Generation 1989?: Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose [1. Aufl.] 9783839419618

Wer zählt sich zu einer Generation? Anhand einer empirischen Untersuchung der so genannten »89er« fragt Martin Gloger na

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German Pages 282 Year 2014

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Inhalt
Vorwort und Danksagung
1. Einleitung
1.1 Darstellung und Begründung des Themas
1.2 Stand der Forschung
1.3 Methodisches Vorgehen
1.4 Aufbau der Arbeit
2. Wie über die 89er gesprochen wird
2.1 Diskursanalytische Überlegungen
2.1.1 68/89 als Dichotomes Paar
2.1.2 89 als leerer Signifikant
2.2 Zwei Versuche der medialen Konstruktion eines Generationslabels
2.3 Ein Versuch der Bildung einer strategischen Gruppe
2.4 Das Problem der Generation (Karl Mannheim)
2.5 Historische Zäsur
2.6 Wohlfahrtsstaatliche Generationen
2.7 Medien- und Konsum-Erfahrungen
3. Die empirische Erhebung
3.1 Wer spricht? Die empirische Beschreibung der Protagonisten der Selbstthematisierung als 89er – Darstellung einer möglichen Trägergruppe dieser Generationenrhetorik
3.1.1 Lagenanalyse nach Karl Mannheim
3.1.2 Soziale Ökologie menschlicher Entwicklung nach Urie Bronfenbrenner
3.1.3 Neue Verunsicherung und Krisenwahrnehmungen
3.1.4 Beschleunigung
3.1.5 „Verlust“ bisheriger Kritik- und Erklärungsmuster
3.1.6 Die Auswirkungen der Kohl Ära
3.2 Der Wiedervereinigun sprozess als günstige Gelegenheitsstruktur – Der Mauerfall als Handlungskontext
3.2.1 Die „Zaungästegeneration“
3.2.2 Die ostdeutschen Oberstufenschüler der Wendezeit
3.3 Westdeutschland – Auswirkungen der Wende und des Wiedervereinigungsprozesses
3.3.1 Biographische Gestaltungschancen
3.3.2 Politisches Prägeerlebnis
3.4 Ausblick auf die Fallstudien
4. Fallstudien
4.1 Westdeutschland
4.1.1 Fall 1: Der ironische Blick des „Anti-Experten“ Michael Kramer
4.1.2 Fall 2: Timo Albrecht: Der institutionalisierte Erfolgstyp zwischen avantgardistischem Anspruch und Realität des politischen Systems
4.1.3 Fall 3: Claudia Lange: „Wie ein Stein [...] dem Boden der Erinnerung …“
4.2 Ostdeutschland
4.2.1 Fall 4: Oliver Rieger: „…[w]eil ich dort begonnen habe, politisch zu arbeiten.“
4.2.2 Norbert Geck – Entwurzelung als politischer Deutungsanspruch
4.2.3 Fall 6: „Es ist keine große Bewegung, die irgendwo in eine Richtung marschiert“ – Carla Lindemanns Aufwachsen zwischen der Idylle DDR und der Realität des SED Regimes
5. Fazit und Ausblick
6. Literaturverzeichnis
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Generation 1989?: Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose [1. Aufl.]
 9783839419618

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Martin Gloger Generation 1989?

Sozialtheorie

Martin Gloger (Dr. rer. pol.) arbeitet als Berater im Bereich Erneuerbare Energien. Seine Interessenschwerpunkte sind soziologische Generationenforschung, Soziologie der Selbstthematisierung und des Filmes.

Martin Gloger

Generation 1989? Zur Kritik einer populären Zeitdiagnose

Dissertation Uni Kassel, FB 05 – Gesellschaftswissenschaften Tag der Mündlichen Prüfung: 28.06.2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Martin Gloger Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1961-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort und Danksagung | 7 1.

1.1 1.2 1.3 1.4

Einleitung | 9 Darstellung und Begründung des Themas | 9 Stand der Forschung | 20 Methodisches Vorgehen | 22 Aufbau der Arbeit | 23

Wie über die 89er gesprochen wird | 25 2.1 Diskursanalytische Überlegungen | 25 2.1.1 68/89 als Dichotomes Paar | 27 2.1.2 89 als leerer Signifikant | 32 2.2 Zwei Versuche der medialen Konstruktion eines Generationslabels | 34 2.3 Ein Versuch der Bildung einer strategischen Gruppe | 42 2.4 Das Problem der Generation (Karl Mannheim) | 44 2.5 Historische Zäsur | 46 2.6 Wohlfahrtsstaatliche Generationen | 58 2.7 Medien- und Konsum-Erfahrungen | 69 2.

3.

Die empirische Erhebung | 91

3.1 Wer spricht? Die empirische Beschreibung der Protagonisten der Selbstthematisierung als 89er – Darstellung einer möglichen Trägergruppe dieser Generationenrhetorik | 95 3.1.1 Lagenanalyse nach Karl Mannheim | 95 3.1.2 Soziale Ökologie menschlicher Entwicklung nach Urie Bronfenbrenner | 100 3.1.3 Neue Verunsicherung und Krisenwahrnehmungen | 118 3.1.4 Beschleunigung | 121 3.1.5 „Verlust“ bisheriger Kritik- und Erklärungsmuster | 123 3.1.6 Die Auswirkungen der Kohl Ära | 125 3.2 Der Wiedervereinigungsprozess als günstige Gelegenheitsstruktur – Der Mauerfall als Handlungskontext | 127 3.2.1 Die „Zaungästegeneration“ | 131 3.2.2 Die ostdeutschen Oberstufenschüler der Wendezeit | 133

3.3 Westdeutschland – Auswirkungen der Wende und des Wiedervereinigungsprozesses | 136 3.3.1 Biographische Gestaltungschancen | 136 3.3.2 Politisches Prägeerlebnis | 137 3.4 Ausblick auf die Fallstudien | 138 4.

Fallstudien | 141

4.1 Westdeutschland | 145 4.1.1 Fall 1: Der ironische Blick des „Anti-Experten“ Michael Kramer | 145 4.1.2 Fall 2: Timo Albrecht: Der institutionalisierte Erfolgstyp zwischen avantgardistischem Anspruch und Realität des politischen Systems | 160 4.1.3 Fall 3: Claudia Lange: „Wie ein Stein [...] dem Boden der Erinnerung …“ | 173 4.2 Ostdeutschland | 195 4.2.1 Fall 4: Oliver Rieger: „… [w]eil ich dort begonnen habe, politisch zu arbeiten.“ | 195 4.2.2 Norbert Geck – Entwurzelung als politischer Deutungsanspruch | 213 4.2.3 Fall 6: „Es ist keine große Bewegung, die irgendwo in eine Richtung marschiert“ – Carla Lindemanns Aufwachsen zwischen der Idylle DDR und der Realität des SED Regimes | 224 5.

Fazit und Ausblick | 245

6.

Literaturverzeichnis | 265

Vorwort und Danksagung

Das vorliegende Buch ist eine leicht überarbeitete Version meiner Dissertation im Fach Soziologie, die der Uni Kassel im Januar 2010 vorlag. Ich danke Heinz Bude für Anregung und Betreuung sowie Markus Schroer für die Übernahme des Zweitgutachtens. Das Thema der vorliegenden Arbeit ist Selbstthematisierung, so sei mir erlaubt, einige Anmerkungen des Prozesses, der von der ersten Idee zu dieser Arbeit bis zur Abgabe nachzuzeichnen. Bei der Bewältigung vieler Unsicherheiten in intellektueller und monetärer Hinsicht hin ich vielen Personen zum Dank verpflichtet. In der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre diese Arbeit ohne die Unterstützung vieler Freunde und Freundinnen, die meinen Arbeitsprozess begleite haben: Im Sommer 2005 stellte ich erstmals die erstaunte Frage, „Hat sich schon mal jemand selbst als 89er bezeichnet?“ Der Prozess von der Diskussion dieser verwunderten Frage über Kritik meiner ersten Skizzen bis hin zur Unterstützung beim Abschluss wäre ohne sie sicher anders verlaufen. Ob es nun besondere Gründe gibt, warum ausgerechnet dieses Thema meine besondere Aufmerksamkeit bekommen hat, stellt eine besondere Dechiffrierungsleistung dar, die an dieser Stelle nicht geleistet werden kann. Besonderen Dank verdienen nicht zuletzt meine Interviewpartnerinnen und Partner. Sie haben sich auf meine Fragen eingelassen und ohne Wissen zu können, was am Ende dabei herauskommen wird. Anregungen ganz anderer Art habe ich meinem Sohn David Benjamin zu verdanken. Unsere gemeinsamen Aktivitäten sind eine erfreuliche Zerstreuung nach Arbeit und Weiterqualifikation, sondern auch weil er es schafft, mir immer wieder zu zeigen, dass die vordergründig einfachsten Fragen doch die schwierigsten sind. Die Fertigstellung dieser Arbeit wurde durch ein Abschlussstipendium der Dr. Lothar Beyer Stiftung finanziert. Zudem danke ich Ilse Costas für die Überlassung einer Wissenschaftlichen Hilfskraftstelle, ohne die sicher vieles anders gekommen wäre. Auch war es eine große Bereicherung, eine Vielzahl von Studierenden in den letzten Jahren betreuen zu können.

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In den schwierigen Phasen meines Lebens konnte ich mich immer auf die Unterstützung meiner Eltern verlassen. Ihnen sei diese Arbeit in Liebe und Dankbarkeit gewidmet. Göttingen, im November 2011

1. Einleitung

1.1 D ARSTELLUNG

UND

B EGRÜNDUNG DES T HEMAS

In dieser Arbeit geht es um Selbstthematisierungen im öffentlichen Raum mithilfe eines Generationslabels. Es wird gefragt, welche Vorstellungen eines Generationenschicksals hinter den Wortmeldungen als Vertreter einer Generation stehen. Den wohl bekanntesten Versuch eines zeitgenössischen Generationslabels stellt Douglas Couplands Roman „Generation X“ dar (Coupland 1995). Ein schillernder Versuch, die Jugend der 1990er Jahre – vor allem im nordamerikanischen Raum – zu portraitieren. Generation X regte eine Vielzahl ähnlicher Versuche an. In der Bundesrepublik Deutschland sind vor allem die Etiketten „Generation Golf“ (Illies 2003) und die „89er“ bekannt geworden, letztere stehen im Mittelpunkt der vorliegenden Arbeit. Das Generationslabel der 89er ist umstritten: Im Feuilleton der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ wurde 1994 erstmalig die Frage nach dieser Generation aufgeworfen, wobei die Antwortlage zunächst einen skeptischen Ton aufwies. Ein Jahr später schrieb der Politologe Claus Leggewie ein auch über die Sozialwissenschaft hinaus viel beachtetes Buch über die 89er (Leggewie 1995). Auch dieser Versuch, die Jugendgeneration der 90er Jahre zu portraitieren, überzeugte nicht vollends. Das Thema bleibt kontrovers. Es liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei dem Etikett der „89er-Generation“ um eine medial vermittelte Chimäre handelt, einen gescheiterten Versuch, die Jugendgeneration der 1990er Jahre mithilfe einer eingängigen Formel zu beschreiben. Eine Antwort auf die Frage, ob von einer einheitlichen Jugendgeneration überhaupt die Rede sein kann, und auch, ob sich die adressierten Personen überhaupt selbst als eine Generation verstehen, bleibt zunächst offen. Michael Wildt und Ulrike Jureit nennen die 89er als ein Beispiel für die unzulässige Vermischung von Selbst- und Fremdthematisierung: Die Wissenschaft würde eine 89er Generation beschreiben, die selbst keine Generation sein wolle (Jureit, Wildt 2005: 18). Zusammenfassend lässt sich die skeptische Reaktion der Zielgruppe zu diesem Zeitpunkt mit dem

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Titel eines kurzen Textes von Marko Martin: „Wir sind alle anders“ charakterisieren (Martin 1995: 1). Das anfängliche Fehlen von Selbstthematisierungen als 89er schien zunächst die Vermutung zu bestätigen, dass es sich hierbei um ein reines Medienphänomen handeln könne, etwas später kam es jedoch zu ersten Wortmeldungen unter dem Label der 89er: In der Parteipolitik sind die 89er Matthias Berninger und Tarek Al-Wazir – beide Bündnis 90/ DIE GRÜNEN – Silvana Koch-Mehrin (alle drei Jahrgang 1970) und Michael Kauch (Jahrgang 1967) für die FDP zu nennen. Diese Altersgruppe ist nicht nur in der Politik besonders aktiv. In der Bildenden Kunst sind als Vertreter des „Neuen Realismus“ vor allem Norbert Bisky (Jahrgang 1970) und Frank Bauer (Jahrgang 1964) und für die Fotographie Wolfgang Tillmanns (Jahrgang 1968) bekannt geworden. Sie gelten als die Portraitisten ihrer Generation – der 89er-Generation. Dargestellt werden alltägliche Szenen in Clubs und Bars, im „Mainstream“ der Gesellschaft aber auch in der Subkultur. In der Literatur melden sich Exponenten dieser Generation vor allem im popliterarischen Genre zu Wort: Auf dem Klappentext des Gesprächsbandes „Tristesse Royale“ wird mit den Worten geworben: „Zehn Jahre nach 1989 formiert sich in Deutschland eine neue Generation – ihr Manifest heißt Tristesse Royale“ (Bessing u.a. 2005). Der Überzeugungsgrad dieser Phrase sei dahingestellt. Wesentlich erscheint jedoch, dass das Auftreten einer neuen Generation in den 1990ern erwartet wurde. Die zentrale Vermutung war, dass diese durch die historische Zäsur 1989/90 maßgeblich beeinflusst sei. In dieser Arbeit soll der Fokus auf diese Selbstthematisierungen als 89er gelegt werden. Unter Selbstthematisierung sollen Versuche der Reflexion der eigenen Biographie in einer öffentlichen Debatte verstanden werden. Anhand welcher Deutungs- und Identifikationsangebote wird eine Anschlussfähigkeit zu den Gleichaltrigen hergestellt? Welche dieser Angebote erscheinen überzeugend genug um das Gefühl einer Gemeinsamkeit bilden und vermitteln zu können? Die Zeitschrift „Wochenpost“ versuchte einige Zeit nach der Debatte um die 89er erneut, Selbstexplikationen dieser Generation zu stimulieren. Es gelang, Personen zu portraitieren, die sich als 89er verstanden. Nach Abebben der publizistischen Debatte Mitte der 1990er Jahre ist eine Eigenthematisierung junger Personen, die Führungspositionen sowohl in der etablierten Parteipolitik als auch anderen zentralen Bereichen – z.B. Medien – anstreben, zu beobachten. Es fallen besonders Personen auf, die Ende der 60er/ Anfang der 70er Jahre geboren wurden – insbesondere zwischen 1968 und 1971. Dies wirft die Vermutung auf, dass sich hinter dieser Rhetorik eine durchaus aktive Trägergruppe verbirgt. Eine wesentliche Rolle in der Generierung und Verbreitung dieses Generationenbewusstseins spielen offenbar die „neuen Kulturvermittler“ (vgl. Bourdieu 2006 : 159). Das Identifikationsangebot der Ge-

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neration erscheint besonders attraktiv, alternative Angebote wie „Nation“, „Klasse“ und „Schicht“ haben an Überzeugungsfähigkeit verloren und gelten als ideologisch vorbelastet. Diese Arbeit setzt an dieser Stelle an: Es wird anhand der Wortmeldungen als 89er gefragt, wie man sich ein gemeinsames Generationenschicksal vorstellen kann. Welche Erfahrungen und biographischen Daten geben Anlass zu der Vermutung, dass es ein gemeinsames Generationenschicksal gibt? Durch die empirische Befragung von Personen, die sich als 89er verstehen, soll nachvollzogen werden, wie die Kategorie der Generation in die individuelle Lebensgeschichte eingefügt wird, um bestimmte Sachverhalte zu erklären und für welche sie zurückgewiesen werden muss. Für welche Sachverhalte suchen die Erzähler Anschluss an die Gleichaltrigen – stellen sich das Schicksal ihrer Generation vor – für welche Sachverhalte werden alternative Deutungsmuster eingeführt und schließlich: Welche Erfahrungen verbleiben individuell? Diese Frage stellt sich vor allem deshalb, weil es derzeit kaum eine Debatte über die 89er gibt. Über die 89er wurde Mitte bis Ende des 1990er Jahre viel geschrieben und spekuliert, seit einigen Jahren ist es aber still um dieses Label geworden. Die Vermutung, dass es sich hier um ein reines Medienphänomen, einen „PR-Gag“ einiger jugendlicher Exponenten der im Bundestag vertretenen Parteien handelt, scheint sich zu bestätigen. Umso mehr überraschte es, dass am 18. Oktober 2008 in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (F.A.Z.) ein Leitartikel erschienen ist, der das Etikett der 89er erneut aufgenommen hat. Die 89er werden als die Hauptverliererkohorte der Finanzkrise 2008 beschrieben: Neue Verunsicherungen, denen sich die Angehörigen dieser Generation ausgesetzt sehen, standen im Vordergrund, es wird kein Versuch unternommen, diese Rhetorik näher zu begründen. Es scheint vielmehr ein grundsätzliches Einverständnis über diese Generationengestalt zu geben (Sattar 2008). Das Etikett der 89er scheint – trotz aller Kritik, die man an dieser Rhetorik üben kann – ein Gefühl der Gemeinsamkeit innerhalb der Gruppe der in den frühen 1970er Jahren geborenen vermitteln zu können. Die Eingängigkeit dieses Generationslabels verdeutlicht eine weitere Selbstthematisierung aus jüngster Zeit: Etwas aus der Reihe fällt der seit 2007 amtierende IG Metall-Vorsitzende Berthold Huber (Jahrgang 1950), der in einem Portrait der Wochenzeitschrift „DER SPIEGEL“ mit den Worten „Ich bin mehr 89er als 68er“ zitiert wird (Tietz 2009: 73). Huber ist zwar zu alt, um zu der Altersgruppe gerechnet zu werden, die im Mittelpunkt dieser Arbeit steht. Aber dieses Beispiel verdeutlicht besonders die Strahlkraft, die von diesem Generationslabel auszugehen scheint: Eine Person, die an maßgeblicher Stelle der Bundesrepublik Deutschland Politik gestaltet, beschreibt sich selbst mithilfe dieser Generationenrhetorik. Es ist für die Zukunft mit weiteren Wortmeldungen zu rechnen, denn die genannten Selbstthematisierungen in jüngster Zeit kamen

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mehr oder weniger unerwartet. Ein eher marginaler Versuch dieses Label der 89er im Sinne einer „konservativen Jugendrevolte“ zu vereinnahmen, wurde vonseiten des Autoren- und Herausgeberkreises der Wochenzeitschrift „Junge Freiheit“ mit dem Buch: „Wir ’89er“ (Bubik 1996) unternommen. Inhaltlich wird lediglich eine Spielart des „Jungkonservatismus“ der 1920er Jahre vertreten. Anknüpfungspunkte zu den Ereignissen des Jahres 1989 sind bis auf einen Beitrag – den Erlebnissen eines jungen Grenzsoldaten an der innerdeutschen Grenze – kaum zu erkennen. Ein Generationenkonflikt wird zwar postuliert, aber außer der Vorstellung eines linken Establishments, dem eine hegemoniale Position im politischen Diskurs der Bundesrepublik Deutschland zugeschrieben wird, und das folglich die Hauptzielscheibe der jungen konservativen Kritik ist, bleibt unklar, wo genau das gemeinsame Schicksal dieser Generation aus Sicht der Autoren und Herausgeber Bubiks Sammelbandes liegt. Nach einer einmaligen Buchveröffentlichung wurde kein weiter nennenswerter Versuch unternommen, dieses Label zu vereinnahmen. Das Thema „Neue Rechte“ kann daher als randständig für die Frage nach der Selbstthematisierung der 89er Generation betrachtet werden. Selbst wenn die Kritik Vertreter einer „Neuen Rechten“ zum Teil fälschlicherweise als 89er bezeichnet.1 Auch von den Kritikern wird oft versäumt, das Generationenthema in ausreichendem Maße zu begründen. Bedeutsam erscheint für die Debatte um eine neue Generation in der Bundesrepublik ein Gegensatz zwischen der „etablierten 68er Generation“ und der erwarteten, bzw. sich in Konstitution befindlichen 89er Generation zu sein. Die Vorstellung einer linken Diskurshegemonie nach 1968 findet sich in alltäglich wahrzunehmenden Aussagen wieder, man könne seine Eltern nur noch ärgern, wenn man Steuerberater wird, CDU wählt oder mit CDUlern Pizza isst.2 Diese hegemoniale Position im politischen Diskurs kann man infrage stellen, da sich nach 1989/90/91 die politische Situation verändert hat und komplexer geworden ist. Insofern könnte man von der Rhetorik einer 89er Generation als einer Wortmeldung der Protagonisten einer komplizierter werdenden Welt sprechen. Obwohl dieses Generationslabel nahe legt, dass es sich um eine Wortmeldung der

1

Dies tun z.B. Kurt Lenk und seine Mitarbeiter, indem sie die jugendlichen Anhänger des Jungkonservatismus der 1920er Jahre aufgrund des Sammelbandes der Junge Freiheit-Redaktion als 89er bezeichnen (Otten et al. 1997: 12), ohne reflektiert zu haben, ob dies zutrifft – wieder eine Frage von Selbst- und Fremdthematisierung.

2

Für Spekulationen über eine schwarz-grüne Koalition sorgte ab 1994 eine Serie informeller Treffen von CDU und GRÜNEN Abgeordneten, die als „Pizza-Connection“ von sich reden machte (Wagner 1998).

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Zeitzeugengeneration des Mauerfalls handelt – spontan fallen wenig andere Lesarten für die Zahl 89 ein – ist aus der „Selbstexplikationsliteratur“ wenig über den Mauerfall und den Wiedervereinigungsprozess zu erfahren. Ein Beispiel hierfür ist Sven Regeners Roman „Herr Lehmann“. Es wird ein Wahlkreuzberger in der Lebensphase um seinen 30. Geburtstag herum beschrieben. Der Fall der Mauer besitzt für das Leben des Protagonisten jedoch keine Relevanz (Regener 2003). Weiter fällt auf, dass diese Debatte in erster Linie von Westdeutschen über Westdeutsche geführt wird: Ein direkter Einfluss der historischen Zäsur erscheint nicht nachvollziehbar. Der Journalist Christoph Amend (Jahrgang 1974) fragt sich anlässlich eines Vergleiches der eigenen Generation mit der Generation seiner Großeltern nach dem Thema seiner Generation. Das Thema der Großväter ist der Krieg. Beim Blick auf seine eigene Generation erscheint die Frage schwieriger zu beantworten: „Das Thema meiner Generation? Vielleicht der Fall der Mauer. Für Westdeutschland wird das ja immer bestritten, denn der Alltag für einen Teenager aus Bergisch Gladbach, Kiel oder Augsburg ist doch durch die Wiedervereinigung nicht anders geworden. Jedoch auf einer anderen Ebene hat sich für die westdeutsche Jugend etwas geändert. Mit der Vereinigung ist der Krieg in das Leben der Deutschen getreten: Zunächst Einsätze im Kosovo, dann in Mazedonien und in Afghanistan“ (Amend 2003: 81).

Das Thema Mauerfall wird in diesem Textbeispiel zwar kurz diskutiert, besitzt aber anscheinend wenig Relevanz. Mittelbare Folgen dieses Ereignisses sind auszumachen: die steigende außenpolitische Verantwortung der Bundesrepublik, die Amends Generation erstmalig zu einer Kriegsteilnehmergeneration der Bundesrepublik macht – auch wenn dies im Vergleich zur Generation der Großeltern nicht in vollem Ausmaß zu überzeugen kann: Es ist ein vergleichsweise kleiner Teil eines Jahrganges von aktuellen Militäreinsätzen der Bundeswehr betroffen, während man sich den beiden Weltkriegen kaum entziehen konnte. Neben der neuen außenpolitischen Situation lassen sich weitere mittelbare Wirkungen des Mauerfalls für Westdeutschland erkennen, die vor allem in Form eines Beschleunigungsschubes Anfang der 1990er Jahre wahrgenommen wurden. Dem ostdeutschen Systemumbruch wird von Christoph Amend in diesem Zitat eine geringe Relevanz eingeräumt. Es wird nicht diskutiert, welche Bedeutung er für die ostdeutsche Heranwachsendengeneration der Wendezeit gehabt haben könnte. Der westdeutsche Blick wird selbstverständlich beschrieben, ob seine ostdeutschen Alterskollegen diese politischen Entwicklungen ähnlich bewerten würden, bleibt offen. Die mittelbaren Folgen des Mauerfalls sind aber nicht das wesentliche Motiv in dieser Rhetorik: Eine Wortmeldung dieser Jahrgänge erfolgt vor

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allem als die einer Generation, die neue Verunsicherungen erfährt, für die ein ökonomisch glückliches Schicksal nicht in dem Maße selbstverständlich ist, sie meldet sich als wohlfahrtsstaatliche Verlierergeneration zu Wort.3 Die Aussagen, wie es dieser Generation ökonomisch ergeht, sind allerdings widersprüchlich. Die „New Economy“ eröffnete zunächst viele Chancen. Am Beginn ihrer Geschichte stand die Erwartung eines rasanteren ökonomischen Aufstiegs, die „dotcom“-Krise zerstörte hingegen viele Karrierehoffnungen. Diese Deklassierungsängste sind bis in die Generation der derzeitigen Studierenden und Studienabsolventen zu erkennen, die sich als Generation precaire/Generation Praktikum bezeichnen, bzw. bezeichnet werden.4 Thematisiert wird vor allem das Zunehmen atypischer Beschäftigungsformen, worin ein Unterschied zu der eigenen Elterngeneration gesehen wird. Als wesentliche Gemeinsamkeit erscheint die Wahrnehmung einer schwieriger werdenden Situation auf dem Arbeitsmarkt. Christoph Amend schreibt hierzu: „Meine Generation ist groß geworden in den goldenen Neunzigerjahren (sic!): Das Internet revolutionierte unsere Welt, die Wirtschaft boomte, die Börsenwerte stiegen und stiegen – es ging immer nur aufwärts. Die Avantgarde meiner Generation konnte sich schon nach wenigen Jahren über ein höheres Einkommen freuen als unsere Eltern am Ende ihrer Karriere. Wir hatten uns daran gewöhnt, Geld mit vollen Händen auszugeben, und glaubten, verstanden zu haben, wie es im Leben läuft. Wir haben uns getäuscht. Seit ein, zwei Jahren erlebt meine Generation eine Zeitenwende. Vieles von dem, was wir in den vergangenen Jahren gelernt haben, ist nicht mehr gültig. Einige meiner Freunde haben gerade ihren Arbeitsplatz verloren. Einer hat seine Freundin verlassen, kommt nicht weg vom Kokain und muss zusehen, wie seine kleine Firma Pleite geht. Ein anderer hat trotz der Arbeitsmarktkrise gekündigt und ist für ein paar Monate zurück nach Hause gezogen, in eine

3

Vgl. den weiter oben zitierten Leitartikel in der FAZ.

4

In der Literatur sind wird diese Problematik in „Praktikantenromanen“ dargestellt. Antonio Incorvaia (Jahrgang 1974) und Alessandro Rimassa (Jahrgang 1975) beschreiben die Alltagswelt eines jungen Akademikers, der einem Gehalt von rund 1000 Euro kaum leben kann (Incorvaia; Rimassa 2007), bekannt geworden sind als semifiktionaler Bericht von Nikola Richter (Jahrgang 1976) über die Lebenspraktikanten (Richter 2006) bis hin zu der aktuellen Hochschulabsolventenkohorte, wie sie von Sebastian Christ (Jahrgang 1981) beschrieben wird (Christ 2009). Aufschlussreich ist auch Jakob Heins (Jahrgang 1971) Portrait eines jungen Mannes, der nach Abbruch seines Studiums zunächst seinen Nebenjob (Briefträger) in Vollzeit ausübte. Nach rund zehn Jahren wird er dort entlassen (Hein 2007).

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Kleinstadt im Ostwestfälischen. Er glaubt, dort etwas zu finden, was es in der Großstadt gibt, er weiß nur nicht, was“ (Amend 2003: 10f.).

Zunächst lief alles gut für diese Generation. Es offenbarten sich viele neue Chancen, nach wenigen Jahren im Beruf waren sie gut angekommen. Als Maßstab des Erfolges wird ein Vergleich zur Generation der eigenen Eltern eingeführt. Christoph Amend weist darauf hin, dass die beschriebenen jungen Berufstätigen ein höheres Einkommen vorzuweisen hätten als ihre eigenen Eltern am Ende ihrer Karriere. Ein aufwändiger Lebensstil scheint selbstverständlich. Mit der Erkenntnis, dass diese „Glückssträhne“ nicht anhalten würde, kommen neue Verunsicherungen auf. Der Aufschwung zerplatzt wie eine Seifenblase und hinterlässt bei seinen vormals erfolgreichen Protagonisten eine negative Bilanz, was sie wiederum von ihrer Elterngeneration unterscheidet. Sie können auf weniger soziale Sicherungen hoffen, als es ihre Eltern konnten. Die Welt kann nicht mehr in den Kategorien von Max Webers „Protestanten“ erklärt werden, der den beruflichen und ökonomischen Erfolg an die Rationalisierung der Lebensführung knüpft. Das Eintreten von Glück und Scheitern wird unberechenbar, Scheitern wird wie eine Katastrophe wahrgenommen, die plötzlich hereinbricht. Nicht nur Karrieren erscheinen unberechenbar, sondern auch die Sicherungssysteme werden als ausgedünnt beschrieben. Johannes Goebel (Jahrgang 1968) und Christoph Clermond (Jahrgang 1970) schreiben hierzu: „Anders als die 68er nämlich müssen die 89er und ihre Nachfahren ohne das dehnbare Netz einer Gesellschaft auskommen, die mit Vollbeschäftigung und immer neuen Aufgaben im öffentlichen Dienst nach einiger Zeit noch jeden Ausreißer wieder ins gemeinsame sozialdemokratische Boot geholt hat!“ (Goebel; Clermond 1998: 127).

Dieses Zitat ist in zweierlei Hinsicht aufschlussreich: Es wird erstens als wesentliches Merkmal der 89er die Notwendigkeit hervorgehoben, dass sie eigene Strategien im Umgang mit diesen neuen Verunsicherungen entwickeln müssen. Es gibt weniger soziale Netze, die einen auffangen können. Es wird nicht behauptet, dass es der jüngeren Generation durchweg schlechter ergehe, als den Älteren, sie sind aber größeren Verunsicherungen ausgesetzt, weil auf soziale Sicherungssysteme weniger Verlass ist. Zweitens wird als Vergleich zu der ersten „Verlierergeneration“ die prominente „Gewinnergeneration“ der Bundesrepublik eingeführt. Während die vorhergegangenen Generationen auf einen expandierenden Wohlfahrtsstaat hoffen konnten, werden die 89er und die Jüngeren als Zeitgenossen einer Gesellschaft geschildert, die viele ihrer Ideale zurückschrauben muss. Die Protagonisten dieser Generationenrhetorik haben das Gefühl, in neuen Zeiten zu Leben und daran an-

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gepasste neue Bewältigungsstrategien entwickeln zu müssen. Der von Johannes Goebel und Christoph Clermond beschriebene „Lebensästhet“ (Goebel; Clermond 1998) kann als ein Vorläufer der „digitalen Boheme“ interpretiert werden, wie sie Holm Friebe und Sascha Lobo (Friebe; Lobo 2006) schildern. Beide Konzepte sollen es ermöglichen, neue Strategien und Perspektiven angesichts des Umganges mit neuen Verunsicherungen zu geben. In diesen eher optimistischen Entwürfen wird statt auf die soziale Absicherung besondere Hoffnung auf Freundeskreise und berufliche Netzwerke gesetzt. Ein umfassendes Portrait der jungen Erwerbstätigengeneration zu liefern, wird nicht beansprucht. Es wird eine Gruppe junger, gut ausgebildeter Personen, die vor allem in der Kreativbranche tätig sind, beschrieben, deren Eigenschaften nicht ausschließlich die der jeweiligen Generation sind. Diese Strategien können sich auch Ältere aneignen (Friebe; Lobo 2006: 18), was aber kein Argument gegen die Vermutung ist, dass hier der Stil einer Generation vorliegen kann, der auch auf Ältere ausstrahlt. Dafür spricht, dass die dargestellte Lebenswelt, die sich vor allem übereine Teilhabe an technischen Innovationen (Digitalisierung) definiert, die die Welt der Jüngeren ist. Auch Probleme, eine Anstellung in ökonomisch turbulenten Zeiten zu finden, stellen sich jungen Absolventen nachdrücklicher. Das bisher Gesagte lässt sich wie folgt zusammenfassen: Die eigentliche Erfahrung, die mit der Rhetorik einer „89er-Generation“ zum Ausdruck gebracht werden soll, ist die ökonomischer Verunsicherungen, während das Datum der historischen Zäsur der Annoncierung dient. Die 89 stellt einen Gegenpol zu den mächtigen Vorbildern der 68er-Generation dar. Das Zahlenspiel zwischen 68 und 89 ist zentral für die Debatte um die 89er und wird im ersten Kapitel der Arbeit eingehend behandelt. Die Relevanz der Zahl 1989 scheint vor allem eine symbolische zu sein. Statt der unmittelbaren Erfahrungen der historischen Zäsur ist vielmehr die Vorstellung einer vorgezogenen Zeitenwende des Jahres 2000 auf das Jahr 1989 grundlegend. Bekannt geworden ist vor allem Eric Hobsbawms These vom kurzen 20. Jahrhundert (Hobsbawm 1997), aber auch in der alltäglichen Lebenserfahrung vieler Menschen kommt es zu der Wahrnehmung in anderen, in neuen Zeiten zu leben. Viele empirische Beobachtungen scheinen dieser Überlegung Plausibilität zu verleihen: Zu nennen ist die Wahrnehmung einer zunehmenden sozialen Unsicherheit die sozialpolitisch durch den Trend zur Ablösung von Normalarbeitsverhältnissen und der zunehmenden Etablierung von postfordistischen, flexiblen Beschäftigungsformen gekennzeichnet ist. Diese Verunsicherungen werden aktuell in der Soziologie unter dem Begriff der Prekarisierung diskutiert (vgl. z.B. Bourdieu 1998). Ebenfalls ist auf die Bedeutung der Digitalisierung der Gesellschaft, vor allem durch Neue Medien wie Internet, Mobiltelefone sowie die Einführung von digitalem Satellitenfernsehen und die sich möglicherweise daraus ergebenden Veränderungen für das Leben in westlichen post-industriellen Gesell-

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schaften hinzuweisen. Hartmut Rosa weist darauf hin, dass die drei genannten Prozesse zusammen einen besonderen Beschleunigungsschub um das Jahr 1989 herum ergeben haben (Rosa 2005: 336). Diese Prozesse hatten ihren Einfluss auch auf den Umbruch der so genannten real existierenden sozialistischen Systeme in Ost- und Mitteleuropa: Angesichts der rasanten technischen Innovationsprozesse in den westlichen Staaten setzte sich dort das Gefühl durch, „abgehängt“ zu sein, mit den technischen Entwicklungen und dem erreichten Lebensstandart der westlichen Welt nicht (mehr) mithalten zu können. Vordergründig scheinen sich nach 1989 die wesentlichen Fragen geklärt zu haben oder auf der Basis des liberalen Kapitalismus lösbar zu sein. Bekannt geworden ist Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte (Fukuyama 1992). Die dieser Generationenrhetorik zugrunde liegenden Erfahrungen scheinen vielmehr die Probleme einer spätmodernen Gesellschaft zu sein, als allein der historische Umbruch. Der „Fin de Siècle“-Diskurs beschreibt am Ende des 20. Jahrhunderts vor allem ein „Nicht-mehr“, ohne dass eine Vision dessen vorliegt, was an die Stelle des Bisherigen treten soll, es ist ein atypischer oder asymmetrischer Fin de Siècle-Diskurs (Rosa 1999: 249). Diese Erwartung einer Zeitenwende ist keine Erwartung einer Erlösung oder Katastrophe, es sind vielmehr soziale Prozesse zu beobachten, die die Wahrnehmung unterstreichen, in neuen Zeiten zu leben: Die gegenwärtigen westlichen Industriegesellschaften befinden sich in einer existenziellen Krise, über die Siegesrhetoriken einer Überlegenheit des liberalen Kapitalismus nicht hinwegtäuschen können. Es sind verstärkte soziale Kämpfe zu beobachten, deren zentrales Motiv die drohende relative Deprivation des Mittelstandes ist. Weltweit wird eine Ausweitung von Verteilungskämpfen um Ressourcen erwartet, mögliche Szenarien sind neben einem allgemeinen Kollaps der Ökonomie eine Ressourcendiktatur de reichen Staaten mit Ausplünderung und Verarmung der Mittelschichten auch eine Ausweitung von asymmetrischen gewaltsamen Konflikten (Radermacher 2008: 56f.). Diese Entwicklungen werden im Alltagsverständnis oft fälschlicherweise der historischen Zäsur 89/91 zugeschrieben, als Ursache dieser neuen Probleme können die Ereignisse der Wendezeit nach 1989 allerdings nicht gelten. Die Debatte um ein „nicht-mehr“ wirft die Frage nach der „Postmoderne“ auf: Politisch stellte sich nach 1989 auch im Westen die Frage, welche Bedeutung die sozialistische Utopie nach dem Scheitern der real existierenden sozialistischen Systeme behält. Kann oder sollte die sozialistische Utopie mehr bieten, als ein Menschenbild, das das Glück der Bürger einseitig auf Grundsicherung reduziert?5 Das

5

Diese Frage stellt sich z.B. M. Rainer Lepsius im Gespräch mit Angehörigen der DDR Wirtschaftsführung. Liegt bei der DDR eine sozialistische Utopie vor oder beschränkt

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Scheitern der real existierenden sozialistischen Systeme in Ost- und Mitteleuropa symbolisiert zwar das Ende der sozialistischen Alternative zu den kapitalistischen Gesellschaften, die Probleme des Kapitalismus bleiben aber bestehen. Diese Situation kennzeichnet Susan Buck-Morss als postmodern (Buck-Morss 1992: 197). Nach Susan Buck-Morss ist – vergleichbar mit Hobsbawms These des kurzen 20. Jahrhunderts – durch den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ein Kapitel der Geschichte zu Ende gegangen. Das Ende der Massenutopie markiert den eigentlichen Ausgang des 20.Jahrhunderts (Buck-Morss 2002). Die „Erschöpfung utopischer Energien“ (Habermas 1996) war im Westen aber bereits vor dem Mauerfall bekannt. Insofern ist es fraglich, ob dieser Einschnitt in dem Maße klar datiert werden kann, wie es die genannten Arbeiten suggerieren. Ereignissen wie dem Mauerfall 1989 wird die Wirkung zugeschrieben, sie hätten die Welt verändert, bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die dem Ereignis zugeschriebenen Symptome schon lange vor dessen Eintreten zu beobachten waren. Die Krisensymptome sowohl der westlichen als auch der sozialistischen Staaten weisen Ähnlichkeiten auf: Die real existierenden sozialistischen Systeme erwiesen sich als zu träge, um auf eine post-fordistische Produktionsweise umzustellen – die Problematik der westlichen Wohlfahrtsstaaten, die als Bremser in Zeiten verstärkter Beschleunigung gelten (Rosa 2005: 324), ist damit vergleichbar. Der Mauerfall selbst hat zu einem weiteren Beschleunigungsschub geführt. Insofern kann der Mauerfall zwar als ein Symbol interpretiert werden, dass sich die Welt verändert – als die Ursache dieser Prozesse kann er jedoch nicht gelten, denn mehrere Ursachenkomplexe waren bereits vorher zu erkennen. Ich werde in dieser Arbeit zeigen, dass diese Selbstthematisierung in Abgrenzung zum übermächtigen Vorbild der 68er Generation erfolgt. Zu beachten sind auch die politischen Implikationen einer solchen Rhetorik. Die Aussage, Zeuge einer Zeitenwende zu sein, ermöglicht es, „programmatische Ziele mit der Aura historischer Notwendigkeit zu adeln“ (Fischer 1999: 8). Die Zahl 89 kann diese historische Notwendigkeit besonders nachdrücklich vermitteln. Die Worte des Soziologen und Philosophen Helmut Plessner wirken beim Blick auf diese Generationendebatte geradezu hellsichtig: „Was eine Epoche, die sich literarisch so intensiv spiegelt wie die unsere und so fein auf ihre Spiegelungen reagiert, die in der Bildenden Kunst, Musik, Film, Dichtung, Philosophie das Neue schon aus Gründen der Mode und des Marktes mit wachsender Beschleunigung unterscheidet und registriert, dass eine solche Epoche mehr Generationen kennt und hat als

man sich auf ein „merkwürdiges“ Versorgungsdenken? Hatte ein System wie die DDR einen Entwicklungshorizont und wo lag er? (Lepsius et al. 1995: 118).

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die vorindustrielle Zeit, wird niemanden überraschen, der historisch zu denken weiß“ (Plessner 1985: 119f.).

In einer sich schnell ändernden Gesellschaft steigt das Interesse an Zeitdiagnosen, die nicht nur aus der Wissenschaft kommen müssen, die Verarbeitung sozialer Phänomene kann auch aus Literatur, Kunst oder Musik stammen. Dieses besondere Interesse zeigt sich auch daran, wie die Gesellschaft „fein“ auf diese Bespiegelungen reagiert. Im Zuge von Beschleunigungstendenzen der modernen Gesellschaft, die Innovationen im kulturschaffenden Bereich immer schneller veralten lassen, ist ein schnelleres „Coming out“ neuer Generationen zu beobachten. Verändert sich die Gesellschaft schnell, ändern sich auch die prägenden Einflüsse auf die neu eintretenden Kulturträger. In der Folge können sich immer mehr „neue Zugänge“ (Karl Mannheim) ergeben und in immer kürzerer Zeit mehr abweichende Prägungen auf die neu eintretenden Kulturträger hervorbringen. Dieses Zitat Plessners ist ein treffender Kommentar zu der aktuellen Generationendebatte. Im Anschluss an Helmuth Plessner kann man fragen, wie diese Bespiegelungen aufgenommen und angeeignet werden. Die Fragestellung dieser Arbeit ist nicht, ob man „wirklich“ von einer 89er Generation sprechen kann, sondern es wird nach den Vorstellungen, die dieser Rhetorik zugrunde liegen, gefragt. Welche Erfahrungen finden Anschluss an die der Gleichaltrigen, welche Erfahrungen werden individualisiert? Helmut Plessner rückt das Problem der Generation in die Nähe zentraler Themen seiner Soziologie: Die besondere Situation in Deutschland durch Verspätungen und Sonderentwicklungen wird betont. 6 Der Systemumbruch 1989, der Mauerfall und der Wiedervereinigungsprozess können im Vergleich zu den westlichen Staaten als eine weitere Sonderentwicklung gesehen werden, denn es ist von disparaten Sozialisationsinstanzen in Ost- und Westdeutschland auszugehen, andererseits stellt der Wiedervereinigungsprozess einen besonderen Handlungskontext dar. Es ist also mit vielen weiteren Sonderentwicklungen in der Bundesrepublik nach 1989 zu rechnen. Dagegen dürfte das Aufwachsen der westdeutschen Protagonisten dieser Generation in erster Linie durch die Erfahrungen einer spätmodernen westlichen Gesellschaft geprägt sein, wie sie Douglas Coupland in Generation X beschreibt (Coupland 1995). Hartmut Rosa zeigt, dass in Generation X wesentliche Punkte der soziologischen Zeit-

6

Aus historischer Perspektive hat Heinrich August Winkler die These vom deutschen Sonderweg vom Ende des Heiligen Römischen Reiches bis zur Wiedervereinigung in das Zentrum der deutschen Geschichtsschreibung gerückt (vgl. Winkler 2000a; Winkler 200b).

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diagnose aufgegriffen werden, insbesondere die Ambivalenz zwischen einer verstärkten weltweiten Durchnormierung, Technologisierung und Vernetzung. Diese machen das Leben in vielerlei Hinsicht berechenbarer bei einem gleichzeitigen Bedeutungsverlust von Normen, Traditionen, Gemeinschaft, Solidarität usw. (Rosa 1999: 248). Obwohl die Generationenrhetorik um die 89er verblasst ist, ist aufgrund des bisher Gesagten zu vermuten, dass gemeinsame Prägungen vorliegen. In dieser Arbeit soll nach den sozialen Dispositionen gefragt werden, die hinter dieser Rhetorik stehen. Wer generiert ein solches Generationenbewusstsein und von wem wird es über welche Kommunikationskanäle verbreitet?

1.2 S TAND

DER

F ORSCHUNG

Im Wesentlichen sind in der bisherigen Forschung zwei Ansätze zu erkennen um die Frage nach einer 89er Generation zu beantworten: Es wird erstens eine gemeinsame Sozialisation postuliert und zweitens die 89er Generation als Jugendkohorte der 1990er Jahre definiert, die sich anderen Herausforderungen ausgesetzt sieht, als ältere Generationen. Reinhard Uhle bezeichnet dies Motiv als „Zukunftsantizipation“ (Uhle 1996a: 318f; Uhle 1996b: 84f.) 1. Die Frage, ob man von einer durch den Mauerfall geprägten ostdeutschen Generation sprechen kann, wurde schnell nach dem Systemumbruch aufgeworfen. Die Datenexploration einer Langzeitbefragung von Schülerinnen und Schülern ergab zwar keine eindeutigen Ergebnisse, aber es können bei den nach 1975 Geborenen steigende Ungerechtigkeitserfahrungen und Verschiebungen in den Werthaltungen beobachtet werden (Boehnke et al. 1998: 118f.). Tanja Bürgel stellt sich die gleiche Frage und kommt anhand der Analyse von lebensgeschichtlichen Interviews zu dem Ergebnis, dass eine Prägung durch die Verunsicherungserfahrungen vor allem bei den um 1980 Geborenen zu beobachten ist, während die um 1970 Geborenen den Systemumbruch in erster Linie als eine Befreiung wahrgenommen haben (Vgl. Bürgel 2006a; 2006b). Statt des Labels der 89er wird das „Generation precaire“ vorgeschlagen, dass der Lebenswirklichkeit dieser Jahrgänge näher kommt (Bürgel 2007). Reinhard Uhle weist darauf hin, dass man nicht von einer 89er Generation sprechen kann, da die Sozialisation in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich verlaufen ist, auch die Zweiteilung in Ost- und West würde nicht ausreichen, da die Wende 1989 Handlungsimpulse unterschiedlichster Art verursacht hat, es sind nur die Auswirkungen auf einzelne Biographien zu beobachten, die Rede von einer 89er Generation sei daher sinnlos (Uhle 1996b: 84). In der aktuellen Forschung stellt sich Kirsten Gerland die Frage

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nach den „89ern“ als der Generation der Akteure des Mauerfalls, die sich bislang noch nicht als „Generation“ zu Wort gemeldet hat (Gerland 2009). 2. Arbeiten, denen der Zukunftsantizipationsgedanke zugrunde liegt, nähern sich dieser Thematik im Sinne einer Jugendstudie. Die gesamtdeutsche Jugendkohorte der 1990er Jahre wird durch die Herausforderungen, die sie in Zukunft zu bewältigen haben wird, beschrieben. Bekannt geworden ist das umstrittene Label der 89er vor allem durch die Arbeiten Claus Leggewies (Leggewie 1995; Leggewie 1998), der den bekanntesten Versuch, die 89er – auch in Westdeutschland – zu portraitieren, vorgelegt hat. In der Folge gab es weitere Anläufe diese Generation zu charakterisieren, am bekanntesten ist der Essay „Generation Golf´ von Florian Illies (Illies 2003). An Versuchen, die Jugendkohorte der 90er Jahre auf eine eingängige Formel zu bringen, blieb die Kritik nicht aus. Entwürfe wie Generation Golf gelten als literarische Kunstprodukte, deren „soziales Substrat“ nicht herbei geschrieben werden konnte.7 Die „Jugendgeneration“ der 1990er Jahre bleibt eine „heikle Zielgruppe“ (Schnibben 1994), über die sich kaum verbindliche Aussagen treffen lassen. Leggewie resümiert seinen Entwurf der 89er vor allem darin, 1989 als Chance zu begreifen, eine Generation zu prägen und das mögliche Potenzial dieser Prägung auszuloten. Dieser Versuch – so Leggewie – stieß bei vielen Kritikern auf polemische Ablehnung (Leggewie 1996: 4). Die vorliegende Arbeit fragt kritisch in Anlehnung an Leggewie nach der Selbstthematisierung als 89er. Es wird ein wissensund kommunikationssoziologisches Forschungsprogramm entwickelt. Die vorliegende Arbeit fragt vor allem nach den Interaktionsprozessen, die einer Vorstellung eines gemeinsamen Generationenschicksals zugrunde liegen. Shmuel N. Eisenstadt beantwortet die Frage nach einem möglichen Generationenbewusstsein anlässlich des 1989er Umbruchs vorsichtig: Wenn ein solches Bewusstsein bestand haben solle, bleibe es vage und sei möglicherweise in neuen künstlerischen Ausdrucksformen zu finden (Eisenstadt 1996: 23). Die vorliegende Arbeit fragt nach der Selbstthematisierung als 89er. Wie stellen sich die Protagonisten dieser Generationenrhetorik ihre eigene Generation vor? Der Anspruch, ein erschöpfendes Bild von allen sozialen Prozessen zu liefern, die prägend nach 1989 gewirkt haben, kann und will die vorliegende Arbeit nicht erfüllen. Im Mittelpunkt steht eine kleine Trägergruppe, die sich die Rhetorik der 89er Generation zueigen gemacht hat. In den USA ist Generation X von Douglas Coupland ein Stichwortgeber für viele soziologische Analysen geworden (vgl. Rushkoff 1994), anders als in der Bundesrepublik. Generationslabels wie das der 89er Generation könnten als „Schnellschuss“

7

Für die Kritik an den zeitgenössische Generationslabels wie Generation Golf (Wehler 2008: 191), an den 89ern (Bürgel 2007).

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kritisiert werden, denn die soziale Realität ist zu komplex, um sie durch ein Etikett wie die 89er auf eine einfache Formel bringen zu können. Eine weitere antizipierbare Kritik an diesen Entwürfen ist, dass eine inflationäre Verwendung des Generationenbegriffs bis hin zur Werbesprache vorliegt. Die Popularität dieser Entwürfe zeigt aber, dass sie in der Lage sind, die Empfindungen der Zielgruppe aufzunehmen. Die Markttauglichkeit beweist – wie der Soziologe Sighard Neckel anmerkt – Realitätstauglichkeit (Neckel 1993: 168). Es ist demnach nach Rezeptionsweisen eines Generationslabels zu fragen, welche sozialen Dispositionen einer Selbstthematisierung als 89er zugrunde liegen. Wie wird das gemeinsame Schicksal einer Generation vorgestellt? In der Debatte um die „Jugendkohorte“ der 1990er Jahre wurden viele interessante und empirisch nachvollziehbare Beobachtungen diskutiert, ohne zu fragen, wie generalisierbar die Stimmen der Protagonisten einer 89er Generation sind. Vorstellungen einer Gemeinschaft treten auch bei Gruppen auf, die in vielerlei Hinsicht heterogen sein können, das klassische Beispiel sind Nationalstaaten (Anderson 1996). Möglicherweise liegt im Fall der im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Generationenrhetorik vor allem ein Gefühl der Gemeinschaft im Sinne einer Identitätsstiftung vor.

1.3 M ETHODISCHES V ORGEHEN Das wesentliche Ziel dieser Arbeit ist es, die diffus bleibende Rhetorik einer 89er Generation anhand ihrer Selbstthematisierung auf eine empirisch nachvollziehbare Basis zu stellen. Das Vorgehen ist notwendigerweise explorativ. Aufgrund des explorativen Charakters der Untersuchung erscheint es erforderlich, dass im Laufe der Arbeit immer wieder über das methodische Vorgehen reflektiert wird. Obwohl die genannten Kritiken an den Generationslabels durchaus überzeugen, sind diese Rhetoriken als Teil der sozialen Realität ernst zu nehmen. An diesen Begriffen lässt sich beobachten, wie das Leben in einer komplexen modernen Gesellschaft organisiert wird. Eine unübersichtlicher werdende soziale Realität soll durch einen Begriff griffig dargestellt werden, der problematisch erscheint. Es wird eine soziale Gruppe vorgestellt, ohne zu fragen, ob der Gegenstand dieser Vorstellung auch nachkommt. Dies gilt nicht nur für die Generationendebatte, sondern auch für andere soziale Probleme der Gegenwartsgesellschaft, wie beispielsweise die Debatte um eine neue Unterschicht in der Bundesrepublik. Norbert Elias hat der Soziologie die Rolle des „Mythenjägers“ ins Stammbuch geschrieben (Elias 1970: 54), vorwissenschaftliche Aussagen sollen auf eine empirisch verlässliche Basis gestellt, erweitert oder kritisiert werden. Ein wissenschaftlicher „Fortschritt“ kann in der Bestätigung einer vagen Vermutung

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liegen, im Aufzeigen bislang unbekannter Zusammenhänge oder auch einer besseren Abstimmung von Empirie und Theorie. Labels wie die 89er werden von mir im Anschluss an Norbert Elias Diktum als vorwissenschaftliche Erklärungen aufgefasst, die der empirischen Überprüfung bedürfen. Die vorliegende Arbeit stellt die Ergebnisse einer explorativen Untersuchung des Generationslabels der „89er“ dar. Mithilfe fokussierter Interviews werden Protagonisten der Selbstthematisierung als 89er befragt, wie es zu dieser Rhetorik als 89er gekommen ist. Die Wortmeldung als 89er wird mit Ergebnissen der soziologischen Zeitdiagnose kontrastiert, um die Rhetorik einer 89er Generation auf eine empirisch nachvollziehbare Basis zu stellen. In einem ersten Arbeitsschritt wurden aus der Lektüre der Selbstexplikationsliteratur erste Hypothesen gebildet, wie sich die Protagonisten dieser Generationenrhetorik die Gemeinschaft mit ihrer Generation vorstellen. Diese werden am empirischen Material geprüft und weiterentwickelt. Dies entspricht dem Vorgehen nach der groundet theory (Strauss; Corbin 1996). Die empirische Grundlage dieser Arbeit sind 20 teil-standardisierte Interviews, die ich mit Personen geführt habe, die sich selbst als 89er bezeichnen. Die Ergebnisse sollen anhand von sechs Einzelfallstudien exemplarisch dargestellt werden.

1.4 AUFBAU

DER

ARBEIT

Im zweiten Kapitel wird die Generationenrhetorik der 89er auf die darin implizit enthaltenen zahlenmythischen Vorstellungen hin kritisch befragt. Ich werde mit dem Label der 89er Generation zunächst auf dem Weg diskursanalytischer Überlegungen annähern. Es fällt besonders die Dichotomie zwischen den Daten 68 und 89 in publizistischen Debatten der Bundesrepublik auf. Das Etikett der 89er wird als eine Strategie, sich selbst oder die eigene Altersgruppe in eine Genealogie der Bundesrepublik einzuordnen, interpretiert. Nach der „Generation der Flakhelfer“ kommen die 68er und schließlich die 89er. Diese Rhetorik wird als Versuch, eine strategische Gruppe zu bilden, als ein mögliches Medienphänomen und auch als eine generationelle Lagerung diskutiert. Im dritten Kapitel wird von Karl Mannheims Konzept der Generation ausgehend die Generationenlagerung der Protagonisten der Debatte um die 89er beschrieben. Als Grundlage des Aufwachsens ab den 1970er Jahren werden die Krisensymptome der spätmodernen Industriegesellschaften diskutiert. Hierbei werden die Diagnosen der gesellschaftlichen Beschleunigung und auch des „Endes der großen Erzählungen“ (Lyotard) berücksichtigt. Als eine grundlegende Prägung wird die Wahrnehmung einer sich verselbstständigenden technologischen Vernunft, auf die die spätmodernen Subjekte selbst keinen Einfluss nehmen können, beschrieben.

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Die Folgen dieser technologischen Rationalität werden vor allem in ihrer Dysfunktionalität wahrgenommen. Waren Mauerfall und Systemumbruch wirklich folgenlos für das Leben im Westen der Bundesrepublik? Die These, die Westdeutschen hätten den Fall der Mauer vor dem Fernseher erlebt und sich daraufhin entschlossen, die Wiedervereinigung ebenfalls vor dem Fernseher zu verbringen, ist oft zu hören. Grundlegend für die weitere Interpretation wird der Wiedervereinigungsprozess als Handlungskontext aufgefasst, dessen Chancen man sich auch aus westdeutscher Sicht aneignen konnte. Wer in der „alten Bundesrepublik“ aufgewachsen war, hatte aufgrund der besseren Kenntnis des institutionellen Systems der Bundesrepublik bei der Besetzung von Stellen der ehemaligen DDR-Elite eine privilegierte Lage. Aus diesem Handlungskontext hervorgehend werden drei Akteursgruppen vorgestellt, für die der Wiedervereinigungsprozess eine besondere Relevanz hatte. Ich werde in diesem Kapitel zeigen, dass für viele Westdeutsche der Wiedervereinigungsprozess vor allem eine Relevanz als berufliche Handlungschance hatte. Das betrifft vor allem diejenigen, die zu diesem Zeitpunkt bereits fertig ausgebildet waren und zunächst auf einen prekär werdenden Arbeitsmarkt in Westdeutschland gestoßen sind. Die Gelegenheitsstruktur Wiedervereinigungsprozess schuf in dieser Situation besonders günstige Karrierechancen. Für etwas Jüngere bot der Osten nach 1990 viele Nischen, in denen man sich einrichten konnte – eine biographische Gestaltungschance. Die neu gegründeten Universitäten boten gute Studienbedingungen und die Lebenshaltungskosten in vielen ostdeutschen Großstädten waren günstig genug, so dass sich dort einige „privilegierte Lebensstil-Zonen“ wie in Berlin Friedrichshain oder Mitte herausgebildet haben. Nachdem diese ersten idealtypischen Überlegungen vorgestellt wurden, folgen im dritten Kapitel dieser Arbeit sechs Fallstudien, jeweils drei in Ost- und drei in Westdeutschland. Die Fallstudien teilen sich nach dem Aufwachsen in West- und Ostdeutschland auf. Hier werden jeweils zwei Männer und eine Frau portraitiert, die sich selbst als 89er bezeichnet haben. In diesen Fallstudien wird eine typische Selbstexplikation in ihrem sozialen und historischen Kontext interpretiert. Die Frage, anhand welcher biographischen Daten die Protagonisten sich vorstellen zu einer Generation zu gehören, steht im Vordergrund der Interpretation. Die zweite Frage, die ich an das Material stelle, ist, wo die Protagonisten dieser Selbstthematisierung die Grenzen setzen? Es wird diskutiert, welche Erfahrungen in der Biographie individuell erinnert werden, sodass sich in der Vorstellung kein Anschluss zu den Gleichaltrigen schaffen lässt. Im Schlussteil dieser Arbeit werden die sechs Einzelfallstudien im Vergleich zueinander betrachtet. Das wesentliche Ergebnis ist, dass nicht nur die Sozialisationsinstanzen zwischen Ost- und Westdeutschland zu unterschieden sind. Auch die Art und Weise, wie diese Generation vorgestellt wird, unterscheidet sich zwischen Ost- und Westdeutschland.

2. Wie über die 89er gesprochen wird

2.1 Diskursanalytische Überlegungen Anlässlich der Jahrestage von 1968 – wie 1998 und 2008 – stellt sich immer wieder die Frage, ob von dem Auftreten einer neuen politischen Generation in der Bundesrepublik die Rede sein kann. Dieser Frage liegt die intuitive Wahrnehmung veränderter Befindlichkeiten bzw. ein gefühlter „Traditionsbruch“ in der Bundesrepublik zugrunde. Vermittelt wird eine Botschaft des „nicht mehr“, die aktuelle Gesellschaft kann nicht mehr mit den bestehenden Kategorien („rechts/ links“) beschrieben werden. Diese Wahrnehmung neuer Zeiten ist eng mit der Vorstellung eines „Epochenbruchs 89“ verknüpft, von dem vermutet wird, dass sich an ihm eine neue Generation herausbilden kann, was plausibel erscheint, denn dies ist bis dato das letzte große historische Ereignis. Neben den journalistischen Texten gibt es eine Vielzahl wissenschaftlicher Veröffentlichungen, die sich dem Versuch eines Vergleichs zwischen 68er und 89er Generation (oft auch diffuser: zwischen 68er und junger Generation) angenommen haben. Diese Arbeiten sind zwar oft inhaltlich anregend, stellen jedoch in zweierlei Hinsicht ein Problem dar: Erstens wird nicht diskutiert, ob die postulierte Vergleichbarkeit zwischen beiden Altersgruppen tatsächlich gegeben ist. Es könnte eingewandt werden, dass auf unterschiedliche Wissensbestände Bezug genommen wird, ohne diese möglichen Unterschiede eingehend reflektiert zu haben. Zweitens liegen diesen Arbeiten unreflektiert vorwissenschaftliche Annahmen zugrunde, die in diesem Teil der Arbeit benannt und kritisiert werden sollen. Ziel ist es, eine diskursanalytische Kritik an dieser Generationenrhetorik zu entwickeln. Die in diesem Teil entwickelten Überlegungen beziehen sich überwiegend auf das Label der 89er, sind aber sinngemäß auch auf andere Generationslabels, die in den 90er Jahren vorgeschlagen wurden, zu übertragen, z.B. das der „Mauerkinder“ (Pannen 1994) oder der „Generation Golf“ (Illies 2003; Illies 2005). Im Folgenden sollen anhand der Lektüre von Arbeiten zum Thema

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der 89er die grundlegenden Annahmen rekonstruiert werden. Für meine Überlegungen ziehe ich sowohl Selbst- wie auch Fremdthematisierungen heran. Auf welchen Vorannahmen beruht diese Rhetorik? Es sind bei der Lektüre von Publikationen, die sich mit dem Entstehen einer 89er Generation befassen, zwei Vorannahmen zu erkennen, die nicht konzeptionell begründet werden: Zum einen die Erwartung des Auftretens einer neuen Generation in Zehn-Jahres-Schritten, wie sie sich in der Diagnose einer 78er und der Prognose einer 88er Generation zeigt. Reinhard Mohr beschreibt die „Zaungästegeneration“, auch 78er, als relativ unbedeutende Zwischengeneration zwischen den 68ern als die Protagonisten der Revolte und den mehr angepassten 88ern (vgl. Mohr 1992). Unter der kultursoziologischen Fragestellung, ob neben den klassischen Kriterium Milieu auch Unterschiede im Kulturzugang zwischen einzelnen Generationen zu erkennen sind, typisiert Albrecht Göschel die Generationen der Bundesrepublik in Zehnjahresschritten nach ihren Geburtsjahrgängen, von der Generation der in den 1930er geborenen bis zu den 1960er Jahrgängen (Göschel 1995). Er kommt zwar zu durchaus interessanten Ergebnissen, jedoch wird auch hier die Kategorisierung in Abständen von zehn Jahren nicht begründet. Diese Einteilung entstammt dem Alltagsverständnis und nicht konzeptionellen Überlegungen.1 Die zugrunde liegende Vorstellung ist als die eines kontinuierlichen sozialen Wandels zu bezeichnen. Mit Hilfe von Kohortenvergleichen lassen sich signifikante Ergebnisse zeigen, z.B. bei der Analyse von Lebenschancen verschiedener Jahrgänge. Dieses methodische Vorgehen kann zu erkenntnisreichen Ergebnissen führen. Wie groß der Abstand ist, der von dem „Coming out“ einer Generation bis zum Auftreten der Nächsten vergeht, hängt außerhalb der Familie nicht von biologischen Gesetzmäßigkeiten ab, sondern von der gesellschaftlichen Dynamik. Bei einer Gesellschaft, die durch Beschleunigung geprägt ist, wird dieser Abstand immer kürzer, bzw. Generationenphänomene können überdeckt werden.2

1

Karl Mannheim kritisiert diese Vorstellung als eine „Geschichtstabellensoziologie“, die biologisch-vitale Phänomene mit den sozialen Prozessen vermengt, aber aus ihrer „Vogelperspektive […] neue Generationsströmungen durch Geschichtsklitterung zu entdecken imstande ist“ (Mannheim 1964: 553).

2

Hartmut Rosa beschreibt als eine wesentliche Konsequenz der gesellschaftlichen Beschleunigung eine Gegenwartsschrumpfung, die zu einer Identitätsschrumpfung werde. In der klassischen Moderne war Generation eine brauchbare Kategorie, um einen gesellschaftlichen Wandel darzustellen, gegenwärtige spätmoderne Gesellschaften sind dagegen durch einen intragenerationellen sozialen Wandel gekennzeichnet. Das Wissen bekommt eine geringere Halbwertszeit, das postmoderne Subjekt muss schneller umlernen (Rosa 2005: 184). Mannheim weist ebenfalls darauf hin, dass eine gesteigerte

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DIE

89 ER GESPROCHEN WIRD

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Der Vorstellung einer linearen Entwicklung mit festen Zeitabständen zwischen zwei Generationen steht zum anderen die Vorstellung eines „Epochenbruches“ gegenüber, an dem sich eine neue Generation herausbilden kann. Einem Ereignis wird zugeschrieben, es habe die Welt verändert. Kommt die Zeitdiagnose nach dessen Eintreten zu anderen Ergebnissen als vorherige, können diese Ergebnisse fälschlicherweise als Folgen dieses Ereignisses interpretiert werden, obwohl die zugrunde liegenden Prozesse bereits vorher zu beobachten waren. Diese Vorstellung ist besonders für das Jahr 1989 verbreitet. Ich werde im folgenden Abschnitt zeigen, dass ein Zahlenspiel zwischen 68/ 89 für die Debatte über die 89er eine besondere Relevanz besitzt. Weiter soll eine Kritik an dieser Dichotomie entwickelt werden. In dieser Kritik lasse ich mich von Derridas Konzept der Dekonstruktion leiten. Bedeutsam ist die Analyse dieser Zahlenmythologie vor allem deshalb, weil die Erwartung eines Epochenbruchs und das dadurch bedingte Auftreten einer neuen Generation schon bei Quellen, die vor dem eigentlichen Ereignis verfasst wurden, gezeigt werden kann. 2.1.1 68/89 als Dichotomes Paar Derridas Konzept der Dekonstruktion zielt auf unserer Alltagssprache zugrunde liegenden metaphysischen Vorstellungen, indem das kritische Potenzial der Zeichen genutzt wird. Durch das (ironische) Spiel zwischen Signifikant und Signifikat soll das subversive Potenzial der Schrift genutzt werden (vgl. Derrida 1976). So setzt die Konstruktion von dichotomen Gegensatzpaaren sicher/ unsicher, gut/ böse etc. die Vorstellung einer eindeutigen Realität voraus, der oder das Dritte bleibt ausgeschlossen. In der Debatte um die 89er hat das bereits beschriebene zahlenmythische Spiel, in dem die Differenz zwischen 68 und 89 besonders betont wird, eine besondere Relevanz. Anders als bei der weiter oben beschriebenen Konstruktion eines Generationslabels in Zehnjahresschritten liegt hier die Vorstellung eines Bruchs vor. Die Feuilletonstreitigkeiten in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ wurden durch eine Grafik illustriert, die diese Vorstellung sehr an3 schaulich darstellt. Die 89 ist eine auf den Kopf gestellte 68 (vgl. Abbildung 1).

gesellschaftliche Beschleunigung zu einem „Verschütten“ von sich bildenden „Keimen der Generationsentelechien“ führen kann (Mannheim 1964: 551) 3

Dies erinnert an Karl Marx, der die Hegelschen Kategorien vom „Kopf auf die Füße“ stellte, also vom deutschen Idealismus hin zur modernen Sozialwissenschaft. Um diese Vorstellung weiter zu führen, könnte der damit zusammenhängende Wechsel eine Abkehr von der versozialwissenschaftlichten Gesellschaft hin zu einer Neoliberalisie-

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Abbildung 1 (Quelle: Die Zeit) Klassisch gilt die Schrift als Abbild der Lautsprache. Einen zu großen Einfluss der Schrift auf die Lautsprache galt es zu vermeiden. Derrida hat diese Vorstellung kritisiert, indem er auf den eigensinnigen Charakter der Schrift hingewiesen hat. Das geschriebene Wort, der Text wird in das Zentrum der Interpretation gerückt (Derrida 1976: 126), woran hier besonders zu erinnern sei – es stehen sich die 68 und die 89 gegenüber. Die im Folgenden gemachten Ausführungen über die Achtundsechziger und Neunundachtziger würden diesen Unterschied nicht in vollem Maße verdeutlichen können. Wenn man an der 68 rüttelt, kippt sie um, die 89 kommt zum Vorschein. Die hinter der Sprache stehenden verborgenen Vorstellungen sollen durch ein Spiel mit Signifikant und Signifikat aufgezeigt und kritisiert werden. Für die Interpretation dieses Labels wird zunächst wenig vorausgesetzt, außer der Arbeitshypothese, dass es einen Gegenpol zu den 68ern bezeichnet. Es gibt zwei wesentliche Strömungen, an denen sich dieser Gegenpol festmachen ließe: Ein kulturkritisches, konservatives Weltbild, dass die Probleme der spätmodernen Gesellschaft den Liberalisierungstendenzen anlastet, die vage mit dem Datum 1968 in Verbindung gebracht werden. Intellektueller Bezugsrahmen ist vor allem der „Jungkonservatismus“ der Weimarer Republik4. In gemäßigter Form ist dieses Motiv auch bei der in der Anfangszeit der Ära Kohl angekündigten Programmatik einer „geistig-moralischen Wende“ zu erkennen.5 Ein anderer Gegenpol findet sich in dem Bewusstsein in neuen Zeiten, mit neuen Bedrohungen und Verunsicherungen zu leben, die den Älteren fremd gerung der Gesellschaft sein, in der das Individuum stärker betont wird und die Ablösung sozialer Kategorien postuliert wird. 4

Die Redaktion der Zeitschrift „Junge Freiheit“ trat mit einem Sammelband unter dem Titel „Wir ’89er“ an die Öffentlichkeit, die gewünschte publizistische Resonanz blieb allerdings aus (vgl. Bubik 1996; kritisch: Lenk u.a. 1997).

5

Jürgen Habermas beschreibt dieses bei der Regierung Kohl inhaltlich diffus bleibende Konzept anhand von vier Motiven: Eine angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, einen moralischen Traditionalismus – „Reflexionsstopp und feste Werte“ –, der Versuch den Staatsapparat von lästigen Legitimationszwängen freizusetzen sowie die Simulierung des Bewusstseins einer äußeren Gefahr (Habermas 1996: 64f.).

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DIE

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blieben sind. Zu dieser Rhetorik gehört die postulierte Auflösung der bekannten Deutungsangebote, das Zurücktreten des Gegensatzes „rechts/ links“ und das damit einhergehende Plädoyer für einen betont pragmatischen Politikstil. Auch hier wird ein Unterschied zu den Protagonisten der antiautoritären Revolte deutlich. Während es in den 60er Jahren darum ging, traditionelle Lebensformen aufzubrechen, wird bei aktuellen Stimmen gerade das Fehlen von Orientierungsangeboten angemahnt. Diese neuen Verunsicherungen auf 1989 zurückzuführen, überzeugt dagegen wenig: Wird postuliert, 1989 habe die Welt verändert, wird vernachlässigt, dass diese Welt zu diesem Datum bereits im Wandel begriffen war. Es können zwar einige mittelbare Verbindungen zwischen den Folgen des Wiedervereinigungsprozesses und der Problematik des Wohlfahrtsstaates gefunden werden, etwa die Belastung der Rentenkassen durch Aufnahme der DDR-Rentner und einer Bereinigung des DDR-Arbeitsmarktes durch eine Welle der Frühverrentung in den frühen 90ern. Eine Krise der Arbeitsgesellschaft und die Bestrebungen eines Umbaus der Sozialversicherung vom Umlageverfahren zum Kapitalgedeckten Verfahren sind bereits Mitte der 80er zu beobachten.6 Im Folgenden wird schlaglichtartig gezeigt, wie diese Dichotomie in der Generationendebatte der 90er Jahre auftritt und unterschiedliche Themenbereiche erfasst. Erstmalig genutzt wurde das Label der 89er im Zuge des Unistreiks 1988/ 1989, um einen von früheren Protesten abweichenden Stil der Auseinandersetzung zu beschreiben (Schneider 2001: 284). Klaus Theweleit kommt zu dem Schluss, was 68 die Liebe war, sei 86 der Tod (Theweleit 1991: 267). Freie Liebe birgt in Zeiten von AIDS besondere Risiken, ist also kein Erfolgsmodell mehr. Während es die Aufgabe der Protestgeneration war, einen neuen Umgang mit Intimitäten zu finden, fällt ab den 80er Jahren vor allem die Notwendigkeit eines verantwortungsvollen Umgangs mit diesen Freiheiten auf. Selbstbeschränkung kann das Lebensprogramm der folgenden Generation sein, ließe sich dieser Text weiterschreiben. An dieser Stelle wird deutlich, dass die Erwartung einer neuen Generation bereits vor dem Mauerfall vorhanden gewesen ist, denn die Wahrnehmung in neuen Zeiten zu leben, war bereits vor dem Mauerfall vorhanden. Die Generation der 1966-72 Geborenen sei Michael Corsten zufolge invertiert. Invertiert im Sinne einer deutlichen Abgrenzung von der Protestgeneration. Während sich die rund zehn Jahre Älteren viel von der Aufbruchstimmung der späten 60er aneignen konnten, scheinen diese in vielen Fragen, vor allem in politischer Hinsicht, eine gegenteilige Orientierung zu zeigen. Es geht nicht nur um

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Rolf E. Breuer zitiert eine Rede des damaligen Deutsche Bank-Chefs Alfred Herrhausen, in der er aus demographischen Gründen für eine Einführung des kapitalgedeckten Verfahrens plädiert (Breuer 2000: 13).

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eine Verschiebung der politischen Kategorien von links nach rechts, der Wahrnehmung eines neuen Konservatismus, sondern vielmehr in Form des Vermeidens einer eindeutigen Position, was im Auge des Betrachters eine Provokation darstellen kann. Diese wird aber nicht offen ausgesprochen, es wird mit politischen und moralischen Ambivalenzen gespielt. Die Revolte wird cool, im Gegensatz zur heißen 68er Revolte (Corsten 2001: 500ff.). Im Superwahljahr 1994 stellte sich die Frage, ob die Jungwählerkohorte überhaupt noch an Politik interessiert ist, denn gerade jüngere Wahlberechtigte zeigten sich offen desinteressiert an Politik, insbesondere der klassischen Parteipolitik, während die politische Klasse vergreist. Klaus-Jürgen Scherer fragt sich in diesem Zusammenhang nach den Gemeinsamkeiten und Unterschieden im Politikverständnis zwischen einer post-68er Generation und einer post-89er Generation (Scherer 1996). Die Zeitschrift Wochenpost druckte auf dem Höhepunkt der 89er Debatte ein Streitgespräch zwischen dem „89er“ Marko Martin und dem „68er“ Ekkehard Krippendorf ab (Martin; Krippendorf 1995). 68 symbolisiert die etablierte Deutungshoheit in der Bundesrepublik, 89 ihre Kinder, die genau diese infrage stellen. Jüngere Autoren stellen sich oft die Frage, inwiefern das Erbe der antiautoritären Revolte für sie noch Relevanz besitzt (vgl. z.B. Wiedemann 2008). Man bedankt sich für die gewonnenen politischen Freiheiten, die eigenen Lebensentwürfe weichen jedoch von denen der Elterngeneration ab. Hartmut Rosa erkennt einen veränderten Umgang mit der gesellschaftlichen Beschleunigung: Während soziale Bewegungen bislang versucht haben, einen Gegenpol zu gesellschaftlichen Beschleunigungsprozessen in Form von Verlangsamungs-Nischen zu schaffen, erkennt Hartmut Rosa bei der „Techno-Generation“ einen anderen Umgang mit diesen Dynamiken. Anstatt sich im Kampf gegen diese Beschleunigungsdynamiken aufzureiben und zu scheitern – wie vorherige Bewegungen – wird versucht, sie sich anzueignen (Rosa 2005: 154f.). Bedrohlicher erscheint dagegen die Aussage, dass 68 für versteinerte Verhältnisse steht, die zum Tanzen gebracht werden sollten, während die gesellschaftliche Beschleunigung nach 89 kaum gebremst werden kann (Steiner 1997: 16). In einer sich schnell verändernden Welt nimmt das Beständige weniger Platz ein. Das hinter dieser Diagnose stehende Wegfallen von Ligaturen und Hinzutreten neuer Optionen wirft ein grundsätzliches Problem auf: Die Chance aus traditionellen Lebensformen auszubrechen, bringt neue Risiken mit sich. Sozialpolitisch treten der Option des sozialen Aufstiegs durch den Erwerb besserer Bildungszertifikate das Risiko der Prekarisierung und das drohende Überflüssigwerden potenzieller Leistungsträger gegenüber (Hark 2005). Politisch wird diese Generation als pragmatisch dargestellt. Was sie von den 68ern unterscheidet, ist, dass bei ihr keine Bestrebungen zur Revolte erkennbar waren oder sind. Der Journalist Stephan Pannen revidiert diese Einschätzung.

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„Der Pragmatismus, der mir als besonderes Merkmal der Mauerkinder erschienen war, ist längst zur Kennung der 68er geworden, die nach der Macht streben“ (Pannen 1998: 262).

Ein Paradigmenwechsel in der Politik wird als das Resultat des Einsetzens neuer Kulturträger betrachtet. Es könnte vermutet werden, dass die ältere Generation dieses Alleinstellungsmerkmal der Jüngeren bereits für sich vereinnahmt hat. Es stellt sich die Frage, ob dieser Pragmatismus der jungen Generation vorbehalten ist, oder ob er auch die Konsequenz einer individuellen Entwicklung sein kann. Der Philosoph Odo Marquard gliedert seine autobiographische Skizze in drei Punkte: „Skeptische Generation“, „nachträglicher Ungehorsam“ und „Skepsis und Endlichkeit“. (Marquard 2000: 4)7 Punkt eins und zwei entsprechen den prominenten politischen Generationen der Bundesrepublik, den Flakhelfern / „skeptische Generation“ und der 68er Generation / der Protestgeneration der Bundesrepublik. Der Skeptiker kann sich auch mit dem Geist der Revolte auseinandersetzen und später bemerken, dass er sterblich ist und aus der daraus folgenden Erkenntnis, dass er keine letzte Antwort finden wird, zum Pragmatiker werden. Stefan Pannen beobachtet, dass der Pragmatismus als das beanspruchte „Alleinstellungsmerkmal“ seiner Generation nach einiger Zeit auch bei Ehemaligen der antiautoritären Revolte zu beobachten ist (Vgl. Pannen 1998: 202). Das Merkmal eine pragmatische Generation zu sein, wird auch von der „Zaungästegeneration“ beansprucht (Behr 1992: 293), was wiederum die Frage aufwirft, ob Pragmatismus ein alleiniges Merkmal der Alterskohorte ist, von denen die Eigenbezeichnung als 89er ausgeht. Es stellt sich die Frage, ob es etwas gibt, was in dieser Generationenrhetorik verschwiegen wird. Wird 1989 als ein Umbruchsdatum, dass nicht nur die sozialistischen Staaten in Ost- und Mitteleuropa betrifft, dargestellt, sondern auch die westlichen Staaten – insbesondere den westlichen Teil der Bundesrepublik – unterschlägt diese Rhetorik, dass sich die soziale Realität der „alten Bundesrepublik“ schon vor 1989 in der Auflösung befand. Andere wesentliche Befunde über die Jugendkohorte der 90er Jahre finden dagegen keine Erwähnung: So merkt H. J. Krysmanski ironisch an, die Debatte über die 68er und 89er wäre uninteressant, als Protagonisten einer digitalisierten Gesellschaft seien vor allem die Generation der „486er“ und vor allem die nachfolgenden „Pentium-Kohorten“ wesentlich. Dem Einfluss Neuer Medien ist ein größeres Gewicht einzuräumen (Krysmanski 2001: 90).8

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Odo Marquard zählt sich selbst zur Flakhelfer-Generation. Diese Aussage spielt darauf an, dass der Generationenbegriff seit einiger Zeit auch für Elektronik angewandt wird, es ist z.B. von PCs der „neuesten Generation“ die Rede,

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Ebenfalls wird in der Debatte um eine Differenz zwischen 68er und 89er Generation die Rolle der „Zaungästegeneration“ vernachlässigt. In der Selbstexplikationsliteratur stellt diese sich als eine relativ unbedeutende Zwischengeneration dar. Sie seien zu jung für die antiautoritäre Revolte und zu jung für den Punk (Neckel 1993). Entgegen ihrer Selbstdarstellung ist diese Gruppe interessant als die Generation der Wiedervereinigungseliten, denn sie konnten einen Arbeitskräftebedarf in den neuen Bundesländern zwischen 1990 und 1994 auffüllen. Zusammenfassend kann man diese Dichotomie 68/89 als eine Mythologisierung der alten Bundesrepublik kennzeichnen. Es wird ein „Epochenbruch“ zwischen beiden Daten konstruiert, der aber nicht in vollem Umfang nachzuvollziehen ist. Kontinuitäten in der Entwicklung lassen sich nach wie vor beobachten, z.B. sind die Ästhetisierung der Lebenspraxis oder die Prekarisierung der Arbeitswelt bereits Anfang der 1980er zu beobachten. Der Systemumbruch und der Wiedervereinigungsprozess überdecken diese Entwicklungen, im Nachhinein wird der Mauerfall als Ursache dieser Veränderungen rationalisiert. Mit Roland Barthes lässt sich diese Dichotomie als ein Alltagsmythos kennzeichnen. Auf ein semiotisches System baut sich ein zweites (sekundäres) semiotisches System auf. Das Zeichen wird seines ursprünglichen Inhalts beraubt und die politischen Implikationen des Mythos werden als natürlich dargestellt (Barthes 2006). Auf der denotativen Ebene bezeichnet es die Zeitzeugen des Mauerfalls, auf der konnotativen Ebene werden durch diese Rhetorik andere Themen vermittelt, die sich nicht oder nur mittelbar auf die historische Zäsur zurückführen lassen, wie die beschriebenen neuen Verunsicherungen. Eine Gemeinsamkeit dieser Wortmeldungen ist, dass es darum geht, eine Genealogie der Bundesrepublik zu konstruieren. Der gerade aufgeworfenen Frage nach der Inhaltsleere dieses Zeichens wird im folgenden Abschnitt nachgegangen. 2.1.2 89 als leerer Signifikant Philip Sarasin weist darauf hin, dass bereits Max Weber die Inhaltsleere zentraler politischer Begriffe erkannt hat, aber dem Kontrast von Inhaltsleere und Zentralität im politischen Diskurs nicht weiter nachgeht (Sarasin 2003: 157). Wie ich im vorherigen Abschnitt gezeigt habe, wird das Generationslabel der 89er mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt, von der historischen Zäsur, über die Problematik des Wohlfahrtsstaates bis hin zu technik- und kultursoziologischen Überlegungen. Zur weiteren Interpretation wird vorgeschlagen, dieses Generationslabel unter Berück-

aber auch davon, dass der Aufstieg des Computers zum neuen Leitmedium in der Debatte um die 89er vernachlässigt wurde.

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sichtigung des Konzeptes des leeren Signifikanten zu betrachten, dass Ernesto Laclau und Chantal Mouffe von Derrida ausgehend entwickelt haben. Das Konzept des leeren Signifikanten trägt der Erkenntnis Rechnung, dass für den politischen Diskurs zentrale Begriffe durch ihre Inhaltsleere auffallen. Einem leeren Signifikant fehlt der Signifikat, er bezeichnet nichts (Laclau 1994: 167). Welche Bedeutung einem Begriff zukommt, ist nicht beliebig, aber dehnbar: Begriffe wie „Ordnung“, „Einheit“ oder „Revolution“ bezeichnen nichts, es handelt sich vielmehr um Ziele der Politik, die entweder in unterschiedlichen Umsetzungsformen existieren oder die zu dem Zeitpunkt ihrer Aussprache noch zu schaffen sind (Laclau 1994: 176). Dieser leere Signifikant wird durch die Differenz zu einem anderen Signifikant mit Inhalt gefüllt, z.B. die anzustrebende „Ordnung“ wird im Gegensatz zum status quo „Unordnung“ mit Inhalt gefüllt. Laclau und Mouffe diskutieren dieses Konzept erstmalig im Zusammenhang mit einer Neubestimmung des Marxismus (Laclau; Mouffe 1991). Hinter dem Begriff „Arbeiterklasse“ verbergen sich unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Interessen, die sich in Abgrenzung zu einem gemeinsamen Gegner vereinigen, jeder isolierte politische Kampf repräsentiert den Kampf gegen das System. Der Signifikant wird durch das Signifikat überflutet. Die Einheit sozialer Großgruppen ist demnach zu eine symbolische Einheit (Laclau; Mouffe 1991: 44). Dies lässt sich sich in Hinblick auf die Überlegungen des vorherigen Abschnittes auf die beschriebene Generationenrhetorik übertragen: Die leere Identität einer 89er Generation wird durch einen Dialog mit dem Bild der übermächtigen 68er Generation gefüllt.9 Die Differenz kann durch unterschiedliche Inhalte gefüllt werden. Beim Blick auf die im vorherigen Abschnitt diskutierten Themen lässt sich fragen, was technische Innovationen oder neue soziale Gefährdungen wie Prekarisierung mit der Zäsur von 89 gemeinsam haben. Es liegt ebenfalls ein Überfluten des Signifikanten durch das Signifikat vor. Aussagen, die unter dem Label der 89er gemacht werden, sind demnach symbolisch. Veränderte Befindlichkeiten Jüngerer im Vergleich zu Älteren können symbolisch auf den Epochenbruch 89 übertragen werden. Die Aussagen, die unter dem Label der 89er gemacht wurden, haben als Gemeinsamkeit die Opposition zu den „68ern“. Bei der Selbstexplikation als 89er geht es darum, auszuhandeln, wer das politische Rederecht (Bourdieu) für eine junge aufstrebende Modernisierungskohorte der Bundesrepublik beanspruchen kann. Das Generationslabel wird weniger als analytische Kategorie und mehr als ein Mittel im Kampf um politische Macht genutzt. Es stellt sich hieran anknüpfend für die empirische Untersuchung die Frage, welche Personengruppen das Label der 89er Generation nutzen, mit welchen Inhalten dieses

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In der weiteren Topologie dieses Deutungsmusters kann statt einer Abgrenzung auch eine historistische Bespiegelung am Vorbild anderer Generationengestalten zu erkennen sein.

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Label gefüllt wird und ob hinter dieser Rhetorik möglicherweise unterschiedliche Vorstellungen einer gemeinsamen Generation stehen. Das Label der 89er ist ein Identifikationsangebot, das bereits existierte, bevor es ein Signifikat – eine soziale Trägergruppe – gegeben hat, die dieses Label für sich aufgenommen hat. Wie dieses Label aufgenommen wird, ist nicht willkürlich. In dieser Arbeit wird die Auffassung vertreten, dass die Selbstbezeichnung einer klaren sozialen Disposition folgt. Die Annahme, dass eine neue Generation auftreten wird, lässt sich in der Literatur, wie ich gezeigt habe, schon vor den Ereignissen von 1989-1991 belegen. Sie folgt einem zahlenmystischen Spiel, das von der 68 ausgeht. Die 89 erscheint geeignet, die veränderten Befindlichkeiten der Bundesrepublik zu symbolisieren, da sie die 68 auf den Kopf stellt. Das Gegenteil des damaligen Zeitgeistes wird nach 1989 als aktuell empfunden. Diese Zahlenlogik ermöglicht es, Befindlichkeiten, die von denen der Elterngeneration abweichen, eingängig zu formulieren. Der „Generationsbazillus“ (Reulecke 2002: 21) stellt sich beim Blick auf eine sich artikulierende 89er Generation vielmehr als ein „Retro-Virus“ dar. Es kommt zu einem Auftauchen dieser Generationenrhetorik, es gibt ein kurzes Auftreten, das schnell wieder abklingt. Nach dem Abklingen wird der „Retro-Virus“ vergessen, während er latent bleibt, ändert er seine Gestalt und kehrt nach einiger Zeit zurück. So sind immer wieder neue Versuche zu erkennen, diese Generationenrhetorik in öffentlichen Debatten zu nutzen. Wenn eine Abweichung zu 68 – besser: zu dem Bild, das sich die öffentliche Debatte von 68 gemacht hat – festgestellt werden kann, bietet es sich an, den Grund für diese Veränderung im nächsten Großereignis zu suchen: dem Mauerfall. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Dichotomie 68/ 89 auf der Inhaltsleere der Zahl 89 beruht. Dieser leere Signifikant kann mit einzelnen Teilaspekten gefüllt werden, wie einer von der Elterngeneration abweichenden politischen Orientierung oder der Wahrnehmung neuer Verunsicherungen, ohne zu fragen, ob dies für die Grundgesamtheit dieser Altersgruppe zutrifft. Ein Neuauftreten dieser Generationendebatte wirft die Frage auf, welche Rolle Medien spielen. Kann von einer medialen Konstruktion oder Stimulation dieser Generationenrhetorik ausgegangen werden?

2.2 Z WEI V ERSUCHE DER MEDIALEN K ONSTRUKTION EINES G ENERATIONSLABELS Die Bedeutung von Massenmedien erscheint sehr bedeutsam für die Interpretation dieser Generationenrhetorik, die Debatte über die 89er Mitte der 90er Jahre ist durch zwei Versuche gekennzeichnet, Selbstexplikationen als 89er zu stimulieren:

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Die Frage nach der 89er Generation wurde publizistisch in den Wochenzeitschriften „Wochenpost“ und „Die Zeit“ aufgeworfen: Beide Versuche werden im Folgenden kurz skizziert. Es sind unterschiedliche Strategien zu erkennen, die zu unterschiedlichen Ergebnissen geführt haben. Bei der Interpretation dieser Medienphänomene folge ich Rolf Lindners Konzept des Kulturtransfers. Die Medienwirkung wird als Interaktionsprozess zwischen Medien, dem Kulturschaffenden Feld sowie der Wissenschaft interpretiert. Es wird eine starke Beeinflussungsthese im Sinne eines starren Sender-Empfänger-Schemas zurückgewiesen, vielmehr geht es darum, die Interaktionsprozesse zwischen den Akteuren im Feld zu verstehen. Identifikationsangebote werden nicht als vollkommen beliebig verstanden, sondern es werden soziale, historische oder biographische Dispositionen hervorgehoben, denen die Rezeptionsweise von Identifikationsangeboten folgt (vgl. Lindner 1995). Ich beginne meine Überlegungen mit der Debatte um die 89er in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“. Im Zuge von Feuilletonstreitigkeiten anlässlich eines Erzählbandes des „68er-Autoren“ Botho Strauss im Jahr 1994 kritisierte der damalige Zeit-Chefredakteur Ulrich Greiner jüngere Rezensenten, die von ihnen an Strauss geäußerte Kritik ginge nicht auf eine politische Differenz zurück, vielmehr handele es sich hierbei um einen Generationenkonflikt zwischen dem 68er-Strauss und den Rezensenten der jüngeren Generation. Ulrich Greiner versucht im Laufe des Textes, diese Gruppe näher zu spezifizieren. Unter Berufung auf Karl Mannheims Konzept der Generation wird aus dem Postulat, dass die Wende und die Wiedervereinigung das letzte große Ereignis waren, die das Potenzial gehabt hätten, eine neue politische Generation zu prägen, der Name 89er für die adressierte Gruppe gebildet. Greiner hatte damit die zu diesem Zeitpunkt Mitte 30-Jährigen im Blick – also die um 1960 Geborenen: „Die Generationenentelechie der Achtundsechziger war immerhin eine Botschaft, auch wenn sich der Begriff als unvollständig erwiesen hat. Sie hatten immerhin noch eine Theorie, auch wenn sie falsifiziert wurde. Was haben die Neunundachtziger? Heraus damit, lasst sehen“ (Greiner 1995: 291).10

Die Frage, ob dieser Erzählband lesenswert ist oder nicht, bringt einen Streit zwischen jüngeren und älteren Kritikern hervor. Durch Berufung auf den Klassiker Mannheim gelingt es andere Fragen – einen möglichen Konflikt zwischen

10 Es fällt Ulrich Greiners Vertrautheit mit dem kanonischen Text der Generationenforschung, Karl Mannheims „Das Problem der Generationen“, auf: Generationenentelechie bezeichnet das „innere Ziel“ einer Generation (Mannheim 1964: 518).

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„rechts“ und „links“ oder zwischen „kompetent“ und „inkompetent“ – auszublenden. Die Vermutung, dass es sich hier um einen Generationenkonflikt handeln könnte, ist insofern zutreffend, als der Wechsel der damals Mitte 30-Jährigen auf begehrte Stellen bereits im vollen Gange war. Konflikte bei dem Wechsel auf die begehrten Leistungspositionen erscheinen wahrscheinlich, nur sind diese nicht öffentlich thematisiert worden. Die Antworten der von Greiner angesprochenen Personen fielen im Hinblick auf die Frage, ob sich eine neue Generation bilden würde, ablehnend aus. Kritisiert wurde Greiners Versuch, eine politische Kritik durch den Verweis auf einen möglichen Generationenkonflikt zu banalisieren (Vgl. z.B. Assheuer 1995). Gescheitert ist Ulrich Greiner vor allem deshalb, weil es ihm nicht gelang, eine mögliche Kritik durch Eröffnung einer „zweiten Front“ zu umgehen. Wer eine inhaltliche Kritik an diesem Erzählband hat, wird sich durch die Aussage, es würde in Wirklichkeit ein Generationenkonflikt artikuliert, nicht von seiner Kritik abbringen lassen. Fraglich ist, warum eine strittige Aussage im Feuilleton, eine so große Aufregung hervorrufen konnte. Es handelt sich um die Meinung einer Einzelperson, vertreten in einem Genre, as davon lebt, möglichst kontroverse Thesen aufzustellen und zu verbreiten. Deshalb scheint es an dieser Stelle um mehr zu gehen, als um die Frage, wie ein Erzählband zu bewerten sei. Was sagt dieser Text genau? Greiners Generation – die 68er – haben sich zwar in allem getäuscht und alles falsch gemacht, haben aber zumindest versucht, etwas zu bewegen, und dabei Originalität bewiesen. Nun fragt er sich, was die Jüngeren vorzuweisen haben, „wenig bis gar nichts“ ist die (unausgesprochene, aber vom Fragesteller erwartete) Antwort. Die Frage „Was habt ihr Neunundachtziger?“ ist beschämend. Dem zitierten Artikel liegt ein Diskurs der Inferiorität zugrunde. Sich auf diese Frage einzulassen, wäre wenig attraktiv. Würde eine Antwort den Anspruch auf einen politischen Aufbruch erheben, könnte dieser mit Hinweis auf das Scheitern der 68er abgelehnt werden, pragmatischere Antworten wären ebenfalls unattraktiv, denn dies ist die Entwicklung, die Ulrich Greiners Generation bereits selbst eingeschlagen hat. Die im Raum stehende Vermutung ist, dass die angesprochenen Personen wegdenkbar sind, sie haben keine herausragende Rolle im Kulturbetrieb, zur Klärung der wichtigen Fragen werden sie nicht benötigt. Die Enthaltung auf die Frage: „Was habt ihr Neunundachtziger“ kann als Trotzreaktion verstanden werden. Wesentlich ist: Das Label der 89er hatte in dieser Debatte sein „Coming out“ als Kennzeichen einer jugendlichen Elite der neuen Bundesrepublik, es fehlt zu diesem Zeitpunkt aber noch eine Trägergruppe, die bereit war, sich das Label anzueignen. Dazu kam es erst rund ein Jahr später. Im Anschluss an diese Debatte veröffentlichte zunächst der Politologe Claus Leggewie

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ein Portrait der Jugendgeneration der 90er Jahre (Leggewie 1995). Empirische Grundlage dieser Studie sind alle Personen, die Leggewies Bild von der Jugend zum Zeitpunkt der Niederschrift geprägt haben. Eingrenzen lässt sich dieses auf Beobachtungen der Kohorte der damals 14-30-Jährigen, wie es auch in vielen anderen Jugendstudien gemacht wird. Die wesentliche Schwäche dieses Versuchs liegt darin, dass Leggewie zwar viel Material und interessante Beobachtungen über die Jugendkohorte der 90er zusammenträgt, es aber versäumt aus diesem Material neue, eigene Kategorien zu bilden. Einerseits bleibt dieser Entwurf strittig, andererseits wurde das Label der 89er mit Bezug auf Leggewie in der Jugendsoziologie, oft unhinterfragt, als Synonym für die Jugendkohorte der 90er Jahre übernommen11. In der Wirkungsgeschichte dieses Buches kam es zu einer Vielzahl von Selbstthematisierungen als 89er. Viele der in der Folge zu beobachteten Wortmeldungen sind im Anschluss an Leggewies Arbeit entstanden. Zusammenfassen lässt sich dieser Interaktionsprozess wie folgt: In einer medialen Debatte wird ein klassischer soziologischer Text genutzt, um einen veränderten Ton in der Kritik zu erklären. Nachdem die Frage nach einer neuen (politischen) Generation in der Bundesrepublik im Feuilleton ausgesprochen wurde, erhebt eine (populär-) wissenschaftliche Arbeit den Anspruch diese zu beantworten. Zu den ersten Selbstthematisierungen als 89er kam es kurze Zeit später. Die offene Frage nach einer Trägergruppe dieses Labels wurde nicht im Feuilleton der „Zeit“ beantwortet, auch Leggewie kann diese Frage nicht erschöpfend klären, es haben sich die rund zehn Jahre Jüngeren rund ein Jahr später in der Wochenzeitschrift „Wochenpost“ zu Wort gemeldet. Diese in der DDR relativ beliebte Zeitschrift wurde nach der Wiedervereinigung vom Gruner+JahrVerlag übernommen und sollte eine junge, gut ausgebildete, gesamtdeutsche Leserschaft ansprechen. Der Chefredakteur wurde ausgetauscht und zahlreiche westdeutsche Journalisten rekrutiert. Es ist ferner zu vermuten, dass aus Marketinggründen eine politische Abgrenzung zu dem eher linksliberal ausgerichteten „Jetzt-Magazin“ der Süddeutschen Zeitung geschaffen werden sollte. Der Erfolg blieb allerdings aus: 1997 wurde die Zeitung eingestellt, da aufgrund der Neu-

11 Hans Dieter König beschreibt den Protagonisten des Dokumentarfilms „Beruf Neonazi“ als 89er, ohne dieses weiter zu begründen (vgl. König 2001). Kurt Lenk und seine Mitarbeiter greifen für die Protagonisten einer „Neuen Rechten“ auf die Bezeichnung 89er zurück (Lenk et al. 1997: 12). An dieser Stelle kann darüber wenig gesagt werden, aber es kann darauf hingewiesen werden, dass das Label der 89er in der Fremdthematisierung durch Angehörige der antiautoritären Protestgeneration vor allem genutzt wird, um die Problematik rechter Jugendlicher zu beschreiben.

