und internationalen Gewerkschaften, Reneé-Claude Drouin: „Promoting Fundamental Labor Rights Through International Framework Agreements. Practical Outcomes ans Present Challenges“, in: Comparative Labor Law & Policy Journal 31 (2010), S. 591 ff. 53 R. Dombois (Fn. 35), S. 17.

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zungskraft der Betriebsräte wieder aufwirft. Dies ist insbesondere auf drei Faktoren zurückzuführen: (1) In tatsächlicher Hinsicht steht die Formierung von grenzübergreifenden Gewerkschaften, die in die Gestaltung der Arbeitsbeziehungen eingreifen könnten, noch am Anfang ihrer Entwicklung. (2) Der Einbeziehung der Interessen der prekär Beschäftigten stehen nicht nur rechtliche, sondern auch faktische Schwierigkeiten entgegen. (3) Die zunehmende Kollision verschiedener Arbeitnehmerinteressen fordert das Selbstverständnis der Gewerkschaftspolitik heraus.

5. P ARADOXIEN DER A RBEIT : T HEOERETISCHE V ERSCHIEBUNGEN Das Scheitern traditioneller Steuerungsinstrumente zur Absicherung eines sozialen Begriffs der Arbeit bedeutet das Ende der fordistischen Idee der Umverteilung und zugleich die Entfesselung marktorientierter Regelungstechniken. Die in nationalen Zusammenhängen erkämpfte plurale und soziale Definition der Arbeit wird global einseitig ersetzt: durch die nicht-responsive Wirtschaftssemantik der Warenform. Arbeiterinnen und Arbeitnehmer werden zu Unternehmern ihrer eigenen Arbeitskraft.54 Damit greift der Kapitalismus in seinen krisenhaften Formen immer offener und unmittelbarer auf den Menschen als ‚Humankapital‘ zu, indem er dessen Einbettung in den Schutzbereich der Organisationen und der politischen Regulierung und Sicherung aufweicht und ihn direkt in seine Marktkreise zieht.55 Das Knappheitsregime der Wirtschaft vermittelt durch den symbiotischen Mechanismus der menschlichen Bedürfnisse56 wird auf den Arbeitsmarkt ausgeweitet und erhöht den wirtschaftlichen Druck. Mit Foucault gesprochen: die Beschäftigten internalisieren durch das eigene Selbstverständnis die Zwangsmittel der Macht und werden damit zum Mittel ihrer eigenen Unterwer-

54 Vgl. zu diesem Begriff des homo oeconomicus Foucault, Michel: Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität 2, Frankfurt a.M. 2004, S. 314; Bröckling, Ulrich: Das unternehmerische Selbst. Soziologie einer neuen Subjektivierungsform, Frankfurt a.M. 2007. 55 Siehe bereits die Kritik bei Bowles, Samuel/Gintis, Herbert: „The Problem with Human Capital Theory – A Marxian Critique“, in: American Economic Review 65 (1975), S. 74 ff. 56 Dazu N. Luhmann (Fn. 5), S. 202 ff., 379 f.

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fung.57 Polanyis Forderung einer Gegenbewegung der Dekommodifizierung im Sinne einer Ablösung der Arbeit aus den Marktstrukturen und einer Rückbindung an ihre sozialen Grundlagen scheint aktueller denn je, doch wie ist sie ohne Politik denkbar?58 Soziologische Großtheorien sind hier merkwürdig zurückhaltend. Weder Niklas Luhmann noch Jürgen Habermas haben dem Faktor Arbeit einen zentralen Stellenwert in ihren Gesellschaftstheorien eingeräumt. Luhmann sieht in der Unterscheidung von Arbeit/Kapital gar eine „semantische Fehlsteuerung“, die den Prozess der gesellschaftlichen Ausdifferenzierung nicht mehr hinreichend abbilde, und ersetzt den Begriff der Arbeit durch Organisation.59 Und Habermas stellt ausgehend von einem nahen Ende der Arbeitsgesellschaft die Entkopplung von System und Lebenswelt in den Fokus.60 Wenn aber die wohlfahrtsstaatliche und organisationsrechtliche Einbettung der neuen transnationalen Arbeitsbeziehungen ausfällt,61 ist es zentral und für eine kritisch gewendete Systemtheorie zwingend, den Begriff der Arbeit in seiner paradoxen und polykontexturalen Form wieder in die Theorie einzuführen. In Anlehnung an das Anliegen Hugo Sinzheimers, die dogmatisch-juristische Behandlung der Arbeitsrechtswissenschaften in die rechtssoziologische Methode zurückzuführen, muss das Problem der Arbeit als ein gesellschaftliches Phänomen aufgefasst werden, welches in besonderem Maße Ausdruck antagonistischer gesellschaftlicher Kräfte ist und auf diese wieder zurückwirkt und daher nur von dort zu erfassen ist.62 Der Blick geht dann auf die zahlreichen Ambivalenzen,

57 Für eine solche Machtanalyse insbesondere Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, 1977 (1975), Frankfurt a.M., S. 260. 58 Polanyi, Karl: The Great Transformation (1944), Frankfurt a.M. 1978, S. 88 f., 108 ff. 59 Luhmann, Niklas: Die Wirtschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1988, S. 171; ders. (Fn. 5), S. 1057; ders. (Fn. 14), S. 468. 60 Habermas, Jürgen: „Entgegnung“, in: Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.), Kommunikatives Handeln, Frankfurt a.M. 1986, S. 327 ff. (hier S. 367); ders.: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a.M. 1985, S. 99. 61 Anders, aber den Selbstständigkeitsaspekt außer Acht lassend, Bommes, Michael/ Tacke, Veronika: „Arbeit als Inklusionsmedium moderner Organisationen. Eine differenzierungstheoretische Perspektive“, in: dies. (Hg.), Organisation und gesellschaftliche Entscheidung, Wiesbaden 2001, S. 61 ff. 62 Sinzheimer, Hugo: „Über soziologische und dogmatische Methode in der Arbeitsrechtswissenschaft (1922)“, in: ders., Gesammelte Aufsätze und Reden, hrsg. v. Otto Kahn-Freund/Thilo Ramm, Bd. 2, Frankfurt a.M./Köln 1976, S. 33 ff.; ders.: „Ein Rechtssystem der Arbeit“, in: Archiv für bürgerliches Recht (1910), S. 291 ff.

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Differenzen und die Dialektik von menschlicher Bestimmung und Bestimmtheit,63 die in dem Begriff der Arbeit selbst zum Tragen kommen.64 Niklas Luhmann spricht von dem „problematischen Verhältnis der Arbeit zur Codierung wirtschaftlicher Operationen.“65 So ist Arbeit in der kapitalistischen Wirtschaft auf der einen Seite notwendig von der Wirtschaft und dem Geldfluss abhängig. Die Erwerbsgesellschaft ist trotz der neuen Selbstständigkeitsformen noch nicht in eine Tätigkeitsgesellschaft übergegangen, weil Erwerb immer noch Hauptmotiv der Arbeitsbeziehung bleibt und der Flexibilisierungsdruck der Wirtschaft gerade nicht Autonomie sondern neue Abhängigkeiten schafft.66 Auf der anderen Seite trägt Arbeit in großem Maße zur Selbstverwirklichung der Individuen bei und soll freie Selbstentfaltung ermöglichen, also unabhängig machen. Arbeit ist dann kein rein wirtschaftlicher Prozess, sondern markiert zum einen die Grenzverhältnisse System/Umwelt, nämlich zwischen dem Funktionssystem Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Funktionsbereichen,67 wenn die Wechsel- und Rückwirkungen mit und auf andere gesellschaftliche Teilbereiche wie Familie, Bildung, Gesundheitssystem und auch Politik und damit die polykontexturale Determiniertheit der Arbeit relevant werden. Und zum anderen leuchtet im Arbeitsbegriff das Grenzverhältnis Gesellschaft/Mensch auf, wenn es um die Autonomie des Individuums und menschenwürdige, existenzsichernde Arbeit geht. So verstanden wird die Dimension des sozialen Konflikts, der gesellschaftliche Realwiderspruch, die Kollision, deutlich. Der Konflikt ist dann nicht, so kann man mit Hugo Sinzheimer sagen,68 mit dem Freiheitsparadigma des Bürgerlichen Rechts zu lösen. Die Formel Privatautonomie vs. Privatautonomie grif-

63 Sinzheimer, Hugo: „Das Transformationsproblem in der Soziologie des Rechts (1938)“, in: ders., Gesammelte Aufsätze und Reden, hrsg. v. Otto Kahn-Freund/Thilo Ramm, Bd. 2, Frankfurt a.M./Köln 1976, S. 207 ff. 64 Vgl. bspw. S. Simitis (Fn. 40), S. 312 f. 65 Vgl. N. Luhmann (Fn. 59), Wirtschaft, S. 210. 66 So Beck, Ulrich: „Kapitalismus ohne Arbeit“, in: Der Spiegel 20 (13.5.1996), S. 140 ff.; Mutz, Gerhard: „Zukunft der Arbeit. Chancen für eine Tätigkeitsgesellschaft?“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 48/49 (1997), S. 31 ff. 67 Von einem Dreieck von „Markt/Betrieb – Familie/Haushalt – Öffentlichkeit/Staat“ sprechen Kocka, Jürgen/Offe, Claus: Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a.M. 2000, S. 12. 68 Sinzheimer, Hugo: „Die Krise des Arbeitsrechts (1933)“, in: ders., Gesammelte Aufsätze und Reden, hrsg. v. Otto Kahn-Freund/Thilo Ramm, Bd. 1, Frankfurt a.M./Köln 1976, S. 135 ff. (hier S. 139 ff.).

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fe zu kurz. Dies würde die strukturellen Ungleichgewichte und wirtschaftlichen Usurpationsdynamiken sowie die davon ausgehenden dramatischen Inklusions-/ Exklusionsdynamiken verkennen. Denn Arbeit ist eine Bedingung sozialer Inklusion. In dieser inkludierenden Funktion läuft eine dauerhafte Exklusionsgefahr mit, die im globalen Raum, in dem Sicherungs- oder Ausgleichsmechanismen ausfallen, Totalexklusion aus der Gesellschaft bedeuten kann. Wenn der Flexibilisierungsdruck zum bedrohlichen Exklusionsdruck wird, erscheint der „freie Arbeitsvertrag“ als Illusion. Arbeit stellt hingegen eine soziale Institution dar, die durch Abhängigkeit und Unabhängigkeit, Unterwerfung und Emanzipation, Warenform- und Lebensformcharakter zugleich geprägt ist. Nicht die Überwindung der abhängigen Arbeit, wie es Postoperaisten bisweilen im Sinn haben,69 sondern die Einforderung „unabhängiger Abhängigkeiten“70 im Sinne Rudolf Wiethölters ist darum die adäquate Reaktion. Für eine Reformulierung der Arbeit in der Theorie scheint es daher sinnvoll, die Unterscheidung von Kapital und Arbeit in veränderter Form wieder aufzugreifen. Während Niklas Luhmann diese an die Produktionsprozesse der industriellen Revolution angelehnte Unterscheidung noch für eine semantische und im Wohlfahrtsstaat nicht mehr zeitgemäße Fehlstellung hielt, die zu einer sozialen Blockierung führe,71 wird die Unterscheidung nun in neuem Gewand als Strukturproblem wieder relevant. Dem Begriff der Arbeit steht konkret die Dynamik der Netzwerkstrukturen gegenüber. Die Netzwerkentwicklung zeigt, dass Arbeit nicht ausreichend als Phänomen und (Inklusions-) Problem von Organisationen erfasst werden kann.72 Vielmehr wird Arbeit in modernen Gesellschaften durch strukturelle Dynamiken usurpiert, die zu konfliktträchtigen Asymmetrien führen, die nicht mehr alleine auf Organisationen zurückzuführen sind und auch von diesen aufgrund der nur noch losen Kopplung nicht mehr aufgefangen werden können. Arbeit ist dann nicht bloß Medium der Organisation, sondern ist Ausdruck der Sozialstruktur einer Gesellschaft.

69 Vgl. bspw. Hardt, Michael/Negri, Antonio, Commonwealth, Cambridge/MA 2009. 70 Wiethölter, Rudolf: „Recht-Fertugungen eines Gesellschafts-Rechts“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 13 ff. 71 N. Luhmann (Fn. 59), Wirtschaft, S. 164 ff., 170 f. 72 Zur Organisationsproblematik Mayrhofer, Wolfgang/Meyer, Michael: „‚No More Shall We Part?‘ Neue Selbstständige und neue Formen der Kopplung zwischen Organisation und ihrem Personal“, in: Zeitschrift für Personalforschung 16 (2002), S. 599 ff. Allgemein Willke, Helmut: „Beobachtung, Beratung und Steuerung von Organisationen in systemtheoretischer Sicht“, in: Rudolf Wimmer (Hg.), Organisationsberatung, Wiesbaden 1992, S. 17 ff.

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Durch diese geschichtlich verwurzelte gesamtgesellschaftliche und existentielle Funktion der Arbeit muss das Verhältnis Arbeit und Kapital neu bestimmt werden.73 Wenn Arbeit zum einen nicht mehr ausschließlich als Karriere des Individuums in der ökonomischen Gesellschaft zu begreifen ist und einen Mehrwert gegenüber ihrer Warenform aufweist und zum anderen ein gemeinsames Interesse von Arbeit und Kapital anzunehmen ist, kann sie nicht länger als Parasit der wirtschaftlichen Knappheitscodierung Haben/Nichthaben beschrieben werden.74 Der Bedarf für Arbeit steht nicht mehr vornehmlich unter der Prämisse Eigentum: Arbeit ist längst Teil der individuellen Lebensgestaltung, der Selbstverwirklichung und eines Selbsterhaltungstriebes.75 Zwar behält die Arbeit ihren Geldnexus, zu ihm gesellt sich aber die gesamtgesellschaftliche Funktion der Arbeit. Über ihre Erfolgschancen entscheidet maßgeblich der Grad der sozialen Einbettung der Wirtschaft in die Gesellschaft. Dem Arbeitsbedarf der Wirtschaft steht ein gesellschaftlicher Anspruch auf Arbeit gegenüber. Es gilt also, neue theoretische Differenzierungen zu suchen, die die aufgezeigten Grenzverhältnisse und die paradoxale Struktur der Arbeit abbilden können. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit löst sich dann in verschiedene System- und System/Umweltunterscheidungen wie bspw. Arbeit/Nichtarbeit oder Warenform/Lebensform auf, bei denen gerade nicht die Arbeit sondern das Kapital eine parasitäre Funktion einnimmt.76 Solche Differenzierungen rücken die Bedeutung der Arbeit für die Familie, das Gesundheitssystem, das Erziehungs- und Bildungssystem, die Wissenschaft, für die Selbstbestimmung und schließlich auch für die Wirtschaft ins Zentrum eines gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriffs der Arbeit. Die existentielle Bedeutung der Arbeit für alle gesellschaftlichen Sphären wird erst in dieser Perspektive funktionaler Ausdifferenzierung sichtbar.

73 Zur Geschichte der Arbeit D. Baecker (Fn. 45); Kocka, Jürgen/Offe, Claus: Geschichte und Zukunft der Arbeit, Frankfurt a.M. 2000. 74 So noch im Vertrauen auf den Wohlfahrtsstaat, N. Luhmann (Fn. 59), Wirtschaft, S. 212. 75 So etwa Hannah Arendt über die „notwendige Mühsal“, dies.: Vita activa oder Vom tätigen Leben, München 2002, S. 211. 76 N. Luhmann (Fn. 59), Wirtschaft, S. 166.

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6. A USBLICK

AUF DIE K ONTUREN EINES TRANSNATIONALEN SOZIALEN A RBEITSRECHTS : E RMÖGLICHUNG WIDERSTÄNDIGER S EMANTIKEN

Ein solcher paradoxer, nicht einheitlich und einseitig bestimmbarer, sondern die polykontexturale Einbettung widerspiegelnder Begriff der Arbeit hätte sich widerständig in das transnationale Verhältnis von Recht und Wirtschaft einzuschreiben. Gelänge die rechtliche Transformation dieser Widerständigkeiten, bestünde Hoffnung auf einen gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriff der Arbeit,77 der zugleich ein Recht auf menschenwürdige Arbeit, selbstbestimmte Arbeit, warenförmige Arbeit und inkludierende Arbeit umfassen würde. Dazu müsste das Recht einen Konflikt- und Koordinationsraum institutionalisieren, der den sozialen Konflikt offen hält und so die Paradoxie der Arbeit erträglich macht.78 Die Idee eines solchen Sozialmodells im Wirtschaftsrecht könnte sich in einer Wirtschaftsverfassung als Sozial-, Arbeits- und Wirtschaftsverfassung verwirklichen, die sich diesen Widerständen selbstaufklärerisch aussetzt.79 Die Entstehungsgeschichte des Arbeitsrechts als Ergebnis sozialer Auseinandersetzungen müsste sich im transnationalen Raum wiederholen können. Die Aufgabe des Rechts ist es, einen solchen sozialen Kampf zu ermöglichen und ihm Haltepunkte zu geben.

77 Allgemein zu gesellschaftsadäquaten Rechtsbegriffen, Luhmann, Niklas: Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart u.a. 1974, S. 50 f. 78 Zu neuartigen Formen der Inklusionskämpfe, Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas, „‚Democrazia operaia‘? Hegemonietheoretische Überlegungen für ein aktualisiertes Recht auf politischen Streik“, in: Jochen Bung/Brian Valerius/Sascha Ziemann (Hg.), Normativität und Rechtskritik, ARSP Beiheft Nr. 114, Stuttgart 2007, 238ff. (hier S. 240 ff.), Wiethölter, Rudolf: „Rechtsstaatliche Demokratie und Streitkultur“, in: Kritische Justiz (1988), S. 403 ff. 79 Wiethölter, Rudolf: „Entwicklung des Rechtsbegriffs (am Beispiel des BVG-Urteils zum Mitbestimmungsgesetz und – allgemeiner an Beispielen des sog. Sonderprivatrechts)“, in: Volkmar Gessner/Gert Winter (Hg.), Rechtsformen der Verflechtung von Staat und Wirtschaft, Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. 8, Opladen 1982, S. 38 ff. (hier S. 56, 54).

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Konflikt- und Kooperationsrecht: Plurale Vertretungs- und Kollektivnetzwerke

Wichtige Akteure dieses postmodernen Arbeitskampfes sind neben sozialen Bewegungen transnational orientierte Gewerkschaften. Zwar normiert die ILO ausdrücklich die Vereinigungsfreiheit, die Transnationalisierung der Arbeitnehmerinteressenvertretung hat jedoch erst weit nach der Transnationalisierung der Arbeitsbeziehungen eingesetzt. Erst mit der Etablierung Europäischer Betriebsräte durch die Umsetzung der europäischen Richtlinie 94/45/EG „über die Einsetzung eines Europäischen Betriebsrates und die Schaffung eines Verfahrens zur Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer in gemeinschaftsweit operierenden Unternehmen und Unternehmensgruppen“80 hat auch die transnationale Gewerkschaftsbewegung einen Schub bekommen. Gewerkschaften und soziale Bewegungen haben die globalen Rahmenverhandlungen und die globale Organisation vorangetrieben, in dem sie auch außereuropäische Standorte in den Blick nahmen und mit Hilfe ihrer Informationsrechte die Kooperationsbereitschaft der Konzernleitungen erwirkten und sich teilweise zu Weltbetriebsräten ausbauten. Anders als in dem traditionellen dualen System fand die Umsetzung der globalen Gewerkschaftspolitik damit vornehmlich intern in den Konzernen statt.81 Die Dichte und die Durchsetzungskraft der neuen Institutionen differenziert jedoch stark. Die Vermittlungsfähigkeit bleibt oft von konzernspezifischen Besonderheiten abhängig. Für die Globalen Gewerkschaften wie bspw. die Global Union Federations besteht daher das Problem, dass sie aus dem konzerninternen Dialog abgekoppelt werden und keine Einblicke mehr in die betrieblichen Entscheidungsprozesse haben. Vor diesem Hintergrund ist auf eine Verzahnung von nationalen und europäischen Betriebsräten dahingehend zu dringen, dass die Sicherung von Sozialstandards, von Teilnahme- und Kontrollmöglichkeiten nur in transnationaler Kooperation realisiert werden kann. Maßgeblich ist, dass der wirtschaftlichen Vernetzung nur mit einer Struktur begegnet werden kann, die ebenfalls transnationale Netzwerkelemente beinhaltet. Nationale, europäische und transnationale Betriebsräte müssen mit den nationalen und globalen Gewerkschaften sowie mit NGOs kooperieren. Erst in diesem Dialog können die Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer umfassend berücksichtigt werden und erst durch ein solches Netz-

80 ABl. L 254 v. 30.9.1994, S. 64 ff. 81 Vgl. Müller, Torsten/Platzer, Hans-Wolfgang/Rüb, Stefan: Internationale Rahmenvereinbarungen – Chancen und Grenzen eines neuen Instruments globaler Gewerkschaftspolitik, Friedrich-Ebert-Stiftung, Globale Gewerkschaftspolitik, Kurzbericht 8, 2008.

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werk kann Druck auf den Markt aufgebaut und eine „Gegenmacht“ erzeugt werden. Dabei geht es vor allem darum, Verhandlungspositionen zu gewinnen, um sich in den Konzernen Gehör zu verschaffen.82 Im globalen Raum müssen diese gegenhegemonialen Strategien intensiviert werden. Nur so kann die Arbeitnehmervertretung eine Brückenfunktion zwischen den „Corporate Social Responsibility“-Initiativen und den völkerrechtlichen ILO-Normen erfüllen.83 Zu diesen grundsätzlichen Problemen der Etablierung einer globalen Interessenvertretung kommt durch die Flexibilisierung der Arbeitswelt die Herausforderung hinzu, dass alle Formen der Arbeit einbezogen werden müssen. Dies ist zunächst ein organisationsrechtliches und tatsächliches Problem. Untersuchungen zeigen die Schwierigkeit, prekäre und damit oft nur temporäre Beschäftigte zu erreichen, zu mobilisieren und damit wirksam zu vertreten.84 Selbst wenn in Betrieben mit starker Nutzung prekärer Beschäftigungsformen ein Betriebsrat vorhanden ist, steht dieser vor neuen Herausforderungen, die neuen Beschäftigungsformen effektiv in seine Arbeit einzubeziehen. In klassischer Terminologie betrifft dies den Repräsentationsauftrag der Interessenvertretung. Vor diesem Hintergrund muss sich das Selbstverständnis der Interessenvertretung ändern. Während sie zu Zeiten des Normalarbeitsverhältnisses Strategien zur Stärkung der Arbeitnehmerschaft als Gesamtheit gegen den Arbeitgeber in Stellung bringen musste, findet sie nun fragmentierte und differenzierte Arbeitsverhältnisse vor. Diese Verschiebung wirkt auf die Sozialstruktur der Belegschaft ein, wenn sie die verschiedenen Formen der Arbeit in ein Lohnkonkurrenzverhältnis stellt und die Belegschaft spaltet. Eine einheitliche Interessenvertretung ist nicht mehr denkbar. Auf der einen Seite stehen die Interessen der „Stammbelegschaft“ an der Erhaltung und Absicherung ihres Arbeitsplatzes und auf der anderen Seite die Interessen der prekär Beschäftigten an gerechten Arbeitsbedingungen sowie an Beschäftigung überhaupt. Die Gewerkschaften müssten daher ihre soziale Aufgabe über Mitgliederinteressen hinausgehend begreifen. Sie müssen den Unvertretenen Stimme geben, das Nichtkommunizierte kommunizieren, die Repräsentation des Nichtrepräsentierten wagen.

82 Zu einer Verhandlungspflicht, S. Simitis (Fn. 40), S. 293 ff. 83 Vgl. auch Senghaas-Knobloch, Eva: „Die IAO auf der Suche nach neuen Standards“, in: Journal Arbeit 1 (2004), S. 13 f. 84 Etwa Plander, Harro: Flucht aus dem Normalarbeitsverhältnis: An den Betriebs- und Personalräten vorbei? Rechtsgutachten für die Hans-Böckler-Stiftung, Baden-Baden 1990.

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b. Kollektivautonomie unter Auflagen: Durchsetzung sozialer Rechte Erschwert wird die Situation durch die mangelhafte rechtliche Absicherung der prekären Beschäftigungsverhältnisse. Um den unzureichenden sozialen Schutz in diesen Beschäftigungsformen anhand des deutschen Arbeitsrechts zu erläutern: Während die Rechtsprechung die befristeten Arbeitsverhältnisse aufgrund der Annahme eines „Bedürfnisses des Marktes nach flexiblen Beschäftigungsformen“85 normalisiert und so zu einer massiven Ausweitung beiträgt, stehen die nationalen Gewerkschaften vor dem Dilemma, die prekär Beschäftigten wirksam zu vertreten. So bleibt es nach der Umsetzung der europäischen Richtlinie 2008/104/EG zur Leiharbeit möglich, den normierten equal pay-Grundsatz durch tarifvertragliche Regelung zu umgehen. Dies hat in der Praxis zu dumpingLöhnen im Bereich der Leiharbeit geführt. Erst langsam entwickeln sich gewerkschaftliche Gegenbewegungen, die sich für einen Schutz der prekären Formen aussprechen. Diese können sich auf zahlreiche normative Grundlagen stützen. Die sehr allgemeinen normativen Aussagen der ILO, die zwar menschenwürdige Arbeit einfordern, aber für sich alleine keine Arbeits- und Lebensbedingungen garantieren, werden durch die Decent Work Agenda der ILO von 1999 konkretisiert.86 Dieses Strategie-Konzept nennt für die Umsetzung der Kernarbeitsnormen vier Bedingungen: eine produktive Beschäftigung, Rechte bei der Arbeit, Sozialschutz und den Sozialdialog. Diese sollen ausdrücklich auch für Erwerbsarbeit außerhalb des formellen Arbeitsmarktes gelten. Damit ist auch sichergestellt, dass die ILO nicht nur schwere Verstöße mit dem Rechtssystem koppeln will und ‚nur‘ ein Konzept von Mindeststandards darstellt, sondern dass sie mit der Konkretisierung und Aktualisierung ihrer Kernarbeitsnormen allgemeine Standards für den Arbeitsbetrieb setzt.87 Hervorzuheben ist insbesondere der Grundsatz der produktiven Beschäftigung und Sozialversicherung, der auf ein ausreichendes Einkommen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse abzielt. Damit sind

85 Vgl. BAG, Urt. v. 6.04.2011 – 7 AZR 716/09 – Zuvor-Befristung. 86 Zur Decent Work Agenda siehe die Beiträge in Becke, Guido u.a. (Hg.), „Decent Work“. Arbeitspolitische Gestaltungsperspektive für eine globalisierte und flexibilisierte Arbeitswelt, Wiesbaden 2010. 87 Zu den Durchsetzungsproblemen, Senghaas-Knobloch, Eva: „Sisyhusarbeit am Genfer See. Bemühungen um international geltende Arbeits- und Sozialstandards“, in: Helmut Breitmeier u.a. (Hg.), Sektorale Weltordnungspolitik, Baden-Baden 2009, S. 130 ff. (hier insb. S. 141 ff.).

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explizit die Formen der Beschäftigung zum Thema der ILO geworden. Zur Umsetzung bietet die ILO spezifisch zugeschnittene Länderprogramme an. Mit den „Policy Coherence Initiatives“ strebt die ILO zudem eine gemeinsame Politikorientierung mit anderen Internationalen Organisationen, wie der WTO, dem Internationalen Währungsfonds oder der OECD an. Ausdrücklich wurde diese Programmatik auch in die Millenniumsentwicklungsziele der Vereinten Nationen von 2008 sowie in einer entsprechenden Ministererklärung des UNWirtschafts- und Sozialrates von 2006 aufgenommen. Auf europäischer Ebene finden sich entsprechende Regelungen in der Europäischen Sozialcharta. Teil II Art. 1 der Charta sieht eine Reihe von konkreten Maßnahmen vor, um die wirksame Ausübung des Rechts auf Arbeit zu gewährleisten. So soll zur Verwirklichung der Vollbeschäftigung die Erreichung und Aufrechterhaltung eines möglichst hohen und stabilen Beschäftigungsstandes die wichtigste Zielsetzung und Aufgabe sein. Weiter soll das Recht der Beschäftigten, den Lebensunterhalt durch frei übernommene Tätigkeit zu verdienen, wirksam geschützt werden. Die Revision der Charta 1996 fügte neue Rechte, wie Kündigungsschutz und ein Recht auf Würde am Arbeitsplatz ein. Auch das Recht auf soziale Sicherheit fällt unter diese bindenden Rechte. Die Charta formuliert damit ausdrücklich eine Handlungspflicht hin zur Vollbeschäftigung.88 Während die Diskussion um die Justiziabilität der Charta zur Stärkung der sozialen Rechte als Ergänzung der Grundrechtecharta und der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeit von 1989 gegenwärtig andauert,89 rückt die „gesellschaftliche Kraft“ des Kollektivs zur Durchsetzung sozialer Rechte und/als Ideen in horizontaler Richtung in den Fokus.90 Denn für gewerkschaftliche und betriebliche Arbeit im globalen Raum ergibt sich eine besondere Konstellation. Den Gewerkschaften und sozialen Bewegungen kommt hier in noch stärkerem Maße als im nationalen Rahmen eine normsetzende und demokratiesichernde Funktion zu. Sie müssen auch mit ihren Durchsetzungsmitteln der Tarifautonomie und des Streikrechts die menschenrechtliche Garantie der Arbeit konkretisieren und einfordern. In keinem Bereich wird deutlicher, dass die sozialen Rechte darauf angewiesen sind, dass sie demokratisch erstritten

88 Für Details, Benelhocine, Carole: The European Social Charta, Straßburg 2012. 89 Fischer-Lescano, Andreas/Möller, Kolja: Der Kampf um globale soziale Rechte, Berlin 2012, S. 81 ff. 90 Sinzheimer, Hugo: Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht (1916), 2. Aufl., Berlin 1977, S. 31: „Die Massenhaftigkeit des Tarifvertrages muß das gewöhnliche juristische Vorstellungsvermögen überwältigen, wenn es nicht bereit ist, neue Denkformen anzunehmen.“

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werden können, dass liberale, soziale und politische Menschenrechte eine untrennbare Einheit darstellen. Nur so kann die transnationale Wirtschafts- und Sozialordnung zur Disposition der Gesellschaft gestellt werden. c.

Möglichkeitsermöglichung freier Arbeitsverträge

Unter den Voraussetzungen der institutionellen und sozialen Einbindung der Arbeit wird die freie Arbeitsvertragssituation zum widerständigen Leitbild im sozialen Dialog.91 Eine solche auf die gesellschaftliche Einbettung abhängiger Unabhängigkeit gerichtete Rahmung lässt die soziale Funktion des Vertrages als Aushandlungsergebnis wieder aufleben.92 Dieses transnationale Arbeitsrecht verknüpft Zivilrecht mit Öffentlichem Recht, Vertrag mit Organisation, individuelle und kollektive Ebene und beschreibt das Verhältnis zwischen Recht und Wirtschaft im globalen Raum neu. Ein solches transnationales Arbeitsrecht kann das globale Vollzugsdefizit des regulativen Rechts überwinden und das „historische Paradigma“ eines verhandlungssteuernden Rechts wieder aufleben lassen. Denn nur in den beschriebenen Aushandlungsprozessen kann sich das gesellschaftliche, autonome und polykontexturale Recht auf Arbeit reflexiv entfalten und können die in dem Faktor Arbeit aufeinandertreffenden gesellschaftlichen Grundwidersprüche zwischen Kapital und Arbeit erträglich gemacht werden.93 Zur Abstimmung der betroffenen Rationalitäten und menschlichen Bedürfnisse muss ein so verstandenes Recht den gesellschaftlichen Aufbau von Demokratisierungsprozessen und diskursiven Strukturen zur Aufrechterhaltung der Selbstreflexionsfähigkeit motivieren und fördern. Die Systeme müssen für die gesellschaftlichen Prozesse sensibilisiert werden, damit sie sich als geeignete Umwelt für Systeme und Akteure kommunizieren und organisieren. In Bezug auf den Bereich der Interessenvertretung und Gewerkschaftsarbeit bedeutet dies, dass die überkommenen Vorstellungen von einer gesamtheitlichen Vertretung und Repräsentation überwunden werden müssen. Der Schlüssel für transnationale Gewerkschaftsarbeit liegt in der Vernetzung mit betrieblichen Organisationsstrukturen und in einer durchgreifenden Politisierung. Konkret bedeu-

91 H. Sinzheimer (Fn. 42), S. 13 ff., 22. 92 Zu einem solchen Funktionswandel des Privatrechts hin zu einem Zivilverfassungsrecht der polykontexturalen Gesellschaft, Amstutz, Marc/Abegg, Andreas/Karavas, Vaios: Soziales Vertragsrecht. Eine rechtsevolutive Studie, Basel 2006. 93 Zum autonomen Ursprung des Rechts, vgl. Teubner, Gunther: „Verrechtlichung – Begriffe, Merkmale, Grenzen, Auswege“, in: Friedrich Kübler (Hg.), Verrechtlichung von Wirtschaft, Arbeit und sozialer Solidarität, Frankfurt a.M. 1985, S. 336.

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tet dies im Hinblick auf prekäre Beschäftigung, dass Strukturen der pluralen Einbeziehung und Vertretung ausgebildet werden müssen, um die Repräsentationskrise zu überwinden und den normativen Rahmen für transnationale, autonome Verhandlungen auszufüllen. Erst unter diesen Voraussetzungen kann die Kollision von Arbeitnehmerinteressen gerecht verhandelt werden und können die Besonderheiten des Zugriffs auf Arbeit reflektiert werden. Verhandlungspositionen wie das normative Ziel der Vollbeschäftigung, gleichzeitig der Schutz der Arbeitsbedingungen der prekär Beschäftigten und das gesellschaftliche Potenzial von neuen Beschäftigungsformen im Hinblick auf die Erwerbschancen für Frauen, neue Arbeitnehmerpräferenzen und die Freisetzung individueller Positionen im Rahmen selbstständiger Arbeit müssen Eingang finden. Die globale Herausforderung besteht darin, dass diese Aushandlungsräume nicht durch einen Gesetzgeber gewährt werden, sondern gesellschaftlich erkämpft werden müssen. Daher ist es unabdingbar, das Kollektivrecht zu stärken. Darüber hinaus kann ein transnationales Arbeitsrecht aber nicht alleine auf eine kollektive Sozialautonomie abzielen. Vielmehr hat es in einer individualschützenden Dimension die gesellschaftliche Einbettung und Fragmentierung der Arbeitsbeziehungen zu berücksichtigen und das Recht auf Arbeit auch als Recht in der Arbeit zu konkretisieren. In diesem Sinne ist transnationales Arbeitsrecht Gesellschaftsrecht und eine echte Alternative zu marktförmigen CSR-Ansätzen. Ein solches Arbeitsrecht muss über die Rückbindung an gesellschaftliche Autonomiebereiche kollisionsrechtlich verfasst sein und sich von alten Kategorisierungen und Normidealen mit ihren zwangsläufig exkludierenden Folgen verabschieden.94 Damit lässt sich weder die Differenzierung von Arbeits- und Wirtschaftsrecht aufrechterhalten, noch gilt die Alternative Arbeitsrecht als Kontraktverfassungsrecht oder Organisationsverfassungsrecht. Das normative Programm eines gesellschaftsadäquaten und menschlichen Arbeitsrechts zielt vielmehr auf die Bedingungen der Autonomieerhaltung durch die Bereitstellung von Organisationsmustern, durch Verfahrensarten und Kompetenzzuweisungen.95 Die globalen Netzwerke müssen an Vertrag und Organisation rückgebunden werden. Mit der Forderung eines humanen und gesellschaftsadäquaten Rechts wird die Systemtheorie normativ, wenn sie die Ausbildung prozessualer Mechanismen zur Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen und menschlichen Autonomien einfordert. Die Autonomie der Arbeit ist damit Teil eines umfassenden Freiheits-

94 Zur Geschlechterdiskriminierung des „alten“ Arbeitnehmerbegriffs etwa H. Pfarr (Fn. 33), S. 280. 95 Zu einem solchen Rechtsbegriff, R. Wiethölter (Fn. 79), S. 52.

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und Teilnahmekonzepts im Sinne eines multifunktionalen, institutionellen und transnationalen Grundrechtsmodells.96 Die Frage der Arbeit ist ein Element der transnationalen sozialen Frage, in der die herkömmlichen Strukturen der Interessenwahrnehmung, des Schutzes und der Repräsentation einer nationalen Arbeiterschaft nicht länger greifen.

96 Zu einem solchen Grundrechtsverständnis Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, 4. Aufl., Berlin 1999, S. 133 f.; Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix. Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 44 (2006), S. 161 ff. (hier S. 178 ff.); Christensen, Ralph/Fischer-Lescano, Andreas: Das Ganze des Rechts, Berlin 2007, S. 242 ff.

Das Recht der Weltgesellschaft: Systemtheoretische Beschreibung und Kritik L ARS V IELLECHNER

1. E INLEITUNG Die Systemtheorie wird häufig als besonders ergiebig erachtet, wenn es darum geht, die Entwicklung des Rechts unter Bedingungen der Globalisierung zu beschreiben.1 Gelegentlich werden ihr sogar normative Vorgaben für das Recht der Weltgesellschaft entnommen.2 In den Formulierungen der Theorie, die Niklas Luhmann hinterlassen hat, treten solche Erkenntnisse indes nicht offen zu Tage. Zwar machte Luhmann auf der Annahme, dass die moderne Gesellschaft als Weltgesellschaft zu begreifen ist, die funktionale Differenzierung kennzeichnet, schon früh auch ein „Rechtssystem der Weltgesellschaft“3 aus. Er behauptete daher: „Daß die Weltgesellschaft auch ohne zentrale Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit eine Rechtsordnung hat, wird man […] kaum bestreiten können.“4 Damit meinte Luhmann aber lediglich das weltweite Auftreten von rechtlicher Kommunikation. Demgegenüber erkannte er weiterhin „regional unterschiedliche Rechtsentwicklungen“, zu deren wichtigsten Auslösern er die „segmentäre Zweitdifferenzierung“ des politischen Systems in Territorialstaaten zählte.5 Auf die Frage, wie sich „Weltrecht“ denken lasse, wusste er zunächst nur eine negative Antwort zu geben: „Doch wohl nicht in der Form von Staatsverträgen, die

1

Vgl. Teubner, Gunther: „Globale Bukowina“, in: RJ 15 (1996), S. 255 ff.; FischerLescano, Andreas/ders.: Regime-Kollisionen, Frankfurt a.M. 2006.

2

Vgl. Teubner, Gunther: „Globale Zivilverfassungen“, in: ZaöRV 63 (2003), S. 1 ff.

3

Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 573.

4

Ebd., S. 574 (Anmerkung weggelassen).

5

Ebd., S. 582.

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nach langen diplomatischen Verhandlungen kaum noch Substanz aufweisen.“6 Anzeichen für die Entstehung von Weltrecht sah Luhmann allein in den Menschenrechten, sofern diese sich jenseits völkerrechtlicher Verträge „durch ihre Verletzung und durch entsprechende Empörung“7 Geltung verschaffen könnten. „Auch die Luhmannsche Theorie laboriert also an der Formierung der postnationalen Konstellation“, konnten Kommentatoren demnach feststellen.8 Die Zukunftsaussichten des Rechts schätzte Luhmann zudem pessimistisch ein: „Es kann […] durchaus sein, daß die gegenwärtige Prominenz des Rechtssystems und die Angewiesenheit der Gesellschaft selbst und der meisten ihrer Funktionssysteme auf ein Funktionieren des Rechtscodes nichts weiter ist als eine europäische Anomalie, die sich in der Evolution einer Weltgesellschaft abschwächen wird“,

mutmaßte er.9 Als Grund dafür machte er die „Verlagerung des evolutionären Primats von normativen auf kognitive Mechanismen“10 in der Weltgesellschaft aus. In der Vergangenheit habe die Gesellschaft stets normative Formen der Erwartungsbildung, die auch im Enttäuschungsfall aufrechterhalten werden, gegenüber kognitiven, die sich lernbereit und anpassungsfähig zeigen, bevorzugt.11 Da niemand gern seine Zustimmung für noch unbestimmte Veränderungen erteile und gut in Enttäuschungslagen lernen könne, lasse sich dafür leichter Konsens beschaffen. Die unnatürlichen und riskanten Verhaltenserwartungen seien daher stets enttäuschungsfest institutionalisiert worden. Normativ ausgerichtete Sozialsysteme wie Religion, Politik und Recht seien dementsprechend die wichtigsten Risikoträger der gesellschaftlichen Evolution gewesen. Demgegenüber kennzeichne diejenigen Sozialsysteme, die weltweite Kontakte ermöglichten, wie etwa

6

Luhmann, Niklas: „Ethik in den internationalen Beziehungen“, in: Soziale Welt 50

7

N. Luhmann (Fn. 3), S. 581. Vgl. auch ders.: „Das Paradox der Menschenrechte und

(1999), S. 247 ff. (hier S. 250). drei Formen seiner Entfaltung“, in: Aulis Aarnio u.a. (Hg.), Rechtsnorm und Rechtswirklichkeit, Berlin 1993, S. 539 ff. Daran anschließend Fischer-Lescano, Andreas: Globalverfassung, Weilerswist 2005. 8

Nassehi, Armin: „Politik des Staates oder Politik der Gesellschaft?“, in: Kai-Uwe Hellmann/Rainer Schmalz-Bruns (Hg.), Theorie der Politik, Frankfurt a.M. 2002, S. 38 ff. (hier S. 57).

9

N. Luhmann (Fn. 3), S. 585 f.

10 Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, Opladen, 2. Aufl. 1983, S. 340. 11 Vgl. ebd., S. 40 ff.; ders.: „Normen in soziologischer Perspektive“, in: Soziale Welt 20 (1969), S. 28 ff.

D AS R ECHT

DER

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Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, ein vorwiegend kognitiver Erwartungsstil. Die Weltgesellschaft stelle sich insofern darauf ein, „daß auf sehr hohe und funktions-spezifisch strukturierte Komplexität besser durch Lernprozesse als durch kontrafaktisches Festhaltenwollen vorgegebener Erwartungen reagiert wird“.12

2. P LURALITÄT Ein Ende des Rechts lässt sich in der Weltgesellschaft jedoch nicht feststellen. Vielmehr sehen viele Beobachter eine Pluralität von Rechtsordnungen entstehen, die sie gerade mit Hilfe der Systemtheorie zu erklären versuchen. Schon Luhmann wollte den von ihm vorausgesagten Führungswechsel zwischen normativen und kognitiven Mechanismen der Erwartungsbildung indes nicht als Verdrängungsprozess verstanden wissen. Da die Festlegung auf eine einzige Form des Umgangs mit Enttäuschungen untragbare Risiken für die Gesellschaft berge, hielt er ein Absterben des Rechts für unwahrscheinlich. Allerdings zog er in Erwägung, dass das Recht in der Weltgesellschaft angesichts der Dominanz von kognitiven Mechanismen der Erwartungsbildung seine Funktion verändern könnte. Er hielt es für möglich, dass unter solchen Umständen „die strukturellen Bedingungen der Lernfähigkeit aller Teilsysteme in Normierungen abgestützt werden müssen“13. Wenngleich Marc Amstutz kürzlich am Beispiel der Einrichtung einer Corporate Social Responsibility (CSR) durch das Recht der Europäischen Union (EU) nachgewiesen hat, dass Luhmanns Vermutung nicht fern lag,14 zeichnet sich eine „Rechtsmutation“15 solcher Art aber noch nicht auf breiter Front ab. Im Gegenteil entsteht in der Weltgesellschaft ein Bedarf an herkömmlichen Mitteln von Erwartungssicherung und Konfliktlösung, der auf doppeltem Wege gedeckt wird. Zum einen reguliert das Völkerrecht in wachsendem Umfang grenzüberschreitende Sachverhalte. Dazu sind zahlreiche internationale Organisationen mit eigenen Streitentscheidungsorganen gegründet worden, deren Zuständigkeiten sich auch auf Materien erstrecken, die früher zu den inneren Angelegenhei-

12 Luhmann, Niklas: „Die Weltgesellschaft“, in: ARSP 57 (1971), S. 1 ff. (hier S. 26). 13 Ebd., S. 26. 14 Vgl. Amstutz, Marc: „Métissage“, in: Andreas Fischer-Lescano/Florian Rödl/Christoph Schmid (Hg.), Europäische Gesellschaftsverfassung, Baden-Baden 2009, S. 333 ff.; ders./Karavas, Vaios: „Weltrecht“, in: Gralf-Peter Calliess u.a. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz, Berlin 2009, S. 645 ff. 15 Amstutz, Marc/Karavas, Vaios: „Rechtsmutation“, in: Rg 8 (2006), S. 14 ff.

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ten der Staaten zählten, insbesondere Wirtschaft, Umweltschutz und Menschenrechte. Zu den besonders ausgereiften Beispielen von globaler Reichweite zählt die Welthandelsorganisation (World Trade Organization, WTO) mit ihrem Streitbeilegungsmechanismus (Dispute Settlement Understanding, DSU).16 Die Studiengruppe der Völkerrechtskommission der Vereinten Nationen (International Law Commission, ILC) unter Vorsitz von Martti Koskenniemi, die eingesetzt wurde, um die Entwicklung des Völkerrechts zu untersuchen, bemerkt insofern zwar einen Bedeutungszuwachs des Völkerrechts, erkennt aber zugleich dessen „fragmentation“17 in verschiedene Teilordnungen. Insofern sieht sie die funktionale Differenzierung der Gesellschaft, wie sie die Systemtheorie beschreibt,18 im Recht gespiegelt: „The fragmentation of the international social world has attained legal significance especially as it has been accompanied by the emergence of specialized and (relatively) autonomous rules or rulecomplexes, legal institutions and spheres of legal practice.“19 Die völkerrechtlichen Teilordnungen, welche die Kommission in Übereinstimmung mit Andreas Fischer-Lescano und Gunther Teubner auch mit dem Begriff „regime“20 belegt, kennzeichne vor allem eine Spezialisierung auf einzelne Sachbereiche: „What once appeared to be governed by ‚general international law‘ has become the field of operation for such specialist systems as ‚trade law‘, ‚human rights law‘, ‚environmental law‘, ‚law of the sea‘, ‚European law‘ and even such exotic and highly specialized knowledges as ‚investment law‘ or ‚international refugee law‘ etc. – each possessing their own principles and institutions.“21

16 Vgl. Jackson, John H.: Sovereignty, the WTO, and Changing Fundamentals of International Law, Cambridge (UK)/New York 2006. 17 ILC, Fragmentation of International Law, UN Doc. A/CN.4/L.682. Vgl. auch Koskenniemi, Martti/Leino, Päivi: „Fragmentation of International Law?“, in: Leiden J Int’l L 15 (2002), S. 553 ff.; Hafner, Gerhard: „Pros and Cons Ensuing from Fragmentation of International Law“, in: Mich J Int’l L 25 (2004), S. 849 ff.; Fischer-Lescano, Andreas/ Teubner, Gunther: „Fragmentierung des Weltrechts“, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit, Wiesbaden 2007, S. 37 ff. 18 Vgl. ILC (Fn. 17), § 7: „One of the features of late international modernity has been what sociologists have called ‚functional differentiation‘, the increasing specialization of parts of society and the related autonomization of those parts.“ 19 Ebd., § 8 (Nachweis weggelassen). 20 Ebd., § 15. 21 Ebd., § 8.