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ausrichtung ein Großteil der Stammleserschaft verloren gegangen ist und neue Leser nicht in ausreichendem Maße gewonnen werden konnten. In der Wochenpost wurde die bis dahin unbeantwortete Frage nach den 89ern rund ein Jahr nach der Debatte in der „Zeit“ wieder aufgegriffen. In der Ausgabe vom 19. Oktober 1995 wurde auf den Kulturseiten ein „Extra“ veröffentlicht, dass sich der Frage nach den „89ern“ annahm. Auch hier ist bei dem Autor, dem Politologen und Journalisten Detlev Gürtler, eine Vertrautheit mit Fragen der sozialwissenschaftlichen Generationenforschung zu erkennen. Die Umbruchserfahrungen in Ostdeutschland nach 1989 werden als das prägende Merkmal der 89er gewertet: Zur Illustration wurde ein Streitgespräch zwischen dem „68er“ Ekkehard Krippendorf – Professor für Politikwissenschaft an der FU-Berlin – und dem „89er“- Gegenpol, dem 25-jährigen Studenten Marko Martin abgedruckt. Ekkehard Krippendorf kommt deutlich verspätet mit dem Fahrrad, während Marko Martin früher als geplant das Gespräch verlässt um seinen Flug nach Frankfurt/M. zu bekommen. Krippendorf wird als theatralisch und einem ideologischaltbackenen-linken Weltbild verhaftet beschrieben, Martin dagegen als politisch abgeklärt und pragmatisch (Martin; Krippendorf 1995). Die bereits beschriebene Dichotomie wird hier anhand des Themas der Beschleunigung deutlich. Der erfolgreich-nervös-gehetzte „89er“ trifft auf einen dröge wirkenden Altlinken. Die bereits beschriebene Dichotomie zwischen 89er und 68er wird auch anhand zweier politischer Weltbilder deutlich: Dem dogmatischen Weltbild wird ein Pragmatismus entgegengesetzt. Die Botschaft dieses Interviews ist vordergründig, dass die von Krippendorf vermittelte linkspolitische Orientierung nicht mehr zeitgemäß ist. Exemplarisch sei dazu eine Stelle dieses Gesprächs zitiert: Krippendorf: „Leute wie ich sind doch viel radikaler als diese langweiligen Studenten. Beim Studentenstreik 88/89: Da hat sich unsereins aus dem Fenster gehängt – und die Studenten? Strohfeuer!“ Martin: „Langweilige Studenten? Es gibt Leute, die engagiert sind, etwa bei Greenpeace, Amnesty, aber die tönen nicht so laut. Ich kenne niemanden aus meiner Generation, der den Ehrgeiz hätte, die Welt erklären, geschweige denn retten zu wollen.“ (Krippendorf; Martin 1995: 43)

Das Engagement der Studierenden kann Krippendorf nicht überzeugen, er erwartet mehr dezidierte Kritik am Hochschulbetrieb, aber auch mehr allgemeinpolitisches Engagement. Seine Kritik an der derzeitigen Studierendenkohorte macht Krippendorf am Beispiel des Uni -Streiks 88/89 deutlich: es kam lediglich zu einem „Strohfeuer“. Die Studierendengeneration der späten 80er Jahre ist nicht

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in dem Maße politisch, wie er es sich erhoffen würde. Liest man diesen Text gegen den Strich, scheinen die Rollen vertauscht: Es wird ein etablierter Hochschullehrer dargestellt, der aber diese etablierte Rolle dementiert. Er fühlt sich den antiautoritären Idealen und politischen Zielen seiner Jugend verbunden, obwohl er durch seine Funktion eine Autorität darstellt, stellt er diese immer wieder infrage: Er ist ein „fragmentierter Erwachsener“ (Paris 1990: 13f.). Obwohl der fragmentierte Erwachsene versucht, jung zu bleiben, überzeugt er aber gerade mit dieser Strategie nicht, da er Jüngeren vor allem in seiner professionellen Funktion gegenübertritt – als Lehrer, Jugendarbeiter oder wie in diesem Fall als Professor. Rainer Paris beschreibt diese Strategie, die bei vielen Angehörigen der Protestgeneration zu beobachten ist: „Während er versucht, die Alterstypisierungen zu verschleifen, werden sie von den Jugendlichen umso rigider betont: Gerade gegenüber diesem Typ von Erwachsenen können sie Jugendlichkeit selbst als symbolische Waffe einsetzen, gerade ihn können sie damit treffen, dass sie ihn ‚alt‘ aussehen lassen. Sie nutzen seine Zerrissenheit, seinen Mangel an Souveränität, um ihn lächerlich zu machen“ (Paris 1990: 14).

Dem fragmentierten Erwachsenen Ekkehard Krippendorf wird mit Marko Martin ein abgeklärter junger Erwachsener gegenübergestellt, der die Forderungen, die an seine Generation von Krippendorf gestellt werden, als unrealistisch zurückweist: Er kennt niemanden aus seiner Generation, der den Anspruch hätte, die Welt erklären zu können, geschweige denn, sie zu retten. Er gibt sich dadurch reifer und abgeklärter als sein Gegenüber, die Programmatik des altlinken Hochschullehrers wird als unrealistisch zurückgewiesen. Auf den ersten Blick könnte man vermuten, hier meldet sich ein Konservatismus zu Wort, die Protagonisten der Debatte wollen die Uhren der Bundesrepublik am liebsten in die 50er Jahre zurückdrehen. Dies ist offensichtlich nicht der Fall, hinter diesem Interview steht nicht eine politische Absage an 68. Marko Martin spricht sich an keiner Stelle für einen neuen Konservatismus aus und wird die Liberalisierungstendenzen nach 1968 durchaus zu schätzen wissen. Politisches Engagement wird nicht abgelehnt, das Engagement für Greenpeace oder Amnesty International wird positiv hervorgehoben, ökologisches Bewusstsein und Eintreten für die liberale Demokratie sind durchweg positiv konnotiert. Es werden vielmehr unrealistische Erwartungen an das Auftreten oder die Fortsetzung einer neuen antiautoritären Revolte zurückgewiesen. Möglicherweise wurden die politischen Inhalte der 68er Revolte unterstützt, was nicht bedeuten muss, dass eine weitere Zuspitzung der Kritik erforderlich erscheint. Die erkämpften Freiheiten weiß man zu schätzen, Selbstbeschränkung könnte ange-

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sichts vieler neuer Freiheiten ein erstrebenswertes Ziel sein (Ziehe 1991: 61). Dieses Interview stellt keine außergewöhnliche Begegnung dar, sondern diese Szenen dürften alltäglich (gewesen) sein. Sie zeigt anschaulich die Situation der damaligen Jugendkohorte, die zahmer ist, als es sich die alt gewordenen Protagonisten der antiautoritären Revolte wünschen würden. Der postulierte Konflikt zwischen 89ern und 68ern wird so von einer Literaturdebatte – die vor allem von Insidern geführt wird und nur Kennern zugänglich sein dürfte – auf alltägliche Begegnungen zwischen Studierenden und Professoren, Schülern und Lehrern sowie Jugendliche und Jugendpfleger übertragen. Es kann vermutet werden, dass dies die Leserschaft an einem Punkt abgeholt hat, an dem sie die Bereitschaft zeigt, ihre eigene Geschichte vor dem Hintergrund dieser Generationendebatte zu reflektieren. In dieser Ausgabe wird an die Leserschaft auch die Frage gestellt, wer sich hinter diesem Label verbirgt, für wen das Identifikationsangebot der 89er interessant sei: „Auch wir machen uns in diesem „Extra“ Gedanken über eine Generation, die sich soüberhaupt noch nicht artikuliert hat. Aber wir würden das gerne ändern, und so bald wie möglich ein „Extra“ folgen lassen, im dem möglichst viele aus dieser Generation, und nur sie, sich selbst zu Wort melden. Deshalb unsere Bitte: Wenn Sie sich als ein 89er oder eine 89erin fühlen – nach welcher Definition auch immer, schreiben Sie uns. Erzählen Sie uns, wer Sie sind und warum Sie 89er sind.“ (Gürtler 1995: 40)

Auf diesen Aufruf hin konnte drei Monate später – in der Wochenpost vom 18.01.1996 – ein weiteres Extra folgen, in dem acht 89er portraitiert wurden. Auf die Frage nach den 89ern haben sich Personen, die damals zwischen 20 und 27 Jahren waren, gemeldet. Die Generationenrhetorik hat in den 1966-76 Geborenen eine Trägergruppe gefunden. Diese Altersgruppe nutzt das Label der 89er bis heute. Um den Kulturtransfer weiter zu verfolgen: Die Zeitung als Medium nimmt die diffus bleibende Vermutung der Existenz einer 89er Generation auf und fragt, wer sich als 89er versteht. Im Gegensatz zur „Zeit“ wird die Frage nach den 89ern neutral bis wohlwollend gestellt. Während andere Zeitungen viel über die Jugendkohorte der 1990er Jahre geschrieben und spekuliert haben, sucht die Wochenpost erfolgreich den Dialog mit diesem Personenkreis. Bis dahin wurde die Debatte um die 89er nur von Älteren über die Köpfe der Jüngeren hinweg geführt, jetzt sollen sie sich zu Wort melden, und nur sie. Hierdurch wird das Interesse der adressierten Personen geweckt. Das Identifikationsangebot als 89er bietet die Chance, ein Rederecht als Angehöriger der zukünftigen Führungsetage der Bundesrepublik in Anspruch zu nehmen. Es erscheint lohnenswert, sich unter diesen

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Personenkreis zu subsumieren, da die Wochenpost diese Generation als die maßgeblichen Akteure für zukünftige Entwicklungen in der Bundesrepublik beschreibt. Obwohl bei den Autoren der Wochenpost eine Vertrautheit mit dem soziologischen Generationenbegriff zu erkennen ist, verengt dieser Aufruf die Perspektive. Es wird nicht mit dem theoretisch anspruchsvollen soziologischen Begriff der Generation gearbeitet, sondern wer sich als 89er fühlt, soll sich zu Wort melden. Die Meinung des Autors bleibt hier stärker im Hintergrund, als es bei Ulrich Greiner der Fall war. Es ist nicht die Stimme eines Intellektuellen, der den Substanzverlust der jüngeren Generation beklagt, sondern eher die verstehende Frage eines Sozialforschers. Man erhofft sich, dass sich Personen melden, die ihre Biographie und ihre Gedanken zu dem Thema zur Disposition stellen wollen. Für die weitere Interpretation sei an dieser Stelle angemerkt, dass das Thema einer gefühlten Generation für das Verständnis der 89er-Rhetorik maßgeblich zu sein scheint. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels wird die Kategorie einer gefühlten Generation näher diskutieren. In der Folgegeschichte dieser Debatte kam es zur Rezeption dieses Generationslabels durch verschiedene Personenkreise, zu nennen sind vor allem junge aufstrebende Personen aus den Jugendorganisationen der großen Parteien.12 Es sind neben dem reinen Interesse an einem Dialog mit der Jugend der 90er Jahre auch politische Motive im Spiel. Die eher konservativ ausgerichtete Wochenpost versucht die 89er als möglichen Gegenspieler, zu der bis dahin tonangebenden 68er Generation, zu etablieren. In der Wochenpost meldet sich erstmals eine Altersgruppe zu Wort, die sich selbst als 89er bezeichnet. Zusammenfassend ist darauf hinzuweisen, dass die mediale Stimulation dieser Generationenrhetorik nicht als eine mediale Beeinflussung im Sinne eines starren Sender-Empfänger-Schemas zu verstehen ist. Wie gezeigt wurde, ist eine mediale Stimulation dieser Generationenrhetorik vor allem davon abhängig, ob sie in der Lage ist, die Befindlichkeiten der angesprochenen Gruppe aufzunehmen. Anders als der Zeit gelang es der Wochenpost eine Zielgruppe anzusprechen, die sich vom Label der 89er angesprochen fühlt, da versucht wurde, die mögliche Zielgruppe zu verstehen. Es stellt sich darauf aufbauend die Frage, welche individuellen Dispositionen die Personen, von denen diese Rhetorik ausgeht, zeigen. Nach dieser ersten publizistischen Debatte kam es auch zu der eingangs genannten Aufnahme dieses Generationslabels durch Personen aus der Politik. Welchen Sinn hat die Rezeption und Verbreitung einer solchen Generationenrhetorik? Diese

12 Weiter unten wird gezeigt, warum die Zäsur 89 für einige Parteien eine besondere Relevanz besitzt und die Rhetorik einer 89er-Generation als Erneuerungskohorte plausibel erscheint.

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kann als der Versuch interpretiert werden, eine strategische Gruppe zu bilden, um Einfluss auf die Politikgestaltung in der Bundesrepublik zu nehmen, darum wird es im nächsten Kapitel gehen.

2.3 E IN V ERSUCH

DER B ILDUNG EINER STRATEGISCHEN G RUPPE

In Krisen und Umbruchszeiten bilden sich proto-Klassen heraus, die eine gemeinsame Handlungsstrategie entwickeln. Das Initialziel einer solchen strategischen Gruppe ist das eigene Wachstum, um ihren möglichen Einfluss auf das politische System zu vergrößern. Damit sollen politischer Einfluss und verbesserte Lebenschancen für die Gruppenmitglieder erreicht werden, dabei folgen sie ihrem „objektiven Klasseninteresse“ (Evers u.a. 1983: 2). Die Bestrebungen, eine politische Programmatik mithilfe einer Generationenrhetorik zu vermitteln, können dazu dienen, das Wachstum dieser Gruppe zu erreichen. Wie eine strategische Gruppe gebildet wird, hängt weiter von dem politischen System ab, auf das Einfluss genommen werden soll. Im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland wird dieser Einfluss über Parteien und Interessenverbände wie z.B. Gewerkschaften vermittelt. Welche Interessen könnten hinter einer solchen Gruppe stehen, die sich als politische Generation artikuliert? Was könnten Forderungen der skizzierten Gruppe der Politik gegenüber sein? Die um 1970 Geborenen waren zu diesem Zeitpunkt Mitte Zwanzig, also am Ende ihres Studiums. Die politischen Ziele, die die skizzierte Gruppe verfolgt, könnten neben klassischen Themen der Jugendpolitik, wie einer verbesserten Interessenvertretung in Studium und Ausbildung, auch die Bewältigung der speziellen Themen dieser Jugendkohorte, die neuen Verunsicherungen in einer „spätmodernen“ Gesellschaft sein. Denkbar ist eine Regulierung des prekären Arbeitsmarktes, die Begrenzung der Staatsverschuldung sowie eine neue Aushandlung des wohlfahrtsstaatlichen Generationenvertrages. Der Versuch eine strategische Gruppe zu bilden wird im Folgenden beschrieben. In der Partei „Bündnis 90/ Die Grünen“ kam es 1997 zu einer viel beachteten Wortmeldung der 89er. Das „Staart 21“ Papier wurde von Mitgliedern des damals neu gegründeten hessischen Grünen Jugendverbandes verfasst, in der Frankfurter Rundschau veröffentlicht und später in einem „89er-Buch“ dokumentiert. Das vordergründige Ziel der Verfasser war es Inhalte, die es für den Fall einer wahrscheinlichen rot-grünen Regierungsbildung umzusetzen galt, zu formulieren. Inhaltlich erscheint dieses Papier aber wenig kreativ. Als politischer „Tabubruch“ erscheint zwar die Forderung, die Rentenkasse an die Börse zu bringen (Wagner 1998: 68),

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ein Vorschlag, der tatsächlich bereits in den 80er Jahren in der Bundesrepublik diskutiert wurde. Es kann daher auch gegenteilig argumentiert werden, es werden bereits etablierte Ziele und Konzepte als Programm der jungen Generation artikuliert, um zu demonstrieren, dass die Unterzeichner reif genug sind, um herausragende Positionen in der erwarteten rot-grünen Bundesregierung einzunehmen. Dieses Papier weicht in keinem wesentlichen Punkt von anderen Positionspapieren etablierter Parteien ab.13 Die Unterzeichner stellen sich zu Beginn dieses Papers als die „lost-generation“ des Wohlfahrtsstaates dar: „Wir müssen die erworbenen Besitzstände der Generationen vor uns finanzieren und gleichzeitig akzeptieren, dass wir selbst niemals selbst in den Genuss dieser Besitzstände kommen werden“ (Wagner 1998: 60).

Die Unterzeichner und Unterzeichnerinnen lesen sich wie das who is who der jüngeren Parteiführung von Bündnis 90/ Die Grünen: Unterzeichner dieses Papiers sind unter anderem Matthias Berninger (ehemals MdB), Tarek Al-Wazir (MdL) sowie Mathias Wagner (MdL), beide in Hessen. Die Veröffentlichung dieses Papiers kann einerseits als erfolgreich gewertet werden, denn es zog ein beachtliches Medienecho nach sich, andererseits verfehlte es die Wirkung auf die Altersgenossen, denn die deutlichste Kritik kam als erstes vonseiten der eigenen Parteijugend, die vor allem den Ton dieses Papiers, der durch Neoliberalismus und Entsolidarisierung geprägt sei, kritisierte, aber auch die Repräsentativität der Unterzeichner für die „Grüne Jugend“ sei anzuzweifeln (Wagner 1998: 83). Als ein weiterer Kritiker wird Daniel Cohn-Bandit zitiert, der zwar die Marketingstrategie lobt, allerdings anmerkt, dass keine originelle Position vertreten, sondern lediglich die Entwicklung seit 1968 wiedergeben werde (Wagner 1998: 84). Insgesamt sind die Inhalte dieses Papiers nicht originell, die Abgrenzung zu den 68ern in der eigenen Partei ist eine rein rhetorische – in der Umsetzung tatsächlicher Politik hat man sich bereits angenähert. Ein möglicher Grund dafür ist, dass die in sehr jungen Jahren bereits etablierten Unterzeichner sich intensiv den Spielregeln der politischen Klasse angepasst haben und sich damit gleichzeitig von der Lebenswelt ihrer Altersgenossen entfremdet haben. Dadurch wird nicht nur das mögliche Wachstum dieser Gruppe enorm eingeschränkt, vielmehr scheint ein Schaukampf innerhalb der politischen Klasse vorzuliegen. Ist die Ini-

13 In einigen Punkten dürften bestimmte Inhalte nicht mehr vermittelbar sein, etwa die Forderung die Rentenkassen an die Börse zu bringen. Werden die 89er als die Verliererkohorte der Finanzkrise bezeichnet (Sattar 2008), sind sie ironischerweise die Opfer des von ihnen vermittelten Zeitgeistes.

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tiative als gescheitert anzusehen? Wenn man an das Papier den Anspruch heranträgt, ein originelles politisches Programm für die junge Generation der 1990er Jahre in der Bundesrepublik Deutschland zu liefern, sicherlich. Der Erfolg des Papiers lag darin, dass es die Bekanntheit der Unterzeichnerinnen enorm vergrößert hat. Die Unterzeichner schafften es, sich als reif genug darzustellen, um an der für das Jahr 1998 zu erwartenden – und schließlich gebildeten Rot-Grünen Bundesregierung teilzuhaben. Aus Sicht der Unterzeichner dürfte das Staart 21 Papier seinen Zweck erfüllt haben, obwohl es nur am Rande gelungen sein dürfte, die Befindlichkeiten der eigenen Generation aufzugreifen. Ich fasse zusammen: In beiden Selbstexplikationen hat sich die Altersgruppe der Ende der 60er bis Anfang der 70er Geborenen zu Wort gemeldet. Als wesentliche Themen dieser Generation wurde neben der rhetorischen Auseinandersetzung mit dem „übermächtigen“ Vorbild der 68er Generation, die Krise der sozialen Sicherungssysteme eingeführt. Während es im Bereich der Medien gelungen ist, durch das Aufgreifen eines Themas der Lebenswelt der Altersgruppe – kleine Streitigkeiten mit Angehörigen der 68er Generation – die Befindlichkeiten dieser Altersgruppe anzusprechen, ist der Versuch durch eine Mobilisierung Jüngerer einen verstärkten Einfluss auf die Politik auszuüben, als gescheitert anzusehen. Obwohl ein Einfluss auf Reformen des Sozial- und Wohlfahrtsstaates im Interesse dieser Altersgruppe liegen dürfte, scheint dieses Thema keine Mobilisierungswirkung entfalten zu können. Ein politisches Programm, eine „Agenda der 89er“, bleibt diffus, es lassen sich zwar einzelne Aspekte erkennen, z.B. ein verstärktes ökologisches Bewusstsein, der Gedanke der Nachhaltigkeit und die Begrenzung der Staatsverschuldung, die zwar einerseits auf eine breite Zustimmung innerhalb dieser Generation stoßen dürften, aber nicht ihr Alleinstellungsmerkmal darstellen. Mit dem Gefühl von Gemeinsamkeit ist noch kein gemeinsames politisches Bewusstsein einhergegangen. An dieser Stelle scheint es lohnenswert den soziologischen Generationenbegriff in die Argumentation einzuführen, denn sowohl in der Wochenpost-Debatte als auch bei den GRÜNEN hat sich eine klar eingrenzbare Altersgruppe zu Wort gemeldet.

2.4 D AS P ROBLEM

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Das grundlegende Instrumentarium für die soziologische Interpretation von Generationen liefert Karl Mannheims klassischer Text „Über das Problem der Generation“. Kultureller und sozialer Wandel wird durch den Verweis auf das regelmäßige Einsetzen (Geburt) und Austreten (Tod) von Kulturträgern interpretiert. Durch den Generationenwechsel innerhalb einer Gesellschaft wird einerseits

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Kontinuität gewährleistet, die neu eintretenden Kulturträger erlernen wesentliche Wissensbestände, andererseits bedingt das Neueinsetzen innovative Entwicklungen – sozialen Wandel –, da die neu eintretenden Kulturträger möglicherweise neue relevante Wissensbestände erlernen müssen und die nicht mehr relevanten Wissensbestände vergessen werden. Karl Mannheim spricht von einem „neuartigen Zugang“ zu diesen Wissensbeständen. Möglich ist ein solcher „neuartiger Zugang“ durch Verschiebungen im sozialen Raum – soziale Mobilität – sowie durch Generationenwechsel. Letzterer ist Karl Mannheim zufolge bedeutender (Mannheim 1964: 530f.). Das Konzept der Generation besteht aus einer Trias von Generationenlagerung, Generationenzusammenhang und Generationeneinheiten. Die Generationenlagerung umfasst im zeitlichen Raum benachbarte Jahrgänge. Für den Stil dieser Generation werden Ereignisse, die während einer Formierungsphase gemacht werden, als wesentlich betrachtet. Spätere Erlebnisse besitzen eine gewisse Relevanz, aber ihnen wird ein geringerer Einfluss zugeschrieben als den ersten Eindrücken. Karl Mannheim spricht von einer Erlebnisschichtung (Mannheim 1964: 536). Der Schwerpunkt dieser Überlegungen liegt auf den Jugendjahren. Die Konzeption der Generationenlagerung ist durch Max Webers Begriff der Klassenlage beeinflusst, je nach Lagerung kann es zu einer positiven oder negativen Privilegierung kommen, als Druck oder Chance. Übertragen auf das Konzept der Generation bedeutet dies, dass sich aus dem Zeitpunkt der Geburt ein bestimmtes Gefüge von Belastungen und Chancen ergibt. Aus einer gemeinsamen Lagerung kann ein gemeinsames Schicksal entstehen, dieses ist ein weiteres Kriterium, dass von Mannheim für die Analyse einer Generation genannt wird, der Generationenzusammenhang. Historische Großereignisse wie Krieg, Inflation und Revolution werden klassisch als prägende Momente gesehen. Diese Ereignisse können als prägendes Erlebnis erinnert werden, aber auch einen Handlungsspielraum eröffnen oder Handlungen erschweren. Durch ein gemeinsames Generationenschicksal können Deutungsmuster entstehen, die aber nicht von allen Angehörigen geteilt werden müssen, diese Deutungsmuster können voneinander abweichen und auch Gegensätzliches behaupten. Karl Mannheim spricht von einer Generationeneinheit. Gegensätzliche Deutungen sind Merkmal einer Generation, wenn sie in Auseinandersetzung mit dem gemeinsamen aktuellen Schicksal entstehen (Mannheim 1964: 543f.). Ein verbreiteter Einwand gegen den Generationenbegriff ist, dass sich eine sehr spezielle Gruppe expliziert, die in vielerlei Hinsicht von den Altersgenossen abweicht. Die sind die Deutungsmuster einer Elite, ein Merkmal von Generationenphänomenen unterschiedlichster Art:

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„Auch in einer „echten“ Generation wird es außer Eliten (Generationseinheiten) auch eine Menge von Altersgenossen geben, die von den Phänomenen ihrer Generation nichts wissen oder nichts wissen wollen“ (Becker 1989: 83).

Ein Generationenzusammenhang bildet sich um kleine Gruppen, die einen Einfluss auf ihre Altersgenossen nehmen und auch auf jüngere oder ältere ausstrahlen können. Dieser Gruppe muss es gelingen, die gemeinsamen Erfahrungen an ihre Altersgenossen zu vermitteln (Mannheim 1964: 548). Die Generationenlagerung der 89er kann aufgrund der Selbstthematisierung auf die Jahrgänge 1966-1976 eingegrenzt werden, es sollte zwischen den in Ost- und Westdeutschland Geborenen unterschieden werden, da von disparaten Sozialisationsinstanzen ausgegangen werden kann. Als Auswirkungen auf ein gemeinsames historisches Schicksal sind die Erfahrung des Systemumbruchs, die Krise des Wohlfahrtsstaates sowie Medienund Konsumerfahrungen zu nennen. Da die namensgebende Zäsur für die 89er Generation die des Mauerfalls 1989 ist, stellt sich zunächst die naheliegende Frage, welche tatsächlichen Auswirkungen zu beobachten sind. Für wen sind nennenswerte Auswirkungen des Mauerfalls zu erkennen? Für Ostdeutschland bietet sich diese Interpretation an, aber für Westdeutschland wird dieser Einfluss weitgehend bestritten. Daher erscheint es lohnenswert, den Einfluss von Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess für die umrissene Altersgruppe zu diskutieren.

2.5 H ISTORISCHE Z ÄSUR „After 9 November 1989 one thing, if only one thing, if nothing else, is certain: nothing, absolutely nothing, apart from our own eventual departures from the scene, is ever bound to happen“ (Hebdige 1996: 270).

Kann von einer durch den Mauerfall geprägten Generation die Rede sein? Unklar bleibt, ob diese Ereignisse auch einen Einfluss auf die westdeutsche Population gehabt haben und – wenn ja – in welchem Umfang. Klassisch gelten Ereignisse wie Krieg, Revolution oder Inflation als typische Prägungen. Das klassische Generationenschicksal ist das der Kriegsteilnehmergeneration oder gerade derjenigen, die noch zu jung waren in den Krieg zu ziehen. 14 Mehrere mögliche

14 Das ist z.B. der Fall bei der „doppelt überflüssigen“ Jugendgeneration der Weimarer Republik. Sie ist doppelt überflüssig, weil sie zu jung für den Krieg ist und nach dem

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Epochenbrüche werden seit 1989 wiederholt diskutiert. Neben dem Mauerfall 1989 und dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 werden seit einiger Zeit auch die Anschläge des 11. September 2001 als mögliche Zäsur diskutiert, alternativ auch die Weltklimakonferenz von Rio 1992, als sich zeigte, dass die verschwenderischen Lebensstile des Westens nicht zukunftsfähig sind (Radermacher 2008: 49). Dabei handelt es sich nicht um historische Prägeereignisse im engeren Sinne, sondern dienen als Symbol dafür, dass sich die Welt verändert hat, und regen zum politischen Denken an. Die globalen Auswirkungen einer verschwenderischen Ökonomie waren auch vor der Weltklimakonferenz als Problem bekannt. Prägend war die Weltklimakonferenz als Ereignis vor allem, weil es den Eindruck der Bedrohlichkeit der gegenwärtigen Probleme verdeutlicht und zeigt, dass die derzeitigen Lebensstile in westlichen Gesellschaften in naher Zukunft zur Katastrophe führen können. Ebenso hat sich die Situation spätmoderner westlicher Industriegesellschaften durch den Mauerfall nicht wesentlich geändert. Auch der Fall der Mauer symbolisiert, dass sich die Welt verändert. Einen eigentümlichen Gegensatz zu diesen Veränderungsrhetoriken bilden Diagnosen vom Ende der Geschichte (Rohbeck 2008: 102). Fukuyamas Diktum vom „Ende der Geschichte“ (Fukuyama 1992) ist vielmehr Ausdruck einer selbstgefälligen Anti-Politik in Form eines Marktliberalismus: Mit der Etablierung freier Märkte endet die Politik. Das Jahr 1989 steht damit ironischerweise für das Ende der sozialistischen Anti- Politik und gleichzeitig für den Beginn einer marktliberalen Anti-Politik, die durch ihre eigenen Krisensymptome zwanzig Jahre nach dem Fall der Mauer wiederum infrage gestellt wird (Howard 2009: 69). Entgegen aller Veränderungsrhetoriken fällt die Bundesrepublik nach wie vor durch eine besondere Stabilität auf. Das Parteiensystem wird im Wesentlichen von den beiden großen Parteien dominiert, von den etablierten Parteien wird kein Systemprotest artikuliert und die politischen Auseinandersetzungen sind vor allem ein Wettbewerb um die Mitte.15 Die etablierten Parteien sind Volksparteien, die das Ziel haben, auch Wähler außerhalb ihres Ursprungsmilieus zu gewinnen. M. Rainer Lepsius postuliert für das Jahr 2000, dass das politische System der Bundesrepublik prägend für zukünftige Generationen in der Bundesrepublik sein wird. Die Bundesrepublik ist ab diesem Zeitpunkt selbst „tradierte Geschichte“.

Krieg unter den Folgen der Wirtschaftskrise zu leiden hatte (Peukert 1987: 94). Aus diesen Jahrgängen rekrutierte sich unter anderem der Repressionsapparat im Nationalsozialismus (Wildt 2003). Literarisch wurde diese Generation z.B. in Ernst Glaesers Roman „Jahrgang 1902“ verarbeitet (Glaeser 1978). 15 M. Rainer Lepsius bezeichnet diese drei als wesentliche Eigenheiten des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (Lepsius 1990: 64).

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Die Institutionen der Bundesrepublik würden ab diesem Zeitpunkt durch Personen besetzt sein, die nur durch die Bundesrepublik geprägt sind, nachdem die Personen, die noch eine Erinnerung an ein anderes politisches System haben, aus den maßgeblichen Positionen durch Verrentung ausgeschieden sind (Lepsius 1990: 84). Nach dem Systemumbruch 89/90 hat die DDR die Rolle einer historischen Vergleichsoption bekommen. Politische Auseinandersetzungen können durch den Verweis auf das Scheitern der DDR geführt werden. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang z.B. die Stärkung des Subsidiaritätsprinzips in der Sozialpolitik sowie die Rückweisung zweiter und dritter Wege. Innovationen können zwar auch durch den Verweis auf die DDR begründet werden, sie bleiben jedoch marginal, wie Rechtsabbiegepfeil, Kinderkrippenerziehung oder ein stärker auf Recycling basierendes Müllentsorgungswesen. Der Systemumbruch hat für Westdeutschland keinen unmittelbaren Einfluss gehabt, eine wesentliche Wirkung liegt vielmehr in der Umkodierung der als wesentlich oder herausragend erachteten Themen. Der Zusammenbruch der DDR hat den Blick auf die bereits bestehenden Probleme der Postindustriellen, westdeutschen Gesellschaft gefördert. Ebenso hat der 11. September ein neues Licht auf die mögliche Problematik weltweit widerstreitender Kulturen gelegt. Auch diese Problematik besteht nicht erst seit dem 11. 09.2001, sondern hat durch dieses Ereignis besonderes Interesse hervorgerufen. Betrachtet man den Mauerfall als das mutmaßlich wesentliche Prägeereignis, ist zunächst Vorsicht geboten, um die Auswirkungen dieses Ereignisses nicht zu überschätzen. Claus Leggewie weist darauf hin, dass die historische Bedeutung des Systemumbruchs 1989 entweder heruntergespielt oder emphatisch hervorgehoben wird. Bei besonderer Betonung des Epochenbruchs 1989 wird zudem meistens auf eine wahrgenommene Zivilisationskrise Bezug genommen, ein gefühlter Bruch in der Fortschrittserwartung westlicher Gesellschaften (Leggewie 1998: 8). Dieser Bruch im Fortschrittsparadigma ist bereits Teil der Zeitdiagnosen der 80er Jahre, z.B. in der Diagnose des Endes der Arbeitsgesellschaft (Habermas 1985: 141f.). Daher lassen sich diese Prozesse nicht als Folgen von 89 interpretieren, Helmut Fend beschreibt die Wahrnehmung einer Zivilisationskrise bereits als die Generationenlage, der in den 80er Jahren aufgewachsenen (Fend 1988: 169). Mithilfe der von Fernand Braudel beschriebenen Geschichtsschichten kann der Gegensatz zwischen Veränderungsrhetoriken und der tatsächlichen Kontinuität des politischen Systems der Bundesrepublik als Effekt zwischen Struktur und Ereignisgeschichte interpretiert werden. Braudel kritisiert eine Auffassung von Geschichte, die sich auf das reine Sammeln historischer Daten zurückzieht, soziale und ökonomische Prozesse werden jedoch durch den alleinigen Blick auf die Ereignisse vernachlässigt (Braudel 1977: 55):

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„Das Ereignis ist eine Explosion, eine „schallende Neuigkeit“, wie man im 16. Jahrhundert sagte. Sein täuschender Rauch erfüllt das Bewusstsein der Zeitgenossen, aber es hält nicht lange vor, kaum sieht man seine Flamme“ (Braudel 1977: 51).

Ereignissen, wie dem Mauerfall, wird die Wirkung zugeschrieben, die Welt verändert zu haben. Das Ereignis kann täuschen, nach dem Abklingen des Ereignisses zeigt sich, dass die alten Probleme bestehen bleiben, die tatsächlichen Veränderungen gehen oft auf langfristige Prozesse zurück. Den Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 als Enddatum des kurzen 20. Jahrhunderts (Eric Hobsbawn) zu setzen,leuchtet ein, da dieses Datum viele andere Veränderungen mit sich brachte: Das Ende der Blockkonfrontation, die Erweiterung der EU, eine stärkere Disparität zwischen den Schichten mit einer Abkopplung der Eliten und Verarmung des Mittelstandes sowie eine weltweite Aufwertung der Religion (Wehler 2008 XI f.). Solche Veränderungen sind zwar in ihrer Summe bedeutsam, lassen sich aber kaum auf ein Datum bringen und sind keine Folge des Systemumbruchs. Diese Veränderungsrhetoriken bringen länger andauernde Prozesse auf ein einprägsames Datum. Es ließe sich in diesem Sinne auch argumentieren, die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts gingen vom 09.11.89 – 11.09.2001. Nach dem Ende der Blockkonfrontation folgte eine verspielte Zwischenzeit, bevor sich die neuen Konflikte, wie eine augenscheinliche ökonomische Verunsicherung in der westlichen Welt wie auch eine wachsende Bedrohung durch asymmetrische militärische Konflikte bemerkbar machen 16 . Dieselben Prozesse lassen sich durch unterschiedliche „Geschichtszeichen“ (Immanuel Kant) beschreiben. Historische Daten allein sind leer, auch sie können mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden. Zum besseren Verständnis sollen zunächst die Wirkungen des Systemumbruchs 1989 unabhängig von den Krisensymptomen einer spätmodernen westlichen Gesellschaft diskutiert werden, auf diese gehe ich zu einem späteren Zeitpunkt ein. Zum besseren Verständnis werden die Auswirkungen der 89er Zäsur für (1.) Ost- und (2.) Westdeutschland getrennt und schließlich (3.) für die internationalen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland nach 1991 diskutiert. 1. Eine zweifellos einschneidende Wirkung hat die historische Zäsur für die Bevölkerung der ehemaligen DDR gehabt. Über Nacht mussten sich die Bürger der damaligen DDR in ein neues politisches System eingewöhnen, dieser Prozess gilt noch nicht abgeschlossen: Auch Jahre nach der Wiedervereinigung ist von

16 Diese Aussage machte einer meiner Interviewpartner, hier sei auf die Zahlenmythologie 09.11 / 11.09 verwiesen

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einer ostdeutschen Sonderidentität die Rede, die sich als ein nicht dazugehören, ein Bewusstsein einer „bedrohten Besonderheit“ äußert (Bisky 2005: 103f.). Diese Andersartigkeit ist nicht nur ein Gefühl. Die ostdeutsche Bevölkerung muss in einem deutlich stärkeren Ausmaße alimentiert werden, man steht der Politik passiv gegenüber, die Debatten des Westens sind fremd, man konsumiert andere Medien, ostdeutsche Städte und Regionen schrumpfen. Anstatt der Vermutung, dass sich Ost- und Westdeutsche näher kommen, werden sich nach der Wiedervereinigung die Angehörigen beider Landesteile fremder (Mitzscherlich 1991: 1295). Die paradoxe Entwicklung ist, dass gerade die Wiedervereinigung eine solche Sonderidentität herausgebracht hat, auch die Rede von einem „Gefälle“ zwischen beiden Landesteilen führt zu einer weiteren Ausprägung dieser Sonderidentität (Greiffenhagen, Greiffenhagen 2002: 19). Thomas Ahbe gibt ein empirisch aufschlussreiches Beispiel über die sozialstrukturelle Selbst- und Fremdzuschreibung in Ost- und Westdeutschland. Im Vergleich zu den objektiven Kriterien ordnen sich Ostdeutsche überproportional häufig der Arbeiterklasse zu, in der Bundesrepublik zählt man sich überdurchschnittlich häufig zum mittleren Bürgertum. Je nachdem welche Klasse in der Herkunftsgesellschaft als die „ehrbare Stütze der Gesellschaft“ gilt oder galt (Ahbe 2009: 86). Als sozialpsychologisch bedeutsamer Faktor fällt der Unterschied zwischen zwei Zeitempfindungen auf: Während das vorherrschende Zeitgefühl in der Bundesrepublik Deutschland linear mit einem offenem Zeithorizont ist, wird für die ehemalige DDR vor allem ein linear geschlossenes oder eine zyklisches Zeitbewusstsein beschrieben, dass mit einer niedrigen Lebenszufriedenheit und einer pessimistischen Zukunftserwartung einhergeht. Einstellungsforschungen lassen vermuten, dass es generationenabhängig ist, wie ausgeprägt diese Zeitempfindung erhalten geblieben ist, bzw. zu einem linear offenen Zeitempfinden geworden ist (Greiffenhagen, Greiffenhagen 2002: 25). Es ist zu erwarten, dass jüngere Ostdeutsche möglicherweise diese Prägung nicht in vollem Maße internalisiert haben, anders als diejenigen, die erhebliche Teile ihres Erwerbslebens in der DDR verbracht haben. Historisch einzigartig ist der Systemumbruch nicht, weil nicht revolutionäre Kräfte die Macht übernommen haben17, sondern durch den Anschluss an ein anderes bereits bestehendes System. Im Gegensatz zu den übrigen sozialistischen Regimes in Ost- und Mitteleuropa ist bei dem Systemumbruch in der ehemaligen DDR auf diese besondere Situation hinzuweisen. Durch den Anschluss an die Bundesrepublik wurde schlagartig das Institutionenund Rechtssystem ausgetauscht, während die alten Orientierungen und Mentali-

17 Leggewie beschreibt den Systemumbruch in der DDR nach 1989 als Restauration, nicht als Revolution (Leggewie 1998: 9f.).

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täten zunächst weiter bestanden. M. Rainer Lepsius weist darauf hin, dass ein Vorausgehen der institutionellen Ordnung vor der Entwicklung der eigentlichen politischen Kultur ein bekanntes Phänomen im Westteil der Bundesrepublik nach 1945 war. In der Bundesrepublik wurden zunächst die demokratischen Institutionen aufgebaut, das Funktionieren dieser Institutionen prägt auf Dauer die politische Kultur der Bundesrepublik (Lepsius 1991: 72f.). Claus Offe stellt neben diese optimistische Prognose die Kritik, dass es zwei stabilisierende Faktoren in der Bundesrepublik gegeben hat, die in Ostdeutschland nicht vorhanden waren: Die relative ökonomische Stabilität, die dazu geführt hat, dass ökonomische Verunsicherungen nur am Rande der Gesellschaft ein Problem wurden, und als Zweites die Präsenz der antiautoritären Revolte im kollektiven Bewusstsein der Bundesrepublik die die Abwehrkräfte der Zivilgesellschaft gegen reaktionäre Versuchungen gestärkt hat. Der Bezug zu beidem ist in Ostdeutschland nach 1989 wenig ausgeprägt (Offe: 1991: 83f.). Insgesamt ist bei der ostdeutschen Bevölkerung eine skeptischere Haltung dem institutionellen System der Bundesrepublik gegenüber zu erkennen. Eine weitere Besonderheit am Systemumbruch nach 1989 in Ostdeutschland war ein Elitenaustausch. Während man sich in anderen Staaten Ost- und Mitteleuropas bei der Besetzung maßgeblicher Posten nach einem Regimewechsel mit alten Eliten arrangieren musste, konnten in Ostdeutschland diese Positionen durch Personen aus dem westlichen Teil des Landes besetzt werden. Sie hatten den Vorteil, dass bei ihnen eine Verstrickung in das SED-Regime ausgeschlossen und eine Vertrautheit mit dem politischen System der Bundesrepublik Deutschland vorhanden war. So wurden als Richter, in der Ministerialbürokratie, im Journalismus und als Hochschullehrer besonders Absolventen aus dem Westen berücksichtigt. Dies ist ein weiterer Grund, warum der Transformationsprozess in der ehemaligen DDR stabiler verlief als in vielen anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks. Hier waren Demokratisierungstendenzen oft durch Angehörige der ehemaligen Nomenklatura, die sich auch nach dem Systemumbruch in maßgeblichen Positionen halten konnten, gefährdet. Grundsätzlich galt bei diesem Elitenaustausch, je höher die Position, umso wahrscheinlicher war die Besetzung durch einen Westdeutschen. Die Posten der Staatssekretäre, die Polizeiführung und die Landesämter für Verfassungsschutz waren Anfang der 1990er Jahre fest in westdeutscher Hand (Derlien 1997: 379). Aufgrund der „Überproduktion“ von Juristen gab es viele junge westdeutsche Absolventen, die ihr Berufsleben in Ostdeutschland begannen, da die begehrten Stellen in Westdeutschland stärker umkämpft waren. Es ist bei diesem Elitenwechsel nicht von einem reinen Generationenphänomen auszugehen, sondern es kam zu einer Durchmischung der Institutionen durch „junge Überflieger“ und auch ältere Westdeutsche, deren Kar-

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riere im Westteil der Bundesrepublik stagnierte und für die der Wechsel nach Ostdeutschland eine Verbesserung bedeutete (Derlien 1997: 406). Angehörige der DDR-Elite wurden nach 1989 mehr oder weniger an die Peripherie gedrängt, das prominenteste Beispiel ist das ehemalige Politbüro-Mitglied Günther Schabowsky. Nach der Wiedervereinigung fand er eine Anstellung als Layouter bei einem hessischen Lokalblatt (Derlien 1997: 387). Auch in anderen Bereichen ist der Wiedervereinigungsprozess westdeutsch dominiert: Im Zuge der Privatisierung des ehemaligen DDR-Volkseigentums durch die Treuhandanstalt sind lediglich 5% des Produktivvermögens in ostdeutsche Hände gegangen (Bisky 2005: 75). Die letzten Volkskammerwahlen der DDR fanden unter westdeutscher Einflussnahme statt: Ostdeutsche Parteien, die Schwesterparteien in Westdeutschland hatten, konnten in diesem Wahlkampf auf massive materielle und personelle Unterstützung hoffen. Die Parteien, die aus kleinen oppositionellen Initiativen sowie der Bürgerrechtsbewegung hervorgegangen sind, hatten diese Möglichkeit nicht. Der runde Tisch hatte zwar beschlossen, im Wahlkampf aus Gründen der Chancengleichheit auf westdeutsche Gastredner zu verzichten. Tatsächlich waren die Protagonisten des letzten DDR-Wahlkampfes Kohl, Genscher und Brandt (Wirsching 2006: 668). Zusammenfassen lässt sich dies wie folgt: Für die Bevölkerung der damaligen DDR war die besondere Situation, dass sie sich in ein komplett neues System eingewöhnen mussten. Die Institutionen der DDR wurden nach 1990 abgewickelt und nach westdeutschem Vorbild neu aufgebaut. Aus dieser Situation lässt sich vermuten, dass der Systemumbruch in Ostdeutschland nach 1989 auf jedes Leben gewirkt hat. (2.) Unklar bleibt, welche Auswirkungen der Zäsur auf das Leben im westlichen Teil des Landes zu nennen sind. Nach 1989 wurde häufig postuliert, dass sich das Leben auch im Westen verändert habe, diese Behauptung wird jedoch selten klar begründet, es scheint lediglich ein diffuses Gefühl der Veränderung vorzuliegen. Während in Ostdeutschland die Eingewöhnung in das Alltagsleben in einem neuen System zu bewältigen war, wird für Westdeutschland diffus eine grundsätzliche Verunsicherung beschrieben, die Jens Bisky als das Gefühl beschreibt, die „Welt nicht mehr verstehen zu können.“ Dieses Gefühl wird für den Westteil der Bundesrepublik als deutlicher wahrnehmbar beschrieben als für den Osten, denn dort stand zunächst die Sicherung der eigenen Existenz im Vordergrund (Bisky 2005: 11f.). Es kann vermutet werden, dass es die Vorstellung nicht mehr überzeugender Weltbilder schon vor dem Mauerfall gab, er selbst stellte möglicherweise ein weiteres Symptom für diese grundsätzliche Verunsicherung dar. Als direkte Konsequenz des Mauerfalls wird das Verschwinden der vermeintlich fest gefügten Identitäten wie „Ost“ vs. „West“ genannt, nach dem Wegbrechen dieses Gegensatzes ist eine Krise des „cognitive mapping“ zu be-

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obachten. Dieses Problem wird nicht als „Postmoderne“ oder „Posthistorie“ beschrieben, sondern es ist direkt auf den Umbruch der geopolitischen Lage zurückzuführen, der Gegensatz zu den „westlichen Gesellschaften“ muss neu verortet werden (Hebdige 1996: 271). Die gefühlte Verunsicherung kann also zum Teil auf ein Wegbrechen der Gewissheiten, die durch das Ende des Gegensatzes Ost/ West geliefert wurden, zurückgeführt werden. Ein anderes Motiv der politischen Verunsicherung nach 1989 kann in einem möglicherweise veränderten nationalen Selbstverständnis vermutet werden. Eine häufig gehörte Aussage ist, dass die Wiederherstellungen der Kontinuität des Bismarck’schen Nationalstaates bei der post-national ausgerichteten westdeutschen Linken für Irritationen gesorgt hat: Der prominenteste Kritiker des Wiedervereinigungsprozesses war der damalige SPD Kanzlerkandidat Oscar Lafontaine, der nachdrücklich vor den ökonomischen und sozialpolitischen Konsequenzen des Wiedervereinigungsprozesses gewarnt hat. Als einzige etablierte Partei haben die GRÜNEN bis zur Wende eine Zweistaatlichkeit mit Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft gefordert (Wirsching 2006: 251f.). Während die Sozialdemokraten und die GRÜNEN das Thema einer möglichen Wiedervereinigung ausblendeten, konnte in den 1980er Jahren der Bundeskanzler Helmut Kohl durch eine Politik zwischen „Pragmatismus und neuer normativer Distanz“ (Wirsching 2006: 591ff.) eine besondere Glaubwürdigkeit und Kompetenz bezüglich der deutschen Frage erlangen. Man bemühte sich um eine Annäherung im alltäglichen Leben zwischen BRD und DDR: Die BRD gewährte z.B. zusätzliche Kredite, woraufhin die DDR die Formalitäten an der innerdeutschen Grenze lockerte. Erich Honneckers Besuch in Bonn, der als ein Zeichen der Annäherung zwischen beiden Staaten gedeutet wird, fällt in die Amtszeit Helmut Kohls. Obwohl Honneckers Staatsbesuch in der Bundesrepublik Deutschland als bedingte Anerkennung der Souveränität der DDR interpretiert werden kann, blieben wesentliche Forderungen der DDR-Führung an die Bundesrepublik wie die Anerkennung der DDR-Staatsbürgerschaft ausgeklammert. Kohl betonte immer wieder seine Distanz zum SED-Regime und hielt so die Möglichkeit einer Wiedervereinigung zumindest formal offen. Anders als bei der CDU war bei der SPD ein Kompetenzproblem in der deutschen Frage zu erkennen. Die SPD hatte die Wiedervereinigung nicht auf ihrer politischen Agenda, was nach 1989 im Widerspruch zur Mehrheitsmeinung der Bevölkerung stand (Wirsching 2006: 621). Weitaus schlimmer traf es den potenziellen Koalitionspartner. Obwohl die GRÜNEN als einzige westdeutsche Partei Kontakte zu oppositionellen Gruppen in der DDR pflegten und damit ein gesamtdeutsches Potenzial aufweisen konnten,

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standen sie – wie die Mehrheit der DDR-Bürgerrechtsbewegung – der Möglichkeit einer Wiedervereinigung mehrheitlich ablehnend gegenüber (Wirsching 2006: 651f.). Obwohl die Regierungszeit Kohls schon von Beginn an krisengeschüttelt war, kam es vor allem durch den Kompetenzgewinn in der deutschen Frage zu einer triumphalen Wiederwahl bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen 1990. Der politisch „tot geglaubte“ Kanzler Helmut Kohl konnte seine Amtszeit um weitere acht Jahre verlängern, trotz Popularitätverlußten nach Abklingen der Wiedervereinigungseuphorie und Wiederkehr der Alltagsprobleme einer modernen Massendemokratie. Diese politische Konstellation wird im Zusammenhang mit dieser Arbeit besonders berücksichtigt. Von Personen, die sich als 89er bezeichnen, ist oft zu hören, dass sie sich politisch an nichts anderes erinnern können als an Helmut Kohl. Florian Illies schreibt in Generation Golf: „…[W]enn man den Fernseher anmachte, sah man immer Helmut Kohl“ (Illies 2003: 16).

Auch wenn die die Regierungszeit Kohls von Skandalen und Krisen bestimmt war, wird sie als langweilig beschrieben. Dieses Kohltrauma stellt eine zentrale Erfahrung in Westdeutschland dar und wird im Laufe der Arbeit erneut ausführlich aufgegriffen. Neben der politischen Verunsicherung durch das Wegbrechen des Gegenpols der westlichen Gesellschaften ist als weiterer Teil dieser grundsätzlichen Verunsicherung das Scheitern kritischer Stimmen im Wiedervereinigungsprozess zu nennen. Hierbei soll es nicht allein um Gegenstimmen zum Wiedervereinigungsprozess gehen, sondern vor allem um einen gefühlten Bedeutungsverlust der Linken, der sich z.B. auch signifikant daran zeigt, dass Jungwähler im Vergleich zum Ende der 1970er/ Anfang der 1980er Jahre mehrheitlich zu Beginn der 1990er Jahre bei Wahlumfragen wieder der CDU ihre Erstpräferenz gaben (Scherer 1996: 89). Politische Prozesse, die bereits vor der Wende zu erkennen waren, werden fälschlicherweise der historischen Zäsur zugeschrieben, z.B. dass der institutionelle Umbau Ostdeutschlands im Zuge eines Deregulierungsschubes auch eine Wirkung auf Westdeutschland gehabt habe. Dem ist nur bedingt zuzustimmen. Hartmut Rosa nennt drei soziale Prozesse, die sich um das Jahr 1989 bündeln und zu einer gesellschaftlichen Beschleunigung beitrugen: Digitalisierung, die zunehmende Verbreitung von flexiblen post-fordistischen Arbeitsformen sowie den Systemumbruch im Ost- und Mitteleuropa (Rosa 2005: 336). Diese Prozesse bedingen sich gegenseitig. Die technischen Fortschritte des Westens z.B. haben in den sozialistischen Staaten das Gefühl verstärkt, man werde „abgehängt“: Die eigene technische Entwicklung hing zurück und zum Import neuer Technik haben

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die Mittel gefehlt18 Die Wahrnehmung der Rückständigkeit hat eine verstärkte politische Unzufriedenheit hervorgebracht. Im Zuge gesellschaftlicher Beschleunigung wird der Wohlfahrtsstaat als ein störender Bremser wahrgenommen (Rosa 2005: 324). Deregulierungsbestrebungen sind die logische Konsequenz. Der Wiedervereinigungsprozess hat bereits bestehende Prozesse in Westdeutschland beschleunigt, auf ihn zurückzuführen sind sie nicht. Umgangssprachlich ist häufig von der Zeit vor und nach der Wende die Rede. Die Wende wird nicht nur für die Ostdeutschen der Wendezeit als Prägung postuliert, sondern auch für die westdeutsche Jugendgeneration der 90er Jahre als politisches Prägeerlebnis (Leggewie 1998: 11). Dieses Ereignis hat nur eine symbolische Relevanz, da sich das Leben in Westdeutschland kaum verändert hat und die bewusste Erfahrung des Wiedervereinigungsprozesses eine privilegierte Erfahrung darstellt. Diese Ausnahmen werden an anderer Stelle der Arbeit behandelt. Ebenso zeigt die jüngere Generation in Westdeutschland eine gewisse Leidenschaftslosigkeit nationalstaatlichen Themen gegenüber. Der Journalist Christoph Amend (Jahrgang 1974) schreibt über sich und seine Altersgenossen: „Die Deutschen. Ich bin aufgewachsen in einem Nicht-Verhältnis zu diesem Thema. Deutschland und seine Befindlichkeiten spielten in meiner Jugend keine Rolle, am Beispiel DDR zeigte sich das ganz deutlich: Ich weiß noch wie lächerlich ich es fand, dass die Bild-Zeitung die DDR in Anführungszeichen setzte“ (Amend 2003: S. 122).

Die Existenz zweier deutscher Staaten wurde von Christoph Amend stellvertretend für seine Altersgenossen als selbstverständlich angenommen. Ziel der innerdeutschen Politik blieb eine Wiederherstellung der Deutschen Einheit, dieses politische Ziel hatte selbst bei der CDU eher etwas Pflichtschuldiges, die reale Politik Helmut Kohls war durch eine Vielzahl von Annäherungen zwischen beiden deutschen Staaten gekennzeichnet. Um deutlich zu machen, dass die Souveränität der DDR nicht in vollem Umfang anerkannt wurde, setzte die Bildzeitung die DDR in Anführungszeichen. Im Vergleich zu anderen Nachbarstaaten wird die DDR als an-

18 Es wurde versucht, eigene Halbleiter-Chips herzustellen. Der Preis für die Produktion lag bei 536 Mark, 520 Mark dieses Preises sollten durch staatliche Subventionen abgefangen werden. Der verbliebene Preis betrug 16 Mark, teurer als der Weltmarktpreis und es wurde ein technisch rückständiges Produkt vertrieben (Wehler 2008: 358). Die Frage, ob eigene Chips herzustellen oder zu importieren sind, sorgte für eine Kontroverse innerhalb der DDR – Führung. Angesichts der genannten Zahlen erscheint es absurd, eigene Chips zu produzieren. Grundsätzliche ökonomische Erwägungen lassen es geboten erscheinen, eigene Chips zu produzieren (Vgl. Pirker et al. 1995: 88f.)

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dersartig wahrgenommen. Strenge Grenzkontrollen und Zwangsumtausch vermittelten den Eindruck, dass es sich hier nicht um einen „normalen“ Nachbarstaat – vergleichbar mit der Schweiz oder Österreich – handelt. Ein deutlich niedrigeres Niveau der Lebenshaltung und der technologische Rückstand machten die DDR auch nicht zu einem attraktiven Reiseziel, da Frankreich oder Italien einfacher zu erreichen waren und mehr zu bieten hatten. Neben Reisen boten Schüleraustausche und Auslandssemester die Möglichkeit, vertraut mit den Nachbarstaaten zu werden. Das Interesse für die DDR erschien geradezu idiosynkratisch. Offenes Desinteresse am anderen Teil des Landes ist auch nach dem Fall der Mauer zu beobachten. Der Tagesspiegel Redakteur Robert Ide schreibt hierzu: „Später ärgerten wir uns über Straßenumfragen im ‚Rias TV‘, bei denen West-Berliner [...] erzählten, sie seien noch nicht in den Osten gefahren und hätten das trotz offener Grenzen auch nicht vor“ (Ide 2009: 43).

Eine neue politische Generation in der Bundesrepublik wird als die Erbengeneration der Wende charakterisiert (Leggewie 1998: 10), was eine gewisse Plausibilität besitzt. Sie steht besonders in der Erbschaft des politischen Systems der Bundesrepublik. Politische Debatten drehen sich um die „Enkel Willy Brandts“ oder die „Kinder der Ära Kohl.“ Auch hier können Vorstellungen einer Genealogie der Bundesrepublik von den Flakhelfern über die 68er zu den 89ern gefunden werden. Derartige positive Bezugspunkte bietet die ehemalige DDR nicht. Eine Generationenrhetorik, die sich in einer politischen Genealogie verortet – wie es bei der Debatte um eine 89er Generation zu erkennen ist, ist daher eine westdeutsche Rhetorik. Das Leben in Westdeutschland 1989-2001 bezeichnet Jens Bisky als eine Phase der „nervösen Normalisierung“: Die ohnehin pragmatisch ausgerichtete politische Kultur entwickelte einen selbstverständlichen, ironisch-spielerischen Politikstil, auch im Umgang mit heiklen Themen wie der nationalen Identität der Deutschen (Bisky 2005: 41). Wieder lässt sich Fragen, ob dies wirklich neue Entwicklungen sind, oder ob das historische Ereignis nur den Blick auf einen Prozess gelenkt hat, der bereits in der Bundesrepublik vor 1989 zu erkennen war. Fragen nach einem Schlussstrich unter der NS-Vergangenheit werden häufig als Ausdruck eines Neuanfanges nach 1989 gesehen, die Jugendgeneration der 90er Jahre sehe keine Notwendigkeit, eine weitere Aufarbeitung des Nationalsozialismus zu betreiben, da sie keine persönliche Schuld treffe, und man sich daher pragmatisch auf die Bewältigung konkreter alltäglicher politischer Probleme konzentrieren könne (Leggewie 1998: 26). Bestrebungen zum „Schlussstrich“ sind dagegen bereits in der Regierungszeit Kohls zu erkennen (Habermas 1985:

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261). Diese Fragen bleiben aber auch nach 1989 westdeutsche Fragen, bei ostdeutschen Intellektuellen ist eine gewisse Fremdheit den Debatten um die Aufarbeitung des NS zu beobachten, sie haben sich nicht einmal um eine Teilhabe an diesen Debatten bemüht (Bisky 2005: 184).Zusammenfassend kann gesagt werden: Der politische Wille zum Umbau der Bundesrepublik war bereits vor 1989 zu erkennen, die Ereignisse dieses Jahres haben diese Bestrebungen möglicherweise verstärkt. Eine Vielzahl von Ereignissen wird im Nachhinein als eine Folge der historischen Zäsur wahrgenommen, obwohl sie es nicht sind. 3. Die Blockkonfrontation, die noch in den 80er Jahren die politische Situation in Europa bestimmte, ist nach dem Systemumbruch in Mittel- und Osteuropa kein Thema mehr, die westliche Welt – vor allem die USA – nimmt weltpolitisch eine hegemoniale Position ein. Außenpolitisch hat sich die Lage Deutschlands nach 1989 deutlich verändert, mit der Wiedervereinigung wurde die Bundesrepublik Deutschland endgültig zum souveränen Staat, es wird von den Bündnispartnern verstärkt die Übernahme von internationaler Verantwortung verlangt. Die Bundesrepublik nimmt Anfang der 90er Jahre die Rolle einer „verdeckten Großmacht“ (Bude 1991: 660) ein. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland durchaus einen Machtfaktor darstellt, dementiert sie diese Rolle. Die Außenpolitik der BRD überrascht trotz dieser Dementi immer wieder durch Alleingänge. Für besonderes Misstrauen hat die Spekulation um weitere Expansionspläne der Bundesrepublik kurz vor der Wiedervereinigung gesorgt: Aus wahlkampfstrategischen Gründen wurde z.B. von der damaligen Regierung Kohl die offizielle Anerkennung der Oder-Neiße Linie hinausgezögert (Lipietz 1993: 27). Hinzu kommt Anfang der 90er eine vorschnelle Parteinahme Deutschlands für Slowenien und Kroatien im Balkankonflikt durch Aufnahme diplomatischer Beziehungen, die als versuchte Einflussnahme auf das Gebiet des ehemaligen Jugoslawien verstanden werden konnte. Das politische System der Bundesrepublik hat eine weitere Veränderung durch die Ereignisse des Jahres 1989 erfahren. Nachdem bereits die GRÜNEN Anfang der 80er als eine vierte politische Partei dauerhaft in den Bundestag eingezogen waren, trat die Nachfolgepartei der SED erst als PDS und aktuell nach Fusion mit der westdeutschen WASG als Linkspartei als eine fünfte etablierte Partei hinzu, wenn auch mit unterschiedlichen Erfolgen, was immer wieder Spekulationen über das mögliche „Verschwinden“ dieser Partei hervorruft. Innerhalb der Linkspartei ist ein Generationswechsel um das Jahr 1989 zu erkennen. In der Partei wurden die aus der Aufbaugeneration stammenden Eliten mit Ende des SED Regimes nach und nach durch jüngere Parteimitglieder ersetzt. Die Parteiführung der Linkspartei ist heute durch viele Personen, die in den frühen 70er geboren wurden, dominiert und damit wesentlich jünger als in anderen Parteien.

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Die Ausführungen dieses Teils lassen sich wie folgt zusammenfassen: Die Ereignisse des Jahres 1989 haben für die westdeutsche Trägergruppe, die die beschriebene Generationendebatte dominierte, vor allem eine symbolische Relevanz. Während in Ostdeutschland nach 1989/90 jedes Leben zur Disposition stand, ist die Zäsur für die Westdeutschen nicht ohne Folgen geblieben, ihre Auswirkungen sind aber eher spezifisch, wie der Elitenaustausch nach 1990. Wer politisch dachte, mag die verlängerte Amtszeit Kohls negativ in Erinnerung behalten haben, wer eine Karriere im Militär plante, kann möglicherweise die neue außenpolitische Rolle der Bundesrepublik und die damit einhergehende zunehmende Anzahl von Auslandseinsätzen der Bundeswehr als einschneidend wahrnehmen. In diesen Fällen kann man nicht von Ausnahmen sprechen, wohl aber von Sonderfällen, da die Zäsur für die überwiegende Zahl der westdeutschen Population keinen nennenswerten Auswirkungen gehabt haben dürfte. Wesentlich erscheint für sie das Gefühl in neuen Zeiten zu leben. Für die weitere Arbeit empfiehlt es sich, diese Trägergruppe weiter auszudifferenzieren, denn, wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, ist von disparaten Erfahrungen auszugehen. Die Arbeitshypothese dieser Arbeit ist, dass die Generationenrhetorik der „89er“ maßgeblich durch Erfahrungen des institutionellen Systems der Bundesrepublik Deutschland geprägt ist sowie der Krise des Wohlfahrtsstaates. Es stellt sich die Frage, inwieweit der Wohlfahrtsstaat als gemeinsame Prägung interpretiert werden kann. Diese Thematik wird im nächsten Abschnitt behandelt.

2.6 W OHLFAHRTSSTAATLICHE G ENERATIONEN Neben den historischen Umbruchserfahrungen tritt – besonders bei Abwesenheit der oft genannten Großereignisse Krieg, Inflation, Revolution – immer häufiger die Frage nach der Prägung durch den Wohlfahrtsstaat in den Vordergrund. Da der Wohlfahrtsstaat neben dem Bildungssystem ein wesentlicher Bereich ist, in dem sich die Gesellschaft über das Kriterium Alter organisiert, kann vermutet werden, dass sich das Bewusstsein zu einer Altersgruppe zugehören sich entlang der Organisation durch den Wohlfahrtsstaat herausbilden könnte. Bereits in den 1970er Jahren, besonders rasant ab Ende der 80er Jahre, kam das Sozialmodell der Bundesrepublik Deutschland – wie auch das vieler anderer westlicher Industriestaaten – in Bedrängnis. Die ab Mitte der 70er Jahre spürbare Krise wurde in Deutschland zunächst nicht Ernst genommen, da zunächst eine Fortsetzung des „Wirtschaftswunders“ erwartet wurde. Obwohl die Bundesrepublik Deutschland weiterhin zu den führenden Industrienationen zählte, führte diese unrealistische Kontinuitätserwartung dazu, dass notwendige Reformen in

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Deutschland anders als in vielen Nachbarstaaten erst zu spät in Angriff genommen wurden. Das „Wirtschaftswunder“ ist ein historischer Sonderfall, dessen Fortsetzung nicht als selbstverständlich gegeben angenommen werden konnte: Einerseits kurbelte das Einsickern hoch qualifizierter Arbeitskräfte, die in den 1950er Jahren die damalige DDR verließen, die westdeutsche Wirtschaft an, andererseits ist auf einen Strukturbruch in der Ökonomie Westdeutschlands zu verweisen (Wehler 2008: 63). Burkhard Lutz nennt als die wesentlichen Veränderungen eine Steigerung der Staatsquote, eine Betonung des Sozialstaates sowie die Regierungsbeteiligung von Arbeiterparteien und die Übernahme von Arbeiterinteressen auch durch konservative Parteien. Es gelang so, wohlfahrtsstaatliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die Raum für Wachstumsimpulse ließen (Lutz 1989: 192f.). Neben der Problematik der diskontinuierlichen ökonomischen Entwicklung ist auf weitere Prozesse zu verweisen, die das bestehende Sozialsystem in Bedrängnis brachten: Neue Technologien ermöglichen eine verstärkte Internationalisierung der Produktion, die Folge ist ein Aufbrechen der bis dahin ausgehandelten Arbeitsformen. Die Möglichkeit, die Produktion an günstigere Orte verlagern zu können, führt zum Abbau von Sozialleistungen in reicheren Ländern und zu einer drohenden Verarmung des Mittelstandes mit einer Umverteilung zugunsten weniger Superreicher (Radermacher 2008: 55). Das Argument einer Globalisierung in der Ökonomie hat eine Inflationierung erfahren, dass kritische Stimmen inzwischen von einem „globaloney“ sprechen, einem inhaltslosen Geschwafel über Globalisierung und kritische Stimmen einen „Mythos der Globalisierung“ ernsthaft infrage stellen (Dürrschmidt 2002: 6). Es sei in diesem Sinne darauf hingewiesen, dass die Rhetorik von Globalisierungszwängen durchaus skeptisch gesehen werden kann, sie ist aber ein wesentlicher Teil dieser Debatte. Es tritt bei vielen Menschen das Gefühl auf, dass der Wohlfahrtsstaat nicht mehr die Leistungen erbringt, die von ihm erwartet werden. Im Idealfall sind die Beiträge und die vom Wohlfahrtsstaat erhaltenen Leistungen äquivalent zu den eingezahlten. In der Realität ist der Wohlfahrtsstaat von verschiedenen Ungleichheiten geprägt, eine ist die Ungleichheit zwischen den Generationen. Öffentlich thematisiert wurde diese Ungleichheit im politischen Diskurs der Bundesrepublik vor allem seit Mitte der 90er Jahre. Der Grund hierfür liegt in einem „gefühlten Bruch des wohlfahrtsstaatlichen Versprechens“ (Bude 2003: 287). Ausgehend von Karl Mannheims Konzept wird in der soziologischen Generationenforschung die wohlfahrtsstaatliche Problematik als mögliche Prägung diskutiert. Wesentlich erscheint hier die Frage, an welchem Punkt der Biographie Einflüsse eine relevante Prägung hervorrufen. Mannheim postuliert hiefür Einflüsse, die um das 17. Lebensjahr herum auftreten. Diese Annahme wird von Henk A. Becker präzisiert. Mögliche Prägungen seien Eindrücke, die man wäh-

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rend einer Phase, in der man sich in eine neue Situation hineinarbeitet, sammelt. Neben Pubertät und Adoleszenz kann das Einleben in einer neuen Subkultur oder Migration als Zeitpunkt einer Prägung interpretiert werden (Becker 1989a: 84). Um den möglichen Einfluss des Wohlfahrtsstaates erklären zu können, wird Karl Mannheims Konzept der Generation um die Theorie einer „relativen Knappheit“ ergänzt. Unter relativer Knappheit fallen z.B. ungünstige Bildungschancen, macht jemand seinen Abschluss verspätet, kann diese Verspätung nur schwer ausgeglichen werden, die Folge sind schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt beim Berufseinstieg. Hinzu kommt die verstärkte Konkurrenz um Ausbildungs- und Arbeitsplätze bei geburtenstarken Jahrgängen (Becker 1989a: 84).19 Der Wohlfahrtsstaat wird als eine Prägung diskutiert, die von ihm hervorgebrachten Generationen wirken jedoch auch auf den Wohlfahrtsstaat zurück, z.B. als professionelle Leistungserbringer (Leisering 2000: 60). So sind sich jüngere Politiker parteiübergreifend einig, keine weitere Staatsverschuldung zuzulassen, bzw. diese zu begrenzen. Um diese Überlegungen systematischer zu fassen, werden zwei Thesen über Ungleichheiten im Wohlfahrtsstaat diskutiert, die sich auf das Konzept der Generation beziehen. 1. Eine Ungleichheit geht auf die Größe unterschiedlicher Kohorten im Wohlfahrtsstaat zurück. Geburtenstarke Jahrgänge unterliegen einer größeren Konkurrenz um eine begrenzte Zahl von Studien- und Ausbildungsplätzen sowie von Beschäftigungschancen auf dem Arbeitsmarkt. Diese Konkurrenz stellt sich bei geburtenschwachen Jahrgängen weniger ausgeprägt dar. Die Alimentierung der geburtenstarken Jahrgänge kann das Sozialsystem vor weitere Probleme stellen. Werden die „Baby-Boomer“ der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 2015-2025 verrentet, ergibt sich zwar ein weiterer Bedarf auf dem Arbeitsmarkt, die für ihre Alimentierung notwendigen Beiträge müssen von den dann im Erwerbsleben befindlichen geburtenschwachen Jahrgängen aufgebracht werden. Methodisch ist zwischen Generationeneffekten und Alterungseffekten zu unterscheiden. Bei der derzeitigen Debatte um den Generationenvertrag in der gesetzlichen Rentenversicherung geht es vor allem darum, dass Alterseffekte generationenspezifisch ausfallen: Die jungen Finanziers gelten als benachteiligt, die heute alten Leistungsempfänger als privilegiert. Diese Generationeneffekte resultieren aus einer lang-

19 Gegen diese theoretisch plausible Überlegung Easterlins (Eeasterlin 1980) lässt sich einwenden, dass wohlfahrtsstaatliches „Glück“ oder „Unglück“ nicht zwangsläufig mit der Zugehörigkeit zu einem geburtenstarken Jahrgang einhergehen muss. So sind die babyboomer in den westlichen Nachbarstaaten der Bundesrepublik weniger von der wohlfahrtsstaatlichen Problematik betroffen als die nachfolgenden Jahrgänge. (vgl. Becker 1989a).

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fristigen Alterungsentwicklung (Leisering 2000: 63). Erstmalig wurde die These, dass das wohlfahrtsstaatliche Schicksal von der Größe des Geburtsjahrganges abhängt, von Richard Easterlin formuliert (Easterlin 1980: 19ff.). 2. Eine andere Ursache generationeller Ungleichheit ist der Einfluss ökonomischer und institutioneller Umbauprozesse. Methodisch ist zwischen wohlfahrtsstaatlichen und ökonomischen Prägungen der Generationen zu unterscheiden: Dem Wohlfahrtsstaat wird eine Eigendynamik zugeschrieben, er beschränkt sich nicht darauf, das Wirtschaftsprodukt zu verteilen, sondern entfaltet durch seine institutionelle Struktur eine eigene Wirkung (Leisering 2000: 64). Der institutionelle Aufbau des Wohlfahrtsstaates privilegiert bestimmte Gruppen positiv oder negativ. Ein institutioneller Umbau kann eine besonders günstige Gelegenheitsstruktur hervorbringen. Im Zusammenhang mit dieser Arbeit wird der besondere Fachkräftebedarf im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses zentral diskutiert, da er eine günstige Gelegenheitsstruktur für eine bestimmte Altersgruppe darstellte. Aber auch technische Innovationsprozesse begünstigen junge Arbeitnehmer und benachteiligen ältere. Institutionelle oder arbeitsrechtliche Veränderungen – Regelungen der Frühverrentung oder der Berufseinstieg in einen Arbeitsmarkt mit gelockertem Kündigungsschutz 20 – können einen besonderen Einfluss auf das Schicksal einer Kohorte haben. Diese Effekte beeinflussen besonders das Schicksal benachbarter Jahrgänge, da sich ihr Einfluss auf wenige Jahrgänge beschränken kann. Während ein Jahrgang von einer günstigen Regelung profitieren kann, ist diese Chance möglicherweise für ältere oder jüngere Jahrgänge nicht gegeben. Die Situation kann sich für Personen, die nur kurze Zeit später auf den Arbeitsmarkt eintreten, anders darstellen. Stockende Prosperität und damit einhergehend Zurückzuschrauben des Wohlfahrtsstaates trifft alle Jahrgänge, die seit Mitte der 1970er Jahre ins Berufsleben eingetreten sind. Diskontinuitäten in der Entwicklung, wie Frühverrentungen und zyklisch wiederkehrender Lehrerbedarf, verstärken dieses Unsicherheitsgefühl (Bude 2003: 288). Die Probleme des Arbeitsmarktes sind oft für Jüngere besonders bedrohlich, da Arbeitslosigkeit zu Zeiten einer Rezession die in den Arbeitsmarkt eintretenden Personen besonders beeinträchtigen kann. Während Arbeitnehmer mittleren

20 Als Beispiel ist auf einen Gesetzesentwurf in Frankreich zu verweisen, der eine Verlängerung der Arbeitszeiten für unter 26-Jährige vorsah, der „contrat premiere embauche“ (CPE). Begründet wurde dieser Gesetzesentwurf damit, dass er für Arbeitgeber Anreize schaffen würde, junge Arbeitnehmer einzustellen. Dagegen stand die Befürchtung, dass hierdurch junge Arbeitnehmer zu Beschäftigten zweiter Klasse würden. Nach massiven Protesten musste dieser Gesetzesentwurf zurückgezogen werden.

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und höheren Alters in ihren Positionen etabliert sind, haben Berufsanfänger größere Schwierigkeiten, in einer solchen Situation auf dem Arbeitsmarkt Fuß zu fassen. Neben den kurzfristigen ökonomischen Folgen weist Louis Chauvel auf die damit einhergehenden „Narben bildende Effekte“ hin. Die Arbeitslosigkeit beeinträchtigt die Entwicklung Jüngerer, wenn die Jahre, in denen erste Berufserfahrungen gesammelt werden sollten, durch Arbeitslosigkeit geprägt sind. Ein späterer Bedarf wird mit jüngeren Absolventen gedeckt, deren Ausbildung vor kürzerer Zeit abgeschlossen wurde. Als langfristige Konsequenz bleibt eine dauerhafte finanzielle Benachteiligung der Jahrgänge, deren Berufseinstieg in Zeiten einer Wirtschaftskrise liegt (Chauvel 2007: 155). Im Kohortenvergleich lässt sich in Frankreich beobachten, dass die Gehälter der jüngeren Generationen im Laufe der letzten 20 Jahre stagnierten, während die Gehälter der älteren Generation um rund 20% oder mehr stiegen. Der Einkommensunterschied zwischen der Kohorte der 30 bis 35-Jährigen und den 50 bis 55-Jährigen betrug 1977 15 %, 2003 betrug er rund 40%. Die in diesem Kohortenvergleich skizzierten Gewinner sind Gewinner ihrer eigenen Elterngeneration gegenüber und auch gegenüber der ihrer eigenen Kinder (Chauvel 2007: 154f.). Auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik Deutschland stellt der Wiedervereinigungsprozess 90-94 21 eine bemerkenswerte Diskontinuität dar: Durch Frühverrentung der ehemaligen DDR-Eliten entstand eine günstige Gelegenheitsstruktur auf dem Arbeitsmarkt. Die Regierung Kohl versuchte – auch jenseits dieser historisch einmaligen Situation – immer wieder, den Arbeitsmarkt mit Frühverrentung zu bereinigen, zum Teil auch im Zuge technologischer Innovationen in der Arbeitswelt (Sackmann 1996: 30). Profiteure einer solchen Situation sind wiederum die Absolventenjahrgänge, die ihre Ausbildung kurz vorher abgeschlossen haben, aber auch ältere, deren Karriere zu diesem Zeitpunkt stagnierte, was zu einer altersmäßigen Durchmischung der Institutionen führte (Derlien 1997: 406). Für die nachfolgenden Jahrgänge bietet sich eine solche Chance nicht. Der Bedarf an Arbeitskräften ist gedeckt, durch das jugendliche Alter der Stelleninhaber wird ein zeitnahes Aufrücken jenseits neuer besonderer Gelegenheiten schwierig. Technische Innovationen (Digitalisierung) und eine Expansion des privatrechtlichen Rundfunks in den späten 80er Jahren schufen neben der Gelegenheitsstruktur Wiedervereinigungsprozess weiteren Bedarf an jungen, gut ausgebildeten Fachkräften. Auch hier liegt eine mehr oder weniger

21 Der Wiedervereinigungsprozess wird bis 1994 umrissen: Als Beginn des Wiedervereinigungsprozesses gilt die Einführung der D-Mark als Zahlungsmittel, als 1994 die Treuhandanstalt ihre Tätigkeit einstellte, waren zumindest die institutionellen Umbauarbeiten abgeschlossen (Bisky 2005: 35).

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einmalige Gelegenheit vor. Neben der institutionellen Beschaffenheit des Wohlfahrtsstaates liegt ein weiterer wesentlicher Einfluss in der allgemeinen ökonomischen Situation. Prosperitäten, Rezessionen oder dramatischere Wirtschaftskrisen haben wiederum Einfluss auf das Generationenschicksal. Es ist zu erwarten, dass auch die privaten Zusatzversicherungen Verlierer- und Gewinnergenerationen hervorbringen werden. Dies ist allerdings keine neue Entwicklung, sondern liegt in der Dynamik des Marktes begründet (Leisering 2000: 75). Die Diagnose von Verlierer- und Gewinnergenerationen im Wohlfahrtsstaat ist mit zwei antizipierbaren Kritiken konfrontiert. Ein klassischer Einwand gegen Generationenrhetoriken allgemein ist, dass das Alter eine soziale Konstruktion unabhängig vom biologischen Substrat darstellt. Diese Kritik hat beim Blick auf politische und kulturelle Phänomene eine gewisse Berechtigung – eine Zuschreibung von Altersgrenzen erfolgt spontan – beim Blick auf den Wohlfahrtsstaat ist die Kategorie Alter nicht beliebig: Die Rahmendaten von Lebensläufen sind durch klar erkennbare juristische Normen und Regulationen bestimmt: Schulpflicht, Jugendschutzreglungen in der Arbeitswelt, Grundzeiten für Wehroder Ersatzdienst, Altersgrenzen für Stipendien oder zum Eintritt in bestimmte Karrieren wie Verbeamtung sowie Regelungen für den Renteneintritt. Die Zeit, in der jemand von der Gesellschaft alimentiert wird, und die Zeit, in der der eigene Beitrag zum Wohlfahrtsstaat erbracht wird, bzw. dies erwartet wird, sind nach wie vor relativ klar eingrenzbar. Auch wenn ein Aufbrechen der („Normal“)Arbeitsbiographie zu beobachten ist, haben diese Rahmendaten nach wie vor Verbindlichkeit. Weiter ist Alter – und damit Generation – eine Kategorie, in der Konkurrenzverhältnisse am deutlichsten zu erkennen sind. Die eigenen Leistungen können mit denen der gleichen Altersgruppe verglichen werden. Zeiten längerer Arbeitslosigkeit führen zu Dequalifizierung, während der eigenen Arbeitslosigkeit können ehemalige Kollegen weiter Berufserfahrung sammeln, man hat Angst den Anschluss zu verpassen. Ältere Arbeitnehmer haben oft Probleme, sich in Neue Technologien einzugewöhnen. Die gegenwärtigen Beschleunigungsprozesse bedingen einen „intragenerationellen Beschäftigungsstrukturwechsel und Arbeitskräfteaustausch“ (Rosa 2005: 184 [Hervorhebungen im Original]), es wird erwartet, dass sich Arbeitnehmer innerhalb eines Erwerbslebens umorientieren, neue Qualifikationen erwerben und den Beruf wechseln. Im Zuge dieser Entwicklung erhöht sich der Druck auf Arbeitnehmer, sich dem Arbeitsmarkt anzupassen. Es müssen mehr Stationen innerhalb kürzerer Zeit absolviert werden. Wer diese Anforderungen nicht erfüllt, riskiert, den Anschluss zu verlieren. Ein weiterer antizipierbarer Einwand bei der Analyse ungleicher Chancen, denen sich Generationen im Wohlfahrtsstaat ausgesetzt sehen, liegt in einer Betonung des Klassenkonzeptes. Wird von Verlierergenerationen des Wohlfahrts-

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staates gesprochen, verschweigt man die klassischen Fragen sozialer Ungleichheit, insbesondere den Gegensatz Kapital/ Arbeit, so die Kritik. 22 Versuche, dieses Kritikmonopol in vollem Maße aufrechtzuerhalten, erweisen sich bei genauem Hinsehen als kontraproduktiv: Kinder und Heranwachsende erfahren die klassen- und schichtspezifischen Diskriminierungen. Beim Eintritt ins Erwerbsleben können Probleme oder Chancen auftreten, die von denen ihrer Eltern abweichen. Es können Proteste und Bewältigungsstrategien auftreten, die der Elterngeneration fremd sind. Das Konzept der Generation ist bei der Analyse von Ungleichheiten des Wohlfahrtsstaates neben das von Klasse und der Schicht zu stellen, denn in der Erfahrung sozialer Ungleichheiten können beide miteinander verknüpft sein: Eine Ausbildung, die vormals einen Klassenaufstieg garantierte, kann in Folge einer Entwertung der Bildungszertifikate zu einer beruflichen Tätigkeit mit geringem Einkommen und wenig Prestige führen.23 Dieses Generationenschicksal nennt Pierre Bourdieu das einer „geprellten Generation“ (Bourdieu 2006: 241). Das Aufrücken im Schulsystem lässt bei den im Aufstieg begriffenen Angehörigen der bildungsfernen Klassen Erwartungen in das Bildungssystem aufkommen, die den Chancen entsprechen, die ein hochwertiges Bildungszertifikat vor der Bildungsexpansion garantierte, die es aber nicht mehr in vollem Maße erfüllen kann. Die gebrochenen Erwartungen in das Bildungssystem werden zum Gefühl einer ganzen Generation, was zu einer dezidiert anti-institutionellen Haltung führen kann, die auch unverhohlen innerhalb der Institution anzutreffen ist und Ablehnung fundamentaler Dogmen der kleinbürgerlichen Ordnung wie „Karriere“, „gut situierte Verhältnisse“ usw. darstellt (Bourdieu 2006: 248).24 Welchem Jahrgang man angehört, hat demnach neben der Klassenzugehörigkeit einen maßgeblichen Einfluss auf die jeweiligen Lebenschancen. In welchem Maße man von diesem Generationenschicksal betroffen ist, hängt von „Filterungseffekten“ wie Klasse, Geschlecht, Region, Bildungsniveau usw. ab (Becker 1989a: 77). Ob eine solche anti – institutionelle Ordnung bei Protagonisten der Selbstthematisierung als 89er Generation zu erkennen ist, bleibt eine Frage, die im empirischen Teil dieser Arbeit zu klären sein wird.

22 Dieser Einwand wird z.B. von Christoph Butterwege formuliert (Butterwege 2006). 23 Douglas Coupland beschreibt dies als McJob: „Ein niedrig dotierter Job, mit wenig Prestige, wenig Würde, wenig Nutzen und ohne Zukunft im Dienstleistungsbereich. Oftmals als befriedigende Karriere bezeichnet von Leuten, die niemals eine gemacht haben.“ (Coupland 1995: 14) 24 Im empirischen Teil dieser Arbeit wird Fall 1 „Michael Kramer“ vorgestellt, bei dem diese anti-institutionelle Haltung zu beobachten ist.

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Weiter liegt dem Bewusstsein, zu den Verlierern des Wohlfahrtsstaates zu gehören, eine bestimmte Klassenlage zugrunde. Wird darüber gesprochen, wer ein Verlierer des Wohlfahrtsstaates ist, geht es um vormals privilegierte Versorgungsklassen25, die um ihre Deklassierung fürchten müssen. Es hängt vom jeweiligen Konzept des Wohlfahrtsstaates ab, welche Gruppen privilegiert gelten und welche nicht. Der (vor-) sorgende Staat war unter anderem durch Risikobegrenzung, Aufstiegsperspektiven und Bereitstellung von qualifizierten Arbeitskräften gekennzeichnet. Dieses Modell bestimmte die Sozialpolitik der Bundesrepublik noch im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses, Konsequenz war die finanzielle Erschöpfung (Vogel 2004: 39). Es stellt sich die Frage, wer von diesen Umbauprozessen betroffen ist. Die Abkehr vom vorsorgenden Staat ist vor allem ein Problem der Mittelschichten, bzw. wird von den Mittelschichten als solches wahrgenommen. So ist vor allem die Debatte um eine neue Unterschicht in der Bundesrepublik Ausdruck dieser Abstiegsängste. So spricht Franz Josef Rademacher angesichts der Reduktion von Sozialleistungen in den reichen Ländern von einer „Ausplünderung des Mittelstandes“ (Radermacher 2008: 54). Innerhalb der Mittelschicht lassen sich weiter Differenzierungen erkennen. Das Sozialsystem der Bundesrepublik beruht auf der Verhandelbarkeit der Einbindung von Arbeitskräften in den Produktionsprozess. Ausgeschlossen von dieser Verhandelbarkeit sind Angehörige „armer“ Branchen, vor allem Dienstleistungen, zu denken ist an Gastronomie und Gebäudereinigung. Insgesamt negativ privilegiert sind Frauen: Sie stellen einen niedrigeren Anteil an Auszubildenden, sind häufiger in Teilzeitbeschäftigungen tätig und erwarten folglich niedrigere Rentenbezüge. Ende der 80er lag die Arbeitslosenquote bei Frauen insgesamt rund 30% höher als bei Männern (Wehler 2008: 173). Mehr Erfolg verspricht lediglich der Weg in die akademischen Ausbildungen. Der Frauenanteil bei Abiturienten und im Studium ist insgesamt höher, auch wenn Frauen bei der akademischen Ausbildung überrepräsentiert sind, bedeutet dies nicht, dass die Lebenschancen gleich verteilt sind. Insgesamt ist Ungleichheit von Chancen zwischen den Geschlechtern in der Bundesrepublik besonders stark ausgeprägt, sodass Deutschland in Fragen der Geschlechtergleichheit zu den drei „Schlusslichtern“ in der EU gehört (Wehler 2008: 158). Unabhängig davon werden Haushaltsarbeit und Kindererziehung keine nennenswerten Versorgungsansprüche durch den Wohlfahrtsstaat zugebilligt. Personen mit Migrationshintergrund sind ebenfalls negativ privilegiert, auch hier werden Ungleichheiten im Wohlfahrtsstaat sichtbar. Die Klassenmobilität ist bei Familien anatolischer Gastarbeiter aufgrund man-

25 M. Rainer Lepsius erweitert Max Webers Klassenkonzept der Besitz- und Erwerbsklassen um das der „Versorgungsklassen.“ Die Chance von Transferleistungen und öffentlichen Gütern zu partizipieren liegt diesem Konzept zu Grunde (Lepsius 1979).

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gelnder sprachlicher Kompetenz (Analphabetismus) besonders stark eingeengt (Wehler 2008: 160). Es ist davon auszugehen, dass von dieser Seite die Krise des Wohlfahrtsstaates weniger einschneidend wahrgenommen wird, was sich auch in der dieser Arbeit zugrunde liegenden empirischen Erhebung zeigt, da die Selbstthematisierungen als 89er aus einem bestimmten Milieu heraus geäußert werden. Die Kategorie Generation konkurriert demnach nicht mit dem der Klasse, wenn es um die wohlfahrtsstaatliche Problematik geht, vielmehr werden Verteilungskonflikte innerhalb der Mittelschicht beschrieben. Auch wenn die Ungleichheiten zwischen Generationen weniger deutlich zutage treten als beispielsweise Klassenunterschiede, können sie doch Konsequenzen auf die Stabilität des Wohlfahrtsstaates haben (Chauvel 2007: 150). Die wohlfahrtsstaatliche Problematik ist demnach sowohl aus der Perspektive der Klassen wie aus der Generationenlage zu betrachten. Aus dem bisher Geschriebenen lässt sich zusammenfassen, dass bei den Selbstthematisierungen als Wohlfahrtsstaatsverlierer im Wesentlichen zwei Vorstellungen zu erkennen sind: Erstens werden vor allem Abstiegsängste der Mittelschicht angesprochen. Fragt man nach der Selbstthematisierung einer Wohlfahrtsstaatsverlierergeneration ist mit einem Mittelschichtbias rechnen. Zweitens folgt diese Rhetorik – darauf beruhend – den Vorstellungen einer „Normalität“ des Wohlfahrtsstaates: Als Verlierer des Wohlfahrtsstaates sehen sich demnach vor allem Männer aus der aufstiegsorientierten Mittelschicht, die eine Karriere in einem mittleren bis höheren Angestelltenverhältnis angehen. Von einer möglichen Enttäuschung weitgehend ausgeschlossen sind Beamte, Freiberufler und sehr wohlhabende Personen, die für ihre Risikobegrenzung selbstständig sorgen müssen oder denen aufgrund ihrer privilegierten Klassenlage andere Bewältigungsstrategien offen stehen. Daneben gibt es Angehörige negativ privilegierter Klassen, die mangels Perspektive keine Erwartungshaltung in den Wohlfahrtsstaat entwickeln können. Dies betrifft Arbeitnehmer in „armen Branchen“, z.B. Gebäudereinigung oder Gastronomie. Es kann vermutet werden, dass die Träger dieser Rhetorik vor allem westdeutsche Männer mit Abitur oder Hochschulausbildung sind, die den aufstiegsorientierten Mittelschichten entstammen. Die Vorstellung einer „Normalität“ des Wohlfahrtsstaates ist aber immer stärkeren Bedrohungen ausgesetzt. Um diese Überlegungen für die weitere Interpretation fruchtbar zu machen, werden im Folgenden idealtypisch zwei Generationenlagerungen der Bundesrepublik Deutschland vorgestellt, die als wohlfahrtsstaatliche Verlierergeneration gelten und für die Interpretation der 89er-Rhetorik eine gewisse Relevanz besitzen. „Lost-Generation“– „Baby-Boomer Generation“ Während bei den westlichen Nachbarstaaten der Babyboom bereits kurz nach Kriegsende einsetzte, treten die geburtenstarken Jahrgänge der Bundesrepublik

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Deutschland zwischen 1955 und 1965 auf. Diese gelten als die erste wohlfahrtsstaatliche Verlierergeneration der BRD. Für den deutschen Kontext können die Begriffe „baby boomer“ und „lost-generation“ demnach synonym verwendet werden. Sie stellen nach den „glücklichen Nachkriegsgenerationen“ der Jahrgänge 1925-1955 – es konnten auch marginalisierte Gruppen wie Sozialhilfeempfänger von der Expansion des Wohlfahrtsstaates profitieren (Leisering 2000: 64f.) – eine erstmals negativ privilegierte Generation dar. Diese Jahrgänge hatten zwar gute Bildungsmöglichkeiten erfahren, aber schlechte Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Ihr Aufwachsen ist geprägt durch die Erfahrung einer Gesellschaft, die nach und nach ihre Ideale zurückschrauben muss. Neben dem „Marktversagen“ der großen Wirtschaftskrisen im 20. Jahrhunderts wird auch „Staatsversagen“ zu einer wesentlichen Erfahrung (Bude 2003: 298). Die stagnierende ökonomische Entwicklung in den westlichen Industrienationen trifft diese Jahrgänge besonders stark. Das maßgebliche arbeitspolitische Thema in der Arbeitspolitik war Jugendarbeitslosigkeit. Rund jede zehnte Person unter 30 war Mitte der 80er Jahre arbeitslos (Wirsching 2006: 317). Klaus Hurrelmann kommt zu dem Schluss, dieser Generation werde das Gefühl gegeben, es handele sich bei ihr um eine überflüssige Generation, da der Arbeitsmarkt sie nicht brauche (Hurrelmann 2006: 222). Die gesteigerten Chancen, ein Bildungszertifikat zu erwerben, werden durch die schlechteren Chancen auf dem Arbeitsmarkt konterkariert. In diesem Sinne kann hier von einer „geprellten Generation“ im Sinne Bourdieus gesprochen werden. Diesen prekären Übergang vom Ausbildungs- ins Beschäftigungssystem scheinen die Angehörigen dieser Generation gelassen genommen zu haben: Viele haben kleine Unternehmen gegründet oder sind zunächst im informellen Arbeitsmarkt untergekommen (Becker 1989a: 81f.). Sie nutzten biographische Warteschleifen, Übergangspassagen und übten sich dabei in Ironie (Bude 2003: 229). Henk A. Becker weist in diesem Sinne darauf hin, dass sich die Vertreter dieser Jahrgänge nicht „lost“ fühlen würden (Becker 1989b: 33). Eine besonders günstige Gelegenheitsstruktur tat sich für die westdeutschen Angehörigen dieser Generation mit dem Wiedervereinigungsprozess auf: Der aus der Frühverrentung der DDR-Eliten entstehende Bedarf wurde mit westdeutschen Absolventen aus diesen Jahrgängen aufgefüllt. Das Schicksal dieser Jahrgänge lässt sich zunächst mit Easterlins These, dass ein geburtenstarker Jahrgang benachteiligt ist, erklären (Easterlin 1980: 16). Aus diesen Jahrgängen kamen viele gut ausgebildete Personen auf wenige frei werdende Stellen auf dem Arbeitsmarkt, die zunächst schwer eine Beschäftigung finden konnten. Erschwerend kommt das Ende der Nachkriegsprosperität hinzu. Die besondere Gelegenheit des Wiedervereinigungsprozesses hat diese Probleme in den Hintergrund treten lassen. Es ist in diesem Fall ein Sondereffekt zwischen der historischen Zäsur und der wohl-

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fahrtsstaatlichen Problematik zu erkennen. Hatten die beschriebenen Jahrgänge zunächst schlechtere Zukunftschancen auf dem Arbeitsmarkt, trat diese Problematik durch günstige Chancen, die sich durch den Wiedervereinigungsprozess auftaten, in den Hintergrund. Postsozialistische Generation – „89er-Generation“ Die um 1970 in Westdeutschland Geborenen – die Gruppe, aus der die Selbstthematisierung als 89er hervorgeht und im Mittelpunkt dieser Arbeit steht – wird als die erste postsozialistische Generation beschrieben. Die Regulierungen des Wohlfahrtsstaates werden als ein Hemmnis gegenüber „interessanten privaten Vorsorgeformen“ wahrgenommen (Leisering 2000: 66). Bewusste Erinnerungen dieser Generation erstrecken sich nur auf die Krisensymptome der westlichen Industrienationen seit den 1970er Jahren. Eine besonders günstige Gelegenheitsstruktur auf dem Arbeitsmarkt bietet sich für sie nicht, anders als für die zehn Jahre Älteren. Im Gegenteil das jugendliche Alter der Stelleninhaber erschwert darüber hinaus ein zeitnahes Aufrücken. Sie können lediglich nach und nach auf die Stellen, die von Angehörigen der „Protestgeneration“ eingenommen werden, aufrücken. Dabei konkurrieren sie allerdings wiederum mit der Gruppe der rund zehn Jahre Älteren, die auf eine Rückkehr nach Westdeutschland und berufliche Veränderungen hoffen. Kennzeichnend ist ihr pragmatisches Verhältnis zum Wohlfahrtsstaat, es wird nichts erwartet, aber Leistungen, die man bekommt, werden mitgenommen. Eine eindeutige wohlfahrtsstaatliche Präferenz ist nicht zu erkennen, weil das traumatische Erlebnis des Markt- oder Staatsversagens fehlt (Bude 2003: 299). Es ist zu vermuten, dass aus einer Unsicherheitserfahrung ein politischer Deutungsanspruch entsteht, der sich auf nachhaltiges Wirtschaften, eine Neuverhandlung des wohlfahrtsstaatlichen Generationenvertrages sowie eine Begrenzung von Staatsverschuldung und Ressourcenverbrauch bezieht. Für diese politische Programmatik bildet vor allem die Partei der GRÜNEN eine passende institutionelle Anbindung – insbesondere für den Gedanken der Nachhaltigkeit. Aber auch in anderen Parteien bilden sich hierfür Anknüpfungspunkte, z.B. bei der FDP und auch bei der CDU. Mit der Finanzkrise ab 2008 hat diese Generation eine dramatische Erfahrung des Marktversagens gemacht. Die Auswirkungen dieser Krise liegen in der Zunahme von Firmeninsolvenzen und damit verstärkt der Bedrohung von Arbeitsplätzen, aber auch die massenhafte Enttäuschung von Kleinanlegern. Insbesondere die staatlich geförderte private Altersvorsorge („Riester-Rente“) hat die Altersvorsorge an den Finanzmarkt gebracht und auch diese vermeintlich soliden Anlageformen sind finanziell in Bedrängnis geraten. Als einschneidend kann diese Krise für die Debatte um die Verlierer des Wohlfahrtsstaates insofern be-

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zeichnet werden, als dass Bestrebungen, die Rentenversicherung aufgrund des demographischen Wandels in ein kapitalgedecktes Verfahren zu überführen, nach dieser Krise als besonders fragwürdig erscheinen.26 Ob diese Krisen-Erfahrung einen Wandel im wohlfahrtsstaatlichen Selbstverständnis dieser Generation bewirkt hat, kann aktuell nicht beurteilt werden, sicher ist, dass bestimmte politische Inhalte – die Umwandlung in ein kapitalgedecktes Verfahren – nicht mehr in vollem Maße vermittelt werden können. Anders als die rund zehn Jahre älteren fühlt sich diese Generation inzwischen wirklich verloren. Von der Erwartung, dass ihre Situation immer besser wird, hat sie sich verabschiedet, es muss noch nicht einmal gut werden (Sattar 2008). Auf den ersten Blick kann vermutet werden, dass ein Verteilungskonflikt zwischen den Angehörigen der Protest-Generation und den 89ern vorliegt: Zwischen der doppelten Gewinnergeneration der 68er und der doppelten Verlierergeneration der 89er. Der tatsächliche Verteilungskonflikt kann jedoch zwischen dieser Altersgruppe und den rund zehn Jahre älteren gesehen werden. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass schon ein Abstand von wenigen Jahren ausreichen kann, um einen privilegierten Zugang zu bestimmten Chancen zu bekommen, oder nicht. Diese Ungleichheiten scheinen nicht alle in gleichem Ausmaße zu betreffen, es sind vor allem diejenigen, deren Privilegierung durch den Wohlfahrtsstaat infrage gestellt wird. Es ist demnach eine Rhetorik von gut ausgebildeten, westdeutschen Männern mit MittelschichtHintergrund. Eine solche Rhetorik ist bei den Personen, die in keiner privilegierten Position sind, nicht zu erwarten. Da sich Generationenrhetoriken oft auch die Prägung durch Medien- und Konsum-Erfahrungen beziehen, sollen diese im nächsten Abschnitt diskutiert werden.

2.7 M EDIEN - UND K ONSUM -E RFAHRUNGEN Die Frage nach der Gestalt einer neuen Generation wirft auch die Frage nach ihrer kulturellen Teilhabe auf. Das kulturelle Thema verbindet sich klassisch mit dem Generationenthema. Eine junge Künstlergeneration findet innovative und abweichende Ausdruckformen, die den älteren fremd sind. Neben der Herausbildung neuer subkultureller Stile und der Art der künstlerischen Darstellungsweise sind auch die Ereignisse und politischen Kämpfe, an dem die Künstler teilhaben, z.B. die Verarbeitung von Kriegserlebnissen, an dem sich die Erzählungen einer Generation mit der Kultur verbinden. Die These, dass es einen kul-

26 Die Forderung, die Rentenversicherung an den Kapitalmarkt zu bringen, stellen unter anderem die 89er bei den GRÜNEN im Staart 21 Papier auf (Vgl. Wagner 1998).

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turellen Stil gibt, der für eine Generation typisch ist, trifft auf zwei antizipierbare Einwände. Kultur ist vor allem von Klassenunterschieden, weniger von Altersunterschieden geprägt. Es wird zwar auch im Zusammenhang dieser Arbeit davon ausgegangen, dass die „Feinen Unterschiede“ der Distinktion durch Milieu und Klassenunterschiede geprägt sind, innerhalb einer Klasse oder eines Milieus kann es jedoch zu generationellen Abgrenzungen kommen, eine junge Generation erlebt die Chancen und Diskriminierungen der Klassenlage, verarbeitet diese Situation aber auf eine Art und Weise, die der Elterngeneration fremd bleibt. Der zweite ist – im Gegensatz zum ersten – Vorstellungen einer stärkeren Individualisierung geschuldet. Kulturelle Güter sind vor allem beliebig, bei dem vielfältigen Angebot an kulturellen Identifikationsangeboten erscheint es schwierig, jeweils eine einheitliche Trägerschicht zu erkennen, die sich dieses Angebot aneignet. Dieser Arbeit liegt die Auffassung zugrunde, dass kulturelle Einflüsse nicht beliebig aufgenommen werden, sondern durch die Dispositionen ihrer Träger beeinflusst sind27. Diese sozialen Dispositionen, die die Kulturaneignung bestimmen, liegen zwar einerseits in den Milieus, aber auch die Altersunterschiede sind als bedeutsame Einflüsse anzusehen. Es gibt mit jeder Generation technische Innovationen. Technikpioniere lassen sich in der Regel auf die Gruppe der Anfang zwanzig bis Mitte 30-Jährigen umgrenzen, die gut ausgebildet sind. Auch ist auf den besonderen Einfluss neuer Technologien bei der Aneignung von kulturellen Gütern hinzuweisen. Dies betrifft sowohl die Konsumenten- wie auch die Produzentenseite. Im Zuge von Digitalisierung ist fast jedem Haushalt die Möglichkeit gegeben, Aufnahmen von sehr guter Qualität herzustellen und zu vervielfältigen. Über das Internet lassen sich weltweit auch sehr seltene Tonträger und Bücher beschaffen. Wie diese technischen Möglichkeiten genutzt werden, ist empirisch relativ klar einer bestimmten Altersgruppe zuzuordnen. Technikpioniere sind vor allem junge und gut ausgebildete Menschen. In diesem Sinne besitzt das Generationenthema eine große Schnittmenge mit dem kulturellen Thema. Die Vermittlung dieser Kulturgüter ist vor allem durch Massenmedien geprägt. Als zweiten Strukturwandel der Öffentlichkeit kennzeichnet Ulrich Wehler die zunehmende Massenmedialität: Überlieferte Medien wie Literatur, Medien, Bildende Kunst, Musik oder Theater werden im Zuge einer medialer Homogenisierung zurückgedrängt (Wehler 2008: 397). Erstaunlicherweise ist – trotz der sozialen und

27 Rolf Lindner schreibt, dass wir uns nicht als Konsumenten in einem Supermarkt befinden, in dem Identitäten zur freien Auswahl stünden, vielmehr folgen diese bestimmten sozialen, historischen oder biographischen Dispositionen. Diese lassen bestimmte Angebote attraktiver andere weniger überzeugend klingen (Lindner 1995: 44).

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geographischen Heterogenität der Bundesrepublik – eine Gemeinsamkeit von Medienerlebnissen zu erkennen. Die Aneignung kultureller Güter ist folglich nicht so individuell, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Hier sind nicht nur „Epoche-machende“ Ereignisse („Mondlandung“) zu nennen, sondern auch Formate wie „Aktenzeichen XY … ungelöst“, „Wetten dass …?“ oder die „Tagesschau“. Sie werden sowohl in Bayern wie in Schleswig Holstein in unterschiedlichen Milieus z.B. von Arbeitslosen oder Studienräten rezipiert (vgl. Hörisch 1995). Dies ist insofern bemerkenswert, da andere Medien nicht diese Wirkung erzielen konnten und sich die herausragende Stellung dieser Formate trotz eines – durch Einführung von Kabel- und Satellitenfernsehen stark erweiterten Angebots – bis heute halten konnte. Nach den vor allem durch Literatur sozialisierten Generationen wird aktuell von fernsehsozialisierten Generationen gesprochen, während andere Kulturgüter trennen, vereint das Fernsehen. Es kann aber nicht von einer Verdrängung eines Mediums durch ein anderes die Rede sein – als „Hauptverdächtige“ gelten das Fernsehen und der PC – das klassische Medium das Buch verliert auch durch das Auftreten Neuer Medien nicht an Relevanz wie sich auch gerade anhand der Debatte um die 89er zeigte, die vor allem in der Gutenberg-Galaxis geführt wurde und nicht in Neuen Medien. Während die 68er und die nachfolgenden Generationen als besonders durch das Fernsehen geprägt gelten, scheint die Stimulierung durch das Medium Buch nicht veraltet zu sein (Steiner 1997: 26f.). In diesem Sinne ist Skepsis geboten, ein Neues Medium in seiner Wirkmächtigkeit möglicherweise zu überschätzen, da auch die massenhafte Verbreitung von digitalen Medien keine Verdrängung von Literatur, Tageszeitungen, Radio, Fernsehen usw. mit sich gebracht hat. Eine besondere Bedeutung für die Prägung einer Generation wird popkulturellen Einflüssen zugeschrieben. Seit den 50er Jahren bilden sich in den westlichen Gesellschaften Pop-Biographien heraus: Rock’n Roll, Swing, Beat, Punk, Grunge usw. können als Soundtrack einer Generation gelesen werden. Der popkulturelle Einfluss auf die Lebenswelt geht über den durch die Musik hinaus und erstreckt sich auf fast alle Lebensbereiche. Die Popkultur besetzt alle anthropologischen Grundbedürfnisse wie Essen, Trinken, Einkaufen, Kleidung, Fernsehen, Musik usw. erstmals als System (Steenblock 2008: 211). Gemeinsame Medien und Konsumerfahrungen ermöglichen der eigenen Altersgruppe eine Verortung im sozialen Raum. Der „Pop-Geschmack“ fragt nach der Relevanz kultureller Güter für den Zeitgeist, der durch den Erfolg beim Publikum bescheinigt wird. Da der Erfolg beim Publikum nicht lange anhalten kann, müssen Geschmacksurteile laufend revidiert werden, Pop-Geschmack ist kurzlebig (Groys 2004: 100). Wer nicht up-to-date ist, riskiert „ausgeschlossen“ zu werden. Durch

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die massenmediale Verbreitung, insbesondere auch durch die technischen Möglichkeiten, sind Beschleunigungstendenzen zu erkennen. Schwierigkeiten, dieses Genre zu portraitieren, liegen in einer durch Beschleunigung geprägten Gesellschaft. Dieser mögliche Prägefaktor wird immer unsicherer, da kulturelle Strömungen eine wachsende Halbwertszeit aufweisen, Lebensentwürfe müssen nach kürzerer Zeit revidiert werden. Während in der klassischen Moderne die Kategorie Generation hilfreich war, einen sozialen Wandel zu beschreiben, ist in der Spätmoderne von einem intragenerationellen Wandel die Rede. Wissensbestände haben eine geringere Halbwertszeit, bestehende Orientierungen müssen häufiger ausgetauscht werden, um up to date zu bleiben. Hartmut Rosa spricht in diesem Sinne von einer „Gegenwartsschrumpfung“, die zu einer „Identitätsschrumpfung“ führt (Rosa 2005: 184). Popkultur ermöglicht eine nonkonformistische Haltung, die gleichzeitig konformistisch ist. Pop bietet als weltweites Phänomen eine Abgrenzung gegenüber der lokalen Kultur, während man sich der Zustimmung der weitaus größeren weltweiten Popgemeinschaft sicher sein kann (Groys 2004: 108). Prägend ist dieser Einfluss vor allem in der Adoleszenzphase. Das Teenageralter definiert sich über ein Lebensalter, in der erste Erwerbseinkünfte eingenommen wurden, in der noch keine Verantwortung für einen Haushalt oder eine Familie übernommen werden muss. In dieser Lebensphase verfügen Heranwachsende über relativ umfangreiche finanzielle Ressourcen, die für ihre Freizeitgestaltung ausgegeben werden können. Die empirische Überprüfung relativiert diese Vermutung: Der finanzielle Aufwand hält sich bei vielen 18-Jährigen in Grenzen: 40 % gaben an, nur wenige Cent pro Monat für Kleidung, Getränke etc. auszugeben. Gleichzeitig erscheinen bestimmte Lebensstile sehr aufwändig, die Protagonisten bestimmter Subkulturen müssen mehr als ein Monatsgehalt für ihre Kleidung aufbringen (Hebdige 2002: 69f.).28 Wieder ist zu vermuten, dass es sich um eine kleine Trägergruppe handelt. Es kommt zu Überschneidungen zwischen den Themen der Popkultur und der Subkultur. Jugendkultur wird oft als Subkultur verstanden. Aber es ist fraglich, ob bei jüngeren Generationen der Bundesrepublik eine dominierende Subkultur erkannt werden kann. Lebensentwürfe und die Zugehörigkeit zu Subkulturen erscheinen zunehmend beliebig und revidierbar29. Zeichen sind vielmehr frei flo-

28 Bei der Interpretation dieser Ergebnisse erscheint es wesentlich, darauf hinzuweisen, dass es sich um Ergebnisse aus den 60er Jahren handelt. 29 Reiner Paris schildert den Fall eines ehemaligen Angehörigen der Autonomen Szene, der nach einer (Aus-) Zeit in der Autonomen Szene „ganz normal“ ein Medizinstudium aufgenommen hat (Paris 1990: 9).

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tierend, können individuell angeeignet und auch wieder aufgegeben werden. Eine zunächst kulturell anstößige kulturelle Praxis von heute kann morgen vor allem durch kommerzielle Vereinnahmung zum Massentrend werden. Es ist an Tätowierungen und Körper-Piercings zu denken. „Subkultur“ hat für die Personen, die sich ihr zuwenden, oft kaum noch eine lebenspraktische Relevanz, während das erste Auftreten von Subkulturen vor allem durch negative Konsequenzen für ihre Protagonisten geprägt war, z.B. Probleme in der Schule/ im Beruf. Angehörige aktueller Subkulturen bleiben mehr ihrer Stammkultur verbunden. Die Aufnahme eines Zeichens von der breiten Masse erzwingt von den „avantgardistischen“ Gruppen die Annahme neuer Zeichen, diese sind allerdings begrenzt. Zudem werden jugendliche Subkulturen als Experimentierfeld gesehen, eine Teilhabe daran ist oft revidierbar und phasenabhängig.30 Um die bisherigen Überlegungen zusammenzufassen, lässt sich sagen, dass verlässliche Aussagen über popkulturelle Prägungen vor allem deshalb schwierig sind, weil sich der Gegenstandsbereich durch eine stetige Abgrenzung zu dem Mainstream der Gesellschaft definiert und dadurch eine gewisse Halbwertszeit aufweist. Kommt es zur Rezeption der Subkultur durch die Stammkultur, müssen neue Punkte der Abgrenzung geschaffen werden. Es ist davon auszugehen, dass die Intervalle, in denen neue Abgrenzungen geschaffen werden, von der gesellschaftlichen Dynamik abhängen. Andererseits fällt es aufgrund der betonten Beliebigkeit, Revidierbarkeit des Experimentiercharakters der Jugendphase schwer, verlässliche Aussagen über Jugend- und Subkultur zu machen. Nach diesen Vorüberlegungen stellt sich die Frage, welche Prägungen für die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehenden Jahrgänge anzunehmen sind. An dieser Stelle sei wiederum an die grundlegende Auffassung dieser Arbeit erinnert, dass diese Generationenrhetorik die Befindlichkeiten einer möglichen Trägerkohorte aufgreifen können muss, um erfolgreich zu sein. Die Thematisierung der gemeinsamen kulturellen Befindlichkeiten, vor allem Medien und Konsumerfahrungen, scheinen Erfolg versprechend zu sein. Ihnen widmet sich einer der bekanntesten Essays dieser Altersgruppe. Als grundlegend für die gemeinsame Sozialisation der 1965-1975 geborenen postuliert der Essay von Florian Illies gemeinsame Medien- und Konsum-Erfahrungen. Bedeutsam sind Entwürfe wie Generation Golf vor allem durch ihre massenmediale Verbreitung und breite Aufnahme. „Generation Golf“ ist inzwischen zu einer fest etablierten Größe im

30 Ausnahmen bilden hierbei nur randständige und durchweg negativ konnotierte Phänomene wie Skinheads oder Personen mit einem ins Gesichts tätowierten Spinnennetz: „In the current economic climate, when employers can afford to pick and choose, such gestures are a public disavowal of the will to queue for work” (Hebdige 2002: 32).

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„Feuilletonwissen“ geworden (Maase 2005: 225). Illies Altersgenossen müssen sich mit den in diesem Essay artikulierten Gedanken auseinandersetzten, er wird zustimmend – aber auch oft auch als Abgrenzung – gelesen. Ein Kritikpunkt ist, dass Illies zwar einerseits einen ethnographisch gehaltvollen Einblick gibt, aber nur die Lebenswelt der westdeutschen Oberstufenschüler Ende der 1980er Jahrebeschrieben wird (Maase 2005: 225). Der inhaltliche Schwerpunkt dieses Essays liegt auf der Schilderung von Kindheitserinnerungen in westdeutschen Provinzstädten in den 1980er Jahren, einem Jahrzehnt, dass ansonsten eher als langweilig beschrieben wird. Bei der Schilderung fällt vor allem die Häufung von Marken- und Werbesymboliken auf. Als exemplarisch kann hier folgende Passage angeführt werden: „Playmobil ist sicherlich das Prägendste, was unserer Generation passiert ist. Playmobil-Figuren sind unser großes, gemeinsames Schlüsselerlebnis“ (Illies 2003: 19).

Es wird in diesen Arbeiten die Mediatisierung von Kindheit und Jugend beschrieben, dazu gehört die Durchdringung des Alltags durch Werbe- und Markensymbolik und auch die Zunahme medienvermittelter Erfahrungen. Die massenmedial vermittelten einheitlichen Kommunikationsräume ermöglichen es, das Bewusstsein einer gemeinsamen Generation zu entwickeln. Man fühlt sich denen Verbunden, die die gleichen Sendungen gesehen haben. Das Medienthema trifft sich auf diese Art mit dem Generationenthema. Die Allgegenwart von Medien im Alltag ermöglicht es auch bei heterogenen Lebensverhältnissen, deren Erfahrungsräume sonst getrennt geblieben sind, das Gefühl, einer Gemeinschaft anzugehören (Jäckel 2002: 119f.). Die Präsenz von Produktmarken bringt einen gewissen Wohlstand zum Ausdruck. Markenbezeichnungen symbolisieren das Glücksversprechen einer Zukunft im Wohlstand. Aus der Erfahrung einer relativ beschaulichen und ökonomisch sorglosen Kindheit und Heranwachsendenzeit kommt die Erwartung einer ebenso sorglosen Zukunft. Für Irritationen sorgt bei den inzwischen Erwachsenen, dass diese Zukunftserwartung nicht erfüllt wird. Abgrenzungen zu anderen Gruppen werden vor allem durch einen popkulturellen Lebensstil geschaffen, der einen gewissen Wohlstand erahnen lässt. Dieser Lebensstil wird neben einer materiell sorglosen Situation im Elternhaus durch frühe eigene Erwerbseinkünfte bei gleichzeitiger finanzieller Unterstützung durch die eigene Familie ermöglicht – ein bereits bekanntes Motiv in der Analyse von Jugendkulturen. Jugendliche und Heranwachsende verfügen – wie bereits oben beschrieben – durch erste Erwerbsarbeit über relativ viel Geld, über das sie frei verfügen können. Verantwortung z.B. durch eigene Familie muss erst relativ spät übernommen werden, Geld kann daher für

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Freizeitaktivitäten und Konsumgüter aller Art ausgegeben werden. Sorglos ist diese Lebensphase vor allem auch deshalb, weil prekäre Phasen durch Jobs oder die Unterstützung der eigenen Familie überbrückt werden können. Anders als bei klassischen Jugendkulturen (z.B. Punk) wird keine Abgrenzung von der Erwachsenenkultur angestrebt, vielmehr wird die Erwachsenenrolle spielerisch übernommen. Jörg Metermann charakterisierte einen gleichaltrigen „Golf-Fahrer“, der die Kosten seines Lebensstils durch Finanzgeschäfte bestritt, als jemand der jung aber schon „geschäftig wie die Alten“ ist (Metermann 2004: 139). Zeit, ein eigenes Lebensthema zu finden, wird vor dem Bestreben, eigenes Geld zu verdienen, zurückgestellt. Implizit liegt hier vor allem die (optimistische) Erwartung vor, den Wohlstand der eigenen Eltern zu erreichen oder zu übertreffen. Besonders zu betonen ist, dass dies eine westdeutsche Erfahrung ist. Die Verunsicherungen in Ostdeutschland verlangen von den Jüngeren eine stärkere Übernahme von Verantwortung für das eigene Auskommen. Ausgeschlossen fühlen sich die ostdeutschen Altersgenossen auf eine andere Art. Sie können weder die beschriebenen Konsum-Erfahrungen ihrer westdeutschen Altersgenossen teilen, noch fühlen sie sich mit ihren Sorgen und Verunsicherungen verstanden. Probleme wie die Wiedervereinigung oder Ostdeutschland generell betreffend werden nur am Rande mit einer gewissen Verständnislosigkeit behandelt. Artikuliert wird eine gewisse materielle Sorglosigkeit, die zum Teil provokant snobistisch wirken kann. Der ostdeutsche Teil dieser Alterskohorte erkennt sich darin nicht wieder. Ihre Erfahrungen sind die mögliche oder tatsächliche Deklassierung ihrer Eltern und stärker durch materielle Sorgen bestimmte Ausbildungszeiten. In einem der Interviews, die ich mit Ostdeutschen 89ern geführt habe, wurde Florian Illies als Synonym für die westdeutschen Studienkollegen genannt, mit denen man sich nicht verstanden hat (vgl. Fall 6). Playmobil, wie viele andere Konsumartikel aus dem Westen, war nur schwer zu bekommen. In der damaligen DDR gab es die Möglichkeit, in sogenannten Intershops gegen westliche Devisen hochwertige Konsumartikel zu erwerben, was als nicht intendierte Konsequenz zur Ausbildung einer Schattenökonomie in der DDR, durch illegalen Devisenumtausch etc., geführt hat. Der Erwerb dieser Artikel dürfte dennoch nicht so leicht gefallen sein wie im Westen. In der Schwäche, nur den westdeutschen Teil der Population abbilden zu können, liegt paradoxerweise die Stärke dieser Generationenrhetorik, da gut ausgebildete, junge Menschen angesprochen werden, die den öffentlichen Diskurs in der Bundesrepublik mitbestimmen. Aus ostdeutscher Sicht ist kaum „kulturelles Kapital“ vorhanden, was in die Waagschale dieses öffentlichen Diskurses geworfen werden kann. „Generation Golf“ ist ein Entwurf eines Feuilletonredakteurs der F.A.Z. für die gleichaltrige Leserschaft. Das wirkt sich nicht negativ auf den Effekt dieser Entwürfe aus, denn westdeutsche Printmedien werden in Ostdeutschland relativ wenig

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gelesen, gelesen werden einige speziell „ostdeutsche“ Zeitschriften und vor allem auch ostdeutsche Lokalblätter (Bisky 2005: 56f.). Hier ist vermehrt von einer ostdeutschen Sonderidentität, die sich als Abgrenzung zu Westdeutschland versteht, die Rede (Bisky 2005: 103ff.). Die Leser des westdeutschen Mediums fühlen sich angesprochen, dass die Strahlkraft nach Ostdeutschland begrenzt ist, tut der Popularität dieses Entwurfes keinen Abbruch. Die unpolitische Ästhetisierung des Lebens, wie Illies sie beschreibt, findet allerdings auch bei den westdeutschen Altersgenossen scharfe Kritiker: Politisch engagierte Personen monierten in den Interviews zum Teil, dass sich Florian Illies nur sehr begrenzt und eher schwach über Politik äußere. Weiterhin wird von westdeutscher Seite beklagt, dass viele ihrer westdeutschen Altersgenossen, die andere Seite des Landes nicht wahrgenommen hätten. Der gleiche Ansatz – wenn auch mit einem offensiveren Snobismus – wird in der Popliteratur um Christian Kracht und Benjamin von Stuckradt Barre vertreten. Diese Literatur erscheint zunächst als affirmative Beschreibung der Gegenwartsgesellschaft, negativ fällt vielen vor allem der provokant nach außen getragene Reichtum der Protagonisten auf. Es stellt sich die Frage, was hinter der Fassade der Markennamen steht. Nicht viel, am Beispiel des „Labalchrashing“ in Bret Easton Ellis Roman „American Psycho“ weist Mathias Mertens darauf hin, dass die Aufzählung von Markennahmen ein stilistisches Mittel sein kann, um die Substanzlosigkeit eines Protagonisten darzustellen: „Die Menschen der Achtziger-Jahre-Börsenmarkler-Welt waren nur Labels, sie hatten kein Innenleben, das man hätte darstellen können, genau das demonstriert Ellis in anstrengender Konsequenz und Präzision“ (Mertens 2003: 205).

Diese zunächst oberflächlich erscheinende Literatur kann also durchaus als Kritik der hinter dieser Fassade stehenden Leere gelesen werden. Trotz der Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Beschleunigung erscheint das Leben langweilig. Alles was unternommen wird um die aufkommende Langeweile zu vertreiben und aus dem tristen Alltag auszubrechen, vergrößert genau dieses Gefühl. Der Ausbruch aus der Langeweile bringt weitere Langeweile und damit Enttäuschung. Die inflationäre und beschleunigte Verbreitung von Informationen durch das Internet und andere Massenmedien bringt die Sorge mit sich, eine Information zu verpassen31. Beim genauen Hinsehen fällt auf, dass viele dieser begehrten Informa-

31 Douglas Coupland beschreibt dieses Gefühl als „HISTORICAL OVERDOSING: In einer Zeit zu Leben, in der allzu viel passieren zu scheint. Hauptsächliches Symptom: süchtig nach Zeitungen, Zeitschriften und Fernsehnachrichten.“ (Coupland 1995: 17)

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tionen keine wirkliche Relevanz besitzen. Das gilt auch für die essayistische Selbstthematisierung. Sie beschreibt viel, man kann sich aber Fragen, ob die wirklich relevanten Erfahrungen angesprochen werden: Hier erscheint die Jugendgeneration der Weimarer Republik als eine Vergleichsoption, der Versuch eines historistischen Vergleichs ist auch in der Selbstexplikationsliteratur zu finden: Der Journalist Christoph Amend bezeichnet Ernst Gläsers Roman „Jahrgang 1902“ (Glaeser 1978 [1928]) als „Generation Golf“ der 20er Jahre, schon einmal fühlte sich eine Generation überflüssig. Im Literaturvergleich mit Arbeiten der „Generation X Literatur“ fällt vor allem auf, dass zwei Generationen zu erkennen sind, die eine Neigung zeigen, sich selbst zu thematisieren.32 Was steht hinter der Fassade dieser inflationären Selbstthematisierung? Es wird in dieser Literatur viel erzählt, die wesentlichen Probleme dieser Generation bleiben aber unausgesprochen: Die 80er Jahre werden oft als eine beschauliche oder langweilige Zeit beschrieben – wenn man den Fernseher anmachte, sah man Helmut Kohl. Tatsächlich waren die 80er Jahre von Krisen und Skandalen bestimmt. Die 80er Jahre begannen außenpolitisch mit dem wahrgenommenen Ende der Entspannungspolitik und einer Verschärfung der Blockkonfrontation. Eine weitere neue Bedrohung stellte im öffentlichen Bewusstsein seit Anfang, Mitte der 80er Jahre die Immunschwächekrankheit AIDS dar. Die nach 1970 Geborenen tragen die personelle Hauptlast der seit dem 11. September verstärkt zunehmenden Militäreinsätze im Zuge asymmetrischer Konflikte. Ferner gelten die beschriebenen Jahrgänge als die Protagonisten der Digitalisierung, die tatsächliche Auseinandersetzung um dieses Generationslabel fand in Form des geschriebenen Wortes statt. Erinnert sei an das weiter oben zitierte ironische Diktum Krysmanskis, interessant seien nicht die 68er und 89er, sondern die Generation der „486er“ und die folgenden Pentium – Kohorten. Aufschlussreich ist für diese Frage die Lektüre eines kurzen Textes Walter Benjamins. Es wird einerseits ein Generationenbruch beschrieben. Die ältere Generation verliert ihren Wissensvorsprung: „Wo kommen von Sterbenden heute noch so haltbare Worte, die wie ein Ring von Geschlecht zu Geschlecht wandern? Wem springt heute noch ein Sprichwort hilfreich zur

Das gleiche Symptom kann auch auftreten, wenn zu wenige Ereignisse wahrgenommen werden. Coupland spricht von „HISTORICAL UNDERDOSING“ (ebd.). 32 Die Vermutung, dass eine Vergleichbarkeit der essayistischen Selbstthematisierung mit der Literatur der 20er Jahre – z.B. auch in den Schriften Ernst von Salomons vorliegen könnte, habe ich erstmals unter (Gloger 2007) geäußert. Die gemachten Überlegungen gelten nicht für die Literatur der kompletten Weimarer Republik. Es ist vielmehr ein bestimmtes Genre innerhalb der Literatur der 1920er Jahre.

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Seite? Wer wird auch nur versuchen, mit der Jugend unter Hinweis auf seine Erfahrung fertig zu werden?“ (Benjamin 1961: 313).

Den Jüngeren tun sich Probleme auf, die mit den überlieferten Wissensbeständen nicht mehr bewältigt werden können. Die Lehren, die von der älteren Generation vermittelt wurden, helfen wenig bei der Bewältigung neuerer Probleme. Es wird viel über vermeintlich gemeinsame Erfahrungen gesprochen, Walter Benjamin hat die Kriegsliteratur der 1920er Jahre im Blick, diese sagt aber wenig über die wirklichen Erfahrungen aus. Ein zentrales Motiv der Sozialphilosophie Walter Benjamins ist das Zurücktreten der Erfahrung gegenüber dem Erlebnis, das am besten durch Erinnerungsstücke unterfüttert wird. Erinnerungen können scheinbar käuflich erworben werden, indem „Reliquien“ der eigenen Kindheit und Jugendzeit in Online-Auktionshäuern erworben werden. Auch in dieser Hinsicht scheint der ostdeutsche Teil dieser Generation anders zu sein. Sascha Lange schreibt über die Ostalgiewelle, er bräuchte nichts dergleichen, seine Erinnerungen an den Osten muss er nicht für Westgeld ersteigern, statt dessen seien sie in seinem Kopf sowie einem Karton Schwarz-weiß-Fotografien (Lange 2007: 9). Deutlicher drückt sich der Journalist Robert Ide über den vermeintlichen Austausch von Erinnerungen aus: „Bei den gemeinsamen Treffen und bei den Galas, die angeblich vom Zusammenwachsen handeln, werden diese Themen ausgespart. Stattdessen müssen Erinnerungen an eine ach so bunte DDR-Vergangenheit herhalten. Zwischen Eltern und Kindern gibt es keine Gleichheit mehr, aber darauf will niemand gestoßen werden. Hartz VI trifft auf eine kokette Form der Geldverschwendung, ein ausgedünnter öffentlicher Busverkehr auf Taxifahrten zum Biergarten. Wer fragt danach, welche Leute es sind, die wegen der Praxisgebühr nicht mehr zum Arzt gehen? Es könnten die eigenen Eltern sein.“ (Ide 2009: 223)

Es wird zwar viel unternommen, was eine Gemeinsamkeit vorspiegeln soll, die wesentlichen Themen bleiben aber ausgespart. Man hat zwar eine gemeinsame Vergangenheit, an die man sich gerne erinnert, denn die Erinnerung fällt selektiv und verklärend aus, die Entwicklung nach 1989 brachte eine Problematik zutage, die ungern angesprochen wird, da man möglicherweise über ernste soziale Probleme innerhalb des eigenen engsten Umfeldes sprechen muss. Ich fasse zusammen: Obwohl es auf den ersten Blick schwierig erscheint, hinter den unterschiedlichen und individualistischen Entwürfen eine Gemeinsamkeit zu erkennen, lässt sich aufgrund des Gesagten auf eine diesen Rhetoriken zugrunde liegende Trägergruppe schließen: Es meldet sich wiederum die Altersgruppe der 1966-1976 Geborenen zu Wort. Auch hier ist vor allem eine westdeutsche Rhe-

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torik zu erkennen, wer in Ostdeutschland aufgewachsen ist, tut sich einerseits mit dem selbstverständlich zur Schau gestellten Wohlstand schwer, andererseits dürften in Ostdeutschland viele dieser Erfahrungen fremd geblieben sein. Bedeutsam ist ebenfalls der bereits in dem Abschnitt über den Wohlfahrtsstaat beschriebene Mittelschicht-Bias. Da viele der bisherigen Entwürfe auf eine gefühlte Gemeinschaft zurückgehen, erscheint es sinnvoll als Abschluss dieses Kapitels die Generationenrhetorik als eine „gefühlte Gemeinschaft“ zu interpretieren. Es wird im Folgenden versucht, die Überlegungen dieses Kapitels in einer Synthese zusammenzufassen. Leiten lasse ich mich von dem Konzepte Community of affects, dass der englische Soziologe Dick Hebdige beschreibt. Versuch einer Synthese: Community of affects Aufgrund der bisherigen Überlegungen erscheint die Generationenrhetorik um die 89er einerseits kritisierbar und beliebig, denn die dieser Rhetorik zugrunde liegenden Diagnosen sind schwer zu verallgemeinern. Es wird zunächst der Eindruck erweckt, dass es sich hierbei um einen PR-Gag handelt. Andererseits hat sich gezeigt, dass sich diese Rhetorik auf eine klare Trägergruppe eingrenzen lässt, die der Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Geborenen. Wie in diesem Kapitel gezeigt wurde, liegen dieser Rhetorik soziale Wahrnehmungen zugrunde, die empirisch nachvollziehbar sind – die wohlfahrtsstaatliche Problematik oder die Mediatisierung von Kindheit und Jugend. Gleichzeitig scheint dies nicht immer zu überzeugen, z.B. wird die Wahrnehmung beschrieben in veränderten Zeiten nach 1989 zu leben, während sich diese Veränderungen schon in den 70ern oder 80ern angekündigt haben, wie die Krise des Wohlfahrtsstaates. Es wurde argumentiert, dass die Generationenrhetorik einer 89er Generation dann erfolgreich ist, wenn es gelingt, eine gemeinsame Befindlichkeit dieser Generation aufzugreifen. Ich werde diese Generationenrhetorik als eine „gefühlte Gemeinschaft“ diskutieren. Als Hinleitung zum eigentlichen Konzept soll die Problematik der beschriebenen Generationendebatte reflektiert werden. Es liegt eine Vielzahl von wissenschaftlichen und journalistischen Essays, die die „Jugendgeneration“ der 1990er Jahre beschreiben sollen, vor. Durch die inflationäre Verwendung des Generationenbegriffs bis hin zur Werbesprache wird die wissenschaftliche Behandlung erschwert, wird häufig als Kritik vorgebracht. Die Kategorie Generation wird zum bloßen substanzlosen „Konstrukt“: Sighard Neckel weist darauf hin, dass gerade diese Popularität von Deutungsmustern in ihrer Realitätsbeschreibenden Funktionen liegt und dass diese Entwürfe gerade aus diesem Grund ein besonderes wissenschaftliches Interesse verdienen – „Marktauglichkeit“ bedeutet „Realitätstauglichkeit“ – daher ist eine solche Rhetorik ernst zu nehmen (Neckel 1993: 168). Ausgehend von der Kritik an der in-

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flationären Verwendung des Generationenbegriffs und dem Hinweis Sighard Neckels soll im Folgenden die Kategorie der gefühlten Generation, der gefühlten Gemeinschaft entwickelt werden. Dies erscheint sinnvoll, denn das beschriebene Generationslabel ist eher als ein Markenlabel oder eine Schöpfung der Kreativbranche und weniger ein politischer Akteur. Die Aussagen der Werbung sollen vom Empfänger nicht geglaubt werden, vielmehr sollen die Werbeaussagen bestimmte Gefühle beim Betrachter auslösen. In dem Sinne kann vermutet werden, dass die Rhetorik einer 89er Generation das Gefühl einer Gemeinsamkeit hervorrufen und nicht einen einheitlichen politischen Akteur abbilden soll. Die folgenden Überlegungen können als Bruchstücke einer Theorie der Selbstdarstellung oder Selbstthematisierung im öffentlichen Raum gelesen werden. Anders als bei Goffman steht nicht die Frage im Vordergrund, wie man sich in bestimmten Situationen verhält, um erfolgreich zu sein. Vielmehr geht es darum, die Anschlussfähigkeit eines Deutungsmusters im massenmedialen Raum nachzuvollziehen. Hinter dem Label der 89er steht der Versuch einer Trägergruppe, das eigene Deutungsmuster hegemonial zu verbreiten. Grundlegend für den Versuch einer hegemonialen Verbreitung sind die neuen massenmedialen Möglichkeiten der Verbreitung dieses Deutungsmusters. Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei dieser Rhetorik um einen Prozess handelt: Anschlüsse können „gemacht werden“, es handelt sich bei ihnen um einen laufenden Prozess der Konstruktion. Auch ist auf den Eigensinn des Empfängers hinzuweisen: Das Zeichen definiert sich im Auge des Betrachters, je nach dem vom Betrachter an das Zeichen herangetragenen Referenzsystem kann das Zeichen in seiner Bedeutung variieren. Die Interpretationsvariabilität ist das Grundgesetz der Massenkommunikation (Eco 1985: 152). Also kann das Zahlenspiel 68/89 je nach Betrachter unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Möglicherweise ist gerade diese Interpretationsvariabilität eine Stärke der 89er Generationenrhetorik. Zunächst ist auf eine Besonderheit der Trägergruppe hinzuweisen. In spätmodernen Gesellschaften bekommen Wissensbestände durch die rasante gesellschaftliche Beschleunigung eine kleinere Halbwertszeit. Die Folge ist eine Gegenwartsschrumpfung, die mit einer Identitätsschrumpfung einhergeht (Rosa 2005: 184). Anders als in der klassischen Moderne, in der ein sozialer Wandel vor allem ein intergenerationeller Wandel war, ist in der „spätmoderne“ ein intragenerationeller Wandel zu beobachten. Deutungsangebote werden kurzlebig und beliebig. Die Identifikation mit einem Generationenthema würde demnach schwieriger werden, da alles in Veränderung begriffen ist. Deutungsangebote können nach kurzer Zeit für einen potenziellen Träger überholt sein. Ein wesentliches Problem z.B. für die Jugendsoziologie ist, dass Lebensentwürfe revidierbar werden und nach kurzer Zeit wieder verworfen werden können (Paris

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1990: 9). Das Deutungsmuster der 89er ist gerade in dieser Frage interessant, es fällt durch eine gewisse Zeitlosigkeit auf. Obwohl die Debatte um die 89er abgeebbt ist, kommt es hin und wieder zu einem Aufflackern dieser Generationenrhetorik. Beim Neuaufflackern dieser Generationenrhetorik meldet sich immer wieder die Trägergruppe der um 1970 Geborenen zu Wort. Es kann davon ausgegangen werden, dass bestimmte Dispositionen dieser Trägergruppe vorliegen, die von einer Rhetorik der 89er Generation aufgegriffen wird. Lohnenswert erscheint es, diese Trägergruppe für diese Arbeit im Blick zu behalten. Eine mögliche Problematik liegt nicht nur darin, dass sich die Trägergruppe nach kurzer Zeit einem anderen Deutungsangebot zuwenden könnte, sondern auch, dass die Deutungs- und Identifikationsangebote selbst an Überzeugungskraft verlieren. Die Frage, ob es nach 1989 ein Ende der Geschichte gibt, ist Dick Hebdige zufolge falsch gestellt vielmehr stellt sich die Frage, wessen Geschichte beendet sei (Hebdige 1994: 231). Statt von einem Ende der Geschichte kann eher von einem Ende der klassischen Deutungsmuster gesprochen werden. Identifikationsangebote, die für die Politik der letzten 200 Jahre maßgeblich waren – Klasse und Nationalstaat – verlieren an Überzeugungskraft, gleichzeitig besteht ein großes Interesse an neuen politischen Formationen, die jenseits der etablierten Politik agieren können (Hebdige 1994: 233). Wesentlich ist an diesen neuen Akteuren, dass sie in der Lage sind, gemeinsame Gefühle zu mobilisieren (Hebdige 2002: 212ff.). Die Kategorie Generation liefert ein Deutungsmuster, das anders als „Nationalstaat“ und „Klasse“ relativ unbelastet erscheint und in der Lage ist, gemeinsame Gefühle zu vermitteln. Welche Gefühle werden in dieser Generationenrhetorik mobilisiert? Der Mauerfall besitzt als das letzte politische und historische Großereignis der Bundesrepublik eine gewisse Überzeugungskraft, der Epochenbruch ist wiederum vor allem ein gefühlter. Es wird weniger auf eine gemeinsame Erfahrung des Umbruchs Bezug genommen, als auf das diffuse Gefühl, dass sich die Welt verändert hat. Die eigentlichen Schwächen dieser Rhetorik werden dadurch zu ihrer Stärke. Der leere Signifikant „89er Generation“ kann mit neuen Inhalten gefüllt werden und damit spontan neuen Gegebenheiten angepasst werden. Gemeinsamer Nenner ist lediglich, in veränderten Zeiten zu leben. Es ist eine gelegenheitsbezogene und strategische Aktualisierung dieser Generationenrhetorik zu beobachten. Diese zugrunde liegenden Erfahrungen lassen sich nicht für die Gesamtheit dieser Jahrgänge verallgemeinern, es sind vor allem die Erfahrungen der westdeutschen Mittelschichten, die in dieser Rhetorik verarbeitet werden. Anders als konkurrierende Ausdrücke wie „Generation Golf“ oder „Generation @“ als Kennzeichen der Kinder der westdeutschen Wohlstandsgesellschaft oder Protagonisten der Digitalisierung, lässt das Label der 89er keinen sofortigen Rückschluss auf die dahinter ver-

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borgene Gruppe und ihre Eigenschaften zu. Die Inhaltsleere dieser Generationenrhetorik macht es möglich, dass sich viele (auch gegensätzliche Stimmen) dieses Label aneignen können. Die 89 wird vergleichbar mit dem Label der „Generation X“. Das X steht für die unbekannte Variable und lädt ein, den leeren Signifikanten mit Inhalt zu füllen. Die 89 stellt zunächst keine ungekannte Variable dar, da eindeutig die „Zeitenwende“ 1989 bezeichnet wird. 89 steht aber auch für zum Teil für das Unbekannte, da unterschiedliche und gegensätzliche Interpretationen dieses Epochenbruchs vorgenommen werden könnten. Wie wird ein solches Label für eine Trägergruppe interessant? Die für die empirische Untersuchung dieser Arbeit vorgeschlagene Interpretationshypothese ist, dass diese Rhetorik der 89er Generation als die Rhetorik der Mittelschichten der Bundesrepublik zu verstehen ist, die ihren Anschluss an den politischen Diskurs der Bundesrepublik sucht. Es sind in der Generationenrhetorik zwei Motive zu erkennen, das der historischen Zäsur und das der Krise des Wohlfahrtsstaates, die auf den ersten Blick schwer miteinander vereinbar scheinen. Der Diskurs der historischen Zäsur implizierte eine prinzipielle Lösbarkeit der politischen Probleme der Gegenwartsgesellschaft. Die westlichen Gesellschaften haben die größere Effizienz in der Produktion bewiesen, mit der Implosion der real existierenden sozialistischen Systeme wurde der Sieg des liberalen Kapitalismus ausgerufen, die wesentlichen politischen Probleme gelten seit dem Zusammenbruch der mächtigen Gegenentwürfe als gelöst und alle verbleibenden Probleme sind auf der Basis der bestehenden Gesellschaftsordnung zu lösen (vgl. die These vom Ende der Geschichte). Als eine direkte Folge der Ereignisse 1989-91 kann die Zurückweisung zweiter und dritter Wege und einer Stärkung konservativer Tendenzen des deutschen Wohlfahrtsstaates (Subsidiaritätsprinzip) beobachtet werden. Dem entgegen stellt sich die Wahrnehmung, dass sich die westlichen Zivilisationen in einer fundamentalen Krise befinden und nicht (mehr) die Probleme lösen können, die durch sie hervorgerufen werden. Alte Probleme bleiben bestehen. Es wird die prinzipielle Lösbarkeit dieser Probleme bestritten, anders als es die Diagnose eines Endes der Geschichte tut. Die Wahrnehmung einer Krise des Wohlfahrtsstaates ist Teil einer allgemeinen Krise der Gegenwartsgesellschaften, die sich in einer ökologischen Bedrohung und auch der möglichen Weiterverbreitung von Atomwaffen zeigt. Hingewiesen wird darauf, dass für eine „post-89er-Generation“ eine Prägung durch diese „Zivilisationskatastrophen“ und ein Versagen der Kritik damit einhergeht, die mögliche Folge ist eine politische Desillusionierung (Scherer 1996: 84). Wie sind diese Rhetoriken miteinander vereinbar? Es fällt bei beiden Rhetoriken ein „Mittelschicht – Bias“ auf. Die Rhetorik der Zeitzeugen der historischen Zäsur 1989/1991 bringt politische Deutungs- und Gestaltungsansprüche zum Ausdruck. Sie wird von Personen genutzt, die eine herausragende Position in der

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Öffentlichkeit der Bundesrepublik anstreben. Bei der gleichen Gruppe sind Abstiegsängste zu beobachten, die in Form einer Wohlfahrtsstaatsverliererrhetorik zum Ausdruck kommen. Es verbindet beide, dass sie als eine Rhetorik gut ausgebildeter, westdeutscher, Männer mit einem Mittelschichthintergrund und politischem Deutungs- und Gestaltungsanspruch erscheinen. Die Selbstexplikation der 89er ist also in diesem Sinne als eine Genealogie der Bundesrepublik zu lesen. Es gab die Flakhelfer, die 68er und als nächste Generation die 89er. Als Vertreter der intellektuellen Aufbaugeneration der Bundesrepublik Deutschland sind in der Soziologie Jürgen Habermas und Niklas Luhmann bekannt. Auf diese Gründergeneration folgt eine Lehrer- und Vermittlergeneration, die Protestgeneration oder 68er Generation. Am Ende dieser Genealogie erscheinen die 89er als intellektuelle „lost-. Generation“ der Bundesrepublik, eine Generation, die nichts hat, wie Ulrich Greiner vermutet hat. Für diese Rhetorik erscheint es nicht relevant, ob eine tatsächliche Relevanz dieses Ereignis vorliegt. Generationslabel werden oft askriptiv in Anlehnung an die zeitgeschichtliche Epoche der jeweiligen Heranwachsendenphase vergeben.33 Die Erwartung eines Epochenbruchs oder einer vorgezogenen Zeitenwende des Jahres 2000 auf das Ende der 80er Jahre war bereits vor dem Fall der Mauer im politischen Diskurs der Bundesrepublik zu erkennen. Wer sich auf die beschriebene Art in die Genealogie der Bundesrepublik einordnet, beansprucht auf diese Art und Weise eine herausragende Rolle in der zukünftigen „Führungsetage“ der Bundesrepublik. Fragen nach der Prägung einer Gruppe werden häufig durch den Verweis auf die Krise des Wohlfahrtsstaates beantwortet, seltener durch das Erlebnis der historischen Zäsur. Es kann vermutet werden, dass sich beide Rhetoriken in dem konkreten Fall ausschließen, d.h., dass nur eine von beiden Rhetoriken in einer konkreten Äußerung dieser Generationenrhetorik zum Ausdruck kommt. Auch der Selbstexplikation als Wohlfahrtsstaatsverlierergeneration liegt eine gewisse Erwartung an den Wohlfahrtsstaat zugrunde, die denen der Mittelschichten der Bundesrepublik angehören zu scheint. Weder die marginalisierten Gruppen haben ausgeprägte Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat, noch sehr wohlhabende. Die Selbstthematisierung einer Wohlfahrtsstaatsverlierergeneration ist von den Deklassierungsängsten einer privilegierten „Versorgungsklasse“ geprägt34.

33 Für die rund zehn Jahre Jüngeren wurde die Bezeichnung „Millenniums-Generation“ vorgeschlagen, was aber keinen Erfolg hatte. 34 M. Rainer Lepsius erweitert Max Webers Klassenkonzeption von Besitz- und Erwerbsklassen um den Begriff der Versorgungsklasse, der Wohlfahrtsstaat bekommt eine Dimension in der Verteilung von Lebenschancen (Lepsius 1979: 179ff.).

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Obwohl die Rhetorik einer 89er Generation kritisierbar ist – zu unterschiedlich scheinen die Angehörigen dieser Jahrgänge zu sein, um ein einheitliches Bild zeichnen zu können – scheint dieses Label auf bestimmte Gruppen von Personen überzeugend zu wirken. An das empirische Material stellt sich aus dieser Arbeitshypothese die Frage nach der Beschaffenheit dieser Trägergruppe, die sich diese Generationenrhetorik aneignet. In der Folge der Interpretation ist weniger die Frage zu stellen, ob die Generationengestalt der 89er „pragmatisch“ oder „zynisch“ sei, wie es die Selbst- oder Fremdbeschreibung gelegentlich tut. Es stellt sich zunächst die Frage, wie die Protagonisten der Debatte um die 89er sich eine Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen vorstellen. Da es sich um eine gefühlte Gemeinschaft zu handeln scheint, folgen hierzu einige Erläuterungen. Anlässlich der Frage nach neuen politischen Akteuren beschreibt Dick Hebdige kurzzeitige Mobilisierungswellen als „community of affects“, die sich von Interessengemeinschaften und „imagined communities“ (vgl. Anderson: 1996) unterscheiden und kurzzeitig medial vermittelt ein beachtliches Mobilisierungspotenzial aufweisen können. Obwohl eine Erosion des politischen Lebens zu beobachten ist, stoßen politische Ziele wie „soziale Gerechtigkeit“ und „eine bessere Welt für unsere Kinder“ nach wie vor auf ein beträchtliches Interesse (Hebdige 1994: 233). Obwohl vordergründig das Interesse an aktiver politischer Partizipation stagniert oder rückläufig zu sein scheint, sind immer mehr Menschen bereit NGOs wie Amnesty International oder Umweltschutzorganisationen zu unterstützen (Putnam 1995: 70). Teil der Diagnose ist die Vorstellung von der Erosion der großen politischen Akteure, genutzt werden aber die Chancen der politischen Teilhabe und Mobilisierung der Spätmoderne, wie elektronische Medien. Als ein beachtlicher Erfolg der späten 80er Jahre wird die massenmediale Mobilisierung des Mitgefühls im Zuge von Live-Aid und Band-Aid Kampagnen Ende der 80er hervorgehoben. Im Licht der Erfahrungen seit Mitte der 90er trifft dieses Programm zu. Ein neuer politischer Akteur in diesem Sinne ist auch die globalisierungskritische Bewegung35. Ein solches Netzwerk erinnert an die „Multitude“, wie sie von Hardt und Negri beschrieben wird (Hardt; Negri 2003). Können die Protagonisten der Debatte um die 89er Generation als ein solches Netzwerk gelten oder ist der Versuch zu erkennen, ein solches zu etablieren?

35 Gelegentlich ist der Einwand zu hören, man könne nicht von einer globalisierungskritischen Bewegung sprechen, da die Globalisierungskritiker die Mittel der Globalisierung, wie das Internet für sich selbst nutzen würden. Um diesem Einwand zu umgehen, müsste zutreffender von einer Bewegung zur demokratischen Gestaltung des Globalisierungsprozesses gesprochen werden.

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Dieses Etikett ermöglicht es, wie gezeigt wurde, unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Befindlichkeiten zu bündeln, sofern sie von denen der älteren Generation abweichen oder genau genommen von dem abweichen, was der älteren Generation zugeschrieben wird. In diesem Sinne besitzt das Label eine gewisse Attraktivität, um eine Abgrenzung zu der älteren Generation zu artikulieren, es ist auf die bereits beschriebene Zahlenlogik 68/ 89 zu verweisen. Von der Gruppe der 89er wird angenommen, dass es sich bei ihnen um eine kleine Trägerschicht handelt, die versucht, ihr Deutungsmuster hegemonial zu verbreiten. Hierbei kommt es zu dem bereits beschriebenen Überfluten des Signifikanten durch das Signifikat. Wahrnehmungen einer Veränderung können auf das Datum 1989 übertragen werden, wie negative Erwartungen von Leistungen des Wohlfahrtsstaates oder technische Innovationen, die nicht oder nur mittelbar mit der historischen Zäsur in Verbindung gebracht werden können. Aufgrund der bisherigen Überlegungen dieser Arbeit scheint die Erfahrung der historischen Zäsur nur in Ostdeutschland besonders einschneidend gewesen zu sein. Abweichend von der gängigen Interpretation wird davon ausgegangen, dass die Erfahrungen des Jahre 1989 auch für die westdeutsche Trägergruppe relevant sein können. So bildeten sich nach 89 Biographien von West-Ost-Wanderern heraus, einige im Zuge des Elitenaustauschs nach 1990. Die Eliten der damaligen DDR wurden durch westdeutsche Absolventen ersetzt, aber auch im Umfeld von Kirchen und der Partei die GRÜNEN bildete sich schon vor dem Fall der Mauer ein Milieu heraus, das über eine gesamtdeutsche Kompetenz verfügte, weshalb davon ausgegangen wird, dass diese Fälle durchaus generalisierbar sind, wenn sie auch als Sonderfälle erscheinen mögen. Erfahrungen der historischen Zäsur sind zwar vorhanden, scheinen aber latent zu bleiben. In der empirischen Untersuchung hat möglicherweise die Stimulans der Interviewsituation es ermöglicht, dass Erfahrungen zur Sprache gekommen sind, die nicht in Alltagsgesprächen geteilt werden würden. Es kam sogar das Problem zwischen gemachter Erfahrung und dem fehlenden Austausch darüber explizit zur Sprache. In einem Interview mit einer westdeutschen Frau, die auf eine solche West-Ost-Wanderungs-Biographie zurückblicken kann, wurden diese Erfahrungen der historischen Zäsur als ein Stein beschrieben, der auf dem Boden der Erinnerung liegt, aber nicht aufgehoben wird36. Viele andere Menschen haben vergleichbare Erfahrungen gemacht, aber sie bleiben oft unausgesprochen, zu einer gemeinsamen Erinnerung ist oft ein Anlass nötig. Es wird über eigene Erfahrungen nur anlässlich von Jahrestagen geredet – z.B. auf Podien von evangelischen Akademien, die sich eines Ost-West-Gesprächs

36 Dieses Interview wird im empirischen Teil unter 4.3.1 eingehend behandelt.

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annehmen, über die Lektüre eines Buches oder ein Filmes, die sich um diese Zeit drehen. An diesem Punkt kann man feststellen, dass man mit seinen Erfahrungen nicht alleine ist. Zur Erläuterung führe ich eine Metapher ein. Die Gesellschaft kann man sich wie den Blick auf den pulsierenden Verkehr in der nächtlichen Stadt vorstellen. Individuelle Lebensgeschichten entsprechen in der Sichtweise Verkehrsteilnehmern. Ihre individuellen Erinnerungen sind „Wegmarken“ auf ihrer Fahrt. An bestimmte Punkte wird man sich immer erinnern, Ampeln, Kreuzungen oder Baustellen – Schule, Ausbildung usw. Andere Punkte werden zwar wahrgenommen, die Erinnerung daran bleibt aber individuell, z.B. markante Leuchtreklamen und Geschäfte am Straßenrand – erste Versuche des politischen und zivilgesellschaftlichen Engagements, Erfahrungen des prekären Berufseinstiegs in bestimmten Branchen etc. Diese Wegmarken werden diskursiv ausgehandelt, jemand beschreibt den Weg anhand einiger markanter Punkte am Wegesrand, diese Erklärung kann verstanden werden, muss aber nicht zu der allgemeingültigen Beschreibung werden. Nicht alle Erinnerungen können gemeinsam geteilt werden, Fragen der individuellen Entwicklung, Lebenspartnerschaften, schwere Erkrankungen etc. dürften nur wenig Anschlussmöglichkeiten an die Gleichaltrigen bieten. Diese Überlegungen werden nun auf historische Erinnerungen übertragen. Über die als relevant geltenden Erinnerungen wird gesprochen. Diejenigen, über die nicht gesprochen wird, treten in den Hintergrund. Ein Austausch über Erinnerungen ist also immer auch ein Austausch über gesellschaftliche Konventionen, was erinnert werden sollte. Teil einer Generationenrhetorik ist auch ein Umkodierungsprozess, in dem festgelegt wird, was für die eigene Generation wichtig ist, welche Erinnerungen Relevanz besitzen und welche nicht. Es wird darüber gesprochen, welche Erfahrungen für die eigene Altersgruppe wichtig sind und auch, was die eigene Generation von den älteren und jüngeren unterscheidet. Erfahrungen, über die kein Austausch stattfindet, z.B. weil über sie nicht gesprochen wird oder auch nicht gesprochen werden kann, werden nicht oder schwer erinnert (Schachtel 1949)37. Ein Anschluss kann geschaffen, „konstruiert“ werden, indem eine gemeinsame Wegmarke aufgezeigt wird. Weil keine diskursive Einigkeit darüber besteht, wie die Ereignisse um 1989 erinnert werden sollen, bleiben sie oft hintergründig, für den einen war es ein reines Medien-

37 Ernest G. Schachtel führt das Vergessen von Kindheitserinnerungen darauf zurück, dass die frühe Kindheit durch Sinneseindrücke geprägt sei, die sich schwer sprachlich fassen lassen (Geschmack, Geruch) und die dadurch in den Hintergrund treten, anders als versprachlichte Erinnerungen. Bei erneuter Konfrontation mit diesen Sinneseindrücken kann diese Erinnerung wieder in den Vordergrund treten.

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ereignis, andere erinnern sich an Besuche im andere Teil des Landes, es wollte erkundet werden. Wer in der DDR gelebt hat, kann sich an 1989 als das Ende der Gängellungen und Zumutungen erinnern, aber der Zusammenbruch der DDR kann auch das Ende einer privilegierten Position bedeutet haben. Um die angesprochene Metapher des Steines aufzugreifen, könnte man ausführen, dass der Stein auf dem Boden der Erinnerung bleibt, weil es kein Werkzeug gibt, ihn aufzuheben. Die Ereignisse des Jahres 1989 wie der Zeit kurz vor und nach der Wende sind für viele keine präsenten Erinnerungen, sie erscheinen verweht. Erinnerungen an 89 brauchen also oft eine Stimulans, die gemeinsame Diskussion über einen Film, ein Alltagsgespräch, in dem die Thematik angesprochen wird oder – wie im Fall dieser Arbeit – eine Interviewsituation. In der empirischen Erhebung war immer wieder zu hören, dass 1989 ein Zeitpunkt war, an dem man angefangen hat, politisch zu denken. Da die Rhetorik als 89er vermehrt von westdeutscher Seite geäußert wurde, ist auch bei diesen Fällen von einer grundlegenden Prägung durch die Institutionen der Bundesrepublik auszugehen. Auf diese Art und Weise gelingt es den Protagonisten der Rhetorik einer 89er Generation, den leeren Signifikanten der 89 mit strategisch aktualisierten Inhalten zu füllen. Besteht darin, wie eine gemeinsame Generation vorgestellt wird, möglicherweise ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland? Die Vorstellung des pulsierenden Verkehrs scheint den „Normalfall“ einer Gesellschaft darzustellen in der es mit einer gewissen Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit zugeht. Wie sieht es dagegen mit der „Unordnung“ des 1989er Umbruchs in der DDR aus? Um wiederum die Metapher mit dem Verkehr aufzugreifen. In Bezug auf einen gesellschaftlichen Umbruch kann man sich die Situation eines plötzlich auftretenden Verkehrschaos vorstellen. Die Hauptverkehrsstraßen sind gesperrt, der Verkehr staut sich, so dass man gezwungen ist, individuell einen Umweg zu nehmen. Nach dem Zusammenbruch der DDR-Institutionen kann angenommen werden, dass die sehr einheitlichen Biographien sich auseinander gelebt haben können, es dauerte eine Zeit, bis man sich den Institutionen der Bundesrepublik angepasst hat. Diese Umwege können sich untereinander ähneln, sie erscheinen aber als ein Sonderfall, sodass auch die individuellen Biographien nach 1989 nicht das Gefühl einer Gemeinschaft aufkommen lassen. Es kann nicht die Rede davon sein, dass sich das Label der 89er durchgesetzt hat, obwohl für die angesprochene Altersgruppe durchaus relevante Themen angesprochen wurden. Nur eine kleine Elite nutzt diese Rhetorik. Vermehrt Einzelpersonen und kleine Initiativen in diese Debatte einzubeziehen, hätte durch die verbesserten digitalen Kommunikationsnetzwerke ab Mitte der 90er Jahre gelingen können, da auch die Popularität des Essays Generation Golf dafür spricht,

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dass gemeinsame Befindlichkeiten in der beschriebenen Jugendkohorte der 90er Jahre zu erkennen sind. Gründe für das Scheitern können darin liegen, dass zwar eine Offenheit der Debatte angestrebt wurde, diese Debatten jedoch überwiegend von einer „Elite“ geführt wurden. Die Autoren in Sammelbänden, in denen sich die jüngere Generation darstellt, sind häufig relativ privilegierte Personen, wie z.B. in dem von Arne Weiß, Julia Junger und Sven Sohr herausgegebenen Sammelband „Montag, Dienstag, Zukunft“ (Weiß 2001) oder dem von Daniel Detling herausgegebenen Sammelband „Deutschland ruckt!“, der als das Gründungsdokument des 89er-Think-Tanks „Berlin Polis“ gesehen werden kann, in dem sich vor allem die Stipendiaten parteinaher Stiftungen zu Wort melden (Dettling 2000). Dabei wurde die Chance, eine breite Trägerschaft zu erreichen, nicht genutzt, da die Debatte um eine 89er Generation vor allem die des politischen Nachwuchses der Bundesrepublik ist. Obwohl die Krise des Wohlfahrtsstaates ein durchaus relevantes Thema darstellt, bleibt die Frage, wen diese Probleme betreffen. Wohlfahrtsstaatsdebatten setzen ein implizites Bild des Wohlfahrtsstaates voraus. Wie ich weiter oben diskutiert habe, ist dieses Thema eines der Männer aus den aufstiegsorientierten Mittelschichten. Die Debatte bleibt Personen außerhalb der beschriebenen Trägergruppe fremd, was eine Ausbreitung des Deutungsmusters der 89er auf einen größeren Personenkreis schwierig macht. Um dieses Deutungsmuster verstehen und sich aneignen zu können, wird relativ viel vorgesetzt: Es müssen Kenntnisse in den kulturellen und politischen Debatten der Bundesrepublik vorhanden sein, z.B. Fragen über die Aufarbeitung der deutschen Vergangenheit oder der Vergleich der aktuellen Jugendkohorte mit den Protagonisten der antiautoritären Revolte. Diese Themen sind Ostdeutschen und Personen mit Migrationshintergrund fremd. Fremd bedeutet dabei keine Unkenntnis, sie sind bei diesen Personen nur nicht in diesem Maße präsent und emotional konnotiert, wie es im Westen der Bundesrepublik der Fall ist38. Auf diese Art und Weise wird diese Generationenrhetorik vor allem zu einer westdeutschen Generationenrhetorik. In dem Folgenden zweiten Kapitel soll die Trägergruppe, von der eine solche Generationenrhetorik ausgeht, empirisch beschrieben werden. Auf diese Art und Weise wird diese Generationenrhetorik vor allem zu einer westdeutschen Generationenrhetorik. In dem Folgenden zweiten Kapitel soll die Trägergruppe, von der eine solche Generationenrhetorik ausgeht, empirisch beschrieben werden. Ich fasse zusammen: Hinter der Rhetorik als 89er steht das gemeinsame Gefühl, einer Generation anzugehören. Diese Rhetorik basiert erstens auf einem Arsenal von vielfältigen Motiven. Als gemeinsamer Nenner erscheint das Gefühl

38 Vgl. hierzu die Fallstudien im empirischen Teil der Arbeit.

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in veränderten Zeiten zu leben. Es gibt ausgedehnte Latenzphasen für die Generationenrhetorik der 89er. Diese Motive können eine Zeit lang latent bleiben und nach einiger Zeit treten sie wieder auf. Zweitens ist eine Gelegenheitsbezogene strategische Aktualisierung dieser Generationenrhetorik zu beobachten. Das Gefühl, in veränderten Zeiten zu leben, wird zu bestimmten Ereignissen (Krisen, Umbruchsphasen) als besonders dringlich erfahren und Anlassbezogen aktualisiert, z.B. wenn die eigene Generation als die Verliererkohorte der Finanzkrise beschrieben wird oder der IG-Metallvorsitzende Berthold Huber sich eher zu der 89er als der 68er Generation hingezogen fühlt39. Die Inhalte, die in dieser Debatte genutzt werden, sind affektiv verdichtet, sodass sich eine möglichst große Anzahl von Personen durch ein Identifikationsangebot angesprochen fühlen kann. Motive der Zeitdiagnose, die dem gefühlten Trend widersprechen könnten, werden von dem Gefühl in veränderten Zeiten zu leben überdeckt

39 Vgl. hierzu die Zitate im Einleitungskapitel.

3. Die empirische Erhebung

Nachdem die Rhetorik der 89er – die Selbst- und Fremdthematisierung – im vorherigen Teil diskutiert wurde, geht es im Folgenden darum, die Gruppe zu beschreiben, von der diese Selbstthematisierung ausgeht. Dies erscheint vor allem deshalb sinnvoll, weil eine erste Exploration der Selbstthematisierungen gezeigt hat, dass diese Selbstthematisierung von einer klar erkennbaren Trägergruppe ausgeht, es treten vor allem die 1965-1975 Geborenen hervor. Die klar skizzierbare Trägergruppe stellt einen interessanten Kontrast zu der eher diffus bleibenden Generationenrhetorik dar. Die aus der Auswertung der Selbstexplikationsliteratur entstammende Hypothese, dass sich die Rhetorik auf diese Jahrgänge begrenzen lässt, soll nun anhand der empirischen Untersuchung näher begründet und belegt werden. Vorher soll die empirische Erhebung dieser Arbeit kurz beschrieben werden. Die empirische Grundlage meiner Arbeit sind 20 teilstandardisierte Interviews, die ich zwischen November 2006 und Februar 2009 geführt habe. Diese Interviews dauerten zwischen einer und zweieinhalb Stunden und wurden in Frankfurt/M., Wiesbaden, Potsdam, Berlin, Hannover, Göttingen, Hamburg und Wien geführt. In einem ersten Arbeitsschritt wurden Personen angesprochen, die sich in „89er-Büchern“, Interviews oder kurzen Texten und Artikeln als 89er zu Wort gemeldet haben. Weitere mögliche Interviewpartner wurden über das Schneeballverfahren ermittelt. Das Schneeballverfahren wurde für die Fallauswahl angewandt, weil es einerseits zur Analyse sozialer Netzwerke anbietet. Es ist auch aus dem Grund zu nutzen, weil eine unbekannte Population untersucht werden soll (Schnell, Hill, Esser 2005: 300). So konnten mögliche Stichwortgeber interviewt werden, die sich nicht exponiert in der publizistischen Debatte zu Wort meldeten. Damit das Sample nicht zu homogen wurde, wurde die Auswahl weiterer Interviewpartner kritisch diskutiert. Das Schneeballsystem hat sich in der praktischen Umsetzung vor allem dadurch bewährt, dass viele Interviewpartner gewonnen werden konnten, durch die die untersuchte Population heterogener wurde, als zu Beginn der Arbeit vermutet. Zum Abschluss dieser Erhebung wiederholten sich die Namen, die als

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mögliche weitere Ansprechpartner für ein Interview genannt wurden, was auf eine Sättigung der Stichprobe hindeutet. Die Auswertung der Interviews sollte die Frage beantworten, auf welchen Vorstellung einer gemeinsamen Generation der Rhetorik als 89er basiert. Die Interpretation soll zeigen, wie sich meine Interviewpartner die Gemeinschaft mit ihren Altersgenossen vorstellen. Die daraus gewonnenen theoretischen Konzepte sollen im Vergleich zu den anderen Fällen weiterentwickelt werden. Eine „bestätigte theoretische Relevanz“ besitzen diejenigen Konzepte, die durch Wiederholung auffallen oder möglicherweise ausgelassen werden. Dies entspricht dem Vorgehen nach der grounded theory (vgl. Strauss, Corbin 1995: 149f.). Ein Vorgehen nach der grounded theory ist auch besonders aufgrund des explorativen Charakters dieser Arbeit ratsam. Am Ende dieser Arbeit werden sechs typische Einzelfälle dargestellt. Die empirische Untersuchung begann in Westdeutschland, das Sample wurde im Laufe der Arbeit auf Ostdeutschland ausgeweitet. Ein Grund dafür ist, dass in den ersten Interviews Hinweise auf West-Ost-Biographien gegeben wurden und dass sich bei der weiteren Lektüre von 89er Literatur auch Selbstthematisierungen von ostdeutscher Seite gezeigt haben. Von einer Sättigung des Samples kann weiter ausgegangen werden, da ich mit „89ern“ aus allen wesentlichen Schauplätzen der Debatte, den Selbstexplikationen in der Wochenpost, den Jugendorganisationen der etablierten Parteien und Autoren der bekannten Bücher zur Thematik gesprochen habe. Auch häufig wiederkehrend ähnliche Aussagen in den Interviews sprachen dafür. Ein Kontakt zu meinen Interviewpartnern wurde über E-Mail oder schriftlich aufgenommen. Ich schrieb, dass ich an einer Dissertation über die „89er-Generation“ arbeite und dass es das Ziel meiner Arbeit ist, eine Genealogie bzw. Wirkungsgeschichte dieses Generationslabels zu liefern. Ich habe mit fünf Journalisten und Journalistinnen, vier Abgeordneten in Länderparlamenten, drei Politikberatern und Vorsitzenden von Think-Tanks gesprochen, einem Mitarbeiter einer Landtagsfraktion, einer als Unternehmensberaterin arbeitenden Politologin, einem Regisseur, einer Philosophin, einer Soziologin und einem Soziologen, einem Medienwissenschaftler sowie einem Mitarbeiter im gehobenen Management einer Bank. Die Verweigerungsquote lag bei ungefähr 50%. Die befragten Personen sind zwischen 1964 und 1976 geboren. Die Interviews bilden Angehörige einer gut ausgebildeten, politisch interessierten Gruppe ab, die der „neuen Kulturvermittler“ (Bourdieu), die z.T. beachtliche Karrieren vorzuweisen haben. Es zeigt sich schon beim ersten Blick auf die Zusammenstellung der Interviewpartner ein deutlicher Kontrast zu den Diagnosen einer unpolitischen Generation wie sie z.B. in den Essays von Florian Illies beschrieben wird. Befragt wurden zunächst die westdeutschen Stimmen. Ein Grund dafür ist, dass diese Rhetorik vor allem eine

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westdeutsche Rhetorik ist, schon die erste Exploration hat diesen westdeutschen Bias gezeigt1. Ein pragmatischer Grund für dieses Vorgehen war, dass die „89er“ bei den GRÜNEN aus Gründen der Erreichbarkeit zuerst angesprochen wurden. Da es sich um die empirische Untersuchung und Interpretation eines Deutungsmusters handelt, kann die Interpretation an jedem Punkt beginnen, es kann von keiner Zentralität die Rede sein, denn beim Verständnis eines Deutungsmusters stehen Fragen wie Struktur und Relationalität im Vordergrund (Derrida 2007: 129). Meine Interviewpartner sind am Ende ihrer „rush hours of life“, einem Zeitraum, in dem die wesentlichen Entscheidungen für das weitere Leben gefällt werden. Die Fragen, welcher Karriere man sich zuwendet, ob man eine eigene Familie plant oder man seine volle Kraft dem Beruf widmet, sind gegen Ende dieses Lebensabschnittes geklärt. Die Angehörigen dieser Jahrgänge sind in ihren Berufen fest etabliert, viele haben ihre ersten Kinder bekommen. Die Zeiten, in denen hitzig über die 89er diskutiert wurde, sind vorbei. Die Situation, aus der dieses Generationslabel herausgegangen ist, erscheint verweht: Obwohl eine Wiederkehr der Rhetorik als 89er zu beobachten ist, hätten sich viele meiner Interviewpartner ohne die Stimulans der Interviewsituation vermutlich nicht mehr als „89er“ zu Wort gemeldet. Durch Nachfragen und behutsames Einbringen zusätzlicher Informationen, zum Teil auch leichtes Gegenargumentieren bei der Interviewführung, erinnerten sich viele meiner Gesprächspartner in der Interviewsituation an Aspekte, die bereits vergessen geglaubt waren – die Rolle des Interviewers war weniger von Neutralität als von Engagement geprägt, wie es der Soziologe Jean-Claude Kaufmann postuliert. Abweichend der Mehrheitsmeinung in der Methodenlehre empfiehlt er eine diskrete, aber dennoch starke persönliche Präsenz, denn die interviewten Personen brauchen einen Anhaltspunkt, um ihre Argumentation entfalten zu können, dies ist die Person des Interviewers (Kaufmann 1999: 77f.). Der Versuch, eine vollkommene Neutralität des Interviewers aufzubauen, erscheint vor allem aus dem Grund schwierig, da auch der Interviewer eine eigene Meinung zu dem Gegenstandsbereich hat. Der engagierte Interviewer, der einerseits Verständnis für sein Gegenüber aufbringt, gleichzeitig seine eigene Meinung einbringt, hat so die Chance, die Diskussion zu beleben und den Informationsaustausch voranzubringen (Kaufmann 1999: 78). Es gilt daher auch, die Rolle des Interviewers zu reflektieren. Den Interviewpartnern soll einerseits Empathie entgegengebracht werden, sie sollen sich verstanden fühlen. Gleichzeitig kann der Interviewer helfen, die bisherigen Deutungen aufzubrechen und zur Disposition zu stellen. In der Praxis der Interviews zu dieser Arbeit zeigten gerade die Befragten oft das Bestreben hierzu. Was sich auf den ersten Blick durch konkrete Nachfragen – z.B. nach dem Alter des Interviewers – zeigte. Aber

1

Vgl. hierzu auch die im Einleitungskapitel genannten Personen.

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der Interviewer gibt seinem Gegenüber eine Vielzahl von impliziten Informationen über sich selbst, die die „Einordnung“ seiner Person ermöglichen: Stimmlage, Wortwahl und Akzent – möglicherweise gerade auch die Abwesenheit von Sprachfärbungen – Körperhaltung und die Art, wie sich jemand kleidet, geben diese Informationen. Die Rolle des Interviewers wird nicht als eine neutrale verstanden, der Interviewer ist gerade um seine Authentizität bemüht, um die Gesprächssituation am Laufen zu halten. Eine Intervention kann zu unverhofften Informationen führen, wenn das Gespräch ins Stocken gerät. Kritisch kann zum empirischen Vorgehen angemerkt werden, dass das Interview als Methode möglicherweise nicht angemessen ist, um nach Selbstthematisierungen zu fragen. Während es durchaus „Virtuosen der Selbstthematisierung“ gibt, kann es möglicherweise einer jungen Arzthelferin sehr schwer fallen, darüber in einer Interviewsituation zu sprechen, denn die Fähigkeit der Selbstthematisierung setzt kulturelles Kapital in einem gewissen Umfang voraus (Burkart et al. 2006: 316). Da in dieser Arbeit Personen interviewt wurden, die gut ausgebildet sind, mindestes einen Hochschulabschluss besitzen, und sich in der Regel zu der Thematik bereits öffentlich zu Wort gemeldet haben, wird dieses Problem zwar vermerkt, für diese Arbeit scheint es aber wenig Relevanz zu besitzen. Es wurden keine Tiefeninterviews geführt, sondern teilstandardisierte Interviews, die auf die zentralen Themen dieser Dissertation – die historische Zäsur, die wohlfahrtsstaatliche Problematik sowie kulturelle Verarbeitungsformen, die für die Generation meiner Interviewpartner typisch seien – fokussiert wurden. Es sei weiterhin darauf hingewiesen, dass mithilfe der Interviews nicht erkundet werden sollte, wie es wirklich war, sondern mithilfe der Befragung soll das Deutungsmuster der Generation rekonstruiert werden. Bei der Transkription der Aufzeichnungen wurde ohne großen Notationsaufwand gearbeitet, da keine tiefenhermeneutische Untersuchung der Erzählungen meiner Interviewpartner geplant war. Da die Kommunikation des gesprochenen Wortes möglichst authentisch wiedergegeben werden soll, erfüllt der transkribierte Interviewtext nicht die Anforderungen von Satzbau und Grammatik, wie man an einen geschriebenen Text stellen würde. Es stand die Frage im Vordergrund, welche biographischen Erfahrungen mit der Kategorie Generation gedeutet werden und für welche Erfahrungen die Kategorie Generation keine Relevanz besaß, d.h., welche Erfahrungen als individuell wahrgenommen werden. Ein zentrales Thema in den Interviews ist die Krise der Gegenwartsgesellschaft. Die Datensammlung wurde parallel zu der derzeitigen Finanzkrise abgeschlossen, die sich zu einer allgemeinen Wirtschaftskrise entwickelte. Ein Großteil der Interviews wurde vor dem Ausbruch dieser Krise geführt, Aussagen über Krisensymptome sind in den ab Herbst 2008 geführten Interviews nicht deutlich stärker ausgefallen, als es in den ersten Interviews im Herbst 2006 der Fall war. Daher ist anzunehmen, dass sich die grundlegenden Aussagen in den

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Interviews nicht wesentlich verändert hätten. Manche Aussage wäre eventuell deutlicher ausgefallen.

3.1 W ER SPRICHT ? D IE EMPIRISCHE B ESCHREIBUNG DER P ROTAGONISTEN DER S ELBSTTHEMATISIERUNG ALS 89 ER – D ARSTELLUNG EINER MÖGLICHEN T RÄGERGRUPPE DIESER G ENERATIONENRHETORIK 3.1.1 Lagenanalyse nach Karl Mannheim Wiederum unter Rückgriff auf Karl Mannheims Konzept der Generation (Mannheim 1964) soll nun die Alterskohorte, von der diese Selbstthematisierung ausgeht, näher beschrieben werden. Grundlegend für die Analyse einer gemeinsamen Generation ist es, dass eine Gruppe benachbarter Jahrgänge zu erkennen ist. Karl Mannheim spricht von der Generationenlagerung. Da die Protagonisten einer Selbstthematisierung als 89er den Jahrgängen 1965-1975 angehören, liegt die Vermutung nahe, dass sich ein durchaus aktiver Generationenkern zu Wort meldet, der möglicherweise gemeinsame Prägungen und Handlungschancen erkennen lässt. Diese Vermutung soll im Folgenden systematisch geprüft werden. Wie kann man sich diese gemeinsame Lagerung im historischen Raum vorstellen? Als die wesentliche Gemeinsamkeit erscheint die Wahrnehmung einer Krise der Gegenwartsgesellschaften, die individuell besonders als eine Krise des Wohlfahrtsstaates wahrgenommen wird. Es lässt sich fragen, ob die Wahrnehmung eines „negativen wohlfahrtsstaatlichen Schicksals“ in Ostdeutschland ebenso stark ausgeprägt ist, wie in Westdeutschland, denn in Ostdeutschland konnte sich nach 1990 keine Erwartung an den Wohlfahrtsstaat ausprägen, erste Krisensymptome des westdeutschen Wohlfahrtsstaates waren bereits in den 80er Jahren zu erkennen. Die Angst vor einem (Atom-) Krieg verband das Aufwachsen in West- und Ostdeutschland zu Zeiten der Blockkonfrontation2. Das Bewusstsein aufgrund der eigenen verschwenderischen Lebensstile vor einer ökologischen Katastrophe zu stehen, dominierte mehr und mehr die Erfahrungen der Kinder und Heranwachsenden aller Staaten in der westlichen Welt. Generation gilt als ein globales Konzept, in der Bundesrepublik Deutschland sind Sondereffekte zu erkennen, die in keinem der Nachbarstaaten eine Entsprechung finden. Die Situation zu den ehemals sozialistischen Staaten Mittel- und Osteuropas unterscheidet

2

Für Westdeutschland (vgl. Amend 2003: 158), für Ostdeutschland (Bisky 2004: 91; Hensel 2003: 88).

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sich dadurch, dass es dort zu keinem Anschluss an einen anderen, bereits bestehenden Staat gekommen ist. Aus diesem Anschluss der DDR an die BRD kam es zu einem Umbau des institutionellen Systems der DDR nach dem Vorbild der Bundesrepublik und zu einem Austausch der maßgeblichen Funktionseliten. Das ist ein wesentlicher Grund, warum der ostdeutsche Transformationsprozess stabil verlief, anders als z.B. in Russland, wo 1991 das Militär einen Putschversuch unternahm. Die Situation in Deutschland unterscheidet sich auch deutlich von denen der westlichen Nachbarstaaten. Für die damalige westdeutsche Absolventenkohorte taten sich neue Chancen auf, da sich im Wiedervereinigungsprozess die Chance bot, die Stellen der ehemaligen DDR-Eliten einzunehmen. Eine solche günstige Gelegenheitsstruktur tat sich für die Angehörigen dieser Jahrgänge in anderen Ländern nicht auf. Im Vordergrund meiner Arbeit steht die Alterskohorte der 1965-1975 Geborenen. Innerhalb dieser Gruppe scheint ein Unterschied zu bestehen, welche Einflüsse die besondere Situation des Wiedervereinigungsprozesses auf sie hatte. Zur Interpretation wird diese Altersgruppe aufgeteilt. Als Arbeitshypothese wird das Datum des Schulabschlusses als Unterscheidungslinie angenommen. Wer seine Schulausbildung zum Zeitpunkt des Mauerfalls bereits abgeschlossen hat, dem tat sich eine besondere biographische Gestaltungschance auf: Die ältere Lagerung bilden diejenigen, die Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess vor allem als eine biographische Gestaltungschance nutzen konnten. Das Gebiet der (ehemaligen) DDR wollte nach 1989/90 erkundet werden, es haben sich Biographien herausgebildet, die durch diese West-Ost-Migration geprägt sind. Der nach 1990 zu beobachtende Elitenaustausch ist dagegen vor allem für die rund zehn Jahre Älteren – der „Zaungästegeneration“ – interessant, weil die frei gewordenen Stellen der DDR-Elite den westdeutschen Absolventenjahrgängen der Wendezeit besondere berufliche Chancen ermöglicht hatten. Diese besondere Handlungschance bestand nicht nur für die damalige Absolventenkohorte, sondern auch für jüngere. Bei der Besetzung von Posten im Umfeld der neu ernannten Leistungsträger wurden deren eigene Netzwerke – und damit vor allem der „westdeutsche Nachwuchs“ – mit neuen Chancen berücksichtigt (Tietz 2002: 60). Daher ist von Auswirkungen dieser besonderen Gelegenheitsstruktur auch auf diejenigen auszugehen, die 1990-94 im Grunde noch zu jung waren, um eine Leitungsfunktion einzunehmen. Der Elitenaustausch in Ostdeutschland kam im Grunde für die im Vordergrund dieser Arbeit stehenden Jahrgänge zu früh, sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Ausbildung. Es kann aber vermutet werden, dass sich im Zuge dieses Elitenaustausches auch für sie mittelbar neue Chancen aufgetan haben. Wer 1989-90 bereits seine Schulausbildung abgeschlossen hatte, konnte weitere biographische Stationen wie Zivildienst, Praktika und Studium in Ostdeutschland absolvieren. Die zweite Lagerung sind diejenigen,

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die dieses Datum von westdeutscher Seite erlebt haben, und es weder als berufliche noch als eine biographische Chance nutzen konnten, da sie zu diesem Zeitpunkt noch in der Schule gewesen sein dürften und damit in der Regel zu jung, um an dieser besonderen Gelegenheit partizipieren zu können. Es wird davon ausgegangen, dass diese Lagerung die bis Mitte der 1970er Jahre Geborenen umfasst. Die untersuchte Population nach dem Datum des Schulabschlusses zu systematisieren, erscheint auch für den ostdeutschen Teil dieser Erhebung sinnvoll zu sein: Diejenigen, die ihren Wehrdienst noch unter DDR Bedingungen absolvierten, erinnern die DDR stärker als Gängelung, während jüngere oft eine versöhnlichere Erinnerung zeigen.3 Die Frage nach einer Systematisierung erscheint für den ostdeutschen Teil der Population besonders dringlich, da in der ostdeutschen Selbstexplikationsliteratur oft die Frage nach einer ostdeutschen Sonderidentität angesprochen wird. Offen bleibt die Frage, wie viel man von der DDR miterlebt haben muss, um sich als „Bürger eines verschwundenen Landes“ verstehen zu können. Unterschiede in der Sozialisation von Ost und West Insgesamt wird bei der empirischen Erhebung eine Unterscheidung zwischen Ostund Westdeutschland vorgenommen, da davon ausgegangen wird, dass die maßgeblich prägenden Einflüsse in beiden Teilen des Landes anders verlaufen sind. Der Psychologe Thomas Davey kommt in seiner Untersuchung mit Kindern in Ost- und Westberlin Anfang der 80er Jahre zu dem hypothetischen Ergebnis, dass sich aus beiden deutschen Teil-Staaten möglicherweise in Zukunft eigenständige Nationalstaaten hätten bilden können. Diese Aussage bleibt hypothetisch, da die Zeit der Trennung zwischen beiden deutschen Staaten begrenzt geblieben ist. Eine Verbindung bildeten die verwandtschaftlichen Beziehungen, denen das Gefühl einer Gemeinschaft zwischen beiden Staaten aufrechterhalten zu können zugeschrieben wurde4:

3

In der Selbstexplikationsliteratur lässt sich dieser Unterschied deutlich erkennen, Jana Hensel beschreibt die DDR als den verlorenen, beschaulichen Ort der Kindheit (Hensel 2003: 24), während der Wehrdienst bei Jens Bisky als eine weitere Station auf dem Weg zur Distanzierung vom DDR-System beschrieben wird (Bisky 2004: 117ff.).Diese Unterscheidung wird auch von den von mir interviewten Personen angenommen. Den Jüngeren hat sich die Frage, ob sie sich mit der Diktatur einrichten wollen und können, nicht gestellt. (Vgl. dazu vor allem Fall 5 in dieser Arbeit).

4

Thomas Davey führte zwischen 1981 und 1982 eine psychologische Feldforschung mit 10-12-jährigen Kindern in West- und Ost-Berlin durch. Methodisch hat er eine Mischung aus teilnehmender Beobachtung und Interviews genutzt, sowie die Interpreta-

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„These children are indeed taken up with the task of becoming members of their respective nations; they are German and they are growing up in two nations that insists that they are different kind of Germans“ (Davey 1987: 128).

Davey beobachtet ein Aufwachsen in zwei verschiedenen Gesellschaften, mit der Folge, dass zwei „Arten von Deutschen“ sozialisiert wurden. Bemerkenswert ist, dass gerade die verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen ost- und westdeutschen Familien, die als ein wesentliches politisches Problem in der Zeit der Teilung galten5 – auch Davey sieht sie als einzige bleibende Verbindung zwischen den beiden Staaten – nach 1989 in den Hintergrund getreten sind. Innerfamiliäre Abneigungen, die vor 1989 unausgesprochen blieben, sind nun zum Tragen gekommen (vgl. Borneman 1991: 148). Die Staatsgrenze ist gefallen, aber die Trennung zwischen beiden Teilen des Landes bleibt bestehen. Trotz offener Grenze gaben viele West-Berliner an, nicht in den Osten der Stadt fahren zu wollen (Ide 2009: 43). Die Grenze blieb nicht als Staatsgrenze, aber Unterschiede zwischen beiden Landesteilen blieben bestehen, bedeutsam sind diese Unterschiede für die untersuchte Population vor allem, weil ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland in den wesentlichen Sozialisationsinstanzen zu bestehen scheint. Der Wiedervereinigungsprozess wird als ein „natürliches Experiment“ beschrieben, in dem zwei grundsätzlich unterschiedliche Gesellschaften zusammengebracht werden: Eine westlich geprägte Demokratie trifft auf eine „verstaatliche Gesellschaft“, die vielleicht mit Ausnahme der Kirchen keinen Raum für Formationen der „civil society“ ließ (Offe 1991: 78). Die wesentlichen Lebensbereiche waren durch den Staat geprägt, wenn es auch Nischen gegeben haben dürfte, was einen deutlichen Unterschied zu der Bundesrepublik darstellt. Die politische Landschaft der Bundesrepublik ist durch eine Vielzahl von nicht staatlichen Akteuren geprägt. Sozialstrukturell treffen die „verleugnete“ Klassengesellschaft der DDR und die „verwandelte“ Klassengesellschaft der Bundesrepublik zusammen (Vester 1994). Obwohl die DDR einer egalitären Rhetorik verpflichtet war, blieben die klassenmäßigen Unterschiede in den Lebenschancen bestehen. Die Klassengesellschaft in der Bundesrepublik erfuhr dagegen eine

tion von Zeichnungen, die die Kinder anfertigten (Davey 1987: 27). Diese Studie ist für meine Arbeit von besonderer Bedeutung, da die Kindheit der untersuchten Altersgruppen in Ost- und West-Berlin beschrieben wird. 5

Helmut Kohl sprach z.B. bei dem Staatsbesuch Honneckers in der Bundesrepublik explizit die Belastungen, die sich für Familien durch die Teilung ergaben, an. (Pirker et al. 1995: 131).

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Verwandlung: Die Klassenunterschiede der Bundesrepublik blieben erhalten, sie erfuhr eine Pluralisierung, obere Klassen, Mittel- und Unterklassen bleiben vor allem anhand von Unterschieden der Distinktion zu erkennen (Vester 1994: 31). Nach der Wiedervereinigung ist die in dieser Arbeit beschriebene Altersgruppe wiederum mit unterschiedlichen Herausforderungen konfrontiert. Der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer schreibt hierzu: „Jugendliche im Westteil können, bzw. müssen weiterhin mit der sich weiter mit hoher Geschwindigkeit individualisierenden Gesellschaft zurecht kommen, während Jugendliche im östlichen Teil auf den strukturellen Trümmern einer formierten Gesellschaft mit ihren sozialistischen und biographischen Nachwirkungen den Übergang der ‚gewollten Vereinnahmung‘ in die individualisierte Gesellschaft schaffen müssen“ (Heitmeyer 1991: 250).

Während die Sozialisation der westdeutschen Jugendlichen ihren gewohnten Gang ging, änderte sich im Osten des Landes einiges: Ostdeutsche Jugendliche mussten sich in die neue Situation eingewöhnen und gleichzeitig die Auswirkungen der DDR-Sozialisation bewältigen. Während das Leben im Westen in gewohnten Bahnen lief, waren diese Bahnen im Osten abgetrennt. Die DDR gab es nicht mehr, man musste sich mit einem komplett neuen System arrangieren. Da die beiden nach 1989/90 zusammenwachsenden Gesellschaften grundsätzlich verschieden erscheinen, kann vermutet werden, dass aufgrund dieser Unterschiede in beiden Landesteilen unterschiedliche Vorstellungen von einer gemeinsamen Generationengestalt zu erkennen sind. Shmuel N. Eisenstadt rückt die Frage, wie Gesellschaften ihr Leben anhand der Altersdifferenzierung organisieren, in das Zentrum seiner Analyse des Generationenproblems: Die Bedeutung, die Altersgruppen in der Gesellschaft zugemessen wird, hängt davon ab, inwieweit die Gruppen, die eine Kontinuität in der Gesellschaft gewährleisten sollen, über das Alter definiert werden. Und auch umgekehrt: Eine leistungsorientierte oder individualistische Gesellschaft gibt dem Alter eine geringere Relevanz (Eisenstadt 1966: 191). Dies erscheint für den Gegenstand dervorliegenden Arbeit vor allem deshalb bedeutsam, weil Unterschiede zwischen Altersgruppen in der Bundesrepublik möglicherweise eine andere Bedeutung haben als in der DDR. Für jemanden, der in der DDR aufgewachsen ist, dürfte die obligatorische Mitgliedschaft in den Massenorganisationen der verstaatlichten Jugendarbeit die Gemeinschaft zu den Gleichaltrigen deutlicher ins Bewusstsein gerückt haben und folglich dürfte ein Generationenbewusstsein ausgeprägter gewesen sein. Man hat in der DDR viel Zeit mit Gleichaltrigen verbracht. Es kann vermutet werden, dass daraus ein deutlicheres Generationenbewusstsein entspringt. Sich diesen Massenorganisationen zu entziehen, war zwar theoretisch möglich, aber mit deutli-

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chen Nachteilen verbunden, z.B. wurde beim Zugang zu weiterführenden Schulen und der Vergabe von Studienplätzen neben der Erfüllung von Leistungsanforderungen auch ein systemkonformes politisch-gesellschaftliches Engagement erwartet. Ein Abiturienten- oder Studierendenjahrgang wird neben der gemeinsamen Zeit in den Ausbildungsstätten viel Zeit gemeinsam in anderen Organisationen zusammen verbracht haben, anders als der gleiche Jahrgang in Westdeutschland. Diese gemeinsame Organisation ist nach dem Systemumbruch weggefallen, viele gemeinsame Verpflichtungen sind für Oberstufenschüler der Wendezeit weggefallen, was vermuten lässt, dass die Vorstellung, zu einer gemeinsamen Generation zu gehören, ab diesem Zeitpunkt zurückgetreten sein dürfte. Da es sich um zwei grundsätzlich verschiedene Gesellschaften zu handeln scheint, wirft dies die Frage auf, inwieweit die Sozialisation in Ost- und Westdeutschland unterschiedlich verlaufen ist. Diese Unterschiede in der Sozialisation sollen nun zum besseren analytischen Verständnis im Folgenden anhand von Urie Bronfenbrenners Konzept der Ökologie dermenschlichen Sozialisation beschrieben werden. 3.1.2 Soziale Ökologie menschlicher Entwicklung nach Urie Bronfenbrenner Der vorliegenden Arbeit nimmt sich einer Mikro-Makro Problematik an: Veränderungen auf der Makro-Ebene hinterlassen Eindrücke, aus denen politische Deutungsansprüche hervortreten können. Mit Klaus Hurrelmann kann von einer produktiven Verarbeitung der Realität gesprochen werden (Hurrelmann 2006: 28). Erfahrungen werden reflektiert, man kommt zu dem Schluss, dass man nicht der Einzige ist, dem es so ergangen ist. Anschluss wird bei den Gleichaltrigen gesucht, es bietet sich das Deutungsmuster der Generation an. Es ist anzunehmen, dass im Ost-West Vergleich nicht nur unterschiedliche Erfahrungen geteilt werden, sondern, dass auch unterschiedliche Vorstellungen einer Gemeinschaft im Ost-West Vergleich vorliegen. Um die abweichende Sozialisation zwischen beiden Landesteilen für die im Mittelpunkt dieser Arbeit stehende Untersuchungsgruppe zu systematisieren, wird das Konzept der Ökologie menschlicher Sozialisation von Urie Bonfenbrenner vorgeschlagen. Dieses Konzept der ökologischen Entwicklung geht von einer komplexen Sozialisation aus, die über das Eltern-Kind bzw. Lehrer-Schüler Verhältnis hinausgeht. Das Konzept der Ökologie menschlicher Sozialisation basiert auf der Erkenntnis, dass Veränderungen einer Sozialisationsinstanz oft kaum nennenswerte Resultate zeigen, wenn andere Sozialisationsinstanzen unverändert bleiben. Es werden drei wesentliche Schichten

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eingeführt, die ein besseres und umfassendes Verständnis von Sozialisation ermöglichen sollen (Bronfenbrenner 1976: 203ff.). In der Bundesrepublik werden vor allem die Bereiche des Bildungswesens (Schul-, Ausbildungs- und Studienzeiten), Wehr- und Ersatzdienstzeiten anhand des Alters geregelt. Es ist ferner hypothetisch anzunehmen, dass in Zeiten der vermehrten Wahrnehmung einer Krise des Wohlfahrtsstaates die Altersgrenzen, an denen die soziale Sicherung organisiert wird, in den Vordergrund rücken. Inwieweit dies der Fall ist, ist eine Frage, die die empirische Erhebung klären muss. Weiter gibt es zahlreiche juristische Regelungen, die das Alter betreffen, vor allem im Bereich des Kinder und Jugendschutzes, der institutionalisierten Jugendhilfe und offizieller Jugendangebote – z.B. der kirchlichen Jugendarbeit oder der etablierten Parteien. Diese haben einerseits eine betonte Schutzfunktion, es kann unterstellt werden, dass ein Zusammentreffen mit einer Institution der Jugendhilfe für die Mehrzahl eher die Ausnahme darstellen dürfte. Ein wesentlicher Unterschied ist zum Aufwachsen in der DDR ist andererseits, dass Angebote außerhalb der Schule nicht obligatorisch sind. Der Zugang zu vielen Jugendgruppen ist zwar auch über das Alter definiert, dieser Zugang ist aber nicht so strikt gegliedert wie in der DDR. Die Jugendorganisationen der großen Parteien in der Bundesrepublik organisieren Mitgliedschaften zwar auch über das Alter, aus einem Angebot einer politischen Organisation für die 14-35-Jährigen entsteht jedoch weniger zwingend das Bewusstsein, ein gemeinsames Generationenschicksal zu teilen. Zumal politische Jugendorganisationen in der Bundesrepublik nicht das Leben einer Jugendkohorte bestimmen, sondern das Leben innerhalb der Jugendgruppe einer etablierten Partei vielmehr von Nachwuchssorgen bestimmt sein dürfte. Schule und Familie Die unmittelbare Umgebung wie Haus, Familie oder Schule bildet eine erste Schicht in der Ökologie menschlicher Entwicklung. Hier sind besonders deutliche Unterschiede zwischen der Sozialisation in der DDR und der Bundesrepublik bzw. Ost- und Westdeutschland zu erkennen. Auf der familiären Ebene zeigt sich dies grundsätzlich im Eltern-Kind Verhältnis. In Westdeutschland nehmen die Eltern eine freundschaftliche Vorbildfunktion ein, es besteht ein gutes Verhältnis zu den eigenen Eltern. Die Generation der Eltern tritt zwar oft als Gegenpol ins Bild – von ihnen wird gesagt, sie hätten bessere Chancen gehabt, seien sozial besser abgesichert oder hätten möglicherweise unrealistische Erwartungen an die Generation ihrer Kinder. Trotz dieser Konfliktrhetorik bleibt das Verhältnis zu den Eltern gut und unbelastet. Die Eltern ziehen sich als klassische Autorität zurück und nehmen vielmehr eine freundschaftlich beratende Funktion ein: Der Soziologe Leopold Rosenmayr bringt dies auf die Formel vom Ende der Patroni-

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sierung bei Aufrechterhaltung der Alimentierung (Rosenmayr 1986: 69). Dieses verhältnismäßig unbelastete Verhältnis zeigt sich auch anhand des Blickes Jüngerer auf ihre Elterngeneration: Die Artikel junger Autoren zum Jahrestag von 1968 fallen versöhnlich aus: Man zeigt sich dankbar für die durch die autoritäre Revolte erkämpften Freiheiten, die gewünschte Lebensführung, der eigene Lebensstil ist aber ein anderer (vgl. Wiedemann 2008). Nina Pauer spricht in diesem Zusammenhang von einer gewissen Unmöglichkeit gegen die Eltern zu rebellieren, eine Alternative sei nicht absehbar, den Raum der individuellen Freiheiten auszudehnen erscheint nicht notwendig, aber man wisse diese Freiheiten zu schätzen: Konservative Kritikangebote an den 68ern erfahren eine deutliche Absage (Pauer 2008). Schärfere Töne gibt es lediglich von zeitgenössischen Anhängern eines Jungkonservatismus (vgl. Bubik 1995). Diese Position ist jedoch durchweg randständig, es wird kein Generationenkonflikt artikuliert, hierzu wird nicht einmal der Versuch unternommen. Lediglich die von mir im ersten Kapitel beschriebene Zahlenlogik 68/89 wird genutzt. Es liegt als ein Versuch der Vereinnahmung vor, der als gescheitert angesehen werden kann. Es ist vielmehr ein politischer Konflikt als ein Generationenkonflikt. Obwohl das Verhältnis zu der eigenen Elterngeneration prinzipiell wohlwollend erscheint, kann es zu Verstimmungen kommen. Die Erfahrungen der westdeutschen Eltern erscheinen überholt, wenn es z.B. um die Herausforderungen eines prekären Arbeitsmarktes geht. Diese Problematik scheint der Elterngeneration weitgehend fremd zu sein. Eine aus dieser Lebenssituation resultierende Kritik der Jüngeren an diesen Lebens- und Arbeitsbedingungen kann von den Eltern als politischer Aufbruch missverstanden werden6. Wird das Aufwachsen in Westdeutschland als relativ beschaulich beschrieben, kann ein Berufseinstieg mit prekären Beschäftigungsformen eine ernste Verunsicherung bedeuten. Ein qualifizierter Abschluss wird immer notwendiger, aber immer weniger hinreichend für einen reibungslosen Wechsel vom Ausbildungssystem in das Berufsleben und als Entree für eine erfüllte Karriere. Auch wenn sich der Arbeitsmarkt für Berufseinsteiger nach einer ersten Krise Anfang der 80er Jahre entspannt hat, scheint der Schock tief zu sitzen (Paris 1990: 15). Dieser Schock ist nicht nur der der frühen 1980er Jahre, sondern auch das regelmäßige Wiederkehren von Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen lässt diese Bedrohung omnipräsent erscheinen. Diese Problematik weist auf eine

6

Nikola Richter beschreibt einen Dialog zwischen einer semi-fiktionalen Protagonistin und ihrer Mutter in einem Praktikantenroman. Die Mutter missversteht die von ihrer Tochter geäußerte Kritik an ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen als grundsätzlichen politischen Aufbruch, als eine fundamentale Kritik an der Gegenwartsgesellschaft (Richter 2006: 136).

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Veränderung im Eltern-Kind-Verhältnis hin, die besonders für den westlichen Teil der Population bedeutsam erscheint: Die Lebenserfahrung der Eltern kann möglicherweise keine Vorbildrolle mehr begründen. Es wird implizit vorausgesetzt, dass Erfahrungen zwischen den Generationen weiter gegeben werden, die Kontinuität dieser Weitergabe von Wissen wird hinterfragt. Die „Erfahrungen“ der Ökonomie wurden durch den prekären Arbeitsmarkt Lügen gestraft – so könnte man diesen Bruch in Anlehnung an Walter Benjamin beschreiben (vgl. Benjamin 1961: 313f.). Dieses Umkippen von Erfahrungswerten ist ein in bekanntes Phänomen. Die Kinder sehen sich mit Problemen konfrontiert, die der Generation der eigenen Eltern fremd geblieben sind. Wie bedeutsam dieser Wissensvorsprung der jüngeren Generation ist, hängt von den gesellschaftlichen Beschleunigungsdynamiken ab, auch die Einführungen Neuer Technologien kann diese Wahrnehmung bestärken. Während die jüngere Generation zu den Pionieren einer neuen Technologie gehören kann, müssen sich Ältere diese oft erst mühsam aneignen. Die Auswirkungen dieser Beschleunigungstendenzen werden weiter unten diskutiert. Neben den Veränderungen im Eltern-Kind-Verhältnis ist auch das Verhältnis von Kindern und Heranwachsenden mit erwachsenen Bezugspersonen (Lehrern, Jugendpflegern) bedeutsam. Auch hier sind Veränderungen zu beobachten: Der Soziologe Rainer Paris spricht – insbesondere bei Vertretern der Protestgeneration – von „fragmentierten“ Erwachsenen. Vermutlich ist diese Diagnose auch auf Jüngere übertragbar, die jetzt ebenfalls gealtert sind und in maßgebliche Positionen aufgerückt sind. Der fragmentierte Erwachsene tritt als Vertreter einer Erwachsenenrolle auf, dementiert diese aber gleichzeitig (Paris 1990: 13). Es ist ein eigentümlicher Gegensatz zwischen der Entfremdung der Erwachsenen der Lebenswelt Jüngerer gegenüber und dem gleichzeitig postulierten Anspruch, diesen nach wie vor verbunden zu sein. Aus diesem Gegensatz kann möglicherweise ein Konflikt entstehen. Es ist zu vermuten, dass dieser Konflikt vor allem durch Rivalität um eine hegemoniale Deutungsrolle in politischen Fragen geprägt ist. Das Bild sieht in Ostdeutschland anders aus: Die Erwachsenenrolle hat hier zwar auch als klassische Autorität abgedankt, jedoch unfreiwillig: Die mögliche Verstrickung in das SED-Regime hat zu einem Verlust der Vorbildfunktion vieler Erwachsener geführt. Fragen nach der Kollaboration mit dem SED-Regime sind zwar oft unausgesprochen geblieben, die Gefahr, dass eine Verstrickung aufgedeckt wird, bleibt bestehen. Diese Belastung im Eltern-Kind-Verhältnis ist nicht nur eine ideelle, sondern geht auch mit der beruflichen und damit ökonomischen Deklassierung der eigenen Eltern einher. Auch Probleme wie Arbeitslosigkeit und Armut nach der Wiedervereinigung bleiben zumindest im öffentlichen Raum unausgesprochen, man würde möglicherweise die Deklassierung der eigenen Eltern ansprechen (Ide 2009: 223).