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Dadurch würden die Teilordnungen weitgehend ihrer eigenen Rationalität folgen. Dass die Trennlinien hier nicht ausschließlich entlang von funktionalen Grenzen verlaufen, zeigen jedoch Menschenrechtsregimes wie der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) und regional beschränkte Regimes wie die EU und die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Sofern völkerrechtliche Regulierung mangels Konsens oder Schnelligkeit der Staatengemeinschaft ausfällt, bilden sich zur rechtlichen Lösung von weltgesellschaftlichen Problemen zum anderen „transnationale Regelungsarrangements“22 heraus, die überwiegend private Akteure, teilweise mit staatlicher Beteiligung, durch Verträge in Geltung setzen. Solche Arrangements zeichnen sich, ebenso wie die völkerrechtlichen Regimes, durch sachliche Spezialisierung aus. Zu den bekanntesten Beispielen zählt die Internet Corporation for Assigned Names and Numbers (ICANN), welche die Domains im Internet vergibt.23 Dabei handelt es sich um eine nach kalifornischem Privatrecht verfasste Körperschaft, die über verschiedene Verträge auch mit der Regierung der Vereinigten Staaten von Amerika verbunden ist. Zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Inhabern von Rechten an Marken oder Namen und Registranten von Domains stellt die ICANN sogar ein eigenes Streitentscheidungsverfahren bereit, das auf der vertraglich vereinbarten Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy (UDRP) beruht.24 Nach Teubners Auffassung erfahren die verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme hier eine unmittelbare Resonanz im Recht. Es komme zu strukturellen Kopplungen der Sozialsysteme mit dem Recht über „globale Zivilverfassungen“25. In der Weltgesellschaft ist damit eine Überlagerung und Überlappung teils territorial ausgerichteter, teils funktional orientierter Rechtsordnungen festzustellen. Boaventura de Sousa Santos beschreibt einen solchen Rechtszustand, der sich mit älteren Vorstellungen von Monismus und Dualismus nicht mehr fassen

22 Viellechner, Lars: „The Constitution of Transnational Governance Arrangements“, in: Christian Joerges/Josef Falke (Hg.), Karl Polanyi, Globalisation and the Potential of Law in Transnational Markets, Oxford/Portland 2011, S. 435 ff. Andere Bezeichnung bei Calliess, Gralf-Peter: Grenzüberschreitende Verbraucherverträge, Tübingen 2006, S. 245 ff.: „transnationale Zivilregimes“. 23 Vgl. Froomkin, A. Michael: „Wrong Turn in Cyberspace: Using ICANN to Route Around the APA and the Constitution“, in: Duke LJ 50 (2000), S. 17 ff. 24 Vgl. Helfer, Laurence R./Dinwoodie, Graeme B: „Designing Non-National Systems: The Case of the Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy“, in: Wm & Mary L Rev 43 (2001), S. 141 ff. 25 G. Teubner (Fn. 2), S. 17 ff.

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lässt,26 als „interlegality“, womit er „an intersection of different legal orders“ meint, das heißt „different legal spaces superimposed, interpenetrated and mixed in our minds, as much as in our actions“.27 Wenn manche Beobachter solche Veränderungen in der Struktur des Rechts als Entwicklung in Richtung auf einen „new legal pluralism“28 hin deuten, dann weisen sie damit auf Parallelen zu älteren Rechtsvorstellungen hin. Als Rechtspluralismus bezeichnen Rechtshistoriker das Nebeneinander von verschiedenen personenbezogenen Herrschaftsrechten im Mittelalter.29 Rechtsanthropologen und Rechtssoziologen verstehen darunter zudem die Koexistenz des Rechts von Kolonialmächten und indigenen Bevölkerungen in Kolonialstaaten.30 In diesen Fällen wurde das Recht gleichwohl als unter einer religiösen oder staatlichen Einheit stehend gedacht. Eine solche übergreifende Ordnung sieht die ILC für die Völkerrechtsregimes zwar im allgemeinen Völkerrecht.31 Es fragt sich aber, welche Regeln und Prinzipien außer jenen über das Zustandekommen und die Wirksamkeit von völkerrechtlichen Verträgen heute überhaupt noch zum allgemeinen Völkerrecht gehören. Die transnationalen Regelungsarrangements entkommen ohnehin auch den Vorgaben des allgemeinen Völkerrechts, da sie nicht auf völkerrechtlichen Verträgen beruhen. Davon abgesehen erlangen alle Teilordnungen eine relative Autonomie dadurch, dass sie sich an eigenen Sekundärregeln im Sinne von Herbert Hart32 ori-

26 Vgl. von Bogdandy, Armin: „Pluralism, Direct Effect, and the Ultimate Say“, in: Int’l J Const L 6 (2008), S. 397 ff. (hier S. 400): „Monism and dualism … are intellectual zombies of another time and should be laid to rest, or ‚deconstructed‘.“ 27 De Sousa Santos, Boaventura: Toward a New Legal Common Sense, London, 2. Aufl. 2002, S. 437. Vgl. auch Amstutz, Marc: „Zwischenwelten“, in: Christian Joerges/ Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht, Baden-Baden 2003, S. 213 ff. (hier S. 213): Interlegalität als Zustand, in dem „parallele Normsysteme unterschiedlicher Herkunft sich wechselseitig anregen, gegenseitig verbinden, ineinandergreifen und durchdringen, ohne zu einheitlichen Super-Ordnungen zu verschmelzen, die ihre Teile absorbieren, sondern in ihrem Nebeneinander als heterarchische Gebilde dauerhaft bestehen“. 28 Schiff Berman, Paul: „The New Legal Pluralism“, in: Ann Rev L & Soc Sci 5 (2009), S. 225 ff. 29 Vgl. Berman, Harold J.: Law and Revolution, Cambridge (Mass.)/London 1983, S. 10. 30 Vgl. Hooker, M. Barry: Legal Pluralism: An Introduction to Colonial and NeoColonial Laws, Oxford 1975. 31 Vgl. ILC (Fn. 17), §§ 172 ff. 32 Vgl. Hart, Herbert L.A.: The Concept of Law, Oxford/New York, 2. Aufl. 1994, S. 91 ff.

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entieren.33 Dazu gehören nicht nur Erkenntnisregeln, die zum Auffinden der anwendbaren Verhaltensregeln dienen, sondern auch Entscheidungsregeln, die Gerichte zur verbindlichen Entscheidung darüber ermächtigen, ob im Einzelfall eine Verhaltensregel verletzt worden ist. Häufig bringt die „proliferation of international courts and tribunals“34 den Rechtspluralismus überhaupt erst zum Ausdruck, obwohl sie ihrerseits dessen Folge ist. Die verschiedenen Teilordnungen können dadurch selbstbezüglich operieren.35 So urteilt beispielsweise der Gerichtshof der EU (EuGH) allein nach dem „vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht“ und sieht dieses daher als eine „eigene Rechtsordnung“ an,36 während ein von ICANN zur Entscheidung in Domainstreitigkeiten berufenes Schiedsgericht gemäß § 15 lit. a der UDRPVerfahrensordnung „in accordance with the Policy, these Rules and any rules and principles of law that it deems applicable“ entscheidet.37 Der globale Rechtspluralismus erscheint damit als ein „Bild verschiedener gleichgeordneter Rechtsdiskurse“38 und mag aus diesem Grund auch als „radical pluralism“39 charakterisiert werden.

3. L EGALITÄT Es fragt sich freilich, ob die normativen Ordnungen, die jenseits der Staaten entstehen, überhaupt als Recht anzusehen sind. Erstaunlicherweise wird die Frage

33 Vgl. Wellens, Karel C.: „Diversity in Secondary Rules and the Unity of International Law“, in: Netherlands YB Int’l L 25 (1994), S. 3 ff.; A. Fischer-Lescano/G. Teubner (Fn. 1), S. 41 ff. 34 Romano, Cesare P.R.: „The Proliferation of International Judicial Bodies“, in: NYU J Int’l L & Pol 31 (1999), S. 709 ff.; Alford, Roger P.: „The Proliferation of International Courts and Tribunals“, in: Am Soc’y Int’l L Proc 94 (2000), S. 160 ff. 35 Vgl. MacCormick, Neil: „Institutional Normative Order“, in: Cornell L Rev 82 (1997), S. 1051 ff. (hier S. 1058). 36 EuGH, Slg. 1964, S. 1253 ff. (hier S. 126) – Costa gegen E.N.E.L. 37 Rules for Uniform Domain Name Dispute Resolution Policy, http://www.icann.org/en/ dndr/udrp/rules.htm (Stand 20.03.2013). 38 Teubner, Gunther: „Die zwei Gesichter des Janus: Rechtspluralismus in der Spätmoderne“, in: Eike Schmidt/Hans-Leo Weyers (Hg.), Liber Amicorum Josef Esser, Heidelberg 1995, S. 191 ff. (hier S. 201). 39 MacCormick, Neil: „Risking Constitutional Collision in Europe?“, in: Oxford J Legal Stud 18 (1998), S. 517 ff. (hier S. 528).

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für die neuen Völkerrechtsregimes kaum gestellt, obwohl die Rechtsqualität des Völkerrechts lange umstritten war. An dieser Frage entzweiten sich früher die monistischen und dualistischen Auffassungen des Verhältnisses von Völkerrecht und staatlichem Recht.40 Umso nachdrücklicher werden gegenwärtig Zweifel an der Denkbarkeit von transnationalen Regelungsarrangements als Recht jenseits der staatlichen Rechtsordnungen und des Völkerrechts artikuliert. Nach überwiegender Auffassung bedürfen Verträge einer grundlegenden Rechtsordnung, die ihnen verpflichtende Kraft verleiht: „Nicht der Vertrag bindet also, sondern das Gesetz bindet an den Vertrag“, formulierte Gustav Radbruch einst.41 Die Vorstellung von rechtsgrundlosen Verträgen erscheint manchem Rechtswissenschaftler demnach als „eine perverse Idee“42. Für Teubner gründen transnationale Regelungsarrangements demgegenüber auf dem „Paradox der Selbstvalidierung des Vertrags“43, das durch drei Methoden der Entparadoxierung entfaltet werde: Hierarchisierung, Temporalisierung und Externalisierung. Erstens enthielten die Verträge höherrangige Regeln, die Identifikation und Interpretation des anwendbaren Rechts anleiteten. Zweitens knüpften die Verträge nicht nur retrospektiv an vorangehende Rechtsakte an, sondern verwiesen auch prospektiv auf zukünftige Konfliktlösungen und ordneten sich damit rekursiv in das Rechtssystem ein. Drittens schließlich wiesen die Verträge die Beurteilung ihrer Gültigkeit sowie die Konfliktlösung außen stehenden Institutionen wie Schiedsgerichten zu. Eine solche Betrachtungsweise kann sich auf den systemtheoretischen Rechtsbegriff stützen. Insofern ist zunächst allerdings dem Missverständnis vorzubeugen, dabei handele es sich um ein soziologisches Begriffsverständnis, das für Rechtswissenschaft und Rechtspraxis ohne Bedeutung ist. Die Systemtheorie des Rechts liefert zwar eine Fremdbeschreibung des Rechtssystems. Sie hat sich aber zur Aufgabe gesetzt, das Rechtssystem „als ein sich selbst beschreibendes System“44 zu beschreiben.

40 Vgl. Walz, Gustav Adolf: Wesen des Völkerrechts und Kritik der Völkerrechtsleugner, Stuttgart 1930. 41 Radbruch, Gustav: Rechtsphilosophie, Stuttgart, 8. Aufl. 1973, S. 240 (Nachweis weggelassen). 42 Zweigert, Konrad: „Verträge zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Partnern“, in: BDGVR 5 (1964), S. 194 ff. (hier S. 198). 43 G. Teubner (Fn. 1), S. 273. 44 N. Luhmann (Fn. 3), S. 17.

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Nach der Systemtheorie erfüllt das Recht als soziales System für die Gesellschaft die Funktion der kontrafaktischen Stabilisierung von Verhaltenserwartungen.45 Die Funktion ist von den Leistungen des Rechts, insbesondere der Verhaltenssteuerung und der Konfliktlösung, zu unterscheiden. Während die Funktion ausschließlich innerhalb des Rechtssystems erfüllt werden kann, mag die Leistung auch durch funktionale Äquivalente, etwa die Sicherstellung von Zahlungen durch das Kreditkartensystem, erbracht werden. Die so bestimmte Funktion des Rechts können transnationale Verträge jedenfalls unter der doppelten Voraussetzung erfüllen, dass sie die vereinbarten Regeln schriftlich festhalten und die Aufgabe der Streitentscheidung an neutrale Dritte wie zum Beispiel Schiedsgerichte auslagern.46 Unter diesen Umständen besteht zumindest eine gewisse Gewähr für die tatsächliche Einhaltung der Vereinbarungen. Der Systemtheorie zufolge genügt die Ausrichtung auf eine spezifische Funktion für die Ausdifferenzierung eines Teilsystems der Gesellschaft jedoch nicht aus. Operative Geschlossenheit erreichen soziale Systeme, die aus Kommunikationen bestehen, vielmehr erst durch die Orientierung an einem binären Code, der sich im Rechtssystem aus den Werten Recht und Unrecht zusammensetzt.47 Der Code vertritt die Einheit des Systems.48 Sobald eine Kommunikation auf den Schematismus von Recht und Unrecht Bezug nimmt, ordnet sie sich dem Rechtssystem zu. Rechtsgeltung erscheint dann als ein „Verknüpfungssymbol“49, das durch rekursive Vernetzung von Operationen innerhalb des Rechtssystems weitergereicht wird und dessen Einheit gerade durch ständige Veränderung erzeugt. Zwar kann nicht jede Kommunikation über Recht, wie etwa das bloße Anmelden von Rechtsansprüchen, auch Rechtsgeltung transportieren, wohl aber jede Entscheidung, welche die Rechtslage ändert. Dazu gehören nicht nur Entscheidungen des Gesetzgebers und der Gerichte, sondern auch Verträge.50 Sofern

45 Vgl. ebd., S. 124 ff.; ders.: „Die Funktion des Rechts: Erwartungssicherung oder Verhaltenssteuerung?“, in: ARSP-Beiheft 8 (1974), S. 31 ff. 46 Vgl. Calliess, Gralf-Peter/Renner, Moritz: „Between Law and Social Norms“, in: Ratio Juris 22 (2009), S. 260 ff. 47 Vgl. N. Luhmann (Fn. 3), S. 60 ff.; ders.: „Die Codierung des Rechtssystems“, in: RTh 17 (1986), S. 171 ff. 48 Vgl. N. Luhmann (Fn. 3), S. 70; ders.: „Die Einheit des Rechtssystems“, in: RTh 14 (1983), S. 129 ff. 49 N. Luhmann (Fn. 3), S. 106. Vgl. auch ders.: „Die Geltung des Rechts“, in: RTh 22 (1991), S. 273 ff. 50 Vgl. N. Luhmann (Fn. 3), S. 107; Vesting, Thomas: Rechtstheorie, München 2007, Rn. 185.

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transnationale Verträge Rechtsfolgen auslösen, indem sie etwa Schiedsgerichte zur Entscheidung nicht nach Billigkeit, sondern nach Maßstäben des Rechts ermächtigen, reichen also auch sie das Geltungssymbol weiter. Auf der Grundlage der Systemtheorie lassen sich die verschiedenen staatlichen Rechtsordnungen, völkerrechtlichen Regimes und transnationalen Regelungsarrangements gleichwohl als Bestandteile eines einzigen Rechtssystems beschreiben. Die Erklärung ist in der Unterscheidung von Code und Programm zu finden.51 Da die Werte Recht und Unrecht nicht selbst Kriterien für die Feststellung von Recht und Unrecht liefern können, muss die die Zuordnung zum Code durch Programme erfolgen. Programm ist alles, was „für die Funktion der Zuordnung von Codewerten zu Tatbeständen bereitgestellt ist: Verfassungen, Gesetze, Verordnungen, Gerichtsentscheidungen mit offizieller Präjudizwirkung und vor allem: Verträge; kurz: das gesamte positive Recht“52. Dadurch, dass die Codewerte verschiedene Formen annehmen können, wird die Unveränderlichkeit des Systems bei gleichzeitiger Anpassungsfähigkeit gewährleistet. Die verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtregimes und Regelungsarrangements operieren demnach zwar in einem einzigen Rechtssystem, schließen aber nach Maßgabe unterschiedlicher Programme in Form von Verfassungen und Gründungsverträgen an den Rechtscode an. Bei systemtheoretischer Deutung stellt sich der globale Rechtspluralismus demnach nicht als eine neue Form der internen Differenzierung des Rechtssystems in weitere autonome Teilsysteme dar.53 Vielmehr bleibt Luhmanns Unterteilung des Rechtssystems in ein Zentrum, in dem allein die Gerichte stehen, weil nur diese einem rechtlichen Operationszwang unterliegen, und eine Peripherie, an der sich insbesondere Gesetze und Verträge befinden, unberührt.54

4. L EGITIMITÄT Den völkerrechtlichen Regimes und transnationalen Regelungsarrangements wird häufig ein Legitimitätsproblem unterstellt. Zu dessen Lösung scheint die Systemtheorie als soziologische Theorie des positiven Rechts auf den ersten Blick wenig beitragen zu können. Allerdings wird die Diskussion häufig unter

51 Vgl. N. Luhmann (Fn. 3), S. 165 ff. 52 N. Luhmann, Codierung (Fn. 47), S. 197. 53 So aber wohl MacCormick, Neil: „Beyond the Sovereign State“, in: Mod L Rev 56 (1993), S. 1 ff. (hier S. 8). 54 Vgl. N. Luhmann (Fn. 3), S. 297 ff.; ders.: „Die Stellung der Gerichte im Rechtssystem“, in: RTh 21 (1990), S. 459 ff.

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dem Begriff der „Konstitutionalisierung“55 geführt, womit die Übertragung des Verfassungskonzepts, das sich im Nationalstaat herausgebildet hat, auf die neuartigen Erscheinungen des Rechts gemeint ist. Eine Verfassung in diesem Sinne nimmt die Bedingungen der Legitimität des Rechts in das positive Recht selbst auf, indem sie ein Verfahren demokratischer Rechtsetzung einrichtet und auf die Einhaltung von Grundrechten verpflichtet.56 Das positive Recht wird dadurch reflexiv auf sich selbst gegründet.57 Konstitutionalisierung bezeichnet dann einerseits eine Anpassung des Konzepts an die neuen Kontexte, andererseits eine Entwicklung der Rechtswirklichkeit in Richtung auf das normative Ideal. Voraussetzung dafür ist freilich die Möglichkeit einer „Generalisierung“ und „Respezifizierung“ des Verfassungskonzepts.58 Die Systemtheorie kann insofern dazu beitragen, Annahmen über Veränderungen des positiven Rechts theoretisch zu fassen und empirisch nachzuweisen.59 Hinsichtlich von internationalen Organisationen werden Prozesse der Konstitutionalisierung schon seit längerer Zeit beobachtet.60 Bezogen auf die EU etwa wird damit insbesondere die Herausbildung von Grundrechten in der Rechtsprechung des EuGH bezeichnet.61 Kritiker bemängeln freilich, dass das demokratische Element von Verfassungen hier unterentwickelt bleibe.62 Teubner unterstellt nun auf der Grundlage der Systemtheorie, dass transnationale Regelungsarrangements in „untergründigen evolutionären Prozessen von

55 Wahl, Rainer: „Konstitutionalisierung“, in: Carl-Eugen Eberle/Martin Ibler/Dieter Lorenz (Hg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart, München 2002, S. 191 ff.; Loughlin, Martin: „What is Constitutionalisation?“, in: Petra Dobner/ders. (Hg.), The Twilight of Constitutionalism?, Oxford/New York 2010, S. 47 ff. 56 Vgl. Grimm, Dieter: „Entstehungs- und Wirkungsbedingungen des modernen Konstitutionalismus“, in: Dieter Simon (Hg.), Akten des 26. Deutschen Rechtshistorikertages, Frankfurt a.M. 1987, S. 45 ff. 57 Vgl. Luhmann, Niklas: „Verfassung als evolutionäre Errungenschaft“, in: RJ 9 (1990), S. 176 ff. 58 G. Teubner (Fn. 2), S. 16. 59 Vgl. Thornhill, Chris: A Sociology of Constitutions, Cambridge (UK)/New York 2011. 60 Vgl. Peters, Anne: „The Constitutionalisation of International Organisations“, in: Neil Walker/Jo Shaw/Stephen Tierney (Hg.), Europe’s Constitutional Mosaic, Oxford/ Portland 2011, S. 253 ff. 61 Vgl. Stein, Eric: „Lawyers, Judges, and the Making of a Transnational Constitution“, in: Am J Int’l L 75 (1981), S. 1 ff.; Weiler, Joseph H.H.: „The Transformation of Europe“, in: Yale LJ 100 (1991), S. 2403 ff. 62 Vgl. Grimm, Dieter: Braucht Europa eine Verfassung?, München 1995.

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langer Dauer“ ebenfalls „Eigenverfassungen“ hervorbringen.63 Zum einen bildeten sich dort Grundrechte heraus, die sich von ihrem einseitigen Staatsbezug lösten und gegen „totalitäre Tendenzen“64 auch von anderen Institutionen und Diskursen richteten. Ein solches Grundrechtsverständnis kann sich auf Luhmanns Konzept der Grundrechte als „Institution“65 zur Erhaltung einer ausdifferenzierten Sozialordnung stützen. Zum anderen institutionalisierten die transnationalen Regelungsarrangements jeweils „duale Sozialverfassungen“66 aus formal organisiertem und spontanem Bereich, die der Differenzierung von Regierung und öffentlicher Meinung im Nationalstaat entsprächen und damit quasi-demokratische Verhältnisse schafften: „Dieser Dualismus von Spontanbereich und Organisationsbereich als Prinzip ‚gelungener‘ funktionaler Differenzierung wird selten in seinen demokratietheoretischen Dimensionen gesehen. Demokratie kann nur funktionieren, wenn einerseits Entscheidungspotentiale spezialisiert, organisiert und rationalisiert werden, diese aber nicht die totale Kontrolle über ihren gesellschaftlichen Sektor übernehmen können, sondern ihrerseits einem Kontrollprozeß durch eine dezentrale Vielheit spontaner Entscheidungsprozesse ausgesetzt sind.“67

In einigen transnationalen Regelungsarrangements ist die Herausbildung von Grundrechten inzwischen tatsächlich zu beobachten.68 Beispielsweise bringen manche Schiedsgerichte, die über Domainstreitigkeiten entscheiden, das Recht der Meinungsfreiheit zur Anwendung, obwohl die UDRP ein solches Recht nicht ausdrücklich gewährleistet. Insbesondere in Fällen von „cybergriping“69, in denen Internetseiten mit Markennamen oder Teilen davon als Domainnamen eingerichtet werden, um darauf Kritik an Personen, Produkten oder Unternehmen zu äußern, kommt es dann zu einer Abwägung von Meinungsfreiheit und Marken-

63 G. Teubner (Fn. 2), S. 13, 15. 64 Teubner, Gunther: „Vertragswelten“, in: RJ 17 (1998), S. 234 ff. (hier S. 259). 65 Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution, Berlin 1965. 66 Teubner, Gunther: „Privatregimes: Neo-Spontanes Recht und duale Sozialverfassungen in der Weltgesellschaft?“, in: Dieter Simon/Martin Weiss (Hg.), Zur Autonomie des Individuums, Baden-Baden 2000, S. 437 ff. 67 Ebd., S. 449. 68 Vgl. Renner, Moritz: Zwingendes transnationales Recht, Baden-Baden 2011, S. 91 ff. 69 Teubner, Gunther/Karavas, Vaios: „http://www.CompanyNameSucks.com: Drittwirkung der Grundrechte gegenüber ‚Privaten‘ im autonomen Recht des Internet?“, in: Karl-Heinz Ladeur (Hg.), Innovationsoffene Regulierung des Internet, Baden-Baden 2003, S. 249 ff.

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recht. So heißt es in einer frühen Entscheidung des Arbitration und Mediation Center (AMC) der World Intellectual Property Organization (WIPO): „Although free speech is not listed as one of the Policy’s examples of a right or legitimate interest in a domain name, the list is not exclusive, and the Panel concludes that the exercise of free speech for criticism and commentary also demonstrates a right or legitimate interest in the domain name under Paragraph 4 (c)(iii). The Internet is above all a framework for global communication, and the right to free speech should be one of the foundations of Internet law.“70

Wie Kritiker bemerken, bleiben die Erfolgsaussichten einer solchen Eigenkonstitutionalisierung gleichwohl unsicher.71

5. R ESPONSIVITÄT Alles deutet folglich darauf hin, dass die Legitimität des Rechts der Weltgesellschaft nur im Zusammenwirken seiner verschiedenen Bestandteile gewährleistet werden kann. Während die völkerrechtlichen Regimes unter Umständen auf eine Zufuhr demokratischer Legitimation seitens der mitgliedstaatlichen Verfassungen angewiesen bleiben,72 bedarf es gegenüber den transnationalen Regelungsarrangements gegebenenfalls eines Rechtsschutzes vermittels der staatlichen Grundrechtsordnungen.73 Umgekehrt muss der Geltungsanspruch der staatlichen Rechtsordnungen aus demokratischen Gründen dort zurücktreten, wo sie auf Außenstehende überwirken.74 Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit schließlich

70 WIPO AMC, No. D2000-0190 – Bridgestone Firestone, Inc. et al. v. Jack Myers. 71 Vgl. Grimm, Dieter: „Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kompensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?“, in: Matthias Herdegen/Hans-Jürgen Papier/Rupert Scholz (Hg.), Staatsrecht und Politik, München 2009, S. 67 ff. 72 Vgl. Habermas, Jürgen: „Hat die Konstitutionalisierung des Völkerrechts noch eine Chance?“, in: ders., Der gespaltene Westen, Frankfurt a.M. 2004, S. 113 ff. 73 Vgl. Ladeur, Karl-Heinz/Viellechner, Lars: „Die transnationale Expansion staatlicher Grundrechte“, in: AVR 48 (2008), S. 42 ff. 74 Vgl. Joerges, Christian/Neyer, Jürgen: „From Intergovernmental Bargaining to Deliberative Political Processes“, in: Eur LJ 3 (1997), S. 273 ff.; Kumm, Mattias: „The Cosmopolitan Turn in Constitutionalism“, in: Jeffrey L. Dunoff/Joel P. Trachtman (Hg.), Ruling the World?, Cambridge (UK)/New York 2009, S. 258 ff.; Krisch, Nico: Beyond Constitutionalism, Oxford/New York 2010, S. 89 ff.

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fordern eine Abstimmung der verschiedenen Rechtsordnungen im Fall von Normenkonflikten.75 Da es dem Recht der Weltgesellschaft an einer hierarchischen Struktur mangelt, kann die Abstimmung allerdings nur durch eine Form der horizontalen Koordination gelingen, die sich als „Responsivität“76 bezeichnen lässt. Danach wird die empathische Orientierung nach außen als Selbstverpflichtung in die innere Ordnung eingebaut. Die verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements legen sich also „interne Restriktionen“ auf, „welche unter dem Gesichtspunkt des notwendigen Zusammenhangs und der unverzichtbaren Koordination des Ganzen reziproke Rücksichtnahmen auf die jeweiligen Bestandsbedingungen der anderen Teile erfordern“.77 Ein responsiver Rechtspluralismus in diesem Sinne gründet auf der Annahme, dass die verschiedenen Teilordnungen jeweils eine Regulierungsaufgabe übernehmen, die keine andere allein erfüllen kann, so dass ein Spannungsverhältnis aus Unabhängigkeit und Abhängigkeit entsteht. Er setzt zumindest die Fähigkeit zur „Selbstreflexion“78 voraus: Die verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements müssen sich in die Rolle der anderen Teilordnungen versetzen können, um aus deren Perspektive die eigenen Wirkungen zu beurteilen. Responsivität meint dann genauer eine Kombination aus Komplementarität und Subsidiarität: Einerseits dürfen die verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements ihren Anwendungsbereich ausdehnen, soweit infolge von Lücken in fremdem Recht der Bedarf zur Ergänzung besteht. Andererseits müssen sie ihren Anwendungsbereich zurücknehmen, soweit infolge von Überschneidungen die Notwendigkeit zur Beschränkung besteht. In keinem Fall ist dabei jedoch die Preisgabe der eigenen Identität verlangt. Die Abstimmung bleibt allerdings prekär, wenn sie lediglich dem informalen Austausch und dem gegenseitigen Vertrauen der für die Rechtsanwendung zuständigen Stellen überantwortet wird. Eine solche Zusammenarbeit lässt sich inzwischen zwar tatsächlich feststellen. So beobachtet Anne-Marie Slaughter die

75 Vgl. N. MacCormick (Fn. 39), S. 530. 76 Begriff nach Nonet, Philippe/Selznick, Philip: Law and Society in Transition: Toward Responsive Law, New York 1978, S. 14 f., dort aber mit etwas anderer Bedeutung: „law as a facilitator of response to social needs and aspirations“. Vgl. bereits Viellechner, Lars: „Responsiver Rechtspluralismus: Zur Entwicklung eines transnationalen Kollisionsrechts“, in: Der Staat 51 (2012), S. 559 ff. 77 Willke, Helmut: Ironie des Staates, Frankfurt a.M. 1992, S. 78 (Hervorhebung weggelassen), in Bezug auf verschiedene Sozialsysteme. 78 Luhmann, Niklas: „Selbstreflexion des Rechtssystems“, in: RTh 10 (1979), S. 159 ff.

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Herausbildung von „global government networks“79, in denen einzelne Staatsorgane unmittelbar mit ihren ausländischen Entsprechungen in Beziehung treten. Insbesondere sieht sie eine „global community of courts“80 im Entstehen begriffen, der sich auch internationale Gerichte und nicht-staatliche Schiedsgerichte eingliederten und die sich auszeichne durch „a respect for foreign courts qua courts, rather than simply as the face of a foreign government, and hence for their ability to resolve disputes and interpret and apply the law honestly and competently“81. Das so beschriebene „Kooperationsverhältnis“82 der Gerichte, zu dem sich jedenfalls in Europa auch die Richter selbst bekennen, und der daraus folgende „judicial dialogue“83 entziehen sich bislang aber einer rechtlichen Regelung. Die Einrichtung von Responsivität im Recht erfordert daher ein neuartiges „Kollisionsrecht“84, das sich am Vorbild des Internationalen Privatrechts orien-

79 Slaughter, Anne-Marie: „Global Government Networks, Global Information Agencies, and Disaggregated Democracy“, in: Mich J Int’l L 24 (2003), S. 1041 ff. Vgl. auch Raustiala, Kal: „The Architecture of International Cooperation: Transgovernmental Networks and the Future of International Law“, in: Va J Int’l L 43 (2002), S. 1 ff. 80 Slaughter, Anne-Marie: „A Global Community of Courts“, in: Harv Int’l LJ 44 (2003), S. 191 ff. 81 Dies.: „Judicial Globalization“, in: Va J Int’l L 40 (2000), S. 1103 ff. (hier S. 1113). 82 BVerfGE 89, S. 155 ff. (hier S. 175) – Maastricht-Vertrag. Vgl. auch Jaeger, Renate: „Menschenrechtsschutz im Herzen Europas: Zur Kooperation des Bundesverfassungsgerichts mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und dem Gerichtshof der Europäischen Gemeinschaften“, in: EuGRZ 32 (2005), S. 193 ff.; Garlicki, Lech: „Cooperation of Courts“, in: Int’l J Const L 6 (2008), S. 509 ff.; Voßkuhle, Andreas: „Der europäische Verfassungsgerichtsverbund“, in: NVwZ 29 (2010), S. 1 ff. 83 L’Heureux-Dubé, Claire: „The Importance of Dialogue“, in: Tulsa LJ 34 (1998), S. 15 ff.; Jacobs, Francis G.: „Judicial Dialogue and the Cross-Fertilization of Legal Systems“, in: Tex Int’l LJ 38 (2003), S. 547 ff.; Bryde, Brun-Otto: „The Constitutional Judge and the International Constitutionalist Dialogue“, in: Tul L Rev 80 (2005), S. 203 ff. 84 A. Fischer-Lescano/G. Teubner (Fn. 1), S. 57 ff.; Joerges, Christian: „A New Type of Conflicts Law as the Legal Paradigm of the Postnational Constellation“, in: ders./ Josef Falke (Hg.), Karl Polanyi, Globalisation and the Potential of Law in Transnational Markets, Oxford/Portland 2011, S. 465 ff.; Schiff Berman, Paul: „Conflict of Laws, Globalization, and Cosmopolitan Pluralism“, in: Wayne L Rev 51 (2005), S. 1105 ff.

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tiert.85 Ein solches Recht schöpft seine Möglichkeiten freilich nicht aus, wenn es sich lediglich als „Intersystemkollisionsrecht der nicht-normativen Art“ darstellt, „das bei Regime-Kollisionen nicht mehr auf das Recht verschiedener Regimes verweist, sondern auf nicht-rechtliche Kollisionslösungen“ wie etwa politische Aushandlung.86 Stattdessen muss es ebenso wie das Internationale Privatrecht in bestimmten Fällen mit transnationalem Bezug die Anwendbarkeit des eigenen Rechts zurücknehmen und auf fremdes Recht verweisen. Es muss dabei sogar einen Schritt über die Logik des Internationalen Privatrechts hinausgehen. Gefragt ist nicht nur nach „Transferenz-Regeln“, die einseitig nach Belieben gesetzt werden und lediglich „Minimalbedingungen wechselseitiger Kompatibilität und Verträglichkeit“ garantieren, sondern nach „Konferenz-Regeln“, die in bestimmten Verhältnissen allseitig gewährt werden und „eine emergente Realität des Ganzen aus der wechselseitigen Selbstbindung und Selbstbeschränkung autonomer Teile“ erzeugen.87 Die Aussichten darauf, dass eine horizontale Koordination der verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements durch transnationales Kollisionsrecht gelingt, sind aus zwei Gründen besonders günstig. Zum einen bedarf es nicht der Einigung auf substantielle Normen,88 sondern nur der Verständigung über einzelne Abstimmungsregeln. Die Einbuße ist daher gering. Zum anderen erwächst aus der Selbstbeschränkung im Austausch die Möglichkeit der gegenseitigen Einflussnahme. Der Nutzen ist daher groß. Der Herausbildung eines responsiven Rechts in der Weltgesellschaft stehen auch nicht jene Hindernisse entgegen, auf die ein „reflexives Recht“89 zur Integration verschiedener gesellschaftlicher Teilsysteme stößt. Jenem wird, freilich

85 Vgl. Wai, Robert: „Conflicts and Comity in Transnational Governance“, in: Christian Joerges/Ernst-Ulrich Petersmann (Hg.), Constitutionalism, Multilevel Trade Governance and Social Regulation, Oxford/Portland 2006, S. 229 ff. 86 A. Fischer-Lescano/G. Teubner (Fn. 1), S. 128. 87 H. Willke (Fn. 77), S. 346, 349 (Hervorhebungen weggelassen), mit Bezug auf die Abstimmung verschiedener Sozialsysteme. 88 So aber Poiares Maduro, Miguel: „Contrapunctual Law“, in: Neil Walker (Hg.), Sovereignty in Transition, Oxford/Portland 2003, S. 501 ff. (hier S. 524 ff.); M. Kumm (Fn. 74), S. 272 ff. 89 Teubner, Gunther: „Reflexives Recht“, in: ARSP 68 (1982), S. 13 ff.; ders./Willke, Helmut: „Kontext und Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung durch reflexives Recht“, in: ZfRSoz 5 (1984), S. 4 ff.

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bislang nur innerhalb des Staates,90 die Aufgabe zugedacht, „strukturelle Voraussetzungen für Reflexionsprozesse in anderen Sozialsystemen“91 zu schaffen. Eine solche Vermittlung der Abstimmung von verschiedenen Sozialsystemen durch das Recht gestaltet sich ungleich schwieriger als die Abstimmung von verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements untereinander. Zum einen ist es aus systemtheoretischer Perspektive kaum vorstellbar, „daß man vom Recht aus die Autopoiesis aller Sozialsysteme kontrollieren und regulieren könnte – etwa im Sinne der Regulierung von Selbstregulierung“92. Demgegenüber kommt im Recht der Weltgesellschaft keiner einzelnen Teilordnung eine herausgehobene Stellung zu, auch nicht als Moderator oder Katalysator. Zum anderen ist die Verständigung zwischen verschiedenen Sozialsystemen unwahrscheinlich, sofern diese nicht „über eine wenigstens partiell gemeinsame Sprache verfügen“93. Dagegen kann die Abstimmung von verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements ohne Übersetzungsprobleme über einen „universalen Code der Legalität“94 erfolgen.

6. A USBLICK Die Herausbildung eines transnationalen Kollisionsrechts lässt sich inzwischen tatsächlich beobachten. Vereinzelt finden sich bereits ausdrückliche Regelungen. Eine Komplementaritätsregel enthält etwa das Internationale Strafrecht.95 Nach Art. 17 Abs. 1 lit. a des Statuts des Internationalen Strafgerichtshofs (StIStGH) ist ein Verfahren vor dem Gerichtshof nur zulässig, wenn ein Staat „nicht willens oder nicht in der Lage [ist], die Ermittlungen oder die Strafverfolgung ernsthaft

90 Deutlich H. Willke (Fn. 77), S. 192: „Recht als Steuerungsinstrument staatlich organisierter Politik“. 91 G. Teubner (Fn. 89), S. 50 f. 92 Luhmann, Niklas: „Einige Probleme mit ‚reflexivem Recht‘“, in: ZfRSoz 6 (1985), S. 1 ff. (hier S. 7). 93 Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992, S. 421. 94 Günther, Klaus: „Rechtspluralismus und universaler Code der Legalität“, in: Lutz Wingert/ders. (Hg.), Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit, Frankfurt a.M. 2001, S. 539 ff. (hier S. 558). 95 Vgl. El Zeidy, Mohamed M.: „The Principle of Complementarity: A New Machinery to Implement International Criminal Law“, in: Mich J Int’l L 23 (2002), S. 869 ff.

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durchzuführen“96. Eine Subsidiaritätsregel weist demgegenüber das Regime des europäischen Menschenrechtsschutzes auf.97 Nach Art. 53 EMRK ist die Konvention „nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden“98. Der Gedanke, dass Responsivität in keinem Fall zur Aufgabe der eigenen Identität führen darf, kommt wiederum deutlich im Recht EU zum Ausdruck.99 Nach Art. 4 Abs. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) achtet die Union „die Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen und ihre jeweilige nationale Identität, die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt“100. Häufig scheitern ausdrückliche Regelungen derzeit noch an dem Mangel von Erfahrung und der Vielfalt der zu regelnden Beziehungen. Hilfsweise wird das transnationale Kollisionsrecht daher von der Rechtsprechung in „dialectical interaction“ entwickelt, das heißt durch „a recurrent pattern of dialectical engagement, critique, and counsel, from which learning and innovation can emerge“.101 Die Aufnahme eines Kooperationsverhältnisses durch die Gerichte setzt somit die Responsivität der verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements immer schon voraus. Zugleich liegt es maßgeblich an den Gerichten, zur Entwicklung der benötigten Rechtsinstitute beizutragen.102 Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat sich dabei als besonders innovativ hervorgetan. Zunächst hat es für das Verhältnis von deutscher Rechtsordnung und Recht der EU eine Subsidiaritätsregel mit Vorbehalt formuliert, die als

96

Römisches Statut des Internationalen Strafgerichtshofs, BGBl 2000 II, S. 1394 ff. (hier S. 1407).

97

Vgl. Petzold, Herbert: „The Convention and the Principle of Subsidiarity“, in: Ronald St. J. Macdonald/Franz Matscher/ders. (Hg.), The European System for the Protection of Human Rights, Dordrecht u.a. 1993, S. 41 ff.

98

Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten, BGBl 2010 II,

99

Vgl. Pernice, Ingolf: „Der Schutz nationaler Identität in der Europäischen Union“,

S. 1199 ff. (hier S. 1215). in: AöR 136 (2011), S. 185 ff. 100 Vertrag über die Europäische Union, BGBl 2008 II, S. 1039 ff. (hier S. 1042). 101 Ahdieh, Robert B.: „Between Dialogue and Decree: International Review of National Courts“, in: NYU L Rev 79 (2004), S. 2029 ff. (hier S. 2035). 102 Vgl. Cassese, Sabino: I tribunali di Babele: I giudici alla ricerca di un nuovo ordine globale, Roma 2009.

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DER

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„Solange“-Formel bekannt geworden ist. Danach überprüft es Sekundärrecht der EU, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten von deutschen Gerichten und Behörden herangezogen wird, nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes, solange die EU einen Schutz der Grundrechte gewährleistet, „der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im wesentlichen gleichzuachten ist, zumal den Wesensgehalt der Grundrechte generell verbürgt“103. Dieser Gedanke hat später auch Eingang in die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zum Verhältnis von EMRK und Recht der EU gefunden. Danach ist ein staatlicher Eingriff in Konventionsrechte, mit dem Verpflichtungen aus der Mitgliedschaft in einer internationalen Organisation erfüllt werden, „justified as long as the relevant organisation is considered to protect fundamental rights, as regards both the substantive guarantees offered and the mechanisms controlling their observance, in a manner which can be considered at least equivalent to that for which the Convention provides“104. Der EuGH wiederum hat in derselben Logik für das Verhältnis von Recht der EU und Recht der Vereinten Nationen (VN) eine Komplementaritätsregel formuliert. Danach hat er eine Verordnung der EU, mit der eine Resolution des Sicherheitsrats der VN umgesetzt worden war, die den Mitgliedstaaten das Einfrieren von Finanzmitteln des Terrorismus verdächtigter Personen aufgegeben hatte, vollumfänglich am Maßstab der europäischen Grundrechte überprüft, weil das Verfahren der Kontrolle durch den Sanktionsausschuss des Sicherheitsrats der VN „offenkundig nicht die Garantien eines gerichtlichen Rechtsschutzes bietet“105. Für das Verhältnis der deutschen Rechtsordnung zur EMRK sowie zu anderen völkerrechtlichen Verträgen hat das BVerfG aus dem Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine weitere Subsidiaritätsregel mit Vorbehalt entwickelt. Danach sind alle staatlichen Behörden und Gerichte verpflichtet, die Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge und die dazu ergangenen Entscheidungen internationaler Gerichte bei ihren Entscheidungen zu „berücksichtigen“106, das heißt zu befolgen, sofern daraus nicht ein Ergebnis folgt, das mit wesentlichen Grundsätzen der deutschen Rechtsordnung offensichtlich unver-

103 BVerfGE 73, S. 339 ff. (hier S. 387) – Solange II. 104 EGMR, No. 45036/98, § 155 – Bosphorus gegen Irland. 105 EuGH, Slg. 2008, I-6351 ff. (hier Rn. 322) – Kadi/Al Barakaat gegen Rat/Kommission. 106 BVerfGE 111, S. 307 ff. (hier S. 315) – Görgülü; BVerfGK 9, S. 174 ff. (hier S. 191) – Wiener Konsularrechtsübereinkommen.

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einbar ist.107 Im Gegenzug räumt der EGMR den Vertragsparteien der EMRK bei der Einschränkung bestimmter Konventionsrechte einen „margin of appreciation“108 ein, der zu einer Rücknahme der europäischen Kontrolle führt, wenn in einem bestimmten Sachbereich nationale Besonderheiten rechtlicher oder tatsächlicher Art bestehen. Die bislang erst von einigen Rechtsordnungen und Rechtsregimes in Ansätzen entwickelten Kollisionsregeln bedürfen weiterer Ausformung und Verbreitung, während Kollisionsregeln für das Verhältnis von staatlichen Rechtsordnungen und transnationalen Regelungsarrangements überhaupt noch entwickelt werden müssen. Hier ist an einen ergänzenden Grundrechtsschutz seitens der staatlichen Rechtsordnungen zu denken, sofern die Eigenkonstitutionalisierung der transnationalen Regelungsarrangements misslingt.109 In der gegenseitigen Beeinflussung und Kontrolle der verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements mag dann eine neue Form der Demokratie zu sehen sein.110 Zugleich wird deutlich, dass es in der Weltgesellschaft nicht zu einer Verdrängung von normativen Strukturen durch kognitive Mechanismen der Erwartungsbildung kommt, sondern zu deren Vermengung. In dem Prozess der wechselseitigen Beobachtung und Anerkennung passen sich die verschiedenen Rechtsordnungen, Rechtsregimes und Regelungsarrangements allmählich aneinander an: „Dieser Einbau kognitiver Mechanismen in die an sich normative Struktur des Rechts scheint der Entwicklung einer Weltgesellschaft zu entsprechen“, befand Luhmann schon vor längerer Zeit: „Weltweite Strukturbildungen und deren Folgeprobleme, Interaktionszusammenhänge und deren Unbalanciertheiten, ‚regieren‘ das regional in Geltung gesetzte positive Recht nicht in der Form einer übergreifenden Normierung, eines höherstufigen überstaatlichen und damit überpositiven Rechts, sondern dadurch, daß der Dynamismus der Weltgesellschaft Lernanlässe setzt, vielleicht Lernpressionen ausübt und eine gewisse Nicht-Beliebigkeit von Problemlösungen vorzeichnet.“111

107 Vgl. Viellechner, Lars: „Berücksichtigungspflicht als Kollisionsregel“, in: Nele Matz-Lück/Mathias Hong (Hg.), Grundrechte und Grundfreiheiten im Mehrebenensystem, Heidelberg u.a. 2012, S. 109 ff. 108 EGMR, No. 5493/72, §48 – Handyside gegen Vereinigtes Königreich. 109 Vgl. L. Viellechner (Fn. 22), S. 455 ff. 110 Vgl. Ladeur, Karl-Heinz: „Globalization and the Conversion of Democracy to Polycentric Networks“, in: ders. (Hg.), Public Governance in the Age of Globalization, Aldershot/Burlington 2004, S. 89 ff. 111 N. Luhmann (Fn. 10), S. 340 f.

Infrasystemische Subversion* P ASQUALE F EMIA „Was die Regel ist, das erkennt als Mißbrauch. Und wo Ihr den Mißbrauch erkannt habt, da schafft Abhilfe!“ BERTOLT BRECHT

1. W ARUM

IST DAS

R ECHT

NICHT EKLIG ?

Toni Negris Rückblick auf seine Erfahrungen mit dem Recht mündet in einer Frage: „Fragen wir uns doch: Weshalb ekelte es in dieser New-Global-Welt, in der wir in den letzten Jahren gelebt haben, innerhalb jener Kämpfe, die so wichtig waren, niemanden an, über Rechte zu sprechen, während sich uns in meiner Generation, in den Sechziger- und Siebzigerjahren, beim Gespräch über Rechte der Magen umdrehte, weil es schien, als würde über Rechte zu sprechen gleichzeitig bedeuten, eine Autorität anzuerkennen, die diese schützt, garantiert oder realisiert?“

Die Antwort ist klar: „Aber diese Autorität war ein Bestandteil des fortschreitenden Schemas des Kapitals: Nur wenn das Kapital auf den Zustand eines Parasits und die Kraft des Staates auf die Tyrannei reduziert werden, gut, dann wird dieser eigentümliche Anspruch an das Recht aktuell und es ist einfach und machbar, auf dieser Ebene zu arbeiten.“1

*

Aus dem Italienischen übersetzt von Daniela Jaros.

1

Negri, Antonio: „Nuovi diritti e potere costituente“, in: Marcello Tarì (Hg.), Guerra e democrazia, Rom 2005, S. 109 ff. (hier S. 116).

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Über Rechte zu sprechen war ‚eklig‘ in einem Kontext, in dem das Rechtssystem als eine hypokritische Rationalisierung der Staatsherrschaft (die ihrerseits von den Märkten dominiert wurde) begriffen wurde; in der globalen Zivilgesellschaft ist es nicht ‚eklig‘ (oder weckt zumindest andere Verdachtsmomente). Jetzt muss man sich auf die Rechtsform einlassen, weil man innerhalb ihres „strategischselektiven Rahmens“ eine gegenhegemoniale Politik durchführen kann.2 Toni Negri behält juristischen Kategorien gegenüber eine facettenreiche, zwischen Notwendigkeit und Misstrauen schwankende Einstellung. Während eines Seminars, das er gemeinsam mit Gunther Teubner 2011 in Turin hielt, schien Negri abzustreiten, dass das ‚Kommune‘ (sein philosophisch-politisches Konzept der Erneuerung der Weltgesellschaft)3 durch juristische Kategorien konstruiert werden kann, obwohl er die Dekonstruktion der traditionellen Rechtsformen und der Souveränität, zu der die Systemtheorie gelangt, ansonsten teilt.4 Negri ist sich der starken Analogie seines Konzepts des ‚Kommunen‘ und Teubners Konzepts des ‚Öffentlichen‘ jenseits des Staates und des Regierungssystems bewusst.5 Was bleibt, ist die Meinungsverschiedenheit über ‚das Private‘ und über das Verhältnis von Privateigentum und Privatsphäre, da letztere laut Negri

2

Buckel, Sonja: „Zwischen Schutz und Maskerade – Kritik(en) des Rechts“, in: RAV Informationsbrief 102 (2009), S. 11 ff. (hier S. 22).

3

Negri, Antonio: „The Law of the Common“, in: Finnish Yearbook of International Law 21 (2010), S. 16 ff.; Blecher, Michael: „Diritto in movimento. Verso un nuovo diritto comune“, in: UniNomade vom 09.02.2001, unter (Stand 20.03.2013) www.uninomade.org, § 1.II (Übers.): „Das Kommune ist also logischerweise die transformative Virtualität, das transformative Ereignis oder die Subversion jeglicher aktuellen Gesellschaftsorganisationsform. Aus normativer Sicht ist ‚das Kommune‘ der entscheidende produktive Mehrwert im Verhältnis zu allen Unterscheidungen, die für die Gesellschaftsorganisation angewandt werden. Es stellt das ‚verallgemeinerte Andere‘ jeder existierenden sozialen Ordnung dar und steht für die Notwendigkeit, alle, oder zumindest den Großteil der Möglichkeiten, die für alle oder zumindest für den Großteil der Individuen oder Kollektive in einem bestimmten historischen Moment gegeben sind, zu verwirklichen.“ (Kursivsetzungen im Original).

4

A. Negri (Fn. 3), S. 16 ff.

5

Teubner, Gunther: „Societal Constitutionalism and the Law of the Common“, in: Finnish Yearbook of International Law 21 (2010), S. 2 ff. (S. 14): „While the ‚common‘ seeks to overcome the alienation of the private via collective activities and collective modes of attribution, the ‚public‘ tends to strengthen the space of open and democratic deliberation which finds its different forms in each social field“.

I NFRASYSTEMISCHE SUBVERSION

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noch immer eng an das Eigentumsparadigma gebunden bleibt.6 Ein Recht des Kommunen müsse aus einer kategorialen und realen Revolution entstehen, aus einer „Auflösung der auf Eigentum ausgerichteten Verfassung“, „aus der Pluralität, aus Netzwerken, die sich durch Arbeitsverhältnisse bilden“, die, indem sie „das Potenzial der produktiven sozialen Verhältnisse weiterentwickeln“, „in Gleichheit und Mitproduktion“ nicht-staatliche juristische Normen schaffen, die das gemeinschaftliche Leben regeln. Würde dies erreicht, entstünden Zweifel: „Warum soll man noch über Recht sprechen?“ Ist das Neue, das man schaffen will, noch Recht?7

2. D AS K OMMUNE

UND SUBJEKTIVE

R ECHT

Um Toni Negris Position zu verstehen, muss man das Normensystem (objektives Recht) hinter sich lassen und sich auf Handlungen, die auf die Realisierung der infrasystemischen Kommunikation abzielen, konzentrieren (subjektives Recht). Negri nähert sich dem subjektiven Recht, indem er die anglo-amerikanische politische Theorie, die Rechte als „claims“8 definiert, und die Tradition der subjektiven öffentlichen Rechte der deutschen Staatslehre miteinander verbindet. „Wenn wir jetzt zu den aktuellen Bewegungen zurückkehren, habe ich den Eindruck, dass in unserer Welt mindestens zwei Rechts-, claims- oder Anspruchsordnungen entstanden sind. […] Von diesem Standpunkt aus gesehen kann man meiner Meinung nach ‚Rechte‘ als einzelne claims interpretieren, die entweder auf der Ebene der Lebensweisen (subjektive Rechte) oder auf der politischen Ebene (subjektive öffentliche Rechte) zum Ausdruck kommen.“9

Der Traditionsbruch, der vom Versuch der Hybridisierung ausgelöst worden ist, soll dazu beitragen, dass Rechte nicht mehr „mystifizierte Formen der kapitalis-

6

A. Negri (Fn. 3), S. 25.

7

Zum Ganzen A. Negri (Fn. 3), S. 24.

8

Feinberg, Joel: „The Nature and Value of Rights“, in: ders. (Hg.), Rights, Justice and the Bonds of Liberty. Essays in Social Philosophy, Princeton 1980, S. 143 ff. (hier S. 151); Sreenivasan, Gopal: „A Hybrid Theory of Claim-Rights“, in: Oxford Journal of Legal Studies 25 (2005), S. 257 ff. In der amerikanischen Jurisprudence Hohfeld, Wesley N.: Fundamental Legal Conceptions as Applied in Judicial Reasoning. And Other Legal Essays, New Haven 1920, S. 2 ff.

9

A. Negri (Fn. 1), S. 115.

308 | F EMIA

tischen Aneignung oder des Funktionierens des possessiven Individualismus sind“; subjektive Rechte sollten im Kommunen neu begründet werden.10 Diese Rechte streben nicht nach Versöhnung und dialektischer Mediation zwischen dem Individuum und der Gesellschaft, sondern nach Konflikten. Das Grundproblem bleibt: „Sind diese Ausdrucksformen des Rechts oder des pouvoir constituant konstitutionalisierbar? [...] Ich weiß es nicht.“ Die einzige Möglichkeit „sie (die Rechte, Anm. d. Ü.) zu Institutionen zu machen“, während ihre Ableitung vom Antagonismus aufrechterhalten bleibt, ist: „Mein Recht ist nicht das, was mir die Verfassung zuerkennt, aber jenes Etwas, das im Inneren dessen ist, was die Kämpfe, die Bewegungen, die Sprachen, die Intelligenz und die Arbeit konstruiert haben; und ich erkenne es als solches an und kommuniziere es als solches.“11 Negris aus philosophischer Sicht anspruchsvollste Abhandlung findet sich in Fabbrica di porcellana.12 Dort ist das zentrale Problem des subjektiven Rechts das Verhältnis zwischen Anspruch und Schutz, zwischen der Einforderung eines subjektiven Anspruchs und „der Begründung dieses Anspruchs innerhalb eines objektiv bestimmten Wertesystems.“ Es ist notwendig, „ein subjektives Dispositiv“ und eine „objektive Struktur“ zu verbinden, ohne der Versuchung zu erliegen, eine universelle Grundlage zu suchen, die den juristischen Diskurs in der zeitlosen Steifheit des Präkonstituierten blockieren würde. Subjektive private oder öffentliche Rechte13 sind alle von Differenz (Differenz ist „das Recht die eigene Singularität auszudrücken“) und Widerstand geprägt. Widerstand wird „auf der Basis von gemeinsamen Bedürfnissen und sozialer Kooperation geschaffen. Das gleiche gilt für die Beanspruchung der Singularität, die die kooperative Beschaffenheit des Kommunen charakterisiert, und für die ontologische Tendenz des Kommu-nen, die jeweils wiederum durch die Singularität aufgewiesen werden.“14 Subjektives (Privat-) Recht, respektive,

10 Verstanden als eine ontologische Ausdrucksweise „der Macht der Bewegungen, der Macht der Kämpfe und der Konstruktion von Institutionen und Geschichte, die durch jene Macht bestimmt wurden“ (A. Negri (Fn. 1), S. 115). 11 Ebd., S. 119 (Kursivsetzung hinzugefügt). 12 Ders.: Fabbrica di porcellana, Mailand 2008, S. 99. 13 Negri verwendet weder den Ausdruck „subjektive private Rechte“ noch „subjektive individuelle Rechte“, wahrscheinlich weil sie ihm wie typische Dispositive des proprietären Individualismus erscheinen. 14 A. Negri (Fn. 12); siehe auch die Formel „Differenz ist Widerstand“ (Negri, Antonio: La differenza italiana, Rom 2005, S. 22).

I NFRASYSTEMISCHE SUBVERSION

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„entspricht nicht einfach nur der Vertretung eines Einzelinteresses [...]: Es besteht eher aus der Bereitschaft, dass die Verwirklichung einer Zusammenarbeit, einer kollektiven Macht, die Wert schöpft und Wohlstand produziert, anerkannt werden. Wenn die Multitude die Summe der Singularitäten und das Kommune das Produkt dieser Singularitäten ist, ergibt sich das subjektive Recht also als Recht auf eine gemeinsame Verwirklichung der Prozesse, die zum Aufbau des Kommunen führen sollen, und als Anerkennung der Funktion der Singularität dieser Prozesse“.15

Das subjektive Recht ist eine Mediation zwischen Armut und Liebe,16 die das Rechtsfundament der Subjekte (antagonistische Subjekte, immer mit Kräften kämpfend, die die Wirklichkeit entfremden wollen) in der globalen Gesellschaft darstellt: Die Liebe bereitet den Weg zur Armutserfahrung, zur Erfahrung, etwas zu brauchen. Armut und Liebe „rufen das Kommune ins Leben“, und stellen im Kommunen eine erneuerte Idee des Rechts des Subjekts dar. „Das Verhältnis zwischen Armut und Liebe gestaltet sich wie eine ewige Rückkehr der Macht der Liebe an den Ort der Armut.“17 – Und diese Macht ist das Recht, sie ist die Tatsache, ein kommunes Recht zu haben. Abschließend verbindet Negri subjektive Rechte und pouvoir constituant. In der Gesellschaft existieren sowohl „destrukturierende Kämpfe“ (gegen die aktuelle Produktionsstruktur) als auch „konstituierende Kämpfe“ (für eine Demokratie des Kommunen): „[D]as Verhältnis zwischen subjektiven Rechten und pouvoir constituant wird im Inneren des Spannungsverhältnisses zwischen dem ‚gegen‘ und dem ‚für‘ bestimmt.“18 Dagegen und dafür zu sein, und es immer zu bleiben, heißt auch, gegen sich selbst zu sein. Kann man sich eine juristische Schöpfung vorstellen, die sich von der eigenen Auflösung abhängig konstituiert?19

15 A. Negri (Fn. 12), S. 101, Kursivsetzung im Original. 16 Ebd., S. 102. Über die Liebe als Produkt des Kommunen Hardt, Michael/Negri, Antonio: Comune. Oltre il privato e il pubblico, Mailand 2010, S. 186 ff.; und vor allem Negri, Antonio: Kairòs, Alma Venus, Multitudo. Nove lezioni impartite a me stesso, Rom 2000, S. 103 ff. (S. 105): Die Liebe ist „die ontologische Macht, aus der das Sein besteht.“ 17 A. Negri, (Fn. 16), Kairòs, S. 104. 18 A. Negri (Fn. 12), S. 111, Kursivsetzung im Original. 19 In einer früheren Phase seines Denkens konstruierte Toni Negri die revolutionäre Norm in der „Illegalität der Masse“, siehe Negri, Antonio: „La norma rivoluzionaria“ (1978), in: ders., Macchina tempo: Rompicapi, liberazione, costituzione, Mailand 1982, S. 127 ff. (hier S. 140).

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Aus einer systematischen Perspektive besteht das Problem, ob eine kontinuierliche Schöpfung (und die fortschreitende Auflösung) anhand des Mechanismus des re-entry übersetzbar ist. Angenommen jedes System schafft von sich aus eine eigene Konstitution, dann garantiert ihre kontinuierliche Herausbildung, dass von außen kommende Diskurslogiken in das System Eingang finden. Man könnte sich deshalb vorstellen, dass sich subjektive, ewig resistente Rechte, wie Toni Negri sie sich vorstellt, in ebenso viele Richtungen des Prozesses der Selbstkonstitutionalisierung, wie sie jedem System innewohnen, übersetzen lassen. Um das zu beantworten, muss man sich vertieft mit dem pouvoir constituant auseinandersetzten.

3. P OUVOIR

CONSTITUANT UND

S ELBSTSUBVERSION

In Negris Denken ist der pouvoir constituant das Symbol für die Unvermeidbarkeit des Rechts, für die Unmöglichkeit, das Kommune theoretisch zu untermauern, ohne das Recht in Angriff zu nehmen und zu rekonstruieren: Jener kann nicht so wie in der verfassungsrechtlichen Tradition als eine sich außerhalb des Rechts befindliche Macht verstanden werden (als eine politische Kraft, die das Recht einführt und einen Augenblick danach verschwindet, wenn das Recht schon auf einem „pouvoir constitué“ begründet ist).20 Er lässt das Konzept des „pouvoir constituant als originäre, sich außerhalb des Rechts befindliche Gewalt“ hinter sich und wendet sich „einer rechtlichen Auffassung des pouvoir constituant als einer der Ordnung innewohnenden Macht“ zu, so dass „sich das Konzept der Revolution selbst dieser Erneuerung des pouvoir constituant und sich seine Definition der ‚dem Recht innewohnenden Quelle‘ beugen muss, also der Möglichkeit, dass es innerhalb der Verfassungen, also innerhalb des pouvoir constitué agieren kann, und zwar auf eine unermüdliche Art und Weise.“21

20 Toni Negri hat ein Modell der dreiteiligen Analyse eingeführt, das die Theorien über den pouvoir constituant danach unterscheidet, ob sie die Quelle des pouvoir constituant als transzendent, immanent oder weder transzendent noch immanent (auch wenn integriert in, koexistent mit und synchron zum positiven Verfassungssystem) betrachten Negri, Antonio: Il potere costituente. Saggio sulle alternative del moderno, Rom 2002, S. 15 ff. 21 Ders.: „Alla ricerca del Commonwealth“, in: European Institute for Progressive Cultural Policies, 1/2011, abrufbar unter www.eipcp.net (Stand 20.03.2013), § 2, Kursivsetzung im Original; A. Negri (Fn. 16), Kairòs, S. 135: „Der pouvoir constituant ist die politische Dimension, die zur Entwicklung der Teleologie des Kommunen dazu-

I NFRASYSTEMISCHE SUBVERSION

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Die Ordnung ist kein Zustand (Passivität ohne zeitliche Dimension), sondern ein Prozess,22 ein „neuer Horizont der Subjektivität in der Gegenwart“, in dem „die Singularität Gelegenheit, Differenz, Autonomie und Widerstand und somit pouvoir constituant“23 ist (eine zeitbedingte Handlung). Ein normatives Gebilde, das aus der Differenz und dem Widerstand entsteht (bzw. aus der Zerstörung jeglichen Anspruchs des Vorhandenen, unendlich sich selbst zu reproduzieren), kann man nicht auf jene Paradigmen reduzieren, mit denen das Recht lange Zeit hindurch konstruiert und erzählt worden ist. Negri versucht sich ein ordnendes Umfeld vorzustellen, in dem der Staat, die traditionelle Auffassung von Souveränität und der pouvoir constitué nicht jedes Mal erscheinen, „um den konstitutiven Prozess abzuschließen“,24 sondern in dem sich eine Widerstandskraft zeigt, die sich weigert, sich in einer bestimmten Form abzuschließen.25 Der pouvoir constituant „hat weder etwas mit der Linearität der modernen Rationalität noch mit Utopie zu tun, er ist ‚konstitutive Disutopie‘“:26 er hat keinen abschließenden Akt, der die Zeit aufhält, er befindet sich auch nicht außerhalb der Zeit (in dem irrealen Raum der Utopie). Der pouvoir constituant agiert hic et nunc et semper. Man müsse sich neue Institutionen vorstellen, die „den durch die Aufstände gegen die konstituierte Ordnung entstandenen Riss erweitern und internen Konflikten gegenüber offen bleiben.“ Die Institutionen haben „insofern sie unablässig von den Singularitäten, aus denen sie bestehen, verändert werden, einen of-

gehört.“ Hier besteht ein wichtiger Unterschied zu Giorgio Agamben, nach dem „die moderne Demokratie auf der Idee des pouvoir constituant begründet wird, der sich notwendigerweise außerhalb des pouvoir constitué befinden muss und ohne den das politische Leben an Vitalität verliert. Demokratie besteht dann, wenn sich das rechtlich-politische System in einem dialektischen Verhältnis zu einer Externalität verhält und diese nicht einfach ausgeschlossen werden darf“ Agamben, Giorgio: Interview („Le elezioni di Agamben“), Il Manifesto 17.03.2008 (Kursivsetzung hinzugefügt). 22 Negri, Antonio: Fabbriche del soggetto, Carrara 1987, S. 143: „Die Verfassung präsentiert sich wie ein menschlicher Prozess, immer offen, immer äußerst mächtig.“ 23 Ders. (Fn. 21), Commonwealth, § 3. 24 Ders. (Fn. 20), S. 393. 25 „Die Multitude hat zumindest aus Prinzip der Macht gegenüber niemals eine a priori Verpflichtung; im Gegenteil, die Multitude hat grundsätzlich das Recht, nicht zu gehorchen, sie hat das Recht auf Differenz. Die Verfassung der Multitude ist in der ewigen, legitimen Möglichkeit begründet, nicht zu gehorchen“ (Hardt, Michael/Negri, Antonio: Moltitudine. Guerra e democrazia nel nuovo ordine imperiale, Milano 2004, S. 392 [Kursivsetzungen im Original]). 26 A. Negri (Fn. 20), S. 393.

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fenen Zeithorizont.“ In diesem Sinne sind Institutionen nicht ein pouvoir constitué, sondern ein pouvoir constituant.27 Das Recht des Kommunen ist ein unendlicher spinozistischer conatus: „Der revolutionäre Prozess muss heute von einem Rechtswollen28 beherrscht werden, und zwar von einem institutionellen und konstitutionellen Wollen, mit dem man gleichzeitig die Singularität der Multitude und zusammen mit ihr die Heterogenität ihrer (der Multitude, Anm. d. Ü.) Instanzen des Aufstands und der Rebellion in einem mächtigen und fortdauernden Prozess ausdrücken kann.“29 Toni Negris Gedanken zum Recht und zu den Rechten hat uns zu einer Reihe von Fragen geführt, die wir so umformulieren können: Ist es möglich, dass eine Theorie das Werden thematisiert, ohne dabei gleichzeitig eine unterdrückende Narration zu entwickeln, ohne dass Subjekte in einer Totalität gefangen werden, die die historische Dimension einfach verschlingt? Ist ein normatives System möglich, das gleichzeitig, ohne Abstimmungen und dialektische Spielchen, ‚Sein‘ und ‚Werden‘ ist?30

27 M. Hardt/A. Negri (Fn. 16), Comune, S. 355, 357. 28 Der deutsche Begriff „Rechtswollen“ wird von Hardt und Negri (Fn. 16) im Original verwendet. 29 Dies. (Fn. 16), Comune, S. 357, 372 f. 30 Über den Übergang „von der synchronischen Analyse des Rechts, dessen Inhalt und Form der Art der Produktion entsprechen, zur diachronischen Analyse der juristischen Institution als Zeitsteuerungsmaschine, als die Macht und das Recht, sich die Arbeit anderer anzueignen, als Macht über die Zukunft“ (Negri, Antonio: Fascismo e diritto: una ricerca di metodo, in: ders., Macchina tempo (Fn. 19), S. 170 ff. (hier S. 182), Kursivsetzung im Original.).

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4. Z WANGSAUTOPOIESE

UND

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V ERFASSUNG

Die kritische Systemtheorie31 lässt sich von Negris theoretischem Vorschlag irritieren. Dieser wirft das Problem eines Rechtssystems auf, das sich in einer zeitlichen Dimension und nicht gegen sich selbst konstituiert, das Widersprüche in seiner Umwelt aufnimmt und verwendet, das sich nicht vor Ungewissheit fürchtet32. Gunther Teubners Systemtheorie hat eine Reihe von Instrumenten entwickelt, um den Problemen der Fragmentierung der globalen Gesellschaft zu begegnen, um ein System zu schaffen, das den Pluralismus nicht in eine abschließende, totalisierende Formel zwingen will (den Staat oder irgendeine andere Logik der globalen Herrschaft). Er skizziert eine neue Rolle für Grundrechte, die nicht darauf beschränkt sind, das Individuum vor dem Staat, sondern die Autonomie jedes Systems vor struktureller Korruption, die durch andere Systeme provoziert wird, zu schützen.33 In der systemischen Dynamik besteht die Gefahr der Kollektivsucht, der Zwangsautopoiese:34 Es gibt keine unsichtbare Hand, die das Glück des Menschen beurteilt, aber funktionale Differenzierungen, die in einer Vielzahl von Systemen ausgedrückt werden, durch komplexe Diskurse unterstützt werden und auf konstitutive Prinzipien ausgerichtet sind, bereit, entweder andere Systeme anzufallen (strukturelle Korruption) oder der Selbstzerstörung zu verfallen (Zwangsautopoiese): die Systeme können durch eigene Werte krank werden. Die Autopoiese ist deshalb keine zynische und konservative Perspektive,35 sondern zeigt die eigene radikal konfliktbehaftete Natur. Die Verwendung der Konzepte der ‚strukturellen Korruption‘ und ‚Zwangsautopoiese‘ bringen einen ‚Urteils-

31 Fischer-Lescano, Andreas: „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff. 32 Zur Vertiefung sei verwiesen auf den instruktiven Aufsatz von Blecher, Michael „Postoperaismo o la trasformazione di capitale e lavoro“, in: UniNomade vom 25.09.2011, unter www.uninomade.org (Stand 20.03.2013), § IV. 33 Teubner, Gunther: „Ein Fall struktureller Korruption? Die Familienbürgschaft in der Kollision unverträglicher Handlungslogiken“, in: Kritische Vierteljahresschrift für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft 83 (2000), S. 388 ff.; ders.: „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch ‚private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 45 (2006), S. 161 ff. 34 Teubner, Gunther: „Verfassung ohne Staat? Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regime“, in: Klaus Günther/Stefan Kadelbach (Hg.), Recht ohne Staat: Zur Normativität nichtstaatlicher Rechtsetzung, Frankfurt a. M. 2011, S. 49 ff. 35 Dem stimmte in der Vergangenheit auch Negri zu, A. Negri (Fn. 22), S. 84.

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moment‘ in die Systemtheorie hinein.36 Die Korruption und der Zwang sind Anomalien, die man quantitativ beobachten kann, Quantitäten, die sich infinitesimal in Qualitäten und Werturteile verwandeln; diese manifestieren deutlich das Problem des persönlichen Engagements derer, die auf dem Gebiet der Sozialtheorie arbeiten. Die Systemtheorie ist nicht dazu da, uns davon zu überzeugen, dass wir in der besten aller möglichen Welten leben und auch nicht, dass sich alles sich selbst gleichend wiederholt. Das Mittel gegen degenerative Phänomene ist regelmäßig innerhalb der Verfassung gesucht worden. Eine heterarchische Konstruktion der rechtlichen Macht37 zwingt uns, anders an das Problem heranzugehen: Kann ein heterarchisches Rechtssystem ohne ein Zentrum funktionieren? Die Verfassung als geschriebener Text, der der (Rechts-) Ordnung zugrunde liegt, ist nicht das erste unbewegte Bewegende des Rechts: Eine Summe an gemeinsamen, festgesetzten Bedeutungen zu postulieren, die inflexibel die gesamte Normproduktion kontrollieren, entspricht einer künstlichen Transposition eines theologischen Dogmas (alles geschieht nach dem Willen der vergöttlichten Verfassung) auf die Ebene des Rechts. Darauf zu bestehen, dass jede rechtliche Kommunikation des normativen Systems unendlich oft, indem sie sich auf die eigene Verfassung bezieht, „Dein Wille geschehe“ wiederhole und dass jedes ausfuሷhrende Organ ein wachsamer Minister dieses weltlichen Glaubens sei, ist nur billige Rhetorik. Die Verfassung hat in Rechtssystemen nur semiotische, nicht semantische Bedeutung: Sie enthält keine Wertmaßstäbe, sie ist nur deren Zeichen: Sie ist die Tür, die von jeder rechtlich bedeutsamen Handlung, die für ihr Funktionieren notwendig ist, durchschritten werden muss. Der konstitutionelle Moment endet nicht im Akt der Verfassungsgebung sondern in einem Prozess, der für jedes soziale System gültig ist (Recht, Ökonomie, Gesundheit, Kultur etc.: gesellschaft-

36 Dieser Punkt wurde noch nicht vertieft debattiert, aber es ist wahrscheinlich, dass er unendliche Diskussionen auslösen wird. Hier genügt der Hinweis auf den Vergleich der Position von Anton Schütz, der Luhmanns Konstruktion der Verlassenheit (iSv Heideggers Gelassenheit) von Moralität und Normativität zustimmt, mit der Position von Gunther Teubner, der sich explizit gegen diese Konstruktion wendet, siehe Schütz, Anton: „Imperatives without Imperator“, in: Law and Critique 20 (2009), S. 233 ff. (hier S. 237); G. Teubner (Fn. 5), S. 14. 37 Fischer-Lescano, Andreas/Teubner, Gunther: „Fragmentierung des Weltrechts: Vernetzung globaler Regime statt etatistischer Rechtseinheit“, in: Mathias Albert/Rudolf Stichweh (Hg.), Weltstaat und Weltstaatlichkeit: Beobachtungen globaler politischer Stukturbildung, Wiesbaden 2007, S. 37 ff.

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licher Konstitutionalismus).38 Das System hat keine Verfassung, aber es macht sich verfassungsmäßig, in einem ununterbrochenen Werden. Die soziale Verfassung – nennen wir sie so, um sie sowohl von der sogenannten materiellen Verfassung (die in der Hybridisierung zwischen Politik und Recht entsteht) als auch von der schriftlichen Verfassung des Rechtspositivismus zu unterscheiden – ist als kontinuierliches Werk entgegengesetzter Bewegungen, die die Grenzen und Kategorien des Systems umdefinieren, eine Organisation der Widersprüche und darüber hinaus von konfliktbehafteter Natur.

5. N ORMATIVE A UFSTÄNDE : D AS BERECHTIGTE D ELIRIUM DER S ELBSTTRANSZENDIERUNG Die Veröffentlichung von Selbstsubversive Gerechtigkeit im Jahr 2008 ist ein Ereignis in der Rechtstheorie.39 Ein reflexiv selbstsubversives Ereignis: Angetrieben von der Erfahrung des Aufstands, von der kreativen Kraft des Protests und des Schmerzes, von der bitteren Erkenntnis, dass normative Systeme Normen produzieren, deren Anwendung zu Ungerechtigkeit führt, und von Angst vor den Leiden, die auf der Suche nach einer totalen globalen Gerechtigkeit mit den Mitteln des Rechts („die unheilvolle Vergerechtlichung der Gesellschaft“) verursacht werden, vollzieht Gunther Teubner eine entscheidende Wende in seinem Denken. Die Gerechtigkeit im Recht ist „ein eigensinniger Prozess der Selbstbeschreibung im Recht, der die ungestörte Selbstreproduktion des Rechtssystems, die routinisierte Rekursivität der Rechtsoperationen, unterbricht, blockiert, sabotiert, unterminiert, die damit das Recht zu seiner Selbstranszendierung über jeden Sinn hinaus zwingt, der sich aber sogleich wieder unter den Fortsetzungszwang, weitere Rechtsoperationen zu produzieren, setzt und sich dadurch selbst sabotiert, dass er genau dadurch neue Ungerechtigkeiten schafft.“40

38 Teubner, Gunther: „Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur staatszentrierten Verfassungstheorie“, in: Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 63 (2003), S. 1 ff. 39 Teubner, Gunther: „Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?“, in diesem Band, S. 327 ff.; vgl. ders.: „Dreiers Luhmann“, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen: Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005, S. 199 ff. (hier S. 205). 40 Ders. (Fn. 39), „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 347. Kursivsetzung im Original.

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Den Prozess zu blockieren bedeutet Sabotage der Gerechtigkeit, ein zersetzender Akt gegen das Werden. Der Verwandlungsprozess findet im Inneren statt, es handelt sich nicht um die Zerstörung einer ungerechten Ordnung und deren Ersetzung durch eine andere, gerechte Ordnung: Es ist der normative Raum, der sich verwandelt, in der wiederholten Kritik seiner eigenen Grenzen, seiner Kategorien und seiner kommunikativen Handlungen.41 Die einzige Voraussetzung für das Gleichgewicht eines reflexiven Rechts ist die permanente Selbstsubversion. In dieser paradoxalen Situation des Rechts vermutet Luhmann „nur Paralyse und Schrecken“ und „fordert dann aber mit Entschiedenheit, sie zu verstecken, zu verleugnen, zu verdrängen und schnellstens eine de-paradoxierende Unterscheidung einzuführen“.42 Teubner, auf den Spuren Derridas und darüber hinaus, schreckt auf der Suche nach einer inneren Transzendenz hingegen nicht vor der Begegnung des Rechts mit dem Übel in der Normativität zurück.43 Diese Art von Transzendenz scheint nur der religiösen Erfahrung zuzustehen: Aber „kann man in der säkularisierten Gesellschaft die Transzendenz des Rechts ohne Religion ‚denken‘?“44 Hier beginnt ein schwindelerregender Weg, der mit einem der rätselhaftesten Verse des Evangeliums nach Johannes beginnt: „Um die Gerechtigkeit aber, dass

41 Zu den evolutionären Mechanismen Prandini, Riccardo: „La morfogenesi della Costituzione nell’epoca della globalizzazione“, in: Sociologia e politiche sociali 14 (2011), S. 111 ff. (hier S. 127 ff.); zum Konzept der „Emergenz“ Fögen, Marie-Theres: „Zufälle, Fälle und Formeln. Zur Emergenz des synallagmatischen Vertrags“, in: Rechtsgeschichte 6 (2005), S. 84 ff. (hier S. 85). 42 G. Teubner (Fn. 39), „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 352; Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a. M. 1984, S. 382 ff.; ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1993, S. 49; zum Unterschied zwischen Luhmann und Teubner Renner, Moritz: „Kontingenz, Redundanz, Transzendenz? Zum Gerechtigkeitsbegriff Niklas Luhmanns“, in: Ancilla iuris (2008), S. 62 ff. (hier S. 70), der die dekonstruktivistische Fortführung von Luhmanns Theorie durch Teubner diskutiert. 43 Teubner, Gunther: „Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht: RechtFertigungen zwischen Sozialtheorie und Privatrechtsdogmatik, Baden-Baden 2003, S. 38: „Nach Luhmanns Rechtssystem verfügt das Recht im Gerechtigkeitsbegriff zwar über eine Kontingenzformel, aber über keine Transzendenzformel.“ 44 G. Teubner (Fn. 39), „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 355.

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ich zum Vater gehe, und Ihr mich fort nicht sehet“.45 Das ist der mutige Versuch, die Erfahrungen einer weltlichen Transzendenz des Rechts mithilfe einer religiösen Analogie zu suchen: ‚Johannes’ Botschaft‘ ist die Transformation des Bruchs zwischen Immanenz und Transzendenz: ‚Hingang zum Vater‘ bedeutet, dass nur die Erfahrung grundlegender Ungerechtigkeit die Suche nach der Gerechtigkeit eröffnet und dass die Gerechtigkeit nichts anderes als ein Kampf gegen die Ungerechtigkeit ist, der wiederum ewig neue Ungerechtigkeit schafft.46 Das ist die Bedeutung von „ihr mich hinfort nicht seht“: Die Gerechtigkeit ist „unsichtbar für die Menschen“, weil sie die Verwandlung der Transzendenz in Immanenz vorschreibt. In Folge des „Delirium[s] der Selbsttranszendierung“47 muss das Recht immer die Formulierung von Normen schaffen. Die Selbstsubversion ist das Instrument mit dem das Recht die eigene innere Verwandlung garantiert, während es sich die kognitiven Ressourcen der Ungerechtigkeitserfahrung zu Nutzen macht:

45 Evangelium nach Johannes, 16, 7-11: „7Aber ich sage euch die Wahrheit: Es ist gut für euch, dass ich weggehe. Denn wenn ich nicht weggehe, kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden. 8Und wenn er kommt, wird er der Welt die Augen auftun über die Sünde und über die Gerechtigkeit und über das Gericht; 9über die Sünde: dass sie nicht an mich glauben; 10über die Gerechtigkeit: dass ich zum Vater gehe und ihr mich hinfort nicht seht; 11über das Gericht: dass der Fürst dieser Welt gerichtet ist.“ 46 G. Teubner (Fn. 39), „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 356. Jhering formulierte: „Wer nicht an sich selbst oder an einem anderen Schmerz erfahren hat, weiß nicht, was Recht ist, und wenn er auch das ganze Corpus iuris im Kopf hätte“ (von Jhering, Rudolf: Der Kampf um’s Recht, Wien/Mainz 1872, S. 46, der auf den S. 28 und 66 ff. an von Kleists Michael Kohlhaas erinnert, auf den sich auch Teubner bezieht). Das Verhältnis von Schmerz (nicht mehr allgemein gesagt in Bezug auf das Recht, sondern) auf die Gerechtigkeit wird ausdrücklich von Alessandro Levi behandelt, der in seiner Schrift über die Gerechtigkeit einem Kapitel den Titel „Giustizia e dolore“ gibt: „Ohne Empfindlichkeit [...] ohne die Möglichkeit, zu leiden, würde das Gefühl oder die Idee der Gerechtigkeit nicht entstehen“ (Levi, Alessandro: Riflessioni sul problema della giustizia, Lodi 1943, nachgedruckt in ders.: Scritti minori di filosofia del diritto, Bd. II, Padova 1957, S. 303 ff. (hier S. 311). Er polemisiert gegen die „undurchdacht optimistische Auffassung“ und betont hingegen, dass die Idee der Gerechtigkeit „aus dem humus einer agonistischen Auffassung der Wirklichkeit wachsen muss, um sich zu entwickeln“ (S. 315). 47 G. Teubner (Fn. 39), „Selbstsubversive Gerechtigkeit“, S. 357.

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„Hier wird der Unterschied dieser zyklischen Sicht, in der Gerechtigkeit sich selbst unterminiert, zu einer hierarchischen Sicht der Gerechtigkeit, die sich durch auf rationale Gründe gestützte Entscheidungen eine Steigerung der Gerechtigkeit erhofft, besonders fühlbar. Denn sie führt unnachsichtig vor Augen, dass gerade die Angewiesenheit des Rechts auf rationale Entscheidungen, Begründungen und Normierungen einer der vertracktesten der Ursprünge der Ungerechtigkeit unter den Menschen ist.“48

Die Sprache der Gerechtigkeit löst eine Gerechtigkeitssucht aus: Stetig zunehmende Normierungen und zunehmende Ungerechtigkeiten in der Anwendung: Das ist das augustinische „Nicht-zu-gerecht-Sein-zu-wollen“.49 Nachdem sich die Gerechtigkeit in die Transzendenz zurückgezogen hat, bleibt dem Recht nur mehr der selbstsubversive Kampf gegen die Ungerechtigkeit, die vom Recht selbst geschaffen wird. Die Selbstsubversion der normativen Systeme ist eine revolutionäre Formel:50 Sie ist weder eine Norm aus dem System (so wie wenn die Verfassung das Prinzip, „das Recht ist gerecht“, enthalten würde) noch eine Kraft, die von Außen eingreift, um das Recht zu erneuern (vor allem in Notsituationen);51 es ist eher das Rechtssystem, das – von einer kognitiven Krise erschüttert (wenn das Urteil – „diese Leistung des Systems ist legal“ – gleichzeitig richtig und falsch erscheint) – reagiert, indem es seine eigenen Lernmethoden ändert

48 Ebd. S. 362. Es ist der „historische Rhythmus“ der Dekonstruktion und Rekonstruktion: G. Teubner (Fn. 39), „Dreiers Luhmann“, S. 211. 49 Augustinus’ Auslegungsschlüssel in seinem Kommentar zum Evangelium nach Johannes (Tractatus 95, 2) ist: „Nam et si aliquando iustus arguitur, ideo recte arguitur, quia, sicut scriptum est: Non est iustus in terra qui faciet bonum, et non peccabit. Quocirca etiam cum iustus arguitur, de peccato arguitur, non de iustitia. Quoniam et in illo quod legiums divinitus dictum: Noli effici iustus multum; non est notata iustitia sapientis, sed superbia praesumentis. Qui ergo fit multum iustus, ipso nimio fit iniustusus.“ Die Bibelzitate beziehen sich auf das Buch Kohelet (7, 17, 21). 50 „Immanentwerden der Transzendenz“ (Brunkhorst, Hauke: „Recht und Revolution in der Weltgesellschaft“, S. 14, abrufbar unter http://www.iim.uni-flensburg.de/soziologie/ upload/SS09_Kurse/Brunkhorst/I_Rechtsrevolution04-2009.pdf, Stand 20.03.2013). Brunkhorst verbindet in dieser Formel die „immanente Transzendenz“ Blochs (Bloch, Ernst: Naturrecht und menschliche Würde, 2. Aufl., Frankfurt a. M. 1975, S. 125), Habermas’ „Transzendenz vom Inneren heraus“ (Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a. M. 1992, S. 32 ff.) und Teubners „Selbsttranszendenz“. 51 Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Kirchliches Naturrecht und politisches Handeln (1973), nachgedruckt in: ders.: Kirche und christlicher Glaube in den Herausforderungen der Zeit, Berlin 2007, S. 267 ff. (hier S. 292).

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(und den Übergang von Struktur auf Handlung oder eine Struktur modifiziert):52 die Selbstsubversion ist die Voraussetzung für die Verbindung jedes Bestandteils oder jeder Handlung des Rechtssystems. Das Recht ist aufgrund seiner eigenen praktischen Funktion gezwungen, auch die Selbstsubversion zu rationalisieren, weil es sie sonst nicht anwenden könnte (man wird die klassische Argumentation eines Juristen verwenden: Unanwendbarkeit des Gesetzes, evolutive Auslegung, direkte Anwendung uminterpretierter Prinzipien, Einführung von Differenzen und Analogien).53 Ein selbstsubversives Argument anzuwenden bedeutet aber, den gesamten innovativen Schub aufzubrauchen, während man die Voraussetzungen für eine zukünftige Selbstsubversion schafft. Die subjektiven Rechte des Widerstands bei Toni Negri beschwören eine unerschöpfliche konstituierende Macht im Konstituierten; die Gerechtigkeit Teubners führt zum re-entry der Transzendenz in die Immanenz. Der Kreis schließt sich in einer Spirale. Die Zeit ist nun reif, um die ‚Irritation‘ zu beenden.

6. D IE V ERFASSUNG DES K ONSTITUIERENDEN I NSURGENZ DER R ECHTE

UND DIE

Wir führen hier zwei Konzepte ein: das Dekonstitutive und das Dekonstituierende. a) Das Dekonstitutive ist der ursprüngliche Charakter des pouvoir constituant, es zerstört und es dekonstituiert, um zu schaffen.54 Das Dekonstitutive arbeitet daran, das legitimierende Potenzial der in der gegenwärtig anerkannten Verfassung verankerten kommunikativen Prozesse zu verringern; das Dekonstitutive ist die absetzende Kraft, die am Ursprung der konstituierenden Kraft ist. De-

52 „‚Der kategorische Imperativ‘ des Umsturzes“ ist zu finden bei Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt a.M. 2004, S. 285 ff. 53 Femia, Pasquale: „Inimicizia costituzionale, competenza ermeneutica, retorica del sospetto“, in: ders. (Hg.), Interpretazione in funzione applicativa e legittimità costituzionale, Neapel 2006, S. 619 ff. (hier S. 692-694). 54 Eine eigenständige Erwägung dieses ‚dekonstituierende Macht‘ genannten Aspekts findet sich bei Tronti, Mario: Sul potere decostituente (conversazione con Adriano Vinale), Mailand 2008, S. 28, der die dekonstituierende Macht durchweg als Alternative zum pouvoir constituant betrachtet. Siehe auch Christodoulidis, Emilios: „Against Substitution: The Constitutional Thinking of Dissensus“, in: Martin Loughlin/Neil Walker (Hg.), The Paradox of Constitutionalism: Constituent Power and Constitutional Form, Oxford 2007, S. 189 ff.

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konstitutive Argumente sind immer diejenigen, die die Unzulänglichkeit der gültigen und in Kraft stehenden Verfassung hervorheben. b) Das Dekonstituierende (im Sinne von anti-konstituierend) ist hingegen der versteckte, aber wirksame Aspekt des pouvoir constitué: Es arbeitet daran, die Macht des Konstituierenden im konstituierten Rechtssystem zu behindern.55 Das Dekonstituierende ist sozusagen die politische Polizei des Konstituierten gegen das Konstituierende; es ist die Summe der Aktionen und Argumente, durch die die dominierende Gruppe sich in der gültigen Verfassung versteckt (in ihrer Interpretationspraxis und ihrer angewandten Politik), um jegliche Veränderung des status quo, die nicht der Erhaltung der bestehenden Hegemonie dient, zu verhindern (in systemischen Worten: um zu verhindern, dass sich dominante kommunikative Operationen kognitiv öffnen). Dekonstituierende Argumente sind all jene, die die Unmöglichkeit des Werdens aufzeigen wollen, die zeigen wollen, dass alles funktioniert, dass es keine Alternativen gibt: ‚Verzweifelt, denn die Welt wird nie anders sein, als sie ist: Wozu sollte man Rebellion herbeiträumen, Rechte ins Gespräch bringen?‘ Wie soll man mit der Verfassung vorgehen, nachdem die Hoffnung darauf verloren ist, dass sie die Zukunft beherrschen wird, wenn klar wird, dass sie nicht das Subjekt der Zeit sein kann? Die Reflexivität als Regulierung der Prozesse führt zu einem Paradigmenwechsel: Konstituiert und konstituierend sind weder zwei sich dialektisch gegenüberstehende Momente noch zeitlich (oder rechtlich, politisch etc.) aufeinanderfolgende Sequenzen. Stattdessen entsprechen sie zwei Aspekten der systemischen Konstitutionalisierung: die regulierende systemische Funktion und ihre ordnende Kraft ergeben sich aus der Regulierung der konstituierenden, dekonstituierenden und der durch die Verfassung dekonstitutiven Praktiken. Der pouvoir constituant geht der Verfassung nicht voraus, sondern folgt ihr. Man kann erst dann über pouvoir constituant sprechen, wenn die Existenz einer Verfassung schon durch eine infrasystemische Kommunikation (in der Politik und im Recht) anerkannt wurde: Das ist der Sinn von Derridas „wundersamer Retroaktivität“.56 Die Verfassung ist also nicht das Resultat des Konstituierenden; die Verfassung ist die Regulierung des Konstituierenden, sie ist die Verfas-

55 „In seiner Richtung zur Ewigkeit immer präsent, verneint der pouvoir constituant, dass man annehmen kann, dass etwas einfach Konstituiertes ist“ (A. Negri [Fn. 16], Kairòs, S. 136). 56 Derrida, Jacques: Otobiographies: l’enseignement de Nietzsche et la politique du nom propre, Paris 1984, S. 22; Amstutz, Marc: „Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 125 ff. (hier S. 144147).

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sung des Konstituierenden (wenn man darauf achtet, ist das ein subjektiver Genetiv, es ist eine selbstkonstituierende Verfassung). Wenn die Verfassung so verstanden wird, bedeutet das, dass der konstituierende Exzess Negris und die selbstsubversive Gerechtigkeit Teubners nicht vom Recht, das sie konstituiert haben, ausgelöscht (behindert) werden dürfen. Die Verfassung des Konstituierenden steht im Kontrast zur natürlichen Tendenz der Mehrheit, hegemonial zu werden (und spontan subjektive Exzesse – Oberhäupter, Führer, Volkskommissare, Interpreten heiliger Texte – im konstituierenden Prozess zu generieren). Das Rechtssystem nimmt destruktive Kräfte auf – das ist die Stärke des selbstsubversiven Paradigmas – und in dieser Aufnahme als rechtliche Kräfte verändert sich das Konzept der Normativität. Das hat seinen Grund darin, dass die Normativität selbst als Mittel des Kampfes gegen jene Ungerechtigkeit verwendet werden kann, die sie selbst produziert. Die Regulierung des Konstituierenden ist Selbstsubversion, infrasystemische Subversion des Rechtlichen. Die infrasystemische Dimension ist deshalb entscheidend, weil Rechte ex ante weder an einem externen Ort, von dem sie das Politische ins Recht holen muss (durch einen konstituierenden außerrechtlichen Vorgang), noch an einem internen Ort, an dem sie der Jurist suchen muss (auf guten Argumenten, Erwägungen und Abwägungen aufbauend), existieren. Die Rechte sind weder draußen (Ansprüche) noch drinnen (Argumente); sie treten infrasystemisch auf, sie sind Bruchstellen des Systems, das sie weder enthält noch ex ante beherrschen kann, Latenzen, die in jedem Kategorie-System zu finden sind.57 Im selbstsubversiven Paradigma wird Jherings Kampf um’s Recht zu einem Kampf im Recht.58

57 „Soziale Rechte eröffnen Spielräume für Einspruch und Protest“ (Fischer-Lescano, Andreas/Möller, Kolja: Der Kampf um globale soziale Rechte, Berlin 2012, S. 63). 58 H. Brunkhorst (Fn. 50), S. 11; Hans Lindhal: „Constituent Power and Reflexive Identity: Towards an Ontology of Collective Selfhood“, in: M. Loughlin/N. Walker (Fn. 54), S. 23. Er beobachtet, dass „in response to Schmitt, innovation and rupture are possible within and also positively elicited by democratic states under the rule of law“.

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7. E RÖFFNUNGEN ,

UM ABZUSCHLIEßEN

Wir wollten kein dialektisches Spielchen und keine übliche Aufhebung treiben, in der eine Theorie eine andere erfasst und übertrifft. Wir haben Negri nicht auf Teubner reduziert. Der Abschluss der Überlegungen hier ist eine Eröffnung. a) Die infrasystemische Subversion ist eine rechtliche Funktion; auch die selbstsubvertierten Strukturen sind rechtlich. Das Kommune regt Überlegungen über Strukturen an, die dem Werden unterworfen sind: Es verändern sich nicht nur die Grenzen des Systems (nach der klassischen konstitutionellen Logik der Selbstbeschränkung der Macht), sondern auch seine Kategorien: Um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen, muss man nicht nur dem destruktiven Handeln der Mächte entgegenwirken, sondern auch verhindern, dass die Herrschenden das Privileg haben, Kategorien zu verwenden, die ex ante ein Bild der Wirklichkeit vermitteln, das ihre Herrschaft rechtfertigt (das Dekonstituierende). b) Im Aufsatz Selbstsubversive Gerechtigkeit hat Teubner seine Überlegungen zur Gerechtigkeit nicht explizit mit seinem anderen großen theoretischen Unterfangen, dem gesellschaftlichen Konstitutionalismus, verknüpft.59 Es ist allerdings nicht schwer, das selbstsubversive Paradigma auf beiden Ebenen der Verfassung des Rechtssystems zu finden: die „heilige Schrift“ und der ausgedehnte Prozess. Sie sind Teil eines einzigen Intertextes, der kontinuierlich semantischen Änderungen unterliegt (nur die Semiotik der heiligen Schrift ist unabänderbar). Die Modalitäten der Konstitutionalisierung von selbstsubversiven Prozessen müssen noch erforscht werden. Die Selbstsubversion ist überall; sie erweist sich als der Komplexität der Macht in der globalen Gesellschaft angepasster Prozess. Die Form der diktatorischen Macht ist grundlegend verändert, man muss sich mit einem distributed dictatorship60 auseinandersetzen: Der Druck auf die Demokratie, der bis zur Zerstörung reichen kann, zeigt sich in einer unzählbaren Menge von Regierungshandlungen (und nicht in der schlichten biologischen Dominanz des entscheidenden Souveräns). Wir können, dem Schmitt’schen Paradigma folgend, nicht vom bösen und vom großen Menschen erzählen, der Übles schafft und wieder auflöst. Das echte Übel liegt in der Fiktion der Einheit: Es gibt die große Ent-

59 Zu Konstitutionalismus und Gerechtigkeit siehe Wielsch, Dan: „Iustitia mediatrix“, in: Gralf-Peter Calliess et al. (Hg.), Soziologische Jurisprudenz. Festschrift Gunther Teubner zum 65. Geburtstag am 30. April 2009, Berlin/New York 2009, S. 395 ff. (hier S. 413). 60 Balkin, Jack M./Levinson, Stanford: „Constitutional Dictatorship: Its Dangers and Its Design“, in: Minnesota Law Review 94 (2009-2010), S. 1789 ff. (hier S. 1840).