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Die Elterngeneration in Ostdeutschland kann keine Vorbildfunktion für sich in Anspruch nehmen. Anders als die westdeutsche Protestgeneration, die als das übermächtige Vorbild im Raum steht, mit der sich jede politische Bewegung messen lassen muss, gibt es in Ostdeutschland außer in ehemals oppositionellen Kreisen kaum politische Vorbilder. Die Verstrickung der eigenen Eltern wurde bislang noch nicht offen thematisiert, aber es sind erste Stimmen zu beobachten, die diese Fragen stellen möchten (vgl. Fall 6). Für Unsicherheit sorgt eine konstante Bedrohung durch das mögliche Offenbarwerden von Vorbelastungen aus dem DDR-Regime. Die Offenbarung von Kontakten zur DDR-Staatssicherheit kann noch Jahrzehnte nach dem Fall der Mauer politisch brisant sein und bereitet besonders im persönlichen Umfeld Sorge, denn auch die engsten Vertrauten und Familienangehörigen können Zuträger gewesen sein. So hört man gelegentlich von Ostdeutschen, die auf eine Akteneinsicht verzichten, weil zu befürchten ist, die Lektüre würde unangenehme Enthüllungen über das engste Umfeld zutage fördern. Diese Problematik ist speziell eine ostdeutsche. Theoretisch ist diese Problematik auch auf Westdeutschland übertragbar, in der Praxis aber weniger bedrohlich, da viele „Westakten“ der Stasi vernichtet wurden und es im Westen weniger Personen gibt, die möglicherweise verstrickt sind. Insgesamt scheint das Verhältnis zu den eigenen Eltern vielmehr durch Mitleid, als von Kritik und Misstrauen geprägt: Mit dem Systemumbruch sind die Kinder Zeugen der Deklassierung der eigenen Eltern geworden, die problematische Situation der eigenen Eltern belastet das Aufwachsen vor allem in materieller Hinsicht. Es kann kaum auf eine Unterstützung durch die eigenen Eltern gehofft werden, während diese in Westdeutschland bis z.T. weit in das dritte Lebensjahrzehnt hinein üblich ist. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass Verallgemeinerungen über die materielle Situation von ost- und westdeutschen Familien problematisch erscheinen: Von einem einheitlichen Akteur der Elterngeneration kann nicht die Rede sein. Der Wiedervereinigungsprozess wird nicht nur ökonomische Bedrängnis, sondern vermutlich für viele auch eine Verbesserung der Situation bedeutet haben. Ebenso erscheint es problematisch, die westdeutsche Familie pauschal als ökonomische Erfolgsgeschichte zu beschreiben und auch die Möglichkeit der langfristigen Alimentierung der eigenen Kinder ist nicht durchweg zu beobachten. Ich folge in den Ausführungen dieses Abschnittes vor allem den Aussagen der Selbstexplikationsliteratur und meiner Interviewpartner. Wie die Bilanz tatsächlich ausgefallen ist, muss durch quantitative Methoden anhand der Einkommensverteilung geklärt werden. Auch eine mögliche Kaufkraftveränderung – von der DDR-Mark zur D-Mark – ist zu berücksichtigen. Diese Fragen können an dieser Stelle nicht behandelt werden. Wie man wirklich in der Bundesrepublik angekommen ist, wird tatsächlich von einer Vielzahl von Faktoren

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bestimmt, sodass sich pauschale Aussagen über den wirtschaftlichen Erfolg oder Misserfolg in dieser Situation nicht möglich sind. Es kann an dieser Stelle nicht nachvollzogen werden, wie es wirklich war, sondern wie dieser Umbruch Beschrieben wird. Wesentlich erscheint, dass dieser Umbruch vor allem als eine Verunsicherung beschrieben wird. Im Vergleich dazu wird das Leben westdeutscher Familien als ökonomisch entspannter beschrieben. Die westdeutsche Selbstexplikationsliteratur schildert einen gewissen Wohlstand: Das prominenteste westdeutsche Generationenbuch dieser Jahrgänge bezieht sich auf den Golf II, das gemeinsam genutzte Fahrschulauto, ein gewisser Wohlstand innerhalb dieser westedeutschen Altersgruppe scheint vorausgesetzt zu werden, der auch aufgrund snobistischer Züge negativ auffallen kann (vgl. Bessing et al. 2005; Kracht 2001). Die Vertreter dieser Altersgruppe, die in Ostdeutschland aufgewachsen sind, können dagegen die Erzählungen früher Konsum-Erfahrungen oft nicht nachvollziehen. Der selbstverständliche Umgang mit einem gewissen Wohlstand bleibt fremd. Um die oben zitierte Formel Rosenmeyrs aufzugreifen, kann im Fall Ostdeutschlands nicht von einem Ende der Patronisierung bei Aufrechterhaltung der Alimentierung gesprochen werden, vielmehr kann von einer doppelten Freisetzung der Elternrolle gesprochen werden: Man ist weder in der Lage eine Alimentierung aufrecht zu erhalten, noch kann von der Rolle des freundschaftlichen Beraters gesprochen werden. Anders als im Westen verlief diese Veränderung des Eltern-Kind-Verhältnisses nicht freiwillig: Während im Westen vor allem eine schleichende Veränderung der Elternrolle zu beobachten ist, ist diese infolge des Systemumbruchs gewaltsam zerbrochen. Das Aufwachsen in der DDR der 80er Jahre war vor allem durch eine wachsende Spannung von lebensweltlicher Modernisierung der Alltagskultur bei gleichzeitiger institutioneller Verregelung geprägt. Während im Westteil des Landes die Chancen zu einer höheren Bildung zunahmen, wurden in der DDR die Zulassung zum Abitur und die Studienplatzvergabe deutlich restriktiver gehandhabt. Auch in der DDR war – wie in allen Industriegesellschaften – eine Zunahme des formellen Bildungskapitals bei jüngeren Alterskohorten zu beobachten. Die Verteilung der Abschlüsse entsprach jedoch nicht der egalitären Rhetorik der DDR-Führungsetage. Es fällt besonders die rigide Zulassungspraxis zum Abitur und zu Studienplätzen auf. Nur 30% aller Schulabgänger konnten ihre Berufswünsche tatsächlich verwirklichen, Kinder aus privilegierten Elternhäusern hatten in der DDR deutlich bessere Chancen, zum Abitur zugelassen zu werden. Abiturienten hatten mit einem Anteil von 75%, die den Wunschberuf aufnehmen konnten, vergleichsweise bessere Chancen, die eigenen Lebenspläne umzusetzen (Kühnel 1990a: 109f.).

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Den Tendenzen einer stärkeren Reglementierung in der Ausbildung und Arbeitswelt standen in Gegensatz dazu Tendenzen der Heterogenisierung in der Alltagswelt gegenüber. Im Freizeitverhalten war wie in anderen Staaten ein stärkerer Abbau von familienzentrierten Angeboten zu beobachten, an deren Stelle selbst organisierte Handlungs- und Erfahrungsbezüge lagen. Ein Prozess, der Ende der 80er im Vergleich zu den 60er Jahren ein bis zwei Jahre früher einsetzte (Kühnel 1990a: 111). Hier sind leichte Modernisierungstendenzen in der Lebenswelt der DDR-Jugendlichen zu erkennen, die aber nicht mit der Wirklichkeit des institutionellen Systems einhergegangen sind. Auswirkungen der Institutionen der DDR sind bis heute zu beobachten: Während die Hochschullandschaft nach 1990 durch zahlreiche Neugründungen und neu berufenes westdeutsches Personal geprägt ist, blieb die DDR-Lehrerschaft von diesem Austausch weitgehend verschont, obwohl z.B. der Geschichtsunterricht in der DDR ideologisch deutlich „grobschlächtiger“ gestaltet wurde als der Lehrbetrieb an den Universitäten (Sabrow 2003: 129). In der Bundesrepublik ist diese Ungleichheit in der Verteilung von Bildungstiteln ebenfalls zu beobachten. Der Zugang zu weiterführenden Schulen und Universitäten ist und war – anders als in der DDR grundsätzlich frei – die Chancen dazu sind jedoch in der BRD unterschiedlich verteilt. Das entscheidende Kriterium für Erfolg im Bildungswesen ist vor allem ein bürgerlicher Habitus. An dieser Stelle sei wiederum an das bereits genannte Zusammenwachsen von verleugneter und verwandelter Klassengesellschaft verwiesen. Wesentlich erscheint, dass Heranwachsende in Westdeutschland eine größere Chance hatten, die Experimentierphase in ihrem Leben zu verlängern bei einer gewissen ökonomischen Sorglosigkeit. Diese Sorglosigkeit war in Ostdeutschland in dieser Form nicht gegeben (Bürgel 2004: 16). An dieser Stelle sei auf die vom Erziehungswissenschaftler Jürgen Zinnecker vorgeschlagene Konzeption von Jugend als Übergangsphase und Jugend als Bildungsmoratorium hingewiesen. Jugend als Übergang bezeichnet eine kurze Zeitspanne vom Ende der Kindheit zum Beginn der Erwerbstätigkeit. Jugend als Bildungsmoratorium bezeichnet die Phase des Experimentierens und Ausprobierens. Jugend als Übergangsphase ist vor allem in Osteuropa zu erkennen, während Jugend als Bildungsmoratorium vor allem in den westlichen Staaten zu erkennen ist. Unter Jugend als Bildungsmoratorium wird die Freistellung von den Verpflichtungen des Erwachsenenlebens zur Akkumulation von Bildungs- und kulturellem Kapital in Bildungsinstitutionen gesehen, aber auch außerschulische Karrieren erscheinen bedeutsam, etwa im Sport und in der Musik (Zinnecker 1991: 12). Genau genommen bezeichnet das Bildungsmoratorium einen dreifachen Übergang – den Übergang in das Familiensystem, den Übergang in das Familiensystem (Grün-

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dung der eigenen Familie) und in die Institutionen der bürgerlichen Gesellschaft, Politik, Öffentlichkeit, Konsum usw. (Zinnecker 1991: 16). Für Osteuropa wird von einem eingeschränkten Moratorium gesprochen, das allein auf den Erwerb des nötigen Bildungskapitals beschränkt ist, die Statuspassagen Heirat und Elternschaft finden relativ früh statt. Der Entbindung aus der eigenen Familie folgt keine Phase des Ausprobierens, sondern die Gründung der eigenen Familie. Ob diese Unterscheidung für die in dieser Arbeit untersuchte Population in vollem Maße zutrifft, sei dahingestellt. Die Aussage, dass man schon früh eigene Verantwortung übernehmen musste – anders als das ausgedehnte Moratorium der gleichaltrigen Westdeutschen – ist häufig zu hören. Ich fasse zusammen: Die Sozialisation der in diesem Abschnitt beschriebenen Altersgruppe unterschiedet sich in Hinsicht auf die familiäre Situation im Ost-West-Vergleich: Im Westen ist dieses Verhältnis durch einen Rückzug der Eltern von der klassischen Autorität hin zu einer freundschaftlichen Beraterrolle bei der gleichzeitigen Aufrechterhaltung der finanziellen Unterstützung geprägt. Mögliche Konflikte scheinen allenfalls auf eine Rivalität um ein hegemoniales Deutungsmuster zurückzugehen. Exponenten der Protestgeneration fallen durch Versuche auf, den Jüngeren zu erklären, welche politische Kritik angemessen ist. In Ostdeutschland ist dieses Verhältnis wesentlich belasteter: Die Elternrolle hat auch dort als eine klassische Autorität abgedankt, aber eher unfreiwillig: Das Ausmaß der Alimentierung ist durch die besonders starke ökonomische Bedrängnis im Zuge von Turbulenzen zur Zeit des Wiedervereinigungsprozesses eingeschränkt. Eine politische Vorbildfunktion können sie nicht für sich in Anspruch nehmen – anders als die westdeutsche Protestgeneration. Die ostdeutsche Elterngeneration ist durch eine mögliche Verstrickung in die SED-Diktatur politisch teilweise diskreditiert. Das Verhältnis zu den eigenen Eltern scheint vielmehr durch Mitleid denn von Kritik oder Rivalität geprägt. Die wesentlichen Probleme in diesem Verhältnis bleiben möglicherweise unausgesprochen. Eine öffentliche Kritik an der eigenen Elterngeneration gibt es nicht. In der Art, wie man sich die Gemeinschaft mit seinen Gleichaltrigen vorstellt, scheint dieser Unterschied bedeutsam: Während in Westdeutschland die Auseinandersetzung mit Vertretern der Protestgeneration öffentlich ausgetragen wird – wenn auch nur rhetorisch – bleiben diese Probleme in Ostdeutschland unausgesprochen und damit individuell. Freundschaften und Netzwerke Neben dem direkten Umfeld von Schule und Familie kommt hierzu eine zweite Schicht, die aus Freundeskreisen und Netzwerken besteht. Diese können sich überschneiden, es ist sogar von entscheidender Bedeutung, inwieweit sich diese

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überschneiden. Auch hier zeigt sich eine unterschiedliche Sozialisation, die über die Jahre 1989 /90 hinausgeht. Es wird nach 1989 immer wieder die Segregation von Freundeskreisen betont, z.B. dass man im Studium unter sich bleibt. Das Interesse an politischen Organisationen sei bei der erhobenen Population nicht groß, könnte man annehmen: Die „post-89er“ Generation wird als eine Generation der politischen Desillusionierung oder Generation eines Ich-bezogenen Politikbegriffs gekennzeichnet (Scherer 1996: 84). Diese Einschätzung lässt sich aufgrund der Datensammlung dieser Arbeit nicht bestätigen. Der Großteil meiner Interviewpartner war Mitglied einer im Bundestag vertretenen Partei. Dass bei Schulexkursionen in einer SPD-Bildungseinrichtung in den 90ern – und vermutlich heute auch nicht – weniger hitzig diskutiert wird, als es von den 70er Jahren berichtet wird, dürfte unbestritten sein.7 Beide Diagnosen stellen keinen Widerspruch zueinander dar, da sich in dieser Generationenrhetorik vor allem die Vertreter eines politisch interessierten akademischen Milieus zu Wort melden. Als wichtige Netzwerke ist bei der Frage nach den 89ern auf Think-Tanks wie die „Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen“ oder „Berlin-Polis“ zu verweisen, denen eine Vermittlerfunktion zwischen den etablierten Parteien zukommt. Diese Gruppen sind bei der Vermittlung der Vorstellung eines gemeinsamen Generationenschicksals in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Einerseits wird explizit das Generationenthema vermittelt, es wird das Thema behandelt, dass es der eigenen Generation schlechter ergehen würde als vorhergegangenen und Maßnahmen der aktuellen Politik zukünftige Generationen benachteiligen würden. Zu nennen ist eine zunehmende Staatsverschuldung und eine Vernachlässigung des Gedankens der Nachhaltigkeit in der Ressourcenwirtschaft. Es besteht zwar kein Kritikmonopol der Jüngeren an dieser Thematik – ein bekannter Vordenker in der Frage nach Nachhaltigkeit ist z.B. Franz-Josef Radermacher. Harald Welzer und Claus Leggewie, die Autoren einer engagierten Studie über die Herausforderungen der Finanzkrise und der Folgen des Klimawandels, sind ebenfalls zu alt, um als 89er gelten zu können (vgl. Leggewie; Welzer 2009). Die Debatte um Nachhaltigkeit wird seit den frühen 1970er Jahren geführt. Politisch Interessierte der jungen Generation sind vor allem dadurch für diese Themen prädestiniert, da die Lösung der Probleme der Gegenwartsgesellschaft für die Zukunft aussteht. Die Versuche, eine politische Generation zu organisieren, sind für die Generation X in den USA durch die Gruppe „lead or leave“ bekannt geworden, ein „Graswurzel-Netzwerk“ an über 200 Universitäten, dass das politische Ziel hat, in generationeller Hinsicht ungerechte Politik zu kritisieren und den Gedan-

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Dies ist Klaus-Jürgen Scherers Eindruck als Leiter einer solchen Institution (Scherer 1996: 78ff).

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ken der Nachhaltigkeit zu stärken (Lead or leave 1994: 77). Daran anknüpfend vermitteln diese Gruppen vor allem deshalb das Gefühl einer Generation anzugehören, da sie sich vor allem aus Personen einer Altersgruppe rekrutieren – z. B. wird ein Großteil der Organisationsarbeit von Stipendiaten der parteinahen Stiftungen übernommen. Diese Organisationen und Think Tanks rekrutieren sich aus den jeweiligen Studierendenkohorten der bereits angesprochenen neuen Kulturvermittler. Diese Ausführungen gelten wiederum für Westdeutschland. Die Ostdeutschen erscheinen in dieser Hinsicht individualistischer, da sie oft eine Beobachterposition dem politischen System der Bundesrepublik gegenüber einnehmen (Bisky 2005: 185). Neben der Fremdheit dem politischen System gegenüber ist eine gewisse Skepsis politischen Institutionen und Identifikationsangeboten gegenüber zu beobachten (Bisky 2004: 219). Diese Skepsis kann zu einer allgemeinen Ablehnung von Identifikationsangeboten in Abgrenzung zu der stark an kollektiven Werten orientierten DDR-Sozialisation gesehen werden (vgl. hierzu Fall 5). Das Aufwachsen vor 1989 ist in besonderem Maße durch die Verschiedenheit zwischen beiden Gesellschaften geprägt. Es steht die staatsnahe Sozialisation der DDR und die individualistischere Sozialisation in der Bundesrepublik nebeneinander. Die DDR fällt durch eine verstaatliche und bürokratisch reglementierte Jugendarbeit auf: Jugendgruppen organisieren sich zwar allgemein nach dem Kriterium des Alters, aber in den sozialistischen Staaten ist diese Institutionalisierung eng an das System der Schule angelehnt. Mitgliedschaften waren obligatorisch, wer sich den Massenorganisationen – vor allem der FDJ – entzog, musste zwar nicht mit offener Repression rechnen, aber mit deutlichen Problemen bei der Zulassung zum Abitur und bei der Vergabe von Studienplätzen. Wer die Zeit des Mauerfalls in der Oberstufe einer DDR-Schule verbrachte, wird bis zu diesem Zeitpunkt viel Zeit mit den Gleichaltrigen verbracht haben. Der Wegfall dieser Jugendbildungsinstitutionen wird bei den Angehörigen dieser Altersgruppe einen wesentlichen Individualisierungsschub bedeutet haben. Shmuel Eisenstadt beschreibt eine stark reglementierte Organisation am Beispiel der Komsomolzen – eine mit der FDJ vergleichbare Organisation in der Sowjetunion. Die Besonderheiten dieser Organisationsform sind (1) eine einheitliche landesweite Organisation (2) eine Hierarchie der Organisation und des kollektiven Übergangs von einer Stufe zur anderen (3) die Identität der durch die Gruppe vermittelten Werte durch die Gruppenwerte und schließlich eine besondere Betonung der gemeinschaftlichen Werte der Gesellschaft (Eisenstadt 1966: 111). Parteinahe Jugendgruppen wie die Komsomolzen sind von der Schule formell getrennt, auch wenn sie eng zusammenarbeiten. Eine komplette Reglementierung dieser Lebensphase erscheint nicht ohne Weiteres möglich, eine Ausnahme bilden die klassischen

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englischen public schools, die Schule und außerschulische Betreuungsangebote vereinbaren. Bis zum Zusammenbruch der DDR war das Aufwachsen durch ein staatsnahes verregeltes System geregelt, man verbrachte viel Zeit in der Gesellschaft seiner Alterskollegen. Daraus wuchs das Bewusstsein, mit seiner Altersgruppe in einer Art Schicksalsgemeinschaft zu leben. Nach dem Ende dieser Institutionen traten an ihre Stelle viele alternative Angebote. Man verlor sich aus den Augen und ging neben der gemeinsam verbrachten Zeit in der Schule weniger Zeit miteinander, bevor nach dem Ende der Schulzeit die Wege weiter auseinandergingen. Informellen Netzwerken innerhalb der Schule wird eine besondere Bedeutung zugeschrieben, denn sie haben die Gängellungen der Schule erträglich gemacht. Neben den obligatorischen Vereinen und Netzwerken bildeten sich gegen Ende der DDR eine Vielzahl von Subkulturen aus, es wird vor allem Rockmusik genannt, die Nischen und Netzwerke jenseits der offiziellen Parteijugendarbeit der DDR schufen, und auch Angebote der kirchlichen Jugendarbeit (Kühnel 1990a: 112). Eine negative Folge des Umbruchs 1989/90 war für viele in Ostdeutschland das Zusammen- und Wegbrechen oder Schrumpfen von Freundeskreisen. Es zog viele in den Westen, um dort ihr Glück zu suchen. In der Selbstexplikationsliteratur wird von engen Freunden berichtet, die in den Westen gezogen sind, und schon nach kurzer Zeit fremd gewirkt haben. Sie sprechen ohne Dialekt, haben sich dem westlichen Erscheinungsbild angepasst und scheinen kein Verständnis für die Probleme im Osten zu haben (vgl. Lange 2007: 185; Hensel 2003: 118). Zwischen den institutionell geprägten offiziellen Sozialisationsinstanzen und den alternativen Freizeitangeboten musste eine Art Doppelidentität ausgebildet werden. Besonders bei leistungsstarken Schülern, die eine Funktion in politischen Organisation übernommen haben, kam dieser Widerspruch am stärksten zum Tragen (Kühnel 1990b: 36). Sie haben sich einerseits mit der offiziellen Linie der SED-Diktatur arrangiert, daneben gab es auch für sie eine Existenz, die von alternativen Jugend- und Subkulturen bestimmt war. Diese Erfahrung war für diejenigen, die keine weiterführende Schule in der DDR besuchten, weniger ausgeprägt, denn die Mitgliedschaft in der parteinahen Jugendorganisation wurde zwar auch nach dem Ende der Schulzeit erwartet, aber nicht in dem Maße durchgesetzt. Anders als im westdeutschen Teil der Untersuchungsgruppe, in denen politische Jugendorganisationen wie die Jusos, aber auch parteilose Gruppen und Initiativen zwar eine wichtige Anlaufstelle für politisch interessierte Jugendliche und Heranwachsende boten, kam es nicht zu der geschilderten Doppelidentität, da kein politisches Engagement als „obligatorisch“ angenommen wurde, sondern politisches Engagement eher im Einklang mit den übrigen Netzwerken und Freundschaften stattfand. International ist ein wachsendes Desinteresse am Engagement in politischen Gruppen zu erkennen, was

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aber nicht als Politikferne zu verstehen ist, für NGOs wie Amnesty International und Greenpeace wird in steigendem Maße gespendet, sondern von einem Rückgang aktiven praktischen politischen Engagements (Putnam 1995: 70f.). Robert Putnam beobachtet für die Generation X – als „Fernsehsozialisierte“ Generation – ein abnehmendes Interesse an verbindlichem Engagement. Eine Diagnose, die für das demokratische Selbstverständnis in den USA bedrohlicher erscheint, da in den USA eine größere Tradition von bürgerschaftlichen Engagement besteht (Putnam 1995: 65). Die Diagnose eines abnehmenden zivilgesellschaftlichen Engagements betrifft nicht nur die Politik, z.B. durch sinkende Wahlbeteiligung, sondern auch Engagement im weitesten Sinne, z.B. bei Elternabenden und eine stärkere Betonung von Selbstbestimmung in der Religion (Putnam 1995: 68). In der empirischen Untersuchung wurde, Putnams Beobachtung entsprechend, von meinen westdeutschen Interviewpartnern beklagt, dass man auf weniger Infrastruktur zurückgreifen könnte, nicht nur politische Gruppen im engeren Sinne, sondern z.B. auch kirchliche Jugendgruppen. In dieser Frage wichen die Aussagen der Ostdeutschen von den Westdeutschen deutlich ab, da im Osten ein politisches Engagement weniger ausgeprägt ist als im westlichen Teil des Landes. Eine Gemeinsamkeit der Sozialisation in Ost- wie auch Westdeutschland liegt in der steigenden Bedeutung der Kulturvermittlung durch elektronische Medien. Wird die gemeinsame Prägung dieser Jugendkohorte durch die westliche Popkultur beschrieben, dass sich viele andere Sozialisationsinstanzen bis zum heutigen Tag wesentlich unterscheiden dürften. Der Einfluss westlicher Kultur wird die innere Distanz zu dem SED-Regime gegenüber weiter ausgeprägt haben, die Sozialisation dieser Alterskohorte wird dennoch sehr verschieden im Vergleich zu dem Aufwachsen der Gleichaltrigen im Westen verlaufen sein. Ich fasse zusammen: Da die beiden deutschen Teilstaaten bis 1989 das soziale Leben anhand der Altersgruppen unterschiedlich organisiert haben – eine verstaatlichte und bürokratische Jugendarbeit in der DDR, dagegen eine Pluralität von Jugendangeboten in der BRD – sind möglicherweise unterschiedliche Vorstellungen einer Gemeinschaft mit den eigenen Altersgenossen zu erkennen. Bedeutsam ist die Überschneidung zwischen der Schule und den Netzwerken und Angeboten der Jugendarbeit, Nischen der Jugendarbeit, die sich über eine weniger strikte, spontane Alterszuweisung definieren, wie in Subkulturen. Zwischen der offiziellen Jugendarbeit und der DDR und der lebensweltlichen Erfahrung ist es daher zu Spannungen gekommen. Die Sozialisation verlief in dieser Hinsicht grundlegend anders, als es in der Bundesrepublik der Fall war. Auch in der Bundesrepublik organisierten sich Jugendgruppen und Netzwerke über das Kriterium des Alters, jedoch weniger strikt, sondern vielmehr nach einer spontanen Zuweisung. Während es in der DDR obligatorische Jugendangebote gab, besteht

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in der Bundesrepublik eine Pluralität von Jugendangeboten. Es besteht kein Widerspruch zwischen der politischen Jugendarbeit und der Teilhabe an anderen Jugend- oder Subkulturen – anders als in der DDR. Ein politisches Engagement wird vielmehr anhand der Stimmigkeit mit den übrigen Lebensentwürfen geprüft. Regulationen und Ideologien Diese ersten beiden Schichten werden durch eine dritte Schicht, ein Regelwerk von Ideologien etc. eingeschlossen, von denen angenommen wird, dass sie ebenfalls einen Einfluss auf die Sozialisation haben. Bedeutsam hierbei ist, welche Rolle Kinder und Heranwachsende in diesen Regelwerken spielen. Die jeweiligen Bildungs- und Erziehungssysteme sind bestimmten „höheren Zielen“ verpflichtet, welche Fähigkeiten und Eigenschaften die Personen, die diese Institutionen besuchen, am Ende haben sollen. Diese Ziele unterliegen selbst einem Wandel, wie man an der immer wieder auftretenden Debatte, ob bestimmte Lehrinhalte noch zeitgemäß sind, erkennen kann: Mögliche Fragen sind, ob alte Sprachen und Philosophie im Gymnasium gelehrt werden sollten, ob Universitäten klassische Gelehrte oder technokratische Experten hervorbringen sollen und schließlich, ob sich das Bildungssystem besonders der Förderung des Nachwuchses aus weniger privilegierten Schichten verpflichtet sieht. Wie auch in den vielen anderen Bereichen hatten die Bundesrepublik und die DDR auch in dieser Hinsicht unterschiedliche Ziele. Bildung und Ausbildung lag in der DDR ein von Egalität geprägtes Weltbild zugrunde, was sich in der Realität kaum zeigte, obwohl es zu den rhetorischen Zielen des DDR-Bildungssystems gehörte, vor allem Kinder aus nicht-privilegierten Schichten zu fördern, waren bei den Absolventen höherer Schulen in der DDR oft Kinder der DDR-Intelligenz und Angestelltenfamilien klar im Vorteil (Kühnel 1990a: 109f.). Es wird die bereits verleugnete Klassengesellschaft deutlich. Es ist für die ostdeutsche Sozialisation auf die besondere Bedeutung hinzuweisen, die der Jugend in sozialistischen Regimes als „Hoffnungsträger“ für die Zukunft zugewiesen wird. Man unterstellte, dass die jeweilige Jugend mit einer größeren Begeisterung ein gesellschaftliches Engagement übernehmen würde. Die Erwartung des „Hoffnungsträgers“ erfüllte die letzte Jugendkohorte der DDR kaum noch, von einer Identifikation mit dem real existierenden sozialistischen System konnte immer weniger die Rede sein. Die postulierten Hoffnungen an die Jugend wurden nicht zuletzt durch den besonders eklatanten „Verwendungsstau“ und mangelnde Partizipationsmöglichkeiten konterkariert. Die zentralistischen Strukturen erschwerten sowohl ein politisches Engagement auf lokaler Ebene als auch ein Aufsteigen in Führungspositionen. Ein politischer Aufstieg war nur durch die Berufung durch die übergeordnete Stelle zu erreichen. Die DDR war –

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wiederum im Widerspruch zu den rhetorisch hohen Erwartungen an die Jugend – ein gerontokratischer Staat8, Veränderungen oder Reformen konnten nur im Zuge eines Generationenwechsels stattfinden. Die Legitimation der DDR litt besonders an der Absage der DDR Führung, in näherer Zukunft Reformen in Gang zu bringen. Vertreter der DDR – Wirtschaftselite berichteten von geplanten Reformen, die allerdings unter Honecker nicht durchsetzbar waren und für eine mögliche „post-Honecker Ära“ in der Schublade blieben (Pirker et al. 1995: 120). Diese wurden nie durchgesetzt, da die DDR die Ära-Honecker nur kurz überlebte. Das alles spricht dafür, dass die Zufriedenheit der Abiturienten zur Wendezeit mit der DDR als gering einzustufen ist. Der Mauerfall war für sie die Befreiung aus den beengten Lebensverhältnissen der DDR und ist damit als ein zentrales Ereignis in ihrer Biographie einzustufen. Den Systemumbruch kann man daher als das Platzen eines Knotens verstehen. Mit dem Wegbrechen der repressiven DDR Regulationen taten sich für diese Jugendkohorte eine Vielzahl neuer Möglichkeiten auf, und diese ermöglichten Vielen das Leben offen zu führen, dass in Nischen bereits vor 1989 bereits vorhanden war. Das jeweilige Gesellschaftssystem erscheint wesentlich für die Sozialisation, denn neben der reinen Vermittlung von Wissensinhalten geht es um die Herausbildung reifer Persönlichkeiten, die bereit sind, ihren Beitrag zur Aufrechterhaltung von Politik und Gemeinwesen zu leisten. Die Vorstellungen, welche Eigenschaften jemand erlernen sollte, um gesellschaftlich partizipieren zu können, unterscheiden sich deutlich in beiden Teilen des Landes. Während eine gewisse Systemkritik in der Bundesrepublik oft keine nennenswerte Repression mit sich brachte, bzw. rhetorisch immer wieder eingefordert wird9 – im Vergleich zu dem „hitzigen“ Interesse der Elterngeneration – sorgt das an Politik desinteressierte bis affirmative Auftreten der jüngeren Generation in den 90ern für Verstimmung. Im Gegensatz zu der westdeutschen „Protestkultur“ hat sich in der DDR eine Staatsferne gezeigt, die sich z.B. in der Nichtmitgliedschaft der obligatorischen Massenorganisation der DDR als „K.O. – Kriterium“ für Karrieren erwies. Das Leben der westdeutschen Altersgenossen unterschied sich in der Hinsicht gravierend von dem im Osten. Ihre Schulzeit absolvierten sie in einer Phase nach Expansion und Reform des Schulwesens. Neue Probleme traten in der Folge da-

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Auch bei Personen, die sich als „überzeugte Sozialisten“ verstanden, ist ein Unverständnis den Führungskadern gegenüber erkennbar: Jens Bisky schriebt in seiner Autobiographie: „Was konnte, hieß es zu Hause, der Sozialismus dafür, dass er zum Spielzeug ängstlicher Greise und mittelmäßiger Kader geworden war?“ (Bisky 2004: 94).

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Vgl. z.B. das beschriebene Streitgespräch zwischen Marko Martin und Ekkehard Krippendoft in dem vorhergehenden Kapitel.

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durch auf, dass ein hochwertiges Bildungszertifikat nicht allein das hinreichende Kriterium einer erfüllten Berufskarriere ist. Es ist ein Aufwachsen in einer Gesellschaft, die angesichts der spätmodernen Krisenerscheinungen viele ihrer bisherigen Ideale zurückschrauben muss, andererseits neue Ideale auf die Agenda setzte. Es ist vom „erfolgreichen Scheitern von 68“ die Rede: Die großen Ziele der Revolte wie Revolution, Selbstbestimmung und Sozialismus wurden nicht erreicht, die herausragende Errungenschaft war ein politischer Liberalisierungs- und Demokratisierungsschub in den westlichen Gesellschaften nach dem Abebben der Revolte (Diefenbach 2003: 223). Wesentlich erscheint vor allem, dass das Lebensthema dieser westdeutschen Jahrgänge ist, sich in den Freiheiten der Post-68er Zeit einzurichten, sich möglicherweise in Selbstbeschränkung zu üben. Dieses Aufwachsen in einem Post-68er Milieu scheint für die westdeutschen Angehörigen dieser Generation wesentlich zu sein, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Die Enttäuschung über 68 – ein „unterdrücktes Trauma von 68“ (Hebdige 2002: 186) – ist als ein wesentliches Motiv zu verstehen, auf der theoretischen Ebene neue Deutungsmuster zu finden: Dem Marxismus wurde nicht mehr das Potenzial zugeschrieben, eine Befreiung herbeiführen zu können. Noch vor 1989 dürften die offensichtlichen Krisensymptome der Staaten des damaligen Ostblocks ihren Teil dazu beigetragen haben, diesen Eindruck zu verstärken. Es ist darauf hinzuweisen, dass es sich hierbei um keine rein akademische Diskussion gehandelt hat, die post-68er Zeit war vielmehr einer Zeit kleiner Initiativen und neuer sozialer Bewegungen als epistemologischer Debatten (Hebdige 2002: 187). Die Philosophin Katja Diefenbach beschreibt eine politische Neuorientierung, die als ein antiautoritäres Aufbrechen bisheriger Kritikmonopole zu beschreiben ist, dies ließe sich ungefähr auf das Jahr 1968 datieren: „Alle machtvollen Repräsentationen politischer Arbeit werden angreifbar: der Avantgardismus des Kaders, das Pathos des Kämpfers, die Stellung des linken Intellektuellen, die traurigen Leidenschaften der Militanten – Disziplin, moralische Belehrung, schlechte Laune. Die Fronten multiplizieren sich. Man kann in der Beziehung genau wie am Arbeitsplatz kämpfen“ (Diefenbach 2003: 222).

Fragt man nach einer westdeutschen „post-68er-Generation“, ist auch hier eine feine Unterscheidungslinie zu erkennen: Die etwas ältere Lagerung – die zwischen Mitte der 50er und Mitte der 60er Geborenen – haben viel von der Aufbruchsstimmung nach 1968 aufgenommen und verstehen sich als politische Generation, die an der gesellschaftlichen Umsetzung dieses Demokratisierungsschubs nach 1968 maßgeblichen Anteil hatte (Scherer 1996: 84). Die jüngeren, eher Ende der 1960er Geborenen, entwickeln einen möglicherweise distanzierten

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und kühleren Blick auf diese Themen. Es wird vor allem auf eine Skepsis der etablierten Politik hingewiesen, als eine weitere wesentliche Erfahrung wird auf die Ohnmacht der Kritik hingewiesen. Als einschneidende Ereignisse, die diese Einschätzung vertieften, gelten für diese Altersgruppe Tschernobyl 1986 und der erste Golfkrieg 1991 (Scherer 1996: 84). Mitte der 90er Jahre, als die Rhetorik der 89er erstmals artikuliert wurde, waren die Angehörigen der Protestgeneration an der Spitze ihres Schaffens: Im Medienbereich, in der Wissenschaft und Wirtschaft waren viele einflussreiche Positionen durch sie besetzt. Etwas später, 1998, kam diese Generation durch Wahl der ersten Rot-Grünen Bundesregierung auch politisch in das Zentrum der politischen Macht. In dieser Situation, als sie mit jüngeren Vertretern der politischen Klasse konkurrierten, kam es zu den ersten Selbstthematisierungen als 89er, das Staat 21 Papier der Grünen formulierte den Anspruch auf eine Teilhabe der jungen Generation an der zu bildenden Rot-Grünen-Bundesregierung (Wagner 1998: 55f.). Eingebettet ist die beschriebene Jugendkohorte nach der Wiedervereinigung in das durch Medienberichterstattung eher negative Jugendbild der westdeutschen Gesellschaften. Jugend wird nur dann wahrgenommen, wenn sie ein Problem darstellt oder als Problem erscheint (Hebdige 2002: 17). Diese Beobachtung gilt zwar besonders für die 90er Jahre, aber auch für Jugend allgemein. Die Jugenddebatte der 90er stand zunächst massiv unter dem Zeichen jugendlicher Devianz: Claus Leggewies Buch über die 89er beginnt mit der Schilderung verschiedenster Vorfälle, die in der Jugenddebatte 1994 behandelt wurden, von den „Chaostagen“ in Hannover bis hin zu Fällen rechtsradikal motivierter Gewalt (Leggewie 1995: 7ff.). Ein Teil dieses negativen Jugendbildes ist ein oft wahrgenommener „Substanzverlust“ der jüngeren Generation. Ältere haben in einem vergleichbaren Alter viel mehr erreicht, wurden früher in die Verantwortung genommen, im Gegensatz zu der aktuellen Jugendkohorte, so die oft zu hörenden Aussagen. Anfang der 90er Jahre wurde dieses negative Jugendbild besonders brisant, da vonseiten der Jüngeren ein besonders eklatantes Desinteresse an Parteienpolitik im „Superwahljahr“ 1994 wahrgenommen wurde. Der Erziehungswissenschaftler Wilhelm Heitmeyer weist auf das Problematische an diesen Diagnosen hin: Fälschlicherweise wird eine Ferne zur Parteiarbeit als eine Distanz zum Politischen interpretiert. Dieser Rede von einer Politikferne liegt die veraltete Vorstellung zugrunde, eine parteinahe Sozialisation würde den Angelpunkt des Demokratieverständnisses darstellen (Heitmeyer 1991: 243). Empirisch ist für die in dieser Arbeit beschriebene Alterskohorte zwar ein abnehmendes Interesse an Politik zu erkennen, gegen die Diagnose einer Entpolitisierung spricht das gleichzeitig zunehmende Maß an Kritikfähigkeit. Teil dieses negativen Bildes ist es, dass viele Debatten über die Jugendkohorte der 90er geführt werden, der Dialog zu ihren Angehörigen aber kaum gesucht wurde.

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Kontrastiert wird dieses negative Jugendbild auf eigentümliche Weise durch Berichte über eine besonders geschäftige und frühreife Jugend, die bereit ist, früh eigenes Geld zu verdienen und beruflich Verantwortung zu übernehmen, um den gewünschten Lebensstil zu erreichen oder zu halten. Junge Karrieren waren in den 90ern im expandierenden Medienbereich möglich. Auch Personen, die in klassischen Karrieren als „Verlierer“ gelten würden, fanden hier eine gute Anstellung10. Um auch diesen Abschnitt zusammenzufassen: Die mögliche Vorstellung einer Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen kann aus einer Auseinandersetzung mit der Jugenddebatte der 90er Jahre und dem Gegenpol einer Protestgeneration gefunden werden. Dies erscheint vor allem eine westdeutsche Rhetorik zu sein, die wesentlichen Protagonisten der Generationendebatte sind vor allem Westdeutsche. Das Regelwerk, das die DDR-Sozialisation bestimmte, ist nicht erst seit 1989 diskreditiert. Es sticht vor allem der Gegensatz zwischen dem egalitären Anspruch der DDR hervor, und der gesellschaftlichen Praxis, die diesen Anspruch nicht erfüllt hat, denn die tatsächliche Verteilung der Lebenschancen folgte klassenmäßigen Unterschieden. Eine grundsätzliche Frage, die sich aus dieser Problematik ergibt, ist, ob das Identifikationsmuster der Generation in Ostdeutschland möglicherweise vor dem der Klasse oder Schicht zurücktritt. In der Verunsicherung nach dem Mauerfall und dem Systemumbruch kann vermutet werden, dass klassenmäßige Unterschiede in den Bewältigungsstrategien dieser Verunsicherungen und den aus der Klassenlage resultierenden Chancen zur Bewältigung liegen. Diese Frage kann allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht geklärt werden, sondern wäre ein Teil einer umfassenden Erfahrungsgeschichte des Wohlfahrtsstaates. Ausblick Eine gemeinsame Erfahrung beider Teilpopulationen nach 1989 ist das Eintreten in einen prekären Arbeitsmarkt. Die berufliche Orientierung nimmt auch in Westdeutschland in der Schule schon seit den 70er Jahren einen hohen Stellenwert ein. Der Wert der in Schule und Ausbildung erworbenen Kenntnisse wird an

10 Christoph Amend portraitiert einen Moderatoren und eine Moderatorin des Senders GIGA TV – ein Privatsender der, sich hauptsächlich an jugendliche Fans von Computerspielen wendet. Die Karriere der portraitierten Moderatorin begann nach der Schule als Praktikantin in der Redaktion des Musiksenders VIVA, wo sie nach einiger Zeit zur Redakteurin aufstieg, bevor sie wechselte. Ihr Kollege begann verschiedene Ausbildungen – unter anderem auch ein Studium der Sozialwissenschaften – bevor er bei dem Sender eine Anstellung als Moderator bekam. Wie prekär diese Arbeitswelt ist, wird von ihren Protagonisten meist verdrängt (vgl. Amend 2003: 89ff.).

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der ihnen zugeschriebenen beruflichen Relevanz gemessen, diese Instrumentalisierung stellt eine implizite Entwertung dar, der Eigenwert der erworbenen Kenntnisse tritt dadurch deutlich in den Hintergrund (Paris 1990: 16). Der Diskurs der beruflichen Orientierung wird vor 1989 in dem zentral gesteuerten Bildungssystem der DDR weniger ausgeprägt gewesen sein, aber es ist davon auszugehen, dass dieser sich seit dem Anschluss an die Bundesrepublik angepasst hat oder möglicherweise als intensiver erlebt wird, da das Sensorium für den prekären Ausbildungsmarkt in Ostdeutschland als wesentlich ausgeprägter gilt (Bürgel 2006b: 14). Es ist zu vermuten, dass ein Aufbrechen dieser Sozialisationsschichten durch den verstärkten Einfluss von Medien auf Kindheit und Jugend zu beobachten ist. Durch diese Einflüsse – so kann vermutet werden – tritt in der Kindheit, die in der Regel durch Face-to-Face-Kontakte geprägt ist, massenmedial vermittelt die gesellschaftliche Ebene hinzu. Benedict Andersons Beschreibung der „imagined community” beinhaltet das Argument, dass Medienkonsum eine Vorstellung davon vermittelt, dass die Konsumenten einer Gemeinschaft angehören, deren Ausdehnung über reine Face-to-Face-Kontakte hinausgeht (Anderson 1996: 16). Besondere Relevanz besitzt das Medium Fernsehen: Anders als Printmedien – vor allem Bücher, die unterschiedliche Leserschaften ansprechen und deren Rezeption stark durch soziale Distingtionsgrenzen bestimmt ist – vereint das Fernsehen. Es gibt abweichende Buchkulturen, aber nur ein Fernsehen (Jäckel 2002: 115). In diesem Sinne weist auch Jochen Hörisch auf die Homogenität der Medienerfahrungen durch das Fernsehen hin, die angesichts der sozialen und geographischen Heterogenität der Bundesrepublik erstaunlich ist (Hörisch 1995: 469)11. Bestimmte Inhalte lassen sich nicht ohne weiteres von Kindern fernhalten: „Buchsozialisierte Generationen“ mussten Lesen lernen, um Zugang zu den Wissensbeständen der Erwachsenen zu bekommen, es existierte eine Informationshierarchie. Auch gibt es Kinderbücher und Bücher für Erwachsene. Eine große Hürde ist das Erlernen der Schriftsprache, um sich das Wissen der Erwachsenen anzueignen. Fernsehsozialisierte Generationen mussten nicht erst Lesen lernen, um Zugang zu diesen Wissensbeständen zu bekommen (Jäckel 2002: 115). Kindheit und Jugend gelten als mediatisiert. Bedeutsam erscheint die Durchdringung der Alltagswelt mit Medien- und Werbesymboliken (Jäckel 2002: 119f.). Aufgrund dieser Mediatisierung bekommen emphatische Erzählungen von Medien und Konsumerfahrungen der eigenen Kindheit einen gewissen Charme, wie der Erfolg des Essays „Generation Golf“ zeigt. Dies ist einerseits eine west-

11 Es stellt sich die Frage, ob das Fernsehen in Zukunft eine weitere Ausdifferenzierung erfahren wird, so ist z.B. die Rede vom „Unterschichtfernsehen“.

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deutsche Erfahrung, denn der Alltag der DDR dürfte nicht in diesem Ausmaß geprägt worden sein, vielen Ostdeutschen sind diese Erfahrungen in ihrer Lebenswelt fremd, z.B. die Durchdringung des Alltagslebens mit Markensymbolen. Der Einfluss westlicher Medien hat allerdings die bestehende Differenz zwischen einer lebensweltlichen Modernisierung und dem starren institutionalisierten Leben in der DDR maßgeblich beeinflusst. Es ist zu vermuten, dass die mediatisierten Erfahrungen nach 1989 auch auf Ostdeutschland übergegriffen haben. 3.1.3 Neue Verunsicherung und Krisenwahrnehmungen Als ein wesentliches Merkmal der Sozialisation dieser Jahrgänge sind die Krisenwahrnehmungen der Gegenwartsgesellschaft anzusehen. Teil des Problems ist, dass die Gegenwartsgesellschaften die von ihnen selbst hervorgebrachten Probleme nicht mehr lösen können. Charles Taylor weist darauf hin, dass die gegenwärtigen Gesellschaften unter einem Unbehagen leiden, das als eine Angst vor einer Hypertrophie gekennzeichnet ist. Die Errungenschaften der Moderne – die Betonung von Freiheit, Gleichheit, Beherrschung der Natur und demokratischer Selbstverwaltung – werden über die Grenzen des Machbaren hinausgetrieben, sodass sie als bedrohlich erscheinen (Taylor 1994: 75f.). Grundlegend für das Verständnis der Moderne erscheinen zunächst Rationalisierungstendenzen. Max Webers Soziologie rückt diese Rationalisierungstendenzen der okzidentalen Gesellschaften ins Zentrum der Analyse. Aber auch schon bei Max Weber finden sich kritische Töne: Ein bürokratisches System benötigt keine besondere Legitimation, ist keinem höheren Auftrag verpflichtet, es kann auch seelenlos sein.12 Als eine der wesentlichen „postmodernen Verunsicherungen“ nennt Zygmunt Baumann neben dem Zurücktreten des Staates aus seinen Sicherungsaufgaben auch die Erosion gemeinschaftlicher Netzwerke, wie Familie und Nachbarschaft. Es wird angesichts dieser neuen Verunsicherungen häufig die (optimistische) Auffassung vertreten, dass an die Stellen wohlfahrtsstaatlicher Sicherungssysteme vermehrt gemeinschaftliche oder zivilgesellschaftliche Netzwerke treten können. Diese erfüllen aber möglicherweise nicht die in sie gesetzten Hoffnungen: „Sie versprechen weder das Gewähren, noch den Erwerb von Rechten und Pflichten“ (Baumann 2000: 37). Zusammenhängend mit dem bereits erwähnten Zurücktreten des Staates liegt eine weitere Verunsicherung im diagnostizierten Verlust von politischen Regulations- und Steuerungsmöglichkeiten, einerseits auf der nationalstaatlichen Ebene

12 Im Anschluss an dieses Argument entwickelt George Ritzer die Kritik an einer bürokratisch werdenden Gegenwartsgesellschaft (Ritzer 2006).

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durch eine Überfrachtung von Interessen des Staates (Taylor 1994: 75). Auf der globalen Ebene kommen wachsende ökologische Probleme und eine drohende globale Ressourcenknappheit hinzu. Der stärkere Kampf um Ressourcen sowie eine drohende ökologische Katastrophe zeigen eine wesentliche Schattenseite des Lebensstils westlicher Gesellschaften auf. Diese globale Problematik erschüttert einerseits den Glauben an die Regulierungsfähigkeit des Staates, die politische Ordnung ist nationalstaatlich, teilweise auch kontinental geregelt, aber die wesentlichen Probleme sind global zu lösen, es mangelt an internationalen Standards für ihre Lösung (Radermacher 2008: 50). Radermacher stellt andererseits außenpolitisch die Frage, ob die westlichen Gesellschaften in den nächsten Jahrzehnten eine „ökosoziale Marktwirtschaft“ etablieren können, die einen gerechten Ressourcenzugang bei gleichzeitiger weltweiter Etablierung des Demokratieprinzips beinhaltet. Die Alternative wäre das Eintreten eines globalen Zusammenbruchs bzw. die Verschärfung von Verteilungskonflikten und damit verbunden auch die Zunahme von asymmetrischen gewalttätigen Konflikten (Radermacher 2008: 55). In der Frage, wie sich diese allgemeinen Verunsicherungen für die in dieser Arbeit beschriebenen Jahrgänge zeigen, folge ich Helmut Fend in der Annahme, dass die Generationenlage der untersuchten Jahrgänge von dieser Krise des „okzidentalen Rationalismus“ geprägt ist (Fend 1988: 169 ff.).13 Ausgehend von Max Weber argumentiert er, dass Rationalisierung und Berechenbarkeit die Grundlage der westlichen Zivilisation sind. Das vermehrte Auftreten von dysfunktionaler Nebenwirkungen in moderner Zivilisationen hat den Eindruck vermittelt, dass viele Probleme durch Rückgriff auf die technische Rationalität nicht lösbar seien. Wesentlich ist, dass sich ein Bewusstsein über die negativen Nebenwirkungen der westlichen Zivilisationen durchgesetzt hat, was zu einem kritischen Blick auf die Gegenwartsgesellschaft führt: Erschüttert ist vor allem das Vertrauen der westlichen Kultur in sich selbst (Habermas 1996: 143). Diese Probleme werden besonders brisant, da sie beschleunigt auftreten, was Gegenstrategien erschwert (Radermacher 2008: 50). Die auftretenden Probleme sind nicht nur die einer Postindustriellen Gesellschaft, in der das Paradigma der Arbeitsgesellschaft abgelöst erscheint, es ist vielmehr eine weltweite Bedrohung auszumachen. Als wesentlicher Punkt ist auf den problematisch werdenden Übergang vom Ausbildungssystem ins Erwerbssystem hinzuweisen. Es ist nicht mehr voraussehbar, ob

13 Helmut Fend bezeichnet so „gegenwärtige Generationenlage“ (Fend 1988: 169). Aufgrund der in Fends Studie herangezogenen Materialien ist davon auszugehen, dass er die Alterskohorte derjenigen im Blick hat, die gegen Ende der 80er Abiturienten und Oberstufenschüler waren.

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ein Bildungszertifikat den Weg zu einer bestimmten Kariere öffnet. Insofern wirkt sich die Krise der Gegenwartsgesellschaft auf die Sozialisation dieser Jahrgänge aus (Fend 1988: 172). Beim Wechsel vom Bildungs- in das Beschäftigungssystem tut sich eine weitere Problematik auf: Ein hochwertiger Bildungsabschluss garantiert keinen reibungslosen Wechsel ins Erwerbsleben, er wird vielmehr zu einer conditio sine qua non. Ob dieser zum Erfolg führt, bleibt ungewiss. Klaus Hurrelmann kommt zu dem Schluss, dieser Generation (und vermutlich auch jüngeren) werde der Eindruck vermittelt, bei ihnen handele es sich um eine auf dem Arbeitsmarkt überflüssige Generation, da ihr das Gefühl gegeben wird, man würde sie nicht benötigen (Hurrelmann 2006: 222). Besonders für die Sozialisation macht sich dieser Einschnitt bemerkbar: Das Schul- und Bildungssystem ist auf Leistungserwartung und Bedürfnisunterdrückung aufgebaut. Beim Übergang in das Beschäftigungssystem werden die gemachten Versprechen nicht eingelöst, was zu einem Legitimationsverlust der bestehenden Gesellschaftsordnung führen kann. Die post-fordistischen Umbauprozesse betreffen nicht nur die westlichen Industriegesellschaften, sondern betrafen auch die „real existierenden“ sozialistischen Staaten in West- und Mitteleuropa. Die Schwierigkeit, auf eine post-fordistische Produktionsweise umzustellen, gilt als eines der zentralen Probleme der DDR-Ökonomie (Bisky 2005: 64). Die Niederlage des Staatssozialismus kann als Konsequenz einer an seine Grenzen gelangten Beschleunigungsfähigkeit des Staates verstanden werden (Rosa 2005: 325). Diese Prozesse betreffen ab den 1970er Jahren alle Industriegesellschaften: Unterschiede treten aber durch unterschiedliche gesellschaftliche und staatliche Gestaltungs- und Planungsansprüche deutlich hervor. In der Bewältigung dieser Krisensymptome erschienen wiederum die Bundesrepublik und die DDR gegensätzlich: In der Bundesrepublik nahm man fälschlicherweise an, dass diese Probleme eine kurzeitige Krisenerscheinung darstellten und es nach einer kurzen Zeit der Stagnation zu einer Fortsetzung des Wirtschaftswunders kommen würde (Lutz 1989). Im Fall der DDR hatte das Festhalten an einer zentralen Wirtschaftssteuerung mit einer geringen Anpassungsfähigkeit an situative Anforderungen besonders negative ökonomische Folgen. Während viele westliche Industriestaaten die Ideale ihres Wohlfahrtsstaates zurückschrauben mussten, schaffen es die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, gesellschaftliche Modernisierung mit einem aufwändigen Wohlfahrtsstaat zu vereinbaren. Nicht nur die gesellschaftlichen Probleme und Bedrohungen steigern sich rapide, sondern die Beschleunigung selbst erscheint problematisch zu sein. Aus diesem Grund wird im folgenden Kapitel die Bedeutung von Beschleunigungsprozessen für die Sozialisation dieser Alterskohorte diskutiert.

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3.1.4 Beschleunigung Ein zentrales Thema dieser Arbeit ist die Wahrnehmung, in veränderten Zeiten zu leben, hierzu zählt auch das Gefühl, in einer schneller werdenden Gesellschaft und sich schnell ändernden Gesellschaft zu leben. Hartmut Rosa spitzt die Sozialtheorie auf das Thema der Beschleunigung zu. Er zeigt, dass die Diagnose einer gesellschaftlichen Beschleunigung sowohl den Arbeiten der klassischen Soziologie als auch den aktuellen Zeitdiagnosen zugrunde liegt. Die strittige Frage, wo der Übergang in eine Post- oder Spätmoderne zu verorten ist, wird durch den Verweis auf die Beschleunigungsdynamiken der Gegenwartsgesellschaft beantwortet. Während die Akteure der klassischen Moderne – Bürokratie, Militär, Nationalstaat – eine beschleunigende Wirkung hatten, werden diese nunmehr als „Bremser“ wahrgenommen (Rosa 2005: 316ff). Das Thema der Beschleunigung scheint für die untersuchte Altersgruppe eine besondere Relevanz zu besitzen: Der gesellschaftlichen Beschleunigung wird eine psychologisch belastende Wirkung zugeschrieben: Klinisch gilt Depression als typische Nebenwirkung von Beschleunigungs-Prozessen, das Gefühl in einer Welt, die sich immer schneller verändert, „abgehängt“ zu sein (Rosa 2005: 42f.). Zygmunt Baumann weist darauf hin, dass besonders die um 1970 Geborenen besonderen psychischen Belastungen ausgesetzt gewesen seien, die in die „schöne, neue, moderne, flüchtige Welt hineingeboren sind“ – und einige neue Leiden erfahren, die den Älteren fremd geblieben sind (Bauman 2005: 17f.). Das Thema der Beschleunigung ist eng mit der wohlfahrtsstaatlichen Problematik verknüpft. Dieser wird, wie andere Akteure der klassischen Moderne in der Spätmoderne zumeist als Bremser wahrgenommen, die mit den gesteigerten Beschleunigungsdynamiken nicht (mehr) mithalten können (Rosa 2005: 328). Der Wohlfahrtsstaat kann angesichts des vermehrten Auftretens post-fordistischer Produktionsformen keine adäquaten Antworten mehr geben (Rosa 2005: 324). Ist die klassische Moderne durch vielfältige Sicherheitsbedürfnisse geprägt, opfert man diese in der Spätmoderne dem Beschleunigungsbedürfnis (Rosa 2005: 286). Dieser Beschleunigungsschub scheint nicht nur bedrohlich zu wirken, sondern auch Chancen zu bieten, sich diesen anzueignen: Popkulturelle Strömungen weisen zu dieser Thematik eine gewisse Affinität auf. Hartmut Rosa weist auf die Faszination hin, die Fast-Food und Formel 1 ausstrahlen (Rosa 2005: 82). Eine weitere Besonderheit der popkulturellen Strömungen in der Spätmoderne ist, dass sie aktuell dazu neigen, sich die gesellschaftlichen Beschleunigungstendenzen anzueignen („Techno-Generation“), statt sich durch aussichtslosen Widerstand gegen diese aufzureiben. Was einen Lerneffekt im Gegensatz zu vorherigen Strömungen wie Beatniks, Punk oder anderen Gruppen darstellt, die den Versuch unternommen

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haben, eine „Entschleunigung“ voranzutreiben und daran gescheitert sind (Rosa 2005: 154f.). Auch hier scheint es bedeutsame Unterschiede im Ost-West-Vergleich zu geben. Gerade für die Wahrnehmung aus ostdeutscher Perspektive ist das Thema der Beschleunigung wesentlich. Der Fall der Mauer dürfte als ein einziger Beschleunigungsprozess wahrgenommen worden sein. Im Ost-West-Vergleich wird häufig darauf hingewiesen, dass der Wiedervereinigungsprozess der Zusammenprall zweier „Zeitkulturen“ (Hofmann 2004) bzw. zweier unterschiedlicher Zeitempfindungen war. Wie in vielen anderen Bereichen des sozialen Lebens bedeutete dies vor allem für die Ostdeutschen eine wesentliche Umstellung. Diese zwei Zeitempfindungen sind die einer sich dynamisch weiter entwickelnden Gesellschaft, die mit einer blockierten, bürokratischen und zentral gesteuerten Gesellschaft konfrontiert wird. Während das in Westdeutschland vorherrschende Zeitempfinden durch die Suche nach neuen Zukunftshorizonten mit konkreten Handlungsabsichten gekennzeichnet war, schien die Zeit in der damaligen DDR still zu stehen. Das Zeitempfinden in der DDR war vor allem durch die Vorhersehbarkeit der Zukunft, Fremdbestimmung und Fortschreibung der Gegenwart geprägt (Greiffenhagen, Greiffenhagen 2002: 25). Die reglementierte und verstaatlichte Gesellschaft der DDR unterband unvorhergesehene Entwicklungen, eigene Initiativen, die zu einer Veränderungen hätten beitragen können, waren in der DDR unterdrückt bzw. randständig. Da nicht mit Veränderungen zu rechnen war, wurde die Zukunft als Fortsetzung der Gegenwart betrachtet. In der Folge wurde in der DDR eine gewisse Langsamkeit entwickelt und informelle Netzwerke und soziale Kontakte betont. Da man einen Großteil seiner Zeit mit Warten verbrachte, war in vielerlei Hinsicht kein Grund zur Eile gegeben: „Wer in (guter) Gesellschaft ist, kümmert sich nicht um die Zeit. Persönliche Projekte, Erledigungen etc. werden hintangestellt und verschleppt. Man erledigt sie eben morgen oder übermorgen, aber im Jetzt genießt man erst einmal die Geselligkeit.“ (Hofmann 2004: 66f.)

Die Ereignisse des Jahres 1989 dürften daher als besonders dramatisch und möglicherweise bedrohlich wahrgenommen worden sein. Für die erste Hälfte der 90er Jahre wird von einem erhöhten Lebenstempo berichtet, dass durch einen besonderen Nachholbedarf bedingt ist. Bemerkbar war dies vor allem anhand von erhöhter Bauaktivität und auch durch neu ausgebaute elektronische Kommunikationskanäle (Hofmann 2004: 69). Im Zuge des Beschleunigungsschubs, den der Systemumbruch 1989 und die Wiedervereinigung dargestellt haben, wird für diese Art von Netzwerken weniger Zeit geblieben sein, was möglicherweise als

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abnehmende Verbindlichkeit oder Verlust von Gemeinschaft wahrgenommen worden sein dürfte. 3.1.5 „Verlust“ bisheriger Kritik- und Erklärungsmuster Ist von der Wahrnehmung eines „nicht- mehr“ die Rede, liegt eine Diskussion der „Postmoderne“ nahe. Da der Begriff Postmoderne inflationär genutzt wird (Schroer 1994: 225) seien an dieser Stelle nur einige grundlegende Anmerkungen gemacht, die für die Thematik dieser Arbeit besonders relevant erscheinen. Erzählungen vom Telos, der Aufklärung und der Rationalität verloren seit den 70ern rapide an Plausibilität. Die ökologischen Katastrophen der 80er Jahre hatten daran ihren Anteil. Politik wird vermehrt durch die Bereinigung von dysfunktionalen Nebenwirkungen der Gegenwartsgesellschaft bestimmt. Eingeklagt werden neue Rezepte, vorgetragene Lösungsvorschläge wirken stereotyp. Die Zivilisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts haben die Legitimität moderner Zivilisationen zunehmend infrage gestellt, denn die technokratischen Wissenschaften haben die Zivilisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts möglich gemacht, der Marxismus gilt – nicht zuletzt aufgrund der marxistischen Rhetorik der real-existierenden sozialistischen Systeme – als Gegenentwurf gescheitert. Postmoderne Theorien – zu nennen sind vor allem die Arbeiten von Francois Lyotard – brachten diese weit verbreiteten Grundempfindungen auf eine eingängige Formel (vgl. z.B. Lyotard 2007a; 2007b). Diese Problem ist keine rein epistemologisches, sondern hat auch eine politische Dimension: Dick Hebdige nennt als wesentlichen Ausgangspunkt der postmodernen Debatte das „unterdrückte Trauma“ von 1968, viele Hoffnungen, die mit der antiautoritären Revolte verbunden waren, wurden enttäuscht (Hebdige 2002: 186). Ulrich Greiners Frage: „Was habt ihr Neunundachtziger?“ fällt genau in diesen Kontext. Die jungen Kritiker in der Botho-Strauss-Debatte mussten sich diese beschämende Frage stellvertretend für alle jüngeren Intellektuellen gefallen lassen: Die Protestgeneration hatte wenigstens eine Theorie und ein gemeinsames Ziel, alles hat sich möglicherweise als falsch erwiesen, aber die junge Generation der Bundesrepublik hat nichts von alledem. Die Jüngeren werden so zum Symptomträger: Ein Kritikmonopol ist komplett verloren gegangen, die Verantwortung dafür wird aber ihnen selbst überlassen. Zygmunt Baumann weist darauf hin, dass der wesentliche Nutzen des Begriffs der Postmoderne nicht darin besteht, eine neue Bezeichnung für bekannte Phänomene (z.B. das der „post-industriellne Gesellschaft“) einzuführen. Der besondere Sinn einer Diagnose der „Postmoderne“ liegt in der Erkenntnis, dass die Intellektuellen ihr Deutungs- und Kritikmonopol verloren haben, die Folge ist ein Selbst-Reflexiv-Werden der Intellektuellenschicht (Baumann 1988: 218). Die gegenwärtigen politischen Institutionen und lokale Machthaber benötigen keine

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intellektuelle Legitimation, die gegenwärtige politische Ordnung reproduziert sich selbst effizienter und günstiger, als es die intellektuelle Legitimation könnte (Bauman 1988: 221). Diese bekannteste Diagnose einer Postmoderne, dass es keine „großen Erzählungen“ mehr geben könnte, aber eine Vielzahl kleiner, konkurrierender Entwürfe, wurden im gleichen Moment entwickelt, wie das Interesse an der Welt als einem gemeinsamen Lebensraum aufkam (Robertson 1998: 204). Der Verlust eines einheitlichen, verlässlichen und globalen Deutungsmonopols bedeutet als erste Wahrnehmung der Postmoderne durch die Intellektuellen eine Statusangst, die Schicht der Intellektuellen wird überflüssig (Baumann 1988: 220). Diese Statusangst wird weiterhin durch die Absage moderner, bürokratisch organisierter Staaten an politische Legitimität verstärkt. Politische Herrschaft wird über die Mechanismen von Repression und Verführung reguliert und weniger über einen legitimierenden Diskurs. Der dritte Punkt dieses Überflüssig-Werdens der Intellektuellenkaste bedingt den Verlust der Hoheit über die Kultur an die Sphäre des Marktes. Als ein weiteres Problem der Intellektuellenschicht ist auf ihre Enteignung der Kultur hinzuweisen. Sie ist nicht mehr nur der exklusive Besitz einer privilegierten Schicht, sondern wird verstärkt auch von „der breiten Masse“ aufgenommen. Das eigentliche Problem der Intellektuellenschicht ist nicht die Massenkultur sondern, dass sie auch bei diesem Prozess keinen Einfluss auf die kapitalistisch und/ oder bürokratisch geprägten kulturvermittelnden Instanzen haben (Baumann 1988: 224). Diese Instanzen werden von Personen aus der Gruppe der neuen Kulturvermittler dominiert, auf die im Folgenden eingegangen wird. Die dreifache „postmoderne Verunsicherung“ im Sinne von Statusangst, Ortsund Richtungslosigkeit gibt vor allem die Erfahrungen der Intellektuellenschicht wieder. Das drohende Überflüssigwerden der Intellektuellenschicht geht auf den Verlust eines intellektuellen Deutungsmonopols zurück, vor allem beeinflusst durch die Kritik des Eurozentrismus. Ein Anspruch, die Welt zu erklären, kann so bestenfalls als naiv erscheinen, im schlimmsten Fall als eurozentrisch kritisiert werden (Baumann 1988: 220). An die Stelle der klassischen Intellektuellen ist eine Gruppe der „Neuen Kulturvermittler“ getreten, die für die Wahrnehmung eines „Nicht-mehr“ besonders empfänglich zu sein scheint. Diese „neuen Kulturvermittler“ sind Experten für die symbolische Produktion, sie sind auf die Wahrnehmung sozialer Phänomene – die auch als postmodern bezeichnet werden – besonders eingestimmt und sind damit auch an der Erschaffung und Verbreitung von Generationslabels wie dem der „89er“ maßgeblich beteiligt. Empirisch interessant sind der dieser Rhetorik zugrunde liegende Prozess, die Beziehungen und Austauschprozesse zwischen Künstlern, Intellektuellen, Akademikern sowie deren Interdependenzen zu Politikern, Bürokraten und Geschäftsleuten (vgl. Feat-

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herstone 1990: 220f.). Die vorliegende Arbeit liefert zu dieser Frage nur einen kleinen Ausschnitt. Zusammenfassen lässt sich dieser Abschnitt wie folgt: Der in dieser Arbeit angenommene Mittelschicht Bias kann dahin gehend erweitert werden, dass bei den Selbstthematisierungen auch der Bedeutungsverlust der Intellektuellenschicht zum Tragen kommt. Die Debatte um die 89er wird im Feld der neuen Kulturvermittler geführt. Fraglich ist, ob sich Bankangestellte die der Alterskohorte der 89er Generation zuzuordnen sind, von Ulrich Greiners Frage nach den 89ern angesprochen fühlen würden. Wie ein solches Label erschaffen und verbreitet wird, wer sich ein solches Label aneignet und wer zu einem Protagonisten dieser Rhetorik wird, dies ist eine Frage, die an die empirische Untersuchung dieser Arbeit zu stellen ist. Nachdem die prägenden Instanzen dieser Jahrgänge diskutiert wurden, geht es im Folgenden darum, einen Handlungskontext zu beschreiben, der von dem Systemumbruch ausgehend auch einen Einfluss auf Westdeutschland hatte. Das Ziel ist es, die Chancen und besonderen Gelegenheiten, die sich im Wiedervereinigungsprozess aufgetan haben, nach Altersgruppen zu systematisieren. 3.1.6 Die Auswirkungen der Kohl Ära Die in dieser Arbeit beschriebenen Jahrgänge gelten als die Kinder der Kohl-Ära, einer Zeit, die als ein lang andauernder Biedermeier verstanden wurde. In der Selbstexplikationsliteratur wird die Allgegenwart Helmut Kohls besonders betont, er ist Teil der 80er, dem „langweiligsten Jahrzehnt der Bundesrepublik“, was sich unter anderem daran äußerte, dass man im Fernsehen immer Kohl sah (Illies 2003: 15f.). Kohl scheint die Zeitdiagnosen der Spätmoderne, wie die eines „beschleunigten Stillstandes“ besonders zu verkörpern. Obwohl die 80er politisch eine ereignisreiche und skandalträchtige Zeit waren, schien sich nichts verändert zu haben. Wer Anfang der 70er Jahre geboren wurde, hat bis zum Regierungswechsel 1998 nur Kohl „erlebt“, nicht im Sinne einer individuellen Erfahrung, sondern im Sinne einer aktiven Mitarbeit in der Politik, der Mitgliedschaft in Jugendorganisationen der etablierten Parteien. Johannes Goebel und Christoph Clermond zeigen einen Weg auf, sich die Chancen dieser politisch ereignislose Zeit anzueignen: „Kohl haben wir gewählt, gerade nicht, weil er für Familienwerte stand, für Fleiß und deutsche Tugenden. Wir wussten, dass seine Politik des ‚ich will so bleiben wie ich bin‘ eben auch das ‚du darfst‘ enthielt, den flexiblen und weitgesteckten Rahmen für unsere privaten zivilgesellschaftlichen Gehversuche.“ (Goebel; Clermond 1998: 15)

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Diese zivilgesellschaftlichen Gehversuche sind „privat“, großer Wert wird auf Netzwerke und Freundeskreise gelegt und mit diesen Gehversuchen werden vielmehr Nischen im stahlharten Gehäuse gesucht. Die negative Seite der Allgegenwart Kohls liegt in der möglichen „Wegdenkbarkeit“ der eigenen Generation. Sie werden nicht von Politik behelligt, was einerseits eine Freiheit für Experimente erlaubte, andererseits das Gefühl vermittelte, in der Politik nicht benötigt zu werden. Der Journalist Stephan Schlak schreibt: „Aufgewachsen im Schatten der Mauer im ewigen Biedermeier der Kohl-Zeit glaubte er früh gelernt zu haben, dass es auch ohne ihn immer so weiter geht.“ 9/11 wird als ein mögliches Datum interpretiert, dass alles vergessen geglaubte zurückbrachte: Ideologie, Politik und den Glauben an das Unbedingte“ (Schlak 2003: 65).

In dem an anderer Stelle dieser Arbeit bereits angesprochenen historistischen Vergleich zwischen der „Jugendgeneration“ der Weimarer Republik und der der 90er wird der wesentliche Unterschied als der zwischen den „Bedingten“ Kindern der Kohl Ära gesehen und den „Unbedingten“ der Jugendgeneration der Weimarer Republik. Tanja Busse hat überwiegend negative Töne für die von ihr portraitierten Kinder der Kohl Ära, deren Angehörige in der Provinz einerseits in der prä-achtundsechziger Zeit leben. Es gibt dort keine linksalternative Szene, wie in größeren Städten, andererseits ist das Leben eine Verlängerung der 80er Jahre, der politische Horizont endet an der individuellen Freiheit, die mehr oder weniger grenzenlos ist. Obwohl einer der von Tanja Busse portraitierten Abiturienten in den späten 1990er Jahren z.B. die Arbeitslosigkeit als ein Problem sieht, war er noch nicht wählen und zeigt kein Interesse an politischem Engagement (Busse 1998: 10f.). Liest man diese Stilisierung der rund zehn Jahre Jüngeren „gegen den Strich“ ist eine dezidierte Kritik am Vermächtnis des ehemaligen Kanzlers zu erkennen. Die von Kohl versprochene „geistig-moralische Wende“ hat politisch desinteressiert und gleichgültig gemacht, Politik beschränkt sich auf ein pragmatisches Durchwurschteln, obwohl die Probleme offensichtlich sind. Der Wahrnehmung, in neuen Zeiten zu leben, und dem Bewusstsein der Schnelllebigkeit steht der stoische Regierungsstil Kohls gegenüber. Es bleibt das Gefühl eines geringen Einflusses auf die Politik. Ob sich diese Entwicklungen überzeugend auf Kohl zurückführen lassen, sei dahingestellt, ähnliche Tendenzen einer schwindenden Partizipation der jüngeren Generation gibt es in allen westlichen Ländern. Bekannt geworden ist Robert Putnams Diagnose eines schwindenden Sozialkapitals (Putnam 1995). Wesentlich erscheint, dass der Regierungszeit Kohls die Wirkung zugeschrieben wurde, sie habe die Heranwachsenden unpolitisch gemacht. Tanja Busse beschreibt einige Initiativen am Ende der 90er Jahre, nach dem Ende von Kohls Regierungszeit als die Chance zu politischer

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Neuorientierung, in dem Moment als das „Narkotikum der Kohl-Ära“ begann, seine Wirkung zu verlieren (Busse 1998: 20). Ob dies wirklich überzeugt, sei dahingestellt. Für Angehörige der politischen Klasse hatte die relativ lange Regierungszeit die Folge, dass es zu einem „Verwendungsstau“ in der Politik kam. Dies bezieht sich auf Nachwuchspolitiker, vor allem bei den GRÜNEN, denn eine Regierungsbeteiligung dieser Partei erschien in den 1990er Jahren unwahrscheinlich. So grenzte sich das „Staart/21“ Papier gegen die Generation der 68er ab und auch gegen den 68-jährigen Kohl (Wagner 1998: 56). Themen, die eine Rot-Grüne Koalition Anfang der 90er auf die politische Agenda setzten wollte, sind erst acht Jahre später angegangen worden, z.B. die Reform der doppelten Staatsangehörigkeit. Anhänger der GRÜNEN nehmen dies besonders einschneidend wahr, denn die GRÜNEN fielen bei dieser Wahl unter die 5% Hürde14. Ein politisches Engagement bekam für die Mitglieder dieser Partei etwas Aussichtsloses, denn trotz aller Bemühungen konnte die CDU unter Kohl in den 1990er Jahren weiterhin Wahlen gewinnen.

3.2 D ER W IEDERVEREINIGUNG SPROZESS ALS GÜNSTIGE G ELEGENHEITSSTRUKTUR – DER M AUERFALL ALS H ANDLUNGSKONTEXT Während man annimmt, dass der Mauerfall für Ostdeutschland relativ eindeutige Auswirkungen gehabt hat, erscheinen die Auswirkungen des Systemumbruchs für Westdeutschland marginal. Genannt werden oft ein verändertes Nationalverständnis und eine größere Konkurrenz um Arbeits-, Studien- und Ausbildungsplätze. Es wird im Folgenden vorgeschlagen, den Wiedervereinigungsprozess als Handlungskontext zu verstehen, der auch für Westdeutschland eine besondere Relevanz hat: Der Systemumbruch ging in der DDR mit einem Elitenaustausch einher, die Angehörigen der DDR-Elite wurden auf randständige Posten versetzt oder die Stellen wurden durch Frühverrentung frei. Neben der Neubesetzung klassischer Stellen, wie die von Richtern, Staatsanwälten, Polizeiführung oder in der Ministerialbürokratie wurden im Wiedervereinigungsprozess neue Institutionen geschaffen, die interessante Tätigkeitsfelder boten. Hier ist besonders auf die Treuhandanstalt zu verweisen, deren Mitarbeiter als Angehörige einer ökonomischen Modernisierungselite der neuen Bundesrepublik verstanden werden können. Anders als in den übrigen vormals sozialistisch regierten Ländern, die einen Systemumbruch nach 1989 zu bewältigen hatten, ging der Systemumbruch in der DDR mit einem Eli-

14 Vgl. hierzu auch die Erzählungen des GRÜNEN-Abgeordneten Timo Albrecht in Fall 2.

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tenaustausch einher. Dieser hatte verschiedene Gründe: Die DDR-Elite war überaltert: Als erste Gruppe ist die der „strategischen Clique“ zu nennen, die nach Gründung der DDR 1949 maßgebliche Positionen einnahm. Sie bestand vor allem aus KPD-Mitgliedern, die ihre politische Prägung in der Weimarer Republik erfuhren und nach 1945 aus dem Exil zurückkehrten. Da diese Gruppe über wenig Personal mit den notwendigen Fachkenntnissen verfügte, kam es in der Frühphase der DDR zu Problemen, die wesentlichen Posten zu besetzen. Die Abriegelung der Grenze nach Westdeutschland 1961 brachte eine „relative Stabilisierung“: Viele Posten konnten mit jüngeren, bereits in der DDR ausgebildeten Personen besetzt werden. Die „Altkommunisten“ behielten jedoch ihre maßgebliche Position im Politbüro und dem Staatsrat. Die jüngeren Fachleute konnten lediglich im nachgeordneten Staatsapparat unterkommen (Hoffmann-Lange 2002: 112). Aber auch hier kam es zu einem Ungleichgewicht zugunsten einer bestimmten Altersgruppe: Viele Angehörige der DDR Funktionselite sind von Angehörigen der „FlakhelferGeneration“ ausgefüllt gewesen, bevor die Vertreter dieser Generation durch die Ereignisse des Jahres 1989 überrollt wurden (Pirker et al. 1995: 13f.). Eine Neubesetzung von Führungspositionen der ehemaligen DDR erfolgte einerseits, um Personen zu ersetzen, an deren politischer Zuverlässigkeit durch Verstrickung in das SED-Regime gezweifelt wurde. Um eine sofortige Handlungsfähigkeit der Institutionen nach der Wiedervereinigung zu gewährleisten, wurden viele Posten aus pragmatischen Gründen mit westdeutschen Absolventen besetzt, die eine Vertrautheit mit dem politischen System und den Rechtsnormen der Bundesrepublik hatten. Ostdeutsche hätten die notwendigen Forderungen also oft rein formell nicht erfüllen können. Als einen weiteren Grund für diesen Elitenaustausch ist eine allgemeine Entwertung von Bildungsabschlüssen der DDR zu nennen. Arnulf Baring spricht in einem Gesprächsband über die Zukunft der Bundesrepublik nach 1990 über die Bürger der ehemaligen DDR: „Jeder sollte nur noch ein hirnloses Rädchen im Getriebe sein, ein willenloser Gehilfe. Ob sich heute einer dort Jurist nennt oder Ökonom, Pädagoge, Psychologe, Soziologe, selbst Arzt oder Ingenieur, das ist völlig egal: Sein Wissen ist auf weite Strecken völlig unbrauchbar. In den meisten Fällen fehlt heute vom Fachlichen eine Berufsperspektive in den Bereichen, in denen man ausgebildet wurde. Wir können den politisch und charakterlich belasteten ihre Sünden vergeben, alles verzeihen und vergessen. Es wird nichts nützen; denn viele Menschen sind wegen ihrer fehlenden Fachkenntnisse nicht weiter verwendbar. Sie haben einfach nichts gelernt, was sie in eine freie Marktwirtschaft einbringen könnten“ (Baring et al.: 1991: 59).15

15 Hier handelt es sich um eine Aussage, die z.B. durch die verstärkte Abwerbung qualifizierter ostdeutscher Ärzte nach Westdeutschland oder ins Ausland und dem daraus

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Dieses Zitat ist sicherlich nicht in jeder Hinsicht generalisierbar, es verdeutlicht aber, dass in der DDR erworbene Qualifikationen nicht in vollem Umfang anerkannt waren: Es bezog sich nicht nur auf die mögliche politische Unzuverlässigkeit von Personen, die möglicherweise Helfershelfer einer Diktatur waren – diese Verfehlungen werden „vergeben“ – oder Absolventen von Ausbildungen, für die es definitiv keine Zukunft in der Bundesrepublik geben würde, z.B. Militärakademien oder Institute für „Marxismus-Leninismus“, es betraf alle. Wer dort aufgewachsen war, stand einer Marktwirtschaft unmündig gegenüber, galt als substanzlos, „ein hirnloses Rädchen im Getriebe.“ Es geht nicht um die Aufarbeitung der Diktatur, wer Fehler in der Vergangenheit begangen hat, solle sich dafür nicht rechtfertigen, sondern die DDR soll vergessen werden. Es ist nicht einmal das oft beklagte bequeme Entsorgen der DDR in einen Topf deutscher Sonderentwicklungen und besonders Diktaturgeschichten zu beobachten, sondern sie wird gänzlich ausgeblendet. Die Chancen innerhalb dieses institutionellen Umbaus waren relativ einseitig verteilt. Der institutionelle Umbau der DDR nach 1989 hatte bis auf wenige Ausnahmen – zu nennen ist die Linkspartei und die schnell abebbende Bürgerrechtsbewegung – keinen Raum für sich neu bildende Institutionen und Organisationen gelassen (Offe 1991: 78). Der ökonomische Aufschwung nach der Wiedervereinigung kam in erster Linie westdeutschen Unternehmern zugute, da es wenig Sonderregelungen oder gar eine Sonderwirtschaftszone in Ostdeutschland gab. 5% des DDR-Produktivvermögens ist in ostdeutschen Besitz übergegangen, Jens Bisky schreibt in diesem Zusammenhang von einem kollektiven Ausschluss der Ostdeutschen aus der Wirtschaft (Bisky 2005: 75). Für die Gründung kleiner, eigener Unternehmen fehlte einerseits das Eigenkapital, andererseits wurden neu gegründete und bestehende kleine Unternehmen durch die Bestimmungen der Gewerbeaufsicht enorm eingeschränkt. Ein kleiner Gründeraufschwung – der nach 1989 durchaus zu beobachten war – kann als ausgebremst gelten. Auch hier kann von besonderen Chancen für die Mitarbeiter westdeutscher Firmen ausgegangen werden, die nach 1989/90 in Ostdeutschland expandierten. In der Wahrnehmung der Bürger der ehemaligen DDR ist einerseits die Rede von einem Elitenaustausch, der vor allem Westdeutsche bevorzugt hat, andererseits ist von einer bemerkenswerten Elitekontinuität die Rede. Beide Vermutungen stehen in einem eigentümlichen Gegensatz. Aus diesem Grund soll diese Elitenzirkula-

resultierenden Fachkräftemangel in einigen ostdeutschen Regionen konterkariert wurde. Auch ein ostdeutscher Ökonom verfügt über Fähigkeiten, die in einer Marktwirtschaft von Interesse sein können: Man hat gelernt, stets unter widrigen und dauerhaft krisenhaften Bedingungen zu arbeiten.

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tion kurz dargestellt werden: Es kam zu einem Fachkräftewechsel, allerdings nicht in dem Ausmaße, wie es in dem obigen Zitat gefordert wurde, betroffen waren vor allem das Hochschulwesen, die öffentliche Verwaltung und die Ministerialbürokratie. Aus der Pensionierung der alten DDR-Eliten entstand ein Fachkräftebedarf, der der damaligen Absolventenkohorte besondere Chancen bot. In den Universitäten wurde ein erheblicher Teil der Hochschullehrer, die zu DDR Zeiten ihr Amt angetreten hatte, entlassen. Dies betraf nicht nur die in das SED-Regime verstrickten Personen, sondern auch viele Personen, die nach der Neustrukturierung „mangels Bedarf“ nicht berücksichtigt werden konnten (Hecht 2002: 61). Getroffen hat diese Umstrukturierung vor allem Geistes- und Sozialwissenschaftler. Ökonomen, Naturwissenschaftler, Mediziner usw. konnten eine neue Anstellung außerhalb der Universität finden, wenn auch oft mit einem geringeren Einkommen und Prestige. Allgemein lässt sich sagen, dass Naturwissenschaftler und Ingenieure ihre Karriere besser fortsetzen konnten als Sozial- und Geisteswissenschaftler. Wo in öffentlichen Verwaltungen „Generalisten“ gefragt werden, bzw. Personen, die mit den örtlichen Gegebenheiten vertraut waren, wurden auch oft Ostdeutsche berufen (Hoffmann-Lange 2002: 119). Eine Elitekontinuität ist vor allem auf der zweiten Ebene zu erkennen, im Bereich von Unternehmen und technischen Stellen in der öffentlichen Verwaltung. Die Nichtberücksichtigung der Ostdeutschen bei diesem Elitenaustausch hatte nicht nur die Begründung in einer möglichen politischen Unzuverlässigkeit. Selbst „ausgewiesene Regimegegner“ hatten oft nur eine Chance in der Politik oder in anderen „Delegationseliten“ (Hoffmann-Lange 2002: 121). Dieser Austausch betraf aber nicht nur die öffentliche Verwaltung und den Wissenschaftsbetrieb, sondern auch die Privatwirtschaft. Im Medienbereich kam es zu einem ähnlichen Wechsel: Viele ostdeutsche Zeitschriften wurden von westdeutschen Verlagen aufgekauft und sollten ein neues Image auch für eine westdeutsche Leserschaft bekommen. Dieser Imagewandel sollte vor allem durch den Einkauf westdeutscher Journalisten und Redakteure vorangebracht werden. Neue Chefredakteure haben einerseits vertraute Mitarbeiter zu der neuen Zeitung mitgebracht, andererseits alte Mitarbeiter entlassen, von denen man annahm, dass sie einem Imagewechsel des Mediums nicht unterstützen würden. Journalisten, die nicht durch Frühverrentung vom Arbeitsmarkt genommen werden konnten, wurden an die Peripherie gedrängt, z.B. in PR-Abteilungen. Hierfür ist nicht nur eine mögliche Verstrickung in das SED-Regime ausschlaggebend gewesen, sondern vor allem auch eine Fremdheit Ostdeutscher an öffentlichen Debatten in der Bundesrepublik (Bisky 2005: 184). So stellen meinungsführende ostdeutsche Journalisten nach 1989 eher die Ausnahme dar. Diese Entwicklung sorgte in Ostdeutschland für besondere Verbitterung. Das Erwerbsleben der ehemaligen Stelleninhaber hat kein natürliches Ende

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gefunden. Aus Sicht der betroffenen Stelleninhaber im öffentlichen Dienst war es oft unklar, welche Kriterien sie für die Übernahme untragbar gemacht haben. In dieses „Elitevakuum“ traten nun Westdeutsche ein. Ausgehend von den besonderen Chancen, die der Systemumbruch und der Wiedervereinigungsprozess geboten haben, beschreibe ich im Folgenden drei Akteursgruppen, für die der Wiedervereinigungsprozess eine besondere Relevanz besessen hat. Je nachdem, an welchen biographischen Stationen die westdeutschen Akteure zur Zeit des Systemumbruchs gestanden haben, haben sich für sie bestimmte Chancen aufgetan. 3.2.1 Die „Zaungästegeneration“ Eine besondere Chance tat sich in diesem Elitenaustausch für die Personen auf, die zum Zeitpunkt der Wende bereits ihre Ausbildungen abgeschlossen hatten und erste Berufserfahrungen vorweisen konnten. Diese Jahrgänge bilden die sogenannte Zaungästegeneration. Sie werden Zaungäste genannt, weil sie zu jung für die antiautoritäre Revolte waren, aber deutlich von ihr beeinflusst waren. Unklar bleibt zumeist, wie sich die Abgrenzung zu den Jahrgängen, die unter dem Label 89er beschrieben werden, darstellt. Bei der Frage nach einer post-68er-Generation lässt sich eine feine Unterscheidungslinie um den Jahrgang 1965 erkennen. Die Älteren gelten als politischer, ihre Prägung liegt im alternativen Milieu der Bundesrepublik der 70er Jahre, prägend waren Proteste bei Brockdorf und auch die Terrorhysterie in den späten 70ern. Sie nennen sich Zaungäste, weil sie die antiautoritäre Revolte der 60er Jahre am Rande miterlebt haben (vgl. Mohr 1992). Aus dieser Gruppe gibt es keine Selbstthematisierung als 89er, sie seien als maßgebliche Akteure im Wiedervereinigungsprozess kurz angesprochen. Das alternative Potenzial dieser Jahrgänge organisierte vor sich allem in der Partei der GRÜNEN, bei der SPD ist diese Generation unterrepräsentiert. Für die Angehörigen dieser Generation stellte sich im Erwachsenwerden die Frage, ob sie in die bürgerliche Gesellschaft einsickern oder sich von ihr abwenden und „aussteigen“ sollen.16 Die rund zehn Jahre Jüngeren gelten dagegen als pragmatischer und angepasster, sowohl von ihrer Selbstwahrnehmung als auch der Wahrnehmung durch die Älteren. Diese Unterscheidung alleine erscheint jedoch zu unspezifisch. Sehen wir uns die ökonomische und wohlfahrtsstaatliche Situation dieser Generation an: Diese Generation gilt als die erste enttäuschte Verlierergeneration des Wohlfahrtsstaates in der Bundesrepublik. Die Versprechen, die ihnen gemacht wurden, konnte die Gesellschaft nicht einhalten, ihr frühes Erwachsenenalter fiel in eine

16 Diese Frage stellt Matthias Horx in den 80ern (Horx 1989).

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deutliche Krise. Die Shell Jugendstudie 1981 wusste Folgendes über diese Generation zu berichten: „Kinder der deutschen Wohlstandszivilisation also? Gewiß – aber auch: eine Jugendzeit in der Krise. Energieschock, Arbeitslosigkeit, Kriegsangst, kalter Ost-West Krieg in Neuauflage, weltweite Wirtschaftskrise, Umweltkatastrophen, Zweifel am Sinn der technologischen Wachstumszivilisationen erreichen in den 80er Jahren auch die wohlbehütete bundesrepublikanische Industriekultur. Die Jugendzeit dieser Generation löst die Versprechen nicht ein, die in der Kinderzeit gemacht wurden. Es ist die Generation der Tendenzwende.“ (Fischer 1982: 81)

Lässt man die Ost-West Problematik der frühen 80er Jahre beiseite, liest sich der Ausschnitt wie eine treffende Beschreibung der aktuellen Jugendkohorte. In der Sozialisation wird vermittelt, dass erbrachte Leistungen belohnt werden, ein hohes Bildungszertifikat wird als Garantie für einen reibungslosen Berufseinstieg gesehen. Es ist die „Generation der Tendenzwende“: Man blickt nicht vollkommen vorbehaltlos in die Zukunft. Die gemachten Versprechungen sind nicht eingetroffen, Arbeitslosigkeit oder Prekarisierung bestimmen den Arbeitsmarkt. Hinzu kommen Zweifel am Sinn der technologischen Zivilisation. Wiederum lässt sich keine exakte Abgrenzung zu den zehn Jahre Jüngeren treffen. Die Zaungästegeneration stellt insofern eine Zwischengeneration dar, als dass die älteren Vertreter dieser Generation oft fälschlicherweise im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik den 68ern und die Jüngeren den 89ern zugerechnet werden.17 Beim Blick auf den Wiedervereinigungsprozess zeigt sich eine Besonderheit dieser Generation, die bei der Systematisierung hilfreich erscheint. Sie befanden sich in der Zeit vor und während des Mauerfalls in einer biographischen Warteschleife, die interessanten Posten waren durch Angehörige der 68er Generation besetzt. Erste besondere berufliche Chancen taten sich ab Ende der 80er Jahre im expandierenden privaten Rundfunk auf. Die Neubesetzung der Stellen der ehemaligen DDR-Elite im Zuge des Wiedervereinigungsprozesses war eine besondere Handlungschance, die sich für die Angehörigen dieser Jahrgänge auftat.18 Das durchschnittliche Alter der Richter in Ostdeutschland betrug Anfang

17 Tanja Bürgel (Bürgel 2007: 5) bezeichnet Reinhard Mohr als bekannten 68er. Die Abgrenzungsproblematik zu den Jüngeren zeigt sich bei Stephan Pannens Buch über die Mauerkinder, dass hier auch ältere zu den 89ern gerechnet werden, die Protagonisten einer „schleichenden Revolte“ um die Jahrgänge 1955-65 (Pannen 1994: 8). 18 Die Frage ob, und wenn ja zu welchen Spannungen es zwischen der politische Führung unter dem konservativen Skeptiker Helmut Kohl und den eher kritisch geprägten

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der 90er 34 Jahre (Pannen 1993: 222). Hier hatten auch Juristen eine Chance, die ohne diese besonders günstige Chance nie eine Einstellung im öffentlichen Dienst gefunden hätte.19 Für die nach diesen Jahrgängen kommenden Personen sowie für Ostdeutsche stellte sich die Situation nicht mehr so günstig dar. Einige konnten als Zöglinge der westdeutschen Leistungsträger berücksichtigt werden (Teitz 2002: 60). Ihre Wahrnehmung stellt sich jedoch deutlich prekärer dar. 3.2.2 Die ostdeutschen Oberstufenschüler der Wendezeit Für die Alterskohorte der Schulabsolventen der Wendezeit war der Mauerfall ein deutlicherer Einschnitt. Sie erlebten die Deklassierung ihrer Eltern, jede Biographie wurde zur Disposition gestellt, es ist von einer doppelten Entwertung die Rede, einerseits beruflich, andererseits im Sinne einer „Zusammenbruchsindividualisierung“ (Tietz 2002: 54). Bestehende Institutionen wurden abgewickelt bzw. dem westdeutschen System angepasst. Die komplette ostdeutsche Gesellschaft musste sich innerhalb weniger Monate auf das Leben in der Bundesrepublik nach Westvorbild einstellen. Bei ihrer Gestaltfindung waren sie auf sich selbst gestellt, da sich ihre Eltern selbst in einer Umbruchssituation befanden. Bernd Lindner charakterisiert sie deshalb als die „Generation der Unberatenen“ (Lindner 2003: 28).Von älteren Ostdeutschen hört man gelegentlich die Aussage, mit dieser Generation sei eigentlich „alles in Ordnung“, sie sei höchstens etwas zu ernst und zu geschäftig. Sie hatte weniger Zeit zu experimentieren und ein Lebensthema für sich zu finden. Eine Entwicklung, die in den westlichen Ländern als das Lebensgefühl der jüngeren Generation wahrgenommen wird, möglichst früh in verantwortungsvolle Positionen einzusickern (Bude 1991: 660) ist im Osten eine Entwicklung die gezwungener-

Wiedervereinigungseliten gekommen ist, kann an dieser Stelle nicht näher behandelt werden. 19 Für Richter und Staatsanwälte gilt in der Regel das Prädikatsexamen (mindestens „vollbefriedigend“) als Voraussetzung für die Einstellung. In den dieser Arbeit zugrunde liegenden Interviews wurde darauf hingewiesen, dass der Wiedervereinigungsprozess auch für Personen ohne herausragenden Abschluss Chancen eröffnet hat. Ähnliches gilt auch für Journalisten bei der Besetzung der neu gegründeten öffentlich Rechtlichen Rundfunkanstalten in Ostdeutschland. Anfang der 90er war kaum ein Abteilungsleiter beim Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg älter als vierzig, anders als beim benachbarten SFB. Der expandierende private Rundfunk Ende der 80er war auf der Suche nach Personen, die noch nicht durch die öffentlich-rechtlichen Anstalten vorbelastet waren (vgl. Pannen 1994: 169).

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maßen vonstattenging. Die wohlfahrtsstaatliche Problematik können sie zwar auf einer theoretisch-abstrakten Ebene nachvollziehen, eine Enttäuschung stellt sich – anders bei ihren westdeutschen Altersgenossen – nicht ein: Das Versprechen eines „immerwährenden sozialen Aufstiegs“ kennen sie nicht. Vielmehr lässt sich hier eine gewisse Gelassenheit beobachten, Krisensymptome einer Gesellschaft sind ihnen bekannt, werden aber angesichts der turbulenten Erfahrungen nicht als besondere Bedrohung empfunden (vgl. hierzu Fall 6). Aus Sicht der jungen Generation im Osten wurde der beschriebene Elitenaustausch oft als westdeutsche Kolonialisierung wahrgenommen. Sie selbst sind mittelbar davon betroffen: Bei der Neubesetzung von Assistenten und Mitarbeiterstellen berücksichtigten neu berufene Personen aus dem Westen oft Angehörige der eigenen Netzwerke, der beschriebene Elitenaustausch hat demnach Auswirkungen bis in die nächste Generation (Tietz 2002: 60). Dies ist ein Befund, der sich mit meiner Empirie deckt. In den von mir geführten Interviews wurde darauf hingewiesen, dass es kaum ostdeutsche Juristen in herausragenden Positionen gibt. Im Wissenschaftsbereich wird die Dominanz westdeutschen Personals als Ausdruck ungleicher Chancen wahrgenommen, da sich die Dominanz der westdeutschen Konkurrenz mindestens auf die nächste Generation reproduziert: Neuberufungen würden oft an die eigenen ehemaligen Assistenten vergeben, bei der Besetzung von Mitarbeiter- und Assistentenstellen wurden oft die eigenen Absolventen berücksichtigt. Ein oft genannter Grund hierfür liegt in der mangelnden Bekanntheit ostdeutscher Kandidaten bei Berufungsverfahren, andererseits mussten viele Qualifikationsarbeiten im Wiedervereinigungsprozess abgebrochen werden, weil die betreuenden Institute abgewickelt wurden, bzw. die betreuenden Hochschullehrer ihre Tätigkeit aufgeben mussten. Eine wesentliche Erfahrung in Ostdeutschland ist die Deklassierung der eigenen Eltern. Anders als in Westdeutschland konnten sie in prekären Zeiten ihres Lebens nicht darauf hoffen bis ins 30. Lebensjahr, oder darüber hinaus, von ihren Familien unterstützt zu werden und sie wurden so frühzeitig zur Selbstständigkeit gedrängt. Die Wiedervereinigung wurde von den damaligen ostdeutschen Studierenden und Oberstufenschülern vor allem als eine neue Chance wahrgenommen. Ihre Erfahrung ist von dem Ausbrechen aus dem stark reglementierten Bildungssystem der DDR geprägt: Man wählte mit 15 einen Beruf, die Ausbildung wurde vorbehaltlich der persönlichen Leistungen, dem Bedarf und auch dem erwünschten „gesellschaftlichen Engagement“ gewährt. Hier kam es zu der bereits beschriebenen Spannung zwischen alltagsweltlicher Modernisierung und Individualisierung und zunehmender Verregelung des Alltagslebens. Das Aufwachsen in der DDR war für diese Jahrgänge durch eine doppelte Prägung gekennzeichnet: Durch die politisch beeinflusste Schulbildung, die

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auch in scheinbar unpolitische Fächer wie Mathematik hineinspielte, als Gegensatz dazu durch das Westfernsehen, dass ungeschönt über die Probleme der DDR berichtete und Einblicke in das Leben im Westen gab (Davey 1987: 82). Über „Beziehungen“ und Verwandte aus dem Westen konnten begehrte Produkte aus dem Westen erworben werden, in „Intershops“ konnten zunächst für eine privilegierte Minderheit gegen Devisen Westprodukte erworben werden, was allerdings in der weiteren Entwicklung des Schwarzmarktes Vorschub leistete (Davey 1987: 94)20 Die Berliner Mauer und die Grenzbefestigungen stellten schon in früher Kindheit einen Anlass dar, ein kritisches Bewusstsein dem eigenen Staat gegenüber zu entwickeln. Der offiziellen DDR-Lehrmeinung zufolge sollte die Grenzbefestigung einen Schutz der DDR Bevölkerung vor Aggressionen des Westens darstellen, der tatsächliche Aufbau der Mauer ließ hieran bereits bei 10-12-jährigen Kindern Zweifel aufkommen: Wenn die Mauer einen Schutz vor dem Westen bieten sollte, müsste der Stacheldraht und das Mienenfeld auf der Westseite der Mauer sein und nicht im Osten (Davey 1987: 86). Aus dieser Situation entwickelte sich eine Art Doppelzüngigkeit: Obwohl es oft zu Gewissenskonflikten gekommen sein dürfte, lernten Kinder frühzeitig zwischen den Aussagen der Eltern und eigenen Erfahrungen, die den offiziellen Aussagen der Politik widersprachen, auf der einen Seite und der politischen Bildung in Schule und den Jugendorganisationen der DDR auf der anderen Seite zu unterscheiden. Verwirrung, wem nun zu glauben sei, ist eine Folge (Davey 1987: 82). Wie das Aufwachsen in der DDR „wirklich“ war, bleibt in der Selbstexplikationsliteratur umstritten: Obwohl das Westfernsehen häufig als eine Prägung genannt wird, ist der Erfahrungsraum in Ostdeutschland auch kulturell ein anderer. Dem Postulat einer ostdeutschen Sonderidentität stehen publizistische Versuche entgegen, die DDR-Sozialisation als eine stark durch die Einflüsse der westlichen Popkultur zu beschreiben. Sascha Lange schildert seine DDR-Jugend als die eines Bundesbürgers im Osten (Lange 2007). Obwohl der Systemumbruch für diese Gruppe – anders als ihre westdeutschen Altersgenossen, wo der Mauerfall oft medial vermittelt wahrgenommen wurde – Erfahrungen hinterlassen haben dürfte, bleibt die Rhetorik als 89er von Westdeutschen dominiert. Als eine Arbeitshypothese sei hier vorgeschlagen, dass die Oberstufenschüler der Wendezeit mit der Flakhelfergeneration vergleichbar sind. Sie sind in einer Diktatur aufgewachsen, von der sie nachdrücklich geprägt wurden, allerdings zu jung waren, um ernsthaft in diese verstrickt gewesen zu

20 Dies ist ein allgemeines Problem der DDR Führung, dass der Versuch über Liberalisierungen eine Stabilisierung herbeizuführen gerade eine Destabilisierung der DDR hervorrief.