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scheidung nicht, es gibt nur eine Myriade unendlicher Konstellationen von dekonstituierenden Entscheidungen; es gibt den Entscheider nicht, aber ein Netzwerk von Subjekten, die an tausenden Stellen in soziale Systeme eingehängt sind, und jedes dieser Subjekte arbeitet aus dem Inneren darauf hin, die Systeme zu korrumpieren.61 Im globalen Zeitalter wird die Diktatur immer eine verbreitete und verfassungsmäßige Diktatur sein. Die Diktatur ist somit eine Perversion der Komplexität, sie ist keine Epiphanie einer gewaltsamen Ordnung, die der Rechtsordnung vorausgeht und sie beherrscht.62 Mehr als je ist Achtsamkeit notwendig, ausgeübt durch das selbstsubversive Paradigma. c) Die letzte Frage ist, ob die Selbstsubversion das Wertegleichgewicht, die Wahl eines binären Codes, der auf systemischen Handlungen beruht, verändern kann. Können wir noch daran festhalten, dass diese Codes transzendental sozial sind, dass sie zulässig/unzulässig, nützlich/nicht nützlich, schön/hässlich sind und nicht geändert werden können? Die Systeme sind unendlich, weil die Reflexivität unendlich ist. Wenn sich die Systeme verändern können, dann verändern sich nicht nur die Kommunikationen um die Codes herum, sondern die Codes selbst. Die Systeme sind keine kommunikativen Organisationen, die um einen Wert herum aufgebaut sind, sondern Wege zur Kombination von Werten und Codes, von denen jeder anhand von differenzierten Varianten weiter ausgearbeitet wird, und durch die es wiederum möglich ist, eine soziale Kommunikation in das eine oder in das andere einzubetten. Jede kommunikative Handlung muss einem System zurechenbar sein, damit es sozial wirklich effizient ist: In der Leere der Systeme zu sprechen bedeutet, nichts zu sagen.

61 Zur Entscheidung als „subjektives Ereignis der Multitude“ siehe A. Negri (Fn. 16), Kairòs, S. 168. Dort wird eine Entscheidungstheorie skizziert, in der die Liebe die Entscheidung als „Selbstregierung im Kommunen“ konstruiert. 62 „Im Totalitarismus fehlt die Ebene des rekursiven Beobachtens von Beobachtungen“ Wielsch, Dan: „Die Verheißungen des Totalitarismus“, in: Rechtshistorisches Journal 16 (1997), S. 492 ff. (hier S. 519). In der amerikanischen Doktrin: Ackermann, Bruce: „The Emergency Constitution“, in: Yale Law Journal 113 (2004), S. 1029 ff. Im Gegenzug sehr konservativ Posner, Eric A./Vermeule, Adrian: „Tyrannophobia“, Harvard Public Law Working Paper Nr. 09-44 (2009).

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8. D ER T AG

VOR DEM

T AG

DANACH

Jedes System produziert Macht, aber nur das Rechtssystem schämt sich nicht dafür. Andere infrasystemische Mächte (die wirtschaftliche, die künstlerische, die wissenschaftliche, die regierende) verstecken sich hinter Exzellenz, Effizienz und der Zukunft; das Recht streift das Problem der Legitimität, braucht diese in Wahrheit aber nicht: Solange das Recht existiert, ist es hinreichend, eine Reihe von gültigen Normen zu postulieren. Das Recht ist eine Ordnung, die sich im Leeren dreht. In diesem Leerraum wird die Macht produziert, eine Macht, die sich allen aufzwingt, die allen gegenüber eine Rechtfertigung vorzeigt. Die rechtliche Macht ist die elementare systemische Macht, sie verlangt weder nach der Zustimmung der Beherrschten noch nach Ruhm für die eigenen Taten. Sie ist eine zeitlose, rein semantische Macht: Sie ist, insofern als sie den geltenden Bedeutungen einer gültigen Norm entspricht. Die rechtliche Macht kann nicht ausgelöscht werden, weil sich die Notwendigkeit der Abstraktion von Fakten und die Loslösung von einer zeitlichen Dimension eben genau die rechtliche Form der Macht ausgesucht haben.63 Die Logik der Selbstsubversion führt in das Rechtssystem das wieder ein, was jenes nach Außen hin ausgestoßen hat: Die Kritik an Prämissen (an der hegemonialen Auswahl der Kategorien),64 die Kritik an Ergebnissen, die Zeitabhängigkeit und die Notwendigkeit der Ungewissheit. Das Recht arbeitet ständig daran, diese kognitiven Folgerungen zu vermeiden und verwandelt sie in Argumente und Dogmen. Es kann als einfache Verwaltung der Sicherheit degenerieren, weil „die Disziplin für Ordnung sorgen will und die Sicherheit die Unordnung beherrschen will“;65 aber das Recht kann auch seine ordnende Funktion bewahren, indem es sein eigenes selektives Gleichgewicht gegenüber der Umwelt wiederaufbaut: Ob es dazu fähig ist, hängt davon ab, wie viele Kräfte die Kapazitäten haben, recht-

63 Zum Bruch der „rechtlichen Zeit“ der Tradition siehe A. Negri (Fn. 19), S. 303: Das Recht behauptet „die Wertkontinuität und damit seine Universalität, indem es das Vergehen der Zeit mit der Statik der ewigen Gegenwart überlagert und daher seine axiologische Gültigkeit mit einer formellen Gültigkeit erklärt.“ 64 „Gegenhegemoniale Techniken“ Buckel, Sonja/Fischer-Lescano, Andreas: „Hegemonie im globalen Recht – Zur Aktualität der Gramscianischen Rechtstheorie“, in: dies. (Hg.), „Hegemonie gepanzert mit Zwang“. Zivilgesellschaft und Politik im Staatsverständnis von Antonio Gramsci, Baden-Baden 2007, S. 85 ff. (hier S. 93). 65 Agamben, Giorgio: „L’ordine come disordine totale“, in: Paolo Perticari (Hg.), Biopolitica minore, Rom 2003, S. 185 f. (hier S. 185).

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liche Kommunikationen zur Geltung zu bringen, wie viele gegenhegemoniale Praktiken sich infrasystemisch behaupten können. Um seine ordnende Funktion behaupten zu können, muss das Recht akzeptieren, von diesen Kräften, den Protesten gegen den Schmerz und die Ungerechtigkeit, die es produziert, subvertiert zu werden, damit es jedes Mal wieder zu dem zurückkehren kann, was es sein soll (semantisch, zeitlos, autonom): Bis zur nächsten Selbstsubversion ist das Recht durch den Skandal und die Rebellion dazu gezwungen, anders zu werden als das, was es gewesen ist (ungerecht, unterdrückend, in epistemische Hypokrisie eingehüllt). Das Recht erlangt seine eigene Autonomie zurück, indem es die Grenzen und Kategorien ändert, durch die es bis zu jedem neuen selbstsubversiven Ereignis eben jene Autonomie konstruiert hat, indem es diese also subvertiert und sich somit selbst in veränderten Grenzen und Kategorien bewahrt. Die Revolte gegen die Ungerechtigkeit, der Aufstand im Namen der Grundrechte auf der Suche nach einer neuen Ordnung, sind daher nicht Protestmärsche in den durch das Recht besetzten Hochburgen, sondern Bewegungen des Rechts, Anwendungen des Rechts auf konkrete Fälle. Die rechtliche Macht ist der Ursprung von Ungerechtigkeit und Missbrauch: Wie Bertolt Brecht, im Epigraph zitiert, sagt, muss man in den Normen Missbrauch und Abhilfe suchen. Wer die Befreiung von Ungerechtigkeit und Schmerz sucht, wird in den Strömen der Macht schwimmen müssen, wird das normative Übel dazu bewegen müssen, sich selbst durch Normen zu heilen, und ihre Ströme überqueren müssen, um sie zu ändern. Bis zum letzten Tag; bis zur unendlichen Folge an letzten Tagen hinter denen es eine endliche Folge – endlich wie unser Leben und unsere Zeitbezogenheit – an vorletzten Tagen gibt. Juristinnen und Juristen erleben nur den vorletzten Tag: der Gewalt, des Schmerzes und des Glücks.

Selbstsubversive Gerechtigkeit: Kontingenz- oder Transzendenzformel des Rechts?* G UNTHER T EUBNER

1. „R ECHT

UND

G ESELLSCHAFT “

OHNE

G ERECHTIGKEIT

Die Rechtssoziologie kennt keine Gerechtigkeit. Zwar ermitteln zahlreiche empirische Untersuchungen zur lokalen Gerechtigkeit, was die Leute in unterschiedlichen Konfliktsituationen für gerecht und fair halten. Ebenso zahlreich sind soziologische Theorien über Rechtsnormen, Sanktionen, Professionen und Gerichte. Aber es gibt keine rechtssoziologische Theorie der Gerechtigkeit.1 Rechtsund kulturkritische Studien pflegen die Ungerechtigkeiten des Rechts in Bezug auf Geschlechterverhältnisse, auf ethnische Herkunft, auf Güterverteilung und auf kulturelle Lebensbedingungen aufzudecken, aber sie entziehen sich regelmäßig der Frage, was Gerechtigkeit des Rechts positiv bedeuten könnte. Die Normativität der Gerechtigkeit erscheint danach, wenn überhaupt, als ein politisches

*

Der Text ist aus den Diskussionen eines zusammen mit Rudolf Wiethölter veranstalteten Seminars „Dem anderen gerecht werden: Alterität versus Universalität in neueren Theorien der Gerechtigkeit“ hervorgegangen. Für kritische Kommentare danke ich besonders Sonja Buckel, Eva Buddeberg, Andreas Fischer-Lescano, Rainer Forst, Malte Gruber, Vaios Karavas, Fatima Kastner, Soo-Hyun Oh, Anton Schütz, und Thomas Vesting. Erstveröffentlichung: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 9 ff.

1

Cotterell, Roger: Law’s Community: Legal Theory in Sociological Perspective, Oxford 2006, S. 2, 60, der mit einer normativ aufgeladenen Sozialtheorie des Rechts dem Thema am nächsten steht, formuliert recht vorsichtig: „Social theory has no direct link with the promotion of justice“.

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Projekt und nicht als ein Projekt des Rechts. Ist die Gerechtigkeit selbst – die fundamentale Erwartung der Menschen gegenüber dem Recht – der blinde Fleck der Unterscheidung Recht/Gesellschaft? Es bedarf erst der externen Beobachter Jacques Derrida und Niklas Luhmann, um diesen blinden Fleck auszuleuchten und die Frage aufzuwerfen: Vermag die Gesellschaftstheorie des Rechts einen gegenüber Moral-, Politik- und Rechtsphilosophie spezifischen Beitrag zu einem heute plausiblen Gerechtigkeitskonzept zu leisten? Autopoiese und Dekonstruktion – in meinen Augen die folgenreichsten Theorieirritationen von „Recht und Gesellschaft“ der letzten Jahrzehnte – haben in der Tat das Potenzial, einen solchen Beitrag in zwei verschiedene Richtungen voranzutreiben: Rekonstruktion einer Genealogie der Gerechtigkeit und Beobachtung von Entscheidungsparadoxien des modernen Rechts.2 Diese beiden „Stile“ pflegt Luhmann, auf sie bezieht sich Derrida: „Der eine Stil ist von begründender und dem Anschein nach ungeschichtlicher Art: vorgetragen, vorgeführt werden logisch-formale Paradoxien. Der andere, geschichtlicher und anamnestischer, scheint der eines Lesens von Texten zu sein, einer sorgfältigen Interpretation und eines genealogischen Verfahrens.“3 Im genealogischen Vorgehen erscheint Gerechtigkeit nicht mehr vorrangig als ein Konstrukt des philosophischen Diskurses, sondern ist aus konkreten sozialen Praktiken und ständig sich wandelnden Selbstbildern des Rechts zu rekonstruieren. Hier eröffnen sich Perspektiven auf detaillierte sozialhistorische Analysen mit dem Ziel, die historischen Variationen von Gerechtigkeit und ihre jeweiligen Affinitäten zum Wandel grundlegender Distinktionen in den Sozialstrukturen offen zu legen.4 Eine solche Historisierung von Gerechtigkeit gibt in

2

Ihre wichtigsten Texte zum Thema Gerechtigkeit: Derrida, Jacques: Préjugés: Vor dem Gesetz, Wien 1999; ders.: Gesetzeskraft: Der ‚mystische Grund der Autorität’, Frankfurt a.M. 1991; ders.: Marx’ Gespenster: Der verschuldete Staat, die Trauerarbeit und die neue Internationale, Frankfurt a.M. 1995; Luhmann, Niklas: Rechtssystem und Rechtsdogmatik, Stuttgart 1974; ders.: „Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft“, in: ders. (Hg.), Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1981, S. 374 ff.; ders.: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 214 ff.

3

J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft, S. 44.

4

In je unterschiedlichen Nuancierungen eines solchen ‚zeitgerechten‘“ Rechts Koselleck, Reinhart: (2006) „Begriffsgeschichtliche Probleme der Verfassungsgeschichtsschreibung“, in: ders. (Hg.), Begriffsgeschichten: Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a.M. 2006, S. 365 ff.; J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft, S. 19; Luhmann, Niklas: „Subjektive Rechte: Zum Umbau des Rechtsbewußt-

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der Tat rechtsphilosophische Ansprüche einer zeitlich und räumlich universell geltenden Gerechtigkeit auf, doch folgt sie nicht zugleich einem Anything-goesRelativismus. Vielmehr sucht sie die verschütteten Verbindungen von Gerechtigkeitssemantik und Sozialstruktur freizulegen. Und es ist die besondere Stärke gerade der Rechtssoziologie, mit theoriegeleiteten empirischen Untersuchungen Kovariationen von Gerechtigkeit und Gesellschaftsstrukturen zu analysieren.5 Letztlich kann dies in den Versuch münden, ein plausibles Gerechtigkeitskonzept unter heutigen Bedingungen zu reformulieren. Wenn aus sozialtheoretischer Perspektive gezeigt werden kann, dass die Sozialstrukturen von segmentierten und stratifizierten Gesellschaften mit den Semantiken der distributiven und der kommutativen Gerechtigkeit verknüpft gewesen sind, indem sie diese an der Gleichheit der Segmente und der Rangordnung der Sozialhierarchien ausgerichtet haben,6 wie könnte dann das Verhältnis zwischen heutigen Gesellschaftsstrukturen und den Semantiken der Gerechtigkeit bestimmt werden? Neben Direktiven für Theorie und Empirie bieten sich normative Impulse für ein verändertes Gerechtigkeitsverständnis im Recht der Gegenwart. Der Re-entry solcher soziologischer Analysen in das Recht öffnete für die Normativität der Gerechtigkeit einen „imaginären Raum“ jenseits von Naturrecht und Positivismus.7 An dieser Stelle wird der hochproblematische Hiatus zwischen Rechtsstrukturen und Entscheidungen, der die Paradoxien des Rechts hervortreibt, möglicherweise zu einem tieferen Verständnis von Gerechtigkeit führen – im Sinne von subversiven Praktiken der Selbst-Transzendierung des Rechts, die in der herrschenden Rechtstheorie und in der Dogmatik nur wenig Beachtung finden.8 In letzter Konsequenz wäre dann Gerechtigkeit eine juridische Selbstbeschreibung, die sich dadurch selbst sabotiert, dass sie in ihrer Realisierung stets neue Ungerechtigkeit schafft – eine Erfahrung, deren literarische Verarbeitung Kleist im Michael Kohlhaas vorweggenommen hat.

seins für die moderne Gesellschaft“, in: ders. (Hg.), Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 45 ff. (hier S. 48 ff.). 5

In diese Richtung argumentiert der Sammelband von Michael Corsten/Hartmut Rosa/ Ralph Schrader (Hg.), Die Gerechtigkeit der Gesellschaft, Wiesbaden 2005.

6

In dieser Richtung N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 224, 226 ff., 233 ff.

7

Zum Zusammenhang von „re-entry“ und „imaginary space“ Spencer Brown, George: Gesetze der Form, Lübeck 1997.

8

Näher zu den Rechtsparadoxien Teubner, Gunther: (2003) „Der Umgang mit Rechtsparadoxien: Derrida, Luhmann, Wiethölter“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.), Rechtsverfassungsrecht: Recht-Fertigungen zwischen Sozialtheorie und Privatrechtsdogmatik, Baden-Baden 2003, S. 25 ff. (hier S. 28 ff.).

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2. S TATT R EZIPROZITÄT : A SYMMETRIE JURIDISCHER G ERECHTIGKEIT Die Sozialtheorie des Rechts kritisiert die derzeit prominentesten philosophischen Theorien der Gerechtigkeit als nicht historisch genug und nicht soziologisch genug. Auch wenn John Rawls und Jürgen Habermas den Anspruch erheben, das Kantische Gerechtigkeitskonzept unter den gegenwärtigen Bedingungen neu zu formulieren – Rawls integriert Elemente der modernen ökonomischen Theorie, Habermas führt Intersubjektivität und die Evolution normativer Strukturen ein –, weisen ihre Vorstellungen zur Gerechtigkeit doch immer noch die alteuropäische Struktur-Semantik-Relation auf: Universalisierung von Reziprozität, Konsenssuche, Rationalität.9 Jeder dieser Gerechtigkeitsaspekte aber muss, nimmt man Derrida und Luhmann beim Wort, durch neue Begrifflichkeiten ersetzt werden: Asymmetrie, Umweltorientierung und das nicht-rationale Andere der Gerechtigkeit. Rawls und Habermas arbeiten mit dem moralischen Prinzip der Reziprozität zwischen individuellen Akteuren und seiner Universalisierung in generelle und abstrakte Normen, welche die Grundlage für eine gerechte Gesellschaft bilden sollen. Der Schleier des Nichtwissens abstrahiert die Normprojektionen individueller rationaler Akteure von den konkreten Umständen ihres Entstehungszusammenhangs und bringt sie dazu, sich auf faire politische Institutionen zu einigen. In Habermas’ idealer Sprechsituation richtet sich an formale Prozeduren die Erwartung, den unverzerrten Ausdruck individueller Interessen ebenso wie deren diskursive Universalisierung in moralisch gerechte Normen garantieren zu können. Doch Polykontexturalität, eine der verwirrendsten Erfahrungen unserer Zeit, lässt grundlegende Zweifel zu, ob diese Varianten des Kantischen Gerechtigkeitskonzepts noch zeitgemäß sind.10 Angesichts von Polykontexturalität, also angesichts der Emergenz von hochfragmentierten, intermediären Sozialstruktu-

9

Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt a.M. 1975; Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung, Frankfurt a.M. 1992. Ein aufschlussreicher Vergleich ihrer Gerechtigkeitsbegriffe bei Forst, Rainer: (1999) „Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls’ Politischer Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Diskussion“, in: Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hg.), Das Recht der Republik. Festschrift für Ingeborg Maus, Frankfurt a.M. 1999, S. 105 ff.

10 Die abstrakte Formulierung von Polykontexturalität findet sich bei Günther, Gotthard: „Cybernetic Ontology and Transjunctional Operations“, in: ders. (Hg.), Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik I, Hamburg 1976, S. 249 ff.; ders.: „Life as Poly-Contexturality“, in: ebd., S. 283 ff.

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ren und des Auseinanderdriftens von Interaktionssystemen, formalen Organisationen und Gesellschaftssystem kann man die Gesellschaft nicht mehr von der Interaktion her begreifen. Und ebensowenig kann Gerechtigkeit noch in nachvollziehbarer Weise auf die Universalisierung des Prinzips der Reziprozität zwischen individuellen Akteuren gestützt werden.11 Zahlreiche Gesellschaftstheorien haben das problematische Verhältnis von Polykontexturalität und Gerechtigkeit von unterschiedlichen Blickwinkeln her thematisiert. Die Analyse gesellschaftlicher Fragmentierung setzt nicht erst mit den heutigen Theoretikern der Diskurspluralität ein, sondern geht auf Emile Durkheims Begriff der organischen Solidarität zurück, auf Max Webers neuen Polytheismus formaler Rationalitäten, auf Wittgensteins Pluralität der Sprachspiele und auf Theodor Adornos soziologische Kritik der Kantischen Moral.12 Am deutlichsten analysierte Max Weber die Moderne als je eigenständige Rationalisierung unterschiedlicher Wertesphären und Lebensordnungen, die unlösbare Konflikte zwischen entpersonalisierten Glaubensmächten ausgelöst hat. In einer derartigen Situation kann Gerechtigkeit nicht mehr unter Bezug auf den einen Vernunftgrund, auf Reziprozität und Universalisierung, begründet werden. In Wittgensteins Pluralität der Sprachspiele lassen sich die idiosynkratischen Strukturen der Regeln eines jeden Sprachspiels weder mit Vernunftprinzipien noch mit abstrakten Werten rechtfertigen, sondern einzig und allein auf die Praxis der realen Lebensform zurückführen. Nach Adorno herrscht zwischen einer Universalgerechtigkeit im Kantischen Sinn und der modernen Gesellschaft ein struktureller Widerspruch; ihre Inkommensurabilität mit der vertikalen und der horizontalen Differenzierung der Gesellschaft verwandelt den moralischen Impuls der Gerechtigkeit in sein Gegenteil.

11 Zur Kritik am Hochrechnen interaktioneller Reziprozität auf die Gesellschaft: Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 823 ff. Eine konsequente Neuformulierung rechtlicher Reziprozität unter Bedingungen der Polykontexturalität bei Wiethölter, Rudolf: „Zur Argumentation im Recht: Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe?“, in: Gunther Teubner (Hg.) Entscheidungsfolgen als Rechtsgründe: Folgenorientiertes Argumentieren in rechtsvergleichender Sicht, Baden-Baden 1994, S. 89 ff. (hier S. 119). 12 Durkheim, Émile: Über die Teilung der sozialen Arbeit, Frankfurt a.M. 1997, S. 152 ff.; Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tübingen 1968, S. 603 ff.; Wittgenstein, Ludwig: (1989) „Philosophische Untersuchungen“, in: ders. (Hg.), Werkausgabe Bd.1, Frankfurt a.M. 1989, S. 234 ff. (hier S. 225 ff., 572); Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, Frankfurt a.M. 1973, S. 294; ders.: Nachgelassene Schriften, Bd. 10: Probleme der Moralphilosophie, Frankfurt a.M. 1996, S. 147, 175.

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Heute sehen wir uns mit François Lyotards Unterscheidung zwischen litige und différend von hermetisch geschlossenen Diskursen konfrontiert, mit Michel Foucaults Brüchen zwischen inkompatiblen epistémes, mit Niklas Luhmanns Pluralität geschlossener, selbstreferentieller Systeme.13 Andere Theorien bewegen sich in der Nähe: Michael Walzers Sphären der Gerechtigkeit oder Nelson Goodmans Weisen der Welterzeugung.14 Vor allem rechtspluralistische Theorien und pluralistische Versionen neo-materialistischer Theorien verweisen auf die Beziehung zwischen der gesellschaftlicher Fragmentierung und den unüberwindlichen Differenzen verschiedener Rechtsordnungen in deren Gerechtigkeitsprinzipien.15 Ihre Inkompatibilität resultiert aus den Kollisionen realer sozialer Praktiken, welche jeweils eine eigene Rationalität und immer auch eine eigene Normativität entwickeln und damit über ein enormes wechselseitiges Schädigungspotenzial verfügen. In höchster Abstraktion radikalisiert Gotthard Günther Polyzentrizität in die Form einer weitaus bedrohlicheren Polykontexturalität, d.h. in eine Pluralität von sich gegenseitig exkludierenden Perspektiven, die von binären Unterscheidungen konstituiert werden. Diese sind inkompatibel miteinander und können lediglich durch Rejektionswerte überwunden werden, welche ihrerseits zu nichts anderem führen als neuen binären Unterscheidungen.16 Die beschriebenen Ansätze stimmen – trotz großer Differenzen in anderen Hinsichten – in einem Punkt überein: dass die Kollision heutiger idiosynkratischer Sinnwelten eine Aussöhnung durch eine sozietale Rationalität, geschweige denn durch eine gesellschaftsübergreifende Gerechtigkeit, ausschließt.

13 Lyotard, Jean François: Der Widerstreit (1987), 2. Aufl. München 1989; S. 17 ff.; Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 2002, Kap. 2, 3, 7; für die Wissenschaftsdisziplinen: ders.: (1976) Überwachen und Strafen: Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M. 1976; für das Recht: N. Luhmann (Fn. 11), S. 595 ff. 14 Walzer, Michael: Sphären der Gerechtigkeit: Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt a.M. 1992; Goodman, Nelson: Weisen der Welterzeugung, Frankfurt a.M. 1990, S. 134 ff. 15 Zum Beispiel Ladeur, Karl-Heinz: Postmoderne Rechtstheorie: Selbstreferenz – Selbstorganisation – Prozeduralisierung, Berlin 1992; Petersen, Hanne/Zahle, Henrik: Legal Polycentricity: Consequences of Pluralism in Law, Aldershot 1995; Teubner, Gunther: „Altera Pars Audiatur. Das Recht in der Kollision anderer Universalitätsansprüche“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 65 (1996), Beiheft, S. 199 ff. Ein bemerkenswerter Ansatz der neo-materialistischen Theorie: Buckel, Sonja: (2007) Subjektivierung und Kohäsion: Zur Rekonstruktion einer materialistischen Theorie des Rechts, Weilerswist 2007, S. 226 ff. 16 G. Günther (Fn. 10).

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Die Konsequenzen für ein gesellschaftlich adäquates Gerechtigkeitskonzept sind drastisch. Wenn unter heutigen Bedingungen Aristotelische wie auch Kantische Konzepte einer gerechten Gesellschaft ihre Plausibilität verloren haben, können lediglich noch den Fragmenten Gerechtigkeitsattribute zugesprochen werden. Selbst wenn man Rawls oder Habermas auf gegenwärtige Sozialstrukturen übertragen wollte und Reziprozität zwischen Akteuren universalisierte, so müsste man doch mit fragmentierten reziproken Beziehungen beginnen und landete letztlich bei fragmentierten Gerechtigkeiten und nicht bei einer komprehensiven Gerechtigkeit. Wendete man den Schleier des Nichtwissens oder die Bedingungen der idealen Sprechsituation auf einen ökonomischen, vom Effizienzprinzip bestimmten Tausch zweier rationaler Akteure innerhalb eines idealen Marktes an, würde man zwar zu einer universalisierten Gerechtigkeit gelangen, die aber ökonomischer Natur wäre und daher den moralischen, rechtlichen oder politischen Aspekten unseres Zusammenlebens nicht gerecht werden, von ökologischen Fragen ganz zu schweigen. Es ist kein Zufall, dass Rawls sein Gerechtigkeitskonzept auf den Bereich der Politik beschränkt. Er entwickelt sein Modell der Verteilungsprozesse mit Blick auf die institutionalisierte Politik, nicht jedoch für das soziale Gefüge in seiner Gesamtheit. Und sobald er den Versuch unternimmt, jenseits politischer Institutionen auch einen weiteren Kreis sozialer Strukturen zu behandeln, so zeigt sich schnell, dass sein Gesellschaftsmodell der „social union of social unions“ aus soziologischer Sicht unhaltbar ist.17 Selbst wenn man Gerechtigkeit auf die Gesellschaftsfragmente beschränken wollte, so würde doch die Reziprozitätsbeziehung zwischen individuellen Akteuren als Ausgangspunkt für Gerechtigkeit unter den Bedingungen der Polykontexturalität versagen. Ungerechtigkeiten fragmentierter Institutionen geschehen nicht bloß gegenüber ihren Mitgliedern, was eine Korrektur durch das unter ihnen herrschende Symmetrieprinzip generalisierter Reziprozitätserwartungen ermöglichte. Gerechtigkeit/Ungerechtigkeit einer fragmentierten Institution ist vielmehr eine asymmetrische Relation, eine Beziehung einer historisch in rekursiven Operationsketten entstandenen institutionalisierten partiellen Rationalität zu ihrer gesellschaftsweiten Öffentlichkeit. Gerechtigkeit müsste dann als eine Supernorm für eine hochentwickelte partielle Rationalität im Rahmen ihrer asymmetrischen Beziehung zu dieser Öffentlichkeit entwickelt werden, nicht aber als eine symmetrische Reziprozitätsbeziehung aus der Interaktion ihrer Mitglieder. In der Sprache der Systemtheorie heißt das: Wenn Gerechtigkeit auf der Reflexivität sozialer Systeme beruht, dann ist die Reflexivität von Interaktionen

17 Rawls’ vorsoziologisches Gesellschaftskonzept wird besonders deutlich bei Rawls, John: A Theory of Justice, Cambridge, Mass. 1971, S. 570 ff.

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mit der für sie zentralen Reziprozität weder als Modell für formale Organisationen noch für die großen Funktionssysteme geeignet. Diese benötigen andere Formen der Reflexivität, die sich auf deren interne Logiken stützen, zugleich aber auch ihre internen Logiken übersteigen. Eine auf Gerechtigkeit abzielende Reflexivität müsste dann ganz andere Fähigkeiten entwickeln, nicht die Fähigkeit, reziproke Beziehungen zu universalisieren, sondern die Fähigkeit von Organisationen und Funktionssystemen, die Begrenztheit ihrer spezialisierten Rationalperspektive zu thematisieren und daraus Selbstbeschränkungen bezüglich ihrer expansionistischen Handlungsweisen zu entwerfen.18 Eine soziologische Sicht wird also für die Moderne ein Paradigm Lost kon– statieren: Gerechtigkeit als das Ideal einer guten Gesellschaft. Doch bedeutet das nicht, dass das Recht, wie es Hans Kelsen vorgeschlagen hat, die Idee der Gerechtigkeit vollends aufgeben müsste.19 Vielmehr muss man die alte Idee unter neuen Bedingungen reformulieren und sorgfältig zwischen unterschiedlichen Monokontexturen der Gerechtigkeit differenzieren, zwischen moralischer Gerechtigkeit, politischer Gerechtigkeit, wirtschaftlicher Gerechtigkeit – und besonders juridischer Gerechtigkeit. Die Suche nach einer gerechten Gesellschaft ist heute so wichtig wie seit je, aber für die causa der sozietalen Gerechtigkeit hält die moderne Gesellschaft kein Forum, keine Prozeduren, keine Kriterien bereit. Die Suche nach einer gerechten Gesellschaft kann nicht dem einen Königsweg folgen, sie verzweigt sich bereits von Anfang an in unterschiedliche Pfade. Höchst verschiedene Gerechtigkeitskonzepte werden in spezifischen sozialen Praktiken entwickelt, die jeweils auf ihre Eigenrationalität und Eigennormativität eingestimmt sind. Michael Walzer hat in „Sphären der Gerechtigkeit“ in Bezug auf Eigentumsrechte gezeigt, wie unterschiedliche Verteilungsgüter und soziale Kontexte notwendigerweise unterschiedliche Prinzipien der Gerechtigkeit hervorbringen.20 Diese Sicht ist zu generalisieren. Politische Gerechtigkeit handelt

18 Dazu Teubner, Gunther: „Die anonyme Matrix: Menschenrechtsverletzungen durch ,private‘ transnationale Akteure“, in: Der Staat 45 (2006), S. 161 ff. (hier S. 175 ff.). 19 Kelsen, Hans: „Das Problem der Gerechtigkeit“, in: ders. (Hg.), Reine Rechtslehre, 2. Aufl. Wien 1960, S. 335 ff. 20 M. Walzer (Fn. 14), S. 27. Eine ähnliche Kontextualisierung in Bezug auf Gleichheit verfolgt Pauer-Studer, Herlinde: Autonom leben: Reflexionen über Gleichheit und Freiheit, Frankfurt a.M. 2000, S. 25. Forst unterscheidet vier „Kontexte“ der Gerechtigkeit (Ethik, Recht, Demokratie, Moral), hält aber ihre Integration über „Prinzipien“ der Gerechtigkeit für möglich, Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit: Politische Philosophie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 388 ff. (hier S. 412).

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von Machtakkumulation und vom Konsens über kollektive Entscheidungsfindung, sie gestaltet die grundlegenden Institutionen der politischen Verfassung als eine prekäre Beziehung zwischen Macht-Kompromissen, Interessen-Aggregationen, Policy-Erwägungen auf der einen Seite und den externen Ansprüchen der Gesellschaft auf der anderen. Rawls und Habermas leisten sicherlich bedeutende Beiträge zu einer solchen politischen Gerechtigkeit. Doch haben sie erstaunlich wenig zu einer spezifisch juridischen Gerechtigkeit zu sagen, die sich mit der Lösung individueller Konflikte durch eine normgebundene neutrale dritte Instanz auseinandersetzt, mit der angemessenen Ausgestaltung von Gerichtsverfahren, mit der korrekten Anwendung allgemeiner Regeln auf konkrete Fälle und mit den Berücksichtigung der Singularität von Fällen und Personen. So verwundert es nicht, dass Rawls’ Justice as Fairness in politischen Kontexten sehr einflussreich war, jedoch im Bereich der Rechtsanwendung nur geringes Echo fand. Wenn judizielle Gerechtigkeit vom Richter verlangt, sich bei der Anwendung genereller Normen zugleich sorgsam auf die Singularitäten des Falls, auf die spezifischen Anliegen der Parteien, auf die Besonderheiten des zugrunde liegenden Sozialkonflikts und auf die beteiligten Personen in ihrer konkreten Unendlichkeit einzulassen, dann ist Rawls’ Schleier des Nichtwissens letztlich kontraproduktiv.21 Rechtssoziologie muss also ein Gerechtigkeitskonzept entwickeln, das der Eigenrationalität und der Eigennormativität des Rechts Rechnung trägt – juridische Gerechtigkeit. Das bedeutet freilich nicht, dass das Recht ein Monopol auf Gerechtigkeit besitzt. Vielmehr koexistieren in verschiedenen Gesellschaftskontexten verschiedene Gerechtigkeitskonzepte, die sich nicht einem einheitlichen Prinzip fügen. Gleichheit, wie sie von Habermas und von Rawls als konzeptuelle Basis der Gerechtigkeit in Anspruch genommen wird, hat in Recht und in Politik jeweils grundlegend voneinander abweichende Bedeutungen. Politische Gleichheit ergibt sich aus einer Generalisierung, die eine aggregierte Gleichbehandlung der Bürger erfordert, juridische Gleichheit folgt demgegenüber aus einem Individualisierungsprozess, der nach einer Gleich-oder-Ungleich-Behandlung des neuen Sachverhaltes mit alten Fällen fragt. Worin genau unterscheidet sich das dezentral erzeugte Ordnungsmuster juridischer Gleichheit von ethischer Generalisierung und von politischer Aggregation? Im ersten Zugriff kann man die rekursive Anwendung von rechtlichen Operationen auf die Resultate rechtlicher Operationen in einer Vielzahl von Ge-

21 Sensible Analysen des Konflikts zwischen politischer Gleichheit und individueller Gerechtigkeit bei Menke, Christoph: Spiegelungen der Gleichheit, Frankfurt a.M. 2004, insbesondere S. 203 ff.

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richtsprozessen als denjenigen Vorgang verstehen, der das artifizielle Netzwerk von Rechtsnormen, dogmatischen Begriffen und Prinzipien dezentral erzeugt – und aus dieser ‚lokalen‘ Sicht juridische Konzepte der Gerechtigkeit ausformt. Die permanenten Unterscheidungspraktiken der Gleich-oder-ungleich-Behandlung von Einzelfällen sind ein Mechanismus, der die Rechtsgleichheit deutlich von der auf bindende Kollektiventscheidungen zielenden politischen Gleichheit unterscheidet. Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, ist der Auslöser einer iterativen Reihe von Unterscheidungen. Dieser generative Mechanismus oder, wie von Foerster es nennen würde, diese „historische Maschine“ erhöht unablässig die Komplexität der rechtlichen Konstrukte.22 Weniger interessant sind hierbei die Bindung an Präjudizien, das „stare decisis“, und die Gleichbehandlung gleicher Fälle. Vielmehr sind es die Abweichungen vom Hergebrachten, das „distinguishing“ und „overruling“, also gerade die Ungleichbehandlung ungleicher Fälle, welche die Suche nach neuen Rechtskonstruktionen und nach einer spezifisch juridischen Gerechtigkeit erzwingt. Freilich erfasst man das Problem nur zur Hälfte, wenn man die juridische Gerechtigkeit nur zu gerichtlichen Verfahren in Beziehung setzt, also zur selbstreferentiellen Anwendung vergangener Entscheidungen und Regeln auf neue tatsächliche Situationen. Die andere Hälfte betrifft die permanenten Irritationen des Rechts, die von externen sozialen Prozessen ausgehen und die die juridische Gerechtigkeitssemantik in andere Bahnen lenken. An dieser Stelle tritt die typische Inkongruenz von Rechtsnormen und Dogmatik mit dem Einzelfallkonflikt zutage, der ihrer Kovariation mit der Veränderung entfernter Sozialstrukturen entstammt.23 Das Netzwerk rechtlicher Operationen, das auf externe Irritationen reagiert, bildet sich in anderen Kontexten als die Irritationen von Einzelkonflikten, die vor die Gerichte gelangen. Diese externen Irritationen lösen eine eigenständige Dynamik aus, die das Recht in eine unvermeidliche Inkongruenz zu Individualkonflikten, zu den rechtlichen Maßstäben für deren Lösung und zu Prinzipien der Gerechtigkeit hineintreibt. Maschinerien der Produktion sozialer Normen dringen von der Peripherie in die Zentren des Rechts ein, indem sie soziale Normen in Rechtsnormen transformieren. Die produktivsten außerrechtlichen Normerzeugungsmechanismen sind in formalen Organisationen, in informalen Netzwerken und in Prozessen der Standardisierung und Normalisierung institutionalisiert, die heute mit der Gesetzgebungsmaschinerie

22 Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen, Frankfurt a.M. 1993, S. 350 ff. (hier S. 356 ff.). 23 Zu externen Irritationen des Rechts Teubner, Gunther: Recht als autopoietisches System, Frankfurt a.M. 1989, S. 61 ff. (hier S. 81 ff.); N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 550 ff.

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und dem vertraglichen Tauschmechanismus konkurrieren.24 Die Suche nach juridischer Gerechtigkeit kann diese extern produzierten Normen nicht ohne Weiteres zurückweisen, etwa weil sie den Besonderheiten des Individualkonfliktes unangemessen wären. Im Gegenteil, sie extrahiert durch deren juristische Rekonstruktion die Maßstäbe, von denen die Lösung des Einzelkonfliktes erwartet werden kann, und überprüft sie gleichzeitig im Licht des rechtlichen ordre public. Daraus entwickeln sich Schritt für Schritt neue substantielle Gerechtigkeitsaspekte. Auf diese Weise wandeln sich die Prinzipien der juridischen Gerechtigkeit permanent im Feld ihrer rekursiven Konfrontation mit den beiden genannten Dynamiken, der Entscheidung von Individualkonflikten und der Rezeption sozialer Normen. Das setzt die Semantik der juridischen Gerechtigkeit auf ein anderes Gleis als die politische, moralische oder ökonomische Gerechtigkeit, die jeweils ihren idiosynkratischen Universalisierungen folgen. Zur modernen Erfahrung gehört nicht nur deren Differenz, sondern deren Widerstreit. Gesetzgebung, die von Überlegungen der politischen Gerechtigkeit beherrscht wird, unterminiert die juridische Gerechtigkeit der Gerichtsverfahren. Gleiches gilt für den umgekehrten Fall. Ebenso bewegen sich die Prinzipien moralischer Gerechtigkeit, die auf der Basis wechselseitiger Achtung entwickelt und von der philosophischen Ethik systematisiert worden sind, in einem vergleichbaren Verhältnis des Widerspruchs und der Kritik gegenüber den Forderungen der juridischen Gerechtigkeit. Und dieser Widerspruch beeinträchtigt die Stringenz der bisherigen Argumentation. Denn er bestätigt und unterminiert zugleich die strikte Isolation der juridischen Gerechtigkeit. Er bestätigt sie in ihren Eigenwerten, die sich von denen der politischen oder moralischen Gerechtigkeit unterscheiden. Er unterminiert sie mit den Provokationen, denen eine strikte juridische Gerechtigkeit von Seiten der Moral oder der Politik ausgesetzt ist.

3. S TATT K ONSENSTHEORIEN : Ö KOLOGISCHE G ERECHTIGKEIT Unter den Bedingungen der Polykontexturalität bietet Niklas Luhmann ein soziologisches Konzept: Gerechtigkeit ist die Kontingenzformel des Rechtssys-

24 G. Teubner (Fn. 15), S. 200 ff.

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tems.25 Der Begriff ist schwierig und wird leicht missverstanden. Gemeint ist, dass die Thematisierung von Gerechtigkeit überall im Rechtssystem eine irritierende soziale Dynamik in Gang setzt, die die Kontingenz des Rechts allen drastisch vor Augen führt: Gerechtes Recht könnte/müsste anders sein! Die Gerechtigkeitsirritation beginnt schon beim Auftauchen sozialer Konflikte, setzt sich bei deren Übersetzung in die artifizielle Sprache des Rechts, in der Rechtsanwendungspraxis, in den Anwaltstaktiken, in den Auslegungsstreitigkeiten, in der juristischen Entscheidungsfindung, in der Rechtsdurchsetzung, in der Regelbefolgung fort und endet bei der Nichtbefolgung von Rechtsnormen und -entscheidungen, beim Protest der Menschen und ihren Revolten gegen die Ungerechtigkeiten des Rechts. Wie wirkt Gerechtigkeit in diesen Praktiken? Nicht als Regel, nicht als Prinzip, nicht als Wert und nicht als Entscheidungskriterium des Rechts. Aber auch nicht als rechtsexternes Kriterium, anhand dessen man die rechtlichen Entscheidungen bemessen könnte, nicht als moralische Tugend, nicht als politisches Ziel, nicht als regulative Idee. Diese könnten allesamt entweder gegen andere interne Regeln, Prinzipien, Werte, Kriterien oder gegen andere externe Tugenden, Ziele und Ideen abgewogen werden. Doch im Recht ist Gerechtigkeit keiner Abwägung zugänglich. In anderen Kontexten ist Gerechtigkeit ein Wert unter vielen, im Recht ist sie die eine Kontingenzformel. Juridische Gerechtigkeit wird als die zentrale, die eine unbestreitbare Orientierungsformel in Anspruch genommen und kann zu keinem inner- oder außerrechtlichen Prinzip in Konkurrenz treten. Als Kontingenzformel des Rechts hat Gerechtigkeit im Recht einen ähnlichen Status wie ihn andere Kontingenzformeln auf anderen Gebieten ebenfalls haben: Legitimität in der Politik, Gott in der Religion, Güterknappheit in der Ökonomie, Bildung in der Pädagogik, Limitationalität in der Wissenschaft.26 Kontingenzformel heißt: Negationsverbot, Kanonisierung, Unbestreitbarkeit. Und ihre Dynamik enthüllt ein Paradox. Die notwendige Suche nach dem Unbestreitbaren erzeugt, wenn sie als Suche beobachtet werden kann, immer wieder neue Kontingenzen. Notwendige Kontingenz – kontingente Notwendigkeit. Die Kontingenzformel des Rechts – Gerechtigkeit – erscheint somit als ein notwendiges „Schema der Suche nach Gründen oder Werten, die nur in der Form von Programmen Rechtsgeltung gewinnen können“.27 Es handelt sich nicht um ein rechtsinternes oder -externes Prinzip, sondern um eine Selbstbeobachtung

25 N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 218 ff.; cf. Dreier, Ralf: „Niklas Luhmanns Rechtsbegriff“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 88 (2002), S. 305 ff. (hier S. 315 ff.). 26 N. Luhmann (Fn. 11), S. 469 f. 27 Ders. (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 223.

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der Einheit des Rechts auf der Basis seiner Programme, um eine rechtliche Selbstkontrolle, die mittels der oben erwähnten „historischen Maschine“ des Rechts in den endlosen Praktiken der Gleich- und Ungleichbehandlungen stattfindet. Dies führt Luhmann zu der Definition von Gerechtigkeit: „adäquate Komplexität des konsistenten Entscheidens“.28 In der daran anschließenden rechtssoziologischen Diskussion begegnete man dieser Definition mit äußerster Skepsis.29 Wenn Gerechtigkeit nicht dazu imstande ist, substantielle Maßstäbe für individuelle Entscheidungen bereit zu stellen, wenn sie nicht mit einem rechtlichen Wert oder Prinzip zu identifizieren ist und wenn sie auch keine externen ethischen oder politischen Maximen angibt, dann ist sie eine rein formale Gerechtigkeit, die auf die einfache Forderung nach begrifflicher Konsistenz hinausläuft. Dann unterscheidet sie sich nicht von der auf Entscheidungskonsistenz abzielenden Logik der Präjudizienbindung und der Systematizität der Rechtsdogmatik. Doch greift die Kritik zu kurz: Die Kontingenzformel impliziert sehr viel mehr als bloße interne Konsistenz des Entscheidens: Kontingenz heißt Anders-möglich-Sein und zugleich Von-etwasanderem-Abhängigsein. Die Kontingenzformel operiert auf der Grenze des Rechts zu seiner äußeren Umwelt und zielt auf historische Variabilität der Gerechtigkeit und zugleich auf deren Umweltabhängigkeit. Der Ruf nach Gerechtigkeit – und dies ist der Kern der Kontingenzformel – fordert, Konsequenzen zu ziehen aus der Abhängigkeit des Rechts von seiner Ökologie, von seinen sozialen, menschlichen und natürlichen Umwelten. Damit kommen jenseits formaler Konsistenz materielle Orientierungspunkte ins Spiel. In der Definition „adäquate Komplexität des konsistenten Entscheidens“ ist der entscheidende Aspekt die soziale Adäquanz in ihrer Relation zur internen Konsistenz. Die Intention der Gerechtigkeit richtet sich nicht auf die Maximierung dogmatischer Konsistenz, sondern darauf, auf äußerst divergente Anforderungen von außen sensibel zu antworten und dabei möglichst hohe Konsistenz anzustreben. Die Kontingenzformel zielt nicht auf eine dem Recht immanente, sondern eine das

28 Luhmann, Niklas: „Gerechtigkeit in den Rechtssystemen der modernen Gesellschaft“, in: ders. (Hg.), Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1981, S. 374 ff. (hier S. 388 ff.); N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 225 f. 29 Zum Beispiel Esser, Josef: Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung: Rationalitätsgarantien der richterlichen Entscheidungspraxis (1970), 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1972, S. 202 ff.; Raiser, Thomas: Grundlagen der Rechtssoziologie, Stuttgart 2007, S. 139 ff.; Röhl, Klaus F.: Allgemeine Rechtslehre: Ein Lehrbuch, 2. Aufl. Köln 2001, § 53.