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sein. Sie bauten eine innere Distanz zu diesem System auf. Dieser Vergleich wurde von meinen Interviewpartnern angesprochen21. Die Spannung zwischen der Individualisierung und Modernisierung der Alltagswelt einerseits und der institutionellen Verregelung hat eine doppelte Identität ausgebildet, die dazu geführt hat, dass der Systemumbruch 1989 vor allem als Befreiung und Öffnung eines neuen Möglichkeitshorizontes wahrgenommen wurde.

3.3 W ESTDEUTSCHLAND – A USWIRKUNGEN DER W ENDE UND DES W IEDERVEREINIGUNGSPROZESSES 3.3.1 Biographische Gestaltungschancen Die Selbstthematisierung als 89er geht im Wesentlichen von Personen aus, die in Westdeutschland zwischen 1966 und 1976 geborenen sind, eine besondere Aktivität ist bei den 1968-1971 Geborenen zu erkennen. Fraglich ist, welchen Einfluss die historische Zäsur gerade für diese Personen gehabt hat. Das Leben in den westlichen Bundesländern ist seinen gewohnten Weg gegangen und hat durch den Mauerfall und den Wiedervereinigungsprozess nur mittelbar eine Veränderung erfahren. Um an den besonderen Handlungschancen, die sich im Wiedervereinigungsprozess aufgetan haben, partizipieren zu können, waren sie in der Regel zu jung, sie befanden sich zu diesem Zeitpunkt noch in der Schule oder im Studium. Nach dem Ende der Schulzeit konnte eine biographische Gestaltungschance wahrgenommen werden. Es bot sich ein Studium an einer der neu gegründeten ostdeutschen Universitäten an, die durch prominentes westdeutsches Potenzial neu besetzt werden konnte und durch finanzielle Unterstützung aus dem Westen bessere Studienbedingungen als manche überfüllte West-Uni geboten hat. Neben den Studienbedingungen waren die Lebensbedingungen in Ostdeutschland für Personen interessant, die sich als kulturelle Avantgarde verstanden. Schrumpfende Städte und verlassene Industrie- und Gewerbestandorte geben den Raum sich einzurichten bei erschwinglichen Lebensbedingungen. Der Lebensmittelpunkt vieler Angehöriger kultureller Avantgarden wird nicht nach dem Kriterium eines Arbeitsplatzes gesucht, vielmehr wird ein Ort benötigt, der die eigene Kreativität anspornt (Vgl. Friebe; Lobo 2006: 139ff.). Das bekannteste Beispiel hierfür ist Berlin, aber auch Städte wie Leipzig und Dresden boten Raum für junge, kreative und gut ausgebildete Personen. Dieser Prozess ist in der Soziolo-

21 Diese Überlegungen beziehen sich auf Fall 6.

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gie als „Gentrifizierung“ bekannt, es wird ein unattraktives Quartier von „Pionieren“ erschlossen, die von den niedrigen Lebenshaltungskosten angezogen werden. Infolge dieses Zuzuges kommt es zu einer Aufwertung des Bezirks, er wird für einkommensstarke Personen interessant. Nicht nur das Interesse für die besondere Situation des Wiedervereinigungsprozess kann ein Motiv gewesen sein, in den Osten zu ziehen, sondern auch die Erfahrung Ostdeutschlands oder das Leben im Osten brachte oft ein vertieftes Interesse für die deutsche Geschichte mit sich.22 Anders als in anderen großen Metropolen ist Berlin durch eine stärkere Gegenwart von Geschichte geprägt. Der amerikanische Kulturanthropologe John Bornemann beschreibt seine Eindrücke von Berlin: „I am always struck by how much history I see: not the history of other centuries preserved as in a museum, but twentieth-century history. Berlin forces one to ‚be there‘-Dasein“ (Borneman 1991: 6).

Über das Selbstverständnis der westdeutschen Jugendkohorte bezüglich der deutschen Geschichte lassen sich keine eindeutigen Aussagen aufgrund der Literatur treffen. Es wird einerseits medial das Bild einer Übersättigung vermittelt, andererseits lässt sich bei der beschriebenen Altersgruppe eine historistische Selbstbespiegelung mit der Generation der Großeltern beobachten, besonders mit der Jugendgeneration der Weimarer Republik. Zu nennen ist ein neu aufkommendes Interesse für mehr oder weniger vergessene Schriftsteller wie Ernst Glaeser. Sein bekanntestes Buch „Jahrgang 1902“ wird von Christoph Amend als Generation Golf der 1920er Jahre bezeichnet (Amend 2003: 114). In diesem Zusammenhang ist auch Christoph Amends (durchaus lesenswerter) Versuch, eine Zusammenschau beider Generationen zu liefern, zu verstehen. Wie ich im Laufe der Arbeit zeigen werde, unterscheidet sich die Aneignung von Geschichte zwischen der westdeutschen und der ostdeutschen „Jugendgeneration“ der 1990er Jahre. 3.3.2 Politisches Prägeerlebnis Zu den Jüngeren wird diese Gruppe durch eine weitere Unterscheidungslinie getrennt, die um das Jahr 1971 auszumachen ist. Die Jahrgänge 1968-1971 können als ein aktiver Generationenkern beschrieben werden, der auf die Jüngeren und

22 Vgl. auch Aussagen, die DDR sei das „deutschere“ Deutschland gewesen, anders als die stärker am US-amerikanischem Vorbild geprägte BRD (Greiffenhagen; Greiffenhagen 1994).

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auch die Älteren ausstrahlt. Bezogen auf das Datum des Mauerfalls: Personen, die in dieser Zeit in der Oberstufe waren oder Abitur gemacht haben, erlebten genau in der Zeit eines persönlichen Umbruches den welthistorischen Umbruch. Das Zusammenfallen der Öffnung des Möglichkeithorizontes in der individuellen Lebenszeit fällt mit der Öffnung selbigen in der Epochalzeit zusammen23. In diesem Sinne durfte die Zeit ab 1989 für diese Jahrgänge eine besondere Wirkung hinterlassen haben. Beim Blick auf meine westdeutschen Interviewpartner fällt besonders der Anteil von Angehörigen der Partei der GRÜNEN auf. Vor dem Hintergrund der weiter oben beschriebenen Zivilisationskrise ist das eine etablierte Partei, die seit ihrer Gründung ein Reservoir bietet, Kritik an der Gegenwartsgesellschaft in die parlamentarische Demokratie zu integrieren.

3.4 A USBLICK

AUF DIE

F ALLSTUDIEN

In den ersten drei Fallstudien werden Personen, die zwischen 1968 und 1971 in Westdeutschland geboren sind, portraitiert. Zum einen hat es den Grund, dass aus diesem Personenkreis die aktivste Selbstthematisierung zu erkennen ist. Zum anderen bleibt offen, wo genau der Bezug der Generationenrhetorik zu dem Jahr 1989 besteht. Diese Frage soll anhand der konkreten Fälle näher beleuchtet werden. Der leitenden Hypothese dieser Arbeit folgend, dass die wesentliche Prägung auf einer Krise der Gegenwartsgesellschaft beruht, werden in den Fallstudien zwei Männer, beide Jahrgang 1971, vorgestellt. In beiden Fällen werden die neuen Verunsicherungen, das drohende Überflüssig-Werden potenzieller gesellschaftlicher Leistungsträger (vgl. Hark 2005) zum dominierenden Thema. Fall 1, der Radioredakteur Michael Kramer, vertritt eine dezidierte Kritik an der Gegenwartsgesellschaft, eine ironisch affirmative Lebensführung ermöglicht es ihm, diese Kritik beizubehalten, ohne in einen Handlungskonflikt zu kommen. Dem gegenüber steht in Fall zwei Timo Albrecht, ein Berufspolitiker, der sich in einem deutlichen Spannungsverhältnis zwischen der parlamentarischen Arbeit und seinem alternativen politischen Herkunftsmilieu bewegt. Bei der empirischen Befragung der westdeutschen 89er sind erstaunliche Ergebnisse aufgetreten. Man könnte vermuten, Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess besitzen allenfalls eine Relevanz als Medienereignisse, tatsächlich wurde von zahlreichen Beziehungen in die damalige DDR berichtet. Es sind viele Erfahrungen gemacht wor-

23 Die neuen Möglichkeiten lagen in der Neuaushandlung der internationalen Beziehungen, z.B. EU Osterweiterung. Ein bis heute andauernder Prozess, der seinen Ausgang im Zusammenbruch der damaligen Ostblockstaaten hatte.

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den, die aber nicht gemeinsam geteilt werden. Diese Erzählungen widersprechen nicht nur der gegenwärtigen Interpretation, nach der der andere Teil des Landes für die Jüngeren in der Bundesrepublik nicht interessant war, auch dem kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik sind diese Erzählungen unbekannt. Der dritte westdeutsche Fall portraitiert eine Politikwissenschaftlerin, die als Schülerin die DDR besuchte, das „Thema DDR“ ließ sie daraufhin nicht mehr los. Sie knüpfte zahlreiche Freundschaften und Beziehungen in die damalige DDR und fand auch beruflich ihren Weg als DDR – nach 1990 Ostdeutschland – Expertin. Der ostdeutsche Teil der Population ist von der Alterszusammensetzung heterogener, der Älteste ist 1970 und die Jüngste 1976 geboren. Schon anhand ihrer „äußeren Lage“ scheinen die ostdeutschen Fälle vielfältiger zu sein: Oliver Rieger (Fall 4) gehörte bis 1989 zu der Gruppe der „überzeugten Sozialisten“, was einen privilegierten Blick auf die DDR bedeutete, während Norbert Geck (Fall 5) aus einem alternativ-oppositionellen Milieu stammend, die DDR vor allem durch ihre Gängelung und Zumutung wahrgenommen hat. Carla Lindemann (Fall 6) hat wiederum eine besondere Geschichte zu erzählen: Sie wuchs in einem Sperrgebiet der ostdeutschen Seite an der innerdeutschen Grenze auf. Diese besondere Konstellation in ihrer Kindheit lässt bei ihr einen doppelten Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft erkennen. Die ostdeutschen Fälle scheinen also auf der lebensgeschichtlichen Ebene wie auch sozialstrukturell vielfältiger zu sein. Das Verbindende an der ostdeutschen Generationengestalt scheint relativ eindeutig die historische Zäsur zu sein, die allerdings in ihren Auswirkungen höchst unterschiedlich wahrgenommen wurde und daher nicht gemeinsam erinnert zu werden scheint. Vor der Interpretation der sechs Fälle seien einige grundsätzliche Anmerkungen zur Interpretation gemacht.

4. Fallstudien

Welche Fragen sind aufgrund der bisherigen Überlegungen an den Interviewtext zu stellen? Das bislang Gesagte klingt zunächst sehr theoretisch, aber diese Überlegungen dienen mir als Hinführungen zu Problemen und Widersprüchen, die sich auf jedes Leben mehr oder weniger deutlich herunter brechen1: Inwieweit kann man sein Leben langfristig planen, wenn Erwerbsarbeit nur in befristeten Arbeitsverhältnissen möglich ist? Wie kann ein erfülltes Erwerbsleben auch ohne die Aussicht auf eine Festanstellung aussehen? Auf wen oder was kann man vertrauen, wenn staatliche Sicherungsmaßnahmen zurückgebaut werden? Ist ein aufwändiger Lebensstil in Zeiten knapper Kassen individuell zu verantworten oder spart man lieber sein Geld? Wie können zwei Erwerbsbiographien mit Familie und anderen verbindlichen Lebensformen in Einklang gebracht werden? In diesem Zusammenhang ist von konkurrierenden Teil-Identitäten, die einander widersprechende Ziele verfolgen können die Rede, jedes für sich winkt mit einem eigenen Glücksversprechen (Thadden 1995: 28). Diese Probleme gehen über die individuelle Lebensplanung hinaus: Ist ein ressourcenaufwändiger Lebensstil mit dem Bewusstsein seiner mangelnden ökologischen Verträglichkeit vereinbar? Kaufe ich ein evtl. teureres Produkt aus einer nachhaltigen Bewirtschaftung? Neben der „Umwelt- und Ressourcenethik“ kommen auf der gesellschaftlichen Ebene geopolitische Fragen hinzu: Können die westlichen Gesellschaften weiterhin ihren aufwändigen Lebensstile angesichts globaler Ressourcenknappheit aufrechterhalten, oder riskieren sie damit das Auftreten neuer Konflikte? Verliert ein attraktives Urlaubsziel möglicherweise an Anziehungskraft, wenn es in einem Staat liegt, der massiven Menschenrechtsverletzungen auffällt und last not least: Ist dort die eigene Sicherheit angesichts der wachsenden Gefahr asymmetrischer Konflikte gewährleistet? Beliebte Reiseziele in bestimmten Regionen sind auch

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Helmut Plessner betont die Bedeutung von zivilisatorischen Prozessen, insbesondere das der Beschleunigung für das Thema der Generation (Vgl. Plessner 1985).

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beliebte Anschlagsziele. Diese Fragen wären zu umfangreich, sie in der vorliegenden Arbeit umfassend zu behandeln, sie sollen vor allem die Problematik verdeutlichen, die für jedes Leben in den westlichen Gesellschaften konfrontiert ist. Im Folgenden werden exemplarisch sechs Fallstudien vorgestellt, die die bisher gemachten Überlegungen anhand typischer Portraits von Protagonisten dieser Generationenrhetorik illustrieren. Persönliche Informationen wie der Wohnort, Name und der genaue Arbeitgeber wurden aus Gründen der Anonymisierung in den Portraits geändert. Generalisierbar sind die Aussagen meiner Interviewpartner in den Interviews dadurch zum einen, dass bestimmte Rhetoriken in der empirischen Untersuchung, aber auch in Alltagsgesprächen und der Lektüre von biographischen Essays dieser Generation wieder zu erkennen sind. Es kann auch angenommen werden, dass keine Einzelfälle beschrieben werden, denn auch für zunächst ungewöhnlich klingende Angaben wurden entsprechende Hinweise in anderen Interviews oder der Literatur gefunden. Die Häufigkeit einer Aussage ist kein Kriterium für ihre Generalisierbarkeit. Auch ein Fall, der nur einmal auftreten sollte, würde trotzdem Rückschlüsse über die Strukturen, in die er eingebettet ist, zulassen. Aussagen über die statistische Repräsentativität dieser Fälle können nicht gemacht werden, denn das Ziel dieses Kapitels ist es, das „Typische“ darzustellen. Es wird gefragt ob der skizzierte Fall einen Rückschluss auf die gesellschaftlichen Strukturen, in die er eingebettet ist, ermöglicht. Vor der Darstellung der ersten Fallstudie seien einige weitere Überlegungen zur Interpretation gesagt. Im Folgenden steht die Frage im Vordergrund, wie das Identifikationsangebot der 89er von den interviewten Personen aufgenommen wurde. Die Interpretation der Fälle lässt sich dabei von den Ergebnissen der diskursanalytischen Überlegungen leiten, die ich im ersten Kapitel beschrieben habe. Damit sich die Interpretation nicht allein auf ein Sammeln und Dechiffrieren von Symbolen beschränkt, soll die Interpretation den Eigensinn der Subjekte beleuchten: Im Vordergrund der Interpretation steht die Frage nach der individuellen Aufnahme dieses Interpretationsangebotes. Mit welchen Inhalten füllen sie das Label? Sind es kulturelle Themen, nehmen sich meine Interviewpartner als Verlierer des Wohlfahrtsstaates wahr oder hat die historische Zäsur 1989 für sie eine besondere Bedeutung? Bei welchen individuellen Erfahrungen tritt das Bewusstsein auf, diese Erfahrungen würden von den eigenen Altersgenossen geteilt und wie unterscheiden sie sich von denen der jüngeren oder älteren? Welche Probleme und Konflikte werden durch die Dichotomie 68/89 erklärt, die möglicherweise auf andere Konflikte zurückgehen, d.h. könnte die Dichotomie möglicherweise einen Konflikt verdecken? Ist diese Dichotomie möglicherweise nur die Rhetorik einer bestimmten Gruppe? Gibt es Protagonisten dieser Debatte, die diese Rhetorik auf eine andere, abweichende Art bilden? Werden Probleme der eigenen Generation

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beschrieben, die bereits vor der Zäsur zu erkennen waren? Für die Interpretation dieser Fälle sind zwei Rahmendaten wichtig, um den sozialen und historischen Kontext zu erfassen, in dem diese Rhetorik geäußert wird: Der Geburtsjahrgang und der Beruf. Der Geburtenjahrgang sagt etwas darüber aus, in welchem Alter man bestimmte Erfahrungen machen konnte, inwieweit hat jemand am gemeinsamen „Generationenschicksal“ partizipiert? Für die Westdeutschen stellt sich die Frage, ob die Wende zu einer besonderen beruflichen Handlungschance wurde? Wer war bereits alt genug, nach dem Fall der Mauer in den Osten zu ziehen oder beschränken sich die eigenen Erfahrungen der Wendezeit auf ein Aufwachsen in Westdeutschland? In Ostdeutschland stellt sich die Frage, welchen Einfluss die DDR-Institutionen auf das Leben der Heranwachsenden hatten. Den ein wenig Älteren meiner Interviewpartner stellte sich in Ostdeutschland die Frage, welche Zugeständnisse man an die SED-Diktatur machen wollte oder musste. Der Beruf stellt eine weitere wichtige Größe für die Interpretation dar, es kann bei Fragen des Wohlfahrtsstaates davon ausgegangen werden, dass es je nach dem professionellen Selbstverständnis zu abweichenden Bewertungen seiner Krise und den darauf reagierenden Umbauprozessen kommt. Sind z.B. viele Journalisten an prekäre Lebensphasen gewöhnt, dürften atypische Beschäftigungsformen und eine wachsende Bedrohung von Arbeitsplätzen auf Angestellte in der Versicherungsbranche bedrohlicher wirken, als auf diese. Es ist von einem Aufbrechen der bisherigen Vorstellung von Berufstätigkeit die Rede, der Beruf wird zum Job, die Erwartung, lebenslang ein- und dieselbe Tätigkeit auszuüben, zerbricht oder wird enttäuscht. Während bestehende Reglementationen in der Moderne als ein Problem wahrgenommen wurden, wird gerade jetzt ihr Wegfallen als Problem wahrgenommen. Es ist an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass nicht zur Disposition stehen soll, das „Projekt der Moderne“ zu entschleunigen oder zu beschränken, d.h. einem konservativen Projekt das Wort zu reden. Der Philosoph Charles Taylor wirft in diesem Zusammenhang die Frage nach den Fähigkeiten auf, die Errungenschaften der Moderne in einer angemessenen Art und Weise zu nutzen (Taylor 1994: 76f.). Das vordergründige Ziel ist es vielmehr, den Umgang mit den Errungenschaften der Moderne zu reflektieren. Diese Arbeit stellt nicht die Frage nach Lebenskonstruktionen – den latenten Regeln, die einem Leben zugrunde liegen – sondern es wird nach Fragen der Lebensführung, Lifestyle und Lebenskunst gefragt. Für die Interpretation wird in dieser Arbeit das Konzept der „Lebenskunst“, wie es von dem Erziehungswissenschaftler Thomas Ziehe beschrieben wurde, herangezogen. Es geht der Frage nach, wie man mit den Gestaltungschancen der eigenen Biographie umgeht. Thomas Ziehe beschreibt in einer ersten explorativen Erkundung die Frage nach Lebenskunst als die Frage nach der Lebbarkeit stilisierter Entwürfe. Implizit dreht sich dieses Konzept auch

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darum, die von dem Bild der Protestgeneration abweichende Lebensstile zu beschreiben, es sei an die in dieser Arbeit beschriebene Dichotomie 68/89 erinnert. Es geht nicht mehr allein darum, einen bestehenden Freiheitsrahmen auszuweiten, sondern es sind auch Tendenzen der Beschränkung zu erkennen, eine Neubestimmung von Fragen der Treue und Partnerschaft zum Beispiel ist nicht zwingend auf die Bedrohung durch AIDS zurückzuführen, sondern im Kontext einer Re-Ethisierung der Lebensführung zu verstehen. Obwohl die Frage nach „Tugenden“ auf den ersten Blick einen altertümlichen Eindruck hinterlässt, ist auch in der aktuellen sozialwissenschaftlichen Debatte ein verstärktes Interesse an ihnen zu erkennen (Vgl. z.B. Prisching 2001). Thomas Ziehe schlägt drei Modalitäten von Lebenskunst vor: Radikalität, Beweglichkeit und Stimmigkeit. Radikalität, diese ist zu verstehen im Sinne einer betonten Einseitigkeit: Ein Teil der eigenen Existenz wird kompromisslos entfaltet, ohne alternative Lebensplanungen ernsthaft zu berücksichtigen. Unter Radikalität kann man sich das Leben eines Künstlers vorstellen, der beim Verfolgen des Karriereziels nicht nur einige Entbehrungen in Kauf nimmt, sondern auch das Risiko an dem eigenen Lebensentwurf zu zerbrechen. „… man beigebt sich sozusagen in ein existenzielles Risiko, aus dem es sehr häufig auch keinerlei zurück mehr gibt“ (Ziehe 1991: 57). Diese Modalität erinnert an die Vorstellung, die Max Weber dem Wissenschaftler ins Stammbuch geschrieben hat: Man setzt sich einerseits einem materiellen Risiko aus, aber auch dem Risiko persönlich Schaden zu nehmen. Max Weber fordert für den Wissenschaftler diese Radikalität. Nur sich trotz dieser Risiken für den Wissenschaftlerberuf entscheidet, soll ihn auch wirklich ergreifen (Weber 1988: 589). Beweglichkeit bezeichnet – anders als die Radikalität – das spielerische wechseln-können zwischen Lebensentwürfen, dies sind die Lebensentwürfe eines post-modernen Optionensammlers, es wird nach Möglichkeit so gehandelt, dass sich entweder neue Chancen auftun, mögliche Einschränkungen die sich aus einem Lebensentwurf ergeben sollen vermieden werden. „Es ist sozusagen eine Identitätsverflüssigung, die Wert darauf legt, nichts zu tun, was unumkehrbar ist, aber nicht aus Rückversicherungsgründen, sondern weil gerade die Einseitigkeit als nicht hinreichend interpretiert wird“ (Ziehe 1991: 57). Es wollen mehrere Lebensentwürfe gleichzeitig verfolgt werden, auch gegensätzliche Seiten der eigenen Existenz werden hervorgehoben. Als Drittes bleibt die Stimmigkeit, ein auf innere Kongruenz angelegtes Lebenskonzept: Stimmigkeit ist das Ideal einer Vermittlung zwischen den ersten beiden genannten Modalitäten. Unter Stimmigkeit kann eine Selbstbeschränkung der möglichen Freiheiten fallen. Man nutzt nicht alle Optionen, um die Komplexität des eigenen Lebens zu reduzieren. Dies kann als die derzeitig „hegemoniale“ Modalität von Lebenskunst angesehen

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werden. Wie man sich mit dieser Problematik genau einrichtet, muss jedes Subjekt selbst klären.

4.1 W ESTDEUTSCHLAND 4.1.1 Fall 1: Der ironische Blick des „Anti-Experten“ Michael Kramer Michael Kramer ist in einer hessischen Mittelstadt aufgewachsen, nach Abitur und Zivildienst beim lokalen Wohlfahrtsverband begann er ein Studium der Musik- und Literaturwissenschaft in Marburg, das er erfolgreich mit dem Magisterexamen abschloss, darauf folgte ein Aufbaustudium der Medienwissenschaft. Schon während des Studiums arbeitete er als freier Journalist für das Radio und verschiedene Printmedien, wie er selbst sagt, „am Rande des Existenzminimums“. Nach Abschluss des Studiums war er für einige Jahre als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Medienwissenschaft der Uni Frankfurt tätig. Im Anschluss daran fand er eine Anstellung beim HR in Frankfurt am Main. Hier ist er als Radioredakteur für die Bereiche Heavy Metal und Punk zuständig, aber auch für die Gestaltung von Features zum Thema neue Medien. Ich habe ihn angesprochen, weil er in einem kritischen Zeitungsartikel über die 89er erwähnt wurde2. Wir treffen uns im Gebäude des HR in der Bertramstraße in Frankfurt. In seinem Büro fällt mir ein gut gefülltes Bücherregal sowie ein Poster einer bekannten Punkband auf. Michael Kramer ist auffallend groß und kräftig – er wirkt geradezu durchtrainiert. In der Interpretation wird dem Interviewanfang eine besondere Bedeutung zugeschrieben, weil hier die befragte Person sich ins rechte Licht setzen muss, unglückliche Aussagen wären hinterher nur schwer wieder gerade zu rücken. Als Einstieg für das Interview habe ich die Frage gewählt, wie das Label der 89er für ihn interessant geworden ist: M. K.: „Also es gab jetzt kein Erweckungserlebnis, dass ich dachte, ich bin jetzt ein 89er. Auf Dauer merkt man schon – also wenn man jetzt in der Oberstufe war – zu meinem Zeitpunkt war gerade die Wende 89 und danach ins Studium ging, war man im Studium immer mit anderen Generationen konfrontiert, also z.B. mit den 68ern oder also in meinem Fall Literaturwissenschaft, war ich da noch mit der Flakhelfergeneration konfrontiert und mit der Gruppe 47. Das waren alles Momente, wo mir ganz stark vermittelt wurde, hier gab es eine bestimmte Generation, die sich über ein bestimmtes gemeinsames Erlebnis definiert. Und implizit war da drin, wir haben eigentlich so richtig gar nichts. Wir sind nicht definiert.

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Aus Gründen der Anonymisierung wird an dieser Stelle keine Literaturangabe gegeben.

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Wenn ich dann überlegt habe, „Was sind wir?“ wusste ich’s nicht. Wahrscheinlich kann man doch den Anfang eines solchen Bewusstseins nicht erst/ nicht schon bei Leggewie ansetzen, bei den 89ern, sondern erst danach bei Florian Illies, Generation Golf: Dass da in irgendeiner Form die gemeinsame Erfahrungsgrundlage dargestellt war, wo man dachte: Ja OK, das ist tatsächlich etwas, was ich teile. Natürlich manche Sachen auch nicht, aber ja ich verstehe, dass Samstag Nachmittag in der Badewanne liegen mit einem Playmobilschiff und sich auf „Wetten dass …“ freuen tatsächlich Definitionsgrundlage meiner Sozialisation auch ist. Und ich glaube, zu dem Zeitpunkt hat man auch angefangen zu denken, ja, wir sind auch so was, eine Generation.“

Es war kein Erweckungserlebnis. Man hätte eine Aussage erwarten können, wie 1989 habe er angefangen politisch zu denken, oder Erzählungen, wie die damalige (noch) DDR nach dem Mauerfall erkundet wurde. Die Erfahrungen des Mauerfalls werden am Rande abgehandelt, man hat das gar nicht so einschneidend wahrgenommen, zu einem anderen Zeitpunkt des Gesprächs weist er kurz darauf hin, dass er zu der Zeit an einer Studienfahrt teilnahm – ohne Fernsehen und Radio – und die Nachricht vom Mauerfall erst relativ spät bekommen hat. Ob diese Erklärung überzeugt, sei dahingestellt. Unbestritten dürfte sein, dass der Mauerfall in diesem Fall keine wesentliche lebensgeschichtliche Relevanz besitzt, er bleibt ein Medienereignis. Man erinnert sich daran, wann und wo man davon erfahren hat, hat Erklärungsbedarf, wenn man es nicht rechtzeitig aufgenommen hat. Es werden keine Anstrengungen unternommen die Zäsur im Nachhinein zu rationalisieren. Die Umbruchsphase „Abitur“ im Leben des Erzählers, die mit einem welthistorischen Umbruch zusammenfällt, hätte eine solche Erklärung angeboten. Eine andere in diesem Zusammenhang häufig zu hörende Erzählung ist die der Wiederwahl eines „längst tot geglaubten“ Helmut Kohl3, die die Erwartung, dass eine rot-grüne Koalition die Bundesregierung stellen würde. Michael Kramer war damals im Umfeld der Jusos politisch aktiv und hat mit Oscar Lafontaines Kritik an den Wiedervereinigungsplänen sympathisiert. Die Kritik am Wiedervereinigungsprozess, dass sich die DDR-Ökonomie erst „erholen“ musste, bevor sie sich mit der westdeutschen Ökonomie zusammenschließen sollte, konnte er nachvollziehen. Von einer Enttäuschung darüber kann aber nicht die Rede sein. Auch die von ihm wahrgenommene Rückmeldung, dass im Ausland der Verlauf des Wiedervereinigungsprozesses als angemessen wahrgenommen wird, lässt ihn die Vorgänge nach 1989 gelassen sehen. Ist dies absolut kein Thema für ihn? Ging das Leben wirklich seinen gewohnten Gang? Auf mein Nachfragen räumt er zwar

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In dieser Arbeit wird am Beispiel eines 89er-Berufspolitikers diese Prägung durch die Niederlage eines längst tot geglaubten Helmut Kohls näher beschrieben. Vgl. Fall 2.

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ein, dass nach dem Mauerfall Fahrten in die Partnerstadt seines Heimatortes unternommen worden sind, aber die politischen Dimensionen des Wiedervereinigungsprozesses scheint er tatsächlich nur am Rande wahrgenommen zu haben. Je älter er selbst wird, umso mehr tritt diese Problematik in den Vordergrund, vor allem die Entwertung der Rentenkassen der Bundesrepublik als eine wesentliche Konsequenz, die ihn treffen wird. Das wohlfahrtsstaatliche Thema werde ich im Laufe der Fallstudie erneut und detailliert aufgreifen. Festzuhalten ist: Die historische Zäsur wird als eine mögliche Schicksalsgemeinschaft ausgeblendet, lediglich das Medienereignis würde bleiben, aber das wurde in diesem konkreten Fall versäumt. Die Darstellung der eigenen Generation in diesem Interview ist vielmehr einer Genealogie der Bundesrepublik verpflichtet: Michael Kramer hat sich in Schule und Studium mit Literatur befasst. Der behandelte Textcorpus wird von den Flakhelfern z.B. Grass und Walser geliefert; die Vermittlung dieser Texte wurde von den 68ern übernommen – seine Lehrer und Professoren dürften dieser Generation angehört haben. Ein Blick auf sein damaliges Umfeld scheint dies zu bestätigen. Im Zuge der Bildungsexpansion strebten vermehrt Schüler ein höheres Bildungszertifikat an, was die bestehenden (noch geschlechtergetrennten) Gymnasien am Ort überlastete, sodass Anfang der 70er Jahre als „drittes Gymnasium“ eine Neugründung in Michael Kramers Heimatstadt vorgenommen wurde. Michael Kramer besuchte dieses neu gegründete koedukative Gymnasium mit neusprachlichem und naturwissenschaftlichem Schwerpunkt. Das Lehrerkollegium dieses Gymnasiums dürfte von Angehörigen der 68er Generation dominiert gewesen sein, politisch werden vermutlich hinsichtlich der „Deutschen Frage“ die Verfechter einer Zweistaatlichkeit dominiert haben, möglicherweise anders als an den konkurrierenden konservativ ausgerichteten Gymnasien. In Schule und im Studium wurde ihm das Bild vermittelt, dass die maßgeblichen Akteure der Bundesrepublik als Generation auftreten würden. Sie können sich auf ein gemeinsames Erlebnis berufen, das Ende des Weltkrieges oder die antiautoritäre Revolte. Beide Gruppen definieren sich klar abgrenzbar durch gemeinsame Erlebnisse und es ist bei beiden Fällen eine klar erkennbare Trägergruppe vorhanden. Anders als bei Michael Kramers Generation. Die daraus resultierende Frage für Michael Kramer, wo seine eigene Generation steht, nach ihrer Identität, findet keine Antwort. An dieser Stelle sei an Ulrich Greiners Frage, „was habt ihr Neunundachtziger?“ (Greiner 1995: 291) erinnert: „Wir haben eigentlich so richtig gar nichts. Wir sind nicht definiert“ wäre zunächst die Antwort Kramers auf diese Frage. Zunächst steht keine Abgrenzung gegen eine ältere und jüngere Generation im Vordergrund, es ist die Gestaltlosigkeit seiner Generation, die vor allem im Vergleich zu den prominenten Generationengestalten auffällt. Die Suchbewegungen nach der Identität einer eigenen Generation werden durch

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Lektüre geleistet. Neben der Studie Leggewies, die zwar zur Kenntnis genommen wird, aber weniger Anklang findet, kommt „Generation Golf“ von Florian Illies eine besondere Beachtung zuteil. Als der kleinste gemeinsame Nenner werden gemeinsame Medien- und Konsum-Erfahrungen anerkannt. Er kann zwar einiges aus diesem Essay nicht nachvollziehen, aber als Grundlage der gemeinsamen Sozialisation leuchtet eine von Playmobil und ZDF geprägte Kindheit ein. Es wird nicht nur vieles wieder erkannt, vielmehr löst der Essay Generation Golf ein Rätsel: Michael Kramer fragt nach der seiner Generation zugrunde liegenden „Definition“ und „versteht“, dass die beschriebenen Erfahrungen auch die Grundlage seiner „Sozialisation“ sind. Es wird nicht nach einer zeitgeschichtlichen Schilderung der 80er, einem politischen Programm oder nach einer Lebenskunst gefragt, vielmehr wird der feuilletonistische Essay Generation Golf als eine Jugendstudie begriffen. Wenn Michael Kramer spricht, fällt eine Betonung des abstrakt Begrifflichen auf. Generation Golf wird nicht allein als eine gefällige Lektüre gelesen, die durch eine gewisse ethnographische Qualität besticht, die Lektüre beantwortet für Michael Kramer die Frage nach den Gemeinsamkeiten der ansonsten gestaltlosen eigenen Generation. An die Stelle von Krieg, Revolution oder Inflation wird eine „Schicksalsgemeinschaft“ von Medien- und Konsumerfahrungen gestellt, insbesondere die Prägung durch Dinge4. Welche Inhalte waren für Michael Kramer besonders wichtig? Ich frage, was ihm kulturell für seine Generation besonders typisch erscheint: M. K.: Jetzt mal unabhängig von 89 als politisch, sondern so als Generationenausdruck? M. G.: Genau. M. K.: Ja, ich habe ja Florian Illies schon erwähnt … wobei ich den Ansatz sehr, sehr gut fand, in der Ausführung nicht so toll. Also man muss nur das erste Kapitel lesen, dann reicht das auch. Es war ja auch mal nur ein Artikel und aus dem ist dann das Buch geworden. Ich glaube, was ein sehr wichtiges Buch war, war Generation X von Douglas Coupland. Weil da schon ein Lebensgefühl zum Ausdruck kam. Ich weiß nicht, ob sie das gelesen haben, Generation X? Wie man da rum sitzt und eigentlich nicht so richtig weiß, was das Ziel sein sollte, also diese Sinnhaftigkeit der eigenen Existenz, die früher so ganz stark einem mitgegeben wurde. Du fängst hier an und gehst da hin und unterwegs machst Du Konfirmation … Tanzstunde … Ausbildung … Meister … Rente. Das fällt ja ziemlich weg. Und das ist, was in diesem Buch ziemlich stark ausgedrückt wird, also dieses fast Existenzialistische, ich muss mir immer selbst Sinn schaffen, merke aber, dass dieser Sinn nichts bringt. Ich

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Die Frage, welchen Einfluss Artefakte auf unser Leben haben, ist in der Soziologie relativ neu. Die Frage, welchen Einfluss das Spielzeug – Lego oder Playmobil – auf die Sozialisation hervorbringen kann, wurde erst relativ spät aufgegriffen.

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kann bestenfalls … Also Selbstverwirklichung als Last … Das war so in Generation X so zum Ausdruck gekommen, dass man sagt, eigentlich möchte ich gar nicht diese Freiheit so unbedingt haben, andererseits aber doch und ich bin so ambivalent hin und her gerissen in diesem Zwischenstadium zwischen „ich will Selbstverwirklichung“ und „ich leide an Selbstverwirklichungsmöglichkeit“ und das Drumherum und auch das System so zerfasert, dass ich gar nicht so richtig einbetten kann. Also ich glaube das ist ein sehr wichtiges Buch auch gewesen. Also was ich damals auch interessant gefunden habe, auch wegen des Glossars, was er entworfen hat, also an der Seite. Was ja damals im Feuilleton als echte Mitschrift von existierenden Vokabeln verstanden wurde, was ja absoluter Blödsinn war, weil er sich das ja ausgedacht hatte. Eigentlich wollte er ja nur diesen Feuilleton-Ansatz parodieren, trotzdem hat er da Begriffe geprägt wie „McJob“ oder so, die ja immer noch klasse sind oder „urban slumming“, hat niemand verwendet, aber die fand ich damals ganz toll. Also dass man bei so Orten wie McDonalds abhängt und, dass es auch Konsumslums gibt in der Stadt, in denen man sich aufhält. Ich hatte sogar ganz bewusst, in Anlehnung an Douglas Coupland an der Uni dann Hausarbeiten bei McDonalds geschrieben. Mit meinem Laptop – mit meinem ersten, was ich mir gekauft habe – bin ich ganz explizit zu Mcdonald’s gegangen und hab mich da hingesetzt und hab da zweieinhalb Stunden getippt und Hausarbeiten geschrieben. Nur um diesen mich selbst zu feiernden Gestus, ich machte hier Hochkultur- im McDonalds. Genau das will ich aber beides miteinander verbunden wissen. M. G.: In einem total banalen Raum. M. K.: Genau. Ja.

Der Interviewer fragt nach den kulturellen Darstellungsformen der 89er Generation. Die Nachfrage Kramers fällt deshalb auf, weil der kulturelle Ausdruck seiner Generation unabhängig von der politischen Relevanz des 89er Umbruchs gesehen wird: Er versichert sich durch die Nachfrage, ob die Interviewfrage als eine Aufforderung zu verstehen ist über die literarische Verarbeitung des Wiedervereinigungsprozesses zu sprechen, über Ostdeutschland oder über das Aufwachsen in einer spätmodernen westlichen Industriegesellschaft. Die die Bundesrepublik betreffenden politischen Folgen der Wende und des Wiedervereinigungsprozesses würden unabhängig von dem (globalen) künstlerischen und kulturellen Ausdruck seiner Generation diskutiert werden. Hier wird noch einmal deutlich, dass 1989 für Michael Kramer nur auf einer theoretisch reflexiven Ebene interessant ist. Über die politischen Folgen des Wiedervereinigungsprozesses wird gesprochen, sie sind für ihn auf einer theoretischen Ebene erkennbar. Anschlussfähig sind für die Darstellung der eigenen Generation vielmehr der Essay „Generation Golf“ von Florian Illies und „Generation X“ des kanadischen Autors Douglas Coupland. Es wird deutlich, dass die Prägungen, die Michael Kramer als wesentlich ansieht,

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nicht aus der historischen Zäsur hervorgehen, sondern aus der Problematik spätmoderner Gesellschaften. Diese Interviewpassage lässt sich grob in zwei Abschnitte teilen: Zunächst folgt eine Schilderung der eigenen Lektüre, im Anschluss daran wird ein Lebensstil beschrieben, der von dieser inspiriert ist. Der beschriebene Roman „Generation X“ ist vor allem durch das an den Seiten gedruckte Glossar einflussreich: Quasi als kommentierende Randbemerkungen sind einige wesentliche Schlagworte der gegenwärtigen Gesellschaft beschrieben. Wie oft in Jugendstudien, in denen ein Glossar versucht die Jugend- oder Szenesprache zu entschlüsseln, wird ein Glossar mit wesentlichen Begriffen der Gegenwartssprache angeboten. Die Begriffe sind zwar teilweise frei erfunden, sie stellen also keine Mitschrift von bestehenden Vokabeln dar. Sie beschreiben aber treffend Sachverhalte und Probleme der westlichen Gegenwartsgesellschaft, weshalb sie auch oft zitiert werden, z.B. „Mc Jobs“ für Jobs ohne Prestige mit wenig Gehalt und mit geringen Karriereaussichten. Viele Probleme gegenwärtiger Gesellschaften werden in Generation X angesprochen, etwa die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich und ein damit einhergehendes Verschwinden des Mittelstandes: „Brazilification“ (Coupland 1995: 23)5. Wie bereits zu Anfang des Interviews aufgefallen war, liest er diese Literatur vor allem als Zeitdiagnose. Sie soll die Schattenseiten des spätmodernen Lebens darstellen. Diese Bücher werden nicht einfach „verschlungen“, sie eröffnen ihm einen kritischen Blick auf die Probleme der gegenwärtigen Gesellschaft. In der zitierten Interviewpassage tritt die Zeitdiagnose der Individualisierung mit ihren Vor- und Nachteilen hervor. Er fühlt sich ambivalent zwischen den Chancen, die die Individualisierung ihm bietet und den Verunsicherungen und Problemen, die sich hieraus ergeben. Biographien sind nicht mehr vorbestimmt: „… du fängst hier an und gehst da hin. Und zwischendurch machst du …“ Eine Regulierungsinstanz fehlt. Die beschriebenen Probleme entsprechen Zygmunt Baumanns „Unbehagen in der Postmoderne“. Während in der klassischen Moderne die Einschränkung durch Kontrollinstanzen beklagt wird, ist gerade der Wegfall dieser Regulierungen Teil des postmodernen Problems. Es gilt Heinz von Foersters Diktum, man solle so handeln, dass sich die Möglichkeiten des eigenen Handelns vergrößern. Alles, was die Handlungsfähigkeit einschränkt, sollte der postmoderne Optionensammler demnach möglichst vermeiden. Diese Interviewpassage zeigt, dass er den Anschluss an seine Generation eher in einem internationalen Kontext sucht, einschlägig erscheint hierfür

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Hartmut Rosa weist ebenfalls darauf hin, dass obwohl Coupland nicht den Anspruch erhebt, eine soziologische Studie vorzulegen, viele Probleme der Gegenwartsgesellschaft treffend beschrieben werden (Rosa 1999).

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insbesondere Literatur aus Westeuropa und Nordamerika, weniger die spezielle Problematik in Deutschland. Würde speziell nach 1989 gefragt, hätte einer der „Wenderomane“ – bekannt geworden ist „Helden wie wir“ von Thomas Brussig (Brussig 1996) – genannt werden können. Diese Literatur hätte Michael Kramer aber nicht genannt, um etwas über „seine Generation“ vermitteln zu wollen. Das Motiv des Unbehagens in der Postmoderne erkennt Michael Kramer für seine eigene Generation wieder. Der Wegfall von Regulierungsinstanzen ermöglicht einem individuellen Leben mehr Wahlfreiheiten, politische Entscheidungen werden revidierbar. Der Wegfall vormals bestehender Reglementierungen bringt die neuen Verunsicherungen mit sich. Das Urteil seiner westdeutschen Alterskollegen zu dieser Frage würde möglicherweise anders ausfallen. Von Generation X angeregt, wird bei Michael Kramer eine ironische Lebenspraxis entwickelt. Es gibt „Konsumslums“, in denen man „abhängt“. Anstatt im Café mit seinem Laptop zu sitzen – eine verbreitete Praxis – tippt er seine Hausarbeiten bei McDonalds. Dies erscheint „anstößig“: Man sieht zwar oft Menschen, die in der Öffentlichkeit mit ihrem Laptop arbeiten. Ein Grund hierfür ist, dass bei als knapp wahrgenommenen Zeitressourcen auch kleine Wartezeiten, z.B. in einem Café am Bahnhof genutzt werden, um noch schnell eine E-Mail zu versenden usw. Zum Arbeiten ausgerechnet zu McDonalds zu gehen, erscheint aber ungewöhnlich. Auch in Zeiten digitaler Kommunikationswege spielt der Ort, an dem gearbeitet wird, eine besondere Rolle. Im Café lassen sich z.B. interessante Kontakte für die eigene Arbeit herstellen, ein wichtiges Kriterium des Arbeitsortes ist, ob er ein inspirierendes Arbeitsumfeld bietet. (Friebe, Lobo: 2006: 150). Bei McDonnalds erscheint nichts von alledem der Fall zu sein. Es ist kein Ort, den man zum längeren Arbeiten nutzt, man bleibt nur so lange, wie man zum Essen benötigt. Die Bauweise eines solches Restaurants lässt in der Regel auch keine Nischen zu, in denen man sich einrichten kann, häufig wechselnde Kundschaft und ein gewisser Lautstärkepegel lassen keine richtige Arbeitsatmosphäre aufkommen. Auch scheint es unwahrscheinlich, dass hier ein interessanter Ansprechpartner für eine Diskussion über die Hausarbeit anzutreffen sein wird. Kurz: Es scheint überhaupt keine gute Idee zu sein, seine Hausarbeiten bei McDonalds zu schreiben. Macht man es doch, eignet man sich Teile dieses Ortes an, man nutzt die Infrastruktur subversiv. Hierher kommt man normalerweise, um „abzuhängen“, nichts zu tun. Der Ort selbst ist „nichts“. Die dort verfasste Arbeit ist dagegen „etwas6.“ Der Ort der Szene ist austauschbar, eine McDonalds-Filiale in Kassel unterscheidet sich

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George Ritzer beschreibt mit „Nichts“ nicht Nichts im ontologischen Sinne, sondern mit „Nichts“ bezeichnet George Ritzer die negative Nebenwirkung komplett durchrationalisierter Prozesse, wie „Austauschbarkeit“, „Seelenlosigkeit“ (vgl. Ritzer 2005).

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nicht von der an einem anderem Ort, ein Umfeld, dass gut zu dem bereits zitierten Optionensammler passen würde: Es ist austauschbar und beliebig, Bindungen werden zu diesem Ort nicht aufgebaut. Michael Kramer bewahrt sich seinen Eigensinn: Die geschilderte Szene ist ein ironisch überspitzt lakonischer Kommentar zu dem Geschehen um ihm herum. Die Revolte wird cool, anders als die heiße Revolte (vgl. Corsten 2001: 500ff.). In einem Fast-Food-Restaurant wird „Hochkultur“ betrieben, in dieser Szene werden mehr Gegensätze deutlich: Die Rolle des Technikpioniers und ein gewisser demonstrativ nach außen getragener Wohlstand – Laptops dürften zu seiner Studienzeit noch nicht selbstverständlich gewesen sein – stehen neben der Kritik an den Konsumslums. Der nach außen getragene Wohlstand ist aber ein prekärer, er ist auf seine Tätigkeit als freier Journalist angewiesen um sein Studium finanzieren zu können. Auch seine eigene Rolle steht zur Disposition: Er „feiert sich selbst“, indem er in einem Fast-FoodRestaurant seine Hausarbeit schreibt. Eine Aussage, die ihn spontan nicht besonders sympathisch erscheinen lässt. Man kann sich aufgrund der Schilderung einen eher arrogant wirkenden Intellektuellentyp vorstellen, der über den Dingen steht und die kleinen und größeren Probleme anderer Leute höchstens zur Belustigung wahrnimmt. Bei genauerem Hinsehen fällt an dieser Stelle eine Distanz zu sich selbst auf. Er bringt eine Tätigkeit, die Disziplin und Bedürfnisverzicht verlangt, mit der Welt des Konsumslums zusammen, und das nicht zufällig: er will genau beides verbunden wissen: Die Kritik an dem Massenkonsum wird mit dem Blick des Kenners, des Experten verbunden. Hier wird die popkulturelle Prägung, wie sie am Anfang des Buches mit der Schilderung von Medien- und Konsumfragen geschildert wurde, erneut deutlich. Ein wesentlicher Aspekt der Popkultur ist, dass sie zwei symbolische Blöcke zusammenführt: Amerika, dass sowohl entdeckt wie auch erfunden werden will und Europa, mit seinen literarischen Traditionen und komplexen sozialen Distinktionskämpfen (Hebdige 1994: 120). In der geschilderten Szene wird beides in ironischer Form zusammengeführt: Die „ernste“ europäische Literatur mit der Massenkultur, das Fast-Food-Restaurant steht paradigmatisch dafür, dass die gegenwärtige Gesellschaftsordnung ihre eigenen Probleme nicht lösen kann (Ritzer 2006: 36).7 Gleichzeitig verrät die popkulturelle Affinität zum Fast-Food-Restaurant eine egalitäre Haltung: Man muss kein Kenner elitärer Tischsitten sein, um einen Hamburger essen zu können (Steenblock 2008: 235). Er kann sich diesen Konsumslums nicht komplett entziehen, versucht sie sich anzueignen und zu kommentieren. Ein ironischer Blick hilft ihm, gelassen zu bleiben. Hartmut Rosa sieht im Versuch der Popkultur der 1990er Jahre, vor allem der „Techno-Generation“,

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Vgl. dazu auch die Ausführungen über die Krise des okzidentalen Rationalismus S. 113 ff.

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die Bestrebung, sich die Beschleunigungstendenzen anzueignen. Anstatt sich in einem sinnlosen Widerstand gegen diese aufzureiben, die affirmative Haltung resultiert möglicherweise aus der Erfahrung des Scheiterns früherer Bewegungen daran (Rosa 2005: 154). Steht Michael Kramer wirklich „über den Dingen“, wie es die erste Lesart nahe legt? Ein Teil seines Lebensunterhalts verdiente er sich als freier Journalist, wie er betont, am Rande des Existenzminimums. Themen wie Prekarisierung sind ihm bekannt, als ehemals freischaffender Journalist wurde er schon frühzeitig und vor allem unfreiwillig mit diesem Problem vertraut gemacht, lange bevor diese Problematik eine größere Bekanntheit erreichte. Früh trieben ihn auch Themen wie das der Postindustriellen Gesellschaft um. Im Laufe des Interviews erklärt er, 1989 sei tatsächlich Geschichte zu Ende gegangen – eher zufällig – die Geschichte der Industriegesellschaft ist nach 1989 zu Ende gegangen. Es wird in der folgenden Passage die historische Zäsur mit der Krise der Gegenwartsgesellschaft, insbesondere der Krise der Arbeitsgesellschaft in Verbindung gebracht. MK: „Und das hat vielleicht auch … also 89 ist dann tatsächlich wohl wirklich ein Geschichts-Ende gewesen und das ist auch … vielleicht nur zufällig fällt das miteinander zusammen. Aber kann man dann so sehen:… vielleicht das Ende der industriellen Revolution, das es dann so markiert, dass eine Industriegesellschaft auch aufgehört hat, in dem Moment, wo es kein Gegenbild mehr gab, wo es gesiegt hat und dann umgekippt ins: ‚ich weiß nicht mehr, was ich noch weiter machen soll mit meinem System‘. Das ist jetzt irgendwie hypertroph. Also das System ist hypertroph geworden, insofern ist das ein starker Ausdruck davon.“ M. G.: „Was ich daran spannend finde, ist, dass viele Sachen, die wir heute haben, schon angelegt sind in dieser 89er-Debatte. […] „Generation Praktikum“, man kommt nicht zwingend irgendwo unter, wenn man studiert hat. Was Sie auch meinten, die Erosion unserer traditionellen Lebensformen, die damit verbunden ist.“ M. K.: „Ja tatsächlich, ich halte nicht viel von Baudrillard, weil seine Begriffe immer so überstrapaziert sind, aber in diesem Punkt ist das so. Seinen Simulationsansatz sehe ich in solchen Bereichen tatsächlich verwirklicht. Das, was er sagt, trifft zu. So eine neomarxistische Kritik, die er aber auch hat, das bei der Generation Praktikum. Das Praktikum war mal – tatsächlich – der Einstieg in einen Beruf. Weil das war ein Ausprobieren. Das war ein ehrliches Angebot von beiden Seiten, ich probiere etwas aus und ihr probiert mich aus bei dem Arbeiten. Danach sagen wir, OK, das funktioniert ja ganz gut, dann können wir weitermachen, das Praktikum war ein Zusatz. Es war für die Firmen immer ein Zusatz. Das war, es läuft alles bei uns super und Du darfst jetzt mal ein bisschen ausprobieren, und wir probieren dich aus. Aber das ist auch so hypertroph geworden, dass viele Firmen jetzt nur noch über Praktika funktionieren, und die Praktikanten voll einbauen und ausbeuten und es

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ist kein Job mehr dahinter, weil es keine Jobs gibt, weil die ganzen Jobs durch Praktika erledigt werden. Also die Jobs sind abgeschafft und trotzdem ist die Rhetorik immer noch, das Praktikum ist eben berufs-vorbereitend, Einstieg und so weiter. Ist es aber nicht. Es ist schon das Eigentliche, das wird aber nicht mehr wie das Eigentliche bezahlt. Also es ist eine Simulation eines Praktikums uns es ist die Illusion von irgendwelchen Jobs, die da vorgehalten werden und das ist fatal, das ist aber auch beim Sozialdienst so. Es gibt doch wohl die Wehrpflicht nur noch, weil es Zivildienst gibt. Zivis sind ja nicht mehr nur Zusatz, wie es mal irgendwann gedacht war, sondern sind die Hauptsäulen, eine der Hauptsäulen im Pflegebetrieb. Das ist eine prägende Erfahrung unserer Generation. Ich weiß nicht, ob das mit 89 zu tun hat, also in diesem konkreten Zeichen, die DDR, die Mauer wird aufgemacht. Ich glaube es auch ist eine Koinzidenz: Man kann schon sagen, da fängt es ungefähr an.“

Michael Kramer beschreibt das Gefühl, irgendetwas stimmt in den gegenwärtigen Gesellschaften nicht, ein unbehagliches Gefühl wie in allen westlichen spätmodernen Gesellschaften. Arbeitsmarktpolitik wird so gestaltet, als können alle Erwerbsfähigen in den Arbeitsmarkt integriert werden, Vollbeschäftigung ist – der Rhetorik nach – weiterhin das vordergründige Ziel der Politik, die Realität sieht aber anders aus: Die Arbeit wird von Praktikanten gemacht, ganze Firmen funktionieren nur durch sie. Praktikanten wurden klassisch eingesetzt, damit sie neben dem Studium oder verschulten Ausbildungsgängen einen Einblick in die Arbeitswelt bekommen, vorbereitend auf ihre spätere Tätigkeit eingesetzt werden. Das Wort „Zusatz“ ist hier zentral. Ebenso wie Zivildienstleistende, sie wurden als Unterstützung in den Pflegebereich eingeführt, in vielen Bereichen würde es ohne sie nicht mehr funktionieren, sie müssen oft Aufgaben des regulären Personals übernehmen. Die Vorstellung einer Verlierergeneration wird hier in den Mittelpunkt gerückt: Der Betrieb in vielen Bereichen wird von Praktikanten und Zivildienstleistenden aufrechterhalten. Sie müssen das Eigentliche leisten, die erbrachte Leistung wird aber nicht wie das „Eigentliche“ vergütet. Die Rhetorik ist dieser Realität immer noch nicht gefolgt. Es wird ein Arbeitsmarkt künstlich aufrechterhalten. In Anlehnung an Baudrillard spricht Michael Kramer von Simulation. Obwohl er die Begriffe Baudrillards eher kritisch sieht, weil sie so überstrapaziert sind, könne man mit „Simulation“ diese Entwicklung gut beschreiben. „Das ist eine prägende Erfahrung unserer Generation“ fasst er diese Ausführung zusammen. Nicht die Zeitzeugengeneration des Systemumbruchs, sondern die erste Generation die massiv mit Umbaumaßnahmen des Wohlfahrtsstaates konfrontiert ist, dass ist eine von Kramers Vorstellungen einer Wir-Gemeinschaft seiner Generation. Losgelöst von der empirisch umstrittenen Praktikantenthema-

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tik8: Der Beruf als Lebensmittelpunkt wird aufgelöst, es werden vermehrt Tätigkeiten von Personen mit befristeten Verträgen – Aushilfskräften – übernommen. Hier zeigt sich die Problematik, die an früherer Stelle bereits skizziert wurde. Verbindlichkeiten werden aufgelöst, der Beruf wird zum Job. Neben der Tätigkeit, der das Hauptinteresse gilt, wird oft auch ein Brotjob notwendig, dieser sollte genug Freiraum für die eigentlichen Interessen lassen und gleichzeitig sollte immer klar sein, was der Brotjob ist und was das Ziel (Friebe, Lobo 2006: 101). Aus Sicht eines Optionensammlers ist diese Entwicklung positiv, man kann sich neue Tätigkeitsfelder erschließen, ist nie festgelegt und hat die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfinden. Die Schattenseite dieser neuen Freiheit, sein Berufsleben zu gestalten, ist Unsicherheit: Man weiß nicht, ob das Springen von Projektmitarbeit zu Projektarbeit in einem oder auch in zehn Jahren auch noch funktionieren wird. Eine hohe Qualifikation wird nicht zur Garantie für ein erfülltes Berufsleben. Im Gegenteil, die in der Ausbildung vermittelten Inhalte werden schnell entwertet. Michael Kramers Lebensgefühl ist das einer ständig drohenden Deklassierung, einer „geprellten Generation“, wie es von Pierre Bourdieu beschrieben wird. Die Bildung verspricht einen Status, der von der Arbeitswelt nicht eingelöst wird. Die Konsequenz kann eine antiinstitutionelle Haltung sein, wie sie auch bei Michael Kramer zu beobachten ist. „Am Ende mündet diese […] Form von antiinstitutioneller Stimmung in eine Bloßstellung der stillschweigend akzeptierten Voraussetzungen der gesellschaftlichen Ordnung, in eine praktische Aufkündigung der doxischen Zustimmung zu den von ihr propagierten Werten, schließlich die Verweigerung der für ihren von ihr vorgegeben Zielen und den vor ihr propagierten Werten, schließlich die in die Verweigerung der für ihren Funktionsablauf unabdingbaren Institutionen“ (Bourdieu 2006: 243).

Es fällt auf, dass Michael Kramer relativ wenig Worte über seine Studienzeiten verliert, zu Beginn des Interviews wird das Fach Literaturwissenschaft erwähnt, jedoch nehmen die Erzählungen über das Studium im Vergleich zu anderen Themen einen vergleichsweise geringen Raum ein. Auf meine Nachfrage hin bezeichnet er das Studium eher als enttäuschend, es wurde ihm während der Schulzeit als eine Art „Sehnsuchts-Ort“ beschrieben, schon dieses Versprechen hat sich nicht erfüllt. An dieser Stelle wird seine anti-institutionelle Haltung deutlich. Die Gruppe der gut ausgebildeten Personen, die nicht reibungslos in die

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Nach einer Studie des Hochschul-Informations-Systems (HIS) sind Kettenpraktika die Ausnahme, eine Prekarisierung der Arbeitswelt ist dennoch zu beobachten, nicht nur für Geisteswissenschaftler (vgl. Briedis; Minks 2007).

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Institutionen einsickern, bildet sich ein Reservoir an Anti-Experten, die sich durch eine bürokratie- und technokratiekritische Haltung auszeichnen, denen eine wachsende soziale Gestaltungsmacht zukommt (Hitzler; Koenen 1994: 450). Michael Kramer beschreibt den Zusammenhang zwischen historischer Zäsur und wohlfahrtsstaatlicher Krise in der Sprache des Medienwissenschaftlers: Es war eine „Koinzidenz.“ Zwei Prozesse treffen im Jahr 1989 zusammen: Der Mauerfall und das Ende der Industriegesellschaft. Auf eine einfache Geschichtsteleologie wie die Erzählung vom Ende der Geschichte will Michael Kramer nicht hinaus. Ihm ist klar, dass das Ende der industriellen Gesellschaft nicht unmittelbar mit der historischen Zäsur zusammenhängt. Es sind vielmehr zwei Prozesse zusammengefallen. Liest man die Erzählung Michael Kramers genau, fallen einige Aspekte auf, die mit dem Mauerfall mittelbar in Verbindung gebracht werden können. Nach 1989 hat sich die Rolle, die die Bundeswehr spielt, gewandelt. Sie ist keine reine Selbstverteidigungsarmee mehr, sie nimmt vermehrt internationale Aufgaben wahr. Es mehren sich Stimmen, die danach fragen, ob diese Aufgaben nicht besser von einer Berufsarmee wahrgenommen werden würden. Das in diesem Interviewtext angesprochene Argument, dass die Wehrpflicht nur deshalb aufrechterhalten wird, um weiterhin auf eine große Anzahl von Zivildienstleistenden zurückgreifen zu können, ist des Öfteren zu hören9. Zivildienstleistende werden in Zeiten knapper Kassen vor allem dafür genutzt, Lücken im Sozialsystem zu schließen, etwa im Pflegebereich. Sie werden eingesetzt, um wesentliche Aufgaben zu übernehmen, Bedarfslücken zu schließen und nicht allein als zusätzliche Hilfen beim Pflegebetrieb, wofür Zivildienstleistende eigentlich vorgesehen sind, während die Bundeswehr mangels Bedarf nicht mehr alle ihr zur Verfügung stehenden Wehrpflichtigen einzieht. Hieraus kann ein Gefühl der Ungerechtigkeit resultieren. „Das ist eine prägende Erfahrung unserer Generation“ fasst Michael Kramer diesen Sachverhalt zusammen. Auch hier fällt das Wort „Zusatz“ auf: Zivildienstleistende als zusätzliche Arbeitskräfte übernehmen die Aufgabe der eingesparten Arbeitskräfte. Diese Problematik lässt sich nicht in vollem Umfang auf die historische Zäsur zurückführen. „Pflegenotstand“ war bereits ein Thema der alten Bundesrepublik, nur die Vermutung, dass die Wehrpflicht aufrechterhalten wird, um auftretende Bedarfslücken schließen zu können, lässt diese Problematik besonders absurd erscheinen. Man könnte diesen Fall zusammenfassen, es würde hier ein Vertreter einer „Verlierergeneration“ vorgestellt. Ältere

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Es gibt mehrere Gründe, die für und gegen die Aufrechterhaltung der allgemeinen Wehrpflicht in der Bundesrepublik sprechen. Diese können und sollen an dieser Stelle nicht erörtert werden. Es wird an dieser Stelle angesprochen, weil es für den Fall Michael Kramers wesentlich erscheint.

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Generationen können auf zum Teil recht beachtliche Karrieren zurückblicken oder haben die Geschichte der Bundesrepublik maßgeblich beeinflusst. Die Generation, der Michael Kramer angehört, hat nichts von alledem. Würde er sich selbst auch als einen Verlierer sehen? Wie resümiert er seine Situation? M. G.: „Das fand ich auch interessant, dass die ‚89er‘ oder ‚Generation Golf‘ eigentlich eine Verlierergeneration sind, sie sind die Ersten, die schlechter gestellt sind als Generationen davor. Es heißt ja noch bei der Zaungästegeneration, wer ein bisschen lesen und schreiben konnte, ist im Medienbereich untergekommen und wer was ‚Anständiges‘ gelernt hat, brauchte sich eh keine Sorgen zu machen. Bei Reinhard Mohr gibt es ja diese Stelle, wo er meinte, wer schreiben konnte, ist zumindest bei einer Zeitung untergekommen. Und der Medienbereich, der auch nach 89 expandiert ist, da sind die dann reingerutscht. Und bei den 89ern sieht es schon schwieriger aus.“ M. K.: „Das ist auch so ein Punkt, weil ich vorhin über Simulation gesprochen habe, wir sind eine Verlierergeneration in dem Sinne, dass wir das nicht bekommen haben – wie sie eben beschrieben haben – dass die anderen bekommen haben. Andererseits gibt es nichts zu bekommen, insofern können wir nicht gewinnen. Wir haben uns genau so vorbereitet, aber dass wir jetzt als Verlierer bezeichnet werden, ist die Logik der anderen. Wir haben dann aber irgendwann festgestellt, wir lassen uns von denen nicht definieren als die Verlierer, weil die uns auch nicht zu Gewinnern machen. Wir haben alles das, was sie wollten, wir haben alles das gemacht, die ganzen Anforderungen, die sie gestellt haben, und sind trotzdem nicht zu Gewinnern geworden, weil es keine Gewinner gibt, und deswegen gibt es auch keine Verlierer. Wir steigen aus diesem System aus, und fangen an zu sagen, ich kann nur selber gewinnen oder verlieren in meinem kleinen System, was ich geschaffen habe.“

Auf meine Frage, dass im Vergleich zu anderen Generationen die 89er verhältnismäßig schlecht dastehen, kommt eine verblüffende Antwort. Ulrich Greiners Frage „Was habt ihr Neunundachtziger?“ wird an dieser Stelle erneut indirekt aufgegriffen. Die beschämende Frage wird nicht beantwortet, sondern zurückgewiesen. „Wir lassen uns von denen nicht definieren als die Verlierer.“ Die Rolle des Verlierers wird von außen herangetragen, sie wird nicht ausgesprochen, steht aber oft implizit im Raum: Waren andere in einem vergleichbaren Alter nicht weiter? Auf Vergleiche dieser Art will sich Michael Kramer nicht einlassen. Die Anforderungen, die sich ihm gestellt haben, hat er erfüllt. Schule, Studium, Zusatzausbildungen, Praktika usw. Alle diese Stationen waren für ihn eher eine Conditio sine qua non, die Bedingungen um angenommen zu werden. Ob diese Strategie letztlich zum Erfolg führt, bleibt ungewiss. Die für erbrachte Anstrengungen versprochenen Belohnungen sind ausgeblieben. Michael Kramer ist gut ausgebildet und belesen, aber seinen Erfolg im Beruf will er nicht allein darauf

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zurückführen. Das Ausbildungswesen legitimiert sich durch die Erwartung, dass ein hochwertiges Bildungszertifikat einen guten Einstieg in den Arbeitsmarkt bedeuteten würde. Es ist aber keine Garantie, sondern eine Voraussetzung. Er hat sich so vorbereitet, wie es erwartet wurde, die Belohnung kam aber nicht in dem erwarteten Ausmaße. Als Konsequenz wird die Rhetorik von Gewinnern und Verlierern zurückgewiesen, sie ist „die Logik der Anderen“. Für Karrieren seiner Generation gelten andere Maßstäbe, es haben sich andere Schwierigkeiten aufgetan, auf die sie nicht vorbereitet wurden, weshalb sich aus seiner Sicht eine Vergleichbarkeit ausschließt. Seine Lebenskunst folgt der Modalität der Stimmigkeit. Alles auf eine Karte setzen, auf eine Karriere allein zu bauen wäre nicht Michael Kramers Strategie. Er ist auch kein Protagonist einer Flexibilisierung, sondern er versucht beides zu verbinden. An dieser Stelle sei an die Szene aus dem Fast-Food-Restaurant erinnert: Er versucht Hoch- mit Populärkultur zu verbinden, Flexibilität und eine kontinuierliche Karriere. Die Rolle des Jobbers, der sich schnell in neue Themen einarbeiten können muss und des Intellektuellen, der den klassischen Bildungsansprüchen genügt. Die vom Interviewer beschriebenen Karrieren sind heute nicht mehr in diesem Umfang möglich, es besteht kein besonderer Fachkräftebedarf im Medienbereich, Arbeitsverträge sind oft nur noch befristet, ein Großteil der Arbeit wird von freien Mitarbeitern erledigt. Die entscheidende Diskontinuität des Arbeitsmarktes ist im Fall Michael Kramers die des Wiedervereinigungsprozesses. Der besondere Bedarf im Medienbereich, der mit der Expansion des privaten Rundfunks begann und der günstigen Gelegenheitsstruktur nach 1989, hat besonders beachtliche Karrieren ermöglicht. Der medial vermittelte Konflikt zwischen den „89ern“ und den „68ern“ ist in diesem Fall nicht nachvollziehbar. Stephan Pannen portraitiert in seinem Buch über die „Mauerkinder“ die Chefredakteure und Programmdirektoren, die nach dem Mauerfall beachtliche Karrieren gemacht haben, sie sind zu diesem Zeitpunkt zwischen 30 und 40 Jahre alt (Pannen 1994: 180ff), also rund zehn Jahre älter als Michael Kramer. Er ist genau genommen nur wenige Jahre zu spät gekommen, um diese besondere Gelegenheitsstruktur nutzen zu können. Ende der 1990er waren die begehrten Stellen bereits besetzt, das jugendliche Alter der Stelleninhaber und langfristige vertragliche Bindungen haben ein schnelles Aufrücken erschwert. Der eigentliche Konflikt liegt hier zwischen den Zaungästen und den 89ern und nicht zwischen 89ern und 68ern, wie es die verbreitete Generationenrhetorik suggeriert. Aus Sicht der Arbeitsmarktpolitik könnte nun argumentiert werden, dass Arbeitslosigkeit für Hochschulabsolventen statistisch gesehen – im Vergleich zu anderen Gruppen auf dem Arbeitsmarkt – kein Problem darstellt. Aus dieser Sicht scheint es unbegründet, von einer Verunsicherung auf dem Arbeitsmarkt zu sprechen. Die Arbeitsmarktproblematik äußert sich nicht im

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Sinne eines objektiv abschätzbaren Risikos – das ist für Hochschulabsolventen geringer – vielmehr in der mangelnden Berechenbarkeit der Karrieren. Es ist eine grundlegende Verunsicherung, die wahrgenommen wird. Auch qualifizierte Personen haben zum Teil Schwierigkeiten die gewünschte Anstellung zu bekommen. Welche Schritte konkret unternommen werden müssen, um ans gewünschte Ziel zu gelangen, bleibt oft unklar. Es wird kein Irrationalismus artikuliert, vielmehr wird die fehlende Berechenbarkeit des Überganges von der Ausbildung zur Erwerbstätigkeit kritisiert. Als grundlegende Erfahrung fällt wiederum die bereits beschriebene Krise des okzidentalen Rationalismus auf. Aus Sicht eines Arbeitsmarktexperten wären die Aussagen Kramers nicht nachvollziehbar, irrational. Verglichen mit anderen Bereichen ist ein Studium noch eine gute Vorbereitung für den Arbeitsmarkt. Aus statistischer Sicht wäre es kaum nachvollziehbar, von einer Verunsicherung zu sprechen. Aus der subjektiven Sicht eines Berufsanfängers schon: Ein hochwertiges Bildungszertifikat stellt sich immer mehr als eine notwendige aber keine hinreichende Bedingung für ein erfülltes Berufsleben dar. Ob eine Ausbildung wirklich die gewünschten Karrierepläne ermöglicht ist unsicher. Die beschriebene Verunsicherung beruht darauf, dass die gewünschten Karrierepläne nicht berechenbar sind. Es wird kein Irrationalismus vertreten, sondern der unserer Gesellschaftsordnung zugrunde liegende Rationalismus eingefordert. In dem Sinne ist Michael Kramer ein Anti-Experte, seine Haltung ist anti-institutionell. Wie ist der Fall Michael Kramers zu verallgemeinern? Aussagen wie zu Beginn des Interviews sind in Alltagsgesprächen häufig zu hören, nicht unbedingt in der Ausführlichkeit einer Interviewsituation, aber gemeinsame Konsum-Erfahrungen in der Kindheit sind oft Gegenstand von Alltagsgesprächen und ermöglichen die Vorstellung einer Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen. Wer die gleichen Sendungen gesehen hat, gehört dazu, es wird unterstellt, dass man auf eine ähnliche Geschichte zurückblicken kann. Die Vorstellung einer Generation beruht auf gemeinsam geteilten Medien und Konsumerfahrungen. Ein zweites wesentliches Thema, dass in dieser Fallstudie genannt wird, ist das gemeinsame wohlfahrtsstaatliche Schicksal: Die Generation des Erzählers wird unfreiwillig mit den Umbauprozessen der Arbeitswelt konfrontiert. Während ältere auf eine relative Karrierekontinuität zurückblicken können, stellt es sich für seine Generation anders dar. Es fällt auf, dass über diese Erfahrung relativ selbstverständlich gesprochen wird. Auf die nicht unberechtigte Frage, ob es sich um die Erfahrung eines bestimmten Milieus oder einer Berufsschicht in der Krise des Wohlfahrtsstaates handeln könnte – die der Journalisten – wird nicht eingegangen. In anderen Berufen geht das Leben möglicherweise weiterhin seinen gewohnten Gang oder Veränderungen werden noch einschneidender wahrgenommen. Für Verwunde-

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rung kann sorgen, dass eine Generationenrhetorik als 89er aus dem Westen die Ereignisse Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess nur am Rande behandelt. Das Label 89 würde man intuitiv zunächst den Protagonisten der Revolte in der DDR zuschreiben. Den ostdeutschen Altersgenossen von Michael Kramer dürfte seine Generationenrhetorik aber eher fremd sein. Benutzt wurde oder wird das Label der 89er vor allem in Westdeutschland, um sich in einer Genealogie der Bundesrepublik zu verorten, wie in diesem Fall. Konsumgüter aus dem Westen waren im Osten nicht komplett fremd, man kannte sie aus dem Westfernsehen, sie mussten mühsam über „Beziehungen“ beschafft werden. Der Inhalt dieser Rhetorik ist Ostdeutschen auf eine andere Art fremd. In diesem Fall klingen die Abstiegsängste der Mittelschichten an. Die Verunsicherungen nach 1989 waren tief greifender, jedes Leben hat sich im Zuge des Umbruches verändert. Auch noch Jahre nach dem Mauerfall erscheint die mögliche Deklassierung im Osten bedrohlicher. Das Thema des Mauerfalls besitzt für den westdeutschen Erzähler Michael Kramer demnach vor allem eine symbolische Relevanz, aber keine Lebensgeschichtliche. Er wird als ein Zeichen interpretiert, dass sich die Welt verändert hat. Das Ende der Industriegesellschaft wird als „Koinzidenz“ zum Mauerfall gesehen. 4.1.2 Fall 2: Timo Albrecht: Der institutionalisierte Erfolgstyp zwischen avantgardistischem Anspruch und Realität des politischen Systems Timo Albrecht wurde in Bad Homburg geboren, nach dem Abitur leistete er seinen Zivildienst in einem lokalen Altersheim und nahm im Anschluss ein Studium der Politikwissenschaft und Ökonomie in Frankfurt/M auf, dass er Mitte der 90er Jahre mit dem Magisterexamen abschloss. Er war – wie er sagt – schon immer politisch interessiert, war zunächst einige Zeit im links-alternativen Spektrum aktiv, bevor er 1989 mit 18 bei den GRÜNEN eintrat. Schon während des Studiums übernahm er erste Ämter auf lokaler und regionaler Ebene. Gegen Ende seines Studiums gelang es ihm, ein Landtagsmandat für seine Partei zu übernehmen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Wirtschaftspolitik, aber auch Jugend- und Innenpolitik gehören zu seinen Interessen. Ich habe ihn angesprochen, weil er zu den Unterzeichnern des „Staart 21“ Papiers gehört. Nach telefonischer Kontaktaufnahme mit ihm während seiner Bürgersprechstunde verabreden wir ein Treffen. Er empfängt mich im Konferenzraum einer Stiftung, es ist bereits Abend. Bei der Sitzung, an die unser Treffen anschließt, wurde zuvor über Fragen der Medienpädagogik diskutiert. Timo Albrecht ist mittelgroß, er trägt einen grauen Anzug mit einem farbigen Hemd darunter. Obwohl er einen

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langen Arbeitstag hinter sich haben dürfte, wirkt er relativ ausgeglichen. Rund um den Konferenzsaal herrscht geschäftiges Treiben, das Interview wird durch Aufräumarbeiten gelegentlich gestört. Er gibt sich routiniert und erweckt den Anschein, das Interview kurz abhandeln zu wollen. Als Politiker ist er beliebt und gilt innerhalb seiner Partei als „Erfolgstyp“, lediglich die eigene Parteijugend wirft ihm vor, zu angepasst zu sein. Möglicherweise ist das ein erster Hinweis für die Interpretation. Wiederum beginne ich das Interview mit der Frage, wie ihm klar geworden ist, dass das Generationslabel der „89er“ etwas über ihn aussagen würde: T. A.: „Ja gut, zu allererst mal, ich mein, ich glaube jede Bezeichnung als Teil einer Generation hat was mit ner gewissen Abgrenzung zu tun, oder dem Versuch zu sagen, warum man jetzt einer andern Generation angehört als die davor. Und gut, als Grüner sag ich immer, ham wir natürlich auch bestimmte Generationslabel, die uns gerne zugeschrieben werden. Ich bin 1989 bei den Grünen eingetreten, und selbst damals war es eigentlich so, dass – zumindest zahlenmäßig – die 68er nicht die größte Rolle gespielt haben. Trotz alledem war das ungefähr das, was den Grünen so zugeschrieben wurde: eine 68er Partei zu sein. Hat nie gestimmt, sondern ich hab die immer 77er genannt. Es gibt so die Gruppe der 68er, die der 77er und dann, und dann die der 89er. [Unterbrechung] Die der 89er, die dann entstanden ist. Das sind zwar auch historische Ereignisse, ja? … also 68 Studentenrevolte, 77 Deutscher Herbst, 89 Maueröffnung/ Wende, aber in aller Regel ham die 68er … also waren die wenigsten, die sich als 68er bezeichnet haben bzw. die man so unter diese Gruppe subsumiert hat, wirklich bei den Studentendemonstrationen dabei, die 77er waren 77 in aller Regel noch n bisschen zu jung, und ich würd die eher so unter Politisierung und danach so selbstverwaltetes Jugendzentrum subsumieren. Die 89er hatten mit der Zeitenwende wenig zu tun, sondern haben sie halt erlebt, so wie ich, als 18 Jähriger. Insofern ist dieses 89er eher als Abgrenzung entstanden und weniger als Definition eines gemeinsamen Ziels.“

Die GRÜNEN gelten als 68er Partei. Timo Albrecht nutzt den Intervieweinstieg zunächst, um diese weit verbreitete Einschätzung aus seiner Sicht gerade zu rücken: Die „zumindest zahlenmäßig“ größte Gruppe war die so genannte „Zaungästegeneration“ – Albrecht nennt sie die „77er“. Neben dieser Gruppe gibt es in der Partei eine „signifikante Minderheit“ von Angehörigen der Protestgeneration, eine herausragende Position in der eigenen Partei scheint er ihnen jedoch nicht absprechen zu wollen oder zu können. In welchem Zusammenhang stehen die drei genannten Gruppen? Den politischen Impuls haben die Protagonisten der antiautoritären Revolte gegeben. Im Anschluss daran entwickelten sich verschiedene

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Bewegungen und Strömungen, deren Hauptakteure eigentlich zu jung für die antiautoritäre Revolte waren. Diese Gruppe der rund zehn Jahre Jüngeren bildet auch die soziale Basis der Grünen Partei. Wer sich gegen Ende der 70er im Umfeld der Friedens- und Anti-AKW-Bewegung politisierte („Brokdorf“) und danach weiter aktiv blieb, fand seinen Weg zu den Grünen. Fast das gesamte linkspolitische Potenzial dieser Jahrgänge konzentriert sich auf diese Partei. Die „Zaungäste“ sind daher bei der SPD relativ schwach repräsentiert10 Als dritte Gruppe in dieser Genealogie erscheinen die 89er, die sich zunächst in Abgrenzung zu den anderen beiden Generationen definiert haben, als Zusammenschluss der Jungen in der Partei, ohne dass sie selbst zunächst eine politische Programmatik hinter dieser Bezeichnung postuliert hätten. Anstatt über seine eigenen Erfahrungen zu sprechen, wird auch hier eine Genealogie aufgebaut. Der Exkurs, dass die GRÜNEN keine 68er Partei sind, überrascht zunächst etwas, bei der genauen Lektüre dieser Textstelle wird klar, dass an dieser Stelle der Kontext beschrieben wird, in dem das Coming out der „89er“ in der Partei zu verstehen ist. Das Ende der 1980er Jahre markiert für die Grünen eine Zäsur: Es wurde von ihnen zu dem Zeitpunkt zunehmend als Problem wahrgenommen, Jungwähler anzusprechen. Die Aufgabe, sich von der Rolle als reine Klientelpartei ihres Ursprungsmilieus zu entfernen und als Volkspartei wählbar zu werden, stellt sich für junge Neumitglieder der Grünen Ende der 1980er Jahre besonders nachdrücklich. Eine Möglichkeit diese Problematik zu bewältigen liegt in der Etablierung einer öffentlichkeitswirksamen „signifikanten Minderheit“ innerhalb der eigenen Partei, der es gelingen würde, jüngere Wähler ansprechen zu können. Wie bei dem zuvor beschriebenen Fall Michael Kramers ist in der Darstellung der eigenen Generation ein wahrgenommener „Substanzverlust“ zu erkennen. Am Anfang dieser Genealogie stehen die 68er: Sie stellen als eine kleine Trägergruppe die Protagonisten der antiautoritären Revolte, sie haben an dem historischen Geschehen mehr oder weniger aktiv partizipiert, sie sind in der Grünen Partei zwar nicht die zahlenmäßige Mehrheit, sie dürften aber als politische Stichwortgeber Relevanz besessen haben. Die darauf folgende Generation ist die der „Zaungäste“. Diejenigen, die für 68 zu jung waren, von 1968 aber politisch beeinflusst und inspiriert wurden und die laut Timo Albrecht treffender mit dem Label „selbstverwaltetes Jugendzentrum“, d.h. alternative oder autonome Szene zu beschreiben sind. Diese Gruppe hat den Impuls der antiautoritären Revolte aufgenommen und auf eine breitere Basis gestellt. Aus dem Eindruck des nächsten politischen Einschnittes bildete sich dann nach dem Mauerfall die Gruppe der 89er. Weiter stellt sich die Frage, wer sich 89er nennen darf. Die Zeitzeugen des Jahres 1989 all-

10 Ein Angehöriger dieser Generation bei der SPD ist z.B. Sigmar Gabriel.

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gemein oder die Protagonisten der Revolte im Osten? Es fallen dies bezüglich absichernde Formulierungen auf: Die 89er verstehen sich in Abgrenzung zu den prominenten Generationen seiner Partei, ein gemeinsames Ziel gab es zu dem Zeitpunkt aber noch nicht. Die offene Frage, inwieweit das namensstiftende Ereignis eine Verbindlichkeit für die Träger dieser Generationenrhetorik besitzt, wird so beantwortet, dass diese Rhetorik auch für Westdeutsche, die keinen Bezug zur Mauer hatten, und diesen auch in Folge nicht hatten, dennoch Sinn macht: Ihren Namen haben die genannten Generationen von den politischen und historischen Großereignissen, die sie miterlebt haben. Die Zaungäste haben die antiautoritäre Revolte erlebt, waren aber zu jung, daran aktiv teilzuhaben. Sie sind durch die Terrorhysterie des „Deutschen Herbstes“ nachdrücklich geprägt und haben in der alternativen Szene politisch ihre Nische gefunden. Um prekäre Phasen in ihrem Leben zu überdauern, wurden biographische Warteschleifen und Nischen genutzt. Lockert man die Anforderungen, die an das historische Ereignis gestellt werden etwas, bieten Mauerfall und Systemumbruch für die Jüngeren einen Punkt, der als mögliches Prägeerlebnis anschlussfähig ist. So kann Timo Albrecht die Ereignisse um das Jahr 1989 als biographisch relevant einstufen. Man muss kein Protagonist des Mauerfalls sein, um sich als 89er bezeichnen zu können. Der Blick auf die Generationengeschichte des Zwanzigsten Jahrhunderts scheint ihn darin zu bestätigen: Die wenigsten Personen, die als 68er gelten, waren wirklich an den Protesten beteiligt. Wer sich als 89er bezeichnet, muss folglich nicht unbedingt am Mauerfall beteiligt gewesen sein. Diese absichernde Formulierung ermöglicht es ihm, seine Individualbiographie mit dem Ereignis Mauerfall zu verknüpfen. Der Bezug zu 89 wird als Anschluss an ein Referenzsystem wesentlicher Daten der Zeitgeschichte verstanden. Hier wird eine Abgrenzung zu den Jüngeren möglich, die nichts dergleichen vorzuweisen haben. Auf Fragen nach den persönlichen Erfahrungen rund um das Jahr 1989 kann er also gelassen reagieren. Lassen sich Überschneidungen zwischen Timo Albrechts individueller Geschichte und der welthistorischen Zäsur finden? Alternativ könnte bei diesen Jahrgängen auch von einer „Generation Kohl“ die Rede sein, da die Politik der Bundesrepublik der 80er Jahre für Albrechts politische Entwicklung maßgeblich gewesen sein dürfte. Ich frage nach, ob der Mauerfall für ihn ein Prägeerlebnis gewesen ist. T. A.: „Ja, ein gewisses Prägeerlebnis und natürlich, im Nachhinein muss man sagen, dass 89er natürlich auch eine gewisse – ja wie soll man’s ausdrücken – eine gewisse … doch am Ende sich nachträglich … erst nach diesem Datum 1989 entwickelnde Gemeinsamkeit gibt. Also keine Blockkonfrontation mehr, nicht mehr die Frage, welches Wirtschaftssystem funktioniert und welches nicht. Diese Frage ist beantwortet.

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[Unterbrechung] Also die Frage, die Wirtschaftssystemfrage ist entschieden- glaube ich- und das prägt die 89er. Es gibt halt unterschiedliche Definitionen und unterschiedlichen Glauben an die Segenskraft des Marktes, oder die Frage, wie viel Ordnungsrahmen er braucht und wie viele Leitplanken, aber niemand der 89er würde behaupten, dass er glaubt, dass Planwirtschaft besser funktioniert als Marktwirtschaft. Und ich glaube, das ist durchaus was, was uns von den 77ern – zumindest in deren früher Jugendzeit – unterscheidet.“

Die anfangs etwas leer erscheinende Generationenrhetorik wird in diesem Abschnitt mit Inhalt gefüllt: Die eigene Generation unterscheidet sich von den älteren dadurch, dass sie zu keinem Zeitpunkt ernsthafte Anhänger des Sozialismus waren. Sie haben das bestehende Wirtschaftssystem nie infrage gestellt. Anders als die „Zaungäste“ hatten Timo Albrecht und seine Altersgenossen in seiner politischen Biographie keine Möglichkeit, diese Frage zu stellen. Der Anfang ihrer politischen Biographie fällt mit dem Ende des kurzen 20. Jahrhunderts 1914-1991 (Eric Hobsbawm) zusammen. Früheren Generationen stellte sich die Frage nach Sinn und Unsinn der Marktwirtschaft ernsthafter. Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ist diese Frage jedoch endgültig geklärt. Aber auch in den 80er Jahren war die Krise der DDR fühlbar gewesen. Neben der Erfahrung des Zusammenbruchs der DDR kann das Staatsversagen in Westdeutschland zu der kritischen Haltung gegenüber der Planwirtschaft geführt haben. Diskussionswürdig bleibt für Timo Albrecht, welche Regulierungen der Markt braucht, jedoch grundsätzlich ist die Überlegenheit des Marktes für ihn erwiesen, abweichend von der Auffassung der Älteren in seiner Partei – zumindest in deren Jugend. Die 89er sind politisch früher gereift als die älteren Generationen. Raum für politische Experimente bitten sie sich nicht aus, die wesentlichen Fragen sind entschieden. Überzeugt diese Aussage? Ein wirklicher inhaltlicher Unterschied zu den Älteren liegt nicht vor. Es sei an die Kritik am „Staart 21 Papier“ erinnert, es würde darin keine neue Problematik vorgestellt, sondern lediglich die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre wiedergegeben (Wagner 1998: 84). Die Aussage, dass die Marktwirtschaft gegenwärtiger Gesellschaften ihre Überlegenheit bewiesen habe, erscheint als reine Plattitüde. Der bloße Hinweis auf das Versagen staatlicher Steuerungsversuche ist kein Argument für das Funktionieren des Marktes, zumal auch aus Timo Albrechts Lebenserfahrung die Möglichkeit bestünde, Marktversagen zu thematisieren. Die Aussage, dass mit dem Scheitern der DDR das Thema Sozialismus für immer abgeschlossen ist, sei dahingestellt, denn das Scheitern der DDR 1989 hätte möglicherweise auch die Chance eröffnet, die sozialistische Utopie neu zu diskutieren. Diese Frage wurde nicht sachlich entschieden, sondern vielmehr im politischen Diskurs der Bun-

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desrepublik. Andererseits ist einzuwenden, ob es wirklich des Zusammenbruchs der DDR bedurft hätte, um die Problematik der real existierenden Systeme zu erkennen. Die politischen Aussagen in diesem Interviewabschnitt erscheinen wenig originell. Nach außen hin wird die Abgrenzung zu den Älteren gesucht, die Programmatik des „Staart 21“ Papiers sucht aber gerade den Abschluss an die etablierten Stimmen im politischen Diskurs. Politik wird als avantgardistisch angekündigt, inhaltlich ist jedoch kein Unterschied zu anderen Positionspapieren der etablierten Parteien zu erkennen. Von einer besonderen Programmatik dieser Generation kann nicht die Rede sein, zumal der erste Widerspruch aus der eigenen Parteijugend kam (Wagner 1998: 82). Einen Einblick in die weitere Prägung eröffnet er im Gespräch, als es weiter um die Generationenfolge innerhalb der eigenen Partei geht: Ich frage alternativ zu dem Label der „77er“ nach dem der „Zaungäste“, als eine Generation die eigentlich zu jung war, um 68 dabei gewesen zu sein. Die Antwort auf diese Frage stellt die Vorstellung einer Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen aufschlussreich dar: T.A.: „Ja, es ist eine ganz gute Beschreibung. Leute, die gerne dabei gewesen wären, aus biographischen Gründen nicht konnten und … Wobei, naja, also ich behaupte mal, auch bei den 68ern, habe ich ja schon gesagt, die wenigsten von denen, die sich als solche bezeichnen würden, waren wirklich auf der Barrikade. Insofern ist das eher ne Bezeichnung für ein bestimmtes, ja für ein bestimmtes Lebensgefühl oder bestimmtes prägendes Erlebnis oder etwas, was man halt geteilt hat. Und ich glaube, was doch deutlich bei den 89ern, wie gesagt, Leute die 18 waren 1989 – so wie ich – bin 71 geboren, was es da natürlich schon so als Unterschiede gibt, in Bezug zu früher, ist, dass das so die erste Generation war, die, wenn sie beispielsweise studiert haben, wenn wir ehrlich sind, ich meine diejenigen, die studieren, das sind ungefähr 25 % der Bevölkerung, aber die sind dann eigentlich in solchen Labeln meistens gemeint, die nicht mehr sicher sein können, dass sie auf jeden Fall einen Job bekommen, wenn sie fertig sind. Also, lange bevor man das ganze Generation Praktikum genannt hat, gab es halt so ein bestimmtes Gefühl dafür, dass man halt nicht mehr automatisch irgendwo unterkommt. Das sind durchaus so prägende Sachen, die über die Frage, wo dann halt, die Frage Mauerfall oder Zusammenbruch des Ostblocks einfach nur ein Synonym dafür ist, dass sich die Welt verändert hat.“

Wieder kommt der Hinweis, dass nicht alle 68er wirklich an den Protesten beteiligt waren, was ihm erlaubt, die Gemeinschaft derer, die einer Generation angehören, zu erweitern. Neben der Zeitgenossenschaft eines historischen Ereignisses wird eine Mentalität, ein Lebensgefühl beschrieben. Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess sind Symbole, dass sich die Welt verändert hat. Das Gefühl ist so unspezifisch, dass eine Vielzahl von Wahrnehmungen diese Aussage zu be-

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stätigen scheint. Das Datum 1989 wird an dieser Stelle mit seinem eigentlichen Lebensthema gefüllt: Dem Leben in einer sich (immer schneller) verändernden Welt. Ein Symptom dieser Veränderung ist die ökonomische Benachteiligung der eigenen Generation im Vergleich mit den Älteren. Am Ende von Albrechts Erzählung kommt er auf das Thema einer Prägung durch die Krise des Wohlfahrtsstaates zu sprechen: Anders als die Älteren hat seine Generation die Erfahrung gemacht, dass das Studium keine Garantie für eine erfüllte Berufskarriere bedeutet, lange bevor diese Problematik „Generation Praktikum“ genannt wurde. Die „signifikante Minderheit“ von 25% der Bevölkerung, die ein Hochschulstudium absolviert hat und die Trägergruppe dieser Generationslabels in der Regel darstellt, wird mit neuen Verunsicherungen konfrontiert. Der leere Signifikant „89“ wird an dieser Stelle seiner Erzählung mit der wohlfahrtsstaatlichen Thematik gefüllt. Wer Ende der 80er, Anfang der 90er ein Studium aufnahm, tat dies in Erwartung schlechterer Karriereaussichten als Ältere es taten. Auch wenn sich diese Aussage nicht empirisch nachvollziehen lässt – prekäre Beschäftigungsformen sind in der Bundesrepublik schon vor 1989 beobachten – stiftet der Mauerfall das Bewusstsein, in neuen Zeiten zu leben. Diese Veränderungen nach 1989 wurden in Westdeutschland vor allem in Form eines Beschleunigungsschubes beschrieben. Die beiden Rhetoriken, die in dieser Erzählung zu beobachten sind – die der historischen Zäsur und die Problematik des Wohlfahrtsstaates – schließen sich prinzipiell aus: Während die eine Rhetorik erklärt, dass nach dem Systemumbruch die wesentlichen Fragen geklärt sind, eröffnet sich jetzt ein Problem, dass offensichtlich nicht gelöst werden kann, bzw. für die keine spontane Lösung präsentiert werden kann. Die zur Erlangung eines hochwertigen Bildungszertifikats notwendige Bedürfnisunterdrückung wird durch die zu erwartende Verbesserung der eigenen sozialen Lage legitimiert. Es kommt zu einem gefühlten Bruch dieses Versprechens, die Folge ist ein Legitimitätsverlust dieser Gesellschaftsordnung. Wurde zu Anfang des Interviews der Glaube an die Segenskraft des Marktes als eine Gemeinsamkeit innerhalb dieser Generationengestalt hervorgehoben, wird an dieser Stelle der Erzählung die Wahrnehmung von Krisensymptomen der Gesellschaft betont. Der Arbeitsmarkt kann viele der Absolventen nicht reibungslos integrieren, Praktika und andere biographische Warteschleifen werden nicht mehr als Chance verstanden, wie es die rund zehn Jahre Älteren getan haben (Bude 2000: 299) sondern als existenzielle Bedrohung11.

11 Vgl. hierzu die in den letzten Jahren vermehrt erscheinenden Praktikantenromane (Richter 2006, Incorvaria; Rimassa 2007, Christ 2009). Ein häufig anzutreffendes Motiv in dieser Literatur sind die Unfähigkeit für die Zukunft zu planen angesichts prekärer Berufsaussichten.

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Timo Albrecht scheint diesen Widerspruch nicht zu erkennen. Es wird die Problematik des Politikbetriebes deutlich. Die Aufgabe der Politik beschränkt sich auf die Korrektur dysfunktionaler Nebenwirkungen, in einem anderen Interview wurde diese politische Praxis in der Bundesrepublik als „pragmatisches Durchwurschteln“ bezeichnet, was insbesondere Helmut Kohls Regierungsstil gekennzeichnet habe. In diesem Sinne erscheint es fraglich, ob ein eigener politischer Stil in Anspruch genommen werden kann. Es wurde bereits angedeutet, dass Vertreter der eigenen Altersgruppe nicht mit diesem nach außen getragenen pragmatischen Stil einverstanden sind. In dieser Altersgruppe ist eine Polarität zu erkennen, denn der von einigen Vertretern postulierte Pragmatismus ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Christopher Gohl kritisiert dieses Politikverständnis in einem kurzen Text insofern, dass ein drohender seelenloser Pragmatismus die Folge sein könnte. Kritisiert wird, dass Pragmatismus nicht als mögliche Lösung dieser Probleme verstanden wird, sondern als ein grundlegendes politisches Konzept. Den wesentlichen Problemen der Gegenwartsgesellschaft, wie Terrorismus, die Herausforderungen der Globalisierung und einer drohenden Umweltkatastrophe („Klimawandel“) kann mit einem „seelenlosen Pragmatismus“ nicht begegnet werden (Gohl 1999: 27). Was bedeuten diese Überlegungen aus der politischen Theorie für diese Fallstudie? Das Problem des Arbeitsmarktes wird von Timo Albrecht zwar richtig erkannt, es wird aber kein Lösungsvorschlag unterbreitet. Alles geht seinen gewohnten Gang, nur die Ereignisse, auf die die Politik reagieren muss, treten beschleunigt ein. Die Aufgabe der Politik ist es, schnell auf diese Probleme zu reagieren. Timo Albrecht ist zu sehr den Spielregeln des Politikbetriebes verpflichtet, als dass er diesen Widerspruch erkennen könnte. Als seine Stärke erscheint, dass er neue Probleme auf die politische Agenda setzen kann, bei der Bearbeitung dieser Probleme erscheint er weniger originell. Seine Altersgruppe wird auch als die der Kinder der Kohl-Ära bezeichnet. Welche Relevanz besitzt Kohl für ihn? Die 89er haben die Wende erlebt, wie er eingangs hervorhob. Dieses Ereignis wird im westdeutschen politischen Diskurs deutlich mit der Person Kohls in Verbindung gebracht. Es stellt sich die Frage, wie Timo Albrecht die Wende erlebt hat. Im weiteren Gespräch kommt das Kohl-Thema zur Sprache: „… ich kann da nur für mich sprechen. Weil ich schon immer politisch interessiert war, ich empfand die Wende – die ja verbunden war mit der triumphalen Wiederwahl eines schon völlig abgeschriebenen Bundeskanzlers Helmut Kohl – jedenfalls aus westdeutscher Sicht, was die westdeutsche Innenpolitik angeht – irgendwie als ungerecht. Ich war niemals ein Anhänger der DDR, so zu sagen, oder auch nur in irgendeiner Form jemand der irgendwie

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der SED oder diesen ganzen Typen da in irgendeiner Form, irgendeine Sympathie entgegen gebracht hätte und ich kann mich ziemlich genau daran erinnern, dass ich mich sehr gefreut habe, als rund um den 40. Geburtstag der DDR da die Proteste losgingen. Und das auch toll fand, dass die Gegendemonstranten da mit Rosa Luxemburg Zitaten und ähnlichen, so zu sagen, die mit ihren eigenen Waffen versucht haben zu schlagen. Aber als das dann innerhalb von Monaten umkippte zu „Deutschland einig Vaterland!“ und „Helmut! Helmut!“ und D-Mark Rufen, da weiß ich noch, dass das für mich also ein wirklicher Schock war. Und gut, anderen wird es anders gegangen sein, aber bei mir war das so, für mich war die DDR ein unbekanntes Land und das, was dann da war … Natürlich war jeder ergriffen an dem Abend der Maueröffnung, und … Aber diese Wiedervereinigungseuphorie hat natürlich einen bestimmten Teil, also habe ich damals nicht nachvollziehen können. Im Nachhinein habe ich verstanden, was damals das Problem der westdeutschen Linken war, dass sie sozusagen einfach für dieses Gefühl überhaupt keine Antennen hatten und deswegen notgedrungen, so zu sagen, die triumphale Wiederwahl von Helmut Kohl das Ergebnis war. Aber zu sagen, das war glaube ich ein Punkt, das hat zumindest einen bestimmten Teil von Leuten, die das damals schon politisch bewusst verfolgt haben, ist eine gemeinsame Erinnerung oder ne gemeinsame Erfahrung.“

Timo Albrecht hatte ein durchweg kritisches Verhältnis zur DDR. Sympathien für die SED Führung gab es keine, denn die SED-Diktatur hat Personen, die ihm politisch nahe gestanden haben, eher unterdrückt. Ein Zusammenschluss von systemkritischen Gruppen und Initiativen bildete die Gruppe „Bündnis 90“, die sich später den Grünen angeschlossen hat. Die Partei der GRÜNEN gehörte vor 1989 neben den Kirchen zu den wenigen westdeutschen Gruppen, die Kontakte zur DDR-Opposition unterhalten haben und dadurch auch eine gewisse gesamtdeutsche Kompetenz besaßen. Ausgerechnet dieser Vorsprung hat sich tragischerweise nach dem Mauerfall nicht ausgezahlt. Die GRÜNEN wie auch die Mehrheit der DDR-Bürgerrechtsbewegung strebten in ihrer Mehrheit zunächst eine zweistaatliche Lösung an. Nationalstaat war ein Thema, das politisch als „abgehakt“ galt. Die Jahrgänge, die in der Partei der GRÜNEN die Gruppe der 89er bildete, wuchsen in politisch vorbestimmten Bahnen auf. Die deutsche Einheit war ein nicht nur ungeliebtes Thema, sondern vor allem ein unrealistisches politisches Ziel. Neben den konkreten politischen Zielen war das Thema deutsche Einheit negativ besetzt: Für junge Parteimitglieder der GRÜNEN in den 1980er Jahren wird das Thema der Wiedervereinigung „reaktionär“ konnotiert gewesen sein. Die politische Programmatik, die aus ihrer Sicht richtungweisend gegolten haben dürfte, lag vielmehr auf der friedlichen Koexistenz beider deutscher Staaten. Aus dieser Vorgeschichte heraus müssen die Ereignisse nach dem 09. November 1989 wie ein Schock gewirkt haben. Der Machtverlust der Bür-

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gerrechtsbewegung wie auch der Stimmverlust der GRÜNEN bei der Bundestagswahl 1990 lassen sich als Konsequenz der mangelnden Sensibilität für die Wiedervereinigungseuphorie und den Stimmungsumschwung in Hinblick auf die deutsche Frage interpretieren. Diese Erzählung gibt Timo Albrechts individuelle Meinung wieder: Absichernde Formulierungen wie „… ich kann da nur für mich sprechen.“ oder „anderen wird es anders gegangen sein“ sind ein wesentlicher Teil dieser Erzählung. Sie zeigen wiederum, dass der Mauerfall und der Systemumbruch mehr oder weniger individuell wahrgenommen und erinnert werden. Die Lektüre dieser Textstelle erscheint vom Inhalt relativ eingängig: Die GRÜNEN, stellvertretend für die westdeutsche Linke, konnten einer Wiedervereinigungseuphorie nicht viel abgewinnen. Auch die ostdeutsche Bürgerrechtsbewegung rieb sich an der Frage, ob man für oder gegen die Wiedervereinigung sei, auf. Die Folge war ein politischer Popularitätsverlust, die verlorene Wahl war ein Schock. Diese vermutlich generalisierbare Einschätzung wird als Timo Albrechts Privatmeinung dargestellt. Warum diese Einschränkung? Ist es „nur“ Timo Albrechts private Erfahrung? Dagegen spricht, dass es vielen anderen genau so ergangen sein wird, vor allem in seiner eigenen Partei. Bei einer Kundgebung anlässlich des Mauerfalls vor dem Schöneberger Rathaus in Westberlin fehlten auf dem Podium Vertreter der „Alternativen-Liste“, die zu dem Zeitpunkt des Mauerfalls einen Teil der in Berlin regierenden Koalition (Rot-Grün) stellte. Im Laufe dieser Veranstaltung wurde Kohl schließlich ausgepfiffen. Der Historiker Andreas Wirsching vermutet, dass die Anhänger der GRÜNEN als Teil der pfeifenden Menge bei dieser kontroversen Veranstaltung anwesend waren (Wirsching 2006: 650f.). Also dürfte diese mangelnde Sensibilität dem Gefühl der Wiedervereinigung gegenüber nicht alleine Timo Albrechts Problem gewesen sein. Es würde sich für dieses Thema anbieten, von den Erfahrungen seiner Generation zu sprechen, Timo Albrecht dürfte mit diesen Problemen nicht alleine stehen. Seine Erzählungen von der DDR als fremdem Land, dem man leidenschaftslos gegenüberstand, um dann von den Ereignissen 1989 überrascht zu werden, hört man auch bei seinen westdeutschen Altersgenossen. Warum spricht er hier nur für sich, anstatt Anschluss an seine Altersgenossen zu suchen? Denkbar wäre, dass dieses Thema für Timo Albrecht heikel ist, und deshalb vorsichtshalber eine abgeschwächte Formulierung gewählt wird. Als Politiker, der auf Popularität setzt, kann ihm eine strittige Aussage zu dem Thema viel Schaden zufügen. Die möglicherweise Schaden bringenden Fehlinterpretationen seiner Aussagen hat er aber sofort ausgeschlossen. Er war nie ein Sympathisant der DDR oder der SED. Lediglich die Wiedervereinigungseuphorie hat er in diesem Maße nicht nachvollziehen können. Hier sind Erinnerungen an die historische Zäsur zu beobachten, die sich mit denen vieler Anderer decken. Erfahrungen, die dennoch individuell

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bleiben und nicht geteilt werden. Eine mögliche Erklärung, warum diese Ereignisse nicht gemeinsam geteilt werden, ist, weil sie in der aktuellen politischen Debatte der Bundesrepublik keinen Anschluss finden. Die Frage, wie die Wiedervereinigung politisch bewertet werden sollte, wurde von der Mehrheit anders beantwortet als von dem linksalternativen Milieu, dass die GRÜNEN zu diesem Zeitpunkt dominiert haben. Eine Kritik am Wiedervereinigungsprozess wird im Nachhinein als annachronistisch dargestellt, eine Demonstration gegen die Wiedervereinigung wird als die letzte Demo von 1968 beschrieben (vgl. Bisky 2005: 106). Prominente Wiedervereinigungskritiker Oskar Lafontaine und Patrik Süßkind lassen den Schluss aufkommen, die Kritik am Wiedervereinigungsprozess sei die Politik einer einzelnen Generation12. Folgt man der Zahlenlogik der Debatte um die 89er, stellen sie den Antipol zu den „wiedervereinigungskritischen“ 68ern dar. Anschlussfähig wäre demnach eher eine wiedervereinigungsfreundliche Haltung. Da die Rhetorik um die 89er vor allem auch in „nicht-mehr“ beinhaltet, ist zumindest die Infragestellung bisheriger politischer Überzeugungen Teil dieser Rhetorik. Eine Kritik am Wiedervereinigungsprozess könnte als Teil einer gestrigen politischen Einstellung interpretiert werden. Mögliche Konsequenzen wären ein Verlust an politischer Glaubwürdigkeit. Auch die avantgardistische Haltung Timo Albrechts könnte infrage gestellt werden. Liegt nur ein politisches Kalkül vor? Obwohl es in der Selbstexplikationsliteratur kein großes Thema ist, wird der Mauerfall und Systemumbruch als wesentliches Ereignis an einigen Stellen aufgegriffen: Stephan Pannen berichtet von einer Zusammenkunft mit Oskar Lafontaine, in der Pannen nach seiner persönlichen Einschätzung des Wiedervereinigungsprozesses gefragt wurde. Seine Antwort war, er könne zwar die Probleme, die eine Einigung mit sich brächte, auf der sachlichen Ebene nachvollziehen, seine Generation würde die Wiedervereinigung aber vielmehr als Chance empfinden, Geschichte zu erleben (Pannen 1994: 16). Der Mauerfall ist eine Chance, aus dem langweiligen Leben der Bundesrepublik ohne „große Geschichte“ auszubrechen. Die Ereignisse nach 1989 erschienen als Ausweg aus dem langweiligen Alltagsleben unter Kohl. Eine Kritik am Wiedervereinigungsprozess ist demnach nicht allein aus politischen Gründen anachronistisch, sondern weil die eigenen Bedürfnisse verkannt werden. Folgt man dieser Logik, erscheinen die Kritiker des Wiedervereinigungsprozesses

12 Bei genauem Hinsehen lässt sich die Frage nach der Bewertung des Wiedervereinigungsprozesses nicht allein auf die Frage zurückführen, welcher Generation Kritiker und Befürworter der Wiedervereinigung angehören. So gibt es z.B. bei der Flakhelfergeneration den Wiedervereinigungskritiker Hans Magnus Enzensberger und auch den „Macher der Einheit“ Helmut Kohl.

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als nicht „up to date“. Der Berufspolitiker, der eine avantgardistische Haltung für sich beansprucht, unterschlägt dieses Problem lieber und stellt Kritik am Wiedervereinigungsprozess als seine Privatmeinung dar, obwohl diese durchaus von anderen geteilt wird. Das Problem liegt vielmehr in der Differenz zwischen dem politischen Zeitgeist der Bundesrepublik und der Bewertung dieser Ereignisse in Timo Albrechts politischem Herkunftsmilieu. Timo Albrecht hat ein avantgardistisches Politikverständnis. Das erstrebenswerte Ziel seiner Politik ist es, neue Themen auf die Agenda zu setzen. Avantgarde ist eine Gruppe, die notwendige gesellschaftliche Veränderungen vorantreibt im Bewusstsein, dass die Zeit hierzu reif ist. Wer aktiv am Wiedervereinigungsprozess partizipierte, konnte nicht nur „Geschichte erleben“, sondern es taten sich besondere Karrierechancen auf, der Wiedervereinigungsprozess ging mit einem plötzlich auftretenden Fachkräftebedarf einher. Timo Albrecht war hierfür zu jung, er erlebte Mauerfall und Wiedervereinigungsprozess noch im Studium. Diese Chancen taten sich für die Personen auf, die bereit waren, die Probleme anzupacken. Eine Kritik am Wiedervereinigungsprozess zu artikulieren dürfte auch in dieser Hinsicht nicht erstrebenswert gewesen sein. Es fällt die Formulierung auf, „… wie das innerhalb von Monaten umkippte.“ Die Proteste, die den Systemumbruch in Mittel- und Osteuropa ins Rollen brachten, gaben für viele auch die Hoffnung, es würde auch einen Demokratisierungsschub für die übrige westliche Welt geben. Diese wurde nicht erfüllt. Die politischen Themen der damaligen Zeit – wie das der multikulturellen Gesellschaft – wurden zurückgesetzt, an ihre Stelle trat das Thema der Wiedervereinigung,13 die Hoffnung auf Demokratisierung wurde enttäuscht, die vormals revoltierenden DDR Bürger zogen sich ins Private zurück und überließen Kohl das Feld. Das tot geglaubte Thema Nationalstaat kehrte auf die politische Agenda zurück: „Deutschland einig Vaterland.“ Zu denken dürfte ferner eine Welle rechtsgerichteter Gewalt in den ersten Jahren nach 1989 – vor allem in den neuen Bundesländern – gegeben haben. Der Versuch, politische Veränderungen zu betreiben, wird mit der Realität des pragmatischen „Durchwurstelns“ in der Bundesrepublik unter Helmut Kohl konfrontiert. Diese Problematik hat ihn auf einer persönlicheren Ebene getroffen. Dass er nicht voraussehen konnte, dass diese Entwicklung stattfinden würde, ist aus Sicht seiner avantgardistischen Politik eine Schwäche: Die westdeutsche Linke hatte keine „Antennen“ für dieses

13 Stephan Pannen berichtet z.B. von einer von ihm redaktionell Folge der SAT 1 Talkshow „Talk im Turm“ bei der das Thema „Ökosteuer“ aus aktuellen Gründen zugunsten des Themas Wiedervereinigung zurückgesetzt wurde (Pannen 1994: 16). Dieses und andere Themen – z.B. „multikulturelle Gesellschaft“ – wurden erst rund zehn Jahre wieder aufgegriffen.

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Thema, statt sich an der Debatte um den Wiedervereinigungsprozess aktiv zu beteiligen und eigene Inhalte einzubringen, überließ man Kohl das Feld. Die Realität hat die eigene politische Rationalität konterkariert. Während man sich inhaltlich auf die für 1990 erwartete rot-grüne Koalition einstellte, kam der Nationalstaat als Thema zurück in die politische Sphäre und beförderte die post-national ausgerichtete Linke ins politische Abseits. Aber auch das ist nicht nur das Problem der Mitglieder der GRÜNEN oder des linksalternativen Spektrums allgemein. Sein politischer Anspruch ist es aber, gerade diese Zeichen zu erkennen, auch gegen die Mehrheit in der eigenen Partei. Man kann vermuten, dass Timo Albrecht diese Geschichte als die eines persönlichen Versagens wahrgenommen hat, dass er nicht mit anderen teilte. Einen Anschluss an die Älteren zu suchen, bot sich allein deshalb nicht an, weil Kritik an der Wiedervereinigung in der öffentlichen Debatte vor allem den Älteren – vor allem Vertretern und Stichwortgebern der Protestgeneration – zugeschrieben wurde. In diesem Sinne würde er die Rolle des Vertreters der avantgardistischen jungen Generation in seiner Partei aufgeben, wenn er mit dieser Erfahrung einen Anschluss an die Gleichaltrigen suchen würde. Timo Albrecht bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dem Anspruch, neue und auch kontroverse Themen auf die politische Agenda zu setzen, und den Problematiken und ihrer praktischen Umsetzung. Einerseits gilt er innerhalb seiner Partei als zu angepasst, die Prägung seines alternativen Ursprungsmilieus steht jedoch, wie wir gesehen haben, einer pragmatischen Politik im Weg. Die darauf zurückführenden politischen Vorstellungen hindern ihn daran, im Zweifelsfall pragmatisch zu handeln. Dies ist das zentrale Problem Timo Albrechts: Die nicht überwindbare Kluft zwischen den Anforderungen, die das politische System an ihn stellt, und den Zielen seiner politischen Arbeit: Die Themen progressiver Politik werden mit den Zumutungen der realen Politik konfrontiert, die Implementierbarkeit politischer Innovationen stellt sich als ein größeres Problem dar, als es zunächst erschienen haben dürfte. Diese Lehre stellt sich besonders im und nach dem Wiedervereinigungsprozess, als sich die Kohl-Ära durch einen erneuten Popularitätsgewinn des Kanzlers um weitere acht Jahre verlängerte und das Projekt einer rot-grünen Bundesregierung weiter aufgeschoben wurde. Die eingangs zitierte Kritik der eigenen Parteijugend, Timo Albrecht wäre trotz seines avantgardistischen Anspruchs zu angepasst, fällt in diesem Augenblick auf: Um als Politiker erfolgreich zu sein, müssen sich seine Inhalte von denen des grün – alternativen Ursprungsmilieus entfernen. Eine Anforderung, die sich für alle Parteien im parlamentarischen System der Bundesrepublik stellt: Die etablierten Parteien sind „Volksparteien“, keine „Weltanschauungsparteien“. Für Timo Albrecht ist das ein besonders einschneidendes Problem: Die Haltung seiner Partei

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in der Frage des Wiedervereinigungsprozesses ist für ihn nachvollziehbar, nach 1989 war es ein Fehler, an dieser Politik festzuhalten: die GRÜNEN scheiterten bei der Bundestagswahl 1990 an der 5 %-Hürde. Im Nachhinein wird es ihm immer klarer, warum es so gekommen ist: Die Wende hat ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Während alle mit der Abwahl Kohls gerechnet haben, ist der Kanzler weitere acht Jahre bis 1998 im Amt geblieben. Die Frage bleibt offen, wie die politische Programmatik des GRÜNEN-Ursprungsmilieus mit der Realität des politischen Systems verbunden werden kann. Die politische Programmatik seines Herkunftsmilieus ist in der politischen Realität immer weniger durchsetzbar, insofern ist der Fall Timo Albrechts repräsentativ für junge Nachwuchspolitiker seiner Partei. In der Vorstellung dieser Generation wird die historische Zäsur ausgeblendet, obwohl es durchaus Erfahrungen gegeben hat, die als prägend angesehen werden können und die vermutlich auch mit den ‚Gleichaltrigen‘ geteilt werden. In Timo Albrechts Vorstellung von einer gemeinsamen Generation scheint die historische Zäsur keinen Anschluss an die Gleichaltrigen zu finden. Im folgenden Fall wird diese Problematik ausführlich diskutiert: Es ist die Erzählung einer jungen Frau, die eine scheinbar außergewöhnliche Geschichte zu berichten hat. Obwohl sie im Westen geboren und aufgewachsen ist, hat sie eine enge Beziehung zu der damaligen DDR aufgebaut, der Fall der Mauer hat folglich eine besondere Relevanz für sie gehabt. An diesem Fall wird deutlich, dass auch substanzielle Erfahrungen dieser Zeit oft separat bleiben. Dieser Fall stellt einen Kontrast zu den ersten beiden Fällen dar, in denen der Mauerfall in erster Linie als Medienereignis beschrieben wird und nicht als eine gemeinsam erlebte Geschichte. 4.1.3 Fall 3: Claudia Lange: „Wie ein Stein [...] dem Boden der Erinnerung …“ Der Fall Claudia Langes stellt in vielerlei Hinsicht einen Sonderfall dar: Anders als bei Michael Kramer und Timo Albrecht liegt hier in deutlichem Maße ein Einfluss durch die Geschehnisse des Jahres 1989 und auch später vor. Während die Rhetorik der 89er bei den bisher diskutierten Biographien eher als eine Art Hilfskonstruktion zu verstehen ist, erscheint bei dem Fall Claudia Langes der Mauerfall als eine substanzielle Erfahrung. Die Darstellung und Interpretation dieses Falles nimmt im Vergleich zu den anderen Fällen viel Raum in Anspruch, da diese Geschichte einen neuen Blick auf die Rhetorik um die 89er wirft. Auch wenn dieser Fall außergewöhnlich erscheint, werde ich zeigen, dass er generalisierbar ist. Claudia Lange wurde 1968 geboren und wuchs in Bonn auf, der Problematik in einem geteilten Land zu leben stand sie während ihrer frühen Ju-

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gendzeit – wie viele ihrer Altersgenossen – relativ „leidenschaftslos“ gegenüber. Das verwundert kaum, denn die westeuropäischen Nachbarstaaten waren nicht nur räumlich näher, sie sind auch durch immer unbürokratischer werdende Vorgänge beim Grenzübertritt einfacher zu erreichen gewesen. Anders als ihre Altersgenossen im geteilten Berlin – hier hat diese Problematik vor allem durch die Nähe der Mauer schon im Kindesalter ein Bewusstsein etabliert (Vgl. Davey: 1987: 46) – haben viele Jüngere in Westdeutschland kein Verständnis von der Problematik in einem geteilten Land zu leben, aufgebaut bzw. die Teilung wurde nicht als solche wahrgenommen. Claudia Langes Interesse galt – wie es bei vielen ihrer Altersgenossen der Fall gewesen sein dürfte – zuerst den westlichen Nachbarstaaten, vor allem Frankreich. Mitte der 1980er Jahre änderte sich jedoch das Bild: Aus familiären Gründen – ihr Vater war ein Experte für internationale Beziehungen – ist sie schon relativ früh viel gereist. Sie kam Mitte der 80er Jahre eher zufällig bei einer Reise nach Berlin mit der Thematik DDR in Berührung: Ihre Geschichte beginnt mit einem klassischen „Tagesvisums-Tag“. Das Gesehene fesselte sie von nun an und es kam im Anschluss daran zu vielen weiteren Reisen in die damalige DDR. Als sie alt genug wurde, fuhr sie auch immer öfter allein in die DDR, dort knüpfte sie viele dauerhafte Freundschaften. In Schule und Studium wurde das eher „verwaiste“ und konservativ konnotierte Thema der DDR zu ihrer Nische. Relativ schnell nach dem Wiedervereinigungsprozess zog sie in die neuen Bundesländer zum Studium. Was allerdings nicht als außergewöhnlich anzusehen ist, denn die neu gegründeten und gut ausgestatteten Universitäten zogen viele Studierende aus dem Westen an. Nach Abschluss des Studiums der Germanistik und Politikwissenschaft in Leipzig nahm sie nach einem kurzen Zwischenspiel als Dramaturgin an einem Leipziger Theater eine Stelle als Redakteurin bei einer überregionalen Zeitung an. Neben der journalistischen Tätigkeit bringen Bücher, die sie zu unterschiedlichen Themen – vor allem im Bereich Belletristik und Lifestyle – schreibt, einträgliche Nebeneinkünfte. Ich habe Sie angesprochen, weil sie ein für die Debatte um die 89er wichtiges Buch geschrieben hat, in dem sie ihre eigenen Erfahrungen reflektierte. Auf Podien rund um die Ost-West-Thematik – wie sie unter anderem von evangelischen Akademien veranstaltet werden – war sie bis vor Kurzem regelmäßig bei Diskussionen zum Thema West-Ost vertreten. Als Kontaktaufnahme habe ich ihr einen Brief geschrieben, in dem ich mein Vorhaben kurz vorgestellt habe: nach einiger Zeit antwortete sie: Ich bekomme eine Postkarte, dass ich sie gerne für das geplante Vorhaben interviewen könnte. Claudia Lange ist alleinerziehende Mutter einer inzwischen zehn Jahre alten Tochter. Im Flur ihrer Altbauwohnung in Berlin Friedreichhain stapeln sich Manuskripte und Autorenexemplare ihrer Bücher. Die Frage nach ihrer eigenen

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Generation beginnt sie möglicherweise zu langweilen, denn dieses Interview ist das erste Mal seit längerer Zeit, dass sie darüber spricht. Auch in ihrer publizistischen Tätigkeit behandelt sie dieses Thema seit längerem nicht mehr. Langweilt es sie persönlich oder kann angesichts der verwehten Debatte rund um die 89er kein Text mehr zu diesem Thema platziert werden? Ist bereits alles gesagt, oder bleiben die wesentlichen Fragen der Debatte immer noch unausgesprochen? Wie bei allen Interviews beginne ich mit der inzwischen bewährten Frage, wie das Label der 89er Generation für sie interessant geworden ist. M. G.: „… wie ist denn das Label ‚89er Generation‘ für Sie zum Thema geworden?“ C. L.: „Naja das ist – ich weiß jetzt nicht ob Sie das Buch gelesen haben – aber das ist eben sehr auf der persönlichen Erfahrung auch, das ist sicher auch mit das Problem von dem Buch. Das hat ja nicht … Das hat ja diese … Also diese Generationen-These hat ja nicht sehr viel Anklang gefunden und das haben Sie ja auch geschrieben, dass es im Grunde immer ne Behauptung geblieben ist, diese – 89er Generation. Da ist wahrscheinlich was Wahres dran, denn die Erfahrung gibt es halt oft nicht von West nach Ost. Oder meine Erfahrung durch die Lesungen auch und durch so Podien war, dass es im Grunde viel mehr Erlebnisse und auch langjährige Beziehungen vom Westen nach Osten gab, aber die komischerweise separat bleiben und nicht erinnert werden. Oder nur erinnert werden, wenn man direkt beim Thema ist und es anspricht: Und dann hört man öfters, dass die Leute sagen: Ach Mensch, stimmt! Das ging mir genau so und das hatte ich ja auch versucht zu beschreiben, dass es wie son Stein ist, der auf dem Boden sinkt der Erinnerung und warum auch immer wird er nicht aufgenommen. Aber bei mir war es einfach diese Fahrt Mitte der 80er Jahre nach Ost- Berlin. Das war glaube ich ’83… Und ich war wie – ich weiß jetzt nicht, welcher Jahrgang Sie sind – aber … ich bin Jahrgang 1968 und in Bonn aufgewachsen und ich, also ich wusste natürlich, dass es die DDR gibt. Aber ich hatte überhaupt keine Haltung dazu, keine Vorstellung, also das spielte überhaupt keine Rolle. Als ich dann eben 83 mit, weiß ich nicht, wie alt war ich da? Mit 15 oder was das war- zum ersten Mal nach Berlin fuhr, nach West- Berlin und da war eben mit meinen Eltern und da war der eine Tag Ost-Berlin, dieser klassische Tagesvisums-Tag. Ich kam nach Ost-Berlin und das hat mich umgehauen. Das war, als ob sich eine Tür aufmacht und man hat gar nicht erwartet, dass dahinter ein Raum ist. Und ich hatte so was noch nie gesehen und das hat mich so geprägt, dass mich, darauf hin hat mich dieses Thema nie mehr losgelassen.“

Claudia Langes Geschichte beginnt einige Zeit vor 89: Es wird von einer Reise nach Berlin berichtet, an einem Tag besucht sie Ostberlin. Von diesem Zeitpunkt an interessiert sie sich besonders für das Thema. Auch sie sichert sich auf die in den ersten beiden westdeutschen Fällen beschriebene Art und Weise ab: Sie kann nur ihre individuelle Erfahrung beschreiben. Ihre Arbeiten zu dem Thema sind

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sehr persönlich, darin vermutet sie eine mögliche Schwäche dieser Texte. Denn es ist eher die Ausnahme, dass sich Westdeutsche über Erfahrungen, die sie im Osten gemacht haben, austauschen. Sie erklärt, diese Geschichten gibt es einerseits sehr selten, gleichzeitig weist sie aber darauf hin, dass es diese Erfahrungen doch öfter zu geben scheint. Das bringt sie zu dem Schluss, wenn es diese Erfahrungen gegeben hat, werden sie nicht geteilt. Im Westen ging alles seinen gewohnten Gang, ist die herrschende Meinung. Substanzielle Erfahrungen, das Jahr 1989 betreffend, besitzen eine gewisse Relevanz, schließlich gilt der Fall der Berliner Mauer als „Epoche- machendes“ Ereignis, die geteilten Erfahrungen scheinen niemanden zu interessieren, insbesondere die oft erstaunlichen Erfahrungen, die Westdeutsche in dieser Situation machen durften. Viele ihrer Altersgenossen haben nach 1989/ 90 Westdeutschland verlassen und sind aus pragmatischen Gründen nach Ostdeutschland gezogen. Günstige Lebenshaltungskosten sowie relativ gut ausgestattete, neu gegründete Universitäten haben für viele das Studium in Ostdeutschland interessant gemacht. Hier entstanden privilegierte Zonen in Leipzig, Berlin Mitte oder Friedrichshain usw. in denen sich eine alternative Szene etabliert hatte und dadurch einen für neu Zugezogene attraktiven Lebensraum schaffte. Ältere zog es in die ehemalige DDR, da der Fachkräftebedarf einen beruflichen Karrieresprung versprochen hat. Im Fall von Claudia Lange ist keines von alledem der Fall. Sie hatte das Gefühl etwas Neues zu entdecken, ein spezielles Interesse für die DDR zog sie in den Osten. Welche Vorstellung einer gemeinsamen Generation sind in dieser Interviewpassage zu erkennen? Erinnerungen, die zwar durchaus vorhanden sind, aber nicht geteilt werden. Die bereits zitierte Metapher vom Stein, der auf dem Boden der Erinnerung liegt, ohne aufgenommen zu werden wird zur Illustration dieses Problems eingeführt. Die Erinnerungen sind – wie der Stein auf dem Grund – zwar vorhanden und greifbar, sie werden aus einem unbekannten Grund aber nicht aufgenommen. Sie weiß wohl, dass auch andere vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. Generalisierbar erscheint ihr ihre eigene Erzählung nicht, schon gar nicht dem zehn Jahre jüngeren Interviewer gegenüber. Wenn man das Thema direkt anspricht, z.B. auf Podien oder mit Hilfe der Stimulans einer Interviewsituation, kann man oft Erfahrungen anderer Personen zu diesem Thema hören, im Alltag kommt man nur selten darauf zu sprechen. Umso überraschender scheint es, wenn andere diese Erfahrungen teilen. Ein Versuch, diese zu verallgemeinern, erscheint problematisch, diese Erzählungen verbleiben vielmehr individuell. Claudia Lange dagegen geht davon aus, dass diese Erzählung bei ihren Altersgenossen nicht anschlussfähig ist, auch nicht bei dem zehn Jahre jüngeren Interviewer. Die Erfahrung des Mauerfalls, des Systemumbruchs und der Wiedervereinigung ermöglichen nicht die Bildung einer

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Wir-Gemeinschaft, anders als Medien- und Konsumerfahrungen. Diese würden alternativ viel Gesprächsstoff bieten. Das eigentümliche Zurücktreten der Erfahrungen der historischen Zäsur stellt ein besonderes Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit dar und wird aus diesem Grund ausführlich diskutiert. Ausgerechnet die Erinnerung an ein vom kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik als relevant eingestuften Ereignis, wird nicht gemeinsam geteilt14. Die Rede von einer 89er Generation wird abgeschwächt, obwohl es die gemeinsamen Erinnerungen gibt, werden sie nicht gemeinsam geteilt, die Rede von einer 89er Generation ist immer „nur eine Behauptung“ geblieben. Jetzt sucht sie Anschluss an den zehn Jahre jüngeren Interviewer: In dem Brief, in dem ich um ein Interview gebeten habe, beschrieb ich auch meine ersten Überlegungen zum Thema. Wenn Sie das Thema anspricht, hört sie, dass viele eine ähnliche Erfahrung gemacht haben. Warum wird darüber nicht gesprochen? Ein Grund hierfür liegt darin, dass die Neigung, sich für die DDR zu interessieren, als sehr eigensinnig erschienen sein muss. Gerade für junge Besucher wie Claudia Lange dürfte sie wenig zu bieten gehabt haben. Besucher der damaligen Ostblockstaaten berichten oft von dem Gefühl, in die Vergangenheit gereist zu sein. Der Grund dafür ist, dass es dort noch nicht zu der Farbexplosion wie in der westlichen Welt gekommen ist15. Die Vorstellung, in die Vergangenheit reisen zu können, fasziniert zwar, die meisten Altersgenossen Claudia Langes werden aber vielmehr froh gewesen sein, als dieser Tagesvisumstag vorbei gewesen ist. Fragt man ihre Altersgenossen nach den Besuchen in der DDR hört man meistens, dass die DDR auf sie zurückgeblieben, verschroben gewirkt hat und auch, dass man schnell merkte, dass es sich um einen Polizeistaat gehandelt habe, in dem man sich nicht richtig wohlfühlen konnte. Die Frage, warum es so ist, dass diese Erinnerungen nicht aufgehoben werden, steht im weiteren Zentrum der Interpretation. Während oft behauptet wird, diese Generation habe nichts16 liefert Claudia Lange ein Gegenbeispiel. Obwohl sie aus dem Westen stammt, hat sie die Zeitenwende aus westdeutscher Sicht nicht nur unmittelbar miterlebt – schließlich unterhielt sie enge Kontakte in die DDR – sondern auch bewusst reflektiert. In welchem Kontext fand diese Erfahrung statt? Was hat Claudia Lange bis dahin über die DDR gelernt?

14 Es kann gefragt werden, ob die Erinnerung an den Mauerfall relevant sein kann, wenn die Problematik eines geteilten Landes nicht einmal als solche wahrgenommen wird. Herrmann Rudolph z.B. spricht von der verdrängten Teilung (Rudoph 2007). Der Fall Claudia Lange wirft die Frage auf, ob die Teilung überhaupt als Problem wahrgenommen wurde und ob überhaupt von einer Verdrängung die Rede sein kann. 15 Darauf weist z.B. der Medienphilosoph Vilem Flusser hin (Flusser 2003: 64). 16 Wieder sei an Ulrich Greiners Frage, „Was habt ihr Neunundachtziger?“ erinnert.

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„… also man kann nicht mal sagen, dass es ein totgeschwiegenes Thema war, weil das ja was Aktives gewesen wäre. Das war einfach überhaupt kein Thema. Also die DDR war für die normalen westdeutschen Jugendlichen kein Thema. Und, außer man hatte eben Verwandte – was es immer mal gab – aber dann redete man nicht richtig drüber. Und sonst war das so ein typisches Subventionsthema. Es gab einfach unheimlich viel Institute und Forschung und politische Bildung und da gab es eine Menge Stellen und Leute, die DDR-Forschung betrieben, und die immer wieder Appelle raus gaben, dass sich die westdeutschen Jugendlichen nicht richtig interessieren. Das war alles son bisschen angestrengt, da wurde viel Geld rein gesteckt, aber das hatte alles was Pflichtschuldiges. Es war kein Thema, was geliebt wurde. Und man muss ja auch im Nachhinein sagen, dass diese ganze DDR-Forschung … also … ne Menge Blödsinn erzählt hatte. Weiß ich gar nicht, was die die ganzen Jahrzehnte lang geforscht haben. Weil kaum was von dem stimmte. Im Nachhinein …“

Die „Deutschen Frage“ wurde in der Öffentlichkeit der 80er Jahre eher leidenschaftslos behandelt. „Es war kein Thema, was geliebt wurde“. Wer verwandtschaftliche Beziehungen in die damalige DDR unterhielt, den betraf das Thema zwar mehr, aber auch in diesem Fall wurde offensichtlich nicht richtig darüber gesprochen. Die „normalen“ West-Jugendlichen hatten keinen richtigen Bezug zu dem Thema. Obwohl es viele Institute und Stellen gegeben hat, erscheint es ihrer Erzählung nach nicht prestigeträchtig gewesen sein, über das Thema zu arbeiten, es ist ein „typisches Subventionsthema“ gewesen. Von einer privilegierten Erfahrung kann nicht die Rede sein, denn auch viele ihrer Altersgenossen werden Ost-Berlin besucht haben. Für Oberstufenschüler stand in der elften Klasse eine Studienreise nach Berlin auf dem Plan, mit dem obligatorischen Tagesvisumstag in Ost-Berlin. Im Vergleich zu vielen ihrer Altersgenossen privilegiert erscheint dagegen die allgemeine Reisetätigkeit. Bei den Reisen, die ihr Vater beruflich unternommen hatte, konnte sie ihn oft begleiten. Sie besuchte zeitweise auch Schulen im Ausland. Der Kontrast zwischen den westlichen Nachbarstaaten und der DDR muss auf Claudia Lange einen enormen Eindruck hinterlassen haben. Das Interesse für die DDR ermöglicht keinen Anschluss an die Altersgenossen, es kann nicht von einem Thema ihrer Generation die Rede sein, worüber sie sich mit ihren Altersgenossen hätte austauschen können, mit „normalen westdeutschen Jugendlichen“. Sie scheint ihre eigene Entwicklung nach dem ersten Besuch Ost-Berlins als atypisch einzustufen. Für die weitere Interpretation wesentlich scheint vielmehr die Frage, wie sie das Gesehene wahrgenommen hat. Warum hat es sie besonders bewegt? Anders als im Fall der westlichen Nachbarstaaten der Bundesrepublik konnte sie sich bis zu ihrem Besuch in Ost-Berlin vermutlich nicht vorstellen, wie das Leben auf der anderen Seite aussehen würde. „Die

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Existenz der DDR“ war ihr zwar bekannt, der Besuch in Ost-Berlin muss auf sie aber gewirkt haben, als ob ein Geheimnis offenbart wurde: Es wurde eine „Tür geöffnet“, sie hat nicht damit gerechnet, dass sich dahinter ein Raum befindet; ihre Erzählung klingt, als ob sie den Weg zu einer verborgen gebliebenen Zivilisation entdeckt hätte oder ein geheimer Gang zu einem Zimmer in einem bekannten Haus gefunden wird. Was interessiert Claudia Lange an der DDR im Besonderen? Was findet sie hier, was in West-Berlin nicht anzutreffen war? Hinter der Fassade Westberlins, die aus viel Glas und Stahl besteht, den mit bunter Leuchtreklame ausgestatteten Einkaufspassagen – Currywurst-Pizza-Sushi-Döner – tut sich auf der anderen Seite tatsächlich eine ganz andere Welt auf. Neben der bunten Westwelt, die sich selbst als endlose Signifikantenkette darstellt, in der alles beliebig scheint, kann man vermuten, zeigt sich für Claudia Lange eine viel „authentischere“, weniger künstliche und oberflächliche Welt. Entwickeln wir diese These weiter: Das Leben ihrer Altersgenossen im Osten war schon damals ernster als das im Westen. Grundsätzliche Fragen in jeder Biographie stellten sich dort früher und auch nachdrücklicher. Man musste sich relativ früh auf eine bestimmte Karriere festlegen, musste Entscheidungen treffen, welche Zugeständnisse an die SED-Diktatur gemacht wurden. Die gewünschte Ausbildung wurde vorbehaltlich des Bedarfes, der persönlichen Leistung und des „gesellschaftlichen Engagements“ gewährt. Gerade der letztgenannte Punkt brachte oft Gewissenskonflikte: Verpflichtete man sich möglicherweise länger bei der NVA, um den gewünschten Studienplatz zu bekommen? Ging man das Risiko ein, Nachteile im Beruf zu erleiden, wenn man versuchte keine Kompromisse zu machen? Claudia Lange erzählt von zwei ihrer ostdeutschen Freunde, die genau vor dieser Frage standen. Beide hatten Studienpläne: Einer von beiden weigerte sich, sich über die reguläre Dienstzeit hinaus freiwillig zur NVA zu melden – obwohl von Studienbewerbern implizit erwartet wurde, sich drei Jahre als Unteroffizier zu verpflichten. Da man ihn nicht zu einer längeren Dienstzeit zwingen konnte, verzichtete die NVA zunächst auf eine Einberufung, mit der Konsequenz, dass seine komplette Lebensund Studienplanung in Bedrängnis geriet. Der zugesagte Studienplatz hatte die Bedingung, dass das Studium zu einem fest vereinbarten Datum aufgenommen wurde. Er hielt sich in der Folgezeit mit verschiedenen Hilfsarbeiter-Jobs über Wasser, um nicht von dem „Arbeitserziehungsparagraphen“ des DDR-Strafgesetzbuches betroffen zu sein. „Und dann haben sie ihn halt plötzlich doch gezogen, ganz unerwartet, also das waren so die Spielchen. Und er ist natürlich sehr stolz darauf, dass er keinen Kompromiss eingegangen ist, im Nachhinein. Kann er auch. Ein anderer Freund von mir, der wollte gerne Geschichte stu-

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dieren und hat das auch geschafft in Leipzig, der hat sich eben drei Jahre dafür verpflichtet, als Unteroffizier. Da hat der immer noch dran zu knabbern, dass er sich da hat bestechen lassen. Und das sind wirklich sehr grundsätzliche Erfahrungen über den Charakter, die man macht. Die wir im Westen nie machen. Zum Glück, also in der Regel. Wenn man normal aufgewachsen wäre und nicht familiär irgendwelche tragischen Schicksale erlebt hat, dann wurde man mit solchen Dingen nicht konfrontiert. Das ist schon ein großer Unterschied.“

Studienbewerbern in der damaligen DDR stellte sich die Frage, ob und inwieweit sie bereit waren, mit dem System Kompromisse einzugehen. Auch wenn eine dreijährige Dienstzeit erwartet wurde, konnten Studienbewerber sich darauf beschränken, nur die reguläre Dienstzeit des Grundwehrdienstes absolvieren, der tatsächliche Erfolg blieb jedoch unsicher, es herrschte die „Unübersichtlichkeit der Willkür“ (Bisky 2004: 94). Moralische Verführbarkeit ist eine Erfahrung, die grundsätzlich immer gemacht werden kann, aber nicht so massiv, wie es sich in der DDR darstellte. Hier liegt der Unterschied für Claudia Lange: Es sind „sehr grundsätzliche Erfahrungen über den Charakter“, die man dort machte, die Jüngeren in der Bundesrepublik kennen die Versuchung, Kompromisse mit einer Diktatur zu schließen, nicht. Die Erfahrung von moralischer Verführbarkeit schien bei ihren westdeutschen Freunden eher die Ausnahme gewesen zu sein, aber wer ohne besondere Vorkommnisse aufgewachsen ist, würde diese Erfahrung nicht gemacht haben. Das relativ ernste Leben ihrer Altersgenossen in der DDR scheint Claudia Lange nachdrücklich beeindruckt zu haben. Es taten sich ganz grundsätzliche Erfahrungen auf, die man im damaligen Westdeutschland nicht hätte machen können, zum Glück, wie sie hinzufügt. Es fällt auf, dass sie den Konjunktiv benutzt, wenn man normal aufgewachsen wäre, und nicht tragische Schicksale in der Familie erlebt hat. Leider wurde in der Interviewsituation nicht nachgefragt. Diese Formulierung ist erst bei der gründlichen Lektüre des Interviewtextes aufgefallen. Da im weiteren Interviewmaterial keine weiteren Hinweise auf ein tragisches Schicksal zu erkennen sind – sie erzählt an einer anderen Stelle vom unbeschwerten Ruhestand ihrer Eltern – und andere mögliche Probleme nicht spezifiziert werden, wird dies als ein weiterer Hinweis darauf gewertet, dass sie den hohen Stellenwert, den die Ost-West-Problematik in ihrer Geschichte einnimmt, als eine atypische Entwicklung sieht. Durch Kontakte in die damalige DDR ist sie verstärkt mit ernsten Problemen in Berührung gekommen, anders als viele ihrer westdeutschen Freunde, die auf ein „normales“ Aufwachsen zurückblicken können. Claudia Lange sieht sich selbst als randständig. Einige Zeit später haben viele ihrer Altersgenossen den Osten für sich entdeckt, atypisch erscheint ihr vor allem das Interesse für die DDR, in der vieles anders erschien als im Westen. Die Machtstrukturen waren vor allem durch die Präsenz der Diktatur

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bestimmt, anders als in der Bundesrepublik, wo das soziale Leben vor allem von den „feinen Unterschieden“ der kulturellen Distinktion geprägt wurde, auf die weiter unten in dieser Fallstudie auch eingegangen wird. Die Erfahrung, als eine westdeutsche Oberstufenschülerin während des Systemumbruchs auch einen Einblick von ostdeutscher Seite bekommen zu haben, erscheint beeindruckend. Interessiert man sich für diese Geschichte? Seit einiger Zeit kann nicht mehr von einer Debatte über die 89er die Rede sein. Wie ist Claudia Langes Erfahrung als eine der Protagonistinnen dieser Debatte: M. G.: „Sie werden öfters als 89er angesprochen, nehme ich an, oder ist das auch abgeebbt?“ C. L.: „Die kommen natürlich an den Jahrestagen immer mal hoch, und das ist immer noch ein beliebtes Thema in den Evangelischen, wie heißen die? Bad Boll und?“ M. G.: „Evangelische Akademien?“ C. L.: „Genau. In evangelischen Akademien werden immer noch gerne Ost-West-Gespräche geführt. Und mir ging es dann irgendwann so, ich hab dann auch, das ist das erste Mal seit Längerem, dass ich darüber wieder rede. Ich hab dann irgendwann n bisschen damit aufgehört, weil ich es auch leid war, auf so einem Podium zu sitzen und immer dieselben Dinge aus dem Publikum zu hören. Und das jetzt schon seit fünfzehn Jahren … Immer noch dieses Erstaunen, ach so habt ihr gelebt, ihr wart ja ganz anders und immer dieses Unterschiede suchen, und das ist halt jetzt so ein bisschen müßig. Wer immer noch damit hadert, dass die Unterschiede da sind, dem kann ich nach 17 Jahren nur sagen, find Deinen Frieden. Und wer nach 17 Jahren immer noch nicht erkennt, welche Gemeinsamkeiten auch da sind, und das es einfach eine lange gemeinsame, schwierige, deutsche Geschichte gibt, die sehr viel länger ist als der Zeitraum der Trennung, dem kann ich heute auch nur sagen, tut mir leid, da muss sich mehr entwickeln. Ich habe nicht das Gefühl, dass sich die Qualität der Ost-West-Debatte weiter entwickelt hat. Es werden immer die gleichen Dinge gefordert, es wird immer Thierse zitiert, der ist mir schon 1992 auf den Wecker gegangen. Ich habe da ein Praktikum gemacht, in Madrid und da tauchte er auf, wir müssen uns gegenseitig Geschichten erzählen … Wir müssen uns gegenseitig Geschichten erzählen ... Und die Wahrheit war irgendwie, dass immer nur Thierse seine Geschichten erzählt hat. Das war das Problem, das natürlich westdeutsche oft nicht interessiert sind an den ostdeutschen Geschichten, aber es ist eben auch so, dass Ostdeutsche, wenn Sie einmal loslegen auch im Grunde nur noch ihr Ding erzählen, und das Gefühl haben, den Westen kennen sie sowieso in und auswendig. Und nicht bereit sind zu sehen, dass der Westen vor 1989 tatsächlich ein anderer war. Also das Deutschland ist weder in West noch in Ost so geblieben, wie es war.“

Die Debatten über eine ost- und westdeutsche Identität, über Gemeinsamkeiten und Unterschiede langweilen sie offensichtlich. Sie erscheint müde, immer die

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gleichen Gespräche führen zu müssen. Der eingeforderte Ost-West-Dialog wird zu einem Monolog, der immer von den gleichen Protagonisten bestritten wird. Personalisiert wird dies durch Wolfgang Thierse, schon seit Anfang der 90er wird von ihm postuliert, man müsse sich seine Geschichten erzählen, in Wirklichkeit erzählte nur er seine Geschichten17. Die Teilnehmer dieser Diskussionen gehen nicht richtig aufeinander ein: Es wird immer noch damit gehadert, dass Unterschiede zwischen Ost und West zu erkennen sind, Gemeinsamkeiten werden nicht erkannt, es gibt eine gemeinsame Geschichte, die länger und problematischer ist als die Teilung. Ein weiterer Grund, dass die Erfahrungen, die aus westdeutscher Seite mit dem Wiedervereinigungsprozess gemacht wurden, unausgesprochen bleiben: Die implizite Erwartung, dass Erzählungen, die das Jahr 1989 betreffen, aus dem Osten kommen müssen – schließlich hat sich dort das Leben komplett verändert und den Westen kennen sie oder glauben sie zu kennen – auch dies erschwert einen weiteren Austausch über die Erfahrungen des Jahres 1989 und auch, ob sich der Westen nach dem Fall der Mauer verändert hat – oder als verändert wahrgenommen wurde. Obwohl das Interesse abgeflaut ist, wird diese Debatte von einigen Institutionen mehr oder weniger künstlich aufrechterhalten: In evangelischen Akademien werden „immer noch gerne Ost-West-Gespräche“ geführt. Das Thema bleibt ungeliebt. Was versteht sie unter Gemeinsamkeiten? Es wird darauf hingewiesen, dass die gemeinsame Geschichte viel länger und problematischer sei, als die Trennung. Aber auch an dieser gemeinsamen Geschichte trennt man sich: Während die Frage nach Schuld und Aufarbeitung in den 80er Jahren zu einem wesentlichen Thema der westdeutschen Öffentlichkeit geworden ist – z.B. anlässlich der Rede Richard von Weizsäckers anlässlich des 50. Jahrestages des Ende des zweiten Weltkrieges oder des Historikerstreites – bleiben diese Fragen vielen Ostdeutschen fremd. Die Frage nach Schuld und Aufarbeitung der NS-Vergangenheit sowie Verständigung und Aussöhnung mit Opfern und ehemaligen Feinden ist Claudia Lange wohl vertraut, in ihrer Kindheit und Jugend hat sie die einschlägige engagierte Jugendliteratur rund um das Thema Nationalsozialismus verschlungen. Dies ist für Personen, die in einem Staat aufgewachsen sind, der diese Debatten ausgeblendet hat, ein unbekanntes Thema, schließlich handelte es sich bei der DDR zumindest ihrem Selbstverständnis nach um einen antifaschistischen Staat. Die Sensibilisierung der westdeutschen Öffentlichkeit über das NS-Thema führte dazu, dass man entschlossen war, die Geschichte der DDR von Anfang an kritisch zu betrachten, die Aufarbeitung

17 Dieses Bild hat Thierse offensichtlich nicht nur bei Claudia Lange hinterlassen: Marko Martin schreibt hierzu: „Von Wolfgang Thierses Drohung, einander doch endlich unsere Geschichten zu Erzählen halte ich nichts .“ (Martin 1996: 1)

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voranzutreiben, damit eine „Zweite Schuld“ im Sinne einer mangelnden Aufarbeitung der SED-Diktatur nicht riskiert werden würde. Auch in der Geschichtsund Politikwissenschaft kam es nach 1989/ 90 zu der strittigen Frage, wer über die DDR-Geschichte befinden sollte, bzw. durfte. Sind ostdeutsche Historiker und Politikwissenschaftler möglicherweise zu sehr in das „Ancien Regime“ verstrickt, um über die DDR wissenschaftlich objektiv urteilen zu können? Ostdeutsche Stimmen klagen hingegen, ihnen würde laufend von westdeutscher Seite erklärt, wie das Leben in der DDR wirklich gewesen sei. Auf dem Grund dieser Schulddebatte der alten Bundesrepublik ist auch die Kritik an der Wiedervereinigung als Wiederherstellung der Kontinuität des bismarckschen Nationalstaates zu verstehen. Da die meisten Befürchtungen ausgeblieben sind, bringt man dieser Kritik im Nachhinein wenig Verständnis gegenüber, ihre Darstellung erscheint oft überspitzt18. Mit diesen Debatten dürfte Claudia Lange vertraut gewesen sein, sie fallen in ihre Oberstufen- und Studienzeit. Die Frage, wie die deutsche Geschichte zu behandeln ist, ist brisant, auch im Kultur schaffenden Bereich, wie der folgende Abschnitt zeigt. Die Frage nach kulturellen Gütern dieser Generation wirft ein Schlaglicht darauf, wie kontrovers zu der Zeit über die Wiedervereinigung diskutiert wurde. M. G.: „Fällt Ihnen wesentliche Literatur, Kunst oder Musik zu der Thematik ein?“ C. L. : „Jetzt zu 89?“ M. G.: „Ja, oder Sachen, die für Sie prägend waren.“ C. L.: „Ich muss mal überlegen … Das Komische ist, als dann die Mauer einmal auf war, gab es unheimlich viel Artikel darüber, dass nun die jungen Ost-Künstler alles übernehmen würden und dass die jetzt unheimlich aufräumen würden im Theater, in der Malerei und in der Literatur. Komischerweise ist das nicht sofort passiert, sondern es hat über ein Jahrzehnt gedauert. Und dann ist natürlich relativ viel entstanden, eben der Jakob Hein und Neo Rauch und im Theater gibt es ja auch viele Pop-Regisseure, Jana Hausmann aber das hat alles ne Weile gedauert und unmittelbar 89, 90, 91 war das Thema nicht so da, das waren eher die Alten, die da ihre politischen, halbpolitischen Traktate da geschrieben haben, die keiner mehr lesen wollte. Ich weiß damals, wir waren dann an der Volksbühne, da lief von Marthaler, „Murks, Murks, Murks den Europäer“, und der hat ja so ne, wann war das 92, 93, muss ich nachher mal nachgucken, der hat ja auch so eine DDR-Ästhetik auf die Bühne gebracht. Der war ja eigentlich mit der Frühste, der das umgesetzt hat und da war ich mit

18 So werden die Teilnehmer der Frankfurter Demonstration unter dem Motto „Nie Wieder Deutschland“ als „Wiedergänger von 68“ bezeichnet (Bisky 2005: 106). Diese Deutung unterschlägt, dass diese Kritik an der Wiedervereinigung gerade aus den geschichtspolitischen Debatten der 80er Jahre erwachsen ist.

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Freunden in der Gruppe, und wir haben uns völlig verstritten nach dem Murx. Da wurde auch die deutsche Nationalhymne gesungen, schief und krumm, ob da auch ne Fahne verbrannt, kann das sogar sein? Und der eine Bekannte, der war Medizinstudent, der war wütend – ein Westdeutscher. Ich kann das nicht mehr hören, immer dieses Rumgehacke auf der Nationalhymne, ist doch gut alles, Deutschland ist gut und da haben wir uns noch furchtbar in die Haare gekriegt. Und so war die Stimmung im Publikum nach der Murx Aufführung. Das brodelte regelrecht im Publikum und es war nicht einheitlich positiv. Das war eine der wenigen Theaterbesuche, wo ich das Gefühl hatte, jetzt prügelt sich gleich das Publikum.“[lacht]

Die Produktion „Murx den Europäer“ in der Berliner Volksbühne machte im Jahr 1993 den Schweizer Regisseur Christoph Marthaler einem größeren Publikum bekannt und gehört zu den wichtigsten Arbeiten dieses Hauses. Der Intendant der Volksbühne – Frank Castorf – zählt den Abend mit Murx zu einem der wichtigsten in diesem Theater. Politik wird beobachtend, ohne Ideologie, behandelt. Dadurch gewinnt die Aufführung Brisanz: „Was machen Menschen an einem Tisch, wenn sie eigentlich nicht wissen, wie die Zukunft wird, und sich nicht mehr erinnern können oder wollen an die Vergangenheit? Da tritt etwas auf wie Öfen, die beheizt werden von einem Heizer, dem wunderbaren Ruedi Häusermann, der immer ab und zu nachguckt, ob der Druck reicht, ob die Hitze so ist, dass man damit etwas verfeuern, sich wärmen kann, wärmen mit Erinnerungen. Die Öfen bezeichnen etwas Konkretes und haben gleichzeitig ein metaphorisches Umfeld. Man denkt an das Wärmen mit Menschen, Vernichtung von Menschen, an das Einmalige, das in Deutschland passiert ist, die industrielle Vernichtung von Menschen – Im Faschismus. Alles ist in diesen Deutschen Öfen drin. Ist das geschmacklos? Ist das falsch? Ist das verstiegen? Ist das verschroben?“ (Castorf 2001: 195)

Es wird keine Kritik offen artikuliert, sondern die Inszenierung lässt dem Zuschauer Raum zur Interpretation. Es liegt im Auge des Betrachters, ob der böse Anschein dieser Inszenierung von Öfen aufgenommen wird und als anstößig wahrgenommen wird oder nicht. Diese Produktion scheint die Ängste vor den Nebenwirkungen der Wiedervereinigung – insbesondere ein Erstarken der extremen Rechten und Neuaufflackern des Nationalismus – pointiert dargestellt zu haben, bzw. die Projektionsfläche dazu geliefert zu haben. In der „Normalisierungsphase“ nach 1990 wird die Frage, welche Gefahren ein wiedervereinigtes Deutschland birgt, brisant: Es wird die Frage nach Erinnerungen gestellt. Aufgrund der beschriebenen Szene kommt es zum Streit mit einem ihrer Bekannten, einem westdeutschen Medizinstudenten. In der eher linksalternativen Clique

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scheint dieser Freund eine Art Außenseiterfunktion einzunehmen, hierfür spricht, dass sie ihn anhand seines eher konservativ konnotierten Studienfaches und seiner Herkunft aus dem Westen vorstellt. Man kann sich ihn als einen jungen Pragmatiker vorstellen (vgl. hierzu z.B. Bude 1991). An dieser Stelle wird die Frage angesprochen, inwieweit das Verhältnis zum Nationalstaat in der Bundesrepublik „normal“ ist. Ist die Bundesrepublik ein Nationalstaat wie jeder andere, oder ist aufgrund von Sonderentwicklungen, die schließlich in die Katastrophe führten zu besondere Vorsicht im Umgang mit diesen Themen angebracht? Für die westliche Bundesrepublik ist von einer „nervösen Normalisierung“ für die Zeit um 1989-2001 die Rede (Bisky 2005: 41). Eine Phase der „Normalisierung“ wird bereits für die 1980er Jahre veranschlagt. Die Bundesrepublik baute sich in der Ära Kohl vom Provisorium zum souveränen Staat aus19. „Nervös“ wird diese Normalisierung vor allem durch den Beschleunigungsschub um das Jahr 1989. In Bonn aufgewachsen wurde Claudia Lange mit dem Umbau der Bundesrepublik vom Provisorium zum souveränen Staat vertraut gemacht, wie es auch an den Bauarbeiten in der Stadt zu erkennen war: Saßen die Abgeordneten zunächst in relativ absurden Bauten, war gegen Ende der 1980er Jahre eine umfangreiche Bautätigkeit zu beobachten. Man baute Bonn zur endgültigen Bundeshauptstadt aus, da nicht mit einer Lösung der deutschen Frage in absehbarer Zeit gerechnet wurde. Von diesen Erfahrungen können viele Einwohner Bonns Ende der 80er berichten. Fragen der Normalisierung wurden also bereits vor 1989 zu einem Thema. Die Normalisierungsphase der 80er Jahre kann als eine verdeckte Normalisierung gekennzeichnet werden. Während die offizielle Rhetorik nach wie vor von einem Provisorium sprach, entwickelte sich die Bundesrepublik immer mehr zu einem souveränen Staat. Die Wiederherstellung der Kontinuität des bismarckschen Nationalstaates scheint in der Situation aber nicht „normal“ genug gewesen zu sein, um auf eine Kritik hieran gelassen reagieren zu können. Der beschriebene Streit war kein Einzelfall, die Aufführung hat es geschafft, das Publikum zu polarisieren. Man hatte das Gefühl, gleich würde sich das Publikum prügeln. An dieser Stelle im Interview wird suggeriert, dass es sich um einen Konflikt zwischen Ost- und Westdeutschen handeln könnte, da der Protagonist als Westdeutscher vorgestellt wird. Hierfür lassen sich jedoch im empirischen Material keine Belege finden. Es lässt sich vielmehr die These belegen, dass die Frage nach der politischen Bewertung der Wiedervereinigung, eine vorrangig westdeutsche Angelegenheit ist: An dieser Stelle wird die Zäsur 1989 für die westdeutschen Altersgenossen an-

19 Andreas Wirsching betitelte seine Monographie über die erste Hälfte der Regierungszeit Kohls auch „Abschied vom Provisorium“ (Wirsching 2006).

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schlussfähig: Die Ereignisse von 1989 als ein politisches Schlüsselerlebnis, das zum Nachdenken anregt oder bei dem man sich von den Ereignissen überrollt fühlt, ist eine Einschätzung, die von vielen ihrer westdeutschen Altersgenossen geteilt wird. Hier sei an das Erlebnis Timo Albrechts erinnert, dass die damalige westdeutsche Linke keine Antennen für die öffentliche Meinung zum Wiedervereinigungsprozess hatte. Sowohl über mögliche Folgen als auch politische Gefahren des Wiedervereinigungsprozesses zu reden ist eine westliche Angelegenheit, aber auch Versuche, die Debatte als beendet erklären zu wollen („Schlussstrich“): Ihr westdeutscher Freund kann es „nicht mehr hören“, die wesentlichen Fragen sind geklärt. Die bereits beschriebenen Schulddebatten, in die die Wiedervereinigung fiel, brachten Vorbehalte gegen einen neu erstarkenden Nationalstaat hervor. Aus ostdeutscher Sicht sind diese Debatten zumeist fremd 20. Kritik an der vorschnellen Wiedervereinigung wird von ostdeutscher Seite als Zurückweisung ihrer Wünsche und Interessen wahrgenommen (vgl. Bisky 2005: 105). Es fehlte Gelassenheit im Umgang mit diesen Fragen. Resümierend mahnt Claudia Lange gerade bei ihrer Generation diese ein. „Ich glaube, dass so ein Ereignis die Kraft hat, eine Generation zu prägen. Trotzdem ist es nicht passiert, das ist so, es gibt keine 89er Generation. Und man muss sich dann fragen, also ich hatte immer vor 89 das Gefühl, wir sind ne Generation, in Westdeutschland, der alles gegeben wurde, die keine richtige Geschichte erfährt, weil im Grunde alles schon feststeht, und so ist, wie es ist. Die großen Sachen sind längst vorbei, der Zweite Weltkrieg, mit seiner ganzen Grauenhaftigkeit, die Nachkriegsjahre, alles, was interessant war … interessant, das soll jetzt nicht zu makaber klingen. Das wirklich Bewegende lag hinter uns, unfreiwillig. Was wir hatten, war eben, wir reisten durch die Welt, waren viel unterwegs und es war ein bisschen viel los. Und ich hatte immer die Idee, das wenn so ein großes historisches Ereignis ist, das einen das unheimlich prägen würde, dann erleb ich das und auch andere und dann merke, das stimmt gar nicht. Es kann auch passieren, dass ein Ereignis passiert und trotzdem werden sie abgegeben. Weil es ja nicht jeden, zwangsläufig im Westen, jeden betraf. Das war ja im Osten, das hat ja jeden wirklich verändert, weil kein Leben wirklich so blieb, wie es war. Das war natürlich nicht so. Wahrscheinlich müssen historische Ereignisse … [Unterbrechung] Es gibt keine 89er Generation. Das Ereignis hätts hergegeben, aber es gab nicht die richtige Stimmung. Manchmal denke ich, dass sich das so ein bisschen daraus ergeben hat, das ist jetzt

20 Der Fall Nr. 6 stellt eine junge Frau aus Ostdeutschland vor, die dieses Fremdsein in den Westdeutschen Debatten beklagt, aber auch, dass die wesentlichen Fragen für die Verstrickung in die SED-Diktatur noch nicht vom Osten aus gestellt wurden.

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sehr popkulturell gesehen, aber es war schon so, dass nach 89 Berlin auch spannend war und mit den ganzen Techno-Sachen und Loveparade, und es war einfach eine unglaublich verrückte Stimmung, eine verrückte Zeit mit den leeren Gebäuden und jeder konnte überall irgendwas machen, war auch so eine rechtlose Zeit. Vielleicht, wenn wir als Generation schon etwas weiter gewesen wären und gesagt hätten, wir machen einen spaßigen Moment daraus. Ähnlich wie mit der Christo-Reichstagsverhüllung, von der ja keiner vorher gesehen hatte, wie prägend sie sein würde und viele, die da waren, sagen im Nachhinein, als das hat sie im Grunde noch viel mehr berührt als der Mauerfall. Das lag einfach daran, was das für eine lässige tolle Sommerstimmung war. Aber dafür war 89 dann auch zu früh.“

Vor 1989 hatte sie das Gefühl, einer Generation anzugehören, die eigentlich nichts vorzuweisen hat, die keine richtige Geschichte erfahren hat. Die wesentlichen Ereignisse – genannt wird hier der Weltkrieg – sind schon vorbei. Ihrer Generation wurde alles gegeben, sowohl materielle Entbehrungen sind ihr fremd, und sie musste sich auch keine Freiheiten erkämpfen. Hier klingt die an anderer Stelle dieser Arbeit beschriebene Genealogie der Bundesrepublik an, wenn auch implizit. Es werden die Flakhelfer genannt, die ihren Anteil an der Gestaltung der frühen Bundesrepublik hatten und auch die Protestgeneration, die neue Freiheiten erkämpfte. Die 89er als die dritte Generation in der Genealogie erscheint überflüssig: Die ökonomisch schweren Zeiten der Nachkriegsjahre sind überstanden und für weitere Freiheiten zu kämpfen, erscheint nicht mehr nötig. Man ist allenfalls Nutznießer dieser Errungenschaften. Es wird die „lost-generation“ der Bundesrepublik vorgestellt. Man hat Hoffnungen in ein möglicherweise bevorstehendes politisches Großereignis gesetzt, diese Lücke zu füllen und das die Chance zum Ausbruch aus der politischen Lähmung der Ära Kohl geboten hätte. Als es eingetreten ist, wurden die darin investierten Erwartungen nicht erfüllt. Das Ereignis hätte etwas hergegeben, aber die Stimmung dafür war nicht da, sie und ihre Altersgenossen waren nach 1989 nicht weit genug, der ironische Blick auf die Geschichte war zu diesem Zeitpunkt noch nicht ausgeprägt genug, um das Ereignis Wiedervereinigung spaßig aufnehmen zu können. Es war alles viel zu ernst, um Punkte zur Aneignung zu geben. Sie hätte sich für den Mauerfall etwas Zeit gewünscht, Christos Reichstagsverhüllung 1995 hat viele im Nachhinein mehr berührt als der Mauerfall. Die Verhüllung des Reichstages stellt einen Versuch dar, den Dialog zwischen Kunst und Politik anzustoßen, Politik künstlerisch zu verarbeiten. Ein Impuls, der weiterhin wünschenswert ist, während der Politikbetrieb immer bürokratischer und damit weniger kreativ zu werden scheint. Mögliche Impulse hat es zu dem Zeitpunkt viele gegeben. Man kann sich vorstellen, dass die popkulturellen Erfahrungen in Berlin um 1989 – die Technoszene mit vielen illegalen Clubs – eine Ablenkung von den politischen Ereignissen zu der Zeit bedeutet haben. Wäre das Ereignis früher ein-

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getreten, hätte man es sich auf eine entspannte Art aneignen können, aber es kam anders. Während das Ereignis, dem im Nachhinein das Potenzial zugeschrieben wurde, die eigene Generation prägen zu können, stattfand, tauchten die Angehörigen der Jahrgänge, aus denen eine Selbstthematisierung als 89er hervorging, in die Berliner Subkultur und Clubszene ab. In einigen Stadtteilen Ostberlins öffneten nach 1989/90 viele illegale Clubs und Cafés. An einer anderen Stelle des Interviews wird beschrieben, wie man Anfang der 90er seinen Weg durch schlecht beleuchtete Straßen finden musste, um den Weg zu einem illegalen Club im Keller eines Abbruchhauses zu finden. Dies scheint eine typische Szene Anfang der 1990er Jahre in Ostberlin gewesen zu sein. Auch wenn die Keimzelle einer popkulturellen Avantgarde in Ostberlin liegen mag, scheint ein kulturelles Ungleichgewicht zwischen beiden Teilen des Landes vorzuliegen. In kulturellen Fragen und Gütern scheint eine weitere wesentliche Unterscheidung zu liegen, wer aus dem Osten kommt, gilt oft kulturell als nicht „up to date“. Claudia Lange berichtet von der Silvesterfeier 1989/90 in Berlin. Nachdem man sich am Brandenburger Tor getroffen hatte, wurde über weitere Pläne an diesem Abend gesprochen und sie entschloss sich, mit ihren Freunden zu einer Feier in einen Jugendclub am Alexanderplatz zu ziehen. C. L.: „Und dann sind wir da rein gegangen, es gab verschiedene Säle und die tanzten alle und es lief Manfred Manns Earth Band [lacht] „Shining through the light“ oder wie dieses Lied heißt.“ M. G.: „Blinded by the light.“ C. L.: „‚Blinded by the light‘, genau. Und mein Freund Björn, […] der hörte Nirvana, und, die waren da noch gar nicht bekannt, und da hatte der die schon als Vorgruppe gesehen. Der kommt da rein, und hört „Manfred Mann“ und guckt sich um, das ist das allerletzte hier und danach war für den das ganze DDR Thema absolut gestorben. Das war gestorben. Der wollte da nichts mehr mit zu tun haben. Die hörten „Mannfred Manns Earthband“ und damit war Schluss. Also es war ästhetisch nicht akzeptabel. Und ich glaube die Erfahrung haben viele Leute gemacht. Dass die sagten, es geht nicht. Es geht hier alles ästhetisch nicht.“

„Blinded by the light“ repräsentiert die Musik der 70er Jahre, der Song gehört heute noch zu dem Standardrepertoire von Oldie- und Classic-Rock Sendungen im Radio. Die musikalische Gestaltung der Silvesterfeier lag deutlich jenseits der Erwartungen, die der zitierte Freund an diesem Abend gehabt haben dürfte. Ihr Freund Björn, der Darstellung nach ein Protagonist von Grunge21 und Alternati-

21 Grunge ist die Aufnahme des Punk-Impulses im US-amerikanischen Mainstream. Zu den Protagonisten dieser Musikrichtung zählen z.B. Nirvana. Der Gießener Politik-

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ve, er hörte Nirvana zu einem Zeitpunkt, als sie in Europa noch weitgehend unbekannt waren. Die Musikauswahl in dem Ostberliner Jugendclub konnte diesen avantgardistischen Anspruch nicht erfüllen, man war kulturell nicht „up to date“. Damit ist das Thema für ihn gestorben. Es wird zwar hin und wieder der Versuch unternommen, Jugend- und Heranwachsendenzeit in der DDR als eine popkulturelle Westprägung darzustellen, überzeugend daran ist, dass die DDR-Jugend vor allem durch das Westfernsehen sehr an der westlichen Popkultur interessiert gewesen sein dürfte, gewirkt hat es insgesamt rückständig. Der Expertise des Freundes hält der Osten nicht stand: „Das ist das allerletzte hier.“ Der Osten war für ihn danach gestorben. Das Programm in einem Ostberliner Jugendclub wird kurze Zeit nach dem Mauerfall den Spielregeln der kulturellen Distinktion unterworfen, wie ein westdeutscher Club, ohne zu fragen, ob dies angemessen ist, z.B. ob aktuelle Veröffentlichungen der „Undergroundszene“ bekannt, oder besser verfügbar gewesen sind. Auch wenn von ostdeutscher Seite oft betont wird, dass die Sozialisation sehr durch die Popkultur des Westens bestimmt war, wirkte es im Osten nicht up to date, besonders nicht, wenn es um Insidertipps der westlichen Popkultur ging. Im Laufe des Interviews hat sie angesprochen, dass sich nicht nur das Leben im Osten verändert hat, sondern auch der Westen deutliche Veränderungen durchmachen musste. Die Bundesrepublik nach 1989 wird häufig als weniger sozial beschrieben, das Leben ist härter geworden, auch im Westen. Einige ihrer Altersgenossen beschreiben sich selbst als Verlierergeneration des Wohlfahrtsstaates. M. G.: Die 89er gelten als Wohlfahrtsstaatsverlierergeneration. Können Sie damit etwas anfangen? C. L. : „Ich glaube, es hat beide Seiten, wenn ich jetzt meine Eltern sehe, wie die jetzt leben. Die sind jetzt beide in Rente. Und auch von anderen Eltern, westdeutschen Eltern, die haben Renten, da haben wir keine Chance. Und die hatten eine soziale Sicherheit: Arbeitsverträge, die sind unglaublich. Das werden wir nicht mehr erleben. Und man merkt ja, wenn man mal Gesprächen zuhören, dann sind die immer nur dabei zu planen, wohin sie jetzt als nächstes reisen. Ob Sie jetzt eine Sprachreise in der Provence machen oder lieber die Fahrradtour durch Indien [lacht] und das ist sicher so. Aber gleichzeitig, in der Art, wie gearbeitet wird, jetzt für mein Empfinden, ist es bei Leuten in dieser akademischen Schicht, in der ich mich meistens bewege, sind die Erwartungen auch gar nicht da, solche Dauerverträge zu haben. Und es ist nicht mal so, dass man jetzt klein beigegeben hat. Die Gewerkschaften würden dann sagen, man hat klein beigegeben. Sondern es ist tatsächlich so, dass der Wechsel auch

wissenschaftler Erik Meyer zählt Nirvana zum Soundtrack der Generation X – von ihm synonym zu den 89ern verwendet (vgl. Meyer 1997: 390f.).

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’ne viel größere Rolle spielt. Wenn man Berufsbiographien sieht, dass ist … der Wechsel ist an und für sich schon ein Wert. Bei Journalisten ist es so, wenn man zum „Spiegel“ kam, oder zur „Zeit“ oder zur „Süddeutschen“, dann ist man da nicht mehr weggegangen. Da war man, wer es einmal da hingeschafft hat. Und das ist nicht mehr so. Das liegt nicht nur daran, dass der Spiegel, dass die nicht mehr solche Verträge ausgeben, sondern dass Karrieren viel mehr darin bestehen, über Bande zu spielen und von einem Arbeitgeber zum anderen zu gehen und in Projekten zu arbeiten und die eigenen Interessen zu verbinden mit dem, was die Arbeit ist. Die Zeit ist auch schneller geworden. Insofern habe ich diesen Einschnitt jetzt nicht so als Verlierertum erlebt, sondern als Befreiung. Andererseits merke ich natürlich, also die Kosten werde ich erst merken, wenn ich in Rente gehe und wenn ich sehe, was ich von der BFA kriege, dann muss ich weinen [lacht] das ist grauenhaft und es wird schon so sein, dass ich lange arbeiten werden muss, wahrscheinlich. Es wird auch nicht so sein, dass ich eine typische Erbin sein werde. Also da müsste man mich in zwanzig Jahren noch mal fragen, ob ich nicht lieber den Wohlfahrtsstaat gehabt hätte, aber grundsätzlich arbeite ich gerne, also … Ich fand, für mich war die Bundesrepublik sehr eng in den 80er Jahren und das hatte auch was mit dieser ungeheuren Sicherheit und Wattigkeit zu tun und insofern kann ich nur immer sagen, war 89 auch befreiend und macht die Bundesrepublik auch, oder Deutschland auch realistischer.“

Claudia Lange bewertet die Krise des Wohlfahrtsstaates zweischneidig: Ein spürbarer Unterschied im wohlfahrtsstaatlichen Schicksal zu der Generation ihrer Eltern ist für sie zu erkennen. Sie haben erfüllte Karrieren vorzuweisen, sind jetzt als Rentner sozial gut abgesichert – mehr noch: Ihr demonstrativ nach außen getragener Wohlstand wirkt auf die jüngere, relativ anspruchslose Tochter fast schon provokant: Man fragt sich, ob man eine Sprachreise in die Provence machen soll, oder doch lieber die Fahrradtour durch Indien. Wenn sie sieht, welche Rentenansprüche ihr die BFA einräumt, „muss sie weinen“, wie sie scherzhaft anmerkt. Die ersten Zeilen ihrer Schilderung lesen sich eher unbeschwert, sie nimmt eine Verschlechterung sehr wohl war: Sie weiß, dass sie einen Wohlstand in dieser Form nie teilen wird. Ein Grund, ihren Humor zu verlieren, ist dies für sie nicht. Das Wegfallen dieser Sicherheiten, das als Folge des 89er Umbruchs für Westdeutschland interpretiert wird, ist für sie eine Befreiung. Die Möglichkeit, etwas Neues ausprobieren zu können und die gewonnenen Freiheiten zu nutzen, stehen im Vordergrund. Hier tritt als Modalität der Lebenskunst die der Flexibilität auf: Im Vordergrund stehen die Wahlmöglichkeiten, sie kann über „Bande spielen“, Projekte übernehmen, ein Wechsel von einem Arbeitgeber zum anderen erscheint nicht als Makel, sondern zeitgemäß. Um mit diesem Wandel Schritt halten zu können, muss man flexibel sein. Was in der soziologischen Zeitdiagnose bedrohlich erscheint, wird hier positiv geschildert. Sie trauert den Lebensentwürfen ihrer

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Elterngeneration nicht nach, Arbeitgeber geben zwar keine unbefristeten Verträge mehr aus, aber die Karrieren haben sich positiv durch neue Chancen verändert. Es ist keine Erwartung mehr da, Verträge zu bekommen, die unbegrenzt sind. Es fällt auf, dass sie an dieser Stelle des Interviews – obwohl sie nach Generation gefragt wird – ein alternatives Deutungsmuster einführt, das der Schicht. Der Begriff der Schicht beschreibt Gruppen, deren wichtigstes gemeinsames Merkmal ein ähnlicher beruflicher oder sozialer Status ist. Es ist von Einkommensschichten, Berufsprestigeschichten oder Bildungsschichten die Rede (Hradil 1999: 37f.). Auf einen Angestellten einer Sparkasse oder einen Facharbeiter im Metall – verarbeitenden Gewerbe wirkt die Aussicht, keinen festen Arbeitsplatz zu bekommen, vermutlich wesentlich bedrohlicher. In der „akademischen Schicht“, der sie sich zurechnet, sind die Erwartungen nicht so hoch, als dass sie enttäuscht werden könnten. Einen Schritt weitergedacht bedeutet das, dass Karrieren nicht mehr lebenslang verbindlich sein werden, sondern man sich in Zukunft auch beruflich umorientieren müssen wird. Die Bewertung dieser Veränderungen erinnert an die Beschleunigungsdiagnose Hartmut Rosas: Während in der klassischen Moderne ein Beruf lebenslang ausgeübt wurde, ist die Spätmoderne von einem intragenerationellen Wechsel gekennzeichnet (Rosa 2005: 184). Die damit verbundene Flexibilisierung nimmt sie auch als eine Befreiung wahr: Der Wechsel des Arbeitgebers ist kein Stigma mehr, sondern hat auch einen Wert. Es wird über „Bande gespielt“, d.h. das Ansteuern von Stationen, die nicht das vordergründige Ziel darstellen, wird attraktiv. Die flexible Lebensführung, die an die Stelle der lebenslangen Bindung an einen Arbeitgeber tritt und die Problematik des Wohlfahrtsstaates sind für sie zweischneidige Erscheinungen: Einerseits weiß sie um die Errungenschaften ihrer Elterngeneration, andererseits möchte sie auch den Freiheitsgewinn, den das Aufbrechen dieser Strukturen herbeigeführt hat, nicht missen wollen. Die mögliche Interpretation, dass sie sich ihrem sozialpolitischen Schicksal gegenüber affirmativ verhält, weist sie zurück: Die Gewerkschaften würden sagen, dass sie klein beigegeben hat, so nimmt sie ihre Lage aber nicht wahr. Ihre Lebenseinstellung erinnert an den Spieler, den spätmodernen Optionensammler, der neue Chancen aufnimmt, ohne langfristige Planungen einzugehen. Um die Rolle des Spielers in vollem Maße ausfüllen zu können, fehlt ihr das Vertrauen in den Zufall, Karrieren bleiben für sie planbar. In diesem Sinne hat das Wegfallen dieser Ordnung auch eine befreiende Funktion gehabt, denn die alte Bundesrepublik hat auf sie sehr behütend und damit auch etwas langweilig gewirkt. Diese Veränderungen sind nicht auf den Systemumbruch selbst zurückzuführen, sondern der um das Jahr 1989 zu vermerkende Beschleunigungsschub hat auch die Auswirkungen auf den Westteil der Bundesrepublik gehabt.

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Was hätte sie vom Wohlfahrtsstaat zu erwarten gehabt? Sie spricht in vielerlei Hinsicht stellvertretend für eine negativ privilegierte Versorgungsklasse im Wohlfahrtsstaat. Als jemand, der einen wesentlichen Teil seines eigenen Lebensunterhaltes aus freiberuflichen Tätigkeiten bestreitet, kann sie ohnehin nicht auf große Zuwendungen von Seiten des Wohlfahrtsstaates hoffen, sondern muss ihr Leben jenseits des Wohlfahrtsstaates organisieren. Auch Frauen sind eine vom Wohlfahrtsstaat negativ privilegierte Gruppe: Der bestehende Wohlfahrtsstaat honoriert Familien- und Reproduktionsarbeit kaum, Aufwendungen, die hierfür aufgebracht werden, führen zu relativ geringen Anwartsrechten. In diesem Sinne wird sie die aktuellen Umbaumaßnahmen am Wohlfahrtsstaat nicht in dem Maße als Krise wahrnehmen wie Personen, die auf eine Karriere mit Festanstellung gehofft haben, aber die Realität hat für sie nur noch Zeitverträge zu bieten. Es „macht die Bundesrepublik auch realistischer“. An anderer Stelle erzählt sie, dass sie viel im Ausland gewesen ist, und dort hat sie gelernt, dass es dort weniger stark ausgeprägte soziale Sicherungssysteme gäbe. Der Vergleich lehrt sie, dass die Bundesrepublik nach wie vor über ein relativ stabiles soziales Netz verfügt. In der abschließenden Diskussion dieser Fallstudie stellt sich zunächst die Frage, welche Vorstellungen einer gemeinsamen Generation in Claudia Langes Erzählung zu erkennen sind. Obwohl Claudia Lange sich eher als „89er“ im Sinne der historischen Zäsur begreift, findet sie damit keinen Anschluss an die Gleichaltrigen. Über möglicherweise gemeinsame Erfahrungen der historischen Zäsur wird nicht gesprochen. Bei der Frage nach dem Wohlfahrtsstaat ist sie überzeugt, die Erfahrung der Problematik eines alternden Wohlfahrtsstaates mit ihren Altersgenossen zu teilen, wenn auch mit der Einschränkung, dass sie diese Einschnitte als weniger negativ wahrnimmt als andere Stimmen. Die Erfahrungen, die für die individuelle Biographie wesentlich erscheinen, müssen also keine herausragende Relevanz für die individuelle Biographie besitzen und umgekehrt. Dieser Fall sticht aus den anderen westdeutschen Fällen insofern etwas heraus, als dass sich Claudia Lange nicht vordergründig über die in dieser Arbeit mehrfach beschriebene Genealogie 68/ 89 definiert, sondern dass sie einen substanziellen Erfahrungszugang zu den Ereignissen 1989 hat, da sie lange vor dem Fall der Mauer eine deutsch-deutsche Kompetenz aufgebaut hat. Claudia Lange lernt etwas über die Kontingenz der Geschichte durch den Mauerfall, niemand hat diese Entwicklung vorausgeahnt. Nichts von dem, was bis dahin über die DDR behauptet wurde, hat sich als richtig erwiesen. Es wird hier keine Abgrenzung zu einer konkreten Generation angestrebt, wie es im Fall Michael Kramers (Fall 1) und Timo Albrechts (Fall 2) zu Erkennen war, sondern als „89er“ stehen sie am Anfang vieler neuer Geschichten. Die Abgrenzung zu den Älteren fällt hier allgemeiner aus: Die Voraussagen, die die Älteren über die DDR gemacht haben,

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haben sich als unwahr erwiesen. Das bekannte „Kohl – Trauma“ wird von einer anderen Seite beleuchtet. Timo Albrecht nahm es als eine ungerechte Entwicklung wahr, dass Kohl den Systemumbruch zu seiner Wiederwahl nutzen konnte. Die Gründe, warum das so gekommen ist, werden ihm immer ersichtlicher, je erfahrener er wird. Im Fall Claudia Langes stellt sich eher die Frage, warum Helmut Kohl das Feld derart bedingungslos überlassen wurde. Wie ist der Fall Claudia Langes generalisierbar? Man könnte argumentieren, es handele sich hier um einen Sonderfall, ein besonderes Schicksal, wie schon der Interviewanfang suggeriert. In diesem Fall wird eine West-Ost-Erzählung vorgestellt. Während von der fernsehsozialisierten Generation ihrer Altersgenossen die Rede ist, die die Wende und den Wiedervereinigungsprozess vor dem Fernseher verbracht haben, hat die historische Zäsur für sie eine besondere Relevanz. Während die Wende und der Wiedervereinigungsprozess für ihre Altersgenossen im Osten einen kompletten Umbruch bedeutet haben dürfte, ging im Westen weiterhin alles seinen gewohnten Gang. Dieser Fall zeigt, dass Erfahrungen, die von vielen ihrer Altersgenossen geteilt wurden, latent und individuell bleiben. Sie spricht von dem bereits an vorheriger Stelle zitierten Stein auf dem Boden der Erinnerung, der nicht aufgenommen wird. Sie scheint mit ihrer Geschichte zwischen den Stühlen zu sitzen: Ihre Geschichte erscheint im Westen als Sonderfall, ihre ostdeutschen Altersgenossen können wenig von dem verstehen, was sie über Veränderungen im Westen erzählt. Dieser Fall wurde ausgewählt, weil er eine „signifikante Minderheit“ abbildet, wie das Ereignis des Mauerfalls aufgenommen wurde. Claudia Lange weist zu Anfang des Interviews darauf hin, dass sie mit diesen Erfahrungen nicht allein dasteht, sie werden nur nicht gemeinsam geteilt. Dieser Fall wurde noch aus dem Grund ausgewählt, da hier die Problematik der historischen Zäsur für Westdeutschland diskutiert wird. Auch wenn diese Fallstudie für eine Minderheit spricht – das „DDR-Thema“ wurde nach wie vor sehr leidenschaftslos bis desinteressiert behandelt, auch Jahre nach der Wiedervereinigung ist vielen der andere Teil des Landes fremd geblieben – erscheint dieser Fall generalisierbar: Als einer der wenigen gesellschaftlichen Akteure der Bundesrepublik unterhielten die Kirchen weiterhin gesamtdeutsche Strukturen, z.B. entsendeten die evangelischen Kirchen Westdeutschlands Pfarrer in das Gebiet der damaligen DDR, die katholische Kirche unterhielt ein Bistum für Gesamtberlin usw. Ferner sind Kontakte der GRÜNEN zu Teilen der DDR-Bürgerrechtsbewegung zu nennen. Aus diesen Gründen ist davon auszugehen, dass es abweichend von der gängigen Interpretation in der westdeutschen Population Personen gibt, die vergleichbare Erfahrungen gemacht haben. In diesen Zusammenhängen bestanden Verbindungen zwischen Ost- und West jenseits der oft zitierten verwandtschaftlichen Beziehungen,

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die während der Teilung als eine der letzten bindenden Gemeinsamkeiten zwischen beiden Staaten galten, deren Stabilität jedoch begrenzt war (vgl. Borneman 1991: 148). In der dieser Arbeit zugrunde liegenden Erhebung habe ich ein weiteres Interview geführt, in dem ein Westberliner des gleichen Jahrganges von seiner Erfahrung des Mauerfalls gesprochen hat, den er während der Fahrt zu einer kirchlichen Jugendkonferenz in der damaligen DDR erlebt hat. Auch in Stephan Pannens Mauerkinder-Buch findet sich die Erzählung, wie der Autor ein „Sonderinteresse“ für die DDR entwickelt hat: Während seines Studiums suchte er nach einem möglichst exotischen Ziel für einen Auslandsaufenthalt, am außergewöhnlichsten erschien es, sich für den deutsch-deutschen Kulturaustausch zu bewerben. Er scheiterte in zwei Auswahlverfahren, einmal an der Bundesdeutschen Auswahlkommission, das zweite Mal an den Behörden der DDR. Bei einem dritten Versuch ließ er sich von Freunden in der DDR einladen, die ausgerechnet Studentenpfarrer in Leipzig waren. Der Besuch fiel in den Oktober 1989 (Pannen 1994: 187f.). In diesem Fall sind westdeutsche Erfahrungen des Systemumbruchs und des Wiedervereinigungsprozesses zu erkennen, die zwar viele geteilt haben, die aber unausgesprochen blieben. Viele der Erzählungen Claudia Langes handeln von Freunden im Westen wie im Osten. Es wird keine besonders starke Abgrenzung gegenüber einer älteren Generation vorgenommen, anders als bei den ersten beiden Fallstudien in diesem Kapitel. Sie grenzt sich ebenso stark von den eigenen Altersgenossen ab. Es wird über die Erfahrungen berichtet, die sie mit den eigenen Altersgenossen geteilt hat. In der Bewertung dieser Erfahrungen trennt sie sich von den Gleichaltrigen: Die eingangs beschriebene Frage, wieso diese gemeinsamen Erfahrungen nicht geteilt werden, lässt sich an diesem Fall weiter aufhellen: Die Erfahrungen haben zwar viele andere auch geteilt, aber sie trennen sich in der Bewertung dieser Erfahrungen: Der Osten war für viele kulturell nicht up to date, viele sehen nur die Unterschiede, nicht die Gemeinsamkeiten, die gemeinsame problematische Geschichte ist den Ostdeutschen oft fremd, während die Westdeutschen von der Behandlung dieser Themen oft übersättigt scheinen, wie die geschilderte Reaktion auf die Aufführung in der Volksbühne zeigt. Die mögliche gemeinsame Erfahrung bleibt unausgesprochen, den Protagonisten wird das Gefühl vermittelt, es handelt sich um eine individuelle Erfahrung. Um auf das bereits beschriebene Bild vom Blick auf den Verkehr in der Stadt zurückzukommen: Es wird nicht über den Weg gesprochen, der von Westen nach Osten führt, obwohl ihn viele gegangen sind. Wer diesen Weg gegangen ist, hält ihn für eine atypische Entwicklung, die unausgesprochen bleibt oder über die nur am Rande gesprochen wird. Mehr über die beschriebenen West-Ost-Biographien in Erfahrung zu bringen, ist ein aus dieser Arbeit entstehendes Desiderat für die empirische Forschung. Eine wesentliche

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Gemeinsamkeit der westdeutschen Fälle ist, dass es darum geht, auszuhandeln, wie die Vorkommnisse nach 1989 in der Bundesrepublik zu erklären sind. Als wesentlich sticht die Phantasie eines Ausbruches aus dem politisch als erstarrt und langweilig wahrgenommenen Alltagslebens der Kohl-Ära hervor hin zu Bestrebungen, den Umgang mit den neuen Freiheiten und den daraus resultierenden Risiken nach 1989 zu erlernen. Der Ausstieg aus den neuen Gefährdungen kann in einem versuchten Rückzug auf Altbekanntes liegen, ob hier die Erlösung zu finden ist, sei dahingestellt.22 Im Schlusskapitel dieser Arbeit wird dieses Motiv erneut aufgegriffen.

4.2 Ostdeutschland 4.2.1 Fall 4: Oliver Rieger: „… [w]eil ich dort begonnen habe, politisch zu arbeiten.“ Oliver Rieger wurde 1972 in Leipzig geboren, mit seiner Familie zog er Mitte der 80er Jahre nach Berlin. Hier besuchte er bis zum Abitur eine polytechnische Oberschule, bevor er mit dem Studium begann. Nach Abschluss des Studiums gewann er relativ überraschend sein erstes Mandat als Abgeordneter der Linkspartei im Brandenburgischen Landtag. Er ist verheiratet und hat ein Kind. Innerhalb seiner Partei gilt er als Vertreter eines jungen und pragmatischen Flügels. Die Rahmendaten seiner Biographie nach 1990 lassen auf den ersten Blick auf eine häufig anzutreffende Karriere in der politischen Klasse schließen. Nach Abitur, Wehr-/Ersatzdienst und Studium wird ein erstes Mandat oder Amt übernommen. Es ist von der Professionalisierung der politischen Klasse die Rede, weil viele ihrer Vertreter oft keinen Beruf neben der Politik ausüben und außer ihren politischen Funktionen keine nennenswerte Berufserfahrung vorzuweisen haben. Viele jüngere Angehörige der politischen Klasse wählten im Studium bereits das Fach Politikwissenschaft, diese Beschreibung trifft vor allem auf Politiker in Westdeutschland zu. 23 Ostdeutsche Karrieren in der Politik sind dagegen vor allem in den frühen 1990er Jahren durch Quereinsteiger geprägt, die im SED-Regime keine Chance auf eine politische Karriere hatten und nach 1989 ihre

22 Vgl. hierzu das Zitat Christoph Amends im Einleitungskapitel auf S. 9: Personen die in der Krise gescheitert sind, ziehen in ihre Heimatregion zurück, weil sie dort etwas zu finden glauben, dass sie an anderer Stelle nicht finden können. 23 Vgl. hierzu auch den Fall 2.

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Chancen in der Politik wahrgenommen haben. Während beim Elitenaustausch anlässlich des Wiedervereinigungsprozesses vor allem Westdeutsche bei der Besetzung maßgeblicher Posten begünstigt waren, sind aber auch eher oppositionelle Personen bei der Besetzung von Stellen nicht berücksichtigt worden, da z.B. die detaillierte Kenntnis des politischen Systems der Bundesrepublik und von westdeutschen Rechtsnormen ein wesentliches Kriterium für die Vergabe der begehrten Posten war. Die Politik bot im Gegensatz dazu auch Aufstiegschancen für Personen aus Ostdeutschland. Ulrich Derlien und Stefan Lock gehen davon aus, dass sich dieser professionalisierte Karrieretypus eines Berufspolitikers in der ostdeutschen Politiklandschaft zukünftig noch ausbilden wird (Derlien; Lock 1994: 74). Oliver Rieger scheint – entgegen dem äußeren Anschein – keine derartige Karriere angegangen zu haben, obwohl die äußeren Umstände zunächst darauf hinzudeuten scheinen: Nach dem Abitur begann eine Art duale Ausbildung mit dem Abschluss „Diplom“ an einer Fachhochschule. Es war für ihn wichtig, wie er sagt, schon während der Ausbildung eigenes Geld zu verdienen, da sein Studienbeginn kurz nach Abklingen der Turbulenzen des Wiedervereinigungsprozesses begann und er auf keine nennenswerte Alimentierung durch die Eltern hoffen konnte – auch sie waren zeitweise von Arbeitslosigkeit bedroht. Ein duales Studium ermöglichte es ihm, Gelderwerb mit einer Hochschulausbildung zu vereinbaren. Nach der Diplomprüfung konnte er sich über ein Übernahmeangebot der Firma, bei der er bereits während des Studiums arbeitete, freuen, wieder kam es anders. Er gewann für seine Partei einen Wahlkreis bei der Landtagswahl in Brandenburg, den er bis heute vertritt. Der Brotberuf konnte nun hinter der politischen Tätigkeit zurückgestellt werden. Sich von Anfang an auf eine politische Karriere festzulegen, wie es viele Berufspolitiker seiner Alterskohorte in Westdeutschland tun, dürfte ihm Anfang der 1990er zu prekär erschienen haben. Es scheint hier eine pragmatische Lebensplanung vorzuliegen. Es ist nicht der Pragmatismus eines postmodernen Spielers, der darauf vertraut, dass sich immer wieder neue Chancen auftun werden, die spontan genutzt werden wollen, wie es für den westdeutschen Teil dieser Alterskohorte propagiert wird: Zugespitzt sprechen Johannes Göbel und Christoph Clermond von der „Tugend der Orientierungslosigkeit“ (Goebel, Clermond 1998). Diese lockere Planung wäre für ihn nicht nachvollziehbar, statt ein Vertreter dieses verspielten Lebensstils zu sein, erscheint er eher bodenständig. Alles auf eine Karte zu setzen, wäre nicht seine Sache. Man sollte ihn aber auch nicht als einen reinen Optionen-Sammler missverstehen, der von Projekt zu Projekt wechselt, und seine Karriere über Bande spielt. Politik und Brotberuf sind zwei wesentliche Aspekte in seinem Leben, die miteinander vereinbart werden wollen. In diesem Sinne ist auch für Oliver Riegers Lebenskunst die Modalität Stimmigkeit zu nennen. In einer weiteren Hinsicht

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dürfte seine Biographie deutlich von denen der übrigen Vertreter der westdeutschen politischen Klasse abeichen: Oliver Rieger gehörte bis zum Ende der DDR zu der Gruppe der „überzeugten Sozialisten“, die DDR wurde aus einer privilegierten Sicht wahrgenommen. In Schule und Freizeit übernahm er zahlreiche politische Ämter und Funktionen, bis die Ereignisse des Herbstes 1989 seine politische Karriere zunächst auf Eis legten. Der Verlust zahlreicher Ämter, die er bis dahin innehatte, dürfte als eine gewisse Verletzung wahrgenommen worden sein. Wenn man bis 1989 zu den überzeugten Sozialisten gehört hat, ist der Fall der Mauer – anders als bei vielen der eigenen Altersgenossen – nicht vordergründig eine Befreiung, sondern bedeutete zunächst den Verlust bisheriger Privilegien. In der Retrospektive dürfte die DDR für ihn zum richtigen Zeitpunkt zusammengebrochen sein, er konnte die biographisch wesentlichen Stationen nach dem Anschluss an die Bundesrepublik absolvieren, das Abitur nach „Westmaßstäben“ schreiben, das Studium an einer Anfang der 1990er Jahre neu gegründeten Fachhochschule aufnehmen. All dies dürfte ihm im Nachhinein als Glücksfall erscheinen, aber es stellen sich immer wieder Fragen, wie man sich verhalten hätte, wenn es nicht zum Zusammenbruch der DDR gekommen wäre. Warum hat man sich verführen lassen? Welche weiteren Zugeständnisse hätte man an der Diktatur gegenüber gemacht? Mit diesen Fragen steht Oliver Rieger nicht allein: Der Journalist Jens Bisky stellt sie sich selbst in einem autobiographischen Buch. Als Kind eines prominenten DDR-Wissenschaftlers (Lothar Bisky – später Vorsitzender der Linkspartei) gehörte auch er zu den überzeugten Sozialisten. Damit nahm er sich zu DDR Zeiten selbst als Außenseiter war. Diese Autobiographie wird von einer Spannung zwischen der Idealvorstellung von Sozialismus bei gleichzeitiger Kritik an der gerontokratischen Führungselite der DDR bestimmt (Bisky 2004: 94). Der Fall der Mauer hat nicht nur einen Einschnitt für individuelle Karrieren bedeutet, sondern hat auch den privilegierten Blick auf die DDR beendet, der zwar durchaus kritisch gewesen sein kann, aber viele Probleme und die Realität der Diktatur ausgeblendet hatte. Obwohl Oliver Rieger durchaus überzeugend als professioneller Politiker wirkt, weist seine Geschichte wesentliche Unterschiede zu den Biographien seiner westdeutschen Kollegen auf. Es kann angenommen werden, dass aus dieser ungewöhnlichen Lebensgeschichte ein besonderer Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft herrührt. Oliver Rieger ist dazu in besonderer Hinsicht prädestiniert, über diesen doppelten Blick nachzudenken: Der ostdeutsche Geburtenjahrgang 1972/73 ist der letzte, der die obligatorische Schulausbildung über zehn Klassen komplett unter den Bedingungen des DDR-Regimes absolviert hat (Förster 1999: 20). Auch im Interview wird er sich fragen, wie alt man gewesen sein muss, um von Nachwirkungen oder Einflüssen der DDR-Sozialisation sprechen zu können. Es

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kann angenommen werden, dass Jüngere die DDR möglicherweise in besserer, versöhnlicher Erinnerung behielten, während Oliver Riegers Altersgruppe auch die Schattenseiten der DDR in Erinnerung behalten hat. Dies wirft die allgemeine Frage auf, wie alt man gewesen sein muss, um diesen „doppelten Blick“ entwickelt zu haben, von dem in den ostdeutschen Interviews meiner Arbeit oft die Rede ist: Man ist einerseits der Bürger eines verschwundenen Landes, der DDR. Die Prägung aus dieser Zeit hält möglicherweise noch an, andererseits ist man Bürger der Bundesrepublik. Diese Frage ist der rote Faden, der sich durch die Interviews mit ostdeutschen Protagonisten dieser Generationenrhetorik spannt. Meine Interviewanfrage an Oliver Rieger wird wohlwollend und zügig beantwortet. Wir treffen uns in der Parteizentrale der Brandenburgischen Linkspartei in Potsdam. Auch hier wird das Interview hin und wieder durch das geschäftige Treiben im Haus gestört, es gelingt ihm aber trotz aller Unterbrechungen immer wieder, den Faden des Interviews aufzugreifen. Auf die Frage, wie ihm klar geworden ist, dass das Label der 89er etwas über ihn aussagen würde, beginnt seine Erzählung: M. G.: „Am Anfang war die Frage, wie kam bei Ihnen das Bewusstsein auf, zur 89er Generation zu gehören. Wie ist das gekommen, dass Sie damit was anfangen konnten?“ O. R.: „Ja, bei mir ist das so, dass ich meine aktive politische Tätigkeit 1989 begonnen habe. Bei uns war das so, dass die normal DDR geprägten Karrierewege – wie auch ich sie im Blick hatte – naturgemäß alle im Eimer waren. Also 1989: Ende der DDR, Umbruchsituation und nach einer kurzen Phase der Verstocktheit und Bockigkeit meinerseits, war es einfach so eine spannende Zeit, gerade in Ost-Berlin und den neuen Bundesländern mit der Gründung von vielen neuen Parteien, Bewegungen, dass man als politisch interessierter Mensch da quasi automatisch aktiv wurde. Ich habe selber bei einer Partei-, nee, bei einer Organisationsgründung mitgewirkt. [Unterbrechung] ‚Marxistische Jugendvereinigung junge Linke‘ haben wir damals gegründet, als Alternative zur FDJ, also das waren so die Zeiten, wo man gar nicht zuerst geguckt hat, wie relevant wäre das im normalen parlamentarischen System, weil das hatten wir ja nicht, sondern nur auf diese Weise. Und dann bin ich sehr schnell in die PDS gekommen, und da auch aktiv gewesen. Also letztlich ist für mich die 89er Prägung die, weil ich dort begonnen habe, politisch zu arbeiten.“ M. G.: „Aus der historischen Zäsur heraus?“ O. R.: „Also, ich war sowieso ein politischer Mensch, aber Politik in der DDR funktioniert halt anders. Deswegen, die richtige Tätigkeit in der bürgerlichen Demokratie ging da los und hat auch da begonnen mir Spaß zu machen und, ja, daher kam letztlich auch die Tätigkeit, in der ich heute bin.“ M. G.: „Aus dieser historischen Zäsur heraus, welche politischen Deutungsansprüche oder welche Programmatiken entstehen daraus?“

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O. R.: „Ja, es hat sich verschoben in der Zeit. Es war am Anfang so … [Unterbrechung]

Die erste Prägung war damals die – die heute gar nicht mehr so entscheidende – zu versuchen, das was ich aus der DDR kannte – und künftig nicht mehr geben wird – bewahren. Das war ganz klar und deshalb war es damals nur die PDS, weil alle anderen Parteien damals gesagt haben, das ist alles ganz schrecklich. Das ich gesagt habe, das, was gut war an der DDR muss bewahrt werden und in die neue Gesellschaft überführt werden. Also, damals war das ganz klar die innere Prägung. Das hat sich aber dann über die Jahre hinweg verschoben, und dann war es doch eher der Solidaritätsgedanke – also die Starken sollen den Schwachen helfen. Das ist natürlich alles ein Stücke wahrscheinlich DDR Prägung, aber das ist heute das überwiegende, weil das mit der DDR erledigt ist. Das ist nicht mehr das Wichtige.“ Er beginnt seine Erzählung relativ selbstverständlich. Es scheint für ihn keinen Unklarheiten darüber zu geben, woher diese Rhetorik kommt und wie begründet eine Selbstbezeichnung als 89er zu sein scheint, sondern er beginnt sofort mit der Darstellung seiner eigenen Biographie, 89er ist er, weil in dieser Zeit die Weichen für sein jetziges Leben gestellt wurden. Nach dem Umbruch 1989 hat er angefangen, politisch zu arbeiten. Nicht in der ritualisierten, offiziellen Politik der DDR, sondern 1989 hat sich für ihn der Weg in die parlamentarische Demokratie geöffnet. Bis zum Engagement in der bürgerlichen Demokratie, in der er heute tätig ist, war noch eine längere Entwicklung nötig. Eine längere Begründung erscheint vor allem deshalb nicht notwendig, weil in seinem Fall ein eindeutiges Zusammentreffen von historischer Zeit und individueller Lebenszeit vorliegen dürfte; anders als bei vielen westdeutschen Wortführern dieser Rhetorik. Der 89er-Umbruch hatte für Oliver Rieger zunächst die Konsequenz, dass seine eigene Biographie durcheinander gewirbelt wurde. Die Karrierewege, die die damalige DDR zu bieten hatte, die er auch für sich in Erwägung gezogen hatte, waren „im Eimer“. Diese Formulierung fällt auf: Was bedeutet die Aussage der „normal DDR geprägten Karrierewege“ genau? Damit dürften nicht Berufe wie die eines Ingenieurs oder Arztes gemeint sein, hätte er eine solche Karriere geplant, würde die Wende nicht das Ende dieser Karriere bedeuten, der Systemumbruch hätte zwar auch in diesem Fall vieles verändert, möglicherweise das eine oder andere persönliche Problem verursacht, am eigentlichen Karriereziel hätte sich nicht viel geändert. Es scheint vielmehr um Karrierewege zu gehen, die sehr eng mit dem politischen System der DDR verknüpft gewesen sind. Die eines Berufsoffiziers, Anstellungen in der Ministerialbürokratie usw., bei denen klar war, dass es für sie keine berufliche Perspektive auf dem Arbeitsmarkt der Bundesrepublik geben

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würde. Es gab eine kurze Phase, in der er versuchte, sich diesen Entwicklungen gegenüber zu verschließen, eine „kurze Phase der Verstocktheit“ oder „Bockigkeit“. Die Ereignisse des Jahres 1989 haben die bisherige Lebensplanung gegenstandslos werden lassen. Die Entscheidung für eine „staatsnahe Karriere“ lässt auf eine gewisse Identifikation mit dem politischen System der DDR schließen, dementsprechend hoch dürfte die Enttäuschung oder auch Ernüchterung über den Zusammenbruch der DDR ausgefallen sein. Der Systemumbruch hinterließ einen ambivalenten Eindruck: Einerseits schnitt er ihn von seiner privilegierten Position ab, andererseits war es eine Zeit der Chancen, in der er als politisch denkender Mensch schnell Möglichkeiten der Partizipation fand. Neben dem Ausbleiben der DDR-Karrierechancen dürfte der nächste Einschnitt die Erkenntnis gewesen sein, dass vieles, was er von der DDR als erhaltenswert einstufte, nach der Wiedervereinigung keinen Bestand mehr haben würde. Dem entgegenzuwirken war zunächst das zentrale Motiv seines politischen Engagements nach dem Systemumbruch. Es war eine Zeit, in der viele Parteien und Organisationen neu gegründet wurden, er selbst war Mitbegründer einer Organisation, der „Marxistischen Jugendvereinigung Junge Linke“, die sich zunächst als Alternative zur FDJ verstand. Das Programm dieser Gruppierung umfasste einerseits klassische Themen der Jugendpolitik, wie die Forderung einer entgeltfreien Bildung und die Einrichtung von Anlauf- und Beratungsstellen für gefährdete Jugendliche, beanspruchte andererseits auch dezidiert soziale Errungenschaften der DDR zu erhalten wie die Kinderkrippenerziehung und auch die Aufrechterhaltung von staatlichen Subventionen auf Fahrpreise, Grundnahrungsmittel und Wohnraum („zweite Lohntüte“). Inhaltlich ist eine deutliche Nähe zu der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik – wie sie in der DDR praktiziert wurde – zu erkennen. Die Frage, ob eine solche Gruppierung im parlamentarischen System nach 1989 Erfolg haben könnte, stellte man nicht, denn das war zum Zeitpunkt der Gründung noch nicht fest etabliert, die Teilnahme an einer Wahl stand zunächst nicht zur Debatte. In einer Dokumentation von Parteien und sozialen Bewegungen im letzten Jahr der DDR wurde diese Gruppe wie folgt beschrieben: „Auf der Grundlage aktualisierten marxistischen Gedankenguts wollte dieOrganisation an der Durchsetzung politischer und sozialer Interessen teilhaben“(Musiolek; Eichler 1991: 52).