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Recht transzendierende Gerechtigkeit. Interne Konsistenz plus Responsivität gegenüber ökologischen Anforderungen – dies ist die Doppelformel juridischer Gerechtigkeit.30 Im Gegensatz zu neukantianischen Theorien der Gerechtigkeit, welche die formalen und prozeduralen Anforderungen von Konsens und Universalisierung immer mehr verfeinern, konzentriert sich ein solches soziologisches Konzept auf die materiellen Aspekte der Beziehung des Rechts zu seiner Ökologie: Wird das Recht mit seinen Gleichheits-/Ungleichheitsprüfungen der heutigen polykontexturalen Gesellschaft gerecht? Wird es der natürlichen Umwelt gerecht? Wird es den Individuen gerecht? Die ökologische Orientierung des Rechts im weitesten Sinn dürfte der wichtigste Beitrag sein, den die Systemtheorie mit ihrer beharrlichen Betonung der System-Umwelt-Differenz in der Gerechtigkeitsdebatte erbringt. Gerechtigkeit lenkt die Aufmerksamkeit des positiven Rechts auf die problematische Frage seiner Adäquanz im Verhältnis zur Außenwelt. Doch bedarf dies einer Qualifizierung. Denn gleichzeitig bringt die Systemtheorie, indem sie auf der selbstreferentiellen Schließung des Rechts insistiert, einen fundamentalen Widerspruch in der ökologischen Orientierung der Gerechtigkeit ans Licht. Die empathische Hetero-Referentialität des Rechts, wie sie im Sinne der Gerechtigkeit als Adäquanz des Rechts im Verhältnis zu Gesellschaft, Menschen und Natur erforderlich wäre, kann nicht durch ein Ausgreifen des Rechts in die Außenwelt erreicht werden, sondern ausschließlich innerhalb des Rechts. Dieses ist gefangen in den Verkettungen seiner selbstreferentiellen Operationen, die über Gleichheit/Ungleichheit von Einzelfällen befinden. In diesem Widerspruch liegt das Herzstück der Wirksamkeit von Gerechtigkeit in der heutigen Zeit: Wie ist Gerechtigkeit als eine Selbst-Transzendierung der Grenzen des Rechts möglich, wenn sie doch unausweichlich in der selbstreferentiellen Schließung des Rechtssystems gefangen ist? Gerechtigkeit als die notwendige, jedoch unmögliche Selbst-Transzendierung der rechtlichen Schließung – dies scheint einzig und allein denkbar als rechtliche coincidentia oppositorum.

30 Im einzelnen zu einem solchen im weitesten Sinne umweltbezogenen Gerechtigkeitsbegriff G. Teubner (Fn. 23), S. 123 ff., besonders 147 f.; ders. (Fn. 15), S. 218; Teubner, Gunther/Zumbansen, Peer: „Rechtsverfremdungen: Zum gesellschaftlichen Mehrwert des zwölften Kamels“, in: Gunther Teubner (Hg.) Die Rückgabe des zwölften Kamels: Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit, Stuttgart 2000, S. 189 ff.; Teubner, Gunther: „Dreiers Luhmann“, in: Robert Alexy (Hg.), Integratives Verstehen. Zur Rechtsphilosophie Ralf Dreiers, Tübingen 2005, S. 199 ff. (hier S. 201 ff.); ders. (Fn. 18), S. 185 ff.

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Wie kann Gerechtigkeit die Schließung des Rechts transzendieren, wenn der Geltungstransfer auf der Basis des binären Codes Recht/Unrecht ausschließlich in den rekursiven Ketten von Gerichtsentscheidungen, gesetzgeberischen und vertraglichen Akten abläuft? Die Gerechtigkeit sieht sich hier mit der primären Schließung des Rechts konfrontiert: operative Geschlossenheit durch die Verkettung von Rechtsakten – Rechtsstrukturen – Rechtsakten. Aufgrund der unproduktiven Selbstbezüglichkeit und der radikalen Absonderung des Rechts von seiner sozialen Umwelt31 ist die operative Geschlossenheit selbst bekanntlich zu einer bedeutenden Quelle von Ungerechtigkeiten im Recht geworden. Mit guten Gründen verlangen deshalb kommunitaristische Kritiker des modernen Rechts radikale Veränderungen, um die Grenzen des positivierten Rechts aufzubrechen, um das formale Recht in die Gesellschaft zu reintegrieren und um alternative Foren, Prozeduren und Kriterien einer „communal justice“ zu etablieren.32 Doch wird man einräumen müssen, dass die Praktiken der Gerechtigkeit im modernen Recht eine andere Richtung eingeschlagen haben. Juridische Gerechtigkeit durchbricht die operative Geschlossenheit nicht, indem sie zur sozialen Einbettung der primären Operationen des Rechts zurückfindet. Vielmehr ‚transzendiert‘ sie das Recht erst auf der Stufe seiner zweiten Schließung, auf der Ebene der rechtlichen Selbstbeobachtungen.33 Seit der entscheidenden Transformation des Rechts, als die juristische Argumentation bei Gerichtsverfahren, Gesetzgebung und Vertragsschlüssen damit anfing, Argumente ad hoc und ad hominem auszuschließen und darauf insistierte, nur noch auf spezialisierte rechtliche Materialien zu verweisen (Präjudizien, Regeln, Prinzipien), wurde der Gerechtigkeitsdiskurs zu dem Teil rechtlicher Selbstbeobachtungen, der den Blick auf die Grenzen des Rechts richtet und in der Beobachtung diese zu überschreiten versucht. Wann immer die Schließung rechtlicher Operationen durch die Schließung rechtlicher Selbstbeobachtungen komplettiert wurde, haben sich die Prak-

31 G. Teubner (Fn. 23), S. 21 ff.; Luhmann, Niklas: „Closure and Openness: On Reality in the World of Law“, in: Gunther Teubner (Hg.) Autopoietic Law: A New Approach to Law and Society, Berlin 1988, S. 335 ff.; N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 38 ff. 32 Etwa R. Cotterrell (Fn. 1), S. 65 ff., 91 ff., 315 ff.; kritisch zur operativen Schließung des Rechts auch Kerchove, Michel van de/Ost, François: Le droit ou les paradoxes du jeu, Paris 1992, S. 101 ff. 33 Zur doppelten Schließung als notwendiger Bedingung der Selbstorganisation im allgemeinen Foerster, Heinz von: Wissen und Gewissen, Frankfurt a.M. 1993, S. 25 ff., 46 ff.; in formalen Organisationen Luhmann, Niklas: Organisation und Entscheidung, Opladen 2000, Kapitel 7.

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tiken der Gerechtigkeit stets auf die Adäquanz des Rechts gegenüber seinen Umwelten konzentriert. Aber wie sollte Gerechtigkeit als eine Selbstbeobachtungspraxis innerhalb des Rechts dazu imstande sein, die primäre Schließung des Rechts zu überwinden? Die Begründung lautet „re-entry“ des Außerrechtlichen in das Rechtliche. Während rechtliche Operationen mit Hilfe ihrer Sequentialisierung eine Grenze zwischen Recht und Nicht-Recht, zwischen rechtlicher Kommunikation und anderen Arten sozialer Kommunikation, errichten, nutzen rechtliche Selbstbeobachtungen eben diese Unterscheidung „Recht/Nicht-Recht“, nun aber innerhalb der symbolischen Welt des Rechts.34 Immer wenn die Unterscheidung „Recht/Nicht-Recht“ („NichtRecht“ im Sinne von „außerrechtlich“, nicht „rechtswidrig“!) in die Sequenz rechtlicher Operationen wieder eintritt und die juristische Argumentation in die Lage versetzt wird, zwischen Normen und Tatsachen, zwischen internen Rechtsakten und externen Sozialakten, zwischen Rechtsbegriffen und gesellschaftlichen Interessen sowie zwischen internen Wirklichkeitskonstruktionen rechtlicher und sozialer Prozesse unterscheiden zu können, dann ist der Moment gekommen, in dem der Gerechtigkeitsdiskurs eine Entscheidung über diese Unterscheidungen verhandelt und die Frage aufwirft, ob die rechtlichen Entscheidungen denjenigen Aspekten der Außenwelt gerecht werden, wie sie intern rekonstruiert worden sind.35 Diese Öffnung ist die paradoxe Leistung der doppelten Schließung – der Operationen und der Beobachtungen. Während sowohl normproduzierende Rechtsakte und normverknüpfende Argumente in ihrem je geschlossenen Kreis interner Verkettungen verbleiben, setzt Gerechtigkeit als rechtliche Selbstbeobachtung von Recht/Nicht-Recht mit Hilfe der internen Unterscheidung von Selbstreferenz und Fremdreferenz das Recht zu seiner sozialen Umwelt (wohlgemerkt: „enacted environment, not real environment“) ins Verhältnis und fragt nach seiner ökologischen Adäquanz. Gerechtigkeit als diskursive Praxis zieht Konsequenzen aus dem re-entry des Außerrechtlichen in das Recht. Sie macht sich die epistemische Konfusion (à la Magritte: „This is not a pipe“) über den Realitätsstatus der fremdreferentiellen Beobachtungen des Rechts zunutze. Resultat des re-entry ist der bereits erwähnte „imaginäre Raums“ innerhalb des Rechts, der sich aber selbst als Realität ver-

34 N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 66 ff., 338 ff. 35 Zum Umweltverhältnis von Organisationen Weick, Karl E.: Der Prozeß des Organisierens, Frankfurt a.M. 1985; zu „enaction“ als Alternative zu „representation“ Francisco J. Varela, Francisco J.: „Whence Perceptual Meaning? A Cartography of Current Ideas“, in: ders./JeanPierre Dupuy (Hg.), Understanding Origins: Contemporary Views on the Origin of Life, Mind and Society, Dordrecht 1992, S. 235 ff.

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steht.36 Bei ihrem Urteil über die ökologische Adäquanz des Rechts kann Gerechtigkeit gar nicht anders als nur mit Fiktionen über die Außenwelt zu arbeiten – doch sie muß sie als Realitäten behandeln. Deshalb kann Gerechtigkeit nur innerhalb dieses imaginären Raums im Recht operieren, der durch den re-entry der Ökologie in das Recht, durch die interne rechtliche Rekonstruktion externer Forderungen von Gesellschaft, Menschen und Natur, entsteht. Das eröffnet großartige Perspektiven für juridische Kreativität in ihren Wirklichkeitskonstruktionen, in ihren Menschenbildern, Naturbildern und Gesellschaftsbildern, und in den Versuchen, bildadäquate Rechtsentscheidungen zu treffen. Zugleich aber auch werden die Defizienzen des „re-entry“ deutlich: Immer nur kann sich das Recht um „Bildadäquanz“ bemühen, also nur seinen internen Umweltkonstruktionen gerecht zu werden versuchen. Nie aber kann es „Umweltadäquanz“ erreichen, also der Natur, der Gesellschaft und den Menschen „da draußen im Lande“ in ihrer Eigenoperativität gerecht werden. Dies unvermeidlich Defizit des Geniestreichs „re-entry“ hat drastische Konsequenzen, denen noch nachzugehen sein wird. Auf jeden Fall aber zeigt sich die gesellschaftliche Abhängigkeit der Kontingenzformel „Gerechtigkeit“ in ihrer Affinität zu den großen historischen Prinzipien der sozialen Differenzierung. An dieser Stelle wird nun die Theorie der Gerechtigkeit ihrerseits abhängig – von den Subventionen der Gesellschaftstheorie. Wie schon eingangs erwähnt, sind die Kriterien der Gerechtigkeit nicht einfach geschichtlichem Wandel unterworfen, sondern ko-variieren mit Prinzipien sozialer Differenzierung. In einer stratifizierten Gesellschaft ist es natürliche und notwendige Voraussetzung der Gerechtigkeit, den sozialen Rang der streitenden Prozessparteien in vollem Umfang zu berücksichtigen. Justitia ist nicht blind! Die berühmte Formel des suum cuique – aus heutiger Sicht eher eine Leerformel – macht für Menschen, die in legitimierten Hierarchien sozialer Stratifikation leben, konkreten Sinn. Wie Lawrence Rosen in seinen empirischen Studien zur Anthropologie der Gerechtigkeit gezeigt hat, trifft dies auf das traditionelle islamische Recht zu, dessen Gerechtigkeit verlangt, dass die soziale Stellung der Parteien und ihrer Netzwerke im Prozess peinlichst genau rekonstruiert und in der Rechtsentscheidung explizit berücksichtigt werden.37 Max Weber irrte, als er dies abwertend „Kadi-Justiz“ nannte, weil sie nach seiner Auffassung den grund-

36 Spencer Brown, George: Gesetze der Form, Lübeck 1997. 37 Rosen, Lawrence: The Anthropology of Justice: Law as Culture in Islamic Society, Cambridge 1989, S. 58 ff.

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legenden Anforderungen universaler Gerechtigkeit nicht entsprach.38 Und auch in der alteuropäischen Gesellschaft war es eine legitime Rechtsnorm, dass vor Gericht Adlige, die partes maiores, in Streitigkeiten mit Städtern oder Bauern im Zweifel den Prozess gewannen. Man stand schon an der Schwelle zur Moderne, als Michael Kohlhaas mit mordbrennender Gewalt gegen ein Recht protestierte, das adlige Pferdediebe ihm, dem gewöhnlichen Pferdehändler, gegenüber privilegierte.39 Während die justitia mediatrix des Mittelalters in einer vertikal-hierarchischen Weise zwischen göttlichem, natürlichem und menschlichem Recht vermittelte,40 vermittelt die Gerechtigkeit der Moderne in einem horizontal-heterarchischen Modus zwischen der Eigennormativität des Rechts und der Eigennormativität seiner sozialen, menschlichen und natürlichen Umwelten. Heute sucht das Recht seine Gerechtigkeitskriterien in seinen Umwelten, in verschiedenen gesellschaftlichen Diskursen, im pädagogischen, wissenschaftlichen, medizinischen, politischen oder wirtschaftlichen Diskurs, und verhilft ihnen in einer rechtlichen Rekonstruktion zur Rechtsgeltung. Trotz des strikten Gleichheitsgebots der Verfassung rechtfertigt das Verfassungsrecht Ungleichbehandlungen, wenn diese entsprechend den pädagogischen, wissenschaftlichen, medizinischen usw., d.h. ‚vernünftigen‘ Maßstäben gerechtfertigt sind. Ist dies ein neues Naturrecht, welches Gott, Natur und Vernunft durch die Prinzipien gesellschaftlicher Differenzierung ersetzt, quasi ein soziologisches Naturrecht? In der Sache unterläuft dieses Gerechtigkeitskonzept die Differenz von Positivismus und Naturrecht. Es erklärt beide für richtig und falsch zugleich. Mit dem Naturrecht teilt es den Impuls, Gerechtigkeit in einer von der Außenwelt des Rechts stammenden Orientierung zu suchen. Doch mit dem Positivismus hat es gemein, dass die Gerechtigkeit nicht von externen Autoritäten, weder von Gott, noch von der Natur, noch von der natürlichen Vernunft vorgegeben ist, sondern nur innerhalb des Rechts erarbeitet werden kann. Die Wendung gegen das Naturrecht besteht darin, dass externe Autoritäten keine substantiellen Gerechtigkeitskriterien bieten können. Die Wendung gegen

38 Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft, (1921, 2. vermehrte Aufl. 1925), 5. Aufl. Tübingen 1976, S. 564 ff. 39 Kleist, Heinrich von: „Michael Kohlhaas“, in: ders., Kleists Werke, Bd. 1, Weimar 1963, S. 81 ff. Dazu die aufschlussreiche soziologische Interpretation von Kauppert, Michael: „Gesellschaftsstruktur und Gerechtigkeit in Heinrich von Kleists ‚Michael Kohlhaas‘“, in: Michael Corsten/Hartmut Rosa/Ralph Schrader (Hg.), Die Gerechtigkeit der Gesellschaft, Wiesbaden 2005, S. 75 ff. 40 Placentinus: „Quaestiones de iuris subtilitatibus“ (1192), in: Hermann Fitting (Hg.), Quaestiones de iuris subtilitatibus des Irnerius, Berlin 1894, S. 53.

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den Positivismus aber besteht darin, dass Gerechtigkeit nicht von der bloßen Rekursion rechtlicher Dezisionen produziert werden kann. Weder Naturrecht noch Positivismus: Gerechtigkeit sabotiert Rechtsentscheidungen. Entgegen dem Drang des Rechts nach Entscheidungsgewissheit eröffnet juridische Gerechtigkeit als eine diskursive Praxis einen neuen Raum der totalen Indeterminiertheit des Rechts. Gerechtigkeit unterminiert die routinisierten Rekursionen rechtlicher Entscheidungen und fragt beharrlich, ob ein Streitfall im Lichte externer Anforderungen an das Recht nicht anders entschieden werden muss. Gerechtigkeit wirkt rechtsintern als eine subversive Kraft, mit der das Recht gegen sich selbst protestiert. Gerechtigkeit protestiert gegen die natürlichen Tendenzen des Rechts, sich an Präjudiz, Routine, Sicherheit, Stabilität, Autorität und Tradition zu binden. Gegen die dem Recht eingebauten Tendenzen wohlgeordneter Selbstkontinuierung spielt Gerechtigkeit ihre Präferenz für Unordnung, Revolte, Abweichung, Variabilität und Veränderung aus. Sie protestiert im Namen der Gesellschaft, der Menschen und der Natur – doch sie tut dies aus dem inneren Arkanum des Rechts heraus. Subversive Gerechtigkeit ist der Stachel im Fleisch. Meuterei auf der Bounty – dies ist die Botschaft der Soziologie für die juridische Gerechtigkeit.

4. S TATT R ATIONALITÄT : D AS I RRATIONALE IN DER S ELBST T RANSZENDIERUNG DES R ECHTS Aber warum gerade Meuterei? Warum nicht Gerechtigkeit als Außenangriff aufs Recht im Namen der Gesellschaft? Dass Menschen, die ihre Hoffnungen ins Recht gesetzt haben, nach einem verlorenen Prozess das Recht für seine Ungerechtigkeit verantwortlich machen, ist zu erwarten. Aber dass der Widerstand aus dem inneren Arkanum des Rechts stammt – dies ist das Skandalon. Die Ursache für den Aufstand von innen, für die Selbstsubversion des Rechts im Namen der Gerechtigkeit, liegt in dem wohl folgenreichsten Versagen des Rechts: Es ist prinzipiell nicht in der Lage, sein eigenes Versprechen zu halten – das Versprechen, seine Entscheidungen auf eine einsichtige Basis vernünftiger Gründe zu stützen. Rechtliche Begründungen, wie professionell sie auch gearbeitet sind, können rechtliche Entscheidungen nicht rechtfertigen – jeder, der auch nur einmal einen Rechtsfall zu entscheiden hatte, hat diese ernüchternde Erfahrung gemacht. Anders ausgedrückt: Der wohl beunruhigendste Mangel des Rechts besteht darin, dass es das Eindringen von Irrationalität in die rationale Welt der normorientierten Entscheidungen und der vernunftbasierten Argumen-

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tation nicht verhindern kann. Deshalb waren Rechtspraktiker schon immer skeptisch gegenüber der Leistungsfähigkeit rationaler Gerechtigkeitstheorien nach der Machart von Rawls und Habermas. Die Gerechtigkeitsphilosophen sind sich ihrerseits des irrationalen Elements in rechtlichen Entscheidungen bewusst, doch sie versuchen es mit Exorzismus. Indem sie die Rolle des rationalen Arguments im Recht ad infinitum erweitern, um der Entscheidung Halt zu geben, treiben sie den Teufel der Paradoxien der Selbstreferenz aus.41 Natürlich vergeblich. Im Gegensatz dazu stellen die provokativsten aktuellen Analysen des Rechtsversagens, wie sie von Jacques Derrida und Niklas Luhmann angefertigt wurden, die Aporien der Gerechtigkeit und die Entscheidungsparadoxien des Rechts gerade ins Zentrum ihrer Überlegungen.42 Wohlgemerkt, sie re-analysieren damit nur eine alte Erfahrung im Recht, das sich mit ehrwürdigen Selbstbeschreibungen in die berühmt-berüchtigten Doppelformeln geflüchtet hat – ratio et voluntas sowie ratio et auctoritas –, um mit den Grenzen der Vernunft in Rechtsentscheidungen leben zu können.43 Sogar die analytische Jurisprudenz, die anders als Dekonstruktion oder Autopoiesis nicht gerade unter dem Verdacht des Irrationalismus steht, muss die Grenzen des rationalen Argumentierens im Recht zur Kenntnis nehmen und zugeben, dass die logische Anwendung von Normen auf Sachverhalte nur dann funktioniert, wenn der Richter zusätzliche Prämissen in den Syllogismus einbringt. Sie muss ferner zugestehen, dass die Rechtfertigung von Normen durch ihnen zugrunde liegende Normen und Prinzipien unvermeidlich im Münchhausen-Trilemma endet: infiniter Regress, willkürlicher Abbruch oder Zirkularität.44 Die Unzulänglichkeit der Vernunft, Rechtsentschei-

41 Typisch für diese Strategie Habermas, Jürgen: „Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikativen Kompetenz“, in: ders./Niklas Luhmann (Hg.), Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was leistet die Systemforschung, Frankfurt a.M. 1971, S. 101 ff. (hier S. 141, 123 ff.), ders.: „Wahrheitstheorien“, in: Helmut Fahrenbach (Hg.), Wirklichkeit und Reflexion: Walter Schulz zum 60. Geburtstag, Pfullingen 1973, S. 211 ff. (hier S. 255 ff.). 42 J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft, S. 46 ff.; N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 307 ff. 43 Eine umsichtige Interpretation der Eumeniden des Aischylos unter dem Aspekt der Entscheidungsparadoxie des Rechts bietet Fögen, Marie Theres: „Die Tragödie des Entscheidens: Eine Anmerkung zu den „Eumeniden“ des Aischylos“, in: Ancilla Juris (anci.ch) (2007), S. 42 ff. 44 Albert, Hans: „Das Problem der Begründung“, in: ders. (Hg.), Traktat über kritische Vernunft, Tübingen 1968, S. 9 ff., und später ab 5. Auflage, UTB-Ausgabe 1991, die Anhänge I, insbesondere S. 220-242, Anhänge II und III.

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dungen zu begründen, treiben die Critical Legal Studies in ihre Obsessionen der indeterminacy des Rechts. Sie treiben Carl Schmitt in die Obsessionen des Dezisionismus. Und es verwundert nicht, dass nun zahlreiche interdisziplinären Analysen einspringen, um die ‚Krankheit‘ des Rechts mit ihren spezifischen Mitteln zu heilen: Psychologie mit dem affektiven Element, Psychoanalyse mit dem Unbewussten in Rechtsentscheidungen, Ökonomie mit Effizienzberechnungen, Soziologie mit Klassenstruktur oder sozialen Normen, Politikwissenschaft mit Policy-Erwägungen, sozialen Antagonismen oder reinem Voluntarismus der Macht, usw. usw. Doch wie reagiert das heutige Recht selbst auf seine fundamentale Unzulänglichkeit? Juridische Gerechtigkeit ist als die Reaktion des Rechts auf sein eigenes Versagen zu verstehen. Sie kann, wie schon angedeutet, weder mit einem rechtsphilosophischen Konstrukt noch mit einem rechtlichen Entscheidungskriterium identifiziert werden, sondern erscheint als eine strukturierte soziale Dynamik innerhalb des Rechts. Juridische Gerechtigkeit wäre dann, um die folgenden Überlegungen in einer Formel vorwegzunehmen, ein eigensinniger Prozess der Selbstbeschreibung im Recht, der die routinisierte Rekursivität der Rechtsoperationen unterbricht, blockiert, sabotiert, unterminiert, der damit das Recht zu seiner Selbsttranszendierung über jeden Sinn hinaus zwingt, der sich aber sogleich wieder unter den Fortsetzungszwang, weitere Rechtsoperationen zu produzieren, setzt und sich dadurch selbst sabotiert, dass er genau neue Ungerechtigkeiten schafft. Denn nach dem Durchgang durch die „irrationale“ Transzendenzerfahrung, nach dem „Gang durch die Wüste“, nötigt er sich dazu, diese Erfahrung unter den restriktiven Bedingungen des Rechtssystems – Entscheidungszwang, Normierungszwang, Begründungszwang – zu rekonstruieren. Unerbittliche Konsequenz dieses Fortsetzungszwangs ist es aber, dass der Rechtsprozess, auch und gerade nach der Selbst-Provokation in seiner Selbstbeschreibung „Gerechtigkeit“, die sich in neuen Rechtskriterien übersetzt, immer neue Ungerechtigkeit erzeugt, gegen welche die Gerechtigkeit dann erneut protestieren muss, um sich dann wieder den Zwängen des Rechtssystems auszusetzen. Und so fort und so fort – in einer selbstquälerischen Daueroszillation. Gerechtigkeit als diskursive Praxis ist also nicht einfach Subversion des positiven Rechts im Namen seiner Umwelten, sondern eine sich selbst steigernde zyklische Dynamik der Selbst-Subversion, in dem positive Rechtsentscheidungen durch rechtseigene Gerechtigkeitsproteste unterminiert werden und umgekehrt. Weder stellt diese Praxis Gerechtigkeit neu her, noch vervollkommnet sie eine bereits bestehende unvollkommene Gerechtigkeit, noch nähert sie sich einem Gerechtigkeitsideal asymptotisch an, vielmehr baut sie immer wieder aufs Neue die beiden Positionen auf – positive Rechtsentscheidung und Gerechtig-

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keitsprotest –, um sie beide sogleich wieder zu zerstören. Die Praxis verwirklicht und verunmöglicht Gerechtigkeit in einer ständigen Transformation von der Immanenz zur Transzendenz des Rechts und zurück zur Immanenz. Letztlich heizt sie damit nur die innere Unruhe, die Nervosität des Rechtsprozesses, die Daueroszillation zwischen beiden Polen, die notwendige Kontingenz des Rechts stets aufs Neue an. Hervorzuheben ist, dass das Phänomen nicht einfach auf einen „dunklen Drang“ nach Gerechtigkeit reduziert werden kann, der den rationalen Rechtsgang ständig stört und ihn gelegentlich dazu anregt, besseres Recht zu produzieren.45 Stattdessen bezeichnet juridische Gerechtigkeit eine ganz spezifisch strukturierte, theoretisch näher beschreibbare und empirisch identifizierbare Dynamik innerhalb des Rechtsgeschehens. Wohlgemerkt, mit Rechtsgeschehen ist hier nicht einfach der professionelle und organisierte Rechtsbetrieb, sondern jegliche ernstgemeinte Kommunikation über Recht, also gerade auch der Rechtsprotest der Bevölkerung „draußen im Lande“, gemeint. Derridisierend könnte man von „justiciance“ sprechen, um das Iterative, das ständige Changieren und Verschieben, die permanenten Bedeutungsveränderungen und das Nie-Abgeschlossene der Gerechtigkeit zu bezeichnen. Dies würde die auf das juridische Entscheidungsparadox konzentrierte Selbstsubversionsdynamik bezeichnen, die im Rechtsprozess stets mitlaufende Gerechtigkeitssuche, die aber im deutlichen Unterschied zur allgemeinen Sehnsucht nach Gerechtigkeit unter scharf einschränkenden Bedingungen steht. Und zwar ist die den Prozess leitende Suchformel durch eine merkwürdige Kombination von hoher Unbestimmheit und hoher Strukturiertheit ausgezeichnet. Bemerkenswert ist daran, dass das Verhältnis von Unbestimmtheit und Strukturiertheit nicht als Vermittlung, Kompromiß oder ein Treffen in der Mitte als „relativ strukturierte Unbestimmtheit“ zu verstehen ist, sondern als eine wechselseitige Radikalisierung beider: „Chaos in Ordnung bringen“ – die Doppelbedeutung dieser berühmten Formulierung Adornos macht die Radikalität der Gerechtigkeitsformel in der Moderne deutlich: den Rechtsgang zu chaotisieren, das Chaos in die Ordnung des Rechtsganges zu zwingen.46

45 Analog zu Jürgen Habermas’ Verständnis der Dauerirritation der institutionalisierten Politik durch Protestbewegungen: Habermas, Jürgen: „Die Neue Unübersichtlichkeit: Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien“, in: Merkur 39 (1985), S. 1 ff. 46 Wiethölter benutzt das Adorno-Zitat besonders gern im Zusammenhang von Rechtsentscheidungen, R. Wiethölter (Fn. 11), S. 107; Adorno, Theodor W.: Minima Moralia: Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt a.M. 2003, Teil 3, 1946/47, S. 103.

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Die Dynamik rechtsinterner Gerechtigkeit wird durch die vom Rechtssystem diktierten Ausgangsbedingungen ausgelöst und wird zugleich den vom Rechtssystem diktierten Beschränkungen ihrer Lösungsmöglichkeiten ausgesetzt. Damit ist der juridischen Gerechtigkeit ihre gesellschaftsweite und ihre historische Universalisierung verboten. Sie bleibt system- und zeitgebunden. Die konkreten Beschränkungen en gros et en détail zu analysieren, ist die Aufgabe einer rechtssoziologischen Gerechtigkeitstheorie. Vorläufig lassen sich die Unterschiede einer juridischen Gerechtigkeitspraxis zum „dunklen Drang“ nach Gerechtigkeit folgendermaßen umreißen: a.

Ausgangsbedingungen

Die Besonderheiten dieser rechtssysteminternen Suchdynamik zeigen sich daran, dass sie nicht einfach vom undefinierbaren Begehren nach einer gerechten Welt angetrieben wird, sondern dass sie immer dann ausgelöst wird, wenn Rechtsverfahren und Rechtsargumentation auf den im Rechtsgang genauer lokalisierbaren Hiatus stoßen, der den laufenden Rechtsprozess unvermeidlich zum Stocken bringt. Systemtheoretisch gesprochen entsteht dieser Hiatus in der Verknüpfung Operation – Struktur – Operation (Rechtsakt – Rechtsnorm– Rechtsakt). Entgegen allen Vorurteilen gegenüber der Autopoiese als einer automatisch funktionierenden Mechanik47 hat die Systemtheorie immer wieder deutlich gemacht, daß die Kette der Selbstreproduktion in jedem einzelnen Übergang von Struktur zu Operation (Erwartung zu Kommunikation) notwendig einen Bruch aufweist. Operationen erzeugen zwar Strukturen, Strukturen können aber nicht die darauffolgenden Operationen erzeugen, sondern können nur einen verdichteten Möglichkeitsraum schaffen, in dem dann eine neue Operation „geschieht“. Diese muß aber stets, auch bei dichtester Struktur, ein Moment fundamentaler Ungewißheit überwinden.48 „Insofern entsteht mit Strukturbildung immer auch ein dazu nötiges Maß an Unsicherheit, und man wird nicht ohne Schadenfreude, gerade an sicherheitsfanatische Strukturbildun-

47 Rottleuthner, Hubert: „Biological Metaphors in Legal Thought“, in: Gunther Teubner (Hg.) Autopoietic Law: A New Approach to Law and Society, Berlin 1988, S. 97 ff. (hier S. 117). 48 Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 382 ff.

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gen wie Bürokratien und Rechtsordnungen feststellen können, wie mit der Zunahme der 49

Bürokratisierung und der Verrechtlichung sich auch die Unsicherheit multipliziert.“

Auf das Recht gewendet: Jeder Rechtsakt (Gesetz, Vertrag, Richterentscheidung) verändert die Rechtslage, indem er eine neue Rechtsnorm erzeugt. Aber diese Rechtsnormen können ihrerseits keinen neuen Rechtsakt selbsttätig hervorbringen, sondern nur mehr oder weniger verdichtete Verweisungen auf mögliche neue Rechtsakte.50 Genau an dieser Stelle beginnt nun, um den Hiatus zu überspringen, die juristische Argumentation ihr rastloses Werk – erfolgreich und zugleich vergeblich. Juristische Argumentation bewirkt zwar Entscheidendes, aber auch sie kann den Konflikt nicht entscheiden, sie kann – entgegen den Selbstproklamationen von Argumentationstheoretikern – den Bruch von Struktur zu Operation, von Norm zu Rechtsakt nicht überbrücken. Juristisches Argumentieren kann nur Differenzen transformieren und stellt sie dann vor eine neue Entscheidungsalternative. Es verwandelt die bestehende Entscheidungsalternative in eine andere, die, wenn es gut geht, dem Rechtskonflikt adäquater ist als die begründungslose Alternative. Juristisches Argumentieren entscheidet nicht. Es rechtfertigt nicht. Es hat auch nichts zu verbergen. Es transformiert nur Entscheidungsalternativen, diese freilich drastisch. Eine Entscheidung bleibt nach wie vor notwendig, nur dass nach der Rechtsargumentation die sich präsentierende Entscheidungsalternative eine andere geworden ist.51 Welcher neue Rechtsakt dann schließlich angeschlossen wird, aber bleibt im Dunkel. An dieser Stelle, an der Differenz Struktur/Operation, Rechtsnorm/ Rechtsakt oder Argumentation/Rechtsakt, öffnet sich der Hiatus, der auch von rationalen Begründungen nicht überbrückbare Zwischenraum von Norm und Entscheidung. Die Aporien der juristischen Entscheidung sind selbst nicht rationalem Diskurs zugänglich, nicht begründbar, nicht rechtfertigbar, weder gerecht noch ungerecht. Wenn aber Gerechtigkeit gesucht werden soll, dann heißt dies, dass dieser Hiatus nicht dezisionistisch übersprungen wird oder durch ständig weitere inner- oder außerrechtliche Rationalisierungen bis zum Ermüdungspunkt immer nur verschoben wird. Der Gerechtigkeitsdiskurs wählt den Rejektionswert der Alternative von Dezisionismus oder Rationalisierung. Er macht die Aporie der Rechtsentscheidung (bekanntlich das Nichtweiterkommen beim Durchque-

49 Ebd., S. 391. 50 N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 49 f. 51 G. Teubner/P. Zumbansen (Fn. 30), S. 195 ff.; N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 338 ff.

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ren des Flusses) durch einen reflexiven Akt der Selbstbeschreibung überhaupt erst bewusst, versucht also nicht, ihr auszuweichen oder sie einfach zu negieren, sondern artikuliert sie offen als Grenze der rationalen Begründbarkeit, bringt sie zur schmerzhaften Erfahrung und steigert sie ins Unerträgliche.52 Dieser Versuch, die Aporien des Rechtsganges durch Steigerung der Reflexivität bis hin zur Selbsttranszendierung des Rechts zu überwinden, ist die notwendige Ausgangsbedingung des Gerechtigkeitsprozesses im Inneren des Rechts, in dem nicht etwa die Gesellschaft, die Sozialtheorien oder eine andere externe Instanz dem Recht ihre normativen Maßstäbe diktierte, sondern in dem das Recht sich selbst den Prozess macht.53 b.

Selbsttranszendierung

Die größten Schwierigkeiten stellen sich freilich, wenn man zu verstehen sucht, was im Diskurs der Gerechtigkeit die Selbsttranszendierung des Rechts angesichts des Hiatus von Rechtsnorm und Rechtsakt bedeutet. Oben schon hatten wir mit Luhmann einen ersten Anlauf unternommen, um einen ökologischen Begriff der Gerechtigkeit zu profilieren, der aus der operativen Geschlossenheit des Rechts herausfindet und dennoch in ihr verharrt und hatten dies am Phänomen des „re-entry“ festgemacht. Die Kriterien der Gerechtigkeit werden dann nicht irgendwo außerhalb des Rechts aufgefunden, sondern das Recht kann sich nur in der Weise selbst transzendieren, dass es im selbsterzeugten Wiedereintritt diejenigen Umwelten, aus denen der Rechtskonflikt stammt – Gesellschaft, Natur, Mensch – von sich selbst unterscheidet, um dann im Verhältnis zu diesen „enacted ecologies“ umweltadäquate Gerechtigkeitskriterien zu etablieren. Damit ist von vornherein ausgeschlossen, dass das Recht solche Kriterien von der Außenwelt importieren kann, vielmehr muss es sie mit seinem eigenen Weltwissen selbsttätig konstruieren. Dieser re-entry in die Entscheidungspraxis des Rechts eben macht die Besonderheit einer juridischen Gerechtigkeit aus und ihren Un-

52 J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft, S. 46 ff.; N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 307 ff.; Fögen, Marie Theres: Das Lied vom Gesetz, München 2007, S. 110 ff. 53 Wiethölter, Rudolf: „Recht-Fertigungen eines Gesellschafts-Rechts“, in: Christian Joerges/Gunther Teubner (Hg.) Rechtsverfassungsrecht: Rechtfertigung zwischen Privatrechtsdogmatik und Gesellschaftstheorie, Baden-Baden 2003, S. 1 ff. (hier S. 19 f.); ein Text des Autors, der sich als Selbstüberbietung früherer Texte lesen lässt, etwa von ders.: „Ist unserem Recht der Prozeß zu machen?“, in: Axel Honneth et al. (Hg.), Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag, Frankfurt a.M. 1989, S. 794 ff.

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terschied zu rechtsexternen Vorstellungen einer gerechten Gesellschaft, einer politischen Kollektiventscheidungsgerechtigkeit oder einer moralisch-philosophischen Achtungsreziprozitätsgerechtigkeit. Die Suche kann ihre Kriterien nicht externalisieren, also weder auf Demokratie, noch auf Moral, noch auf Ökonomie hoffen, sondern ist auf sich selbst zurückgeworfen. Das Recht trägt die Verantwortung für seine Kriterien der Gerechtigkeit selbst. Über eine solche ökologische Konzeption der Gerechtigkeit hinaus macht nun Derrida drei weitausgreifende Gedankenschritte, mit denen er der aktuellen Gerechtigkeitsdiskussion außerordentlich starke Impulse gegeben hat. Im ersten Schritt wagt er einen neuen Umgang mit dem Rechtsparadox. Luhmann identifiziert zwar die Entscheidungsparadoxie des Rechtes, fordert dann aber mit Entschiedenheit, sie zu verstecken, zu verleugnen, zu verdrängen und schnellstens eine de-paradoxierende Unterscheidung einzuführen. Derrida dagegen verlangt, sich der Erfahrung der Paradoxie zu stellen und damit das juridische Denken in eine Welt zu treiben, in der Luhmann nur Paralyse und Schrecken vermutet. Gerechtigkeit wäre dann mehr als Konsistenzformel, aber auch mehr als Kontingenzformel, wäre Transzendenzformel, wäre „Anruf, Abgrund, Disruption, Widerspruchserfahrung, Chaos innerhalb des Rechts“.54 Das hat durchaus praktische Folgerungen für Rechtserkenntnis und -entscheidung: Veränderung der Situation als Entscheidung sub specie aeternitatis und nicht nur sub specie societatis.55 Im zweiten Schritt radikalisiert Derrida, was Selbsttranszendierung des Rechts überhaupt bedeuten kann. Luhmanns Gerechtigkeit verlangt vom Recht eine Selbsttranszendierung in Richtung seiner selbstentworfenen Umwelten, macht dort aber auch halt. Damit resigniert sie letztlich angesichts der Defizienzen des re-entry. Wenn re-entry immer nur Rekonstruktion des Außen im Innen, immer nur „enactment“ einer Umwelt ist, dann ist er immer zugleich Einschließung und Ausschließung. Was aber vom Recht ausgeschlossen ist, fordert dennoch Einlaß in die Gerechtigkeit. Das Perturbationsereignis selbst, die Verwirrungen und Erschütterungen, die es auslöst, bleiben in Luhmanns Analysen seltsam unterbelichtet. Hier produziert die Systemtheorie mit ihrer Leitentscheidung System/Umwelt ihren eigenen blinden Fleck, der ihr nicht erlaubt, das „Zwi-

54 J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft. Dazu aufschlussreich Barjiji-Kastner, Fatima: Ohnmachtssemantiken: Systemtheorie und Dekonstruktion, Weilerswist 2007, besonders Kap. III.2. 55 An dieser Stelle wäre der Unterschied zu M. T. Fögen (Fn. 52), S. 106, zu markieren, für die „Gerechtigkeit […] in ihrem dekonstruktivistischen Gewand offensichtlich unbrauchbar“ ist.

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schen“ im Perturbationsgeschehen näher zu analysieren.56 Luhmann sieht nur und kann nur sehen, was innerhalb der Grenzen des Rechts passiert und widmet seine Aufmerksamkeit nur den nach der Perturbation getroffenen Unterscheidungen. Derrida dagegen fordert das Überschreiten auch dieser Grenze und mutet dem Gerechtigkeitsdiskurs zu, sich den Verwirrungen und Erschütterungen auszusetzen, die Transzendenz jenseits jeden Sinnes – „den Gang durch die Wüste“ – zu erfahren. Und dies ist in der Tat für den heutigen Wissenschaftsstil befremdlich: ein Transzendieren jeden Sinnes, ein Verweis auf mystische Gewalt, eine Begegnung mit dem Anderen der Levinasschen Alteritätsphilosphie, eine Herausforderung der modernen Rationalitäten durch ‚reine‘ Gerechtigkeit, Gabe, Freundschaft, Verzeihung. Im dritten Schritt schließlich verändert sich das Verhältnis von religiöser zu einer spezifisch juridischen Transzendenz. Während Luhmann die Transzendenzerfahrung auf das Religionssystem konzentriert und damit implizit andere Teilsysteme, unter anderen das Rechtssystem, davon ausschließt, ist Derridas dekonstruktives Denken darauf gerichtet, das Transzendenzbewußtsein aus seiner modernen Isolierung in der Religion herauszulösen und in die hochrationalisierten Welten der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Politik und des Rechts wieder einzubringen. Derrida zieht damit nur die Konsequenz aus dem – auch und gerade Luhmann zugänglichen – Phänomen, dass trotz aller gesellschaftlichen Arbeitsteilung Wissen sich nicht auf Wissenschaft konzentrieren lässt, dass Machtprozesse trotz des staatlichen Gewaltmonopols auch außerhalb der Politik stattfinden, dass die Unterscheidung Recht/Unrecht trotz aller Formalisierung des Rechtssystems auch außerhalb des Rechts praktiziert wird. Entsprechend lassen sich auch Transzendenzerfahrungen, auf die sich die Energien der Religion konzentrieren, nicht auf die Religion begrenzen. Sie erzeugen auch und gerade in den hochspezialisierten Sinnwelten der Moderne Wirkungen, die sich von denen religiöser Transzendenz deutlich unterscheiden. Dass Max Weber die seltsam anmutende Formulierung eines „Polytheismus“ der Moderne benutzt hat, gewinnt eigentlich erst in diesem je eigenen Transzendenzbezug jeder hochgetriebenen Teilrationalität seine eigentümliche Bedeutung, die verloren geht, wenn man ihn auf eine bloße Rationalitätenvielfalt oder einen Polyzentrismus reduziert. Es geht gerade um die Vielfalt möglicher Transzendenzzugänge, so könnte man Max Weber lesen. Denn dies war schließlich eine der Leistungen des alten Polytheismus, aus Differenzen der Transzendenz

56 Zum blinden Fleck der Systemtheorie und zu Möglichkeiten, ihn auszuleuchten Teubner Gunther: „Im blinden Fleck der Systeme: Die Hybridisierung des Vertrages“, in: Soziale Systeme3 (1997), S. 313 ff.

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Differenzen in der Immanenz, insbesondere soziale Rollen, Kompetenzen und Funktionen, zu legitimieren. Man sollte Derrida so lesen: Er stellt hier die erstaunliche These auf, dass jede moderne Institution ihre spezifische Selbsttranszendierung kennt, die je unterschiedliche paradoxale Wirkungen hat: er nennt dies die Wirkung der „reinen Gabe“ gegenüber der profitgesteuerten Wirtschaft, der „Freundschaft“ gegenüber der professionalisierten Politik, der „Verzeihung“ gegenüber der säkularisierten Moral und vor allem der „Gerechtigkeit“ gegenüber dem hochtechnisierten Recht.57 Sie alle sind der jeweiligen Eigenlogik der Institutionen entstammende Verweisungsüberschüsse, die utopische Energien in ganz anderen Räumen als dem der Religion reaktivieren. Denkt man dies für das Recht weiter, so lässt sich Gerechtigkeit als eine Transzendenzerfahrung verstehen, die gerade nicht mit religiöser Transzendenz identisch ist. Worin aber besteht ihre Eigentümlichkeit? Die Antwort könnte sich daraus ergeben, dass der Gerechtigkeitsdiskurs dort beginnt, wo das Recht endet – am Hiatus zwischen Norm und Entscheidung, wo das Rechtsparadox auftaucht. Der Gerechtigkeitsdiskurs schließt gerade an die verwirrende Erfahrung des spezifischen Rechtsparadoxes an und überschreitet eben an dieser Stelle die Sinngrenzen des Rechts. Ist es Recht, die Unterscheidung Recht/Unrecht auf die Welt anzuwenden?58 Aber genau das ist die Gerechtigkeitsfrage. Sobald das Recht auf sein eigenes Paradox stößt, dann ist es mit Notwendigkeit der Gerechtigkeitsfrage ausgesetzt! Und nicht der Frage der Freigebigkeit, der Freundschaft, der Verzeihung oder gar des Seelenheils. In der Selbsttranszendierung des Rechts bleibt also die Besonderheit des Rechtsparadoxes Recht/Unrecht wirksam. Sie ist als die spezifische Grenzüberschreitung des Rechts notwendig, aber gerade deswegen nicht mehr in der rationalen Sprache des Rechts ausdrückbar, sondern nur noch in verrätselter Sprache, irrealer Idealisierung,

57 Derrida, Jacques: Falschgeld: Zeitgeben I, München 1993, besonders S. 49 ff.; ders.: Politik der Freundschaft, Frankfurt a.M. 2000; ders.: „Jahrhundert der Vergebung. Möglichkeiten und Grenzen des Verzeihens“, in: Lettre International 48 (2000), S. 10 ff.; ders. (Fn. 2), Gesetzeskraft, besonders S. 44 ff. 58 Mit Luhmann und gegen Luhmann verbietet sich Rainer Maria Kiesow, die im Rechtsparadox verborgene Gerechtigkeitsfrage zu stellen, um dann aber das Problem (zwar nicht mehr „rechtlich“, sondern) „politisch“ wiederkehren zu lassen: „politisch wird es immer wiederkehren“, Kiesow, Rainer Maria: „Error iudicis: Fünf Gänge und ein Rätsel“, in: ders./Henning Schmidgen (Hg.), Das Irrsal hilft, Berlin 2004, S. 29 ff. (hier S. 39, 44). Mit dem „Politischen“ dürfte Kiesow allerdings weniger die institutionalisierte Politik, sondern das helfende Irrsal selbst meinen.

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Gleichnis, Symbolisierung, Literatur, Traum, Delirium, Utopie.59 Kein Wunder, dass an dieser Stelle im Michael Kohlhaas der vielkritisierte romantisierende Bruch geschieht, mit dem plötzlich eine mit Wahrsagefähigkeiten ausgestattete Zigeunerin die Führung im Umgang mit konfligierenden Gerechtigkeitsansforderungen übernimmt: „Ein Amulett, Kohlhaas, der Rosshändler; verwahr es wohl, es wird dir dereinst das Leben retten“.60 Eine solche Gerechtigkeitssuche kann nicht darauf hoffen, im Recht selbst oder in der Gesellschaft oder gar in der Religion Kriterien der Gerechtigkeit zu finden, sondern muss über jeglichen Sinn hinaus das Recht überschreiten, die Erfahrung der spezifischen Transzendenz des Rechts machen, unter deren Eindruck sie wieder zurück in die Immanenz des Rechts muss, um sub specie aeternitatis Recht zu sprechen. Was aber ist von Gerechtigkeit als expliziter Transzendenzerfahrung zu halten, wenn Nietzsche recht hat: „Gott ist tot“? Kann man in der säkularisierten Gesellschaft die Transzendenz des Rechts ohne Religion „denken“? Wäre das nicht ein Naturrecht ohne Gott, aber auch ohne Vernunft? Und schließlich: Hat dann die bisher rätselhafteste Bestimmung von Gerechtigkeit, die sich bei Johannes findet, noch irgendeinen Sinn: „Um die Gerechtigkeit aber, dass ich zum Vater gehe, und Ihr mich fort nicht sehet“?61 Verlangt wäre, die Gerechtigkeit in einer Situation neuzuinterpretieren, in der Transzendenz nur noch ohne Gott gedacht werden kann, aber dennoch gedacht werden muss. Genau an dieser Stelle setzen Levinas und Derrida ein mit ihrer positiven Bestimmung einer „philosophischen Transzendenz“, die der Totalität des Sinnes die Exteriorität der Transzendenz gegenüberstellt, in der die Gerechtigkeit als unendliche Anforderung des einen Anderen im Konflikt mit den vielen Anderen aufscheint.62 Allerdings muss man hier der Radikalität des Anderen im Denken von Levinas und Derrida gerecht werden. Mit Alterität ist nicht einfach das ethische Prinzip der Fürsorge für den anderen oder die Berücksichti-

59 Dies macht die Unverständlichkeit der Sprache verständlich, mit deren Hilfe Benjamin, Derrida oder Wiethölter ihr Denken über das Recht verrätseln. Und alle Versuche, sie zu enträtseln, vergeblich. 60 H. v. Kleist (Fn. 39), S. 163 ff. 61 Joh., 16, 10. Dazu die subtile Interpretation von Folkers, Horst: „Johannes mit Aristoteles ins Gespräch über die Gerechtigkeit vertieft: Epilegomena zum 12. Kamel des Niklas Luhmann“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 21 (2000), S. 61 ff., besonders 68 ff. 62 Levinas, Emmanuel: Jenseits des Seins oder anders als Sein geschieht, Freiburg 1992, S. 342 ff.; ders.: Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität, Freiburg 1987, S. 125 ff.

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gung der Singularität der Individualperspektive gemeint,63 sondern die gerade nicht-sprachlich vermittelte, nicht-phänomenologische Erfahrung des anderen, eine Transzendenzerfahrung im „Antlitz des Anderen“. Gegenüber dem Bestehen auf Begründbarkeit der Gerechtigkeit, auf der Rationalität der öffentlichen Rede bestünde man auf der Gerechtigkeit des Nichtbegründbaren, dem nichtrationalen Anderen der Gerechtigkeit. Gerechtigkeit wäre dann angesiedelt an der Grenze der Immanenz des Rechts zu seiner Transzendenz. Gerechtigkeit letztlich als die Suche, den Bruch der Immanenz mit der Transzendenz zu überwinden – „Hingang zum Vater“ –, das bedeutete die Aufforderung der Transzendenz, die Immanenz in deren für diese jedoch nicht verstehbaren Sinne zu transformieren. Gerechtigkeit ist dann kein Maßstab in „tadelloser Idealität“, sondern ein „Prozess der Verwandlung des Unrechts in Recht“.64 Johannes’ eigentliche Botschaft geht jedoch darüber noch hinaus. Die Inkarnation – der re-entry der Unterscheidung Transzendenz/Immanenz in die Immanenz – wird der Transzendenz selbst noch nicht gerecht, sondern erst die Erfahrung fundamentaler Ungerechtigkeit – der „Hingang zum Vater“ – macht Gerechtigkeit möglich. Gerechtigkeit verwirklicht sich erst im realen Durchgang durch Ungerechtigkeit, Leiden und Schmerz, Gerechtigkeit ist Transformation des Leidens, mehr noch, ist Selbst-Opfer, das erst die Trennung Immanenz/ Transzendenz aufheben kann. Michael Kohlhaasens Weigerung, vor seiner Hinrichtung dem Kurfürsten von Sachsen den Inhalt des geheimnisvollen Amuletts zu offenbaren, hat ihm das „Machtwort, das ihn rettete“, gekostet, stattdessen aber die Verehrung des Volkes eingebracht dafür, dass er für die Gerechtigkeit zu sterben bereit war. In diesem Sinne bedeutet „Hingang zum Vater“ Aufhebung der Trennung Immanenz/Transzendenz durch die Transformation von Ungerechtigkeit. Das Leiden ist auch und gerade durch die Suche nach Gerechtigkeit selbst ausgelöst. Also ein Leiden an der Gerechtigkeit als der vergeblichen Suche und deren ungerechten Konsequenzen, weil sie in der Immanenz des Rechts – in der „Notordnung“ – „verwirklicht“ werden muss. Was Johannes der Debatte hinzufügt, wäre also, dass Gerechtigkeit als ein Transformationsprozess des Rechts verstanden werden muss, der überhaupt erst durch die reale Erfahrung von Ungerechtigkeit möglich wird. Dieser Gedanke findet heute sein schwaches Echo in Durkheim’s colère publique, die in der Normverletzung die

63 So aber Honneth, Axel: Das Andere der Gerechtigkeit: Aufsätze zur praktischen Philosophie, Frankfurt a.M. 2000, S. 154 ff., 165 ff. 64 H. Folkers (Fn. 61), S. 71 f.

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Ursache für die Normbildung findet und in Gerechtigkeitstheorien, die den „sense of injustice“ als Auslöser von Normierungsprozessen betrachten.65 „Unsichtbar für die Menschen“? Das bedeutet nicht nur Unzugänglichkeit der Transzendenz, sondern „ein letztes Freigestelltsein des Rechts eines jeden einzelnen von den endlichen Bedingungen jeder Art menschlicher Rechtsgewährung“.66 Doch nur in einer Welt mit Gott könnte die Erlösungshoffnung durch Gerechtigkeit bestehen. Wenn aber Transzendenz ohne Gott gedacht wird, dann ist keine Erlösung in der Gerechtigkeit möglich. Was dann bleibt, ist nur noch der verzweifelte Suchprozess selbst, der die permanente innere Unruhe des Rechts erzeugt, der sich immer wieder anderen Erfahrungen der Ungerechtigkeit aussetzt, der ruhelos neue Rechtskriterien der Gleichheit konstruiert und ständig neue Entscheidungsbegründungen erfindet und gerade dadurch aufs Neue die Gerechtigkeit zerstört. Die Suche nach Gerechtigkeit wird zu einer bloßen Sucht des Rechts, zerstörerisch und erfinderisch zugleich. c.

Anschlusszwänge

Die Unterschiede einer spezifisch juridischen Gerechtigkeit gegenüber dem „dunklen Drang“ werden besonders deutlich, wenn man die drastischen Einschränkungen bedenkt, zu denen das moderne Rechtssystem seine eigene Kontingenzformulierung nach dem Delirium ihrer Selbsttranszendierung zwingt. Juridische Gerechtigkeit kann nicht im Zugriff aufs Ganze die Ungerechtigkeit des Rechts mit der der Welt identifizieren. Sie ist genötigt, genau an der oben beschriebenen nicht-negierbaren Defizienz der Rechtsentscheidung anzusetzen, um dann ihrerseits die fehlende Verbindung zwischen Struktur und Operation, zwischen Rechtsnorm und Entscheidung, nicht nur bewusst zu machen, sondern auch diese mit eigenen Mitteln irgendwie, wie unbefriedigend auch immer, tatsächlich herzustellen. Genau an dieser Stelle unterscheidet sich die juridische Gerechtigkeit vom „Rechtspietismus“ des radikalen Flügels der Freirechtsschule, welche „die Gleichbehandlung des Gleichen und somit jede Möglichkeit der Verallgemeinerung konkreter, typisierenden Pflichten zu allgemein formulierenden Sollenssätzen“ ablehnte.67 Denn hier setzt der spezifische Anschlusszwang

65 Durkheim, Émile: Über soziale Arbeitsteilung: Studie über die Organisation höherer Gesellschaften, Frankfurt a.M. 1992, S. 118 ff.; Cahn, Edmond N.: The Sense of Injustice, New York 1949. 66 H. Folkers (Fn. 61), S. 76 f. 67 Wieacker, Franz: Privatrechtsgeschichte der Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der deutschen Entwicklung, 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 580 und Fußnote 57.

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im Rechtssystem die unendliche Gerechtigkeit drei unterschiedlich wirkenden drastischen Beschränkungen aus. Sie muss die Struktur/Entscheidung-Verknüpfung innerhalb des durch den Code Recht/Unrecht und dessen Programme scharf limitierten Möglichkeitsraums der Rechtsentscheidung herstellen, selbst dann wenn es ihrer eigenen Überzeugung widerspricht – Entscheidungszwang.68 Selbst wenn der Richter nach einem langen und quälenden Prozess des Nachdenkens und Diskutierens weiß, dass beide Parteien des Rechtsprozesses „Recht haben“ und selbst wenn er weiß, dass er, wie er auch entscheidet, einer Partei Unrecht tut, muss er der Klage stattgeben oder die Klage abweisen – unter der Anforderung der Gerechtigkeit.69 Tertium non datur. Zugleich setzt das Rechtssystem der Gerechtigkeitssuche kaum zu verkraftende kognitive Zwänge. Der Suche ist es nicht erlaubt, sich im irrationalen Gefühl der Ungerechtigkeit oder im vagen Sehnen nach Gerechtigkeit zu verlieren, sondern sie wird durch die oben genannten spezifisch strukturierten Aporien des Rechtsgangs gezwungen, sich zwar mit aller Intensität der Erfahrung der Irrationalität, des Rechtsgefühls, der Alterität, des Leidens, des Schmerzes, der Leere und der Fülle der Transzendenz auszusetzen, sie muss aber nach dieser Erfahrung mit rationalen Gründen, rechtstechnischen Argumenten, anschlussfähiger Rechtsdogmatik aufwarten – Begründungszwang. Hier kommt dann die von Luhmann so eindringlich beschriebene Schwierigkeit zum Ausdruck, mit rationalen Argumenten den hochgetriebenen Anforderungen der Außenwelt an das Recht responsiv entgegenzukommen, aber zugleich den internen Anforderungen an konsistente Fallentscheidung zu genügen. Endgültig wird der Spielraum juridischer Gerechtigkeit dadurch eingeengt, dass sie nicht über alle Macht- und Einflussmittel dieser Welt verfügt, um eine gerechte Gesellschaft herstellen zu können, sondern nur über die im Vergleich hochspezialisierten und zugleich armseligen Operationen und Strukturen des Rechts, Rechtsakte und Rechtsnormen. Sie steht bei ihren Lösungsmöglichkeiten vor harten Einschränkungen, die sie vom weisen Willkürakt eines Machtsouveräns, vom dunklen Orakelspruch, von mystischer Offenbarung unterscheidet. Sie muss ihre überwältigenden Erfahrungen der Alterität, also die Erfahrungen der inneren Unendlichkeit des einzelnen Menschen, die Erfahrungen der Eigenrationalität und Eigennormativität der unterschiedlichen Diskurse, und die Erfahrun-

68 N. Luhmann (Fn. 2), Das Recht der Gesellschaft, S. 307 ff. 69 So das berühmte Paradox des Rabbi, wiedererzählt von Atlan, Henri: À tort et à raison: Intercritique de la science et du mythe, Paris 1986; oder das berühmte Paradox der Athene in den Eumeniden des Aischylos, zeitgemäß interpretiert von M. T. Fögen (Fn. 43).

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gen der Irrationalität in einer geradezu absurd simplifizierenden Form zusammenziehen, der Formulierung einer Norm, die den Anspruch erhebt, dem Rechtskonflikt adäquat zu sein – Normierungszwang.70 Man kann die Wirkungen kaum überschätzen, die von diesen drei Zwängen auf die juridische Gerechtigkeit ausgehen. Entscheidungszwang: sie kann den Konflikt nicht in der Schwebe lassen, eine Partei muss Recht haben, die andere Unrecht; Begründungszwang: die Entscheidung muss auf Begründungen gestützt werden, die den untauglichen Versuch unternehmen, Konsistenz und Responsivität plausibel zu verbinden. Normierungszwang: die Entscheidung verlangt die Reduktion der komplexen Fallproblematik auf eine viel zu einfache Fallnorm. Unter solchen unzumutbaren Bedingungen sollen dann neuartige Strukturen geschaffen werden, die den Hiatus überwinden und den „Sprung“ ermöglichen? In der Tat, vor den unendlichen Anforderungen der Gerechtigkeit wird eine recht bescheidene „Notordnung“ errichtet. Wollen aber Gerechtigkeitstheorien von diesen Zwängen absehen – und dies sind nicht die wenigsten und durchweg die sensibelsten – diskreditieren sie sich selbst. Sie nehmen die Gerechtigkeit als radikale Transzendierung des Rechts ernst, aber sie unterschlagen die gegenläufigen Ansprüche der Transzendenz des Rechts, im Namen der Allgegenwärtigkeit die Gerechtigkeit in der Immanenz des Rechts zu verwirklichen.71 Sie exkludieren sich aus dem juridischen Gerechtigkeitsdiskurs, der seine Teilnehmer dazu zwingt, die Selbsttranszendierung des Rechts zu vollziehen, dann aber juristische Normen, Argumente und Entscheidungen zu finden. Theorien, die sich diesem Zwang entziehen, mögen als philosophische Gerechtigkeitstheorien weiter wirken, sie mögen sogar als Stachel im Fleisch dem Recht große Schmerzen bereiten. Aber der Stachelschmerz lässt nach. Nach einer gewissen Zeit wird er gar nicht mehr registriert. Dieses Schicksal steigender Irrelevanz erleiden besonders „kritische“ Theorien des Rechts. Sie scheitern am ehernen Gesetz des Rechtsgangs: Kritik ohne Gegenvorschlag zählt nicht.72 Gerade ein „juristischer Negativismus“ kann sich selbst nur als Übergangserscheinung definieren, irgendwann muss und wird er die Bedingungen formulieren, unter denen Rechtsverbote in Freiheiten unter Auflagen erlassen

70 Fikentscher, Wolfgang: Methoden des Rechts in vergleichender Darstellung, Bd. IV., Tübingen 1977, insbesondere Kapitel 31-33. 71 So in aller Deutlichkeit H. Folkers (Fn. 61), S. 78. 72 Nur scheinbar argumentiert Roellecke dagegen: Roellecke, Gerd: „Kritik ohne Ersatzvorschlag ist noch lange kein Gedöns“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung am 10.02.2006.

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werden sollen.73 Und es sollte nicht erstaunen, dass aus jahrelangem gnadenlosen „debunking of law“ die Bereitschaft entsteht, sich professionell-juridisch in den Trümmern des Rechts zu engagieren, als „entrepreneurs for policy diversity, for a more vigorous but fragmented public capacity, and for a normative order that embraces legal pluralism“.74 Die Anschlusszwänge des Rechts stellen nun einmal die Gerechtigkeitssuche vor eine andere Alternative, als es Adorno für die Moralphilosophie formulieren und entsprechend seine Präferenzen äußern konnte: für „konkrete Denunziation des Unmenschlichen“ und gegen „unverbindliche und abstrakte Situierung etwa des Seins des Menschen“.75 Die temperamentvolle Rechtskritik der Critical Legal Studies wäre eine rechtssoziologisch-empirische Fallstudie wert, um der Selbstmarginalisierung hochbegabter und hochmotivierter Rechtsverweigerungsjuristen nachzugehen. Und gegenüber dem juridischen „Hic Rhodus“ kann auch ein (links- oder rechts-) heideggerianischer Attentismus nicht bestehen, sei es Giorgios Agambens Hoffnungen auf eine neue Gemeinschaft, sei es Philip Nonets geduldiges Warten auf […]76 Sowohl Luhmann als auch Derrida haben dies, jeder auf seine Weise, in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Derrida geht in seiner Benjamin-Kritik sogar so weit, einer Gerechtigkeitstheorie, die sich weigert, in die Immanenz der Rechtskalkulationen zurückzukehren und sich stattdessen mit der Unterscheidung mythischer und mystischer Gewalt, deren Kriterien den Menschen unzugänglich bleiben müssten, zufriedengibt, Komplizität mit dem Schlimmsten vorzuwerfen.77

73 Zum juristischen Negativismus Wiethölter, Rudolf: „Recht und Politik. Bemerkungen zu Peter Schwerdtners Kritik“, in: Zeitschrift für Rechtspolitik (1969), S. 155 ff. (hier S. 158), und zu Freiheiten unter Auflagen ders. (Fn. 53), Recht-Fertigungen, S. 20 f. 74 So nach Zeiten langer Entscheidungsverweigerung Kennedy, David: „One, Two, Three, Many Legal Orders: Legal Pluralism and the Cosmopolitan Dream“, in: New York University Review of Law & Social Change 31 (2007), S. 641 ff. (hier S. 659). 75 T.W. Adorno (Fn. 12), Probleme der Moralphilosopie, S. 261. 76 Agamben, Giorgio: Homo Sacer: Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt a.M. 2002, S. 197 f.; ders.: Ausnahmezustand (Homo Sacer II.I), Frankfurt a.M. 2004, S. 83 ff.; Nonet, Philippe: „Time and Law“, in: Theoretical Inquiries in Law (2007) S. 311 ff. (hier S. 322 ff.). 77 J. Derrida (Fn. 2), Gesetzeskraft, S. 124 f. Heftige Kritik an einer solchen „erschreckenden Benjamin-Exegese“ und an der daraus resultierenden „bejahenden Dekonstruktion“ Derridas, die nicht mehr auf frontale Vernichtung, sondern auf eine „zirkuläre Entgrenzung des Rechts“ zielt, äußert Vismann, Cornelia: „Das Gesetz ‚DER Dekonstruktion‘“, in: Rechtshistorisches Journal 11 (1992), S. 250 ff. (hier S. 262).

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Jedoch sollte man darüber nicht die positiven Aspekte des juridischen Disziplinierungszwangs vergessen, die auch den Rechtsverweigerungsgerechtigkeitstheoretikern zu denken geben könnten: Er setzt das Recht unter einen außerordentlichen Innovationsdruck. Vor dem Doppel-Imperativ „Chaos in Ordnung bringen“ kann keine Gesetzesnorm, kein Richterakt, kein Dogmatikkonstrukt bestehen, alles wird auf den Prüfstand der Gerechtigkeit gestellt. Ungleich schwieriger aber ist es, die gleichzeitig erhobene Forderung zu erfüllen, Ersatzvorschläge zu formulieren. Juridische Gerechtigkeit muss stets neue Gesetzesnormen, Richterakte, Rechtsbegriffe erfinden, die dem Anspruch standhalten, gerechter zu sein als die alten als ungerecht empfundenen Formeln. Damit wird eine komparative Dimension in das Recht eingeführt, die es erlaubt, ja die dazu nötigt, zwischen höheren und niederen Graden an Gerechtigkeit zu unterscheiden. Gerechter als andere wäre dann eine Rechtsordnung, die radikaler als andere ihre Selbsttranszendierung in unterschiedliche Dimensionen der Alterität zulässt und befördert, die aber dann auch Entscheidungen, Argumente und Normen produziert, die sich vor anderen Rechtsordnungen als gerechter erweisen lassen. Innovationsdruck heißt aber auch Innovationschance. Was wir oben als merkwürdige Eigenheit der juridischen Gerechtigkeitsformel angesprochen hatten, nämlich die Kombination von hoher Unbestimmtheit (Selbsttranszendierung) und hoher Bestimmtheit (Formzwang des Juridischen), begünstigt die Entfaltung kreativer Energien. „Solon dekonstruiert nicht, Solon dichtet.“78 Im „imaginären Raum“ des re-entry finden juridische Konstruktionsphantasien ihre große Chance. Nicht von ungefähr gelten die juristische Person, der konsensuelle Vertrag und das Konstrukt des Staates als zivilisatorische Errungenschaften ersten Ranges für Recht und Gesellschaft. Und die immer wieder neu erzählte Fabel vom „zwölften Kamel“ verweist auf geheime Gemeinsamkeiten von artistischer und juridischer Kreativität.79 d.

Effets pervers

Doch das Merkwürdige ist: Die Rechtsverweigerer unter den Gerechtigkeitssuchern haben letztlich recht. Um der Gerechtigkeit willen sind sie nicht bereit, den Preis für die dreifache Einschränkung des Gerechtigkeitsdiskurses zu zahlen. Denn der Preis dafür, die unendliche Gerechtigkeitserfahrung auf eine binär ko-

78 Auf diese Formel bringt M. T. Fögen (Fn. 43), S. 128, ihr Argument, nach allen Vergeblichkeiten der Gerechtigkeitssuche die Rechtsparadoxie in die Kunst zu externalisieren. . 79 Dazu die Beiträge in Gunther Teubner (Hg.): Die Rückgabe des zwölften Kamels: Niklas Luhmann in der Diskussion über Gerechtigkeit, Stuttgart 2000.

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dierte Entscheidung, auf deren responsiv-konsistente Begründung und deren konditionale Normierung zu reduzieren, ist hoch – neue Ungerechtigkeit. Besonders wegen der Armseligkeit des rechtlichen Formzwangs, aber auch wegen der mangelnden Sensibilität philosophischer Universalisierung schafft die juridische Gerechtigkeitssuche notwendig neue Ungerechtigkeit, die ihrerseits zu erneuter Selbsttranszendierung und zu erneuter Disziplinierung führt. Levinas: „Die allgemeinen und großzügigen Prinzipien können sich in der Anwendung verkehren. Jedes großzügige Denken wird von seinem eigenen Stalinismus bedroht.“80 Hier wird der Unterschied dieser zyklischen Sicht, in der Gerechtigkeit sich selbst unterminiert, zu einer hierarchischen Sicht der Gerechtigkeit, die sich durch auf rationale Gründe gestützte Entscheidungen eine Steigerung der Gerechtigkeit erhofft, besonders fühlbar. Denn sie führt unnachsichtig vor Augen, dass gerade die Angewiesenheit des Rechts auf rationale Entscheidungen, Begründungen und Normierungen einer der vertracktesten der Ursprünge der Ungerechtigkeit unter den Menschen ist. Die dunkelste Seite der juridischen Gerechtigkeit aber ist ihr unbändiger Drang zur Universalisierung ihrer selbst. „Vergerechtlichung“ – dieses Unwort drückt die naheliegende Versuchung aus, dass das Recht die zweiseitige Logik der Gerechtigkeit – Selbsttranszendierung des Rechts und deren rechtliche ReDisziplinierung – auf die ganze Gesellschaft ausdehnt.81 Statt die ganz anderen Anforderungen politischer Verteilungsgerechtigkeit oder moralischer Achtungsgerechtigkeit zu respektieren und sich auf Konfliktbewältigung zu beschränken, sucht sie im „akuten Gerechtigkeitsfieber“82 eine gerechte Gesellschaft mit den

80 Levinas, Emmanuel: L’au delà du verset, Paris 1982, S. 98. Hier liegt der Einsatzpunkt für Levinas’ „Skeptizismus“ gegenüber philosophischen und juristischen Rationalisierungen der Gerechtigkeit, von deren Notwendigkeit er dennoch überzeugt ist, ders. (Fn. 62), Jenseits des Seins, S. 364. Dazu aufschlussreich Schlüter, Christian: Gleichheit – Freiheit – Gerechtigkeit: Versuch einer Ortsbestimmung in praktischer Absicht, Dissertation, Berlin 2000, abrufbar unter: http://dochost.rz.hu-berlin.de/ dissertationen/schlueter-christian-2000-07-12/PDF/Schlueter.pdf (Stand 20.03.2013), S. 196 ff.; Gondek, Hans-Dieter: „Gesetz, Gerechtigkeit und Verantwortung bei Levinas“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit: Derrida – Benjamin, Frankfurt a.M. 1994, S. 315 ff. 81 Dazu bemerkenswert Schlink, Bernhard: „Der Preis der Gerechtigkeit“, in: Merkur 58 (2004), S. 983 ff. 82 So der Arzt Relling über den gerechtigkeitssüchtigen Greger in Ibsen, Henrik: Die Wildente, Stuttgart 1994 (Orig. 1884), S. 67. Eine Interpretation dieser Art von selbstsubversiver Gerechtigkeit bietet Forst, Rainer: (2005) „Die Ungerechtigkeit der Ge-

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Mitteln juridischer Gerechtigkeit zu verwirklichen. Es ist gerecht, die Probleme der Welt nach dem binären Code Recht/Unrecht zu entscheiden – das ist das summum ius, summa iniuria der funktional differenzierten Gesellschaft. Sie teilt diesen Drang mit anderen Kontingenzformeln, mit dem der Wirtschaft, welche die ganze Welt als ein mit wirtschaftlichen Mitteln zu lösenden Knappheitsproblem zu beschreiben versucht, mit dem der Legitimitätsformel der Politik und mit dem der Limitationalität der Wissenschaft. Sie alle versprechen, eine gute Gesellschaft mit ihren Mitteln herstellen zu können, obwohl sie doch nur äußerst begrenzte Teilantworten für ihren Bereich geben können. „Vergerechtlichung“ der Gesellschaft ist einer der unheilvollen Rationalitätenimperialismen der Moderne, der Ökonomisierung, Politisierung, Verwissenschaftlichung, Moralisierung, Medikalisierung der Gesellschaft – ein unidirektionaler Steigerungsprozess der juridischen Gerechtigkeit, gegen den politische Wachsamkeit Not tut. Dieser Imperialismus einer nur partiellen Rationalität ist deshalb so gefährlich, weil er dem Verlangen der Menschen nach einer unteilbaren Gerechtigkeit auch in der heutigen Gesellschaft freundlich entgegenkommt, obwohl er weiß, dass dies Verlangen in der Moderne prinzipiell nicht gestillt werden kann, und dennoch mit juridischer Gerechtigkeit, die sich zur gesamtgesellschaftlichen Gerechtigkeit aufschwingt, ein falsches Heilsversprechen gibt. Beide erzeugen ein gefährliches Gebräu aus unbeantwortbaren Fragen und verlogenen Antworten. „Human Rights als das Ideal einer gerechten Gesellschaft“ – dieser heute sich ausbreitende Imperialismus einer entfesselten juridischen Gerechtigkeit produziert den totalitären Gerechtigkeitssucher der Moderne, der in seinen Rechtsausschweifungen die begrenzte Gerechtigkeit des Rechts auf die ganze Gesellschaft projiziert: „einen der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen unserer Zeit“.83

rechtigkeit: Normative Dialektik nach Ibsen, Cavell und Adorno“, in: Susanne Kaul/Rüdiger Bittner (Hg.): Fiktionen der Gerechtigkeit: Literatur – Film – Philosophie – Recht, Baden-Baden 2005, S. 31 ff. (hier S. 37ff.). 83 H. v. Kleist (Fn. 39), S. 81; dazu die anregende Interpretation von Ogorek, Regina: „Adam Müllers Gegensatzphilosophie und die Rechtsausschweifungen des Michael Kohlhaas“, in: Hans-Joachim Kreutzer (Hg.), Kleistjahrbuch 1988/89, Berlin 1988, S. 96 ff. (hier S. 121 ff.).

Der zweite Text Für eine Kritische Systemtheorie des Rechts M ARC A MSTUTZ * „Enter the Ghost, Exit the Ghost, Re-enter the Ghost. […] Frage der Wiederholung: Ein Gespenst ist immer ein Wiedergänger. Man kann sein Kommen und Gehen nicht kontrollieren, weil es mit der Wiederkehr beginnt“.1 JACQUES DERRIDA

Aus theoriehistorischen Gründen trägt die Systemtheorie Altlasten mit sich, die die Ausschöpfung ihres Kritikpotenzials hemmen.2 Mit der Architektur der Theorie haben diese Altlasten nichts zu tun. Sie sind rhetorische Residuen aus einer Zeit von Grabenkämpfen mit der Kritischen Theorie zweiter Generation,3 die

*

Für konstruktive Kritik und wertvolle Hinweise bin ich Andreas Fischer-Lescano,

1

Derrida, Jacques: Marx’ Gespenster: Der Staat der Schuld, die Trauerarbeit und die

Vaios Karavas und Martina Kunert herzlich verpflichtet. neue Internationale, Frankfurt a.M. 2004, S. 26. 2

Statt anderer Luhmann, Niklas: „Was ist der Fall und was steckt dahinter?“, in: Zeitschrift für Soziologie 22 (1993), S. 245 ff. (hier S. 256); ferner Andreas FischerLescano, „Systemtheorie als kritische Gesellschaftstheorie“, in diesem Band, S. 13 ff.; dazu unten S. 366.

3

Vgl. Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie: was leistet die Systemforschung?, Frankfurt a.M. 1971; zu den im Text erwähnten Grabenkämpfen statt anderer Füllsack, Manfred: „Die Habermas-LuhmannDebatte“, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hg.), Soziologische Kontroversen: Bei-

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heute – jedenfalls für Systemsoziologen – Geschichte sind. Diese Geschichte macht sich indessen in gewissen Sätzen (Konstruktionen, Hypothesen, Regeln usw.) der Systemtheorie noch bemerkbar. Sie muss überwunden werden, soll die Systemtheorie ihr Versprechen einlösen, Gesellschaftstheorie zu sein. Mein Ausgangspunkt ist folgender: Die Systemtheorie begreift sich selbst als Teil der gesellschaftlichen Kommunikation.4 In diesem Zusammenhang ist die Rede davon, dass sie ihre gesellschaftliche Bedingtheit mit reflektiert.5 Damit ist im Einzelnen gemeint: Gesellschaft als Unmenge von wirtschaftlichen, politischen, rechtlichen, medizinischen, sportlichen und vielen anderen Kommunikationen, wird auch von wissenschaftlichen Kommunikationen gebildet. Wissenschaft ist Teil der Kommunikationen der Gesellschaft. Dieser Umstand ist bedeutsam: Eine Gesellschaft ohne wissenschaftliche Kommunikationen ist eine andere als eine solche mit wissenschaftlichen Kommunikationen.6 Diese Tatsache (die vordergründig trivial zu sein scheint, es aber keineswegs ist) muss die Systemtheorie als Beobachtungstheorie, d.h. als Theorie der beobachteten Welt, von der sie Bestandteil ist, registrieren und weiterverarbeiten.7 Denn für die Gesellschaft, die von der Systemtheorie beobachtet wird, macht es einen Unterschied, ob es in den Kommunikationen, welche die Gesellschaft bilden, diese Theorie und ihre stets aufs Neue vorgenommenen Beobachtungen gibt oder nicht. Niklas Luhmann hat dies folgendermaßen in Worte gefasst: „[J]ede Weltbeobachtung findet in der Welt statt, jede Gesellschaftsbeobachtung, wenn sie als Kommunikation vollzogen wird, in der Gesellschaft“.8

träge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt a.M. 2010, S. 154 ff. 4

Luhmann, Niklas: Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 1118.

5

Vgl. z.B. Metzner, Andreas: Probleme sozio-ökologischer Systemtheorie: Natur und Gesellschaft in der Soziologie Luhmanns, Opladen 1993, S. 28 ff.

6

N. Luhmann (Fn. 4), S. 1118: „Wenngleich ihr Wissen gesellschaftliches Wissen ist und bleibt, weiss die Soziologie mehr, als eine Gesellschaft ohne Soziologie wissen würde“.

7

Fuchs, Peter: Der Sinn der Beobachtung: Begriffliche Untersuchungen, Weilerswist 2004, S. 11: „[J]ede Theorie der Beobachtung […] [muss] eine Theorie der beobachteten Welt sein … und [ist] selbst eine Form der Beobachtung. Sie ist nicht ohne die Paradoxien der Selbstreferenz zu haben.“

8

N. Luhmann (Fn. 4), S. 1118.

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Daraus ergibt sich eine verhängnisvolle Konsequenz: Beobachtet die Systemtheorie gesellschaftliche Ereignisse und kommuniziert sie darüber, berücksichtigt sie dabei zugleich die Effekte ihrer Operationen (Beobachtungen/Kommunikationen) auf die Gesellschaft und in der Gesellschaft. Diese Effekte sind nichts anderes als die Folgen der architektonischen Anlage der Systemtheorie als Beobachtungs- und Kommunikationstheorie. Genau hier liegt nun das Problem, welchem ich mich im Folgenden annehmen werde: Zeitigt die Systemtheorie die geschilderten Effekte, so meint das: Sie „bewirkt etwas“ in der Gesellschaft. Die Systemtheorie leistet mithin mehr als ein reines Registrieren von Fakten. Aber was genau leistet sie mehr? Inwiefern geht sie über den herkömmlichen wissenschaftlichen Positivismus9 hinaus? Die Kurzantwort lautet: Die Systemtheorie leistet insofern mehr, als systemische Beobachtung und Kommunikation anstelle einer bisher im System eingenommenen Sichtweise eine andere Sichtweise setzen (oder setzen können, was auf dasselbe hinausläuft10). Gerade hier liegt des Pudels Kern: Durch ihre Erkenntnisse verändert die Systemtheorie die Gesellschaft, die durch ihre Veränderung die Erkenntnisse der Systemtheorie verändert. Diese Schlaufe ist ein perpetuum mobile, ein sich selbst verstärkender Prozess. Diese Zusammenhänge hat Luhmann natürlich gesehen, sich aber mit einer seltsamen Volte aus der Affäre gezogen: „Wie soll die Gesellschaft als umfassende Einheit von innen beschrieben werden, wenn doch die Beschreibung im Beschriebenen abläuft, [die Beschreibung] also das, was sie beschreibt, ändert? … Die Theorielage für solche Fragen ist derzeit unklar und offen. … Man kann nicht einmal sagen, dass das Problem in der Soziologie mit der nötigen Präzi sion gesehen wird“.11

Trotz dieser Erkenntnis ist Luhmann dem Problem der „Beschreibung im Beschriebenen“ als Quelle von Gesellschaftsveränderungen nie wirklich nachge-

9

Vgl. dazu Ritsert, Jürgen: „Der Positivismusstreit“, in: Georg Kneer/Stephan Moebius (Hg.), Soziologische Kontroversen: Beiträge zu einer anderen Geschichte der Wissenschaft vom Sozialen, Frankfurt a.M. 2010, S. 103 ff.

10 Ob gesellschaftliche Strukturen manifest oder latent sind, macht im Kontext keinen Unterschied; vgl. Amstutz, Marc: „Rechtsgenesis: Ursprungsparadox und supplément“, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie 29 (2008), S. 143 f. 11 Vgl. N. Luhmann (Fn. 2), S. 256; ferner auch Luhmann, Niklas: Soziale Systeme: Grundriss einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 651, wo die Frage en passant erwähnt wird.

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gangen. Vielmehr hat er die These, die Systemtheorie mache mehr, als bloß gesellschaftliche Verhältnisse zu beschreiben, stets hartnäckig bekämpft. Eine der wohl eindeutigsten Aussagen in diesem Sinne hat Luhmann im Einleitungskapitel seines „Rechtsbuches“ gemacht: „Die Aussagen bleiben voll und ganz auf der Ebene dessen, was die Soziologie als Fakten feststellen kann“.12

Mythologien des 19. Jahrhunderts?13 Narrative einer anderen Zeit? Irrungen, die die Aberration von „Hume’s law“14 perpetuieren?15 Dieses Beharren auf „positum“ (ponere), also auf „Deskription“, auf „Beschreibung“ ist Ausdruck der Altlasten der Systemtheorie, die es abzubauen gilt. Denn: Verhält es sich wirklich so, dass diese Theorie ihren Gegenstand, die Gesellschaft, „verändern“16 bzw. gesellschaftliche Effekte haben kann, muss ihr über deskriptive Fähigkeiten hinaus ein gewisses gesellschaftstransformatives, sozialkritisches Potenzial zukommen.17 Wenn nun der Anspruch der Systemtheorie, den Umstand zu reflektieren, dass sie in der Gesellschaft situiert ist und daran Teil hat, tatsächlich erfüllt werden soll, muss dieses Potenzial genau ausgelotet werden. Und es muss gefragt werden: Ist dieses Veränderungspotenzial als Kritik zu verstehen? Diese letzte Frage hat Luhmann radikal verneint.18 Mit einem kaltblütigen Argument: Systemtheorie könne nicht Kritik sein, „denn gerade dafür fehle es […] in einer funktional differenzierten Gesellschaft an der Autorität einer ‚Me-

12 Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1993, S. 31. 13 Vgl. die Übersicht über die Frage der Mythologien bei Echelbarger, Charles: „Sellars on Thinking and the Myth of the Given“, in: Philosophical Studies 25 (1974), S. 231 ff. 14 Vgl. für die Problemstellung (nicht für deren Lösung) Russell, Gillian: „In Defence of Hume’s Law“, in: Charles Pigden (Hg.): Hume on Is and Ought, New York 2010, S. 1 ff. 15 Vgl. statt anderer Gommer, Hendrik: „From the ‚Is’ to the ‚Ought‘: A Biological Theory of Law“, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 96 (2010), S. 453 m. Nw. 16 So ausdrücklich N. Luhmann (Fn. 2), S. 256. 17 Vgl. in diesem Zusammenhang Marius, Benjamin/Jahraus, Oliver: Systemtheorie und Dekonstruktion: Die Supertheorien Niklas Luhmanns und Jacques Derridas im Vergleich, Siegen 1997, S. 6: „Da die Systemtheorie selbst Kommunikation ist bzw. vollzieht, kommt sie in ihrem eigenen Gegenstandsbereich vor. Als Kommunikation über Gesellschaft vollzieht sie gleichzeitig das, was sie untersucht, nämlich Gesellschaft“. 18 Vgl. dazu auch Habermas, Jürgen: Faktizität und Geltung: Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, Franfurt a.M. 1992, S. 16.

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taposition‘“.19 Dem Argument der fehlenden Metaposition ist zwar zuzustimmen. Ob dieses Argument das Problem aus der Welt schafft, ist demgegenüber fraglich. Luhmann selbst scheint Zweifel zu hegen: Vielleicht brauche es für soziologische Kritik gar keine „Metaposition“ in der „Gesellschaft als umfassende Einheit“.20 Vorstellbar sei nämlich die Möglichkeit „einer internen externen Beobachtung“ der jeweiligen Funktionssysteme.21 Womöglich gäbe es dann eine funktional ausdifferenzierte „Form der Beobachtung [...] [als] Kritik“.22 Und das hieße: eine Kritik im Wirtschaftssystem, eine Kritik in politischen Kreisen, eine Kritik innerhalb von rechtlichen Strukturen und Prozessen, eine Kritik im Kunstsystem, eine Kritik in den medizinischen Diskursen usw. Kritik (ihre Maßstäbe) käme dann nicht „von Außen“, d.h. als Kritik durch die Gesellschaft in ihrer Totalität. Sie käme „vom Innern“ der Funktionssysteme und wäre gerade nicht eine „von Außen“ ins jeweilige Sozialsystem importierte Kritik, d.h. nicht Kritik der Ökonomie, nicht Kritik der Politik, nicht Kritik des Rechts, nicht Kritik der Kunst usw.23 Vielmehr wäre sie Kritik, die in den autopoietischen Schlaufen eines sozialen Systems generiert würde. Im Folgenden kann es nicht darum gehen, eine allgemeine Kritische Systemtheorie zu entwickeln. Vielmehr soll an einem konkreten Beispiel der Frage nach der kritischen Reichweite der Systemtheorie nachgegangen werden. Und zwar vor allem mit dem Zweck, das angesprochene Konzept der „systeminternen“ Kritik zu beleuchten. Das ausgewählte Beispiel ist die Systemtheorie des Rechts. Folgende Thesen stehen zur Diskussion: These 1: Die Systemtheorie des Rechts zeigt, wie sie durch ihre Selbstbeschreibung ihren eigenen Gegenstand (Erkenntnisse über Recht) verändert und damit auch den Gegenstand des Systems, in welchem diese Veränderung stattfindet (das Recht). Sie leistet mithin mehr als bloße Beschreibung des Rechts. Sie hat gesellschaftliche Folgen. Damit stellt sich die Frage, was diese gesellschaftlichen Folgen konkret sind: These 2: Das Erzeugen von gesellschaftlichen Folgen ist als „Kritik“ zu qualifizieren. Und zwar in dem Sinne, dass dieser Kritikbegriff als Aufklärung über

19 N. Luhmann (Fn. 2), S. 256. 20 Ebd. 21 In diesem Punkt liegt wohl der große Unterschied des Projektes einer Kritischen Systemtheorie zu Adornos Kritik der „Totalität“ der Gesellschaft; vgl. Adorno, Theodor W.: „Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft“, in: ders., Gesammelte Schriften 8: Soziologische Schriften 1, Frankfurt a.M. 1997, S. 370. 22 N. Luhmann (Fn. 2), S. 256. 23 Vgl. auch A. Fischer-Lescano (Fn. 2), S. 23.

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systeminterne Latenzen verstanden wird (d.h. über Strukturen und Prozesse des Systems, die diesem aus welchem Grund auch immer nicht zugänglich sind). Diese Aufklärung bedeutet im Kontext des Rechts: Eine bestimmte, gegenwärtig manifeste (dogmatische, jurisprudentielle usw.) Sichtweise im Rechtssystem wird durch eine andere, bislang latente ersetzt. Eine Systemtheorie des Rechts, die diese Leistung eines Ersetzens von systeminternen Sichtweisen erbringt, ist nicht bloss eine beobachtende, sondern auch eine kritische. Damit stellt sich die Frage wie diese im Folgenden so genannte „Kritische Systemtheorie des Rechts“ in praxi vorgeht: These 3: Die Kritische Systemtheorie des Rechts analysiert die realen Widersprüche in der Gesellschaft, dies nicht nur, um den Erkenntnisstand in der Wissenschaft voranzutreiben, sondern in erster Linie, um kritische Selbstreflexionsoperationen im Rechtssystem auszulösen. Sie entfaltet sich in der Form eines Prozesses, der eine nichtnormative, aber normativ bedeutsame Kritik generiert. Diese drei Thesen werde ich in der Weise begründen, dass ich vorab ein methodisches Instrumentarium definiere, mit dessen Hilfe ich die Frage einer Kritischen Systemtheorie des Rechts behandeln werde (1). Alsdann soll anhand dieses Instrumentariums der gesellschaftskritische Agnostizismus der Luhmannschen Systemtheorie des Rechts untersucht werden (2). Schließlich wird ermittelt, wie das Kritikvermögen der Kritischen Systemtheorie des Rechts entfaltet werden kann (3).

1. Z WEI T EXTE a.

Mehrere Textlektüren

Das soeben erwähnte methodische Instrumentarium finde ich bei Louis Althusser, der in Lire le Capital24 eine besondere Art des aufklärenden Umgangs mit sozialwissenschaftlichen Theorien vorgeschlagen hat. In diesem Werk hat Althusser beobachtet, dass sich Karl Marx im Kapital einer „zweite[n], grundsätzlich andere[n] Art der Lektüre“25 („une seconde et tout autre lecture“26) der klassischen Politischen Ökonomie bedient hat. Was Althusser in diesem Zu-

24 Althusser, Louis: „Du ‚Capital‘ à la philosophie de Marx“, in: Louis Althusser et al. (Hg.), Lire Le Capital, 2. Aufl., Paris 2008. 25 Ders.: Einführung: „Vom ‚Kapital‘ zur Philosophie von Marx“, in: ders./Etienne Balibar (Hg.), Das Kapital lesen I, Reinbek, 1972, S. 20. 26 L. Althusser (Fn. 24), S. 11.

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sammenhang beobachtet, ist bemerkenswert. Bemerkenswert insofern, als er uns Werkzeuge in die Hand gibt, um die weißen Flecke der klassischen Politischen Ökonomie zu „fassen“. Und auch, wie wir sehen werden, um einen Standpunkt (einen „Beobachtungsposten“27) zu gewinnen, von welchem aus Vorstellungen über die Konturen einer noch ausstehenden Kritischen Systemtheorie des Rechts entwickelt werden können. Was ist Althusser an der Art und Weise, wie Marx die Texte von Adam Smith und seiner Schüler gelesen hat, aufgefallen? Lassen wir Althusser vorab selber sprechen: „Das, was die klassische politische Ökonomie nicht sieht, ist gar nicht das, was sie nicht sieht; es ist das, was sie sieht. Ihr Versehen liegt nicht in dem, was ihr entgeht, sondern gerade in dem, was ihr nicht entgeht; nicht in dem, was sie verfehlt, sondern gerade in dem, was sie nicht verfehlt. Das Versehen ist das Nichtsehen dessen, was man sieht. Das Versehen hat es nicht mit dem Gegenstand, sondern mit dem Sehen selbst zu tun. Es ist ein Versehen, welches das Sehen betrifft. Das Nichtsehen ist demnach dem Sehen immanent, es ist eine Form des Sehens, also notwendig an das Sehen gebunden“.28

Althusser veranschaulicht diese gedrängte Zusammenfassung der Lektüre Marxens am Beispiel des XIX. Kapitels des Kapitals. Darin analysiert Marx die Erkenntnis der Klassiker, dass der Wert der Arbeit dem Wert der Subsistenzmittel für den Unterhalt und die Reproduktion der Arbeitskraft entspricht.29 Diese Erkenntnis der Manchester Schule ist in den Augen Marxens unzutreffend. Aber das, worauf es für Althusser in erster Linie ankommt, ist die Art, wie Marx seine Analyse führt. Im Anschluss an Marx meint Althusser, dass sich in der Auffassung vom Wert der Arbeit, die die Manchester Schule vertritt, unbemerkt ein „Versehen“ („une bévue“30) eingeschlichen habe. Um zu verstehen, was Althus-

27 Luhmann, Niklas: „Evolution des Rechts“, in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts: Beiträge zur Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Frankfurt a.M. 1981, S. 121. 28 L. Althusser (Fn. 25), S. 22 f. Im Original: L. Althusser (Fn. 24), S. 13 f.: „[C]e que l’économie politique classique ne voit pas, ce n’est pas ce qu’elle ne voit pas, c’est ce qu’elle voit; ce n’est pas ce qui lui manque, c’est au contraire ce qui ne lui manque pas; ce n’est pas ce qu’elle rate, c’est au contraire ce qu’elle ne rate pas. La bévue, c’est alors de ne pas voir ce qu’on voit, la bévue porte non plus sur l’objet, mais sur la vue même. La bévue est une bévue qui concerne le voir: le ne pas voir est alors intérieur au voir, il est une forme du voir, donc dans un rapport nécessaire avec le voir“. 29 Vgl. L. Althusser (Fn. 25), S. 21 f. 30 Ders. (Fn. 24), S. 13.

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ser hiermit genau meint, sollte man zunächst die einschlägigen Ausführungen Marxens zur Kenntnis nehmen. Marx schreibt: „‚Die Ware‘, sagt Smith, ‚wird genau zu dem Preis verkauft, den sie wert ist.‘ In dieser Art glaubte die politische Ökonomie durch die zufälligen Preise der Arbeit zu ihrem Wert vorzudringen. Wie bei den andern Waren wurde dieser Wert dann weiter durch die Produktionskosten bestimmt. Aber was sind die Produktionskosten des Arbeiters, d.h. die Kosten, um den Arbeiter selbst zu produzieren oder zu reproduzieren? Diese Frage schob sich der politischen Ökonomie bewusstlos für die ursprüngliche unter, da sie mit den Produktionskosten der Arbeit als solcher sich im Kreise drehte und nicht vom Fleck kam. Was sie also Wert der Arbeit (value of labour) nennt, ist in der Tat der Wert der Arbeitskraft, die in der Persönlichkeit des Arbeiters existiert und von ihrer Funktion, der Arbeit, ebenso verschieden ist wie eine Maschine von ihren Operationen“.31

Für Althusser liegt im Umstand, dass Marx diese Anomalie in Smithens Denken aufgespürt hat, mehr als eine beachtliche Aufmerksamkeit Marxens. Althusser erblickt darin eine Methode, um mit etwas umzugehen, das man gerade nicht als das „der Sicht Verborgene“, sondern als das in-der-Sicht-Verborgene („le ne pas voir [comme] […] forme du voir“32) kennzeichnen sollte. Warum aber macht dieser Unterschied einen Unterschied? b.

Nichtsehen als Anomalie

Nach Althusser hängt dieses Phänomen unmittelbar zusammen mit dem, was er „Horizont“ oder „Problemfeld“ („champ de la problématique“) einer wissenschaftlichen Disziplin nennt.33 Wenn innerhalb eines „Horizonts“ einer solchen Disziplin eine Anomalie der Art, wie sie Marx im Hinblick auf Smith geschildert hat, auftritt, wird vor allem erkennbar, wie diese Disziplin durch ihre strukturellen Bedingungen ihr Sehen, d.h. das, was sie sieht, aber auch das, was sie nicht sieht, „organisiert“. Entscheidend ist dabei, dass sowohl das Sichtbare als auch (und zumal!) das Unsichtbare ein „Produkt“ der Disziplin ist:

31 Marx, Karl: Das Kapital: Kritik der politischen Ökonomie, Buch I: Der Produktionsprozess des Kapitals, Berlin/DDR 1962, S. 560 f.; vgl. zu diesem Zitat die redaktionelle Anm. * in L. Althusser (Fn. 25), S. 21. 32 L. Althusser (Fn. 24), S. 14. 33 Ebd., S. 19.