Zusammen mit anderen Gruppen wurde eine „Alternative Jugendliste“ zur letzten Volkskammerwahl aufgestellt, die allerdings knapp ein Mandat verfehlte (Ebd.). Nach einiger Zeit in dieser Gruppierung kam Oliver Rieger zur PDS. Warum ist er gerade hier eingetreten? „…[w]eil alle anderen Parteien damals gesagt haben, das

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ist alles ganz schrecklich.“ Die etablierten Parteien vertraten die Auffassung, dass das Thema DDR abgeschlossen ist, den Dingen, die er in der DDR als erhaltenswert einstufte, wurde keine Zukunft in der Bundesrepublik zugestanden, insgesamt bestimmten die Schattenseiten der SED-Diktatur die Debatte. Oliver Riegers Parteieintritt lag anfangs noch das genannte Motiv zugrunde, dass von der DDR etwas erhalten werden sollte. Er hatte das Gefühl, dass im Wiedervereinigungsprozess die positiven Seiten der DDR vergessen werden. Das politische Ziel, von der DDR etwas zu erhalten, konnte in der PDS weiter verfolgt werden, anders als z.B. bei der SPD oder der CDU. Die Programmatik, von der DDR etwas zu erhalten, war aber auch für Oliver Rieger nach einiger Zeit überholt. Dieses Ziel hat sich verschoben, aber der Prozess dorthin dauerte Jahre. „Die Starken“ sollen „den Schwachen“ helfen, der Gedanke der Solidarität hat sich bei ihm, durchgesetzt, nicht das Ziel, etwas von der DDR zu erhalten. Damit ist er auch inhaltlich in der Bundesrepublik angekommen. Der Solidaritätsgedanke findet auch Anschluss bei der westdeutschen Sozialdemokratie, anders als ein Festhalten an der DDR-Sozialpolitik. Dem Solidaritätsgedanken schreibt er zu, dass auch er ein Stück weit durch die DDR-Prägung bestimmt sei, aber dieses Ziel stuft er vor allem nach wie vor in der aktuellen Politik als wichtig ein, nicht das Ziel, DDR-Strukturen beibehalten zu wollen. Dieser DDR-Einfluss ist nicht mehr aktuell. Ob ein durch eine mögliche DDR-Prägung entstandener verbleibender Einfluss auf die Bewertung der Probleme der Gegenwartsgesellschaft zu erkennen ist, wird an einer anderen Stelle erörtert werden. Die Ereignisse des Jahres 1989 dürften einen solchen Eindruck hinterlassen haben, dass viele politisch interessierte Menschen schnell den Weg in die aktive Partizipation gefunden haben. Diese Aussage hört man immer wieder, aber auch die Chancen für eine politische Karriere waren zu keinem Zeitpunkt so günstig wie nach 1989. Politisch tat sich hier für seine Altersgruppe eine besondere Gelegenheit auf: Die gerontokratische Führungselite der SED war abgelöst, die Angehörigen der Aufbaugeneration der DDR waren zu diesem Zeitpunkt alt genug, um frühzeitig pensioniert zu werden, sie zogen sich nach 1989 relativ schnell aus der Politik zurück. Viele Posten der Funktionselite, in der Politik die Finanz- oder Justizminister wurden aus dem Westen „importiert“, aber bei den Abgeordneten war dieser Trend bis 1994 kaum zu beobachten (Derlinen et al. 1994), sodass diese Posten explizit für Ostdeutsche frei wurden. Diejenigen, die den Mauerfall bereits in der Mitte ihres Lebens erlebten, waren in erster Linie mit der Sicherung der eigenen Existenz beschäftigt. In dieses „Elitevakuum“ konnten nach 1989/ 90 viele Jüngere einsickern. Auch wenn die Biographien der damaligen Oberstufenschüler selbst einigen deutlichen Turbulenzen ausgesetzt sein dürften, kam in eine ohnehin experimentelle Jugendphase die Chance einer verstärkten politischen Partizipation hinzu. Am An-

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fang seines politischen Interesses steht die Aufrechterhaltung von Errungenschaften der DDR, was sich bis zu einem gewissen Punkt überholt hat. An welchen Stellen besitzt die DDR-Vergangenheit für ihn eine weitere Relevanz? Setzt man sich damit häufiger auseinander? Im Interview kommt das Thema zur Sprache im Zusammenhang mit der kulturellen Verarbeitung dieser Zeit: M. G.: „Welche literarischen, künstlerischen Werke fallen ihnen ein, die prägend für ihre Generation sind?“ O. R.: „Das ist wahrscheinlich bei allen Menschen so, dass es eine bestimmte Phase des Lebens gibt, wo man irgendwie musikalisch interessierter, aufgeschlossener ist und das natürlich für den Rest seines Lebens auch mitschleppt. Also, die Ende der achtziger Jahre. Rockmusik – auch Ostrockmusik, sozusagen meine Jugend. Die damals im Osten gelebt haben … das ist was, was man weiter beibehält. Es ist auch klar, dass man Bücher, die um die DDR gehen, die späte DDR gehen, wenn man das erlebt hat, liest man das auch interessierter. Und was jetzt natürlich vor ein paar Jahren irgendwie Mode war, die Leute, die das reflektiert haben. Da gab es ja die „Zonenkinder“ von Jana Hensel, und „Meine freie Deutsche Jugend“ von Claudia Rusch und Stephan Krawczyk und „Der Narr“. Also es sind so Bücher, die sich jetzt reflektierend mit dem Leben zurück befasst haben. Ich lese das mit großem Interesse und schaue dann auch noch mal zurück. Das war prägend die Zeit. Das ist natürlich was anderes, also Generation Golf lese ich, weil es unterhaltsam ist, aber es ist nicht meine Geschichte. Da gibt es dann eben auch das Entsprechende auch auf ostdeutsch.“ M. G.: „Ja, das kenne ich. Ein Bekannter von mir meinte, es ist ganz gefällig zu lesen. Wie sie schon sagten, Playmobil oder Lacoste Pullover, das ist schon ein Begriff, aber was es wirklich in der eigenen Kindheit bedeutet hat, bleibt unklar.“ O. R: „Ja, da schaut man eben auch zurück, und da haben ja bestimmte Debatten auch drum stattgefunden. Während Jana Hensel, ihr Buch Zonenkinder raus gebracht ich glaube die ist ein bisschen jünger als ich mit einem freundlicheren Blick zurück ging, gab es dann sozusagen die Fraktion derer, die gesagt haben, das war alles gar nicht so. Claudia Rusch mit ihrem Buch, die ja eher aus der Oppositionsbewegung geprägt war. Da haben andere gesagt, stimmt überhaupt nicht, war viel besser. Das ist total sinnlos, das sind total individuell geprägte Sichten zurück, und den objektiven Blick darauf, wie es wirklich war, den kann keiner haben. Da hat jeder seine … seine Erinnerung. Aber sich damit auseinandersetzen und da noch mal zurückzuschauen, das finde ich nach wie vor interessant.“

Es gibt bestimmte kulturelle Prägungen, die ihn für den Rest seines Lebens begleiten werden. Es wird davon ausgegangen, dass in kulturellen Fragen jeder eine Prägephase hat, in der man besonders aufnahmebereit ist, für sich datiert er diese auf die späten 80er Jahre und nennt dementsprechend die Musik dieser Zeit, Rockmusik und auch „Ostrockmusik“. Wenn man im Osten gelebt hat, behält man

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diese Prägung bei, auch wenn Ostrockmusik in der aktuellen Musiklandschaft eine marginale Position einnimmt. Bücher, die sich um das Thema der DDR drehen, werden mit einem besonderen Interesse gelesen, besonders die, die sich seiner eigenen Generation annehmen. Er interessiert sich für DDR-Biographien, die er mit großem Interesse liest, denn mit dem Ende dieses Staates fiel auch die eigene Jugendzeit zusammen. Die Frage, ob diese auch ein objektives und verallgemeinerbares Bild der DDR zeichnen, beantwortet er kritisch. Eine gemeinsame Erinnerung zu beschreiben ist „irgendwie sinnlos“, „jeder hat seine Erinnerung“, die Geschichte wird individuell anders beleuchtet. Jana Hensel (Jahrgang 1976) ist eine relativ junge Autorin. Sie hat einen versöhnlicheren Blick auf die DDR, es werden relativ beschauliche Kindheitserinnerungen geschildert, man ist gut im Westen angekommen. Die DDR ist verschwunden, es gibt nichts, was an sie erinnert (Hensel 2003: 24f.). Erinnerungen an eine relativ beschauliche Kindheit können im Nachhinein die Brutalität der Diktatur besonders vor Augen führen24, müssen es aber nicht. Claudia Rusch (Jahrgang 1971) schildert die DDR Kindheit aus Sicht des Aufwachsens in einem oppositionellen Elternhaus. Einen wiederum ganz anderen Blick vermittelt Sascha Lange (Jahrgang 1971). Die DDR wird weniger als Gängelung beschrieben, geschildert wird eher das Aufwachsen in einem verschrobenen Staat, in dem man sich Lebensraum durch Eigensinn aneignen kann, ein Leben, dass von Schattenökonomie dominiert wird, um Westwaren zu beschaffen oder zu tauschen. Als die wesentliche Prägung wird die westliche Popkultur geschildert (Lange 2007). Viele Ostdeutsche sind hingegen mit diesem Bild der DDR nicht einverstanden, weil dies einen Versuch darstellt, die ostdeutschen Jugendlichen der 80er und 90er Jahre zu sehr in die Nähe ihrer westdeutschen Altersgenossen zu rücken und eine häufig postulierte ostdeutsche Sonderidentität zu wenig herausgestellt wird. In der vorliegenden Arbeit wird die These begründet, dass das jeweilige Bild der DDR im Wesentlichen von dem eigenen Alter abhängt. Wer jünger ist, blickt häufig versöhnlich auf die DDR zurück. Dies kann als eine erste Vermutung aus diesem Interview vermerkt werden. Sind andere Faktoren für die Erinnerung relevant? Es stellt sich im Anschluss an diese Überlegungen zunächst die Frage, wie vergleichbar die eigene Geschichte mit der der Altersgenossen ist. Je nachdem, in welcher Stadt man aufgewachsen ist, kann man andere Erinnerungen und auch eine andere Meinung von der DDR haben:

24 In der Fallstudie 6 kommt eine Frau aus Ostdeutschland, ebenfalls Jahrgang 1976, zu Wort. Ihr Blick auf die DDR ist einerseits durch die Prägung einer beschaulichen Kindheit geprägt, im Nachhinein stellt sich ihr mehr und mehr die Frage nach der Brutalität des Regimes.

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O. R.: „Ja oder sogar in Berlin, also wenn man wie ich in Berlin Marzahn in der Gegend groß wird, wo im Prinzip fast die ganzen Klassenkameraden linientreue Elternhäuser hatten, oder ob man in der Ossietzsky Schule war, wo dann die Opposition auch in der Schule selbst präsent war und dort aktiv geworden ist. Riesige Unterschiede! Ob man irgendwie auch in der jungen Gemeinde in der Kirche war oder ob man eben wie ich nur in der FDJ. Das ist sehr, sehr unterschiedlich. Der Film „Das Leben der Anderen“ hatte da einen wichtigen Beitrag geleistet, da noch mal drüber zu reden und auch zu streiten und wir haben im Freundeskreis auch richtig heftige Debatten darum gehabt, wie es war. Das ist ja auch gut, dass man noch mal irgendwie miteinander bespricht. Weil viele derer, die zu der Generation 89 gehören, haben dann durch den Bruch ihren Weg gemacht, und wenn Sie nicht so wie ich irgendwie im politischen Bereich tätig sind, dann war das alles auch gar nicht mehr so viel Thema. Viele Leute sind ja damals in die öffentliche Verwaltung gegangen, oder Bundesanstalt für Angestellte oder Bankkaufmann geworden, oder so … Dann trifft man noch welche, die in Düsseldorf oder so arbeiten, die zwar die gleiche Geschichte haben, aber die haben damit gar nicht mehr so zu tun, wie ich das durch die politische Tätigkeit natürlich heute noch habe. Das ist trotzdem natürlich ein Stücke des Lebens, was auch noch viele Leute prägt.“

Ein wesentlicher Unterschied scheint gewesen zu sein, inwieweit man den Einflüssen westlicher Medien ausgesetzt war, ob die westliche Popkultur präsent war, oder ob die Sozialisation unter „idealen“ Bedingungen, ohne äußere Einflüsse verlaufen ist. Diese Annahme stand hinter der Frage des Interviewers. Sich mit den DDR-Erinnerungen auseinanderzusetzen, die Erinnerungsliteratur zu lesen und Filme zur Thematik zu sehen, beschreibt Oliver Rieger als besonders interessant, denn sie drehen sich um seine eigene Jugend. Man findet durch sie einen Anlass, die eigenen Erfahrungen im Freundes- und Bekanntenkreis zu teilen. Dieser Austausch über die eigenen Erinnerungen erscheint nicht vollkommen selbstverständlich zu sein, sondern hat zwei Voraussetzungen: Die Stimulans durch einen Film oder ein Buch – als ein herausragendes Medienereignis wird der Film, das Leben der Anderen“ genannt – der einen kritischen Blick auf die DDR wirft. Es hat die Möglichkeit gegeben, diese Erinnerungen in seinem Freundesund Bekanntenkreis zu diskutieren. Es ist einfacher darüber zu sprechen, denn in einem ostdeutschen Freundeskreis ist es selbstverständlich, dass es Erfahrungen gibt, die sich um das Jahr 1989 drehen. Oliver Rieger findet es selbst wichtig, darüber zu sprechen, denn sonst würde die Erinnerung daran latent bleiben. Bezeichnenderweise wird der Film „Das Leben der Anderen“ als Anlass für die gemeinsame Erinnerung genommen. In diesem Film wird ein relativ ernster und kritischer Blick auf die DDR geworfen: Es geht im Wesentlichen um einen Stasi-Mitarbeiter, der in den 80er Jahren mit der Observierung eines Künstlers be-

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auftragt wird. Bei der Observation kommt es zu einer immer stärkeren Entfremdung des Stasi-Agenten mit seinen Vorgesetzten. Es werden absichtlich belanglose Berichte geschrieben, bis schließlich die Vorgesetzten Verdacht schöpfen und ihn in eine randständige Abteilung strafversetzen. Das Thema eines Bewusstseinswandels von Personen, die der Diktatur loyal gegenüberstanden, zu Kritikern des Systems ist ein Stück weit ein Teil seiner eigenen Geschichte. Die zu Anfang des Interviews beschriebene Staatsnähe zeigt sich an dieser Stelle wieder, wenn nicht immer in dieser Zuspitzung zwischen Loyalität und Verrat. Wäre er in einem anderen Milieu der DDR aufgewachsen, würde er möglicherweise einen anderen Film (z.B. Sonnenallee) genannt haben. Nach dem Ende der DDR finden sich wenige Möglichkeiten über die Erfahrungen in der DDR zu sprechen. Vieles bleibt latent, das erinnert an die Erzählung Claudia Langes. Dies wird im Interview dadurch angedeutet, dass viele, die der „Generation 89“ angehören, nicht mehr politisch sind, sondern sie sind Bankkaufleute geworden oder in der öffentlichen Verwaltung tätig und nicht mehr politisch engagiert. Viele arbeiten in Westdeutschland oder auch im westlichen Ausland. Dort sind sie gut angekommen, ihre Herkunft aus dem Osten fällt nicht auf, einen Anlass zur Erinnerung gibt es nicht. Die Geschichte bleibt weiterhin ein Stück des eigenen Lebens, aber sie bleibt oft unausgesprochen, weil man damit nicht oft konfrontiert wird. Die Selbstreflexion im Zusammenhang mit der erlebten DDR-Geschichte scheint an bestimmte Voraussetzungen gebunden zu sein, wie schon im Fall Claudia Langes scheint ein Austausch mit anderen wesentlich. Dieser Austausch über die gemeinsame Vergangenheit in der DDR ist nicht selbstverständlich. Neben Ansprechpartnern mit einer ähnlichen Geschichte ist oft auch ein Anlass nötig, die gemeinsame Geschichte anzusprechen. Die Chancen hierzu stehen bei dem ostdeutschen Teil der Population besser. Bei ehemaligen Schulkollegen aus Ost-Berlin kann davon ausgegangen werden, dass gemeinsame Erfahrungen aus der Wendezeit zur Disposition stehen. Es liegen daher mehr Voraussetzungen vor, über die gemeinsamen Erfahrungen nach 1989 zu sprechen als bei der westdeutschen Population. Für die gleichaltrigen Westdeutschen ist unklar, ob eine Erfahrung des Systemumbruchs 1989 vorliegt. Welche Erkenntnis lässt sich seiner Meinung nach aus diesem Austausch ziehen? Von einer gemeinsam erlebten DDR-Sozialisation zu sprechen. macht für ihn wenig Sinn. Auch wer aus der gleichen Altersgruppe stammt und in der gleichen Stadt aufgewachsen ist, hat möglicherweise andere Erfahrungen gemacht. Jemand, der in Berlin Mahrzahn zur Schule gegangen ist, wird fast ausnahmslos Mitschüler aus linientreuen Elternhäusern gehabt haben, während an anderen Schulen die Opposition präsent gewesen ist: Wer in der DDR Kontakte zur Kirche hatte, wird ebenfalls andere Erinnerungen an diese Zeit haben als Kinder aus linientreuen Elternhäusern, wo

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die Jugendarbeit ausschließlich Sache der FDJ war. Von einer gemeinsamen DDR-Prägung kann kaum die Rede sein, zu vielfältig erscheinen die Lebensverhältnisse in der DDR, man beginnt die Erinnerung daran zu individualisieren. Jede Biographie ist möglicherweise ein Sonderfall. Die Frage, wie es wirklich war, wird zurückgewiesen, sie ist für Oliver Rieger sinnlos. Die Lektüre von Erinnerungsbüchern an die Zeit vor 1989 soll seiner Meinung nach vielmehr dazu anregen, seine eigenen Erfahrungen zu reflektieren und sich darüber auszutauschen. Ziel dieses Austausches ist es gerade über diese Unterschiede zu reflektieren und die Ergebnisse auszutauschen, man darf sich gerne auch darüber heftig streiten. Die Gemeinsamkeiten, die Oliver Rieger zu seinen Altersgenossen sieht, sind paradoxerweise die Unterschiede. Obwohl ein Vertreter eines Schülerjahrganges spricht, der die DDR noch komplett erlebt hat, werden gerade die Unterschiede innerhalb dieser Altersgruppe hervorgehoben. Nach dem Ende der DDR sind sie unterschiedliche Wege gegangen, der eine hat sich politisch engagiert, die anderen haben sich in ihr Berufsleben gestürzt und möglicherweise hat jeder eine andere Entwicklung genommen. Aufgrund der Vorstellung, dass jeder Fall ein Einzelfall sein kann, bildet sich allenfalls eine vage Vorstellung einer gemeinsamen Generation heraus, obwohl jede Biographie durch den Systemumbruch 1989 eine andere Wendung erfahren hat. Resümierend wird in den Interviews nach anderen Labels gefragt, die für diese Altersgruppe gebildet werden. Oliver Riegers Antwort auf diese Frage illustriert das bereits Gesagte sehr anschaulich: M. G.: „Andere Generationslabels, wir haben ja schon über Generation Golf kurz gesprochen, Zonenkinder, Mauerkinder... Fällt Ihnen etwas dazu ein?“ O. R.: „Für mich ist diese Etikettierung irgendwie so im normalen Leben gar nicht präsent. Das fällt mir nur dann auf, wenn ich sozusagen gleichaltrige oder irgendwelche aus der Generation stammenden Leute hier, da und dort treffe. Mir ist das z.B. jetzt aufgefallen, als der Robert Ide aus Berlin – der Redakteur beim Tagesspiegel – hat ein Buch geschrieben, über auch so „Wende-Reflexion“. Und der ist auch so, ungefähr so meine Generation, schaut zurück, stellt allerlei Sachen fest. Und dann redet man über Generationssachen. Aber so im normalen Leben ist das ja nicht, man etikettiert sich nicht. Man macht halt das, was man so macht und deshalb habe ich auch nichts parat. Und es ist wirklich beim Aufeinandertreffen von Leuten, die auch dieser Generation entstammen, dass man dann zurückschaut und guckt, wie man danach seinen Weg gemacht hat. Freundeskreis ist natürlich ganz wichtig, weil der Freundeskreis ist – naturgemäß – aus dieser Altersgruppe. Und da guckt man eben auch, wo die Leute sich jetzt rumtreiben. Beispielsweise ne Freundin von mir, die auch 89er Generation ist, ist dann Rechtsanwältin geworden, arbeitet jetzt in Genf und macht da ganz viele Sachen und die hat bei ganz vielen Punkten, wo Sie auf die DDR zurückschaut, einen viel nostalgischeren Blick als ich, weil die gar nicht so die Chance

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hatte, so wie ich hier in der politischen Tätigkeit, sich damit auseinanderzusetzen, zu reflektieren. Für sie ist das einfach so ein Stück Heimat, Zurückerinnerung und hat mit ihrem normalen Leben so gar nichts mehr zu tun. Und darüber redet man dann halt, da ist eben der Film, der Anlass, oder manchmal auch das Buch oder die Begebenheit. Aber ansonsten ist das nicht vordergründig prägend.“ M. G.: „Man guckt, das ist also Anlassbezogen, zu bestimmten Ereignissen erinnert man sich, Freunde treffen etc.“ O. R.: „Ich glaube, wenn ich das Vergleiche, mit Blick auf 68er, da habe ich den Eindruck, dass das ein prägenderes Etikett ist, dass man da auch Verknüpfungen findet, als man hier im Vergleich bei den 89ern feststellen würde.“

Im alltäglichen Leben sind Etiketten dieser Art nicht präsent. Die Frage stellt sich für ihn nicht, ob er zu einer Generation gehört und wie er sie sich vorstellt. Gemeinsamkeiten werden dann wieder erkannt, wenn ein Buch oder ein Film diese Erfahrung zum Gegenstand haben – etwa das Buch „Geteilte Träume“ von Robert Ide (Ide 2009). Im Aufeinandertreffen von Gleichaltrigen bemerkt man seine Gemeinsamkeiten, man redet darüber, was gewesen ist und tauscht sich über eigene Biographien und Erfahrungen aus. An dieser Stelle wird oft klar, dass es viele Überschneidungen zwischen den eigenen Erfahrungen mit denen anderer gibt, obwohl die Erfahrungen nach 1989 zu unterschiedlich erscheinen, um von einer Generation 89 sprechen zu können. Durch ein Medienereignis werden Austausch und Reflexion der eigenen Erfahrungen zu der Zeit angeregt. Es scheint wiederum eine gefühlte Gemeinschaft zu sein, es wird das Gefühl vermittelt, dass man eine gemeinsame Vergangenheit hat, dauerhafte Konsequenzen ergeben sich hieraus nicht, die Etikettierung ist im Alltag nicht präsent. Nachdem darüber gesprochen wurde, geht das Leben seinen gewohnten Gang. Welche Position man in der Reflexion bezogen hat, hat für das alltägliche Leben keine weitere Relevanz. Die gefühlte Gemeinschaft verbindet, stellt aber keine bleibenden Anforderungen an ihre Protagonisten. Wieder wird die Notwendigkeit betont, seine Erfahrungen zur Sprache bringen zu können. In diesen Gesprächen ist vor allem der Weg nach 1989 betont, was voraussetzt, dass die Geschichte bis zum Fall der Mauer vergleichbar war, die Geschichten haben erst begonnen, sich nach 1989 zu verändern, was bedeutet, dass sie die Zeit zum Ende der DDR zusammen verbracht haben dürften. Eine Vermutung, die bestätigt wird, als er auf die Bedeutung des Freundeskreises, der aus der gleichen Altersgruppe stammt, hinweist und folglich auch eine gewisse Übereinstimmung in der gemeinsamen Erfahrung zu haben scheint. Oliver Rieger muss sich in seiner alltäglichen politischen Arbeit mit der Vergangenheit der SED-Diktatur auseinandersetzen, die Frage nach Verstrickung stellte sich nach dem Ende der DDR besonders nach-

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drücklich, von der Teilnahme an Untersuchungsausschüssen bis hin zu alltäglichen Gesprächen bei der Wahlkreisarbeit. Eine im Ausland lebende Freundin sieht die DDR mit einem nostalgischen Blick, als die alte Heimat und als Ort der Kindheit, weniger als Gegenstand heftiger Debatten. Diesen Blick gesteht er ihr zu, denn die Chance, über die Vergangenheit zu diskutieren, sieht er bei ihr weniger gegeben, als wenn man – wie er – in der Politik tätig ist. Aufschlussreich ist der Vergleich mit der westdeutschen Protestgeneration. Dort würde man mehr Verknüpfungen finden, als bei den 89ern. Während man bei den 68ern eine soziale Bewegung identifizieren kann, die nach dem Abebben der Revolte in der Öffentlichkeit präsent geblieben ist, sind die 89er individuell in die Bundesrepublik eingesickert. Während es „68er-Hochburgen“ gibt – klassisch Universitätsstädte wie Heidelberg, Göttingen, aber auch Großstädte wie Berlin und Hamburg – gibt es kaum eine 89er Hochburg. Eine Ausnahme stellt allenfalls Berlin dar. Der weitere Lebensweg und Karrieren der typischen Protagonisten der 68er Generation verliefen ähnlich – bzw. es wird angenommen. Wo liegen die Gemeinsamkeiten zwischen der Anwältin in Genf und dem Nachwuchspolitiker in einem ostdeutschen Landesparlament? Das Label der 89er scheint nichts darüber aussagen zu können. Es kann ein Gefühl der gemeinsamen Herkunft vermitteln, aber es sagt nichts über die Gegenwart aus. Der Versuch, ein einheitliches Bild von der letzten Jugendgeneration der DDR zu liefern, wurde bereits zurückgewiesen. Bei genauer Reflexion stößt er schon beim eigenen Freundeskreis auf Probleme. Während die Erfahrungen der Revolte der 60er Jahre verbinden, trennt man sich an der Erfahrung der Zeit nach 1989. Greift man an dieser Stelle die Vorstellung auf, dass sich eine gemeinsame Erinnerung auf das Aushandeln gemeinsamer Wegmarken bezieht, wird die Problematik deutlich, von einer gemeinsamen 89er Generation aus ostdeutscher Sicht sprechen zu können. Es sind verschiedene Biographien zu beobachten, ihre gemeinsame Geschichte reicht bis zum Mauerfall. Es wurden die gleichen Institutionen besucht, Schulbesuch und die Teilnahme an Verpflichtungen der Jugendarbeit haben Erinnerungen hinterlassen. Kam es zu Problemen, half man sich, informelle Netzwerke machten das Leben trotz Gängelungen und Zumutungen erträglich. All dies schuf ein Gefühl der Gemeinsamkeit innerhalb der eigenen Altersgruppe. Von den Fäden, die diese Altersgruppe in der DDR zusammenhielt, auch wenn es bei vielen bereits eine innere Distanz zum Regime der DDR gegeben hat, sind die meisten gerissen. Informelle Netzwerke sind zwar erhalten geblieben, nach 1989 kam eine Vielzahl neuer Angebote hinzu, von den allgemeinen Institutionen der offiziellen Jugendpflege bis hin zu den – wie im Fall Oliver Riegers – neu gegründeten Parteien und politischen Organisationen. Viele sind in den Westen gezogen und haben eine andere Entwicklung genommen als diejenigen, die im Osten geblieben sind. Der

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Systemumbruch dürfte im Wesentlichen die Wirkung eines Individualisierungsschubs gehabt haben. Die ostdeutschen 89er kann er sich nicht als eine Welle im pulsierenden Verkehr der Großstadt vorstellen, sondern als viele vereinzelte Verkehrsteilnehmer, die durch Nebenstraßen an ihr Ziel kommen, oder als ein Rhizom25, das nicht in eine Richtung, sondern in alle Richtungen wächst. Das Bild eines Rhizoms scheint für die Interpretation der ostdeutschen Generationen hilfreich zu sein und die Interpretation der Fälle aus Ostdeutschland in dieser Arbeit leiten. Einige gingen politische Karrieren in der Heimatregion an, andere zogen in den Westen, um dort zu arbeiten und zu studieren und sind einen ganz anderen Weg gegangen, sodass man sich die Frage stellt, ob man mit diesen Personen noch viel gemeinsam hat. Innerhalb seiner Partei kann Oliver Rieger für eine Generation sprechen: Für ihn und die gleichaltrigen Parteigenossen kam der Systemumbruch rechtzeitig, um eine unbelastete Karriere unter den Bedingungen der parlamentarischen Demokratie zu beginnen. Die Eingewöhnung in das politische System hat ihnen wenig abverlangt, denn zeitgleich mit der Etablierung des politischen Systems der Bundesrepublik nach dem Anschluss sind sie erwachsen geworden, und gleichzeitig alt genug, um parallel zu den ersten politischen Versuchen im System der Bundesrepublik Deutschland Karriere zu machen. Hier kann man den Stil einer Generation vermuten. Dieses Bild trifft besonders zu, wenn er in seine eigene Partei sieht. „Bei uns hier ist das z.B. so, dass sich bei unserer Partei, ein ganzer Schwung von Menschen befindet, die alle damals politisch aktiv geworden sind, also unserer Landesvorsitzender Klaus Lederer, ein guter Freund von mir, der jetzige Staatssekretär für Gesundheit, Benjamin Brock. Wir sind alle irgendwie in so in einer Phase, wo die Alten aus der SED einen Schritt zurück gemacht haben, und auch bewusst freigemacht haben – zum einen als Etikett, um nach außen zu sagen wir sind gar nicht mehr die alte SED, und dafür aber auch den Preis hingenommen haben, dass sich auch die Partei auch real verändert hat und es wirklich auch eine andere Prägung gegeben hat. Und da haben wir in Berlin aus dieser Generation ganz viele. Weil die, die damals in der Zeit jung und aktiv waren, sind dann alle Mitte der 90er Jahre an ner Karrierestufe gewesen, wo sie dann auch präsent waren und die sich jetzt überall verteilen. Wir sind im Prinzip für eine sehr, sehr alte Partei, eine Partei mit unglaublich vielen jungen Funktionären. Das sieht man auch in anderen Bundesländern. Wenn Sie nach Sachsen-Anhalt schauen, der dortige Landesvorsitzende Matthias Höhn, ist ein ganz junger Mann. Auch im Bundestag, Katja Kipping und Karen Lay, Bernd Haupt. Das ist bei uns nichts Ungewöhnliches, dass Leute dieser Generation an relevanter Stelle aktiv

25 Vgl. für den Begriff des Rhizoms die Ausführungen von Deleuze und Felix Guarttari (Deleuze; Guarttari 1977)

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sind und Politik machen. Das ist, glaube ich schon, wieder was Verbindendes von 1989, weil das sind die, die die ersten Anlaufjahre sich ein bisschen um sich selbst und ihr Leben gekümmert haben, aber eben parallel immer politisch aktiv waren und zum richtigen Zeitpunkt da waren. Das ist für die Nachwachsenden zugegebenermaßen schwerer, weil wir sind jetzt erst mal da, und dann, son quasi freiwilliger Wechsel wie damals, wo die alten alle Platz gemacht haben, das ist im Moment erst mal nicht auf der Tagesordnung.“

Von „seiner Generation“ kann er beim Blick auf maßgebliche Personen innerhalb seiner Partei sprechen: Es ist nichts Außergewöhnliches, dass in seiner Partei viele jüngere Personen an relevanter Stelle aktiv Politik betreiben, sie konnten von dem Ausscheiden der alten SED-Eliten nach 1989 profitieren. Die alten Eliten sind zurückgetreten, um nach außen hin zu zeigen, dass sich die Partei in einer Weiterentwicklung befindet, und haben in Kauf genommen, dass es dadurch auch zu einer Veränderung der Partei gekommen ist. Ob es ein vollkommen freiwilliges Abtreten der alten SED-Eliten gewesen ist, sei dahingestellt, viele Politbüromitglieder waren allerdings nach dem Zusammenbruch der DDR alt genug, um in den Ruhestand gehen zu können. Nach 1989 haben Oliver Rieger und seine Altersgenossen ihr Leben in die eigene Hand genommen, „sich ein bisschen um sich selbst und ihr Leben gekümmert“, blieben politisch aktiv und konnten zum richtigen Zeitpunkt ein relevantes Amt übernehmen. Das findet er bemerkenswert: Obwohl die PDS eine „sehr alte“ Partei ist, sind viele Mitglieder der Parteiführung „sehr jung“. Obwohl Vorbehalte bestehen, von einem gemeinsamen Schicksal der 89er zu sprechen, sieht er hier etwas Verbindendes: Sie verbindet die Chance, zum richtigen Zeitpunkt relevante Positionen in der Politik übernehmen zu können. Nachdem sie ihre Ausbildungen abgeschlossen hatten, konnten sie von einem Elitenwechsel innerhalb der ansonsten eher alten Partei profitieren. Die Chancen einer jüngeren Generation sind vor allem dadurch begrenzt, dass ein Zurücktreten dieser Kohorte aus der Politik derzeit nicht zur Debatte steht. Zu Beginn des Interviews wurde bereits angedeutet, dass aus der DDR-Prägung bestimmte politische Programme und Deutungsangebote hervortreten. Welche sieht Oliver Rieger? M. G.: „Was sind Herausforderungen für die Zukunft? Welche Pläne für die Zukunft, Herausforderungen etc. erwachsen aus dieser Prägung?“ O. R.: „Also es gibt bei uns in der Partei zwei mögliche Richtungen und wir sind uns darüber auch nicht ganz einig. Die eine ist, dass wir sagen, man muss für alle Menschen in Deutschland ein bedingungsloses Grundeinkommen schaffen, wo man sagt, egal jetzt, ob jemand arbeiten kann oder will, wie viel er arbeitet, einen bestimmten Satz muss es für alle geben. Und die andere Abteilung, der fühle ich mich eher zugeneigt ist die, die sagt, wir

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müssen Menschen, die unverschuldet ihren Lebensunterhalt nicht selber leisten können, absichern und das auf einem höheren Niveau als jetzt. Weil das was bisher gezahlt wird, ist unserer Ansicht nach zu gering um ein menschenwürdiges Leben zu führen. Das war auch der Grund, warum wir damals die Hartz IV Gesetze abgelehnt haben. Weil die gemeinsame Behandlung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern finde ich gar nicht falsch, die Sache, bessere Angebote zu schaffen, um zurückzukehren in den Arbeitsmarkt, finde ich auch nicht falsch. Ich finde es nur falsch, da wo keine Arbeit da ist, den Druck zu erhöhen auf die Leute, und das man als Sicherung so wenig gezahlt bekommt, weil man davon nicht leben kann. Also letztlich wäre unsere Forderung die, dass man die Anstrengungen tatsächlich die Integration in den Arbeitsmarkt zu verbessern erhöht und da wo das nicht geht mit öffentlichen Mitteln …“ [Unterbrechung] „Dass da, wo das durch Markt nicht funktioniert wir auch sagen, dass da der Staat gefragt ist, wir nennen das ‚staatlich geförderten Beschäftigungssektor‘, also ein Wirtschaftsbereich zwischen öffentlichen Dienst und Privatwirtschaft zu schaffen, wo man sagt, dass was die Gesellschaft will, beispielsweise Kinderbetreuung in den späten Abendstunden oder Gemeinde-Dolmetscher-Dienst oder so Sachen, wo die Gesellschaft sagt, das finden wir gut, das muss sie dann auch finanzieren, mit Steuermittel und den Menschen Mindestlohn gemäße Löhne dafür zu zahlen. Wir machen das auch in Berlin auch modellhaft, aber das ist so ein Stücke wo wir sagen, wenn es die Wirtschaft nicht kann, dann ist eben der Staat gefragt. Das ist, sozusagen … ist jetzt kein hundertprozentiger Gegensatz in unserer Partei zum bedingungslosen Grundeinkommen, aber ich bin da stärker einer der so sagen würde, es muss eine Absicherung geben die, die unverschuldet über Arbeit kein Geld verdienen können und wir müssen eben auch Angebote schaffen. Das ist das, worüber wir politisch streiten. Das läuft unter der Überschrift Harz IV muss überwunden werden. Aber noch mal ganz klar: Die gemeinsame Betreuung von Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern und bessere Fördermöglichkeiten für Arbeitslose war richtig, die Herabsetzung des ALG II, die war falsch.“

Es wird keine Rhetorik im Sinne einer bestimmten Verlierergeneration geäußert, vielmehr wird eine allgemeine Problematik des Arbeitsmarktes beschrieben: In bestimmten Bereichen ist kein ausreichendes Angebot an Arbeitsplätzen vorhanden. Diese Verunsicherungen werden nicht als die einer besonderen Altersgruppe beschrieben, sondern sie sind allgemein. Von den Reformbestrebungen der aktuellen Politik werden die Hartz-Gesetze abgelehnt, nicht, weil sie Sozialhilfeempfänger und Arbeitslose zusammen behandeln. Er findet es sinnvoll, dass Arbeitslose zusätzliche Hilfen in Anspruch nehmen können. Abgelehnt wird der erhöhte Druck, der auf die Bedürftigen durch die Herabsetzung des ALG II Regelsatzes ausgeübt wird. Wenn in bestimmten Bereichen kein Arbeitsplatzangebot

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vorliegt, erscheint die Erhöhung des Drucks auf Arbeitslose als blanker Hohn. Zur Bewältigung dieser Probleme stehen zwei prinzipielle Lösungsvorschläge im Raum: Die des bedingungslosen Grundeinkommens und die eines staatsnahen, subventionierten Arbeitsmarktes, in dem Dienstleistungen, die gesellschaftlich in Anspruch genommen werden, wie Kinderbetreuung in den Abendstunden, Gemeinde-Dolmetscherdienst26 durch staatliche Subventionen ermöglicht werden: „Wo Wirtschaft das nicht leisten kann, ist der Staat gefragt.“ Dienstleistungen, die von der Gesellschaft nachgefragt werden, müssen von ihr auch finanziert werden, mit einer mindestlohngemäßen Bezahlung. Obwohl Anklänge an die DDR-Sozialpolitik zu hören sind, ist dies vielmehr eine Stimme, die soziale Integration und Teilhabe in den Vordergrund stellt und weniger rein ökonomisches Versorgungsdenken. Man kann vermuten, dass in dieser Debatte innerhalb der Linkspartei eine Polarität zwischen Ost- und West-Deutschen vorliegt. Für diese Vermutung spricht, dass er an einer anderen Stelle des Interviews sagt, die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen wäre in mancher strukturschwacher Region kaum zu vermitteln, denn die Bevölkerung würde Erwerbsarbeit als ihren Lebensmittelpunkt sehen. Um diesen Fall abschließend zu diskutieren: In der Geschichte Oliver Riegers ist ein eindeutiger Bezug zur historischen Zäsur zu beobachten. Nach dem Zusammenbruch der DDR ist er zur Politik gekommen, durch das Zurücktreten vieler Älterer in der Linkspartei ist er auf eine maßgebliche Position in der eigenen Partei gekommen, mit dieser Geschichte findet er Anschluss bei den anderen, dies ist eine besondere Gelegenheit, die sich seiner Generation aufgetan hat. Die ökonomische Verunsicherung wird nicht als das besondere Merkmal seiner Generation wahrgenommen: Sein Generationenschicksal ist in dieser Hinsicht glücklich: Die Mauer ist zum richtigen Zeitpunkt gefallen, dass er sich noch während der Schulzeit auf das westdeutsche System einstellen konnte. Obwohl die ökonomische Verunsicherung omnipräsent ist, sieht er sich als Vertreter einer Generation, die nach 1989 ihr Leben in die eigene Hand nehmen konnte und gut in der Bundesrepublik Deutschland oder im westlichen Ausland angekommen ist. Das ökonomische Schicksal dieser Generation scheint aus seiner Sicht glücklich. Es ist jedoch darauf hinzuweisen, dass hier von den Biographien einer privilegierten Schicht die Rede ist, von Abiturienten der Wendezeit. Insgesamt scheint er sich damit schwer zu tun, von einer

26 Ein Übersetzungsdienst von Personen mit Migrationshintergrund, die speziell für Übersetzungsfragen im medizinischen und sozialen Bereich geschult werden. Um der Gefahr sprachlicher und kultureller Missverständnisse z.B. bei medizinischen Behandlungen entgegenzuwirken, haben sich in größeren Städten bereits Einrichtungen dieser Art herausgebildet, z.B. in Berlin, Dresden und Hannover.

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gemeinsamen 89er Generation zu sprechen, denn die Lebensgeschichten nach 1989 sind zu unterschiedlich verlaufen. Sie sind schon in der DDR verschieden, ob man eine enge Bindung an die Institutionen der DDR hatte oder möglicherweise schon zu Schulzeiten Kontakte zur Opposition knüpfte. Der Zusammenbruch der DDR brachte einen Individualisierungsschub: Oliver Riegers Generation verbrachte bis zum Systemumbruch viel Zeit miteinander, gezwungenermaßen, denn neben der Schule, die eine Altersgruppe in einer Schicksalsgemeinschaft verband, trat das bürokratische System der DDR-Jugendpflege, das die Gruppenzugehörigkeit strikt über die Altersgruppe regelte. Nach Wegfallen dieser Institutionen tritt das Deutungsmuster einer gemeinsamen Generation in den Hintergrund, an ihre Stelle traten Angebote an die Jugend und auch vermehrt informelle Netzwerke, die die Zugehörigkeit nicht mit dieser strikten Alterszuordnung übernahmen. Die historische Zäsur, die einen klaren Einschnitt für Oliver Riegers gesamte Altersgruppe mit sich brachte, hatte unterschiedliche Auswirkungen, die einen gemeinsamen Ursprung haben. Dieses Gebilde kennzeichne ich als Rhizom: Während die Gesellschaft der DDR nach 1989 verschwunden ist, bewegen sich ihre Ausläufer in verschiedene Richtungen. Damit steht neben der Genealogie der Bundesrepublik mit den Flakhelfern, den 68ern und den 89ern eine ostdeutsche 89er Generation, die von ihren Bezugspunkten abgeschnitten ist und dadurch besonders unterschiedliche Wege genommen haben kann. Der eine ist in einer politischen Jugendorganisation angekommen, während andere möglicherweise subkulturellen Aktivitäten in ihrem Leben einen größeren Raum eingeräumt haben. Der eine ist in seiner Heimatregion verwurzelt geblieben, während andere ihr Glück in Westdeutschland oder im westlichen Ausland gefunden haben und der Bezug zur DDR kaum auffällt. Eine solche Geschichte wird im zweiten Fall erzählt. 4.2.2 Norbert Geck – Entwurzelung als politischer Deutungsanspruch Es war nicht einfach mit Norbert Geck einen Termin zu vereinbaren, denn er ist selten in Berlin und reist viel. Wählt man seine Telefonnummer, gibt einem die Ansage seines Anrufbeantworters zu verstehen: „Norbert Geck ist nicht zu Hause, sondern in London … Madrid … Tel Aviv … usw.“ Er ist Journalist mit einem Schwerpunkt auf internationalen Beziehungen. Beruflich läuft es gut für ihn, es gibt kaum eine Krisenregion der Welt, die er in den letzten Jahren nicht für eine Reportage bereist hat. Neben dem Brotberuf „internationale Beziehungen“ schrieb er bereits während des Studiums für verschiedene Printmedien über ein breites Themenspektrum, über kulturelle Themen und auch über seine eigene

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Generation in den 90er Jahren, in der 89er Debatte. Ist dieses hektische Leben in der Lebensgeschichte Norbert Gecks begründet? Ein gewisser persönlicher Freiheitsanspruch scheint eine mögliche Reaktion auf die Gängelung der DDR zu sein. Nachdem die blockierte DDR-Gesellschaft verschwunden ist, ist diese erhöhte Lebensgeschwindigkeit möglicherweise auf eine Art Nachholbedarf zurückzuführen. Auch die Geschichte Norbert Gecks stellt einen Sonderfall dar, er ist zwar bis zu seinem 18. Lebensjahr in der DDR aufgewachsen, konnte die DDR im Frühjahr 1989 verlassen, während dieser Bruch seinen Schul- und Arbeitskollegen noch bevorstand, musste er sich bereits allein mit seiner Familie in das System der Bundesrepublik eingewöhnen. Das Leben in der DDR war für ihn von vielen Repressionen geprägt, der Besuch einer weiterführenden Schule und ein Studium waren ihm aufgrund mangelnder politischer „Stromlinienförmigkeit“ verbaut, die Verweigerung des Kriegsdienstes machte seine oppositionelle Haltung der SED-Diktatur gegenüber besonders deutlich und brachte wiederum Nachteile in Ausbildung und Arbeit mit sich. Nach der Schule begann er eine Ausbildung zum Elektriker, die weiterhin durch Gängelungen und Schikanen geprägt war. Schließlich gewährte man ihm die Ausreise. Zum Zeitpunkt seiner Ausreise begann es in der DDR bereits zu „brodeln“: Die offensichtlich gefälschte Kommunalwahl wurde im Mai 1989 angefochten, wodurch die Entfremdung der DDR-Bevölkerung der SED-Diktatur gegenüber besonders deutlich wurde, die sich auch durch eine Häufung von Protesten um die 40-Jahrfeier der DDR herum bemerkbar machte. Unübersehbar wurde die Krise der DDR im Spätsommer 1989, als es zu einem „Exodus“ junger, gut ausgebildeter Menschen kam, die ihr Land über die Route Ungarn und Österreich verließen, um in der Bundesrepublik einen Neuanfang zu beginnen. Diese Fluchtwelle war vielleicht das deutlichste Zeichen, dass der Zusammenbruch der DDR kurz bevorstand. Nachdem Norbert Geck in einer Kleinstadt im Hessischen angekommen war, nahm er sein Leben in die eigenen Hände, holte sein Abitur am lokalen Gymnasium nach und begann ein Studium der Geschichte und deutschen Literaturwissenschaft an der Universität Karlsruhe, das er erfolgreich mit dem Magisterexamen abschloss. Zur Kontaktaufnahme schrieb ich ihm eine E-Mail. Seine Antwort viel sehr wohlwollend aus: Es wird um einen Rückruf zur Terminvereinbarung gebeten, auf das Interview würde er sich freuen. Die Terminvereinbarung zog sich dann aufgrund der eingangs beschriebenen Problematik noch eine Zeit hin. Für das geschichtsträchtige Datum des 21. August 2008 – 40 Jahre, nachdem die Truppen des Warschauer Paktes in die damalige Tschechoslowakei einmarschierten – gelingt es uns, einen Termin zu vereinbaren. Wir treffen uns in einem Café am Rosa Luxemburg Platz. Auf dieses geschichtsträchtige Datum wies er bei Beginn des Interviews besonders hin – wiederum eine Überschneidung von his-

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torischer Zeit und individueller Lebenszeit. Wie bei einigen anderen Interviews in dieser Arbeit, ist dieses das erste Mal seit Langem, dass er über die 89er spricht, dieses Thema scheint ihn derzeitig wenig zu interessieren. Er liest zwar weiterhin viel über das Thema, aber scheint kein Interesse daran zu haben, inhaltliche Beiträge dazu zu liefern. Es scheint für ihn abgeschlossen. Im Laufe des Gesprächs taut er mehr und mehr auf, durch die Stimulans der Interviewsituation kommen seine Erfahrungen mehr und mehr zutage, die Erinnerungen werden im Laufe des Gesprächs präsenter, auch durch die Präsenz des Interviewers. Die bereits beschriebene engagierte Interviewführung bewährt sich in diesem Fall besonders. Das Interview beenden wir rund zwei Stunden später, da sein Terminkalender den nächsten Termin anzeigt. M. G.: „Ja, es geht um dieses Label der 89er, wie ist ihnen denn klar geworden, dass das für Sie was aussagt?“ N. G.: „Bevor das Label kreiert wurde. Ich wusste das bereits am 19. Mai 1989, das war nämlich der Tag, an dem ich mit meiner Familie ausreisen konnte. Und dass das dann natürlich nicht nur für mich individuell, sondern weltgeschichtlich ein Datum wurde, war da ja natürlich noch nicht klar, aber spätestens dann 89 mit dem Mauerfall, mit den Revolutionen in Osteuropa, war das klar. Also da brauchte ich jetzt keine Debatte im Feuilleton, die es mir erklärt, das ist so. Das war ganz klar.“ M. G.: „Das war dieses aus der DDR raus kommen …“ N. G.: „Es war dieses aus der DDR raus kommen und dann paar Monate später, dass die DDR aus sich selbst raus kam. Was ja in unseren Zeiten relativ selten ist, dass eine persönliche Zäsur einher geht mit einer geschichtlichen Zäsur und jetzt auch nicht als was Kleidendes, sondern wirklich mit einem Knall, was ganz klar zeitlich zu lokalisieren ist und jetzt nicht so, dass sich das über die gewissen Jahre hinweg gezogen hat, sondern so ein ganz klarer Schnitt.“

Es brauchte keiner Debatte im Feuilleton, um sich über die besondere Bedeutung dieses Datums klar zu werden. Die Frage, ob es eine 89er-Generation gibt, wurde ex-post kreiert, als man darüber diskutierte, ob ein neuer Politikstil und ein veränderter Ton in der Kritik als Zeichen für das Auftreten einer neuen Generation gesehen werden könnte. Norbert Gecks Geschichte verlief anders: Schon bevor die Mauer gefallen war, wusste er, dass 1989 eine besondere Relevanz für ihn besitzen würde. Im Frühjahr 1989 wurde seine Ausreise aus der DDR genehmigt. Es war das Ende einer bedrängten Zeit in der DDR. Er kam kurze Zeit aus der DDR heraus, „bevor sie selbst aus sich heraus gekommen ist“ Ein klares Zusammenfallen der individuellen Lebenszeit mit der historischen Zeit ist erst durch den Systemumbruch ab dem Herbst 1989 daraus geworden. Anders als im Fall

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Oliver Riegers verursachte der Mauerfall keine individuelle Lebenskrise, sondern dürfte für ihn eher eine Art Bestätigung gewesen sein. Wäre es nicht zu der Ausreise im Mai gekommen, hätte der Mauerfall die Befreiung gebracht. Der Tag, an dem er mit seiner Familie ausreisen konnte, besitzt für ihn eine so große Bedeutung, dass er sich bis heute den Tag seiner Ausreise gemerkt hat. In der DDR war er vielen Gängelungen und Repressionen ausgesetzt, in der Bundesrepublik Deutschland konnte er das Abitur nachholen und ein Studium seiner Wahl absolvieren. Dieser Einschnitt lässt sich klar auf das Datum der Ausreise festlegen, oder hypothetisch auf den Tag des Mauerfalls, wenn man ihm die Ausreise nicht vorher gewährt hätte. Aber zum Zeitpunkt des Mauerfalls hatte er sein neues Leben bereits in die eigenen Hände genommen. In dem Interviewtext ist eine Abgrenzung zur westdeutschen Debatte um die 89er zu lesen, in der ein längerer Prozess als Prägung wahrgenommen wurde, die als Krise der Gegenwartsgesellschaft zu kennzeichnen ist, wie es in den theoretischen Überlegungen dieser Arbeit gezeigt wurde. Im Laufe des Interviews wird auf den Unterschied dieser Prägungen erneut eingegangen. Man merkt vor allem in der Auseinandersetzung mit Älteren, dass man in anderen Zeiten lebt. Wie ich zu einem früheren Teil dieser Arbeit gezeigt habe, bildet sich diese Generationenrhetorik vor allem anhand von Krisensymptomen der Gegenwartsgesellschaft heraus. Der Mauerfall wird aus westdeutscher Sicht als eine Art Geschichtszeichen gelesen, es werden symbolhaft verschiedene länger andauernde Prozesse auf ein Datum vereint. Auf das Datum des Mauerfalls, auch wenn das nicht vollkommen überzeugt. Im Fall Norbert Gecks scheint dies nicht der Fall gewesen zu sein, sondern es war ein richtiger Einschnitt, es wurde „wie ein Knall“ wahrgenommen. In diesem Sinne grenzt er sich von der (westdeutschen) Feuilletondebatte ab, als jemand für den die Zäsur von 1989 auch als ein eindeutig persönlicher Einschnitt wahrgenommen wurde. Die Zäsur wird zunächst individuell wahrgenommen. Sie war es auch, denn viele seiner Schul- und Arbeitskollegen waren noch in der DDR bis das repressive System der DDR zusammengebrochen ist. Auch für sie lässt sich dieser Schnitt klar benennen. Wo dieser klare Einschnitt zu verorten ist, ist für die westdeutschen 89er nicht so klar. Es kann vermutet werden, dass die westdeutsche Generationenrhetorik bei ihm wenig Anklang finden würde. Aber es ist auch eine Abgrenzung innerhalb der ostdeutschen Generationenrhetorik zu erkennen. Im Laufe des Interviews stellt sich die Frage, mit wem ich noch gesprochen habe: M. G.: „Der Älteste, mit dem ich gesprochen habe, war 65 geboren, die jüngste 76. Das fasert so ein bisschen aus.“ N. G.: „Es gibt ja noch, weil sie sagten 76 geboren, dieses von … wie heißt sie? „Zonenkinder.“ Obwohl ich glaube, dass diese Jahre eine ungeheure Differenz markieren. Es macht

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nämlich einen großen Unterschied, ob man 1989 neunzehn war oder ob man fünfzehn war. Mit 15 ist man mit Sachen der Pubertät beschäftigt, das ist dann irgendwie so mitunter leicht melancholisch getönt: „… das Ende der Kindheit und dann kam der Westen.“ Weil man natürlich, wenn man angepasst war oder nicht aus einem oppositionellen Elternhaus kam, könnte ich mir DDR Kindheit, die frühe Jugend durchaus idyllisch vorstellen. Meine war es nicht, aber bei anderen schon, die dann diese hardcore Erfahrung mit Armee oder Studienzwang nicht gemacht haben und die dann auf 89 einen eher … fast schon melancholischen Blick haben, den ich nicht habe. Für mich ist es ganz eindeutig nicht das Ende einer Kindheit oder einer Idylle, sondern ich würde es eindeutig als einen Befreiungsmoment bezeichnen, das auch, das ist interessant, das bis heute fortwirkt. Das ist irgendwie immer so ne Dosis, wo ich glaube das Staunen bleibt und diese Grunderfahrung, dass Dinge wie sie sind, nicht so bleiben müssen. Im Positiven aber auch im Negativen … auch jetzt mit Blick auf Russland und mit Blick auf das Erstarken von autoritären Staaten wie China, und so weiter, dass das was man hier hat, das westliche liberale Modell, eben nicht als gegeben betrachtet, sondern durchaus als ein, ich würde sagen, ein Geschenk und mit auch, mit diesem Gedanken im Hintergrund: Es kann sich ändern, in diesem Fall natürlich nicht zum Guten. Also wo dann vielleicht so zwei Erfahrungen, also aus meiner Perspektive gesehen dieses Staunen und diese Freude und gleichzeitig die Wachsamkeit gegenüber was heute passiert ist, die Dinge die feststehen, durchaus in ihrer Fragilität dann auch wahrzunehmen.“

Eine Abgrenzung findet auch zu den etwas Jüngeren in der DDR statt. Für das Portrait ihrer Generation „Zonenkinder“ ist Jana Hensel bekannt geworden (Hensel 2003). In Jana Hensels Darstellung fällt das Ende der DDR mit dem Ende der eigenen Kindheit zusammen. Ihr Heimatland ist verschwunden, geschichtslos geworden, es ist wenig erhalten geblieben, was an die Zeit vor 1989 erinnert. Diesen nostalgisch geprägten Blick auf die DDR kann Norbert Geck nicht nachvollziehen. Wer den Mauerfall zum Ende der Kindheit erlebt hat, kann die DDR als eine Idylle erinnern, denn diese „Hardcore-Erfahrungen“ mit Wehrdienst und dem rigorosen DDR-Bildungswesen haben sie nicht gemacht. Dieser Staat ist zu einem Zeitpunkt zusammengebrochen, der es ihnen erlaubte ihn in guter Erinnerung zu behalten, als den verlorenen Ort der eigenen Kindheit und frühen Jugend. Wer Zuggeständnisse an das System gemacht hat oder auch davon überzeugt war, stellt sich im Nachhinein vor allem moralische Fragen. Warum hat man sich verführen oder vereinnahmen lassen? Warum wurde nicht ein kritischerer Blick auf die Gesellschaft der DDR entwickelt? Sie waren zu jung, um sich diese Frage ernsthaft stellen zu müssen. Die Frage nach anderen literarischen Verarbeitungsformen dieser Arbeit wirft die Frage auf, wie viel man von der DDR miterlebt haben muss, um einen doppelten Blick auf dieses Land entwickeln zu können. Ein Kriterium, an dem eine mögliche „DDR-Sozialisation“ festgemacht

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werden kann, ist der Schulbesuch, wenn jemand die obligatorischen zehn Jahre in der DDR verbracht hatte, kann man von Nachwirkungen einer DDR-Sozialisation sprechen. Dies ist die Erfahrung der 1972/73 und früher Geborenen. Norbert Geck weist dagegen auf noch drastischere Erfahrungen hin, die nach der Schule folgen. Es sticht vor allem der Dienst in der NVA als ein einschneidendes negatives Erlebnis hervor. Ebenso die Erfahrung, dass eine politische „Unliebsamkeit“ die Wahlfreiheit in der Ausbildung und Berufstätigkeit nachdrücklich einschränken kann. Die DDR kann als verlorener, beschaulicher Ort der Kindheit erinnert werden, die Zumutungen der Diktatur sind den Jüngeren unbekannt geblieben. Es bleibt eine private, fast intime Erinnerung an die DDR. Im Interviewtext wird nicht nur darauf hingewiesen, dass diejenigen, die zu jung waren, die repressiven Seiten der DDR kennen zu lernen, einen versöhnlichen Blick auf die DDR haben, sondern es wird auch das Herkunftsmilieu als für diese Frage als bedeutsam betont. Wer aus einer „einigermaßen stromlinienförmigen“, angepassten Familie kommt, kann die DDR-Kindheit auch als idyllisch wahrgenommen haben, bevor der Systemumbruch sie vor die eigentliche Herausforderung in ihrem Leben stellte, und zwar sich in das Westsystem einzugewöhnen, ohne dass das eigene Umfeld helfen konnte. Für ihn war die Ausreise aus der DDR einzig und allein ein Befreiungserlebnis, denn positive Erinnerungen hat er kaum an diese Zeit, auch im Nachhinein kann er der DDR nichts Positives abgewinnen. Auch seine Kindheit beschreibt er – vermutlich aufgrund seines eigenen oppositionellen Umfeldes – nicht als eine Idylle. Er ist froh, dass diese Geschichte vorbei ist. Obwohl das Thema als abgeschlossen gelten kann, ist etwas bis heute zurückgeblieben, was ihn selbst erstaunt: Das Bewusstsein der Kontingenz in einer sich schnell ändernden Welt. So wie es ist, muss es nicht bleiben. Aus der Prägung wird ein politisches Programm formuliert, diese Kontingenz bezieht sich auch auf die westlichen Demokratien, sie sind nicht „gegeben“, sondern bedroht und auch zerbrechlich. Aus der Freude, dass ein autoritärer Staat zerbrochen ist, tritt die Wachsamkeit vor dem Erstarken neuer Diktaturen. Das westliche liberale Modell wird nicht als gegeben angenommen, sondern es will in dieser Situation verteidigt werden. Möglicherweise hat sich aus der Erfahrung einer Diktatur ein besonderes Sensorium gegenüber dieser Programmatik gebildet. Andere sehen diese Problematik nicht in diesem Maße. Seine gegenwärtigen Sorgen betreffen nicht ökonomische Verunsicherungen oder das Unbehagen, dass die gegenwärtigen westlichen Industriegesellschaften an ihrer Hypertrophie Schaden nehmen können. Norbert Geck sorgt sich viel grundsätzlicher, ob das Demokratieprinzip weltweit bestand haben wird. Die Sorgen seiner westdeutschen Altersgenossen, die drohende relative Verarmung des Mittelstandes, sind ihm nicht fremd, sondern werden nicht in dem Maße als bedrohlich wahrgenommen:

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N. G.: „Ich hatte das vor Kurzem – die Hälfte des Studiums hat mir damals die Friedrich-Ebert-Stiftung finanziert und ich werde immer noch eingeladen zu den Stipendiaten-Treffen. Vorm Jahr oder zwei, und da hatte ich wirklich eine interessante Begegnung: Da waren zwei Stipendiaten – die waren ein bisschen älter als ich – die sprachen über die großen Einschnitte in ihrem Leben. Der erste Einschnitt war, dass das BAföG nicht mehr 100 % als Darlehen war oder nur noch 50 %. Das war der erste Einschnitt und der zweite war das Ende der Eigenheimzulage. Das bezeichneten sie als Einschnitt in ihrem Leben. Das habe ich mir angehört und dann dachte ich OK, gut, ich komme wo anders her. Ich komm aus diesem Übersiedlerlager Gießen, wo wir ankamen – mit Koffern und Taschen, das war alles. Und als wir ankamen im Mai 1989 war das Lager völlig überfüllt, weil die DDR in Zügen diese Leute raus gelassen hat um das westliche Übernahmesystem zum Erliegen zu bringen, und war dann nur noch Platz im Keller. Zum Glück war es warm und es wurden dann so Schränke aufgestellt und Decken zwischen den Schränken gespannt um so kleine Gefilde von Privatheit zu schaffen ... Und das ist diese Erfahrung, sodass ich wirklich mit einer... aufgewachsen bin mit einer Unsicherheit als das völlig Normale.“

Es kommen an dieser Stelle andere Vorstellungen von Sicherheit und Unsicherheit zur Sprache. Die Stipendiaten einer parteinahen Stiftung können zu den vergleichsweise privilegierten Kreisen zählen, was Teile dieser Erzählung erklären dürfte. „Richtige Armut“ dürften sie nie erlebt haben. Der Hinweis, dass beide etwas älter waren als er, lässt den Schluss zu, dass sie in ihren Berufen inzwischen etabliert und gefestigt sein dürften. Auch ihre Selbsteinschätzung dürfte in diese Richtung gehen. Würden sie für ihr Leben keine positive Bilanz ziehen, wären Erzählungen von Problemen beim Berufseintritt und von Arbeitslosigkeit zu erwarten gewesen. Man kann sich diese beiden Altstipendiaten also als zwei erfolgreiche Herren in ihren besten Jahren vorstellen, denen materielle Sorgen fremd sind. Möglicherweise ist diese Erzählung etwas überspitzt. Wesentlich ist aber, dass das Leben im Westen im Vergleich zu den Erlebnissen Norbert Gecks nach wie vor in geregelten Bahnen verlief. Erzählungen vom Ende der „alten Bundesrepublik“ und den damit einhergehenden Kürzungen im Sozialsystem nimmt er als relativ harmlos wahr, seine Geschichte ist eine andere: Er musste buchstäblich bei null anfangen, nur mit dem Nötigsten im Reisegepäck kam er mit seiner Familie in einem Übersiedlerlager in Gießen an, was in der besonderen Situation der Ausreisewelle aus der DDR total überfüllt war, sodass sie im Keller untergebracht werden mussten, ohne eigene Zimmer. Es mussten Decken gespannt werden, um der Familie einen minimalen Rückzugsraum zu ermöglichen. Diese Art der Unterbringung dürfte in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften allenfalls von Hilfseinsätzen in einem Katastrophengebiet bekannt sein. Auch seine familiäre Situation dürfte sich wiederum besonders von denen dieser

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Stipendiaten unterscheiden. Norbert Geck war darauf angewiesen, früh für sich selbst zu sorgen, eine Unterstützung durch die eigene Familie war in seiner Situation ausgeschlossen, denn sie waren selbst in der Situation, bei null anfangen zu müssen, und hätten ihn kaum unterstützen können. Im Vergleich zu den Entbehrungen, die die Übersiedlung in die Bundesrepublik bedeutet haben müsste, müssen die Erzählungen der genannten Stipendiaten absurd erschienen haben. Als Vorteil an seiner Geschichte erscheint im Nachhinein, dass er kein vorgegebenes Wohlstandsziel vor Augen hat, einen Status, den seine Eltern erreicht haben. Ein Status der Eltern, den er auch erreichen oder übertreffen musste, dürfte für ihn kein Maßstab gewesen sein. Der in Westdeutschland implizit bestehende Vergleich an der eigenen Elterngeneration, wann eine bestimmte Karrierestufe gemeistert werden sollte, wann das Eigenheim erworben werden und eine Familie gegründet werden sollte usw. stellt sich für ihn nicht. Derartige Überlegungen machen für ihn keinen Sinn. Den erreichten Wohlstand weiß Norbert Geck umso mehr zu würdigen, da er nicht nur eine relative Knappheit, sondern eine richtige Armut erlebt hat. Man kann vermuten, dass dieser mangelnde Erwartungsdruck einen größeren Raum zur Selbstverwirklichung ermöglicht. Während eine mögliche Bewältigungsstrategie in der Beschränkung der eigenen Karrierepläne liegen würde, nicht jede Option zu nutzen oder die Entscheidung für eine risikoreiche Karriere zu vermeiden. Dafür wird auf bekannte Größen gesetzt. Beschäftigungen, die nicht den eigenen Idealvorstellungen entsprechen, bekommen den Zuschlag gegenüber den Wunschbeschäftigungen. Norbert Geck scheint die aktuelle Situation vor allem als eine Chance zu begreifen, das eigene Leben zu gestalten. Es kann ohne diesen Erwartungsdruck einen bestimmten Status halten zu müssen entspannter über Karrierefragen nachgedacht werden. Ein Scheitern an einer Karriere wäre angesichts der Erfahrung seiner ersten Tage in der Bundesrepublik ein eher kalkulierbares Risiko. Neben den biographischen Besonderheiten erscheint zur Interpretation dieser Aussagen der Blick auf den Beruf ratsam: Norbert Geck arbeitet als freier Journalist, was als ein ökonomisch relativ prekärer Beruf angesehen werden kann, denn die Auftragslage ist oft spärlich. Das Normalarbeitsverhältnis ist im Medienbereich immer weiniger die Regel. Viele Medien können oft nicht alle Beiträge der freien Mitarbeiter verwerten. Der Medienbereich kann daher als einer der prekärsten Berufsfelder angesehen werden27. Diese Unsicherheits-Erfahrung scheint aber nicht das wesentliche Thema in Norbert Gecks Leben zu sein.

27 Vgl. hierzu auch den Hinweis von Carla Lindemann (Fall 6), dass die Frage nach einer „Generation Precaire“ oder „Generation Praktikum“ so eine Resonanz in den Medien erfährt, weil hier vor allem die Lebenswelt der Journalisten beschrieben wird.

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N. G. : „Es ist interessant, wenn ich jetzt im Moment denke, muss ich sagen, dass diese Unsicherheits-Erfahrung immer … nie von meinem persönlichen Umfeld ausgegangen oder mich selbst betroffen hat, die Erfahrung … weil ich habe mir mein Studium auch als Journalist für damals die TAZ finanziert und bin sozusagen fast beinahe zwanzig Jahre freiberuflich. Dass ich … Also, diese Unsicherheit-Erfahrung … Das war immer mit gedacht. Das hat mich jetzt nicht weiter gestört, obwohl ich da nicht typisch bin, für die Freiberufler wahrscheinlich eher … In dieser Wahrnehmung … Das habe ich schon immer auf der Agenda gehabt. Was jetzt die Unsicherheit betrifft ist eher politisch, jetzt auch nicht gesehen in Rahmen der Bundesrepublik, da mache ich mir überhaupt keine Sorgen, sondern geopolitisch ob der Westen der 89 gesiegt hat, dann wirklich in der Lage ist, gegen autoritäre Systeme, die ohne zivilgesellschaftliche Regelungen, ohne Gewerkschaft und so weiter einfach nach vorne puschen. Ob der Westen da in der Lage ist, da mit zu halten und auch adäquate Antworten zu geben. Kann man natürlich sagen, das ist ein Privileg, wenn man sich mit solchen Dingen beschäftigt und sich jetzt nicht fragt, wie die Miete rein zu kommen hat. Das frage ich mich auch. Aber da denke ich, das hängt zum großen Teil von mir selbst ab, dass ich da nicht ganz so ängstlich bin. [Unterbrechung] Also da richtet sich die Sorge eher auf das größere und jetzt nicht auf das. Ich muss sagen, durch diese Reisen, wir leben auf einem der sichersten Länder auf dem Globus, einem der sozialsten Länder. Und dass natürlich diese Unsicherheitserfahrung subjektiv … aber objektiv kann ich es nicht ganz so ernst nehmen, weil es immer noch eine der fairsten Gesellschaften der ganzen Welt ist. Ich bin da kein Herold dieser hardcore-FDP: Die sagen, wir brauchen amerikanische Zustände. Ich glaube dass durchaus bestimmte Dinge, Gesundheitswesen und so weiter, Bildungswesen der Mechanik des Marktes nicht unterworfen sein sollte. Aber ansonsten glaube ich, schon dass man sich selbst kümmern sollte und dass es nicht Ausgabe des Staates ist für persönliches Glück zu sorgen, allerdings wenn man selber nicht mehr kann, sollte der Staat dann schonbereit stehen. Ich merke das, bei Leuten in meiner Generation, dass dieses Denken relativ ausgeprägt ist. Das hat jetzt nichts mit neoliberal zu tun, es ist durchaus diese soziale Basis schätzen, aber die ganzen Übertreibungen oder das Wegfallen dieser Übertreibungen nicht jetzt was wahrnehmen, was ganz schrecklich ist. Ich würde das vielleicht so beschreiben.“

Bei der Lektüre dieses Interviewtextes fällt auf, dass er einerseits die Kategorie der Generation zurückweist – er ist nicht typisch – zum Ende des Texts wird sie wiederum eingeführt: Seine Generation hat keine besondere Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat. Welche Vorstellungen einer gemeinsamen Generation sind hier zu erkennen? Die Wortführer seiner Generation – man kann sich hier die oben beschriebenen Altstipendiaten vorstellen – sehen BAföG-Forderungen und die Abschaffung

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der Eigenheimzulage als soziale Einschnitte in ihrem Leben. Norbert Geck zeigt eine betonte Gelassenheit dem Arbeitsmarkt gegenüber: Die Erfahrung einer Unsicherheit ist ihm bekannt, denn er hat bereits sein Studium durch Tätigkeiten als freier Journalist bestritten. Damit kann er auf eine lange Berufserfahrung in diesem prekären Arbeitsumfeld zurückblicken. Diese Gelassenheit sieht er wiederum als auf die Altersgenossen übertragbar an: Es gibt viele, die sich ihr Leben jenseits der sozialen Sicherheitssysteme organisieren müssen, Norbert Geck zählt sich dazu. Sein Umfeld – das der Freiberufler – wird dagegen hervorgehoben. Sie haben nie eine solche Unsicherheitserfahrung, wie sie in den Medien vermittelt wird, gemacht. In dieser Frage wird aber besonders die individuelle Erfahrung betont: Es hängt wesentlich von ihm ab, er hat schon eine richtige Armut erfahren, es scheint an der besonderen Relevanz der eigenen frühen Erfahrungen in der Bundesrepublik zu liegen, dass er aktuelle Einschnitte nicht in dem Maße als bedrohlich wahrnimmt, wie es in der Debatte um ein Generation Praktikum beschrieben wird. Seine eigene Geschichte sieht er nicht als typisch für seine Generation, eher für die Gruppe der Freiberufler. Das Deutungsangebot der Schicht wird dem der Generation vorgezogen. Insofern sieht er sich nicht als typisch für seine Generation an, wohl aber für die Freiberufler, die für ihre soziale Absicherung selbst verantwortlich sind. Wäre sein Karriereziel die Festanstellung gewesen, wäre seine Bewertung möglicherweise anders ausgefallen. Ist von einem Umfeld die Rede, ist darauf hinzuweisen, dass er an anderer Stelle betont, sich lieber mit Westdeutschen zu umgeben, da bei anderen Ostdeutschen immer ein latentes Misstrauen bezüglich ihrer Aktivitäten vor 1989 mitschwingt. Es kann also davon ausgegangen werden, dass es sich hier um ein Umfeld westdeutscher Freiberufler handelt. Dieser Haltung liegt ein Vertrauen auf eigenes Geschick, Kompetenz und Geschäftigkeit zugrunde: Norbert Geck ist überzeugt, dass er weiterhin in seinem Beruf erfolgreich sein wird, auch wenn er sich manchmal selbst fragen muss, wie die „Miete reinkommt.“ Er fühlt sich in seiner Haltung durchaus der eigenen Generation verbunden, er weiß, dieses Denken ist innerhalb seiner Generation sehr ausgeprägt, dass man keine überzogenen Erwartungen an die soziale Sicherung hegt. Eine soziale Basis, wie auch immer die aussehen sollte, eine sich engagierende Zivilgesellschaft oder eine staatliche Sicherung sollte beibehalten werden. Anders als die neoliberalen Stimmen ist er der Meinung, dass bestimmte Politikfelder, wie das Gesundheits- und Bildungswesen nicht in letzter Konsequenz dem Markt unterworfen sein sollten. Er möchte nicht missverstanden werden als ein Wortführer eines überzogenen Liberalismus, die Forderung von „amerikanischen Zuständen“, einer kompletten Deregulierung des Sozialsektors sind nicht seine. Herunterspielen möchte er diese Probleme einer mangelnden sozialen Sicherheit nicht: Eine relative materielle Knappheit ist für

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ihn auch heute noch präsent. Im internationalen Vergleich erscheint die Bundesrepublik immer noch eine der fairsten Gesellschaften zu sein. Ein wesentliches Problem für die Zukunft sieht er vielmehr in der Konkurrenzfähigkeit mit autoritären Regimes, die ohne all das auskommen: die ohne Gewerkschaft, Zivilgesellschaft usw. Politik machen können. Die wesentliche Frage ist, ob die westlichen Gesellschaften weiterhin angemessene Lösungen geben können. Dass dies eine privilegierte Sichtweise ist, räumt er selbst ein. Die wesentliche Frage ist für ihn vielmehr, ob die westlichen Demokratien weiterhin mit dieser Herausforderung umgehen können. Der Vergleich mit diesen Staaten ist aus seiner Erzählung immer wieder herauszulesen, denn er sieht die Gesellschaft der Bundesrepublik als eine der fairsten und sozialsten Gesellschaften an. Obwohl er einen radikal Liberalen und individualistischen Ton an den Tag legt, fühlt er sich bei seiner eigenen Generation in dieser Frage verstanden, man sieht diese Probleme ähnlich. Aus der Erfahrung der DDR kommt eine gewisse Skepsis gegenüber Identifikationsangeboten zutage. Im Laufe des Gesprächs kommt zufällig das Gespräch auf die Stadt Berlin als seinem Wohnort: N. G.: „Berlin ist jetzt nicht charmant. Ich finde es OK, hier zu leben. Ich verstehe immer nicht, weshalb Touristen aus aller Welt es so wahnsinnig toll … vielleicht sind die auf irgendeine Propaganda reingefallen, so hip ist es auch wieder nicht. Da gibt es so ein Plakat, was ich auch eine Unverschämtheit finde: Berlinwerbung „Be Berlin“, ich meine das ist wirklich eine Volksgemeinschaft. Man muss sich so eingemeinden, wo anders heißt es bienvenue …“

Das Motto „be Berlin“ wird als eine Zumutung, „Unverschämtheit“ verstanden, anderswo heißt es „bienvenue“, dieses Motto wird als Vereinnahmung wahrgenommen, man muss Teil des Ganzen werden. Die Werbung der Stadt wird als „Propaganda“ bezeichnet. Hier ist eine Skepsis gegenüber Deutungsangeboten zu erkennen, die eine drohende Vereinnahmung darstellen, „man muss sich so eingemeinden.“ Diese Ablehnung des Mottos lässt auf eine Skepsis gegenüber Massenveranstaltungen und Identifikationsangebote schließen. Jens Bisky schreibt über sein Ankommen in der Bundesrepublik, dass er seitdem eine Ablehnung gegenüber Massenaufläufen hatte. Bis zum Zusammenbruch der DDR hatte er an unzähligen Massenveranstaltungen teilgenommen, seitdem hegt er eine Abneigung gegenüber Massenveranstaltungen jeder Art (Bisky 2004: 219). In der DDR stellte sich immer wieder die Frage, ob man dazugehört, stromlinienförmig ist und das erwünschte Engagement zeigt. Dieses Leben war durch ein sehr bürokratisches System geregelt, verbindliche Mitgliedschaft in den obligatorischen Jugendorganisationen. Während andere die Gemeinschaft stiftenden Momente

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dieser Zeit zu schätzen gelernt haben, auch wer eine Distanz zu dem SED-Regime hatte, wusste z.B. in der Schule die informellen Netzwerke, die die Gängelungen erträglicher machten, zu schätzen. Bei Norbert Geck scheint nichts von alledem positiv in Erinnerung geblieben zu sein. Das reglementierte Leben in der DDR hat ihn vor allem an seiner persönlichen Entwicklung gehindert. Die Entwurzelung von der DDR-Gesellschaft wird so in einem radikal-liberalen und individualistischen Lebensmodell weitergeführt. Man kann unterstellen, der Untergang der DDR bedeutet für viele den Verlust bis dahin bestehender Netzwerke, die Gemeinschaft versprochen haben. Norbert Geck fühlt sich befreit von der SED-Diktatur mit den Massenorganisationen und den damit einher gehenden Vereinnahmungsversuchen. Neue Identifikationsangebote sucht er nicht. Viele trauern den – aus ihrer Sicht guten Seiten – der DDR nach. Norbert Geck ist einfach nur froh, dass diese Zeit vorbei ist. 4.2.3 Fall 6: „Es ist keine große Bewegung, die irgendwo in eine Richtung marschiert“ – Carla Lindemanns Aufwachsen zwischen der Idylle DDR und der Realität des SED Regimes Carla Lindemann wurde 1976 in Heiligenstadt geboren und wuchs in einer kleineren Ortschaft im so genannten „Sperrgebiet“ unmittelbar an der innerdeutschen Grenze auf. Da diese Situation des Aufwachsens als außergewöhnlich anzusehen ist, seien zunächst einige grundlegende Bemerkungen über den historisch-sozialen Kontext gemacht. Für die Bewohner dieser Region 5 km an der innerdeutschen Grenze galten besondere Restriktionen: Besuch von DDR-Bürgern musste angemeldet werden, dieser konnte das Sperrgebiet nur mit einem speziellen Passierschein betreten. Besuch aus Westdeutschland zu empfangen, war unmöglich. Die SED-Führung versuchte zunächst die in der Region ansässige Bevölkerung umzusiedeln, um ein bevölkerungsleeres Sperrgebiet zu schaffen, das nur von Grenztruppen begehbar gewesen sein würde, um einen geplanten Grenzübertritt lange vor dem Erreichen der eigentlichen Befestigungsanlagen erkennen zu können. Auf Landkarten, die in der DDR erhältlich waren, wurde dieser Abschnitt entweder gar nicht oder nur grob vereinfacht dargestellt. Ortsfremde Personen sollten sich in der Region nicht orientieren können. Bauwerke in der Nähe der Grenze wurden abgerissen. Mögliche Grenzgänger sollten dort keinen Unterschlupf finden. Zum Teil wurden ganze Ortschaften zerstört. Da dieses Vorhaben schwer in Gänze umzusetzen schien, beschränkte man sich schließlich auf die Umsiedlung von als politisch unzuverlässig eingestuften Personen. Innerhalb der DDR war das Sperrgebiet in zwei Richtungen abgeschlossen. In Richtung Westen durch die Staatsgrenze und von der übrigen DDR war es abgeschlossen, da das

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Betreten des Sperrgebietes einer besonderen Genehmigung bedurfte. Aufgrund der Abgeschnittenheit von der Außenwelt und der ländlichen Prägung bestach diese Region durch eine besondere „Idylle“. Die Natur im ehemaligen Sperrgebiet gilt auch heute noch als besonders unberührt und artenreich. Von vergleichbaren Regionen in Westdeutschland würde man sagen, dass dort das Leben „noch in Ordnung“ sei. Die Schattenseite ist, dass dies meist strukturschwache Regionen waren, wenn es nicht gelang, diese für den Fremdenverkehr zu erschließen, z.B. im ehemals westdeutschen „Zonenrandgebiet“ am Harz. Dieses Problem stellte sich auf der östlichen Seite durch die von Subventionen geprägten DDR-Ökonomie für den alltäglichen Betrachter nicht. Es ist ein Ort, an dem eine Kindheit relativ sorglos erscheint. Im Nachhinein dürften viele Personen, die im „Sperrgebiet“ aufgewachsen sind, realisiert haben, dass diese „glückliche Kindheit“ auf die Härte einer Diktatur und der Blockkonfrontation zurückging. Ohne eine hermetisch abgeriegelte Grenze wäre es dort vermutlich weniger beschaulich geblieben. Vollkommen unbeschwert wird es aber tatsächlich nicht gewesen sein: Es ist zu vermuten, dass die unmittelbare Nähe der Grenze die Problematik schon früh in ihrem Bewusstsein verankert hat: Die verstärkte Präsenz von Grenztruppen, regelmäßige Manöver der NVA und ihrer Verbündeten sowie Alarmübungen werden den Anwohnern schon in früher Kindheit die Besonderheit ihrer Situation verdeutlicht haben. Wir verfolgen die Spur eines Lebens zwischen den Bildern des beschaulichen Aufwachsens in einer etwas verschlafenen, ländlichen Gegend und den unglücklichen Erfahrungen der Diktatur bewegt. Diese grundlegende Spannung zwischen glücklicher Kindheit und der unglücklichen großen Politik kann als ein erster Hinweis für die Interpretation gelesen werden. Obwohl die in diesem Fall beschriebene DDR-Kindheit beschaulich gewesen sein dürfte, wirft sie einen dunklen Blick auf die DDR, anders als zum Teil versöhnlich verklärende Stimmen der „DDR-Erinnerungsliteratur“. Der Mauerfall veränderte in dieser Region das Leben mehr als in vielen anderen Teilen Ostdeutschlands. Göttingen oder Kassel sind ohne die Grenze einfacher zu erreichen als die nächsten größeren Städte in Thüringen. Viele Bewohner aus der Region pendeln zu ihren Arbeitsstätten im angrenzenden Niedersachsen oder Hessen. Nach dem Abitur verließ auch Carla Lindemann ihren Heimatort und begann ein Studium der Geschichtswissenschaft an der Universität Marburg. Die westdeutschen Studien-Kollegen vermittelten ihr oft den Eindruck, anders zu sein. Um dieses Gefühl der „Andersartigkeit“ im Zusammenhang mit den eigenen Erfahrungen zu reflektieren, griff sie im Studium zu den „89ern“ von Claus Leggewie (Leggewie 1995) sowie zur „Skeptischen Generation“ von Helmut Schelsky (Schelsky 1957). Von der Lektüre erhoffte sie sich die Klärung dieser Fragen. Beide Bücher hat sie aber aufgrund anderer Arbeitsverpflichtungen relativ schnell wieder bei-

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seite gelegt. Einen bleibenden Eindruck hat aber Schelskys Darstellung einer Generation, die durch eine Diktatur und den darauf folgenden Zusammenbruch geprägt ist, hinterlassen. Ihr sind viele Gemeinsamkeiten zur eigenen Generation aufgefallen. Von ihren Hochschullehrern bestärkt hat sie diese Erfahrungen in einem bekannten und viel beachteten Essay reflektiert, der ihr schon vor Abschluss ihres Studiums eine gewisse Bekanntheit verschafft hat. Zu diesem Thema schrieb sie schließlich auch ihre Magisterarbeit im Fach Geschichte. Die Frage nach einer Generation, die durch den Mauerfall geprägt ist, bleibt ihr Thema. Es ist aber – wie sie sagt – gemessen an Heinrich August Winklers „langem Weg nach Westen“ eine kleine Fußnote. Auch Carla Lindemann scheint in Fragen der Selbstthematisierung virtuos: Sie baut sich ihre Identität aus verschiedenen Fundstücken der eigenen Lektüre zusammen. Es werde Anschlüsse an andere Gruppen gesucht, deren „Generationenschicksal“ mit dem eigenen vergleichbar ist, z.B. die Flakhelfergeneration der Bundesrepublik. Seit Abschluss des Studiums arbeitete sie als freie Journalistin für verschiedene Printmedien in Berlin. Sie ist verheiratet, hat aber keine Kinder. Ich habe sie aufgrund ihrer Publikationen, in denen sie ihre Generation als die der 89er bezeichnet, angesprochen. Via E-Mail bitte ich um ein Interview. Sie ist sich zunächst nicht sicher, ob sie die Richtige ist, und bittet zunächst um einen Rückruf: Sie fragt sich, warum ich gerade sie anspreche, wenn doch vor allem Personen wie die westdeutschen GRÜNEN im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen. Ich erkläre ihr, dass es darum geht, die Selbstexplikation als 89er nachzuvollziehen, nicht allein die westdeutsche Generationenrhetorik. Nach einem längeren Telefonat vereinbaren wir ein Gespräch in einem Café in Berlin. Auch hier stellt sich die Frage, wie es zu dieser Rhetorik gekommen ist. Sie braucht keinen Interviewstimulus, es fällt ihr beachtlicher Erzählfluss auf. Anders als bei vielen meiner anderen Interviewpartner scheint für sie dieses Thema noch nicht abgehakt zu sein und sie immer noch zu beschäftigen. Unser Gespräch geht über rund anderthalb Stunden. Zur besseren Darstellbarkeit und Interpretation wird im Folgenden eine längere Interviewsequenz zur besseren Lesbarkeit und um die Interpretation zu erleichtern in mehrere Teilsequenzen aufgeteilt. M.G.: Wie ist das dazu gekommen, dass dieser Begriff … C. L.: „Ich kann jetzt glaube ich, nur von mir sprechen, wie ich den benutzt habe. Ich habe ja in diesem Text, diesem Mauerkindertext versucht was zu sagen über eine Generation, derer die in der DDR geboren sind und in der DDR bestimmte Erfahrungen gemacht haben, aber noch relativ jung waren, als die Maueröffnung war, und … also so zwischen so irgendwie … ich weiß nicht, zehn und zwanzig, also noch nicht geprägt waren von der DDR und auch nicht in den Institutionen und deswegen ja mit ganz vielen Möglichkeiten auch

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ausgestattet. Also das ist im Unterschied zu meinen Eltern eben, die viel weniger Möglichkeiten hatten sich zu bewegen in diesem neuen System, hatten wir das ja. Und einerseits, und ich glaube deswegen, auch Jana Hensel und Jana Simon da in so eine Leerstelle rein gefunden haben. Weil es gibt … Also man hat eben immer angenommen, naja, die jungen Leute aus dem Osten, die müssen doch eigentlich eben total gut angekommen sein im Westen und die müssten alle Möglichkeiten haben und da gibt es doch eigentlich keine Frage, dass die was zu kritisieren hätten. Und dann aber festzustellen, dass man natürlich mit einem doppelten Blick auf dieses Land guckt, also, weil man ja eben schon dann, wir oder wenn man sagen will, diese Generation einen Großteil ihres Lebens im Osten verbracht haben und dann der Systembruch und der Systemwechsel, der war ganz wichtig für die eigene Biographie.“

Zu Anfang des Interviews ist eine absichernde Rhetorik zu erkennen: Sie kann nur für sich selbst sprechen. Wie ist diese Absicherung zu verstehen? Will sie zum Ausdruck bringen, dass sie nicht die Richtige für ein Interview ist? Dagegen spricht, dass sie meine Frage nach einem Interview zu diesem Thema positiv beantwortet hat und sich in einem längeren Gespräch darüber versichert hat, dass sie hierfür passend ist. Und auch die Rahmendaten ihrer Biographie, die in der Erzählung erneut aufgegriffen werden, sprechen dafür: Carla Lindemann gehört einer Altersgruppe an, die einerseits kaum durch die SED-Diktatur belastet ist, dafür war sie zu jung. Gleichzeitig musste sie alle Herausforderungen nach 1989 selbstständig lösen, auf eine Hilfe durch die Elterngeneration konnte sie nicht hoffen, denn diese war mit der Bewältigung der eigenen Probleme befasst. Kinder und Jugendliche fühlten sich oft unverstanden, ihre Eltern waren bei vielen Fragen nicht die richtigen Ansprechpartner, da sie sich selbst in die Gesellschaft der Bundesrepublik nach dem Zusammenbruch der DDR neu eingewöhnen mussten. Bernd Lindner spricht hier von der „Generation der Unberatenen“ (Lindner 2003). Eine Generation, die nach der Wende auf sich selbst gestellt war, weil sie selbst von ihrem engsten Umfeld keinen Rat oder Hilfe erwarten konnte. Auf dieses Thema kommt sie gleich zu Beginn des Interviews zu sprechen. Sie spricht an dieser Stelle noch nicht von sich selbst, vielmehr ist hier eine metasprachliche Aussage über die Generationenrhetorik der 89er zu lesen: Der Begriff der 89er ist polysemisch, diese Rhetorik um die 89er-Generation ist vor allem aus Westdeutschland zu hören. Protagonisten dieser Debatte sind Personen, die keinen wirklichen Bezug zu der von ihr angesprochenen Thematik haben, das macht es für sie problematisch darüber zu sprechen. Sie sieht sich selbst vielmehr als einen Sonderfall in dieser Debatte. An anderer Stelle wird sie darauf verweisen, dass die Protagonisten dieser Debatte keine nennenswerte Verbindung zu den Ereignissen von 1989 aufweisen – z.B. bei den GRÜNEN. Die westdeutsche Vereinnahmung

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dieser Generationenrhetorik ist für sie ein Problem, denn sie „verwässert“ ihren Standpunkt. Sie kann folglich nur davon sprechen, wie sie das angesprochene Generationslabel für sich selbst genutzt hat. Was sie sagen wird, hat keinen Anschluss an die Rhetorik der 89er, wie sie von den anderen Protagonisten dieser Generationenrhetorik zu hören ist. Ihre Geschichte unterscheidet sich von denen der „89er“ in Westdeutschland, das soll zu Anfang des Interviews hervorgehoben werden. Sie hat die Geschichte hautnah miterlebt, und nicht als bloßes Medienereignis wie die westdeutschen Protagonisten dieser Debatte. Schon die Rahmendaten ihrer Biographie lassen eine „Andersartigkeit“ vermuten, zu Beginn dieses Interviews wird sie noch einmal besonders betont. Nach dieser Klarstellung beginnt sie mit ihrer eigentlichen Erzählung: Der Mauerfall gilt als zentrales Datum für die Heranwachsenden der damaligen DDR: Es taten sich für sie einerseits neue Chancen auf, die sich im vorherigen System nicht in diesem Umfang geboten haben. Personen, die noch in Schule und Ausbildung waren, profitierten von neuen Karrierechancen. Außerhalb des umständlich, zentral gesteuerten DDR-Bildungssystems konnte ein Studium aufgenommen werden, unabhängig späterer Beschäftigungschancen und vor allem ohne Prüfung des gesellschaftlichen Engagements, wie bereits in den Fällen vier und fünf beschrieben.28 Eine glückliche Entwicklung für diejenigen, die noch in der Ausbildung waren, wie man denken kann. Wer altersbedingt schon mehr in das System der DDR eingebunden war, musste sich nach 1989 möglicherweise Fragen nach der politischen Zuverlässigkeit stellen lassen, je nachdem welche Zugeständnisse man an das SED-Regime gemacht hatte. Wer seine Ausbildung oder das Studium schon abgeschlossen hatte, musste sich unter Umständen auch die Frage stellen lassen, welche Existenzberechtigung ein in der DDR erworbener Abschluss in der Marktwirtschaft hat. Während sich dieser Generation durch den Systemumbruch neue Chancen aufgetan haben, hat ihre Elterngeneration eher die genannten Nachteile zu erleiden gehabt. Der Umbruch traf sie in der Mitte ihres Lebens, ein Umlenken war für Carla Lindemanns Generation einfacher als die der Eltern, denn sie konnte sich noch in der Schulzeit auf das Leben in der Bundesrepublik einstellen. Die Abgrenzung zur Elterngeneration fällt zunächst relativ moderat aus: Anders als ihre Eltern – die es nach 1989 nicht so einfach gehabt haben dürften – hatte ihre Generation wenig Probleme, sich in die Gesellschaft der Bundesrepublik einzugewöhnen. Diese Gruppe wird auf die 1989 10- bis 20-Jährigen eingegrenzt, also die Jahrgänge 1969-79. Sie gelten als relativ gut im Wes-

28 Ob und wenn ja welche Verunsicherungen dieser Wechsel vom DDR-Bildungssystem in das freiere – und damit auch unsicherere System der Bundesrepublik hatte, wird in diesem Fall an späterer Stelle erörtert.

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ten angekommen. Ein Blick auf ihre Schulkollegen würde das bestätigen: Viele haben nach Abschluss der Schule ein Studium absolviert und sind jetzt im Westen oder zum Teil auch im Ausland tätig. Die ostdeutsche Herkunft merkt man ihnen nicht an, was von ihnen selbst als positiv bewertet wird, denn die Ostherkunft gilt als Stigma29. Ihre Schulkollegen, die jetzt im Westen berufstätig sind, würden nicht als Ostdeutsche auffallen. Von älteren Ostdeutschen hört man, dass mit dieser Generation eigentlich alles in Ordnung sei. Sie gelten nur als besonders ernst und geschäftig, was auch darauf hindeutet, dass hier keine nennenswerten Konflikte vorzuliegen scheinen. Allgemein ist man der Meinung, dass diese Generation gut im Westen angekommen ist. Die Kohorte der zum Fall der Mauer 30-50-Jährigen – die Generation von Carla Lindemanns Eltern – hatte deutlich schlechtere Chancen als die Schüler und Studierenden dieser Zeit, sie waren zu jung um früh verrentet zu werden, sie mussten sich im neuen System eingewöhnen. Auch, wer bereits zu DDR Zeiten ein Studium aufgenommen hat, konnte sich an den neuen Bedingungen schnell orientieren30. Es fällt die besondere Situation ihres Aufwachsens auf, die sich von den Erfahrungen im Westen unterscheiden dürfte. Diese Prägung dauerte länger als bis 1989, die ehemaligen Lehrer sind nicht in dem Maße ausgetauscht worden, wie es an Universitäten der ehemaligen DDR der Fall war. Im Laufe des Gesprächs wird sie darauf hinweisen, dass Geschichtslehrer an ostdeutschen Schulen, die vorher Staatsbürgerkunde unterrichtet haben, keine Seltenheit sind31. Hinzu kommen die ökonomischen Turbulenzen der Nachwendezeit. Eltern und Verwandte mussten sich neu orientieren. Aus dieser besonderen Situation heraus kommt ein anderer Blick auf die Bundesrepublik

29 Sascha Lange beschreibt Kommunikationsprobleme mit Angehörigen seines alten Freundeskreises, die in den Westen übergesiedelt sind: Sie sprachen wie die Westdeutschen akzentfrei, Gespräche drehen sich um neue Jobs und das monatliche Einkommen. Die Gesprächsthemen ihrer in der gemeinsamen Heimatstadt Leipzig verbliebenen Freunde – hier ging es um besetzte Häuser und Probleme mit Rechtsradikalen – konnten sie wiederum nicht nachvollziehen (Lange 2007: 26f.) 30 Es gab in einzelnen Fällen Probleme in der Anerkennung von DDR-Bildungstiteln. John Bornemann portraitiert einen Nachwuchswissenschaftler der als Soziolinguist an einen Forschungsinstitut arbeitete und über Ungarn in den Westen flüchtete. Obwohl er über zwei Hochschulabschlüsse verfügte, wurden sie nicht anerkannt, da sie an einem Institut für Marxismus-Leninismus erworben wurden (Borneman 1991: 208). 31 Martin Sabrow nennt die Flüchtigkeit des gesprochenen Wortes als Grund dafür dass die DDR-Geschichtslehrer relativ problemlos übernommen wurde, denn diese Geschichtsverfälschungen sind bei den Hochschullehrern schriftlich dokumentiert, anders als das gesprochene Wort im Klassenraum (Sabrow 2003: 129).