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„Sichtbar ist jedes Objekt oder Problem, das auf dem Terrain oder im Horizont, d.h. auf dem – von der theoretischen Problematik einer gegebenen theoretischen Disziplin bestimmten – strukturierten Feld situiert ist. Diese Ausdrücke müssen wir wortwörtlich verstehen. Das Sehen eines Objekts ist dann nicht mehr die Leistung eines individuellen Subjekts, das mit der Fähigkeit des ‚Sehens‘ ausgestattet wäre und von dieser Fähigkeit in Augenblicken der Aufmerksamkeit wie in solchen der Zerstreutheit Gebrauch macht; das Sehen ist der Ausdruck seiner strukturalen Bedingungen, die dem Feld einer Problematik immanente Reflexion seiner Objekte und Probleme. Damit verliert die Vision ihr religiöses Privileg einer geweihten Lektüre: sie ist nicht mehr als die Reflexion der immanenten Notwendigkeit, welche ein Objekt oder Problem mit seinen Daseinsbedingungen verbindet, die wiederum mit den Bedingungen seiner Produktion zusammenhängen“.34

Man könnte auch sagen: Eine wissenschaftliche Disziplin kennt keine Grenzen (schließt nichts gegen Außen aus), sondern trägt seine Exklusionen in sich. Objekte oder Probleme, die im Theoriefeld einer Disziplin nicht sichtbar sind, stellen gewissermaßen Interdikte dar, werden zwangsläufig zu unscheinbaren, unbemerkbaren, ja heimlichen Präsenzen, weil die ganze Funktion des Disziplinenhorizontes darin besteht, sie der Sicht zu entziehen. Und so ist gemäß Marx – um auf das geschilderte Beispiel des Wertes der Arbeit nochmals zurückzukommen – die Politische Ökonomie auch mit der Arbeit verfahren: Sie hat die Arbeit auf einen Nenner gebracht (nämlich auf die Arbeitskraft bzw. den Arbeiter selbst), der ihr radikal fremd ist (die Arbeit ist nicht der Arbeiter ĺ das Ergebnis ist nicht die Funktion). Die klassische Politische Ökonomie hat die Arbeit sehenden Auges nicht gesehen. Was für Althusser solchen strukturellen, in das Theoriefeld einer Disziplin „eingebauten“ Hohlräumen ihre Bedeutung gibt, ist keineswegs der Eindruck, den sie vermitteln könnten, sie würden Erkenntnislücken der betreffenden Disziplin darstellen. Was diese Hohlräume in Wahrheit auszeichnet, ist das ihnen

34 L. Althusser (Fn. 25), S. 28. Im Original: L. Althusser (Fn. 24), S. 19: „Est visible tout objet et problème qui est situé sur le terrain, et dans l’horizon, c’est-à-dire dans le champ structuré défini de la problématique théorique d’une discipline théorique donnée. Il nous faut prendre ces mots au pied de la lettre. La vue n’est plus alors le fait d’un sujet individuel, doté d’une faculté du ‚voir’ qu’il exercerait soit dans l’attention, soit dans la distraction; la vue est le fait de ses conditions structurales, la vue est le rapport de réflexion immanent du champ de la problématique sur ses objets et ses problèmes. La vision perd alors ses privilèges religieux de la lecture sacrée: elle n’est plus que la réflexion de la nécessité immanente qui relie l’objet ou le problème à ses conditions d’existence, qui tiennent aux conditions de sa production.“

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inhärente Potenzial, eine wissenschaftliche Disziplin umzustürzen, d.h. zu „entmachten“, ihres „Amtes“ zu entheben. Die Diagnose eines im Horizont einer solchen Disziplin eingerichteten „Nichtsehens“ bringt diese Disziplin also in einen bedrohlichen Schwebezustand: „Was sich also mit diesem noch unsicheren lokalen Ereignis [sc. die Entdeckung eines strukturellen Nichtsehens in einer Disziplin] zögernd ankündigt, ist die mögliche Umwälzung der alten Theorie und damit der alten Problematik in ihrer Gesamtheit“.35

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Dekonstruktive Zweitlektüre

Gerade die Entdeckung eines solchen disziplinimmanenten Nichtsehens ist, weil in den Arkanen dieser Disziplin verschüttet, außerordentlich voraussetzungsreich: Es bedarf dafür eines alternativen Textes, an welchem der kanonisierte Text der fraglichen Disziplin gemessen werden kann. Eben in diesem Sinne beschreibt Althusser die Methode der „Zweitlektüre“, die Marx von den Manchesterschen Klassikern macht: „Die zweite Art der Lektüre, die Marx betreibt, ist eine Lektüre, die wir nicht ohne Bedenken ‚symptomatisch‘ nennen wollen; ‚symptomatisch‘ in dem Masse, wie sie in einem einzigen Prozess das Verborgene in dem gelesenen Text enthüllt und es auf einen anderen Text bezieht, der – in notwendiger Abwesenheit – in dem ersten Text präsent ist. […] [D]er Unterschied zwischen der alten und der neuen Lektüre besteht aber darin, dass sich bei der neuen Lektüre der zweite Text aus den Lücken des ersten herausbildet“.36

Der Witz von Marxens „Zweitlektüre“ besteht also nicht bloß darin, dass der erste Text auf der Folie eines zweiten Textes gelesen wird. Solches wäre letztlich nichts anderes als ein Konkurrenzangebot, das die Frage aufwerfe: Wer ist denn Richter über die Rivalität der beiden Texte? Was Marxens „Zweitlektüre“ prägt

35 L. Althusser (Fn. 25), S. 28. Im Original: L. Althusser (Fn. 24), S. 19: „Ce qui est donc en balance dans cet événement instable d’apparence locale, c’est une possible révolution de l’ancienne théorie, donc de l’ancienne problématique dans sa totalité.“ 36 L. Althusser (Fn. 25), S. 32. Im Original: L. Althusser (Fn. 24), S. 22 f.: „Telle est la seconde lecture de Marx: une lecture que nous oserons dire ‚symptomale‘, dans la mesure où, d’un même mouvement, elle décèle l’indécelé dans le texte même qu’elle lit, et le rapporte à un autre texte, présent d’une absence nécessaire dans le premier … Mais ce qui distingue cette nouvelle lecture de l’ancienne est que, dans la nouvelle, le second texte s’articule sur les lapsus du premier.“

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und was ihr eine revolutionär-konstruktive Potenz verleiht, geht wesentlich tiefer: Sie entfaltet sich auf der Basis eines zweiten Textes, der das „in der Sicht des ‚ersten‘ Textes Verborgene“ artikuliert, ja gleichsam „zum Sprechen“ bringt. Oder sinnbildlich: Der zweite Text macht die Altlasten des ersten Textes artikulierbar und erlaubt so ihren Abbau. Wozu dieses Wandeln in den Windungen des ebenso begnadeten wie introvertierten Perspektivenlabyrinths Althussers? Ich möchte in den folgenden Zeilen versuchen, den Text der Luhmannschen Systemtheorie des Rechts, der etwas anderes als diese Theorie selbst ist, zu enthüllen. Das positivistische Postulat der allgemeinen Systemtheorie37 soll auf diesem Weg – am Beispiel des Rechts – einer Überprüfung zugeführt werden. Und dies will ich vor dem Hintergrund von Althussers Überlegungen in Lire le Capital tun, weil der rechtssystemtheoretische Text (der erste Text der Systemtheorie des Rechts) dazu selbst Anlass gibt: Er enthält Schlaufen, Verschiebungen, Aufschübe, die in ihm, wie Althusser sagt, die „notwendige Absenz eines anderen Textes“ präsent machen. Man könnte auch sagen: Durch die erwähnten Windungen des rechtssystemtheoretischen Ersttextes wird diese Absenz im ersten Text eingeschrieben, inskribiert, gleichsam „ein-tätowiert“. In diesem anderen, absenten, eben: zweiten, Text der Systemtheorie des Rechts verbirgt sich ein bislang nicht ausgeschöpftes kritisches Potenzial dieser Theorie. Aber was sieht die Systemtheorie des Rechts „sehenden Auges“ nicht?

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Faktizität und Normativität

Das Nichtsehen der Luhmannschen Systemtheorie des Rechts zu ermitteln, ist deshalb schwierig, weil diese Theorie ihren unkritischen Status mit einer sehr subtilen Vervielfachung theorieinterner Differenzierungen dingfest macht. Und zwar mit der Unterscheidung von zwei Begriffspaaren. Die Rede ist von der doppelten Unterscheidung zwischen Text/Interpretation einerseits und Normen/ Fakten andererseits. Es lässt sich ohne weiteres sagen: Der erste Text der Systemtheorie des Rechts ist auf dieser Begriffspaardifferenz aufgebaut. Überspitzt: Er ist diese Differenz. Was leistet diese Doppeldifferenz genau? Das Problem, mit welchem sich die Luhmannsche Systemtheorie des Rechts konfrontiert sieht, ist das Plausibelmachen der Behauptung, positivierte Rechts-

37 Vgl. oben, S. 365.

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normen seien – trotz der jederzeit bestehenden Möglicheit ihrer Veränderung – etwas kontrafaktisch Stabilisierendes,38 wo doch die Rechtsgeschichte hinreichend gezeigt hat, dass das positivierte Recht sich über die Zeit wandelt, und dies zumal in jenen Phasen, in denen das positive Recht legislativ nicht geändert wird.39 Wie verändert sich Kontrafaktizität, wenn nicht kognitiv über das „Faktische“? Oder anders formuliert: Wie kann ohne weiteres beteuert werden, dass das „Sollen“ ausschließlich aus (Rechts-)Normen fließt, wo doch Erfahrungen aus dem Rechtsleben nahelegen, dass das „Sein“ die Bedeutung von (Rechts-) Normen beeinflusst (und mit „Bedeutung“ meine ich: die Sollensanordnungen des Rechts)? Mit dem bloßen Rekurs auf den Rechtspositivismus bzw. auf die Gesetzgebung ist die Frage nicht zu beantworten. Denn Gesetzgebung ist Politik, also Operation eines anderen Systems als dasjenige des Rechts, und namentlich Operation eines Systems, das über die verschiedenen Formen des „Sollens“ im Rechtssystem nicht disponieren kann.40 Die Paradoxie der „dynamischen Beständigkeit“ des Rechts musste Luhmann theoretisch anders entfalten. Bei dieser Entfaltung stellte sich für die unkritische Systemtheorie des Rechts hauptsächlich die Frage: Wie kann das „Sollen“ des Rechts erklärt werden, ohne dass das „Sein“ bei seiner Entwicklung eine Rolle spielt? Wie kann Faktizität von Normativität „isoliert“ werden? Wer glaubt, diese Frage habe mit Kritik – mit dem „kritischen“ oder „unkritischen“ Status der Luhmannsche Systemtheorie des Rechts – nichts zu tun, täuscht sich. Würde es sich nämlich (entgegen Luhmann) so verhalten – und genau diese Hypothese werde ich unter 3. begründen –, dass Fakten in einem Wirkungszusammenhang mit Normen stehen, dann geriete eine grundlegende Annahme der unkritischen Systemtheorie des Rechts ins Wanken: die Annahme, dass eine Beschreibung von Fakten keinerlei kritische Bedeutung haben kann.41 Dann verlöre die schon fast zum Dogma erstarrte Auffassung der rechtssystemtheoretischen

38 Vgl. zu diesem Punkt eingehender unten, S. 376. 39 Man denke nur an das BGB, das ohne wesentliche Änderungen im deutschen Kaisertum, im Weimarer Parlamentarismus, im III. Reich und in der Bonner Republik gegolten hat; vgl. dazu die Beiträge in: Wolfgang Sellert/Uwe Diederichsen (Hg.), Das BGB im Wandel der Epochen: 10. Symposium der Kommission „Die Funktion des Gesetzes in Geschichte und Gegenwart“, Göttingen 2002. 40 Vgl. dazu ausführlich Amstutz, Marc: „Das Gesetz“, in: Peter Gauch/Pascal Pichonnaz (Hg.), Mélanges dissociés/K(l)eine Festschrift pour Pierre Tercier à l’occasion de son soixantième anniversaire/Zu seinem sechzigsten Geburtstag: Figures juridiques/ Rechtsfiguren, Zürich 2003, S. 155 ff. 41 Vgl. dazu oben, S. 366.

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Tradition Luhmannscher Prägung, dass es so etwas wie eine Kritische Systemtheorie des Rechts nicht gibt,42 plötzlich ihr Fundament. b.

Doppeldifferenzierung als Theoriestrategie

Damit die Luhmannsche Systemtheorie diese Konsequenz vermeiden kann, bedient sie sich eines theoretischen Schachzugs: Der erste Text der Systemtheorie des Rechts ist entlang der erwähnten Doppeldifferenzierung von Text/Interpretation und Normen/Fakten artikuliert worden. Dieses Theorie-Design erlaubt, die Behauptung aufrecht zu erhalten, dass die Normativität des Rechts von der Faktizität gesellschaftlicher Prozesse unabhängig ist (= Gegenstand der Differenz Normen/Fakten), ohne dass diese Unabhängigkeit auf eine Petrifizierung des Rechts hinausläuft, also auf die schon rein empirisch nicht haltbare Behauptung, das Recht verändere sich im Laufe der Zeit nicht (= Gegenstand der Differenz Text/Interpretation). Anders gewendet: Die Erklärungslast für die Evolutionsfähigkeit von Rechtsnormen übernimmt die Differenz Text/Interpretation; während die These der „Beständigkeit“ des Rechts (der Kontrafaktizität der Rechtsnormen43) von der Differenz Normen/Fakten getragen wird. Luhmann geht in diesem Zusammenhang davon aus, dass das Recht mit seiner Verschriftlichung einem „Prozess der wiederholten Lektüre, der Kondensierung und Erweiterung seines Sinnes überantwortet [wird]“.44 Dadurch bleibt das Recht aus der Sicht Luhmanns offen für Evolution.45 Gegen diese Auffassung ist auf den ersten Blick wenig einzuwenden. Indes: Der Schein trügt. In der unkritischen Systemtheorie des Rechts verbirgt sich hinter der Unterscheidung Text/Interpretation in der Terminologie der Althusserschen Methode eine Anomalie.46 In dieser Differenz ist das in-der-Sichtverborgene Nichtsehen der erwähnten Theorie47 angesiedelt. Um zu erläutern,

42 Vgl. oben, S. 366 f. 43 Vgl. dazu Luhmann, Niklas: Rechtssoziologie, 4. Auflage, Wiesbaden 2008, S. 42 ff. 44 N. Luhmann (Fn. 12), S. 253. 45 Vgl. ebd., S. 255: „[Durch die Verschriftlichung des Rechts] erscheinen neue Unterscheidungen, in denen der Text jeweils die eine Seite besetzt und eine andere zugänglich macht: die Unterscheidung von Text und Interpretation, die Unterscheidung von Text und Kontext, die Unterscheidung von wörtlichem und gemeintem Sinn. Und es sind diese, sich stark überschneidenden Unterscheidungen, die das schriftlich fixierte Recht – auch und gerade bei intakt tradiertem Schriftkorpus – der Evolution aussetzen“. 46 Vgl. oben, S. 370 ff. 47 Vgl. oben, S. 371.

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was die Luhmannsche Systemtheorie des Rechts nicht sieht, möchte ich nochmals die schon gezogene Parallele zu Marxens Zweitlektüre der neoklassischen Ökonomie48 erwähnen. Wie letztere die Arbeit mit dem Arbeiter selbst gleichgesetzt und damit gemäß Marxens Analyse den Wert der Arbeit verpasst hat,49 verfehlt die Luhmannsche Systemtheorie des Rechts die (Re-)Produktion von Normativität im Recht. Diese Theorie organisiert ihren Erkenntnisgegenstand nämlich in einer Weise, die unsichtbar werden lässt, dass die normative Arbeit der Interpretation faktenabhängig ist, also eine kommunikative Verschleifung zwischen Text und faktischem Kontext des Textes herstellt. Diese kommunikative Verschleifung der „Rechtsarbeit“50 wird bei Luhmann deshalb sehend nicht gesehen, weil „Interpretation“ als ausschließlicher „Kontext des Textes“ konstruiert wird und nicht als Verschleifung, die zwischen Text und Kontext (verstanden als Bündel von Fakten aus der Lebenswelt) operiert, oder, besser gesagt, zwischen Rechtstext und Rechtstatsache vermittelt (man könnte auch sagen: als Verschleifung der „normativen Kraft des Faktischen“51 mit der „faktischen Kraft des Normativen“52). Luhmann hält dessen ungeachtet fest: „Alles schriftlich fixierte Recht ist […] zu interpretierendes Recht. Sobald man das erkennt, wird den Texten zugemutet, ihre Interpretation zu autorisieren, etwa festzulegen, wer zur Interpretation berufen ist, und wie die Interpretation zu erfolgen hat. Über die Selektion dieses ‚wer‘ und dieses ‚wie‘ passt sich das Recht, auch bei fixierten Texten, evolutionären Veränderungen der Gesellschaft an, und dies selbst dann, wenn Gesetzgebung verfügbar ist, um Texte auch in ihrer Schriftform zu ändern. Jeder aktuell geltende Text setzt sich der Interpretation aus, ja ist Text nur im Kontext von Interpretation“.53

In diesem Passus wird leicht erkennbar, dass für die unkritische Systemtheorie des Rechts Interpretation ausschließlicher Kontext des Textes ist. D.h. der Kontext des Textes erstreckt sich danach nicht auf Faktisches, sondern erfasst bloß

48 Vgl. eingehender oben, S. 370. 49 Vgl. oben, S. 371. 50 Müller, Friedrich/Christensen, Ralph: Juristische Methodik, Band I: Grundlegung für die Arbeitsmethoden der Rechtspraxis, 10. Auflage, Berlin 2009, S. 33 N 11. 51 Jellinek, Georg: Allgemeine Staatslehre, 3. Auflage, Darmstadt 1959, S. 333. 52 Vgl. in diesem Zusammenhang Heller, Hermann: Staatslehre, 6. Auflage, Tübingen 1983, S. 285 („normalisierende Kraft des Normativen“), sowie Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne: Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a.M. 1985, S. 242 („faktische Kraft des Kontrafaktischen“). 53 N. Luhmann (Fn. 12), S. 256.

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interpretative Aussagen über das Recht, also nur Normatives.54 Entscheidend ist mithin allein das „wer“ und das „wie“ der Interpretation, also die Frage, welche Instanz im institutionellen Gefüge des Rechts Deutungsautorität hat und welche Schranken dieser Autorität vom Recht selber gesetzt sind.55 Wie sich das Recht über Interpretation an „Veränderungen der Gesellschaft“ anpasst, ist eine Frage, die sich selbst überlassen bleibt.56 Oder um es mit Althussers Worten auszudrücken: Ob und ggf. wie die Fakten des Lebens Eingang in das juristische Interpretationsgeschäft finden – d.h. wie Faktisches das Normative beeinflusst –, ist aus dem „strukturierten Feld“, das sich die Systemtheorie des Rechts zu untersuchen vornimmt, ausgeschlossen; diese Frage sieht die erwähnte Theorie sehenden Auges nicht.57 Und der Grund, der Luhmann zu diesem Theoriemanöver bewogen hat, ist leicht zu durchschauen: Nur so lässt sich die zweite theorieinterne Differenz – Normen/Fakten –, die den ersten Text der Systemtheorie trägt, plausibel aufrechterhalten. Denn würde zugelassen, dass über den Weg der Interpretation

54 Der praktische Umgang mit Recht ist nach herrschender Rechtslehre, die in systemtheoretischen Kategorien ausgedrückt die massgebliche Selbstbeobachtung des Rechtssystems darstellt, in zwei getrennte, aber (vermeintlich) aufeinander abgestimmte Schritte gegliedert: Interpretation und Subsumtion (juristischer Syllogismus). Die Interpretation arbeitet in einem von Fakten hermetisch abgedichteten normativen Raum. Die Subsumtion ist demgegenüber dafür zuständig, Faktisches in die Rechtsarbeit einzuschleusen; vgl. z.B. Meier-Hayoz, Arthur: „Lücken intra legem“, in: Peter Noll/Günter Stratenwerth (Hg.), Rechtsfindung: Beiträge zur juristischen Methodenlehre, Festschrift für Oscar Adolf Germann zum 80. Geburtstag, Bern 1969, S. 150 f. Allerdings gilt es hervorzuheben: Was hinter dem dergestalt gekennzeichneten Verhältnis von Interpretation und Subsumtion verborgen ist, weiß diese herrschende Lehre nicht. Und vor allem: Die herrschende Lehre ist unfähig zu erklären, was im Prozess der Subsumtion genau abläuft; vgl. Amstutz, Marc: „Ouroboros: Nachbemerkungen zum pragmatischen Methodenpluralismus“, in: Peter Gauch/Franz Werro/Pascal Pichonnaz (Hg.), Mélanges en l’honneur de Pierre Tercier, Genève u.a. 2008, S. 29 ff. 55 Was, das sei nur nebenbei bemerkt, natürlich ohnehin nicht möglich ist; Deutung lässt sich nicht beschränken oder kanalisieren; vgl. dazu Amstutz, Marc: „Der Text des Gesetzes: Genealogie und Evolution von Art. 1 ZGB“, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht 126 (2007) II, S. 237 ff. m. Nw. 56 Oder allenfalls: Der Figur der systemischen Irritation anvertraut wird; vgl. dazu z.B. Koschorke, Albrecht: „Die Grenzen des Systems und die Rhetorik der Systemtheorie“, in: ders./Corrnelia Vismann (Hg.), Widerstände der Systemtheorie: Kulturtheoretische Analysen zum Werk von Niklas Luhmann, Berlin 1999, S. 54 f. 57 Vgl. oben. S. 370 und 372.

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die Fakten die Bedeutung von Normen (mit-) bestimmen, ließe sich nicht mehr behaupten, „dass Normen sich nicht aus Fakten ‚ableiten‘ lassen“.58 c.

Rechts-Wissenschaft

Die vorangehenden Ausführungen beschreiben den ersten Text der Systemtheorie des Rechts. Das Arkanum der Lektüre dieses Textes, die, wie geschildert, dazu bestimmt ist, die Lehre von der kritik-agnostischen Systemtheorie aufrecht zu erhalten, ist indes mit der Architektur dieser Theorie schwer zu vereinbaren. Denn diese ist, wie gesagt, so angelegt, dass sie ihre gesellschaftliche Bedingtheit mit reflektiert und dadurch ihren Beobachtungsgegenstand verändert.59 Luhmann hat diesem Phänomen verschiedene Bezeichnungen gegeben. Die Systemtheorie sei eine Supertheorie.60 An anderer Stelle spricht er von der Universalität der Systemtheorie.61 Immer geht es um das Paradox, dass diese Theorie eine Beschreibung vornimmt, die im Beschriebenen selbst abläuft.62 Also darum, dass diese Theorie Teil des Geschehens ist, das sie beobachtet, und damit (als Teil des Geschehens) zwangsläufig dieses Geschehen (mit-)beeinflusst. Die Systemtheorie – als Supertheorie – steht diesem Geschehen also nicht bloß beschreibend, positivistisch, registrierend gegenüber. Ist man bereit, dem soeben Vorgetragenen zu folgen, ist damit freilich nur teilweise aufgedeckt, auf welchen Bausteinen die Kritische Systemtheorie des Rechts zu errichten ist. Es tritt an dieser Stelle eine Komplikation auf, deren Analyse, wie wir später sehen werden, für die Grundlegung der Kritischen Systemtheorie des Rechts höchst bedeutsam ist. Und zwar insofern, als die erwähnte Analyse nur dann aufzeigen kann, wie das „Kritische“ an dieser Theorie generiert und vollzogen wird, wenn die erwähnte Komplikation gelöst ist. Diese besteht darin, dass die Systemtheorie des Rechts (ob unkritisch oder kritisch) immer gleichzeitig Rechts- und Wissenschaftskommunikationen betrifft. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass diese Theorie ihre Umwelt nicht nur mittels des Codes recht/unrecht beobachtet, sondern auch anhand des Codes wahr/unwahr. Kurzum: mit einem Code, der mehr als zwei Werte besitzt. Ist die-

58 N. Luhmann (Fn. 12), S. 12. 59 Vgl. oben, S. 364. 60 N. Luhmann (Fn. 11), S. 19; vgl. dazu auch Friedrichs, Werner: Passagen der Pädagogik: Zur Fassung des pädagogischen Moments im Anschluss an Niklas Luhmann und Gilles Deleuze, Bielefeld 2008, S. 33 f. 61 N. Luhmann (Fn. 11), S. 33. 62 Vgl. oben, S. 365.

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se Hypothese mit der systemtheoretischen Grundregel der operativen Schließung von Sozialsystemen vereinbar? Um auf diese Frage einzugehen, muss vorab die praktische Ausgestaltung des Rechtsbetriebes in Betracht gezogen werden. Die Gründe für Rechtsentscheide, also die Begründung oder Motivation von Urteilen oder Verfügungen, bestehen nicht ausschließlich aus dem Zitieren von Rechtsprechung und Praxen anderer Gerichte oder Behörden. Regelmäßig führen diese Urteile oder Verfügungen auch wissenschaftliche Texte als juristische Argumente an. Die rationes decidendi einer Entscheidung werden mithin oft auf Gesetzeskommentare, auf juristische Fachzeitschriftenbeiträge, auf Lehrbücher des Rechts usw. abgestützt. Diese Gründe nehmen sich dann als Rechtskommunikationen aus, die an der (Re-)Produktion der rechtlichen Normativität gleich beteiligt sind wie im Zentrum des Rechts – also im Gerichtssystem – produzierte Kommunikationen. Ferner gilt es auch zu berücksichtigen, dass die rechtswissenschaftliche Literatur in der Praxis ein unumgängliches Arbeitsinstrument ist. Dieses wissenschaftliche Schrifttum dient nicht bloß als juristisches Rechercheinstrument (der Partner an den Associate in der Anwaltskanzlei: „Klären Sie mir diese Rechtsfrage ab!“). Dieses Schrifttum ist auch Basis von Rechtskommunikationen in Kreisen von Praktikern (Meinungsbildung, Würdigung von Argumenten, Lösungssuche usw.) Daraus wird erkennbar, dass eine gewisse Engführung von Recht und Wissenschaft besteht. Allerdings: Wie muss man sich diese Engführung theoretisch vorstellen? Zwei Konstruktionen kommen in Frage: Man könnte zunächst einmal erwägen – und das wäre die erste der zwei möglichen Konstruktionen –, ob die besagte Engführung von Recht und Wissenschaft mit der sog. „Einheitsthese“63 erklärt werden kann. Nach dieser These übernähme die wissenschaftliche Erforschung des Rechts den Code seines Objektes (recht/unrecht) und die im Recht stattfindende „Verwertung“ rechtswissenschaftlicher Erkenntnisse würde die Differenz der Differenzen wahr/unwahr und recht/unrecht nicht durchhalten, sondern auflösen. Träfe dies zu, wäre diese Differenz in rechtswissenschaftlichen Kommunikationen in einem Maß verschleift, dass jedenfalls praktisch von einer Verschmelzung der Codes von Recht und Wissenschaft gesprochen werden müsste (was im Rechtssystem recht oder unrecht ist, wäre in der Rechtswissenschaft zugleich wahr oder unwahr, d.h. „wahr“ wäre zugleich „recht“ und „unwahr“ wäre zugleich „unrecht“). Oder in den Worten Luhmanns: Zwei Systeme können einander dermaßen wechselseitig stützen, „dass es schwer fällt, zwei verschiedene und noch gar: operativ ge-

63 N. Luhmann (Fn. 12), S. 417.

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schlossene, überschneidungsfreie Systeme zu sehen“.64 Freilich überzeugt dieser Versuch einer Erklärung der Engführung von Rechts- und Wissenschaftssystem nicht. Schon der Umstand, dass das Rechtssystem das Angebot an wissenschaftlichen Studien nicht unbesehen übernimmt, sondern damit selektiv umgeht, zeigt auf, dass das Rechtssystem autonom darüber entscheidet, welche rechtswissenschaftlichen Werke zur Vorbereitung und Begründung einer juristischen Entscheidung relevant oder irrelevant sind. Letztlich ist die Wissenschaft für das Recht lediglich Quelle von Irritation, so dass Recht und Wissenschaft „je für sich operativ geschlossene Systeme mit je verschiedenen Funktionen, je verschiedenen Codierungen und je verschiedenen codeabhängigen Programmen [darstellen]“.65 Die zweite Konstruktion, die die Engführung von Recht und Wissenschaft erklären könnte, geht davon aus, dass das Wissenschaftssystem für Irritationen des Rechtssystems sorgt. Dann fragt sich allerdings, welche „Qualität“ diese Irritationen aufweisen. Denn aus der Perspektive des Systems ist Irritation nicht gleich Irritation. Umweltereignisse werden im System zwar immer als Irritationen aufgefasst (d.h. rekonstruiert). Aber aus der Unzahl dieser Irritationen sind nur einzelne für das System und seine Operationen belangvoll. In diesem Sinne muss im System eine Selektion aus der Masse von Umweltereignissen stattfinden. Das System muss festlegen, welche Umweltereignisse es operativ nutzt, um seine Autopoiese fortzusetzen, und welche Umweltereignisse es unbeachtet lässt, weil sie für seine Funktionsfähigkeit bedeutungslos sind. Diese Selektion geschieht bei Sozialsystemen über strukturelle Kopplungen. Mit diesem Begriff ist Folgendes gemeint: „Von struktureller Kopplung soll […] die Rede sein, wenn ein System bestimmte Eigenarten seiner Umwelt dauerhaft voraussetzt und sich strukturell darauf verlässt […]“.66

Strukturelle Kopplungen schränken die Einflüsse der Umwelt auf das System ein;67 aber gerade durch diese Einschränkung werden auch bestimmte Umwelt-

64 Ebd., S. 416. 65 Ebd., S. 417. 66 Ebd., S. 441. 67 Luhmann hat diesen Sachverhalt auch dahingehend umschrieben, dass die Spaltung der Umwelt durch die strukturelle Kopplung in Ausgeschlossenes und Eingeschlossenes dazu tendiert, die relevanten Beziehungen zwischen Umwelt und System zu reduzieren und auf einen schmalen Bereich von Einfluss zuzuschneiden, und dass nur dann ein System etwas mit Irritationen anfangen kann; vgl. dazu Amstutz, Marc: „Widerstreitende Götter: Zu Manfred Aschkes Rekonstruktion der systemsoziologischen

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einflüsse erleichtert, was die Aufmerksamkeit und die Empfindlichkeit des Systems für seine Umwelt steigert. An einem konkreten Beispiel veranschaulicht: „Gehirne sind mit ihren Augen und Ohren nur in einer sehr schmalen physikalischen Bandbreite an ihre Umwelt gekoppelt […]; aber gerade deshalb machen sie den Organismus in unwahrscheinlich hohem Masse umweltsensibel“.68

Aber was bedeutet es, wenn man sagt, dass mit strukturellen Kopplungen der Einfluss der Umwelt auf das System beschränkt und gleichzeitig gesteigert wird? In aller Kürze: Weil die Umwelt eines Systems aus anderen Systemen besteht, stellen strukturelle Kopplungen „ausgewählte System-zu-System Beziehungen“69 her. Dadurch werden also Beziehungen geschaffen, die dem System erlauben, die Operationen anderer Systeme als Irritationen seiner eigenen Operationen zu nutzen. Strukturelle Kopplungen versorgen das System „mit regulären Irritationen“.70 Und „regulär“ in diesem Sinne meint, dass gewisse Irritationen im System dauerhaft verwendet werden. Strukturelle Kopplungen differenzieren somit zwischen (1) Irritationen, an welchen sich das System dauerhaft orientiert, um seine Strukturen aufzubauen und zu verändern, und (2) Irritationen, die für das System meist unerheblich sind, d.h. i.d.R. keine operativen Anpassungen im system anregen. Strukturelle Kopplungen stellen sicher – so kann zusammengefasst werden –, dass das System einerseits mit den für dieses unentbehrlichen Irritationen alimentiert wird und anderseits von Irritationen „frei“ gehalten wird, die für seine Operationsfähigkeit entbehrlich sind und deshalb die Gefahr schaffen, das System unnötig zu belasten. Wenn wir vor diesem Hintergrund auf die Frage zurückkommen, wie man die festgestellte Engführung von Recht und Wissenschaft aufzufassen hat,71 muss die hohe Responsivität des Rechts für die Wissenschaft als Folge struktureller Kopplungen verstanden werden.72 Diese Feststellung gibt freilich nur Aus-

Evolutionstheorie und ihrer rechtstheoretische Bedeutung“, in: Rechtsgeschichte 2 (2003), S. 23 f. 68 N. Luhmann (Fn. 12), S. 441. 69 Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1990, S. 41. 70 Ebd., S. 40. 71 Vgl. oben, S. 379. 72 Darauf macht empirisch nicht nur der Umstand aufmerksam, dass juristische Verfügungen mittels Zitieren wissenschaftlicher Werke begründet werden. Auch der in der Praxis der Rechtsarbeit (z.B. in Rechtsdiensten von Unternehmen, in Anwaltskanzleien oder in Amtsstuben) gängige Beizug von Fachliteratur, die die Ergebnisse juristi-

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kunft über die theoretische Konstruktion der hier fraglichen Engführung von Recht und Wissenschaft.73 Sie sagt nichts darüber aus, worin die gesellschaftliche Funktion der soeben erläuterten strukturellen Kopplung des Rechts an die Wissenschaft besteht. Diese Frage ist bislang kontrovers und ungeklärt. Sie ist Gegenstand einer seit Langem andauernden akademischen Debatte, in der es hauptsächlich darum geht, ob die Jurisprudenz überhaupt eine Wissenschaft sei und ob sie ggf. dem Recht – auf welcher Art auch immer – nütze. Im Folgenden soll diese Frage mithilfe der Kritischen Systemtheorie des Rechts – d.h. anhand des (noch zu ermittelnden) zweiten rechtssystemtheoretischen Textes – angegangen werden. Die Anwendung dieser Theorie auf die soeben aufgeworfene Frage soll nicht nur illustrieren, in welchem Sinne Kritik im Recht zu begreifen ist. Sie soll auch zeigen, wie das Rechtssystem – als Gegenstand der Kritischen Systemtheorie des Rechts – mittels Kritik geändert werden kann. Kurzum: Die Applikation dieser Theorie auf das Problem der ungeklärten Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz soll, wie Althusser sagt, das „in der Sicht des ‚ersten‘ Textes Verborgene“ zum Sprechen bringen. Die erkenntnisleitende Frage des nächsten Kapitels lautet deshalb: Wie verfährt die Kritische Systemtheorie des Rechts, um „Gärstoff“ für Kritik im und für das Rechtssystem zu sein?

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Widerspruch und Kritik

In den vorausgehenden Ausführungen war viel von „Kritik“ die Rede, wobei der Begriff nur oberflächlich gestreift wurde. Das gilt es an dieser Stelle nachzuholen. Eine Kritische Systemtheorie des Rechts kann aus naheliegenden Gründen allein dann entworfen werden, wenn präzise umschrieben wird, was unter dem „porösen“ Begriff der Kritik zu verstehen ist.74 Nur wenn in Betracht gezogen

scher Forschungen festhält, belegt die hohe Sensitivität des Rechtssystems für wissenschaftliche Diskurse; vgl. auch oben, S. 379. 73 Daran ändert nichts, wenn N. Luhmann (Fn. 12), S. 543, bemerkt: „Es wäre vorstellbar, Theorie selbst als Form struktureller Kopplung des Wissenschaftssystems mit den Reflexionstheorien der Funktionssysteme einzusetzen“. Denn dadurch wird ein Phänomen begrifflich gefasst, nicht funktional erläutert. 74 Für eine Übersicht über Kritik-Modelle Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis: Gesellschaftliche Selbstverständigung und kritische Theorie, Frankfurt a.M. 2009,

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wird, „dass es verschiedene Grammatiken des Begriffs ‚Kritik‘ gibt“,75 und wenn feststeht, welcher Kritikbegriff dem Projekt einer Kritischen Systemtheorie des Rechts zugrunde liegt, kann dieses Projekt angedacht und aufgearbeitet werden. In diesem Zusammenhang soll vorab gefragt werden, wie die schlicht deskriptiv sich ausgebende Systemtheorie des Rechts76 das Konzept „Kritik“ begreift. Liest man Luhmanns einschlägige Ausführungen, ist offensichtlich, dass „Kritik“ als Beobachtung eines gegebenen Sachverhalts durch die Linsen einer „erstrebenswerten Alternative“ begriffen wird. In den Worten Luhmanns: „Die Kritik […] setzt eine Diagnose der Gesellschaft voraus, die diese beschreibt als in einer Krise befindlich. Krisen sind vorübergehende Zustände. […] Die krisenhaften Erscheinungen […] werden auf Fehlentwicklungen […] zurückgeführt, die man korrigieren kann“.77

Dieser Kritikbegriff, der sich im eigentlichen Sinne „alteuropäisch“ ausnimmt und seine Wurzeln im Griechenland hat,78 wirft ein philosophisch längst bekanntes Problem auf: Wie lässt sich der Maßstab finden, welcher die Aussage erlaubt, die Alternative sei „besser“ als das hic et nunc Bestehende? Oder etwas ausgefeilter: „Wie steht es […] um das Verhältnis zwischen Analyse und kritischer Praxis […]? Ist die Artikulation von sozialem […] [Mangel] schon Kritik – oder bedarf es theoretisch geleite-

S. 35 ff.; Iser, Matthias: Empörung und Fortschritt: Grundlagen einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 2008, S. 23 ff. 75 Butler, Judith: „Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend“, in: Rahel Jaeggi/ Tilo Wesche (Hg.), Was ist Kritik?, Frankfurt a.M. 2009, S. 224; vgl. ferner Saar, Martin: „Genealogische Kritik“, in: ebd., S. 247. 76 Vgl. oben, S. 365 f. 77 N. Luhmann (Fn. 4), S. 1116. 78 Vgl. Jaeggi, Rahel/Wesche, Tilo: „Einführung: Was ist Kritik?“, in: R. Jaeggi/T. Wesche (Fn. 75), S. 10: „So alt wie die Philosophie ist […] [das] Selbstverständnis [der Kritik] als Aufklärung. Im Übergang vom Mythos zum Logos betritt sie die Bühne als eine Erkenntniskritik, die der Grenzziehung zwischen Wissen und Glauben dient. […] Dem ‚Kritizismus‘ geht es um die Vermeidung von Täuschungen, die sich im theoretischen Wissen als Dogmatismus und im praktischen Wissen als Bevormundung ausdrücken. […] Solcher Aufklärungskritik kommt in der Philosophie seit Sokrates’ und Platons Abgrenzung von den Sophisten ein fester Platz zu.“

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ter Transformationsprozesse, um soziale Erfahrungen artikulierbar zu machen und in (gerechtfertigte) Kritik zu überführen?“79

Im Lichte dieser Überlegungen lässt sich die Sehweise der Luhmannschen Systemtheorie leicht erkennen. Kritik wird insofern als parasitär80 aufgefasst, als sie die Standards, an denen sie die von ihr festgestellten Mängel messen will, nicht selbst generieren kann;81 eben deshalb bedürfte es zusätzlich zur Beobachtung (sei es erster oder zweiter Ordnung82) eines weiteren Schrittes – einer wertungsbedürftigen „Transformation“ der Beobachtungsergebnisse, die sich an einer „Metaposition“ in der Gesellschaft in ihrer Totalität orientiert.83 Diesen Schritt zu gehen, ist die Luhmannsche Systemtheorie nicht bereit.84 Und dies zu Recht! Denn als Beobachtungstheorie kann (und will!) sie keine Maßstäbe der Kritik erstellen, die der Beobachtung fremd („extern“) sind. Sie will keine normative Kritik sein, d.h. sie enthält in ihrem theoriearchitektonischen Design keine wertende Urteile.85 Insofern, aber nur insofern, ist es auch schlüssig, wenn diese Theorie kritische Implikationen ihrer Aussagen – „kritisch“ im beschriebenen normativen Sinn – ablehnt.86

79 Ebd., S. 9. 80 Vgl. N. Luhmann (Fn. 12), S. 426: „Mit ‚parasitär‘ ist […] nichts anderes gemeint als die Möglichkeit, an einer externen Differenz zu wachsen“. Im vorliegenden Fall wäre Kritik „parasitär“, könnte sie an einer „Metaposition“ in der Gesellschaft wachsen; vgl. zur Problematik oben, S. 366. 81 Vgl. generell Geuss, Raymond: Die Idee einer kritischen Theorie: Habermas und die Frankfurter Schule, Bodenheim 1988. 82 Vgl. N. Luhmann (Fn. 4), S. 1117. 83 Zum Problem dieser gesamtgesellschaftlichen „Metaposition“, vgl. oben, S. 367. 84 Vgl. in diesem Zusammenhang auch Fischer-Lescano (Fn. 2), S. 32. 85 Vgl. zu diesem Sinn von „Normativität“ etwa Adorno, Theodor W.: Gesellschaftstheorie und Kulturkritik, Frankfurt a.M. 1975, S. 62 f. 86 Allerdings verbergen sich hinter dieser Ablehnung auch unerledigte Probleme, die in Luhmanns Formulierungen immer wieder an die Oberfläche kommen; so z.B. ganz symptomatisch N. Luhmann (Fn. 12), S. 542, Fn. 96, wo festgestellt wird, „dass die soziologische Analyse des Rechts als Konsequenz der Spezifik ihres Anspruchs auf Wissenschaftlichkeit auf eine (Ablehnung implizierende) Kritik des Rechtsbetriebs verzichten und sich mit der Exposition und forschungsmäßigen Weiterverwendung ihrer Resultate begnügen sollte“. Was „Exposition“ und „forschungsmäßige Weiterverwendung“ von Wissenschaftsresultaten im Rahmen einer Beobachtungs- und Kommunikationstheorie, die als Supertheorie ausgestaltet ist, konkret bedeutet, bleibt nicht

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Aber damit bleibt die Luhmannsche Systemtheorie gewissermaßen auf halbem Wege stehen. Sie vollzieht nämlich nur drei Schritte, um den von ihr benutzten Kritikbegriff festzulegen: (1) Einem spezifischen, wissenschaftshistorisch aber letztlich unmodernen Kritikbegriff wird Relevanz attestiert; (2) alsdann wird dieses Kritikverständnis aus dem geschilderten Grund, d.h. wegen seiner fehlenden „Positivität“ bzw. wegen seiner bestehenden Normativität, als mit der Beobachtungsperspektive der Systemtheorie unvereinbar verworfen;87 (3) zuletzt wird auf dieser Grundlage (und ohne weiteres) zur Schlussfolgerung geschritten: „[A]uch wenn man sieht, dass die Strukturen des Gesellschaftssystems zu kaum erträglichen Folgen führen, liefert eine solche Beschreibung kein Rezept für die Herstellung eines anderen Gegenstandes Gesellschaft“.88

Der von Luhmann gewählte Kritikbegriff bedarf mithin einer (be-)urteilenden Handlung, d.h. einer Bewertung anhand einer gesamtgesellschaftlichen „Metaposition“, die es nicht gibt.89 Das ist alles an sich nachvollziehbar, d.h. in dem Luhmannschen Argumentationskontext frei von Inkonsistenzen. In der soeben wiedergegebenen Argumentationskette scheint indessen ein sozialwissenschaftlich doch naheliegendes Glied zu fehlen. Wäre es nicht lohnend gewesen, hätte sich die Luhmannsche Systemsoziologie vergewissert, ob es Kritikbegriffe gibt, die „Urteile“ im geschilderten Sinne vermeiden?90 Oder anders gefragt: Gibt es, um mit Rahel Jaeggi zu sprechen, „eine nichtnormative Kritik, die normativ bedeutsam ist“?91 Diese Wendung (wie die Frageform, in welche sie gekleidet ist) ist anspruchsvoll und muss im Lichte der fortgeschritteneren Kritikforschung verdeut-

bloß rätselhaft, sondern auch (und vor allem) eine auf Dauer nicht auszuhaltende Lücke im Erklärungsansatz. Denn damit werden letztlich – unausgesprochen – Gedanken eines wissenschaftlichen Realismus in eine supertheoretische Argumentation hinein geschmuggelt, die nicht leicht hinzunehmende Theorieinkohärenzen erzeugen. 87 Vgl. oben, S. 384. 88 N. Luhmann (Fn. 4), S. 1119. 89 Vgl. oben, S. 366. 90 Vgl. Williams, Raymond: Keywords: A Vocabulary of Culture and Society, 2. Aufl., New York 1985, S. 75 f. 91 So Jaeggi, Rahel: „Was ist Ideologiekritik?“, in: R. Jaeggi/T. Wesche (Fn. 75), S. 277.

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licht werden, die in den letzten Jahrzehnten vor allem von Michel Foucault92 und Judith Butler93 vorangetrieben wurde.94 Es geht in diesem Punkt, das sei vorweggenommen, um eine Rekonstruktion des Selbstverständnisses der Luhmannschen Systemtheorie im Hinblick darauf, ob sie „als Analyse Kritik (und nicht: eine bloße Beschreibung des Bestehenden) und als Kritik Analyse (und nicht: eine bloße Forderung an das Bestehende) [ist]“.95 Es geht um die Frage: Kann die Systemtheorie „Ferment“96 einer Transformation der Gesellschaft sein, ohne dass sie auf einen gesamtgesellschaftlichen Maßstab der Kritik sozialer Praxen angewiesen wäre, den sie selber nicht herstellen kann (einen „externen“ Maßstab kann sie unmöglich generieren, weil es, wie gesehen, in der Gesellschaft in ihrer Totalität an einer „Metaposition“ fehlt)? Ausgangspunkt der Überlegungen muss nach dem Gesagten die Frage sein, wie eine Gesellschaftstheorie (so wie sie die Systemtheorie zu sein beansprucht) zugleich Analyse und Kritik sein kann. Dieses Paradox muss dahingehend entfaltet werden, dass die Analyse den Maßstab der Kritik nicht „von außen“ (gesamtgesellschaftliche „Metakritik“97) nimmt, sondern aus den analysierten Verhältnissen selbst entwickelt – und das meint: in den analysierenden Sozialsystemen.98 M.a.W.: Die Kritik und ihre Gradmesser fließen aus dem durch die Analyse im betroffenen System angestoßenen Prozess.99 Aber nicht etwa in dem Sinne, dass für bestimmte Situationen einfach verschiedene Optionen möglichen Handelns aufgezeigt werden, damit praktische Fragen überhaupt erst gestellt werden könnten. Wenn von „nichtnormativer, aber normativ bedeutsamer“ Kritik gesprochen wird, so ist damit gemeint, dass aus der systemischen Analyse

92 Foucault, Michel: Was ist Kritik?, Berlin 1992; zu diesem vieldiskutierten Vortrag statt anderer Demirovic, Alex: „Kritik und Wahrheit: Für einen neuen Modus der Kritik“, in: Birgit Mennel/Stefan Nowotny/Gerald Raunig (Hg.), Kunst der Kritik, Wien/ Berlin 2010, S. 85 ff.; Purtschert, Patricia: „Nicht so regiert werden wollen: Zum Verhältnis von Wut und Kritik“, in: ebd., S. 149 ff. 93 J. Butler (Fn. 75), S. 221 ff. 94 Für eine Übersicht über diese jüngere Kritikforschung statt anderer Raunig, Gerald: „Was ist Kritik?: Aussetzung und Neuzusammensetzung in textuellen und sozialen Maschinen“, in: B. Mennel/S. Nowotny/G. Raunig (Fn. 92), S. 13 ff. 95 R. Jaeggi (Fn. 91), S. 282. 96 Ebd., S. 283. 97 Vgl. oben, S. 366 f. 98 Vgl. zu diesem Punkt schon oben, S. 367. 99 Vgl. dazu aus verschiedenen Theorieperspektiven A. Demirovic (Fn. 92), S. 85 ff.

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von Selbstwidersprüchen der Realität100 unmittelbar selbstreflexive Operationen der Kritik dieser Realität ausgelöst werden: „Damit aber bekommt die Analyse selbst einen normativ eigenständigen […] Charakter. Die normativen Standards einer solchen Kritik lassen sich nämlich nicht unabhängig vom richtigen Verstehen der Wirklichkeit etablieren […] Ist […] Kritik nicht zuletzt ein Verfahren, Zusammenhänge herzustellen, und ist das Erkennen und die Existenz solcher Zusammenhänge Voraussetzung dafür, in diesen Widersprüche erkennen zu können, so sind die Widersprüche, an denen sie ansetzt, nicht umstandslos gegeben, sie werden durch die Analyse erst zugänglich gemacht. Und auch die implizite Normativität der sozialen Praktiken […] liegt nicht unbedingt auf der Hand. Für […] Kritik sind also (genau deshalb) analysierendes Unterscheiden und kritisch-normatives Entscheiden – Analyse und Kritik – zwei Aspekte desselben Prozesses“.101

Letztlich entspricht dieses Vorgehen marxistischen Vorstellungen, wonach Kritik weder in der Konfrontation der Realität mit normativen Leitbildern noch in der unmittelbaren Entnahme solcher Leitbilder aus der Realität besteht.102 Vielmehr ergibt sich Kritik aus der Analyse der Realität, „indem sie den Alltagsverstand seiner Täuschungen innewerden lässt“.103 b.

„Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“

Das eben dargestellte Verständnis von Kritik liegt der Kritischen Systemtheorie des Rechts zugrunde. Diese These kann freilich nicht in abstracto belegt werden.

100 Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik: Jargon der Eigentlichkeit, Frankfurt a.M. 2003, S. 148. 101 R. Jaeggi (Fn. 91), S. 284; in diesem Zusammenhang auch Barben, Daniel: „Die Wirtschaft der modernen Gesellschaft: Luhmanns soziologische Aufklärung als kritische Apologetik“, in: Alex Demirovic (Hg.), Komplexität und Emanzipation: Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie Niklas Luhmanns, Münster 2001, S. 110. 102 Vgl. etwa Reitter, Karl: „Kritik als Überwindung der Donquichoterie: Zur Entfaltung der Kritik bei Marx“, in: B. Mennel/S. Nowotny/G. Raunig (Fn. 92), S. 197 ff. 103 Haug, Wolfgang Fritz: „Karl Marx als Kritiker des Kapitalismus“, in: Das Argument 245 (2002), S. 233; vgl. auch R. Jaeggi (Fn. 91), S. 286: „Kritik tritt dann, wie Marx sagt, ‚nicht mit einem vorgefertigten Ideal der Wirklichkeit entgegen‘, sie entnimmt es ihr aber auch nicht einfach, sondern entwickelt dieses Ideal aus dem widersprüchlichen ‚Bewegungsmuster der Wirklichkeit‘ selbst“.

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Vielmehr soll sie nachstehend vor der Kontrastfolie der Kontroverse über die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz,104 begründet werden, und zwar konkret in unmittelbarer Auseinandersetzung mit der „Werthlosigkeits“-These von Julius Hermann v. Kirchmann.105 Diese These ist, wie noch darzulegen sein wird, auf Prämissen aufgebaut, die weitgehend das vorherrschende Rechtsverständnis von Juristinnen und Juristen wiederspiegeln. Anhand des konfrontativen Vergleichs

104 Aus der unüberschaubaren Fülle von relevanten Beiträgen über die Rechtswissenschaftsdebatte seien folgende drei Abhandlungen angeführt, die in ihrer Komplementarität die Problematik gut einkreisen: Wolf, Erik: Fragwürdigkeit und Notwendigkeit der Rechtswissenschaft, Freiburg i.Br. 1953; Kiesow, Rainer Maria: „Rechtswissenschaft – was ist das?“, in: Juristenzeitung 65 (2010), S. 585 ff.; Eidenmüller, Horst: „Rechtswissenschaft als Realwissenschaft“, in: Juristenzeitung 54 (1999), S. 53 ff. Im Übrigen sei hier Folgendes festgehalten. Die Forschung hat sich bislang darauf beschränkt, in der „Rechtswissenschaftsfrage“ zwei Problemstellungen zu sehen (vgl. die in dieser Hinsicht symptomatische und letztlich enttäuschende Problemübersicht bei Neumann, Ulfrid: „Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft“, in: Arthur Kaufmann/Winfried Hassemer/ders. (Hg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 8. Auflage, Heidelberg et al. 2011, S. 385 ff.): (1) Entspricht die Rechtslehre dem Wissenschaftsbegriff (epistemologische Frage)? (2) Für was ist die Rechtswissenschaft nützlich, worin liegt ihr Wert (Wertfrage)? Die erste Frage muss fruchtlos bleiben, da in der Literatur unterschiedliche Wissenschaftsbegriffe vertreten werden, entsprechende Antworten also immer nur Parteinahmen zugunsten des einen oder anderen Begriffes darstellen (vgl. Albert, Hans: „Normativismus oder Sozialtechnologie? Bemerkungen zu Eike von Savignys Kritik“, in: ders. et al. (Hg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, Düsseldorf 1972, S. 110). Ebenso steril waren bisher die Antworten auf die zweite Frage. Sie sind es bis heute geblieben, weil sie bislang aus einer Perspektive angegangen wurden, die man als „Innenperspektive“ des Rechts bezeichnen könnte. Sie sind darum bemüht zu zeigen, dass die klassischen Instrumente der juristischen Dogmatik und Methode gleichsam „wissenschaftsbegründend“ für die Jurisprudenz sind (mustergültig: Larenz, Karl: Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1966), was natürlich die Wissenschaftsfrage in keiner Art und Weise beantwortet. Einen guten oder schlechten Grund für Rechtswissenschaft aus dieser Perspektive zu setzen, läuft auf Spekulation und somit darauf hinaus, aussichtslose Fragen beantworten zu wollen. Mit Aussichtslosem wollen wir uns nicht beschäftigen. 105 v. Kirchmann, Julius Hermann: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1848.

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von juristischen main stream-Überzeugungen und kritisch-systemtheoretischem Gedankengut soll gezeigt werden, wie die Kritische Systemtheorie des Rechts verfährt, um im Rechtssystem eine manifeste Sichtweise (d.h. eine aktuell praktizierte Lehre, Theorie oder Rechtsprechung) durch eine latente zu ersetzen.106 Indem die Kritische Systemtheorie des Rechts in Kontrast zu v. Kirchmanns Überlegungen gesetzt wird, soll also demonstriert werden, was diese Theorie zur Erklärung der Funktion der Rechtswissenschaft im Rechtssystem konkret leisten kann. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie die Kritische Systemtheorie des Rechts diese Ersetzungsleistung in praxi ohne Rekurs auf eine Metaposition in der Gesellschaft erbringt. Sondern es geht auch darum, vermittels eines Beschriebs des praktischen Funktionierens der Kritischen Systemtheorie des Rechts den zweiten Text der Systemtheorie des Rechts zu identifizieren und lesbar zu machen. Dieser besteht – so viel darf vorweggenommen werden – in der Anweisung, wie in der Rechtsarbeit mit dem Widerspruch von Faktischem und Normativem konstruktiv umzugehen ist, während der erste Text, wie dargelegt, Anweisung dafür ist, wie die Differenz von Faktischem und Normativem in der Rechtsarbeit aufrechtzuerhalten ist.107 Mithin kann im Sinne einer kompakten Charakterisierung gesagt werden: Der zweite Text der Systemtheorie des Rechts ist transformativ und deshalb auch kritisch (und zwar „kritisch“ nach Maßgabe des Verständnisses dieses Begriffes, das in den vorangehenden Ausführungen erarbeitet wurde108), während der erste Text dieser Theorie konservativ ist. Ich beginne in medias res. Was v. Kirchmann in seinem berühmt gewordenen Vortrag „Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“ – nach Auffassung vieler Zeitgenossen eine „Monstrosität“!109 – als das „Werthlose“ der Ju-

106 Vgl. zur Unterscheidung manifest/latent M. Amstutz (Fn. 10), S. 143 f.; ferner (aus genereller soziologischer Perspektive) Bierbrauer, Günter: Attitüden: „Latente Strukturen oder Interaktionskonzepte?“, in: Zeitschrift für Soziologie 5 (1976), S. 4 ff.; vgl. auch oben, S. 367 f. 107 Vgl. dazu oben, S. 375 ff. 108 Vgl. dazu oben, S. 385 ff. 109 Sternberg, Theodor: „Kirchmann“, in: Historische Commission bei der Königl. Akademie der Wissenschaften (Hg.), Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 16: Kircher – v. Kotzebue, Leipzig 1882, S. 168, teilt diese Einschätzung selber nicht, wiedergibt also bloß verschiedene zeitgenösische Würdigungen des Vortrags v. Kirchmanns. Sternbergs Haltung im Hinblick auf diesen Vortrag, die über die Zeit wohl von vielen übersnommen wurde, ist folgende: „Der Werth [sc. von v. Kirchmanns Vortrag] liegt in den aufrichtigen, warmherzigen Bekenntnissen und charakterologischen Analysen über das subjective Verhältniss der Rechtnehmenden sowol als auch

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risprudenz anschaute, werde ich als etwas gesellschaftlich Funktionales verstehen. In dieser Hinsicht – namentlich was die Bedeutung des Wortes „Werthlosigkeit“ anbetrifft – muss man allerdings die Gedanken v. Kirchmanns behutsam und sorgfältig angehen. Entgegen des von diesem Autor für seinen Vortrag gewählten, sehr absolut anmutenden Titels sind seine Gedanken differenzierter und vor allem ambivalenter (Wiethölter: „Doppelsinnigkeit“!110), als es auf den ersten Blick den Anschein macht: Zwar ist v. Kirchmann der Auffassung, dass die Rechtswissenschaft seinen Gegenstand verfehlt hat. Nicht das Gesetz, sondern das „natürliche Recht“ sei das „Recht, wie es in dem Volke lebt“.111 Dieser Fehlgriff sei aber eine Fatalität. Denn das „natürliche“ Recht („das“ Recht) zu studieren, sei – und das ist das eigentliche Problem in v. Kirchmanns Augen – der Wissenschaft geradezu unmöglich: „[Ü]berall im Recht hat sich das Gefühl schon für eine Antwort entschieden, ehe noch die wissenschaftliche Untersuchung begonnen hat“.112

besonders der Juristen zur Rechtswissenschaft. Die Inferiorität, die die Jurisprudenz, rein als Wissenschaft betrachtet, anderen Wissenschaften gegenüber nicht verleugnen kann, das nie ganz vermeidliche Ueberwuchern des Subaltern-Formalen über das Sachlich-Organische, das Naturgesetzliche und Absolut-Nothwendige, das nicht zu umgehende, ja häufige Spintisiren über blosse Ungenauigkeiten im Gesetz, die specifisch wissenschaftlich angelegten Geistern die berufsmässige Beschäftigung mit Jurisprudenz unleidlich machen, die Jurisprudenz zu einer Wissenschaft des Unsinns und der Plage stempeln, während alle anderen Wissenschaften der Vernunft und der Wohlthat sind – sie hat er mit grosser psychologischer Feinheit aufgezeigt, mit einer Beredsamkeit, die ins Innere drang, weil sie aus Innerem kam und jenen ursprünglichen Zwiespalt erweckte, der in der Seele gerade der edleren unter den Juristen von der Reflexion nie ganz und gar zum Schlummern gebracht wird.“ 110 Wiethölter, Rudolf: „Julius Herrmann von Kirchmann (1802-1884): Der Philosoph als wahrer Rechtslehrer“, in: Kritische Justiz (Hg.), Streitbare Juristen: Eine andere Tradition, Jürgen Seifert zum 60. Geburtstag, Baden-Baden 1988, S. 52. 111 J.H. v. Kirchmann (Fn. 105), S. 7; ausdrücklich klargestellt sei: das „natürliche Recht“ v. Kirchmanns ist nicht Naturrecht; vgl. unten, S. 392. 112 Ebd., S. 17. Entsprechend ist die Rechtswissenschaft stets im Verzug: „[D]ie Wissenschaft kommt bei der fortschreitenden Entwickelung immer zu spät, niemals kann sie die Gegenwart erreichen“ (ebd., S. 13).

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Wenn nun die Jurisprudenz nur das Gesetz studiert, so lautet v. Kirchmanns Folgerung, kann sie der Praxis des Rechts (dem „natürlichen Recht“) und dem „Leben“113 nichts bringen. Dann verhält es sich so, „dass die Jurisprudenz […] des Einflusses auf die Wirklichkeit und das Leben der Völker entbehre, wie ein solcher jeder Wissenschaft zukomme und gebühre“.114 V. Kirchmann befindet sich mit dieser Aussage an einer Kreuzung seiner Argumentation. Und wie der zweite Text der Systemtheorie des Rechts zeigen wird: Er schlägt an dieser Kreuzung einen Weg ein, der nirgends hinführt. Zunächst ist in diesem Zusammenhang festzuhalten, dass v. Kirchmann einen wohl naheliegenden „darwinistischen Zweifel“ an dem von ihm vorgestellten Verlauf des „path of the law“115 in Betracht hätte ziehen müssen. Dieser Autor hatte allen Grund, sich die Frage zu stellen: Warum konnte sich die Rechtswissenschaft über Jahrhunderte halten, wenn sie so wertlos wäre, wie er dies meint? Wäre sie in diesem Fall nicht auf natürliche Weise „abgestorben“? Allerdings darf man v. Kirchmann in diesem Zusammenhang nicht Unrecht tun. Wenn er nämlich von „Jurisprudenz“ spricht, so ist das zeitgenössisch gemeint. In der Tat bezieht er sich auf die „historische Rechtsschule“.116 Und insofern bekämpft er keineswegs Rechtswissenschaft „als solche“. Seine diesbezügliche Haltung wurde in der Lehre folgendermaßen zusammengefasst: „[M]angels Orientierungsbefähigung scheidet für eine der Gesellschaft auf Dauer anzumessende Jurisprudenz die herrschende ‚Rechtswissenschaft‘ aus. Anders gewendet: Kirchmann ist für ‚Jurisprudenz‘ (und hat darin den Anschluss an historische und theoretische Legitimationen), er ist für ‚Rechtswissenschaft‘ (als Legitimationsorientierung einer Geltungskraft von Recht als Recht), er ist für Praxis-Theorie (als Daueraufgabe einer Rechtsgrundsatz-Produktivität im Blick auf die dauerhaft-wechselvollen Diskrepanzen von ‚Institutionen‘ und ‚Funktionen‘ in Gesellschaft und Recht)“.117

113 Stahl, Friedrich Julius: Rechtswissenschaft oder Volksbewusstsein? Eine Beleuchtung des von Herrn Staatsanwalt von Kirchmann gehaltenen Vortrags: Die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, Berlin 1848, S. 1. 114 J.H. v. Kirchmann (Fn. 105), S. 5. 115 Wendell Holmes Jr., Oliver: „The Path of the Law“, Harvard Law Review 10 (1897), S. 457 ff. 116 R. Wiethölter (Fn. 110), S. 52; vgl. ferner auch im gleichen Sinne Radbruch, Gustav: Gesamtausgabe, Bd. 1: Rechtsphilosophie I, Heidelberg 1987, S. 424. 117 R. Wiethölter (Fn. 110), S. 52.

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Dennoch hat v. Kirchmann in seinem Vortrag keineswegs offenbart, was er unter „Jurisprudenz“, „Rechtswissenschaft“, „Praxis-Theorie“ versteht. Das ist eine Schwäche – vielleicht die Schwäche – seines Textes. Denn die Haltung V. Kirchmanns beruht auf einem Axiom, das an der Sache vorbei geht. Er stellt eine Theorie der „getrennten Säle“ auf (positives Recht einerseits, „natürliches“ Recht andererseits), wo es doch in Wahrheit, wie noch zu zeigen ist, darauf ankäme, eine solche der „kommunizierenden Gefäße“ zu entwerfen. Was bedeutet das? V. Kirchmann trennt den Rechtsbegriff radikal auf. Er differenziert strikt zwischen einem positivem Recht als Recht „von oben“ (gleichsam Kelsenianischer Inspiration118) und einem „natürlichen“ Recht als Recht „von unten“ (das sich sehr nahe an Ehrlichs „lebendem Recht“ bewegt119).120 Und nur letzteres ist für v. Kirchmann das, „worauf es ankommt“. Positives Recht sei bloß eine „Zwittergestalt von Sein und Wissen, die sich zwischen dem Recht [sc. dem ‚natürlichen‘ Recht] und der Wissenschaft eindrängt und beide mit ihren verderblichen Wirkungen bedeckt“.121 „Verderblich“ deshalb, weil dadurch das „natürliche Recht“ durch ein verwissenschaftlichtes positives Recht überlagert wird, das nicht „in den dunklen Regionen des Gefühls, des natürlichen Takts [ruht]“,122 was für v. Kirchmann die einzige Legitimation des Rechtlichen darstellt.123 Just diese Legitimationsbasis wird durch die Rechtswissenschaft zerstört, weil diese, so könnte man sagen, das „natürliche“ Recht im Nebel der wissenschaftlichen Diskurse und Kontroversen verschwinden lässt und die ganze Aufmerksamkeit für das positive Recht in Anspruch nimmt. Wo sich das positive mit dem „natürlichen“ Recht deckt, ist letztlich eher Zufall;124 allerdings gesteht v. Kirchmann der Rechtswissenschaft immerhin die Leistung zu, dass diese „frei die Wahrheit finden kann“, sofern ihr Zeit gelassen wird, was freilich meist nicht möglich ist.125 Deshalb werde das „natürliche“ Recht (das „Sein“) von der Rechtswissen-

118 Kelsen, Hans: Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. Auflage, Wien 1960. 119 Ehrlich, Eugen: Grundlegung der Soziologie des Rechts, 4. Auflage, Berlin 1989. 120 Zu demselben Befund kommt letztlich auch F.J. Stahl (Fn. 113), S. 5, wenn er bemerkt: „Auch wir sind weit entfernt, die positive Jurisprudenz von der Wissenschaft des natürlichen Rechts oder des dem Volkszustand oder Volkssinn entsprechenden Rechts abtrennen zu wollen“. 121 J.H. v. Kirchmann (Fn. 105), S. 19. 122 Ebd., S. 9. 123 Vgl. auch ebd., S. 32. 124 Ebd., S. 18. 125 Ebd., S. 18 (H.v.V.).

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schaft (dem „Wissen“) regelmäßig verkannt und verdrängt, da diese sich lediglich mit dem positiven Recht befasse, das häufig vom „natürlichen“ abweiche. In der Sprache v. Kirchmanns: „Das Wissen [sc. die Rechtswissenschaft], selbst das falsche und mangelhafte überwältigt das Sein [sc. das ‚natürliche‘ Recht]“.126

In diesem Schisma von „natürlichem“ Recht einerseits und „positivem“ Recht andererseits liegt der Ursprung dessen, was Friedrich Julius Stahl so zutreffend v. Kirchmanns „Vermengung der Begriffe“127 genannt hat. Die Aufdeckung dieser „Vermengung“ ist für die Erarbeitung des zweiten Textes der Systemtheorie des Rechts zentral, weil damit gezeigt werden kann, worin die Luhmannsche Version dieser Theorie versagt: Mit der dieser zugrunde liegenden Doppelunterscheidung von Normen/Fakten und Text/Interpretation spaltet sie den Rechtsbegriff in gleicher Manier auf, wie dies v. Kirchmann getan hat. Allein, v. Kirchmann tut dies in ausdrücklicher Weise, während die Luhmannsche Systemtheorie des Rechts die erwähnte Begriffsspaltung nur impliziert, also bloss als unausgesprochenen Satz mit sich führt. Was bei v. Kirchmann schief liegt, wird uns mithin erlauben, explizit zu machen, wie die Basis für das Verfassen des zweiten Texts der Systemtheorie des Rechts ausschaut. Was ist nun gemeint, wenn gesagt wird, v. Kirchmann spalte den Rechtsbegriff auf? Genau betrachtet geht es bei dieser Aussage nicht vordergründig darum, dass zwischen „natürlichem“ und positivem Recht eine Differenzierung vorgenommen wird. Worum es geht, ist das Diskrepanz-Verhältnis zwischen diesen zwei Rechtskategorien und vor allem: welche Rolle die Rechtswissenschaft im Rahmen dieses Verhältnisses spielt. Schematisch lässt sich das von v. Kirchmann identifizierte „Problem der Jurisprudenz“ als magisches Dreieck mit Schaubild 1 darstellen.

126 Ebd., S. 20. 127 F.J. Stahl (Fn. 113), S. 4.

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Schaubild 1: V. Kirchmanns „Problem der Jurisprudenz“ Rechtswissenschaft

v. Kirchmanns „Wahrheit“

„Natürliches“ Recht

Wertlosigkeits-These

Diskrepanz Positives Recht

In diesem Schaubild lässt sich eine Spaltung erkennen, die dem vorherrschenden Denkmuster des Juristen entspricht und der die Luhmannsche Systemtheorie des Rechts ebenfalls verfallen ist: Die Spaltung zwischen „natürlichem“ Recht und positivem Recht, die zugleich auf die traditionelle Differenzierung von Fakten und Normen hinausläuft. Warum? Man muss hier sehen, dass das „natürliche“ Recht v. Kirchmanns ausschließlich von Fakten (von sozialen Normen, wie Usanzen, Übungen, Gewohnheiten usw.) gespeist wird, während das positive Recht immer normativ gesetzt wird, nämlich in rechtsstaatlich legitimierten Verfahren. Diese Differenzierung von Faktischem und Normativem ist bei V. Kirchmann in Stein gemeißelt und mithin von einer Diskrepanz geprägt, die dieser Autor als unüberbrückbar anschaut. Erkennbar wird dieser Umstand unter Anderem daran, dass v. Kirchmann den Anwendungsbereich der Wissenschaft auf das positive Recht beschränkt. Das aus den Fakten emergierende „natürliche“ Recht kann seiner Meinung nach wissenschaftlich nicht studiert oder erforscht werden. Denn die Wissenschaft kommt für diese Rechtskategorie, die nach v. Kirchmann einzig und allein gesellschaftlich relevant ist (positives Recht existiert nur in den Büchern), immer zu spät; „natürliches“ Recht wird ohne Zutun der Wissenschaft generiert, ja ist schon in dem Zeitpunkt ein fait accompli, in dem der Wissenschaftsapparat zum ersten Mal in Gang gesetzt wird.

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Was also v. Kirchmanns „Werthlosigkeits“-These zementiert, ist „Hume’s Law“ im Recht, eine Zementierung, die nicht bloß vom juristischen main stream anerkannt wird, sondern auch im ersten Text der Systemtheorie widerspiegelt wird.128 Rechtswissenschaft hat in dieser Hinsicht keine Funktion (was, akzeptiert man diese Prämisse, den Schluss v. Kirchmanns als folgerichtig erscheinen lässt, dass Jurisprudenz als Wissenschaft wertlos ist). Die Annahme, Rechtswissenschaft habe keine Funktion, leidet indessen an verschiedenen Inkohärenzen. Insofern sie auf den Satz gestützt ist, Faktisches und Normatives seien voneinander hermetisch abgedichtet, leugnet sie den Umstand, dass Recht nur operieren kann, wenn in seine Anordnungen Rechtstatsachen einfließen können. Irgendwie muss es einen Ort der „Verschmelzung“ von Regeln und Sachverhalten geben, damit das Recht „lebt“. Der auf erstaunlich breiter Basis akzeptierte juristische Syllogismus hilft nicht weiter, wenn es um die Identifikation dieses Ortes geht, was Rudolf Wiethölter zu bedenken gegeben hat: „Manche haben im Syllogismus-Modell schon immer durchschaut, […] dass mit der vorausgesetzten Spaltung von juristischer und sozialer Subsumtion […], auf der die Möglichkeit beruht, Recht vom sonstigen Sozialraum überhaupt zu trennen, eine Leistung verlangt wird, die professionelle Schizophrenie bedeutet: Denn entweder muss der Jurist die für seine Arbeit vorausgesetzten sozialen – nicht juristischen – Fragestellungen (z.B. hinsichtlich Wettbewerbs an Ökonomen, hinsichtlich Geisteskrankheit an Mediziner, hinsichtlich Kunst an Literaten usw.) per Übersetzung selbst formulieren, was er weder kann noch darf, oder der entsprechende Nichtjurist muss die juristische Fragestellung seinerseits mitübernehmen, was er ebenfalls nicht kann und darf“.129

Eine weitere Inkohärenz der Trennungs-Theorie liegt darin, dass Normen nur im Kontext von Fakten Sinn erlangen können. Sonst bedeuten Normen nichts.130 Wie soll Sinn erschlossen werden, wenn Fakten und Normen als sich gegenseitig abstossende Elemente verstanden werden? Schließlich: Ist es nicht inkohärent, Rechtswissenschaft als wertlos abzustempeln, wenn heute, wie zu V. Kirchmanns Zeiten, die Masse an juristischer Forschung immer zunimmt? Wäre sie

128 Vgl. dazu oben, S. 373 ff. 129 Wiethölter, Rudolf: „Rechtswissenschaft in Kritik und als Kritik“, in: Johannes Gutenberg-Universität Mainz (Hg.), Studium Generale, Mainz 1973, S. 11. 130 Amstutz, Marc: „Die Sprachlosigkeit des Gesetzes: Plädoyer für eine gesellschaftliche Rechtsmethodik“, in: o. Hg., Marie Theres Fögen, Sexagenaria, 10. Oktober 2006, Zürich/Lachen 2007, S. 53 m. Nw.

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wertlos, müsste sie doch – dem ist jedenfalls in evolutorischer Perspektive so – leerlaufen und verschwinden. Hinter diesen Inkohärenzen lauern reale Widersprüche. Und gerade diese sind vorliegend von Interesse. Denn der Kritikbegriff, auf welchem die Kritische Systemtheorie des Rechts gründet, knüpft, wie dargestellt, an Widersprüchen an.131 Anders als die Luhmannsche Variante ignoriert diese Theorie Realwidersprüche nicht, sondern macht sie der Analyse überhaupt erst zugänglich. Das erlaubt es, diese Analyse als Plattform für die Entstehung einer nichtnormativen, aber normativ bedeutsamen Kritik zu nutzen. Wie geschildert, ist die Kritische Systemtheorie des Rechts auf einem marxistischen Kritikverständnis aufgebaut, d.h. auf einem solchen, das Analyse und Kritik in eine zugleich hermeneutische und transformative Beziehung bringt. Und zwar in dem Sinne, dass die analytisch wahrnehmbar gemachten Widersprüche die „implizite Normativität der sozialen Praxen“132 enthüllen, also selbstreflexiv Maßstäbe der Kritik verfügbar machen (und dies ohne Rekurs auf eine gesellschaftliche Metaposition).133 Entsprechend stellt sich die Frage: Welche realen Widersprüche vermag die Kritische Systemtheorie des Rechts hinter den festgestellten Inkohärenzen der vorherrschenden Jurisprudenz aufzudecken und welchen Umgang pflegt sie damit, um Kritik im geschilderten Sinne auszulösen? c.

Erwartungen als Supplement des Rechts

Die Strategie der Trennung von Sein und Sollen (Fakten/Normen), die von den vorherrschenden Auffassungen im Rechtssystem verfolgt wird, entfremdet das Recht von der Gesellschaft. Sie leugnet und invisibilisiert den Widerspruch, dass das Recht die Durkheimschen faits sociaux134 als irrelevant taxiert, wo doch Recht seinen Daseinsgrund im Dienst an die Gesellschaft findet. Und das wirft wiederum die Frage auf: Wie adaptiert sich das Rechtssystem an die Strukturen/ Prozesse anderer Sozialsysteme? Es ist zu vermuten, dass eine solche Adaptation trotz der erwähnten, vom juristischen mainstream verfolgten Trennungsstrategie dennoch über heimliche und verschlungene Wege passiert. In ihrer kritikinduzierenden Analyse geht die Kritische Systemtheorie des Rechts freilich über die Klärung dieser Vermutung hinaus. Sie lässt es nicht beim Problem der rätselhaften Adaptation des Rechts an die Bewegungen des Sozialen bewenden, son-

131 Vgl. dazu oben, S. 382 ff. 132 R. Jaeggi (Fn. 91), S. 284. 133 Vgl. dazu oben, S. 366 f. 134 Durkheim, Emile: Les Règles de la Méthode sociologique, Paris 2010, S. 108.

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dern geht noch einen Schritt weiter und setzt sich zum Ziel, die gesellschaftlichen Bedingungen der Möglichkeit von Recht zu untersuchen. Es ist nun vermittels der Analyse dieser Bedingungen, dass die Kritische Systemtheorie des Rechts Suchbewegungen im Rechtssystem auslöst, um die in diesem System manifeste Sichtweise der Diskrepanz von Fakten und Normen, um welche herum der ganze Rechtsbetrieb organisiert ist, durch eine alternative, bislang latente Sichtweise zu ersetzen. Aber wie verfährt sie dabei im Einzelnen? Die Analyse der Kritischen Systemtheorie des Rechts setzt an eine in den gegenwärtigen Strukturen des Rechtssystems nur latent mitgeführte, also nicht aktualisierte und im Vergleich zum vorherrschenden Modell alternative Möglichkeit, den Rechtsbetrieb zu beschreiben, an. Diese latente Beschreibungsmöglichkeit beruht – im Unterschied zur These der unüberbrückbaren Diskrepanz von Fakten und Normen – auf der Beobachtung, dass das Rechtssystem auf der Basis von Erwartungen – d.h. von Strukturen anderer Sozialsysteme – operiert.135 Dies impliziert letztlich, dass Erwartungen (als Strukturen außerhalb des Rechts, z.B. wirtschaftliche oder politische Strukturen) eine Art Bedingung bzw. Voraussetzung von Recht darstellen. Das aber kann nur bedeuten, dass Erwartungen für das Recht eine seltsame, wohl unsichtbare Unerlässlichkeit haben. Aber wie muss man sich das in concreto vorstellen? Meine These: Erwartungen stehen zum Recht in einer „Logik der Ergänzung“,136 bilden mithin im Verhältnis zum Recht ein Supplement im Sinne Derridas. Was ist ein Supplement? Lassen wir zunächst Jacques Derrida sprechen: „[D]as Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; […] Irgendwo kann etwas nicht von selbst voll werden, sondern kann sich nur vervollständigen, wenn es durch […] [das Supplement ergänzt] wird“.137

Obwohl also das zu Ergänzende als vollständig und rein erscheint, würde es ohne das Supplement jegliche Konsistenz verlieren.138 Das hat Rückwirkungen auf

135 N. Luhmann (Fn. 12), S. 146 f. 136 Dupuy, Jean-Pierre/Varela, Francisco: „Kreative Zirkelschlüsse: Zum Verständnis der Ursprünge“, in: Peter Krieg/Paul Watzlawick (Hg.), Das Auge des Betrachters: Beiträge zum Konstruktionismus, Festschrift für Heinz von Foerster, Heidelberg 2002, S. 249. 137 Derrida, Jacques: Grammatologie, Frankfurt a.M. 1974, S. 249, 250. 138 Vgl. Sallis, John: „Derniers mots: générosité et réserve“, in: Revue de métaphysique et de morale 114 (2007), S. 43.

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die Figur des Supplements: Weil dieses ergänzt, ist es durch „Exteriorität“139 geprägt. Es ist m.a.W. dem zu Ergänzenden immer fremd, äußerlich, peripher. Wie hilft – das ist jetzt die Frage – die Logik des Supplement weiter, um das komplizierte Zusammenspiel von sozialen Erwartungen und Rechtssystem zu fassen? Die These, Erwartungen seien das Supplement des Rechts, legt nahe, dass sie die heimlichen Aktanten des Rechts sind, die verborgen und unbemerkt sozialen Sinn, d.h. Anliegen und Bedürfnisse anderer Sozialsysteme, in die Operationen des Rechts einbringen. Diese Aussage bedarf der näheren Erläuterung. Wenn gesagt wird, Erwartungen seien so etwas wie Kuriere, die „soziale Post“ an das Recht übermittelten, so meint das letztlich, dass sie den Umgang des Rechts mit der Gesellschaft ordnen, also eine regulative Wirkung im Recht entfalten. Sie sorgen dafür, dass das Recht immer im Einklang mit seinem Regelungsgegenstand, der laufend evolvierenden Gesellschaft, steht, was dem Recht natürlich stets aufs Neue Adaptationsleistungen abverlangt. Diese Adaptation des Rechts an seine Umwelt fußt darauf, dass Erwartungen innerhalb des Rechtssystems neue Differenzen erzeugen, die diesem erlauben, mit der Evolution seiner Co-Systeme Schritt zu halten und damit seine Aufgabe zu erfüllen. Erwartungen fungieren somit als ein produktiver Gestus im Recht, als Anbahnung von Rechtsoperationen. Von dieser Warte her gesehen ist das Verhältnis von Erwartungen und Recht als eine „generative Bewegung“ zu denken. Diese befähigt das Recht, jene Neudifferenzierungen vorzunehmen, die in der evolvierenden Gesellschaft erforderlich sind, um die Rechtsoperationen mit sozialem Sinn zu alimentieren. Ohne das Supplement der Erwartungen wären diese Operationen leer, ohne Bezug zur Gesellschaft, gleichsam monadisch. Anders gewendet: Ohne soziale Erwartungen bleibt Recht funktionslos; es kann dann Politik, Ausbildung, Spiel oder etwas anderes sein, aber es ist kein Recht in einem funktionalen Sinne. Die Aufdeckung dieser Zusammenhänge geben nun die Möglichkeit, auf die schon gestellte, bislang aber unbeantwortet gebliebene Frage nach der Funktion der strukturellen Kopplung von Recht und Wissenschaft zurückzukommen.140 Damit das Spiel von Rechtsoperationen und Erwartungen sich zu der geschilderten „generativen Bewegung“ entfalten kann, bedarf es eines Mediums, um neue Erwartungen an das Recht heranzutragen. Dieses Medium ist die Rechtswissenschaft. Damit ist allerdings nicht gemeint, dass diese Wissenschaft Inputs unmittelbar in das Rechtssystem hinein liefert. Strukturelle Kopplung bleibt ein Irrita-

139 Levinas, Emmanuel: Totalité et infini: Essai sur l’extériorité, La Haye 1961. 140 Vgl. oben, S. 382.

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tionsschema.141 Strukturelle Kopplung von Recht und Wissenschaft bedeutet, dass das Rechtssystem dauerhaft voraussetzen kann und sich strukturell darauf verlassen darf, dass Wissenschaft – als Medium der Zufuhr von sozialen Erwartungen – zwischen Recht und Gesellschaft nach Maßgabe folgenden Schemas vermittelt: „Die Auswirkungen von Universitätsprodukten […] können der Praxis Änderungen nahelegen, Lehrbücher und Monographien werden gelegentlich in Gerichtsentscheidungen zitiert, aber es muss sich dabei immer noch um eine im System verwendbare Änderung handeln“.142

Aus diesem an und für sich bei Luhmann erstaunlichen Zitat, weil hinter diesem, zumindest implizit, der Kritikbegriff steht, der vorliegend verwendet wird („nichtnormative, aber normativ bedeutsame Kritik“143), wird ersichtlich, dass Rechtswissenschaft in systemtheoretischer Deutung nicht „werthlos“ ist. Im Gegenteil: Die Analyse der vorherrschenden Sichtweise im Recht, wonach Fakten und Normen strikt zu trennen sind, hat gezeigt, wie wenig fundiert dieselbe ist. Zugleich hat diese Analyse die Erkenntnis zu Tage gefördert, dass Rechtswissenschaft durch ihre mediale Leistung die Evolutionsfähigkeit des Rechts sicherstellt und dadurch gesellschaftlich funktional ist. Schließlich – und das ist vielleicht das Wichtigste – konnte sie zeigen, dass Erwartungen (vermittelt durch Rechtswissenschaft in der geschilderten Art) als Supplement des Rechts Bedingungen der Möglichkeit von Recht sind. Abschließend soll nochmals die eingangs gestellte Frage aufgegriffen werden. Ist eine Kritische Systemtheorie des Rechts ein umsetzungsfähiges Projekt? Vorsichtig und behutsam: Weil die vorliegend vorgenommene systemtheoretische Analyse an den Beobachtungs- und Kommunikationsschlaufen von Recht, Wissenschaft und Gesellschaft teilhat, wird sich ihr Potenzial, Kritik am Recht im geschilderten Sinne auszulösen, an Folgendem messen müssen: Ob sie den Gegenstand der Rechtswissenschaft (Erkenntnisse über Recht) verändert und damit auch den Gegenstand des Systems, in welchem diese Veränderung stattfindet: das Recht.

141 Vgl. oben, S. 381. 142 N. Luhmann (Fn. 12), S. 10. 143 Vgl. oben, S. 385 ff.

Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. iur Marc Amstutz, LL.M. (Harv.), lehrt Wirtschaftsrecht, Rechtstheorie und Rechtssoziologie an der Universität Freiburg i.Üe. Jüngere Publikationen: „The Constitution of Contractual Networks“, in: Marc Amstutz/Gunther Teubner (Hg.), Networks: Legal Issues of Multilateral Co-operation, London u.a. 2009; „Rechtswissenschaft“, in: Philipp Sarasin/Marianne Sommer (Hg.), Evolution: Ein interdisziplinäres Handbuch, Stuttgart/Weimar 2010; „Globalizing Speenhamland: On the Transnational Metamorphosis of Corporate Social Responsibility“, in: Christian Joerges/Josef Falke (Hg.), Karl Polanyi: Globalisation and the Potential of Law in Transnational Markets, London u.a. 2011; „Eroding Boundaries: On Financial Crisis and an Evolutionary Concept of Regulatory Reform“, in: Poul F. Kjaer/Gunther Teubner/Alberto Febbrajo (Hg.), The Financial Crisis in Constitutional Perspective: The Dark Side of Functional Differentiation, London u.a. 2011. Prof. Pasquale Femia lehrt Privatrecht und Transnationales Privatrecht an der Universität Neapel 2. Er ist Koordinator des Doktoratsprogramms „Zivilistische Probleme der Person“ an der Universität Benevento. Jüngere Publikationen: „Segni di valore“, in: Lucia Ruggeri (Hg.), Giurisprudenza della Corte europea dei diritti dell’uomo e influenza sul diritto interno, Neapel 2012; „Against the ‚Pestilential Gods‘. Teubner on Human Rights“, in: Rechtsfilosofie & Rechtstheorie 40 (2011). Prof. Dr. phil-habil. Joachim Fischer lehrt Allgemeine Soziologie und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden. Seit 2011 ist er Präsident der Helmuth-Plessner-Gesellschaft. Jüngere Publikationen: Wie sich das Bürgertum in Form hält. Reihe zu Klampen Essay, Springe 2012; Philosophische Anthropologie. Eine Denkrichtung des 20. Jahrhunderts. Um ein Nachwort erweiterte Neuausgabe, Freiburg/München Juni 2013, i.E.

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Prof. Dr. iur. Andreas Fischer-Lescano, LL.M. (EHI), lehrt Öffentliches Recht, Europarecht, Völkerrecht und Rechtstheorie an der Universität Bremen. Er ist geschäftsführender Direktor des Zentrums für europäische Rechtspolitik (www.zerp.eu) und Mitherausgeber der Zeitschrift Kritische Justiz. Jüngste Veröffentlichungen: Der Kampf um globale soziale Rechte (mit Kolja Möller), Berlin 2012; Rechtskraft, Berlin 2013, i.E., und „Postmoderene Rechtstheorie als kritische Theorie“, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 2013, i.E. Dr. Lyana M.A. Francot-Timmermans, LL.M., lehrt Rechtstheorie und Rechtsphilosophie an der Universität Utrecht in den Niederlanden. Sie ist Senior Researcher an der Freien Universität Amsterdam im Rahmen der Forschungsgruppe „Boundaries of Law“ und der Sonderforschungsgruppe „Time&Law“. Jüngste Veröffentlichung: „Eyes wide shut – On Risk, Rule of Law and Precaution“ (mit Ubaldus de Vries) in: Ratio Juris 26:2 (Juni 2013), i.E. Prof. Dr. rer. soc. Peter Fuchs ist 1949 geboren, arbeitete von 1972 bis 1984 als Heilerziehungspfleger. 1985 bis 1989 studierte er Sozialwissenschaften und Soziologie in Bielefeld, Dortmund und Hagen. Die Promotion erfolgte 1991 in Gießen. Seit 1992 ist er Professur für Allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung an der Hochschule Neubrandenburg, seit August 2007 ist er im Ruhestand. Jüngere Publikationen: Die Verwaltung der vagen Dinge, Gespräche zur Zukunft der Psychotherapie, Heidelberg 2011; Der Papst und der Fuchs – eine fabelhaft unaufgeregte Unterhaltung, Weilerswist 2012. Isabell Hensel ist seit 2007 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. 2012 legte sie das zweite juristische Staatsexamen am Landgericht Frankfurt ab. Sie ist zusammen mit Malte Gruber und Rudolf Wiethölter Mitveranstalterin des privatrechtstheoretischen Seminars an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt/M. Jüngere Publikation: „Klangpotentiale. Eine Annäherung an das Rauschen des Rechts“, in: Christian Joerges/Peer Zumbansen (Hg.), Politische Rechtstheorie Revisited. Rudolf Wiethölter zum 100. Semester, Bremen 2013, i.E. Dr. Martin Herberg ist Soziologe und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen. Seine Forschungsschwerpunkte sind Organisations-, Rechts- und Umweltsoziologie. Jüngere Publikationen: „Bringing Professions back in“, in: Christian Joerges/Josef Falke (Hg.), Karl Polanyi, Globalisation and the Potential of Law Oxford 2010; „Global Governance Networks in Action“, in: Olaf Dilling/Martin

A UTORINNEN

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A UTOREN

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Herberg/Gerd Winter (Hg.), Transnational Administrative Rule-Making, Oxford 2010. PD Dr. Tanja Hitzel-Cassagnes ist Mitarbeiterin im Bereich Politische Theorien und Ideengeschichte des Instituts für Politikwissenschaft der Leibniz Universität Hannover. Sie ist Mitherausgeberin der Zeitschrift Kritische Justiz. Jüngere Publikationen: Die Verfassung des Transnationalen. Reflexive Ordnungsbildung jenseits des Staates, Berlin 2012; Recht auf Wiedergutmachung. Geschlechtergerechtigkeit und die Bewältigung historischen Unrechts, Leverkusen 2013, i.E. Johan Horst, LL.M. (Georgetown), ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Sonderforschungsbereich „Staatlichkeit im Wandel“ der Universität Bremen. Seit dem Abschluss der Zweiten Juristischen Staatsprüfung in Berlin arbeitet er zu Fragen der Rechtstheorie und des Wirtschaftsvölkerrechts. Jüngere Publikation: „Das Pönalisierungsverbot aus Art. 31 Abs. 1 GFK“ (mit Andreas FischerLescano), in: Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 3/2011. Kolja Möller ist assoziiertes Mitglied am DFG-Graduiertenkolleg „Verfassung jenseits des Staates“ an der HU Berlin, Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für europäische Rechtspolitik an der Universität Bremen. Jüngere Publikationen: Der Kampf um globale soziale Rechte (mit Andreas Fischer-Lescano), Berlin 2012; „Die Verfassung als Hybrid“, in: Andreas Fischer-Lescano/Joachim Perels/Thilo Scholle (Hg.), Der Staat der Klassengesellschaft. Rechts- und Sozialstaatlichkeit bei Wolfgang Abendroth, Baden-Baden 2012. Dr. Sven Opitz ist Postdoc-Mitarbeiter im Bereich Soziologische Theorie an der Universität Hamburg. Er ist Mitherausgeber der internationalen Zeitschrift Foucault Studies. Jüngere Publikationen: An der Grenze des Rechts: Inklusion/Exklusion im Zeichen der Sicherheit, Weilerswist 2012; „Gibt es einen normativen Eigensinn der (R)Evolution? Über Streit und Ästhetik in der Soziologie des Politischen“, in: Soziale Welt 63 (2012); „Global Territories: The Offshore as a Zone of Dis/Connectivity“, in: Distinktion 13 (2012) (mit Ute Tellmann). Dr. Thore Prien ist Lehrkraft mit besonderen Aufgaben am Institut für Soziologie der Universität Flensburg. Jüngere Publikation: Fragmentierte Volkssouveränität. Recht, Gerechtigkeit und der demokratische Einspruch in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2010.

406 | K RITISCHE S YSTEMTHEORIE

Prof. Dr. iur. Moritz Renner ist Inhaber der Lichtenberg-Professur für transnationales Wirtschaftsrecht und Theorie des Wirtschaftsrechts am Fachbereich Rechtswissenschaft der Universität Bremen. Jüngere Publikationen: „Occupy the System! Societal Constitutionalism and Transnational Corporate Accounting“, in: Indiana Journal of Global Legal Studies 20 (2012), und „Machtbegriffe zwischen Privatrecht und Gesellschaftstheorie“, in: Florian Möslein (Hg.), Private Macht und privatrechtliche Gestaltungsfreiheit, Tübingen 2013, i.E. Prof. Dr. iur. Gunther Teubner ist Professor für Privatrecht und Rechtssoziologie an der Universität Frankfurt. Er ist Principal Investigator am Exzellenz– cluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt sowie Professor am International University College, Turin. Jüngere Publikation: Verfassungsfragmente: Gesellschaftlicher Konstitutionalismus in der Globalisierung, Berlin 2012. Dr. iur. Lars Viellechner, LL.M. (Yale), ist Wissenschaftlicher Koordinator des DFG-Graduiertenkollegs 1263 „Verfassung jenseits des Staates“ an der Humboldt-Universität zu Berlin. Jüngere Publikationen: „Responsiver Rechtspluralismus: Zur Entwicklung eines transnationalen Kollisionsrechts“, in: Der Staat 51 (2012); „The Constitution of Transnational Governance Arrangements: Karl Polanyi’s Double Movement in the Transformation of Law“, in: Christian Joerges/Josef Falke (Hg.), Karl Polanyi, Globalisation and the Potential of Law in Transnational Markets, Oxford/Portland 2011. Jun.-Prof. Dr. Elke Wagner lehrt Mediensoziologie an der Johannes-Gutenberg Universität Mainz. Jüngere Publikationen: „Theorie ohne Kritik?“, in: Oliver Jahraus et al. u.a. (Hg.), Luhmann-Handbuch, Stuttgart 2012; „Kulturen des Kritischen. Zum Strukturwandel des Öffentlichen am Beispiel medizinkritischer Publika“, in: Soziale Systeme 17/1 (2011).

Sozialtheorie Ullrich Bauer, Uwe H. Bittlingmayer, Carsten Keller, Franz Schultheis (Hg.) Bourdieu und die Frankfurter Schule Kritische Gesellschaftstheorie im Zeitalter des Neoliberalismus Juli 2013, ca. 350 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN 978-3-8376-1717-7

Wolfgang Bonss, Oliver Dimbath, Andrea Maurer, Ludwig Nieder, Helga Pelizäus-Hoffmeister, Michael Schmid Handlungstheorie Eine Einführung August 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1708-5

Daniel Innerarity Demokratie des Wissens Plädoyer für eine lernfähige Gesellschaft August 2013, ca. 280 Seiten, kart., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2291-1

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Sozialtheorie Joachim Renn Performative Kultur und multiple Differenzierung Soziologische Übersetzungen I Oktober 2013, ca. 270 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-2469-4

Rudolf Stichweh Inklusion und Exklusion Studien zur Gesellschaftstheorie (2., erweiterte Auflage) Juli 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN 978-3-8376-2294-2

Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.) Moderne und Religion Kontroversen um Modernität und Säkularisierung April 2013, 540 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1966-9

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