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zustande. Obwohl die Institutionen bereits an das westdeutsche System angeglichen waren, ist eine Kontinuität aus DDR-Zeiten zu beobachten, sie wird noch auf eine Kontinuität der Lehrer in der Schule zu sprechen kommen, aber auch die im Vergleich zu vielen anderen Regionen ökonomisch schlechter gestellte Region wird ihr die Besonderheit der eigenen Situation früh verdeutlicht haben. Eine Kritik findet wenig Anklang, sie erscheint wenig berechtigt, da sie alles geschafft haben, was von ihnen verlangt wird. Carla Lindemann ist zum Studium selbst in den Westen gezogen. Hier hat sie gemerkt, dass sie sich deutlich von ihren westdeutschen Studienkollegen unterscheidet, dass die ostdeutsche Sonderidentität stärker ausgeprägt ist, als man es zunächst erwarten würde. Carla Lindemanns Chancen für eine reibungslose Integration in die westdeutsche Gesellschaft scheinen gut zu sein. Nach dem Anschluss des Gebietes der damaligen DDR an die Bundesrepublik wurde ihre bis dahin verschlafene Heimatregion durch zahlreiche Pendler in die Städte des angrenzenden Bundeslandes Hessen oder Niedersachsen belebt. Es ist anzunehmen, dass gegen Ende ihrer Schulzeit die naheliegenden westdeutschen Städte Göttingen und Kassel auch für Carla Lindemann eine wichtige Anlaufstelle gewesen sein werden. Durchweg problemlos scheint die Ankunft im Westen aber nicht gewesen zu sein, denn sie betont, den Großteil ihres Lebens im Osten verbracht zu haben. Der überwiegende Teil der alltäglichen Begegnungen wird mit anderen Personen aus Ostdeutschland stattgefunden haben. Eltern, Nachbarn und Verwandte haben möglicherweise nicht so reibungslos ihren Weg gefunden. Offen bleibt, wie die Karrieren ihrer Freunde und Bekannten, die kein Abitur gemacht haben, verlaufen sind. Ihre westdeutschen Altersgenossen kommen ihr fremd vor, mit den eigenen Sorgen fühlt sie sich nicht verstanden. Obwohl es sie nicht direkt betrifft, sind die Probleme in Ostdeutschland nach wie vor präsent. Sie fühlt sich mit dieser Erfahrung nicht allein, sondern es ist den Gleichaltrigen genau so ergangen. Man vermutete, dass Angehörige einer Generation, die die Wende noch in der Schulzeit erlebt hat, problemlos ihren Weg in die Bundesrepublik finden wird. Sie sieht eine Gemeinsamkeit in diesen Jahrgängen darin, dass sie einen doppelten Blick auf die gegenwärtige Gesellschaft zu haben scheinen. Woran zeigt sich dieser doppelte Blick? „Und dann die Zeit im Westen. Sodass … Eben, dass es so eine doppelte Identität vielleicht gibt bei vielen … und natürlich auch der Osten ja nicht gleich verschwunden ist, sondern dass viele weiter aufgewachsen sind, in den Strukturen in der Schule im Osten, mit den Lehrern, also … die waren ja nicht einfach weg. Und dann sind sie irgendwie in den Westen gekommen, der natürlich ganz anders war. Aus der Diktatur in die freien Systeme und da trafen sie dann eben – oder ich, ich ja auch – auf Leute wie also Florian Illies und diese

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übersättigte Wohlstandsgeneration. Also Generation Golf, also keine Probleme, Eltern irgendwie gut situiert, viel … Urlaub in der Toskana und es ist ja immer der Golf, das Auto, und der ist ja auch ein Symbol für diesen Wohlstand. Und der unterscheidet sich aber total von dem, wo diese Generation aus dem Osten herkommt. Und ich glaube diesen Unterschied wollte ich in diesem Text klarmachen, und hab deswegen über so eine 89er Generation gesprochen.“

Ihre Studienzeit an westdeutschen Universitäten bringt dieses Anders-Sein deutlich zutage: Die „Ostprägung“ verschwindet nicht sofort, sondern bleibt latent erhalten. Man dachte, den Westen zu kennen, dieser selbst war aber ganz anders. Auch die DDR war nicht einfach verschwunden, sondern auch diese Strukturen blieben erhalten, wie die DDR-Lehrerschaft: „Die waren ja nicht einfach weg.“ Ausläufer des alten Systems sind nach wie vorhanden. Es sind zwei Abweichungen zu nennen. Erstens, die deutsche Teilung, die für Carla Lindemann wie oben beschrieben klar spürbar gewesen sein wird, dürfte mit ihrer Problematik für die Mehrzahl ihrer westdeutschen Studienkollegen weniger Eindruck hinterlassen haben. Als Erstes stellt sich seit ihrer Kindheit die Frage, wie man sich in einer Diktatur „einrichten“ kann. Eine Frage, die sich in Westdeutschland nicht stellt, höchstens für die Generation der Großeltern, die Auseinandersetzung über dieses Thema wird innerhalb der eigenen Familie mehr oder weniger verdrängt (vgl. z.B. Welzer u.a. 2008). Das Aufwachsen in unmittelbarer Nähe der innerdeutschen Grenze dürfte ihr die Besonderheit ihrer eigenen Situation früh verdeutlicht haben. Als Zweites ist ein belastetes Verhältnis zu den eigenen Eltern zu nennen: Sie sind moralisch durch die Verstrickung in die Diktatur belastet, eine ökonomische Belastung brachte der Systemumbruch, der jede Biographie bedroht haben dürfte, an den Tag. Man traf auf die westdeutschen Altersgenossen: Man könnte annehmen, sie seien den Angehörigen der westdeutschen Jugendkohorte der 90er sehr ähnlich, als gemeinsame Prägung wird die westliche Popkultur gesehen. Sie trifft Leute wie Florian Illies“, die sich als Angehörige einer „übersättigten Wohlstandsgeneration“ zu erkennen geben, ihre Eltern sind wohlsituiert, verbringen ihre Urlaube in der Toskana, es gibt keine erkennbaren Konflikte. Der Golf symbolisiert einen gewissen Wohlstand, „und der unterscheidet sich aber total von dem, wo diese Generation aus dem Osten herkommt“. Auch Jahre nach dem Mauerfall scheint das Leben auf beiden Seiten ein ganz anderes zu sein. Eine gewisse materielle Sorglosigkeit, wie sie von den „Golffahrern“ vermittelt wird, bis hin zu einer Alimentierung durch die eigenen Eltern bis weit über das 30. Lebensjahr hinaus stellt einen großen Unterschied zu den prägenden Einflüssen im Osten dar. Neben die „gesättigte Wohlfahrtsgeneration“ wird eine 89er Generation gestellt, die durch den Mauerfall und andauernde Turbulenzen und Be-

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lastungen im Osten nach der Wende geprägt ist. Auch diese Belastung geht bis zum heutigen Tag weiter. Dieses sorglose Leben mit einem Wohlstand, der utopisch erschienen haben muss, kann sie nicht nachvollziehen. Während es das Thema ihrer westdeutschen Studienkollegen ist, dass sie den erreichten Wohlstand ihrer Eltern möglicherweise nie erreichen können, erscheint ein Erreichen dieses Wohlstandes für sie unwahrscheinlicher als für ihre neuen westdeutschen Bekannten. In diesem Sinne kann man mit Carla Lindemann von einer „doppelten Identität“ sprechen, besser einer doppelten Prägung: Sie ist einerseits durch den Westen geprägt, hat westdeutsche Medien konsumiert, den wesentlichen Teil ihrer Schulausbildung unter dem bundesdeutschen Schulsystem absolviert und im Westen studiert, die gleichen Sendungen im Fernsehen gesehen und konkurriert mit ihnen um die gleichen Posten. Insofern kann sie als eine „normale“ Vertreterin ihrer Generation gesehen werden. Doch sie hat auch eine andere Seite, die auf den ersten Blick nicht auffällt. In dieser Hinsicht unterscheidet sie sich deutlich von ihren westdeutschen Freunden. Die erste wesentliche Veränderung in ihrem Leben war der Systemumbruch 1989. Jedes Leben wurde durch ihn verändert. Man könnte denken, nach einiger Zeit wird sich das Leben in Ostdeutschland dem im Westen angleichen, da Schulen, Universitäten und Behörden dem westlichen Teil des Landes angeglichen wurden. Die Grenze bleibt bestehen: Nicht als politische Demarkationslinie zwischen gegensätzlichen Regimes, sondern als feine Unterscheidungslinie. Es ist von einer ostdeutschen Sonderidentität die Rede, ein deutliches Bekenntnis nicht dazuzugehören (Bisky 2005: 9). Vieles ist dort anders, obwohl die Makrostrukturen der Bundesrepublik übernommen wurden: Ein weitaus größerer Teil der Bevölkerung muss durch staatliche Mittel alimentiert werden, die Linkspartei ist hier – anders als im Westen – eine Volkspartei, die Altersstruktur ist eine Andere. Viele junge Leute verlassen den Osten. Die meisten hält es dort nach dem Abschluss der Schule nicht mehr lange. Wer in seiner Heimatregion verbleibt, riskiert marginalisiert zu werden. Die Themen ihrer Studienkollegen sind ihr fremd: Für sie stand im Studium eine experimentelle Lebensphase bevor, während sie selbst starke ökonomische Sorgen geplagt haben dürften. Ihre eigenen Eltern waren keine Vorbilder, aber auch keine Feindbilder, eher bemitleidenswert. Obwohl häufig postuliert wird, dass auch die DDR-Jugend durch die westliche Popkultur geprägt ist und dass die DDR-Jugendlichen folglich einen relativ problemlosen Start in die westdeutsche Gesellschaft gehabt haben dürften. Im Vergleich zu ihren westdeutschen Alterskollegen fehlte ihr aber die Unbeschwertheit im Umgang mit diesen Dingen. Während sich in ihrem Umfeld jedes Leben verändert hat – die eigenen Eltern sind ökonomisch in Bedrängnis geraten – konnten die Eltern ihrer westdeutschen Altersgenossen ihre ökonomisch gut situierte Position zum Teil durch Erwerb eines Eigenheims und durch weitere

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einträgliche Nebenbeschäftigungen verbessern32. Die stärkste Abgrenzung wird in Carla Lindemanns Erzählung gegenüber westdeutschen Altersgenossen artikuliert: „In dem Text heißt es ja auch, wir Mauerkinder. Dass ja schon 89… das Wichtigste ist daran, dass die Mauer gefallen war und dass es eben dann auch eine Aufbruchssituation war und das halt versucht zu beschreiben in dem Text. Und dass aus dieser Situation ein anderer Blick herrührt, ein anderer Blick auf diese Wohlstandsgesellschaft des Westens. Oder auch ne, vielleicht so ne Fremdheit den Debatten gegenüber, also die 68er, also diese ganzen historischen Debatten, die auch gerade von den 68ern geführt werden, dass die aus dem Osten ja gar nicht so relevante Debatten sind, weil die kommen ja gar nicht daher. Also die kommen ja aus einem ganz anderen Kontext. Und selbst auch diese, das steht in diesem Mauerkindertext, die starke Definition über das Dritte Reich ist ja aus dem Osten … Der Osten war ja per se ein antifaschistischer Staat, und wenn man damit aufgewachsen ist mit der Rhetorik, dann ist das schon was anderes, als wenn man eben in den Schulddiskursen des Westens aufgewachsen ist. Und … ich will das nicht bewerten, also das war natürlich superproblematisch, der antifaschistische Diskurs des Ostens, weil … der beruhte ja einfach auf ner, das war ja eine historische Legitimation des Staates, das war ja eine Propagandageschichte. Aber ich wollte – glaube ich – was sagen, über eine innere Distanz gegenüber den Debatten des Westens. Und deswegen fand ich den Schelsky und die Skeptische Generation auch ganz interessant, weil Schelsky beschreibt ja für die Generation der Kinder, die 45 gerade noch, also entweder waren sie noch Flakhelfer oder sie waren zu jung dafür.“

Neben der Fremdheit der westdeutschen Wohlstandsgeneration gegenüber ist auch eine intellektuelle Fremdheit zu beobachten: Die historischen und politischen Debatten werden in westdeutschen Medien und dominierend von westdeutschen Intellektuellen geführt. Die hegemoniale Rolle der Protestgeneration in der öffentlichen Debatte wird hervorgehoben. Anders als in Westdeutschland wird hier die Rhetorik der 89er nicht als die eines jugendlichen Gegenpols zu den etablierten 68ern verstanden, deren Protagonisten die Inanspruchnahme einflussreicher und prestigeträchtiger Positionen erwarten. Fremd sind die „Schulddiskurse“ im Westen, die keine Entsprechung im Osten haben: Die DDR definierte sich selbst – in Abgrenzung zu dem Dritten Reich und auch dem westlichen Teilstaat – als antifaschistischen Staat. Ihr ist klar, dass dieses Selbstverständnis problematisch ist und Teil der Propaganda-Maßnahme in der SED-Diktatur war.

32 Tanja Bürgel portraitiert zwei Studierende, die zwar etwas jünger sind, im Ost-West Vergleich (Bürgel 2006b). Auf die Befunde dieser Studie wird weiter unten näher eingegangen.

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Wesentlich ist, dass es eine Debatte über die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit nicht gab, diese Frage stellte sich bei den legitimierenden Rhetoriken eines antifaschistischen Staates nicht. Die Verstrickung gesellschaftlicher Eliten in den Nationalsozialismus – eines der Hauptthemen der historischen Debatte der Bundesrepublik – stellte sich in der DDR weiter nicht in dem Maße, weil zentrale Posten in Ostdeutschland bereits nach dem Zweiten Weltkrieg ausgetauscht waren und die Posten der Eliten einerseits durch heimkehrende KPD-Mitglieder der Weimarer Republik besetzt wurden und später durch Personen, die bereits im Bildungssystem der DDR ihre Ausbildung erfahren haben. Der Mauerfall fiel in eine Zeit, in der die westdeutsche Öffentlichkeit selbst mit der Frage nach der eigenen Schuld beschäftigt war. Wichtige Themen Ende der 80er Jahre waren in der Bundesrepublik die Debatte um die Aufarbeitung und Erinnerung von NS-Verbrechen. Daneben galten die Themen der DDR-Geschichtsschreibung, ein ausgeprägtes Interesse an den Anführern der Arbeiterbewegung wie Rosa Luxemburg, der Bundesrepublik als überholt (Bornemann 1991: 48). Die westdeutsche Öffentlichkeit war durch diese Debatten zum Zeitpunkt des Zusammenbruchs der DDR sensibel für verschwiegene Vergangenheiten: Daraus resultierte der Wille die SED-Diktatur besonders gründlich aufzuarbeiten (Sabrow 2003: 121). Eine weitere Frage, die sich stellte, war, wer nach 1989/90 über die DDR-Geschichte urteilen durfte – west- oder ostdeutsche Historiker? Hier kam es zu dem Problem, dass sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse und politische Willensbildung oft überschnitten (Sabrow 2003: 126). Oft wird die offizielle Geschichtsschreibung der Bundesrepublik gerade von jungen Ostdeutschen kritisiert, dass man es sich sehr einfach macht, die DDR in die Schublade der „deutschen Diktaturgeschichte“ abzulegen (Bürgel 2006b: 7). Auch hier ist die „Doppelidentität“ Carla Lindemanns zu erkennen: Es liegt ein Interesse an dieser Geschichte vor, die „Schulddiskurse“ der alten Bundesrepublik können aber nicht nachvollzogen werden. Von ostdeutscher Seite ist in diesem Zusammenhang oft die Klage zu hören, es werde von westdeutscher Seite laufend erklärt, wie das eigene Leben gewesen wäre. Auch Stimmen, wie sie in Fall 3 geäußert wurden, dass die deutsche Geschichte länger und problematischer ist, als die Zeit der Teilung werden vernommen. Eine Aussage, die sich Carla Lindemann aneignet, indem sie zu Anfang des Interviews erklärt, dass die von ihr bearbeitete Thematik nur eine kleine Fußnote auf dem „langen Weg nach Westen“, vom Ende des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ bis zur Wiedervereinigung 1990 darstellt. Die Bedeutung der eigenen Geschichte erscheint im Vergleich dazu verschwindend gering. Welthistorisch wird das alles nur eine marginale Bedeutung haben. Zugespitzt kann man fragen, wen die DDR in 100 Jahren noch interessieren wird, außer sehr spezialisierten Historikern. Die eigene Geschichte

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und die eigene Generation erscheinen wegdenkbar. Dagegen findet sie einen Anschlusspunkt an eine prominente Generation in der Zeitgeschichte der Bundesrepublik: Als möglichen Vergleich für die eigene Generation entdeckt sie die „skeptische Generation“. Schelsky beschreibt die Jugend der 50er Jahre, die durch Zusammenbruch des Nationalsozialismus, vor allem aber durch die Verunsicherungen und Turbulenzen der Kriegs- und Nachkriegszeit geprägt ist. Ein zentrales Thema bei Schelsky ist das der sozialen Verunsicherung: In den unsicheren Zeiten der Nachkriegszeit war die Jugend früh in die Lage versetzt, für sich selbst Verantwortung übernehmen zu können (Schelsky 1957: 86). Diese Haltung der skeptischen Generation bedeutete eine besondere Anpassungsfähigkeit an die Erfordernisse des Lebens in der modernen Gesellschaft. „Die eben sagte, kein Interesse an Politik, kein, ja, also irgendwie mal gucken, so durchkommen. So ein enttäuscht sein von dem, was heißt enttäuscht sein … Keine Vorbilder, das ist bei Schelsky, glaube ich, auch ein Thema. Und das fand ich, konnte man eben parallel auch sehen zu dem, naja zu dieser Generation im Osten, für die der Zusammenbruch … Für die ist erst mal … Die eigene Biographie ist natürlich erst mal ganz auseinandergebrochen, oder aus den Fugen geraten. Ja und deswegen schien mir das Label ganz passend, für diese Gruppe und dann kann man natürlich fragen, OK, haben die alle was gemeinsam erlebt, die 89er Wende und den Umbruch und was resultiert daraus?“

Herausgehoben werden an dieser skeptischen Haltung vor allem zwei Punkte: Die fehlenden Vorbilder und das geringe Interesse für Politik, stattdessen ein „irgendwie gucken“, „durchkommen“. Das geringe Interesse an Politik kann vordergründig als eine Ähnlichkeit mit den westdeutschen Altersgenossen betrachtet werden, auch hier ist von einem fehlenden politischen Interesse die Rede. Verglichen mit den Protagonisten einer Debatte um die 89er Generation im Westen fällt in meinem Sample das Interesse für Politik bei dem ostdeutschen Teil des Samples deutlich schwächer aus. Auch aktuell ist im Osten die Erfahrung des Systemumbruchs der Grund für das geringe Interesse für Politik. Das Label der 89er erschien ihr ganz passend dafür, eine durch diese Verunsicherung geprägte Generation zu beschreiben. Es ist nicht nur die Abneigung gegen Politik insgesamt zu beobachten, sondern auch eine Distanz gegenüber Gemeinschaftsangeboten insgesamt, z.B. verbindliche Mitgliedschaften in Jugendorganisationen, Parteien. Es ist keine komplette Ablehnung, sondern das Verhältnis dazu wird instrumentell, ein Engagement dient in erster Line der Sicherung der eigenen Existenz. Ein politisches Engagement wird aber hinter die Sicherung der eigenen Existenz gestellt. Hierin ähnelt sich die Generation Carla Lindemanns mit der Skeptischen Generation. Das Label der 89er wird benutzt, um die Frage aufzuwerfen, was aus der Erfahrung des Mauerfalls und

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Systemumbruchs für sie resultiert. Ähnlich wie bei der skeptischen Generation sind hier junge Menschen zu beobachten, die durch einen gemeinsam erlebten Umbruch früh dazu gezwungen waren, für sich selbst Sorge zu tragen. Dieser Vergleich rückt die Generation Carla Lindemanns in ein anders Licht. Die Flakhelfer gelten als eine Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik, eine Entwicklung von den „letzten Helden des Führers“ zu den Repräsentanten des „Modells Deutschland“ (Bude 1987: 10). Das Ansehen der eigenen Generation wird dadurch aufgewertet. Sie findet Anschluss an eine – neben der Protestgeneration – prominentesten Generationen der Bundesrepublik. In der Flakhelfergeneration findet sie einen Vergleich einer anderen Gruppe, die durch den Umbruch in der eigenen Biographie geprägt ist. Es bleibt die Frage, ob dieser Vergleich überzeugt, ob der Systemumbruch nach 1989 und dem darauf folgenden Anschluss an einen bestehenden Staat mit der Situation nach 1945 vergleichbar ist. Waren die Flakhelfer alle in der gleichen Situation, erscheinen die Chancen in der Bundesrepublik nach 1990 doch sehr ungleich verteilt. Während man sich im Osten neu orientieren musste, waren die „Spielregeln“ des institutionellen und politischen Systems der Bundesrepublik für die Westdeutschen nichts Neues. Daraus resultierte unter anderem ein Ungleichgewicht bei der Verteilung von Posten in der ostdeutschen Funktionselite. Diese sind nach 1990 vor allem durch Absolventen aus Westdeutschland besetzt worden. Wie ist das Fehlen von Vorbildern, welches sie als die zweite Gemeinsamkeit zu der Flakhelfergeneration sieht, zu verstehen? Gibt es für sie überhaupt keine Vorbilder mehr? Diese Vermutung lässt sich am Fall Carla Lindemanns nicht belegen. Während die Angaben zum Studium bei anderen Interviews, die ich geführt habe, oft relativ knapp ausfallen, scheint diese Zeit bei ihr einen wichtigen Raum einzunehmen: Es kommen immer wieder Hinweise auf ihre Studienzeit, sie nennt an vielen Stellen Hochschullehrer und Autoren, die sie als wichtig für ihre intellektuelle Entwicklung einstuft. Diese Personen können durchaus als Vorbilder gesehen werden. Es scheint vielmehr, dass Carla Lindemann in ihrem engsten Umfeld – insbesondere der eigenen Familie – keine Vorbilder findet. Das Fehlen von Vorbildern hat bei der skeptischen Generation die Entsprechung der „Vaterlosigkeit“ (Bude 1987: 58). Die Eltern sind in ihrer Vorbildfunktion gebrochen, das System, dem sie gedient haben, ist verschwunden. Die DDR ist implodiert, man fragt sich, welche Rolle die eigenen Eltern bei der Aufrechterhaltung der Diktatur gespielt haben. Es wird nicht nur der Vater in seiner Rolle demontiert – im Sinne eines fremd gewordenen Verwandten, der aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause kommt – dieses Schicksal kann auch die Mutter treffen, sowohl durch eine Verstrickung in das System als auch durch das „Nicht Bestehen“ im neuen System nach 1990. Es ist aber auch auf einen weiteren Unterschied zwischen beiden Umbruchssituationen hinzuweisen: Nach dem Zweiten Weltkrieg waren vor allem die Männer in ihrer Rolle beschädigt. Die Beschä-

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digung zeigt sich vor allem im Vergleich zu ihren Gleichaltrigen in Westdeutschland, die ein unbelastetes Verhältnis zu ihren Eltern haben. Der Systemumbruch 1990 stellte die Rollen beider Elternteile stärker zur Disposition. Die Frage nach der Verstrickung der Eltern in die Diktatur blieb oft unausgesprochen. Man hört gelegentlich von Personen, die aus Angst, ihre engsten Verwandten und Vertrauten könnten Mitarbeiter des DDR-Staatssicherheitsdienstes gewesen sein, auf Einsicht ihrer personenbezogenen Akten verzichten, auch stellte sich diese Frage bei offensichtlich oppositionellen Personen nicht. Der Bewährungsprobe im neuen System konnte sich aber keiner entziehen, diese hatte bei negativem Ausgang wiederum das Potenzial, die Eltern in ihrer Vorbildrolle zu demontieren. Hier unterschiedet sie sich wiederum von ihren westdeutschen Altersgenossen: Trotz ausgeprägter Konfliktrhetoriken kommt es in Westdeutschland zu einem Happy End zwischen beiden Parteien33. Dieses Happy End gibt es im Osten nicht, die eigenen Eltern sind nicht das „heimliche Vorbild“ wie im Westen. Statt einer Kultur des rhetorischen Generationenkonflikts, der offene Türen einrennt, bleibt vieles unausgesprochen. Die ostdeutschen Eltern nach 1989 haben dagegen eine negative Bilanz vorzulegen, die nicht zum Angriff einlädt. Es ist vielmehr so, dass die im neuen System gut angekommenen Kinder Mitleid mit den eigenen Eltern verspüren. Es ist keine offene Kritik an der Elterngeneration. Sie hofft, dass diese Frage eines Tages gestellt werden könnte. Das Verhältnis erscheint vielmehr sprachlos, auch in diesem Punkt ist eine Ähnlichkeit zu den Flakhelfern zu erkennen (vgl. Bude 1987: 65). Auch an sie stellt sich die Frage, wie verallgemeinerbar die von ihr gemachten Überlegungen sind. Geht es anderen genau so? Wer teilt diese Überzeugungen? „Es ist keine große Bewegung, die irgendwo in eine Richtung marschiert, sondern es sind – glaube ich – Leute mit einer ähnlichen Biographie, die dann Entscheidungen treffen, die ähnlich sein können, aber die können auch ganz anders … Die können sich auch, einfach … Der Westen ist einfach, der hat eine andere Geschichte und der hat so eine Sogkraft, also so eine Sogwirkung, dass viele da so rein diffundieren und … Also jetzt, ich meine die ganzen wirtschaftlichen Fragen, die sind auch nicht von der Hand zu weisen. Das natürlich viele gucken, wie sie zurechtkommen. Das da keiner … Es gibt kein großes starkes Bewusstsein, wir müssen uns jetzt einbringen. Da sind sie wahrscheinlich wieder ähnlich, den Altersgenossen aus der Generation Golf, dass die auch gucken, wie kommt man aus der Generation Praktikum wieder raus und wird irgendwie, und kriegt irgendwie ein stabiles Leben zustande. Und das ist für die aus dem Osten noch mal stärker wichtig, weil die ja häufig

33 Eine Kapitelüberschrift bei Florian Illies heißt: „Ich wollte alles anders machen als mein Alter Herr. Und nun fahren wird das gleiche Auto. Generationen ohne Generationen-Konflikt. Gute Söhne, gute Töchter. Der Golf“(Illies 2003: 41).

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nicht so ausgestattet sind, materiell, von ihren Eltern und dann viel, viel stärker gezwungen sind, so eine materielle, materielle Fürsorge für sich zu schaffen.“

Die Prägung durch den Systemumbruch und die Nachwendezeit dürften alle ihre Altersgenossen miterlebt haben. Eine einheitliche Bewegung kann sie davon ausgehend nicht sehen, sie hat bei der Diagnose einer 89er Generation an Personen gedacht, die auf eine ähnliche Biographie zurückblicken können. Wie die weitere Entwicklung aussehen wird, darüber möchte sie keine verbindlichen Aussagen machen. Sie können sich ähnlich entscheiden, aber auch anders. Der Westen hat eine große Sogkraft, viele zieht es dorthin, dort kann man besser Geld verdienen, als in den eher strukturschwachen ostdeutschen Regionen. Viele verlassen nicht nur ihre Herkunftsregion in Ostdeutschland, sondern wandern auch weiter in das benachbarte Ausland ab. Ein prekärer werdender Arbeitsmarkt wird auch in Westdeutschland zum Problem, auch wenn viele ihrer westdeutschen Altersgenossen diese Probleme nicht in dem Maße wahrnehmen (Bürgel 2006b: 11). Hier findet sie Anschluss an die Generation Golf, die sich in einer prekären Phase befindet. Der Unterschied innerhalb dieser Kohorte ist aber, dass die Ostdeutschen mit weniger Erwartung in diesen prekären Arbeitsmarkt eingetreten sind und daher auch weniger enttäuscht werden können. Aus dieser Situation entsteht für beide Gruppen kein nennenswertes Bewusstsein, man müsste sich jetzt „groß einbringen“. Ein gemeinsames politisches Bewusstsein entwickelt sich nicht. In dieser existenziellen Bedrohung fühlt sie sich ihren westdeutschen Landsleuten verbunden. Man muss aus „dieser Generation Praktikum“ wieder herauskommen, die Zeit der befristeten Verträge und Aushilfsjobs will überwunden werden. Die eigene soziale Situation muss stabilisiert werden, wer von ihren Altersgenossen an eine Familie denkt, muss seine Existenz innerhalb der nächsten Jahren auf ein solides Fundament gestellt haben. Die Vollendung des 40ten Lebensjahres ist in der Regel die psychologische Grenze für eigene Kinder. Ein soziales oder politisches Engagement wird in dieser Situation klar hinten angestellt. Ein wesentlicher Unterschied im politischen Engagement liegt in der beobachteten Distanz einiger westdeutschen Wortführer dieser Altersgruppe der Politik gegenüber, es scheint eine Bequemlichkeit und eine grundlegende Zufriedenheit zugrunde zu liegen34. Erinnert sei an das „Staart 21 Papier“, das sich nicht nennenswert von Strategiepapieren anderer etablierter Parteien unterscheidet. In einer prekären Lebenslage kann man sich ein politisches Engagement nicht

34 So schrieben Christoph Clermond und Johannes Goebel: Helmut Kohl stand für das „Du darfst“, das auf das „Ich will so bleiben wie ich bin“, dieser Generation traf (Clermond; Göbel 1998).

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leisten. Wird auch die Unterschiedlichkeit der Herkunft postuliert, vereint sie die Problematik eines prekären Arbeitsmarktes. Fragen der eigenen Lebensführung haben in dieser Situation Priorität. Das vereint sie mit ihren Altersgenossen. Wie verortet sie sich selbst in dieser Debatte? M. G.: „Wohlfahrtsstaatsverlierergeneration ist auch ein Thema, dass wir kurz angespro chen haben. Generation Praktikum, Generation precaire, sagt ihnen das was?“ C. L.: „Nee, ich glaube eher nicht. Also klar, ich kann was damit anfangen. Also, ich habe auch Praktika gemacht und … aber ich glaube nicht, dass ich mit derselben Angst, wie diese Generation Praktikum das ja beschreibt, also die Angst, keinen Arbeitsplatz zu finden … ‚und eigentlich alles war so sicher und jetzt ist aber alles irgendwie total schwierig‘. Ich glaube nicht, dass ich mit derselben Angst ausgestattet bin. Weil für eben für viele so meiner Generation diese materielle Sorglosigkeit der Westdeutschen eh nicht, nie da war. Also insofern … es gibt keinen Lebensstandart, den ich erreichen müsste, `weil meine Eltern haben den auch schon erreicht`. Also, ich bin da glaube ich, da sind Leute aus dem Osten halt einfach viel freier und glaube ich viel entspannter. Also wenn man einmal 1989 erlebt hat, ist irgendwie so Generation Praktikum, das ist irgendwie so ein bisschen pille-palle. Also das ist, klar, materielle Sorgen sind wichtig und klar tut jeder was dafür, dass er nicht irgendwie am Abgrund steht, aber ich würde mich nie so stilisieren. Also diese Ängste, das sind ja auch Ängste, die diese Generation da so stilisiert. Und … Ich lese irgendwie hin und wieder mal NEON. Wenn man das liest, ist es auch andauernd um, also NEON ist glaube ich … Kennen Sie diese Zeitschrift, das ist auch irgendwie vom Stern?“ M. G.: „Die Jugendzeitschrift vom Stern.“ C. L.: „Es ist eigentlich ganz lustig, aber … Also ich lese das durchaus gerne. Aber das ist so ne Jugendzeitschrift … Es richtet sich schon nicht mehr nur an Jugendliche, es sind schon so diese 25-35-Jährigen, die in den Beruf einsteigen und es geht dann die ganze Zeit um Beziehungs-blabla. Also sehr stylish und mainstreamig. Aber es wird aber schon gemacht von dieser, es gab ja bei der Süddeutschen Zeitung diese „Jetzt-Redaktion“. Und die machen das weiter und die sind jetzt auch älter geworden. Es ist schon diese Florian Illies Generation, vielleicht ein bisschen jünger. Und für die ist das natürlich ein großes Thema. Auch weil es die Journalisten noch mal stärker betrifft. Also meistens liest man in der Zeitung über Themen, die die Journalisten betreffen – weil das ist ja das, worüber die schreiben. Also ich kann mich da glaube ich nicht, ja das ist nichts wo ich mich so von angesprochen fühle.“

Das Thema Generation Praktikum erscheint ihr fremd: Sie hat zwar auch Praktika absolviert, aber Angst, nach dem Studium nicht unterzukommen als Ausdruck einer allgemeinen Verunsicherung, hatte sie nie. Als freie Journalistin sind ihre Erfahrungen an den Arbeitsmarkt von vornherein als problematisch zu sehen. Vor

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dem von ihr beschriebenen Hintergrund – die Erwartung den Wohlstand ihrer Eltern zu übertreffen stellt sich für sie mangels Masse nicht – blickt sie auf das Thema der Berufstätigkeit gelassen. Auch sie unternimmt einiges, um finanziell nicht am Abgrund zu stehen, aber sie würde sich „nie so stilisieren.“ Ihr Leben ist komplexer und problematischer, als dass es sich auf einen prekärer werdenden Arbeitsmarkt reduzieren ließe. Aber hier spielt auch ihr abweichender Hintergrund mit hinein: Die Erwartung den Wohlstand der Elterngeneration zu erreichen oder zu übertreffen, ist bei ihr in dieser Form nicht gegeben. Ohne diesen Erwartungsdruck kann sie diese Frage gelassener sehen. Man kann vermuten, dass unbezahlte Praktika in Folge für sie nie eine Perspektive gewesen sein dürften, da sie nicht auf eine finanzielle Unterstützung durch ihre Familie hoffen konnte und gleich richtiges Geld verdienen musste. Sie fühlt sich dieser Frage aufgrund ihres ostdeutschen Hintergrundes entspannter und freier gegenüber. Kann man sagen, dass eine finanzielle oder materielle Bedrohung für sie kein Thema ist? Sie sagt, dass sie mit dieser Angst selbst nicht ausgestattet ist. Hierfür führt sie die Kategorie Generation ein. Es gab für sie keine materielle Sorglosigkeit wie für die Westdeutschen. Neben den bisherigen ökonomischen Verunsicherungen ist die Sorge um einen Arbeitsplatz nur eine von vielen. In ihren eigenen Worten ausgedrückt: „Also wenn man einmal 1989 erlebt hat, ist irgendwie so Generation Praktikum, das ist irgendwie so ein bisschen Pillepalle.“ Es gab in ihrer Biographie größere Herausforderungen als die des aktuellen Arbeitsmarktes. Die Lektüre eines Lifestyle-Magazins bringt ihr diese Erfahrungswelt näher. Die Allgemeingültigkeit dieser Berichterstattung wird als mögliches Medienphänomen in Abrede gestellt, die inflationäre Berichterstattung über eine Generation Praktikum wird durch den Verweis auf die Selbstreferenzialität des Mediensystems erklärt: Man liest in der Zeitung meistens über Themen, die die Journalisten selbst betreffen. Gemeint sind vor allem Artikel über Lifestyle, Feuilletonseiten oder Leitartikel. In Redaktionssitzungen wird vor allem darüber gesprochen, was die Konkurrenz veröffentlicht hat (Bourdieu 2001: 31). Dieser Hinweis erscheint sehr bedeutsam: Die Arbeitsbedingungen im Medienbereich werden prekärer, ob diese Berichterstattung auch die Lebenswelt anderer Tätigkeitsbereiche wiedergibt, sei dahingestellt. Für das Jetzt-Magazin der Süddeutschen Zeitung haben unter anderem Christoph Amend (Jahrgang 1974) oder Benjamin von Stuckradt-Barre (Jahrgang 1975) geschrieben. Die Autoren des Jetzt-Magazins werden als Vertreter einer Altersgruppe, der „Illies-Generation“ und etwas jünger identifiziert, für diese Personen ist der prekär werdende Arbeitsmarkt ein großes Thema. Der Unterschied, den sie in dieser Frage sieht, ist, dass sie nicht durch eine optimistische Erwartung an die Zukunft geprägt ist. Die Abgrenzung von den westdeutschen Altersgenossen ist auch hier zu erkennen. Steht sie mit ihrer Meinung al-

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lein? Wesentliche Ergebnisse einer Befragung mit ostdeutschen Studierenden, die um das Jahr 1980 geboren worden sind, belegen, dass diese den Mauerfall nicht als ein befreiendes Erlebnis erlebt haben, wie denjenigen, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls bereits im Erwachsenenalter waren, sondern als den Zusammenbruch einer geregelten Kindheit. In Konsequenz ist ein deutlich skeptischerer Ton zu beobachten (Bürgel 2006n: 6ff.). Carla Lindemann erscheint für einen Vergleich mit den Teilnehmern dieser Studie etwas zu alt, sodass ein Vergleich nicht vollkommen überzeugen mag. Zum besseren Verständnis des Falles sei hier auf einige Ähnlichkeiten und Unterschiede hingewiesen. Fast alle der beschriebenen Merkmale treffen auf sie zu: Sie zeigt ein starkes Interesse für Geschichte, dazu gehört eine Kritik an der eigenen Familie und den Geschichtslehrern aufgrund mangelnder Bereitschaft, diese eigene Geschichte aufzuarbeiten wie auch die „Entsorgung der DDR im Topf deutscher Diktaturgeschichten“ durch die offizielle Geschichtsschreibung. Ihre Aussagen korrelieren einerseits stark mit denen von Tanja Bürgels Interviewpartnern (vgl. Bürgel 2006b: 7). In der Beurteilung prekärer Arbeitsverhältnisse scheint sie abzuweichen. In dieser Frage erscheint Carla Lindemann „doppelt belichtet“. Einerseits sieht sie den Mauerfall als eine Befreiung von der SED-Diktatur. Ein Bewusstsein der ökonomischen Umwälzungen, die der Systemumbruch mit sich brachte, hat sie behalten. Davon, dass sie den Mauerfall nicht als Verunsicherung wahrgenommen hat, kann nicht die Rede sein, denn sie begründet ihre Einstellung zu diesen Fragen damit, dass sie schon einmal einen Zusammenbruch erlebt hat, aus dieser Erfahrung resultiert eine gelassene Haltung. Die Erwartung, dass es zukünftigen Generationen ökonomisch besser ergehen wird, hat sie nie entwickelt, sie kann in dieser Hinsicht nicht enttäuscht werden. Sie hat nicht nur gelernt, dass alles anders werden kann, sondern auch, dass sich Probleme lösen lassen. Carla Lindemann unterscheidet sich in diesem Punkt deutlich von den etwas jüngeren Studierenden in der zitierten Studie. Abstiegs- und Deklassierungsängste scheinen ihr zwar nicht fremd zu sein, aber sie empfindet die aktuelle Situation nicht als durchweg dramatisch. Bezogen auf die im zweiten Kapitel diskutierte Krise des okzidentalen Rationalismus, erscheint die Arbeitswelt berechenbarer, als sie es direkt nach der Wende war. An dieser Stelle sei an den ersten westdeutschen Fall dieser Arbeit erinnert, an den Fall Michael Kramers. Er zählt sich nicht zu den Verlierern, da die aktuelle Situation auch keine Gewinnerrolle ermöglicht. Er entwickelt keine Erwartung an seine Berufskarriere und kann dadurch auch nicht enttäuscht werden. In dieser gelassenen Haltung werden sich der westdeutsche Journalist und die ostdeutsche Journalistin ähnlich. Obwohl die Sozialisation in beiden Fällen unterschiedlich verlaufen ist, ähnelt sich ihr Blick auf die Arbeitsmarktsituation. Beide sehen den aktuellen Arbeitsmarkt gelassener,

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weil sie keine Erwartungen an ihn haben. Wieder sei auf den Beruf als ein die Interpretation leitendes Merkmal hingewiesen. Carla Lindemann weist auf die besondere Position des Journalisten hin, der sich auf ein prekäres Dasein eingestellt hat. Wiederum scheint das Identifikationsangebot der Schicht als Alternative zu dem der Generation aufgestellt zu werden. Es wird davon ausgegangen, dass die Erwartungen und Hoffnungen an den Arbeitsmarkt auf eine Prägung in der Kindheit oder Heranwachsendenzeit zurückzuführen sind, z.B. auf erfolgreiche Berufskarrieren der eigenen Eltern oder deren Scheitern. Aus dem Material meiner eigenen Untersuchung lässt sich vielmehr die These belegen, dass die ersten Berufsjahre entscheidend dafür sind, wie die Situation auf dem Arbeitsmarkt wahrgenommen wird. Vielleicht ändert sich auch die traumtänzerisch optimistische Haltung von Tanja Bürgels westdeutschem Interviewpartner deutlich, wenn er einen problematischen Berufseinstieg erlebt. Die Enttäuschung – so kann vermutet werden – würde in diesem Fall deutlicher ausfallen. Diese Nähe zu ihren westdeutschen Kollegen überrascht dennoch, denn gerade diese Personen geben ihr das Gefühl, anders zu sein: Den Gesprächen über das Spielzeug ihrer Kindheit – welchen Einfluss Lego oder Playmobil auf den späteren Lebensweg haben – kann sie wenig abgewinnen. So sehr sie sich in der Bewertung der Problematik des Arbeitsmarktes ähnlich erscheint, der Diagnose einer ökonomischen Verunsicherung, die einem „Betrauern der alten Bundesrepublik“ nahe kommt, kann sie auch wenig abgewinnen. Die Sorgen ihrer westdeutschen Bekannten, BAföGKürzungen, das Wegfallen der Wohnungsbauprämie usw. Vergünstigungen, die die ältere Generation in Westdeutschland hatte, dürften ihr fremd sein. Obwohl sie objektiv in der gleichen Lage ist, bleiben ihr die Sorgen und Probleme ihrer westdeutschen Altersgenossen fremd. Hieraus entsteht eine skeptische Haltung dieser Generationenrhetorik. Problematisch ist für sie, dass keine gemeinsame Trägergruppe zu erkennen ist, die sich in eine gemeinsame Richtung bewegt. Es gibt keine Eindeutigkeit, wer dieses Etikett nutzt. Wer verbirgt sich hinter diesem Label? Gegen Ende wird erneut resümiert, dass es wenig Eindeutigkeit aufweist, auch im Vergleich zu den 68ern. Als die letzte „prominente“ politische Generation der Bundesrepublik erscheint sie als Vergleich am Horizont. Wer sind die 89er? Sind es junge Westdeutsche, die über die Medien- und Konsumerfahrungen ihrer Kindheit und Jugend sprechen? Sind es die operationellen Wiedervereinigungseliten oder die verunsicherten und existenziell bedrohten ostdeutschen Wendeschüler? Dieser Begriff wird für sie mangels Eindeutigkeit zum Problem, obwohl sie in Bezug auf ihre eigene Generationenrhetorik versucht, substanzielle Erfahrungen der Wendezeit zu reflektieren:

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„…[B]ei dem Begriff, bei näherem Hinschauen, wenn sich genau überlegt, wer ist denn die Trägergruppe dieses generationenübergreifenden Ereignisses oder dieses Generationen bewegenden Ereignisses? Dann ist es halt schwierig, da eben diese eine Trägergruppe auszumachen, im Gegensatz zu den 68ern, wo man ja schon wenigstens so einen Kreis ausmachen kann, der in eine Richtung sich bewegt. Und wenn Sie sagen Matthias Berninger ihn benutzt, und Tarek Al-Wazir benutzt den Begriff und andererseits habe ich ihn benutzt und Jana Simon und Jana Hensel auch. Dann … Es kann doch unterschiedlicher kaum sein, so vom Ganzen.“

Wie stellt sich Carla Lindemann ihre gemeinsame Generation vor? Ihre eigene Gruppe lässt sich wie ein Rhizom beschreiben: Es gibt viele Biographien, die von dem Mauerfall geprägt sind, diese sind nicht als eine gemeinsame Bewegung auszumachen, wie die westdeutsche Protestgeneration, die als eine einheitliche Trägerkohorte zu erkennen ist. Sie sind von ihrer ostdeutschen Herkunft abgeschnitten, sowohl in ökonomischer, in politischer als auch in intellektueller Hinsicht. Welche Zukunft diese Generation nehmen wird, ist noch unklar. Fest steht lediglich, dass es den Gleichaltrigen ähnlich ergangen sein wird, deren Biographien auf die eine oder andere Art mit dem Jahr 1989 verknüpft sind. Die Entwicklung, die diese Personen nach 1989 genommen haben, ist vielfältig. Nach dem Fall der Mauer haben sie sich in viele verschiedene Richtungen bewegt, haben andere Entscheidungen getroffen usw. Eine gemeinsame Entwicklung ist auch für die Zukunft nicht absehbar: Sie bewegen sich nicht in eine Richtung. Das macht es schwer, eine Trägergruppe zu identifizieren. Ihre Erzählung ist die einer Anti-Genealogie. Während die westdeutschen 89er in einer langen Reihe der Nachfolge stehen, von den Flakhelfern, über die Protestgeneration und möglicherweise die Zaungäste sind die Verbindungen zu ihrer Herkunftsgesellschaft gekappt: Hier gibt es keine Vorbilder, keine Eltern, denen man in ökonomischer Hinsicht nacheifern kann, keine Lehrer, die ein intellektuelles Vorbild geben können – was bei dem bereits erwähnten ehemaligen DDR-Staatsbürgerkundelehrer, der jetzt Geschichte unterrichtet auch kontraproduktiv sein dürfte. Hier dürften keine Erfolg versprechenden Anknüpfungspunkte zu finden sein. Aussichtsreiche Anknüpfungspunkte sind solche, die sich von dem jeweiligen Herkunftsmilieu unterscheiden. Ihre intellektuelle Arbeit kann als eine Suchbewegung nach Anknüpfungspunkten und Vorbildern gesehen werden. Sie versucht intellektuell eine Spur der Bundesrepublik aufzunehmen, sich den Debatten anzunähern und sich schließlich selbst in diese Tradition von Flakhelfern und Protestgeneration stellen zu können. Sie schreibt und spricht über ihre Generation im Osten, sie tut dies mit den Wissenschaftlern und Intellektuellen des Westens: Helmut Schelsky, Claus Leggewie und Heinrich August Winkler. Die Chancen,

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dass das gelingen wird, stehen gut: Aus dem Wurzelgeflecht einer verschwundenen Gesellschaft wird kein neuer Baum wachsen. Das Rhizom, die „Anti-Genealogie“ kann es schaffen, sich den Baum anzueignen. Der klassische Gelehrtentyp, den Michael Kramer ironisch überspitzt dargestellt hat, scheint hier wieder eingeführt zu werden: Sie bezieht sich auf ausgewachsene Bücher von Personen, die sie als „Lehrer“ verehrt, wie Heinrich August Winkler und Helmut Schelsky. Während bei Michael Kramer die Aussagen über intellektuelle Vorbilder vielmehr wie name-dropping wirken, wie Punkte eines Lektürekanons, die man abhaken muss, ist bei Carla Lindemann eine stärkere Vorbildfunktion dieser Personen zu vermuten. Möglicherweise findet sie hier die Vorbilder, die sie in der DDR nicht gefunden hat. Indem sie sich in die Nachfolge ihrer intellektuellen Vorbilder aus der 68er- und der Flakhelfergeneration setzt, wechselt sie vom Rhizom ihrer Herkunftsgesellschaft in die Genealogie der Bundesrepublik über.

5. Fazit und Ausblick

Ziel der vorliegenden Arbeit war es, die strittigen Selbstthematisierungen als 89er auf eine empirisch nachvollziehbare Basis zu stellen. Die diffus bleibende Generationenrhetorik wurde anhand von 20 fokussierend-teilstandardisierten Interviews, die ich mit Protagonisten dieser Generationendebatte geführt habe, einer kritischen Prüfung unterzogen. Erkenntnisinteresse der Erhebung war es, zu zeigen, für welche Inhalte die Kategorie der Generation in die individuelle Lebensgeschichte eingeführt wird und für welche nicht. Welche Wissensbestände und Erfahrungen finden Anschluss an die Gleichaltrigen? Welche Erfahrungen verbleiben individuell? Der Versuch diese Generationenrhetorik verstehen zu wollen, erscheint lohnenswert, denn die Beliebtheit des Labels der „89er“ scheint ein gewisses Erklärungspotenzial für die Lebenswelt seiner Protagonisten aufzuweisen. Auch wenn die Debatte um die 89er als weitgehend abgeebbt gilt, ist ein gelegentliches Wiederaufflackern dieser Rhetorik zu erkennen, wie ich es bereits im Einleitungskapitel beschrieben habe: Ein Leitartikel in der F.A.Z. vom 18.10.2008 z.B. beschreibt die Generation der 89er als die Hauptverliererkohorte der Finanzkrise nach 2008. In diesen Wortmeldungen wird häufig auf die Wahrnehmung stärkerer ökonomischer Verunsicherungen Bezug genommen: Diese ist auch in anderen Entwürfen anzutreffen, z.B. in Florian Illies Essay Generation Golf, der Diskussion um eine Generation precaire (Generation Praktikum) oder Generation X. Es kann eingewandt werden, dass es sich bei diesen Generationslabels lediglich um irrige Vorstellungen oder PR-Gags handeln könnte. Möglicherweise liegt bei den geschilderten Selbstthematisierungen auch nur eine Serie von Versuchen vor, das charismatische Label der 89er zu vereinnahmen. Dieser Einwand erscheint nicht unbegründet zu sein: Die 89er werden als Hauptverliererkohorte der aktuellen Finanzkrise, als benachteiligte Generation allgemeiner Krisensymptome des Wohlfahrtsstaates usw. – kurz: in jeder Hinsicht als die „lost-generation“ der Bundesrepublik stilisiert. Eine offene Frage, diese Entwürfe

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betreffend, bleibt zumeist, ob wirklich ein repräsentatives Bild der beschriebenen Jahrgänge gezeichnet wird. Für diese Kritik spricht ferner, dass eine ganze Reihe von Versuchen zu erkennen ist, dieses Label zu vereinnahmen, ohne die Generationenthematik inhaltlich zu begründen. Auf Versuche, mit dem Sprachrohr der „89er“ die Verbreitung von jungkonservativen Inhalten zu betreiben, wurde bereits hingewiesen. Auch der Vertrieb von Lifestyle-Literatur und Beziehungsratgebern ist möglicherweise aussichtsreicher, wenn man sie aus Marketingerwägungen in einer zeitgenössischen Generationendebatte verorteten kann. 1 Es scheint ein frei flotierendes Zeichen vorzuliegen, dass sich jeder aneignen und wieder aufgeben kann. Ist dies wirklich so? Wenn diese Generationenrhetorik vollkommen beliebig gebraucht werden kann, spricht das gegen die Beliebtheit dieser Generationenrhetorik: Wenn sich jeder diese Rhetorik aneignen kann, wäre mithilfe dieses Labels keine Abgrenzung möglich. Von den genannten Einwänden ausgehend wurde im ersten Kapitel argumentiert, dass die Rhetorik einer 89er Generation weniger auf die historische Zäsur zurückzuführen ist, sondern vielmehr ein diffuses Gefühl artikuliert, in veränderten Zeiten zu leben. Wie am Ende des ersten Kapitels gezeigt wurde, kann auf eine Vielzahl von Motiven zurückgegriffen werden, der leere Signifikant der 89 kann in einer Debatte mit unterschiedlichen Inhalten gefüllt werden und so einen rhetorischen Gegenpol zur „mächtigen“ 68er-Generation bilden, es wurde auf die Dichotomie 68/89 hingewiesen. Der „Epochenbruch“ 1989 symbolisiert dieses „nicht mehr“ besonders treffend. Es liegt zwischen dem Ereignis des Mauerfalls und den in der Debatte angesprochenen Symptomen der soziologischen Zeitdiagnose allenfalls ein mittelbarer Zusammenhang vor. Viele Probleme der Gegenwartsgesellschaft werden fälschlicherweise auf die historische Zäsur 89 zurückgeführt. Die angesprochenen Veränderungen dieser Generationendebatte waren jedoch bereits in den 1980er Jahren oder früher zu beobachten. Der Zusammenhang der Krisensymptome der Gegenwartsgesellschaft mit dem Fall der Mauer ist vielmehr ein gefühlter. Das beschriebene Arsenal an Motiven kann anlassbezogen – z.B. in Bezug auf die Finanzkrise 2008 – aktualisiert werden, die Dichotomie 68/89 verdichtet das Gefühl eines nicht mehr – Diagnosen die

1

Diese Information liegt mir über das Buch „Immer auf der Suche – Sehnsüchte und Bindungsängste der 89er“ von Petra Marchewka (1995) vor. Nachfragen bei der Autorin ergaben, dass der Untertitel des Buches auf Anregung des Verlages entstanden ist, da dieses die Möglichkeit geboten hätte, das Buch als Teil der zu diesem Zeitpunkt aktuellen Generationendebatte besser vermarkten zu können. Vergleichbare Antworten gaben mir einige Autoren von „89er Büchern“: Diese Rhetorik wäre doch vielmehr als PR-Gag zu verstehen.

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Gegenteiliges zeigen würden, werden nicht berücksichtigt – sodass sie bei dem adressierten Personenkreis ein Gefühl der Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen stimulieren kann. Das Gefühl gemeinsam Zeugen einer sich schnell ändernden Welt zu sein. Wichtig erscheint, dass diese diffuse Wahrnehmung eines „Nicht – mehr“ die Erfahrungen in Ost- und Westdeutschland verbindet, auch wenn die konkreten Erfahrungen abweichen dürften, bzw. gegenteilig sind. Dieses Gefühl findet in der Generationendebatte anhand einer Dichotomie von 68/89 seinen Ausdruck. Es scheint im Vergleich zu der Generation der Eltern, Lehrer und Hochschullehrer – der Protestgeneration, den 68ern – besonders deutlich zu werden. Am Gefühl einer Andersartigkeit zu den prominenten Generationen der Bundesrepublik wird das Gefühl deutlich, eine eigene Generation gebildet zu haben. Die zentrale Überlegung, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist, dass es sich bei den 89ern eher um eine „gefühlte Gemeinschaft“ handelt, in Abgrenzung zu einer vorgestellten Gemeinschaft (Benedict Anderson) und einer Interessengemeinschaft. Sie verbindet das Gefühl, in veränderten Zeiten zu leben, die dahinter stehenden Vorstellungen können aber differieren. Es werden vor allem die Befindlichkeiten der Mittelschichten verarbeitet. Ist beispielsweise von einer „wohlfahrtsstaatlichen Verlierergeneration“ die Rede, bedeutet dies genau genommen den möglichen Verlust von Ansprüchen einer vormals privilegierten Versorgungsklasse (M. Rainer Lepsius) an den Wohlfahrtsstaat. Es fällt diese Verliererrhetorik betreffend ein Mittelschicht-Bias auf: Unterprivilegierte Klassen entwickeln oft keine Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat. Höhere Schichten sind eher in der Lage, Gegenstrategien in Fall einer Krise des Wohlfahrtsstaates zu entwickeln. Hinzuzufügen ist, dass dieser Mittelschicht-Bias vor allem bei den westdeutschen Wortführern zu beobachten ist, da sich die Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat in Ostdeutschland als weniger ausgeprägt gezeigt haben. Bei der Frage nach der Selbstthematisierung als 89er fällt weiter die zurückhaltende Rolle der Frauen bei dieser Generationenrhetorik auf. Ein Grund kann in dem Gender-Bias des Wohlfahrtsstaates liegen, der Frauen eine negativ privilegierte Position zukommen lässt: Familien- und Beziehungsarbeit schaffen keinen oder nur geringen Anspruch auf Versorgung und Anwartschaften in der Sozialversicherung. Sie haben deshalb geringere Erwartungen an den Wohlfahrtsstaat und sind von seinem Leistungsrückbau folglich weniger enttäuscht. Die Art, wie über die eigene Generation gesprochen wird, unterscheidet sich im Ost-West-Vergleich: Während meine aus Westdeutschland stammenden Interviewpartner relativ selbstverständlich von sich selbst als „89er“ sprachen, ist in den ostdeutschen Interviews mehr absichernde Rhetorik zu hören. Auch die beschriebene Dichotomie 68/ 89 ist in Ostdeutschland weniger stark ausgeprägt, denn 1968 bildet dort nicht in dem Maße einen emotional aufgeladenen Bezugspunkt, wie es in West-

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deutschland der Fall ist. Es wird im Zusammenhang mit dieser Arbeit angenommen, dass derartige Identifikationsangebote nicht vollkommen arbiträr sind, sondern dass bei den sie aufnehmenden Kulturträgern Dispositionen vorliegen, die bestimmte Angebote attraktiver und zwingender erscheinen lassen als andere (vgl. Lindner 1995: 44). Gegen eine vollkommen willkürliche Verwendung dieser Rhetorik spricht ferner, dass Fälle zu beobachten sind, bei denen eine Aneignung dieses Etiketts gescheitert ist. Erinnert sei an die versuchte Vereinnahmung dieses Labels durch Angehörige des Autorenkreises der Zeitschrift „Junge Freiheit“. Es wird daher angenommen, dass der Inhalt, mit dem der leere Signifikant der 89 gefüllt wird, etwas von den Befindlichkeiten der Adressaten wiedergeben können muss, um eine Resonanz zu erzielen. Im ersten Kapitel wurde gezeigt, dass der Versuch, einer medialen Stimulation dieser Generationenrhetorik nur dann aussichtsreich ist, wenn es gelingt, die Befindlichkeiten einer Trägergruppe zu erkennen und anzusprechen. In diesem Sinne kann man für die Interpretation eines solchen Generationslabels die Frage aufwerfen, ob die an das Material zu stellende Frage nicht vielmehr die ist, ob man „richtige“ oder „falsche“ Verwendungsweisen dieser Generationenrhetorik erkennen kann. Es ist demnach weniger die Frage zu beantworten, ob die Generationenrhetorik als 89er überzeugt. An die empirische Untersuchung ist vielmehr die Frage zu stellen, welche Inhalte dieses Identifikationsangebotes bestimmte Kulturträger ansprechen. Weiter sollte geklärt werden, ob eine Trägergruppe identifiziert werden kann. In einer ersten Exploration hat sich gezeigt, dass diese Generationenrhetorik vor allem die der 1965-1975 Geborenen ist. Westdeutsche Stimmen sind hierbei überrepräsentiert. Offen bleibt, ob diese Generationenrhetorik für die Grundgesamtheit dieser Jahrgänge überzeugt. Die Wortmeldungen als 89er bleiben auch bei den eigenen Altersgenossen umstritten. Ein antizipierbarer Einwand an den zu beobachtbaren Selbstthematisierungen ist, dass z.B. die „89er Bankangestellten“ nicht berücksichtigt worden sind. Dieser Einwand gilt nicht allein für die Frage nach den 89ern, sondern die Deutungsangebote einer Generation geben generell oft nur die Erfahrungen einer „Elite“ innerhalb der zugrunde liegenden Jahrgänge wieder, während andere – möglicherweise auch die Mehrzahl – für die Phänomene der eigenen Generation kein Gespür zu haben scheinen (Becker 1989: 83). Auch wenn man für die Interpretation einen Elite-Bias annimmt, fällt auf, dass keine Rhetorik von ökonomischen, bürokratischen und technisch-naturwissenschaftlichen Eliten zu beobachten ist. Es scheint lediglich eine Wortmeldung aus dem Milieu der „neuen Kulturvermittler“ (Bourdieu) vorzuliegen. Schon ein erster Blick auf die in dieser Arbeit behandelten Selbstthematisierungen zeigt, dass diese Debatte vor allem von „technoiden Politikern“, „radikal liberalen Journalisten“ und „grüblerischen Historikerinnen“ dominiert wird. Mike Featherstone

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formuliert die These, dass die Entdeckung, Auskristallisierung und Verbreitung eines Generationenbewusstseins von Künstlern und Intellektuellen für verschiedene Märkte und Öffentlichkeiten übernommen wird (Featherstone 1990: 220). Davon ausgehend fragt die vorliegende Arbeit, von welchen Akteuren das Generationenbewusstsein der 89er erschaffen wird und für welche Personengruppen es Überzeugungsfähigkeit besitzt. Als unterschiedliche Märkte und Öffentlichkeiten sind für die Rhetorik um die 89er die Literaturkritik, Literatur über Lifestyle und Lebensästhetik, sowie politische Essays über die junge Generation einerseits, aber andererseits Erinnerungsliteratur an Kindheit und Jugend in der DDR zu nennen. Es ist zu vermuten, dass von diesen Arbeiten unterschiedliche Personenkreise angesprochen werden. Beim Blick auf Selbstthematisierungen fallen weitere Unterschiede innerhalb dieser Trägergruppe auf: Gegen die Vorstellung einer „89er-Generation“ lässt sich einwenden, was die Mediatisierung der Kindheit und Jugend der Westdeutschen – Playmobil und das Fernsehen der 1980er Jahre – mit den Erfahrungen der Wiedervereinigungseliten, den politischen Erfahrungen ihrer ostdeutschen Altersgenossen, das sich zwischen einem Befreiungserlebnis oder möglicherweise auch der politischen Desillusionierung bewegt hat, gemeinsam haben. Während es viele nach 1989 in den Westen zog, auch in das westliche Ausland – nicht zuletzt aufgrund der größeren Nachfrage nach Arbeitskräften – blieben andere ihrer Heimatregion verbunden und fanden dort ihre Nische, z.B. auch in der Politik (vgl. hierzu Fall 4). Es sind also unterschiedliche Schicksale zu erkennen, die sich hinter dieser Generationenrhetorik verbergen. Es wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass sich unterschiedliche Gruppen und Träger in dieser Generationenrhetorik zu Wort melden. Von einer etablierten, hegemonialen Vorstellung innerhalb der 1965-1975 Geborenen, zu einer Generation zu gehören, einem institutionalisierten Sprachrohr oder einer Interessengruppe dieser Jahrgänge kann nicht die Rede sein. Dieses Generationslabel ist nicht in dem Maße in der öffentlichen Meinung und der Geschichtsschreibung etabliert wie z.B. das der Flakhelfer oder das der 68er. In der Diskussion der wesentlichen Ergebnisse folge ich wiederum der in dieser Arbeit vorgenommenen Teilung von Ost- und Westdeutschland. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit war nicht die Identifikation einer einheitlichen Trägergruppe, es sollten vielmehr Prozesse der Selbstthematisierung und der Verbreitung eines Generationenbewusstseins nachvollzogen werden. Die empirische Untersuchung sollte zeigen, wer ein solches Identifikationsangebot generiert und von wem es für welche Zielgruppe verbreitet wird. Diese Arbeit kann in diesem Sinne als ein Beitrag zu einer wissenssoziologischen oder kommunikationssoziologischen Fragestellung gelesen werden. Im Folgenden werde ich die Einzelfallstudien im Vergleich diskutieren, um das jeweils Typische zu beschreiben.

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Die Einzelfallstudien im Vergleich – Westdeutschland Die westdeutsche Gruppe, von der diese Generationenrhetorik ausgeht, weist eine gewisse soziale Homogenität auf: Es handelt sich um Personen, die zum Zeitpunkt des Mauerfalls Oberstufenschüler oder junge Studierende waren. Sie sind durch das Aufwachsen in einer Gesellschaft geprägt, die nach und nach ihre Ideale zurückschrauben musste. Eine gemeinsame Erfahrung ist die der Krise um das Jahr 2000, die mit ihrem Berufseinstieg oder den ersten Jahren der professionellen Tätigkeit zusammenfiel. In Fragen der sozialen Sicherheit wie auch in vielen anderen Bereichen wird das Gefühl beschrieben, dass sich die Welt verändert, dieses Bewusstsein zeigt sich vor allem in einem Vergleich mit älteren Generationen. Die Frage bleibt zumeist offen, worin der genaue Bezug dieser Personen zum Jahr 1989 besteht. Bis auf wenige Sonderfälle ist keine biographische Relevanz des Systemumbruchs für die Biographie der Protagonisten dieser Generationenrhetorik zu erkennen. Der Fall der Mauer bleibt bis auf einige Sonderfälle ein Medienerlebnis. Die Ereignisse der Jahre 1989 – 91 wurden vielmehr als ein Zeichen gelesen, dass sich die Welt veränderte und nicht als wesentliche Prägung. Die Arbeitshypothese, dass der Mauerfall für diese Jahrgänge vor allem eine symbolische Relevanz besessen haben dürfte, wurde in den Interviews mit dem westdeutschen Teil der Population weitgehend bestätigt. Wiederum sind Ausnahmen zu erkennen: Es konnten viele interessante Erzählungen rund um die Ereignisse des Jahres 1989 gesammelt werden, die zeigen, dass der Mauerfall auch für Personen aus Westdeutschland eine Relevanz besessen hat. Auch wenn diese Erzählungen auf den ersten Blick eher ungewöhnlich erscheinen, sind dies keine Einzelfälle, sondern sind wie, ich in den Einzelfallstudien dieser Arbeit gezeigt habe, durchaus generalisierbar. Zu nennen ist z.B. die Erzählung Claudia Seidels (Fall 3), die anlässlich des obligatorischen Tagesvisumstages die DDR für sich entdeckte, persönliche Beziehungen in die damalige DDR aufnahm und der Systemumbruch daher für sie auch eine besondere biographische Relevanz besessen hat. Obwohl sie aus dem Westen stammte, wurde der Fall der Mauer ein Teil ihrer Lebensgeschichte. Es ist anzunehmen, dass dies kein Einzelfall ist, sondern dass es eine Reihe ähnlicher Biographien im Umfeld der evangelischen Kirchen oder auch in der Partei der GRÜNEN gegeben hat. Denn diese Gruppen unterhielten auch während der Teilung Kontakte in den anderen Teil des Landes. Timo Albrecht (Fall 2) nahm den Mauerfall vor allem als Medienereignis wahr, Michael Kramer (Fall 1) hat ausgerechnet dieses Medienereignis verpasst. So unterschiedlich in allen drei westdeutschen Fällen die historische Zäsur wahrgenommen wurde, so unterschiedlich waren die daraus resultierenden Konsequenzen, die dieses Ereignis für die jeweiligen Biographien hatte. Während Timo Albrecht die politische Entwicklung nach dem Fall der Mauer und der zeitweilige

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Popularitätsverfall der eigenen Partei während der Wiedervereinigungseuphorie beunruhigte, aber das Leben ansonsten in geordneten Bahnen verlief, entdeckte Michael Kramer die DDR für sich, sie wollte nach Öffnung der Grenzen entdeckt werden. Für Claudia Seidel war der Fall der Mauer ein Befreiungserlebnis, denn die bis 1989 durch die Teilung gestörten freundschaftlichen Beziehungen konnten nun zwangloser unterhalten werden. Auch wenn der Mauerfall in einigen Fällen spürbare Auswirkungen gehabt haben dürfte, verlief das Leben meiner westdeutschen Interviewpartner weiterhin in geregelten Bahnen. Festzuhalten ist, dass der Mauerfall eine Erfahrung zu sein scheint, die eher individuell und nicht kollektiv wahrgenommen wurde, da unterschiedliche Zugänge zu diesem Ereignis bestanden haben und unterschiedliche Konsequenzen aus diesem Ereignis gezogen werden konnten. Es besteht innerhalb dieser westdeutschen Jahrgänge wenig Einigkeit darüber, wie der Mauerfall wahrgenommen wurde und welche Konsequenzen er hervorgebracht hatte. Obwohl durchaus Auswirkungen der historischen Zäsur zu erkennen sind, sind sie zu vielfältig, um das Bewusstsein einer Wir-Gemeinschaft mit den Gleichaltrigen zu schaffen. Es dominiert die Vorstellung einer „Jugendgeneration“ der 1990er Jahre, der es schlechter ergehen wird, als den Älteren. Die gemeinsame Geschichte dieser Generation wird vielmehr als eine Kette von Katastrophen wahrgenommen: Tschernobyl, die „Dot-com-Krise“, die Finanzkrise 2008 usw. Als Gegenpol treten bekannte „Erfolgsgeschichten“ der Bundesrepublik hervor, die Generation der „Flakhelfer“ und der Protestgeneration. In Arbeiten über die jüngere Generation in der Bundesrepublik wird oft die These vertreten, dass diese Generation keine Geschichte erlebt habe, man sah immer nur Kohl im Fernsehen und die 1980er Jahre waren vermutlich das langweiligste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts, so ist es z.B. bei Florian Illies nachzulesen. Viele Angehörige der in dieser Arbeit beschriebenen Jahrgänge haben durchaus Geschichte erlebt, die Erinnerungen bleiben allerdings individuell. Es sind Unterschiede darin zu erkennen, wie der Umbruch in der DDR miterlebt wurde. Für viele blieb der Mauerfall aber ein Medienereignis. Wurde ausgerechnet dieses Ereignis verpasst, bleibt Erklärungsbedarf, wie in Fall 1 beschrieben. Wie dieses Ereignis aufgenommen wurde, ist allerdings unterschiedlich: Für Einige hatte die Wende – obwohl im Westen lebend – eine lebensgeschichtliche Relevanz, an anderen ging das Medienerlebnis vorbei, weil sie ausgerechnet am Tag des Mauerfalls keinen Fernseh- oder Radioanschluss hatten oder man ihn klassisch als Medienerfahrung wahrgenommen hatte. Wurde die „Information Mauerfall“ verspätet aufgenommen, bleibt Erklärungsbedarf, warum man diese Nachricht verspätet aufgenommen hatte, wie in Fall 1 beschrieben wird.

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Ostdeutschland Während das Leben im Westen im weitesten Sinne seinen gewohnten Gang genommen hat, man beendete die Schule, absolvierte seinen Wehr- oder Ersatzdienst, begann eine Ausbildung oder ein Studium, wurde im Osten jedes Leben zur Disposition gestellt. Das Leben dort hatte mehr Turbulenzen zu bieten, es kam nach 1989 zu vermehrt Sonder- und Einzelentwicklungen. Auch die Art, wie über die gemeinsame Generation gesprochen wird, weicht von der westdeutschen Generationenrhetorik ab. Die Selbstthematisierung als 89er fällt deutlich verhaltener aus, als im Westen. Von einer gemeinsamen 89er Generation zu sprechen scheint schwierig, zu disparat erscheinen die Biographien. Obwohl die gemeinsame Erfahrung des Mauerfalls eindeutig als ein gemeinsames Prägeerlebnis zu sehen ist, stiftet sie auch keine gefühlte Gemeinschaft. Ostdeutsche haben den Fall der Mauer von unterschiedlichen Standpunkten aus wahrgenommen, die Wirkungen des Systemumbruchs sind unterschiedlich ausgefallen und wurden unterschiedlich bewertet. Sie sind unterschiedliche Wege gegangen und haben unterschiedliche Schlüsse daraus gezogen und einen unterschiedlichen Blick auf die gemeinsame Geschichte entwickelt. Obwohl es durchaus vergleichbare Schicksale gibt, besteht kein Bewusstsein darüber. Der Zusammenbruch der DDR hat Bewegungen in verschiedene Richtungen ausgelöst: Während der Systemumbruch nach 1989 einerseits als Befreiung wahrgenommen wurde, kann er für vormals privilegierte Personen einen Rückschlag bedeutet haben. Auch wenn die Relevanz des Mauerfalls zumindest für den ostdeutschen Teil des Landes eindeutig erscheint, sind die Auswirkungen besonders vielfältig und unterschiedlich. Personen, die bereit waren, sich mit dem DDR-Regime zu arrangieren, haben dieses Ereignis möglicherweise als Verletzung wahrgenommen: Die eigene soziale Situation ist in Bedrängnis geraten, da der Systemumbruch jede Biographie zur Disposition gestellt hat. Die Gängellungen und Schikanen der DDR fielen nach 1989 weg, in diesem Sinne war 1989 für viele ein persönliches Befreiungserlebnis und daraus folgend oft auch ein politischer Aufbruch. Es stellte sich nicht wie bei einem Medienereignis die Frage, wo man diese Nachricht von diesem Ereignis aufgenommen hat, sondern an welcher Stelle dieses Ereignis die ersten lebensweltlichen Auswirkungen hatte. Diese waren in Fall 4 der Verlust zahlreicher politischer Ämter im Herbst 1989. In Fall 5 war die Übersiedlung in die Bundesrepublik das eigentliche Datum vor dem tatsächlichen Fall der Mauer. Im letzten Fall dürfte diese Frage etwas schwieriger zu beantworten sein, denn das Betreten des Sperrgebietes war auch einige Zeit nach dem Mauerfall verboten, die Grenzbefestigungsanlagen wurden erst einige Zeit nach dem Fall der Mauer endgültig abgebaut und die Zugangsbedingungen zu dem Sperrgebiet aufgehoben, obwohl der Grenzübertritt an vielen anderen Stellen unbürokratischer gestaltet

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wurde. Daher dürfte sich ein lebensweltlicher Umbruch erst später bemerkbar gemacht haben. Nicht nur der Unterschied zwischen der Sozialisation in Ost- und Westdeutschland erscheint bedeutsam, sondern auch in Ostdeutschland erscheint jeder Fall der Selbstthematisierung als Sonderfall. Neben den Auswirkungen des Systemumbruchs ist auf ein besonders problematisches Verhältnis zu den eigenen Eltern, aber auch zu älteren ostdeutschen Generationen allgemein, hinzuweisen: Anders als bei dem westdeutschen Teil dieser Alterskohorte ist in Ostdeutschland die Lehrer und Vermittlergeneration demontiert: nicht in Form offener Kritik, eher stillschweigend. Während die westdeutsche Generationendebatte zwischen den 68ern und 89ern durch eine gewisse Konfliktfreude auffällt, bleibt der Konflikt mit der ostdeutschen Lehrergeneration unausgesprochen. Es sei an die Erzählung Carla Lindemanns erinnert: Sie beklagt besonders die Abwesenheit von Vorbildern. Ein Ausweg aus dieser Leere wird durch die Lektüre von soziologischen und historischen Arbeiten gegeben, mit dem sie den Anschluss an die aktuelle Generationendebatte bzw. intellektuelle Debatten der Bundesrepublik allgemein sucht. Diese Aussage lässt sich für die ostdeutschen 89er generalisieren, denn unter den Hochschullehrern an ostdeutschen Universitäten besteht – zumindest in den sozial- und geisteswissenschaftlichen Fächern – eine deutlich westdeutsche Mehrheit. Ein klassisches Motiv des Generationenkonflikts in der Bundesrepublik ist das der Jugend, die der Elterngeneration die unangenehme Frage nach ihrer eigenen Schuld in der Vergangenheit stellt. Die Frage nach Schuld und Verstrickung bleibt dagegen in Ostdeutschland oft unausgesprochen, während es in der Bundesrepublik der 1960er vor allem darum ging, eine Elitenkontinuität zwischen der NS-Diktatur und der Bundesrepublik zu kritisieren, ist von der DDR-Elite wenig übrig geblieben. Da sie einerseits überaltert war, schied ein Großteil ihrer Vertreter nach 1990 altersbedingt aus, viele Angehörige der DDR-Elite, die der Flakhelfer Generation angehörten, wurden früh verrentet. Wer hierzu zu jung war, wurde oft an die Peripherie des Betriebes gedrängt. Wiederum ist auf das Verhältnis zu der Generation der eigenen Eltern zu verweisen, das vielmehr von Mitleid, als von Misstrauen oder Rivalität geprägt ist. Aber auch in der westdeutschen Geschichtsaufarbeitung zeigt sich, dass die Frage nach der Schuld innerhalb einer Diktatur innerhalb der eigenen Familie auch oft unausgesprochen blieb (Welzer 2008). Während sich die westdeutschen Selbstthematisierungen auf ein gemeinsames Milieu eingrenzen lassen, dass der „neuen Kulturvermittler“ – also einer relativ privilegierten Gruppe – und gemeinsame biographische Stationen wie Schul-, Studien- und Wehrdienstzeiten zu erkennen sind, ist die soziale Herkunft meiner ostdeutschen Interviewpartner heterogener: Während Oliver Rieger noch an seiner Karriere als zukünftiger Kader arbeitete, sich durch den Mauerfall in seiner Lebensplanung zunächst zurückgeworfen sah

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und den kommenden Veränderungen zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüberstand, konnte Norbert Geck schon vor dem Fall der Mauer sein Leben im Westen selbst in die Hand nehmen. Er war jung genug nach dem Verlassen der DDR einen Neuanfang mit Nachholen des Abiturs und anschließendem Studium wagen zu können. Also scheint für die Frage, welche Bedeutung der Fall der Mauer für die eigene Lebensgeschichte hatte, das Herkunftsmilieu in der DDR von Bedeutung zu sein. Der Fall der Mauer kann als eine bedrückende Situation wahrgenommen worden sein: Man hatte sich dem System der DDR angepasst und war auf die DDR-spezifischen Karrierewege eingestellt, der Fall der Mauer zerstörte daraufhin die komplette Lebensplanung. Eine andere Person konnte aufgrund einer mangelnden Staatsnähe das gewünschte Studium nicht aufnehmen, in diesem Fall war der Zusammenbruch der DDR eindeutig ein Moment der Befreiung. Fragt man die Ostdeutschen nach der Problematik des Wohlfahrtsstaates, fällt die Antwort verhaltener aus als im Westen. Die besondere Verunsicherung durch den Mauerfall scheint eine gewisse Gelassenheit den ökonomischen Verunsicherungen der spätmodernen Gesellschaften gegenüber hinterlassen zu haben. Anders als in Westdeutschland kennen sie nicht die implizite Erwartung, den Wohlstand der eigenen Eltern zu erreichen oder im Idealfall zu übertreffen. Die Lehre, die sie aus dem Systemumbruch gezogen haben, ist die Erfahrung einer Kontingenz – schon morgen kann sich alles verändert haben, aber es wird weiter gehen. Aus der Retro-Perspektive bewerten meine Interviewpartner die Entwicklung nach 1989 durchweg positiv. Von DDR-Nostalgie kann keine Rede sein, im Gegenteil sie sind alle gut in der Bundesrepublik angekommen. Es stellt sich die Frage, ob es etwas gibt, was diese drei Personen miteinander verbindet? Das Generationenbewusstsein einer 89er Generation Für die diskursive Aushandlung gemeinsamer Erinnerung einer Generation wurde in dieser Arbeit das Bild des durch eine Stadt pulsierend fließenden Verkehrs vorgeschlagen, die Erinnerungen sind die Wegmarken, über die man sich verständigen muss. Bei den in dieser Arbeit portraitierten Ostdeutschen sind Gemeinsamkeiten schwer auszumachen. Das unterschiedliche Alter kann ein Grund dafür sein: Während Oliver Rieger und Norbert Geck viel von der DDR der 1980er Jahre erlebt haben und auch Einblicke in das Erwachsenenleben der DDR bekommen haben, ist Carla Lindemann eigentlich zu jung, um auf wesentliche Erfahrungen mit dem Leben in der DDR zurückblicken zu können. Sie war zum Zeitpunkt des Mauerfalls zwölf, also noch in der Kindheit. Bestimmte Erfahrungen des Aufwachsens in der DDR konnte sie nicht machen. In der empirischen Untersuchung fanden sich viele Hinweise, dass die Gruppe der etwas Jüngeren die DDR eher als den Ort ihrer Kindheit in Erinnerung haben, und die Erinnerung

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daran dementsprechend versöhnlicher ausfällt. Sie spricht von einer Gruppe, die keine einheitliche Bewegung in eine Richtung darstellt, sondern in den Westen rein „diffundiert“ – wie eine Wolke. Die Vorstellung einer gemeinsamen Generation wird in Ostdeutschland anders gebildet, man kann sich diese Generation nicht wie eine Welle im nächtlich pulsierenden Straßenverkehr vorstellen, sondern eher wie Personen, die durch ein Labyrinth laufen. Die Wege, die durch dieses Labyrinth führen, können total verschieden sein, und dennoch können sie zu einem ähnlichen oder dem gleichen Ziel führen. Es gibt für sie keinen Weg, der obligatorisch ist. Obwohl sie an vielen Stellen eine andere Abzweigung genommen haben, können sie an der gleichen Stelle herauskommen, sie leben in der gleichen Gesellschaft. Die in den westdeutschen Interviews – vor allem in Fall 1 – beschriebene Verunsicherung im Sinne eines Wegfallens von Verbindlichkeiten dürfte in Ostdeutschland stärker wahrgenommen worden sein, dieses Gefühl wird aber nicht als Verunsicherung beschrieben. Die große Gemeinsamkeit einer ostdeutschen 89er Generation ist weniger die, die an bestimmten Rahmendaten im Kinder- und Jugendalter festzumachen ist, sondern das Verschwinden ihrer Herkunftsgesellschaft. Gerade die Frage, was ein ostdeutscher Berufspolitiker mit einer in Genf als Anwältin lebenden Schulfreundin gemeinsam hat, verbindet sie. Während ihre westdeutschen Altersgenossen einerseits die Medien- und Konsum-Erfahrungen ihrer Kindheit- und Jugendzeit und die Verunsicherungen in der gegenwärtigen Gesellschaft als ein gemeinsames Thema entdeckt haben, können die gleichaltrigen Ostdeutschen in dieser Hinsicht kaum mitreden. Ihre Generationenrhetorik kann nicht als Genealogie gelesen werden. Die nötigen Anknüpfungspunkte sind verschwunden. Die Herkunftsgesellschaft gibt es nicht mehr, die Kategorien von Erbschaft und Nachfolge überzeugen daher wenig. Sie sind vielmehr als das Rhizom einer verschwundenen Gesellschaft zu verstehen. Während es in der westdeutschen Rhetorik als 89er darum geht, die eigene Lage in der Genealogie der Bundesrepublik zu erklären, liegt bei den ostdeutschen 89ern eine Anti-Genealogie vor. Sie können keine Nachfolge beanspruchen, es gibt keine Tradition der DDR, in die man sich stellen kann. Sie sind die letzte Jugendgeneration dieses Staates. Die Vorstellungen im Ost-West-Vergleich In alltäglichen Begegnungen würde ein Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen kaum ins Gewicht fallen. Die Angehörigen der Jahrgänge, die im Mittelpunkt meiner Arbeit stehen, sind in der Bundesrepublik gut angekommen, haben die Chancen, die sich nach 1989 auftaten, für sich genutzt und sind in zum Teil beachtliche Positionen angekommen. Die wesentlichen Stationen wie Studium, Ausbildung, Wehr- und Ersatzdienst haben sie im gleichen System absol-

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viert wie ihre westdeutschen Altersgenossen. Gibt es die Vorstellung, einer gemeinsamen Generation mit den westdeutschen Altersgenossen anzugehören? Es hat sich in dieser Arbeit gezeigt, dass sich bei dem ostdeutschen Teil der Population andere Vorstellungen, einer Generation anzugehören, herausgebildet haben als in Westdeutschland. Der westdeutschen Generationenrhetorik liegt die Aspiration zukünftiger Führungspositionen in der Bundesrepublik Deutschland zugrunde. Grundlegend ist die Vorstellung einer Genealogie der Bundesrepublik: Es gibt die Generation der Flakhelfer – in der Soziologie Luhmann, Habermas, Dahrendorf, und in der Literatur Grass und Walser – die den „Textcorpus der Bundesrepublik“ vorgelegt haben. Man kann sie sich als intellektuelle Gründergeneration der Bundesrepublik vorstellen. Die Vermittlung dieser Inhalte liegt bei der Protestgeneration / 68er Generation, die als Lehrer- und Hochschullehrergeneration der westdeutschen „89er“ wahrgenommen werden. Dieses konfliktfreudige Verhältnis ist jedoch ein eher wohlwollendes und allenfalls von Rivalität um ein politisches Kritikmonopol geprägt, als von einer ernsthaft anklagenden Rhetorik oder politischem Misstrauen. Wird bei der Gruppe der 1965-1975 Geborenen ein signifikanter Unterschied zu der Generation der eigenen Eltern – der 68er Generation – wahrgenommen (ein abweichender Stil in Kultur, der politischen Ausrichtung oder der Wahrnehmung neuer Gefährdungen), lässt sich mit dieser Differenz der leere Signifikant der „89er-Generation“ füllen. Wie diese Genealogie der Bundesrepublik vorgestellt wird, wird diskursiv ausgehandelt und muss sich nicht allein auf die 68er als Abgrenzung beziehen. Ein 1970 geborenes Mitglied der GRÜNEN kann als wesentlichen Gegenpol zur eigenen Generation die Generation der „Zaungäste“ (die der in den 1950er Jahren Geborenen) wahrnehmen, die die dominierende Alterskohorte dieser Partei darstellt. In der SPD ist diese Gruppe schwach vertreten, hier findet eine Abgrenzung in erster Linie der Protestgeneration der Bundesrepublik Deutschland gegenüber statt. Es hängt also von dem Milieu der jeweiligen 89er-Protagonisten ab, wie diese Genealogie gebildet wird. Neben den politischen Generationen der Bundesrepublik besteht ein möglicher Dialog mit der Generation der Großväter: Am Horizont blitzt die Jugendgeneration der Weimarer Republik auf, sie steht als eine Vergleichsoption im Raum, an ihr kann man lernen, dass sich schon einmal eine Generation in Deutschland überflüssig gefühlt hat (Amend 2003: 115). Im Gegensatz zu Angehörigen der Protestgeneration fühlt man sich von der Großelterngeneration verstanden. Obwohl sie eine durchweg randständige Rolle einnehmen, können auch Versuche, einen Jugendprotest in die Kontinuität von Denkern der konservativen Revolution der Weimarer Republik zu stellen, als möglicher Teil dieser diskursiven Kämpfe gesehen werden. In Auseinandersetzung mit den Problemen der Gegenwartsgesellschaft geben die technik- und fortschrittsfeindlichen Arbei-

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ten der Weimarer Republik eine mögliche Antwort. Diese Position ist jedoch marginal, in der dieser Arbeit zugrunde liegenden empirischen Untersuchung fanden sich keine Hinweise auf einen neuen Konservatismus. Im ostdeutschen Teil dieser Untersuchung werden die Vorstellungen einer gemeinsamen Generation als von dieser Genealogie abweichend beschrieben. Eine Genealogie wird nicht entwickelt, da die DDR als ihre Herkunftsgesellschaft keine nennenswerten Anknüpfungspunkte liefert, weder in politischer noch in intellektueller Hinsicht. Die intellektuellen Debatten der Bundesrepublik sind für viele Ostdeutsche nicht nachzuvollziehen, denn sie entstammen einer anderen intellektuellen Tradition: Die vermittelten Inhalte waren abweichend, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit ist bis heute ein herausragendes Thema in öffentlichen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik. Diese Debatten waren in einem Staat, der sich als antifaschistisch definierte, überflüssig, da sie als von vornherein geklärt galten. Auch die Gruppe einer Kultur-Vermittler-und Lehrer-Generation ist in Ostdeutschland demontiert. Die DDR-Lehrerschaft hat zwar keinen nennenswerten Personalaustausch erfahren, kann aber für sich keine Vorbildfunktion mehr in Anspruch nehmen. Die Hochschullehrer als Vertreter einer Spitzenposition in der Intellektuellenschicht wurden mehr oder weniger komplett ausgewechselt. Nicht nur eine politische Verstrickung in die SED-Diktatur war ein Problem, sondern auch der von dem der Bundesrepublik abweichende DDR-Bildungskanon, der es Intellektuellen der DDR schwer machte, in öffentlichen Diskussionen der Bundesrepublik Stichworte zu liefern. Eine Ausnahme stellt z.B. Wolfgang Engler als ein prominenter Soziologe und Interpret der ehemaligen DDR dar. Die Intellektuellen der Nachkriegszeit in der DDR können aber nicht diese Bedeutung erlangen wie die „Flakhelfer“ Jürgen Habermas oder Niklas Luhmann. Ist die Selbstthematisierung als 89er vor allem in der westdeutschen Population Teil einer Genealogie von Schöpfern eines Textkorpus der Bundesrepublik über die Bearbeitung und Vermittlung dieser Texte, ist diese Genealogie im ostdeutschen Teil nach 1989 abgeschnitten. Auch kritische Stimmen der DDR führen im intellektuellen Leben der Bundesrepublik ein eher randständiges Dasein. Neben der Genealogie der Bundesrepublik steht somit eine Anti-Genealogie: Die ostdeutsche Generationengestalt kennzeichne ich als das Rhizom einer untergegangenen Gesellschaft2. Das jeweils eigene Schicksal ist nicht in vollem Maße mit dem der anderen zu vergleichen. Während es im Westen Erinnerungen gibt, die man geteilt hat, stellt fast jeder Fall in Ostdeutschland einen Sonderfall dar. Sie waren anderen Verunsicherungen und Turbulenzen ausgesetzt. Während im Westen das Leben in rela-

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Für die Vorstellung eines Rhizoms vgl. (Deleuze; Guartari 1977)

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tiv vorbestimmten Bahnen vor sich ging – die eigenen Eltern behalten eine gewisse Vorbild- und Beraterfunktion – mussten die Ostdeutschen sich bei der Eingewöhnung in ein eigenes Leben selbst zurechtfinden, ohne dass ihnen jemand dabei helfen konnte. Sie werden daher auch die „Generation der Unberatenen“ (Lindner 2003) genannt. Sie verstehen sich nicht als Teil einer Genealogie, die Kategorien Erbschaft und Nachfolge gibt es für sie nicht. Der Vorstellung einer Genealogie der Gesellschaft bedarf es an Verlässlichkeit und Berechenbarkeit. Nach 1989 wurde die DDR „durcheinander gewirbelt“, die alten Institutionen wurden nach Anschluss an die Bundesrepublik dem Vorbild der Bundesrepublik angepasst. Der Systemumbruch hat nicht nur einen Bruch in den Biographien hinterlassen, er hat auch dazu geführt, dass die Gesellschaft der DDR weitgehend verschwunden ist. Die Angehörigen der DDR-Elite sind entweder komplett ausgeschieden oder an die Peripherie des Betriebes gedrängt worden. Der oft zu hörende Vergleich zwischen der Generation der Schüler der Wendezeit und der Generation der Flakhelfer, der auch als Interpretationsgrundlage dieser Arbeit zugrunde liegt, erscheint gerade in dieser Hinsicht problematisch: Zwar ist auch hier eine Alterskohorte zu erkennen, die möglicherweise durch eine Umbruchserfahrung geprägt ist. Dieser Vergleich überzeugt aber nicht in vollem Maße. Während es nach 1945 gesellschaftliche Kontinuitäten gegeben hat, ist die Gesellschaft der DDR nach 1989 verschwunden. Die ostdeutschen Angehörigen dieser Altersgruppe sind entwurzelt, bzw. „heimatlos“. Heimatlosigkeit wird oft als ein unbehagliches Gefühl beschrieben, darunter scheinen sie aber nicht zu leiden, sie sind in die westlichen Gesellschaften relativ problemlos eingesickert, oft gibt es wenig, was an die Zeit vor 1989 erinnert. Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass es sich bei den Ostdeutschen, die in dieser Arbeit portraitiert wurden, mehr oder weniger um Erfolgsgeschichten handelt. Sie haben es geschafft, nach 1989 ihr Leben in der Bundesrepublik und den westlichen Nachbarstaaten in die eigene Hand zu nehmen. Viele ihrer Alterskollegen dürften aber weniger glücklichere Geschichten erzählen zu haben. Es ist wiederum darauf hinzuweisen, dass es sich auch bei den Ostdeutschen um den relativ privilegierten Blick der Gruppe der „neuen Kulturvermittler“ handelt. Dieser vermeintliche Nachteil der Entwurzelung macht die Ostdeutschen in der untersuchten Population international wesentlich anschlussfähiger. Sie haben nichts, was sie hält, die DDR ist verschwunden und damit viele bestehende Bindungen. Dies wirft allgemein die Frage nach dieser Generationenrhetorik in ihrer internationalen Vergleichbarkeit auf. In vielen anderen Ländern mit einem ehemals real existierenden sozialistischen Regime hat sich eine Rhetorik um eine post-89er Generation herausgebildet, vor allem in Ungarn und Polen. Während sich viele Staaten nach 1989 dem Westen gegenüber öffneten, liberale Demokratien installierten und die Hinwen-

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dung zu der westlichen Welt durch den Eintritt in die NATO und EU bestätigten, ist die Geschichte nach 1989 aber nicht immer glücklich verlaufen. Der Ausbruch neuer ethnischer Konflikte, z.B. in den Staaten des ehemaligen Jugoslawiens oder die bis heute anhaltende politische Instabilität in einigen ehemaligen Sowjetrepubliken lassen vermuten, dass dies zu einer anderen Ausprägung einer Generationenrhetorik führen dürfte. Insgesamt erscheint ein internationaler Vergleich der Rhetorik einer post-89er Generation als lohnenswerte Forschungsperspektive. Ein weiteres Forschungsinteresse, das aus dieser Arbeit entstanden ist, liegt in der Erfahrungsgeschichte des Wohlfahrtsstaates: Am Beginn dieser Arbeit stand ein Interesse für die Rhetorik als Wohlfahrtsstaatesverlierergeneration, denn dies ist ein wesentliches Thema der „89er“ Selbstexplikationsliteratur. Im Laufe der empirischen Untersuchung hat sich gezeigt, dass dieser Rhetorik weitere Voraussetzungen zugrunde liegen, es sticht vor allem die gemeinsame Lage einer vormals privilegierten Versorgungsklasse im Wohlfahrtsstaat (M. Rainer Lepsius) hervor, aber auch im innerdeutschen Vergleich fällt auf, dass diese Rhetorik weniger stark ausgeprägt ist. Die mögliche Prägung durch den Wohlfahrtsstaat war eine Frage, der sich diese Arbeit angenommen hat. „Generation“ ist nicht das einzige Identifikations- und Deutungsangebot, dass in den Interviews genannt wurde, sondern dass auch andere Kategorien der sozialen Ungleichheit – „Klasse“ und „Schicht“ – eine Rolle in der lebensgeschichtlichen Erzählung spielen können. Dies wirft die Frage nach einer umfassenden Erfahrungsgeschichte des Wohlfahrtsstaates auf, die allerdings noch zu schreiben ist. Die 1990er Jahre – eine Zeit der Unwahrscheinlichkeit Die Bundesrepublik vor 1989 wird als beengt und langweilig beschrieben. Im Nachhinein wird vom langen anhaltenden Biedermeier der Kohl-Ära gesprochen oder dem politischen Narkotikum dieser Zeit. Der Fall der Mauer bot die Chance eines Ausbruchs aus dem langweiligen und monotonen Politikbetrieb der Kohl Ära. Nachdem die 1980er Jahre als das langweiligste Jahrzehnt der Bundesrepublik beschrieben werden, dürfte der Fall der Mauer auch für die Westdeutschen eine Art Befreiung gewesen sein – nicht in politischer Hinsicht, sondern es taten sich neue biographische Gestaltungschancen auf. Dieser Ausbruch blieb ein persönlicher, intimer Ausbruch – der politische Aufbruch blieb aus. Als Weg des Ausbruchs bot sich der Osten an: Man konnte sich einrichten, zu günstigen Lebenshaltungskosten. Ein alternativer Lebensstil bedeutete, dass man sich eine Nische suchte. Hierzu boten sich Gelegenheiten in den Neuen Bundesländern nach 1990. Nicht nur auf einer persönlichen Ebene wurden alte Gewissheiten aufgebrochen, sondern auch auf der gesellschaftlichen, ökonomischen Ebene: Neben der politisch lähmenden Wahrscheinlichkeit der Kohl-Ära kam es zu einer

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Neuausrichtung des Kapitalismus: Digitalisierung und neue flexible, post fordistische Beschäftigungsformen boten neue Chancen, brachten aber auch beachtliche Risiken mit sich. Es taten sich viele neue Möglichkeiten der Entgrenzung, des Ausbruchs und der Selbstverwirklichung auf. Man kann von Ausbruchsphantasien aus der Lähmung der Kohl Ara sprechen. Der rasante individuelle Aufstieg einiger betont erfolgreicher Exponenten in der Boomphase der 1990er Jahre hatte einen ebenso schnellen Niedergang zur Folge. Berechenbar waren Erfolg und Misserfolg nicht. In der kurze Zeit später auftretenden „Dotcom-Krise“ zeigte sich nach der Wahrscheinlichkeit der Kohl-Ära eine bedrohliche Unwahrscheinlichkeit in Form einer mangelnden Berechenbarkeit von individuellen Chancen und Risiken. Wer vormals IT Experte war, musste sich möglicherweise kurze Zeit später mit Aushilfsjobs über Wasser halten oder in seine alten Heimatstadt zurückziehen – möglicherweise um alt Bekanntes und alte Gewissheiten wieder zu finden (vgl. hierzu Amend 2003: 10f.). Ob es die gibt, sei dahingestellt. Etwas früher kam der Ausbruch aus einer lähmenden Phase für den ostdeutschen Teil der Population. Diese Zeit wird sich auch für die Ostdeutschen als eine Phase der Unwahrscheinlichkeit dargestellt haben, wenn auch mit anderen Vorzeichen. Der Ausbruch aus dem reglementierten Alltagsleben der DDR, das von Gängelungen und Schikanen geprägt war und einen linearen Zukunftshorizont aufwies – die Zukunft erschien in jeder Hinsicht berechenbar – führte ebenfalls in eine Phase der Unwahrscheinlichkeit. Nach einer kurzen Zwischenzeit, in der bestehenden Bindungen des alten Systems aufgebrochen waren, wurde schnell klar, dass sich das Gebiet der damaligen DDR an die Bundesrepublik anschließen würde. Die Beitrittsdrohung nach 1989 beinhaltet den Wunsch, in eine Gesellschaft einzutreten, die es in den Vorstellungen nicht mehr entsprach. Es wird gesagt, dass sich das Leben auch im Westteil der Bundesrepublik verändert hat. In dieser Arbeit wurde gezeigt, dass sich das Gefühl eines „Nicht mehr“ nicht überzeugend auf die historische Zäsur übertragen lässt, sondern allenfalls mittelbar. Der Zusammenbruch der DDR war wie das Platzen eines Knotens, nach Wegfall der Gängelungen und Zumutungen des Systems setzte sich aber der übermächtige Kanzler Kohl auf die Agenda. Möglichkeiten zur ostdeutschen Partizipation im Wiedervereinigungsprozess gab es kaum. Der DDR trat 1990 über die Regelung des damaligen Art. 23 GG der Bundesrepublik bei, statt über den Artikel 146 GG. Über eine neue Verfassung wurde nicht verhandelt, was zu weiteren Verstimmungen geführt hat, denn Art 146 GG sah für den Fall der Wiedervereinigung die Abstimmung über eine neue Verfassung vor. Der Weg vom Provisorium zum souveränen Staat sollte auch verfassungsrechtlich Ausdruck bekommen. Obwohl davor gewarnt wurde, diesen Weg zu gehen, wurde die Wiedervereinigung über den Artikel 23 angegangen. Über die juristische Legitimität dieses Vorgehens kann und soll an

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dieser Stelle nicht geurteilt werden. Wesentlich erscheint, dass diese Regelung bei kritischen Stimmen das Gefühl einer Machtlosigkeit dem übermächtigen Kanzler Kohl gegenüber hinterlassen haben dürfte. Es ist der überstürzte Beitritt in ein politisches System, dasszu diesem Zeitpunkt bereits selbst im Wandel begriffen war. In diesem Sinne kann von einem Zusammenhang zwischen den 89ern im Osten und den 89ern im Westen die Rede sein, wenn auch mit unterschiedlichen Vorzeichen. Beide nahmen die 1990er Jahre als eine Phase der Unwahrscheinlichkeit wahr. Die seit 2009 amtierende schwarz-gelbe Bundesregierung mit den „89ern“ zu Guttenberg und Rösler kann als der Beginn einer politischen Wirkungsphase der 89er gesehen werden. Politisch erinnert vieles an die Ära Kohl. Die aktuelle Politik der Bundesrepublik ist nach wie vor durch Bemühungen geprägt, den Status quo vor der Krise wieder herzustellen. Bedrohungen einer möglichen ökologischen Katastrophe namens „Klimawandel“- tauchen auf. Die Politik gibt nur wenig Perspektiven, um diesem Szenario entgegen zu wirken. Es wird eine Abwrackprämie als Umweltprämie verkauft, ohne reflektiert zu haben, ob der dadurch vermittelte Lebensstil in Zeiten von Ressourcenknappheit und der Bedrohung durch Klimawandel weiterhin zeitgemäß ist (vgl. Leggewie; Welzer 2009). Drängender werden diese Probleme durch das Hinzustoßen von vielen Millionen Menschen in ressourcenaufwändige Lebensstile und den damit verbundenen Belastungen. Nach der Finanzkrise 2008 galt das Vorhaben, die Sozialversicherungssysteme an den Finanzmarkt zu bringen, als unkalkulierbares Risiko. Dieser Prognose zum Trotz werden nun Pläne diskutiert, die Pflegeversicherung über eine obligatorische private Zusatzversicherung, vergleichbar mit der „Riester-Rente“, zu entlasten, um nur einige aktuelle Herausforderungen zu nennen. Aktuell beginnen sich neue Proteste zu formieren, in denen neue Konflikte aufgegriffen werden: Neben die klassischen Protestformen treten neue Inhalte und Konflikte, etwa Proteste anlässlich der Klimagipfel oder die derzeit ganz Europa umfassende Studierendenbewegung. Die Proteste werden im Wesentlichen von den aktuellen Studierenden dominiert. Möglicherweise sind diese Proteste Vorboten einer stärkeren Politisierung der Zivilgesellschaft. Das „Narkotikum“ der Kohl-Ära zu überwinden, ist nicht das Generationenprojekt der 89er, es scheint vielmehr das Ziel der 20 Jahre Jüngeren zu sein. Methodischer Ausblick Die vorliegende Arbeit verortet sich methodisch in einer wissenschaftlichen Debatte, die den Schwerpunkt der Analyse von dem Begriff der Generation zur Generationalität verschiebt. Ins Interesse der Auseinandersetzung mit dem Problem der Generation rückt nun die Frage nach dem Prozess, in dem die Erfahrungen zu Erzählungen einer Generation verarbeitet werden. Eine vergleichbare

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Entwicklung hat die soziologische Biographieforschung vorzuweisen indem das Interesse auch die Biographisierung gesetzt wurde, auf die Prozesse in denen Biographien konstruiert werden. Diese Arbeit nimmt sich der Selbstthematisierung der 89er Generation auf, das rätselhafte Widerauftreten eines als verweht geglaubten Generationenlabels waren Anlass, die Selbstthematisierungen als Protagonisten einer 89er Generation einer 89er Generation einer kritischen Überprüfung zu unterziehen. Auf Basis einer Dokumentenanalyse wurden die diskursiven Motive dieser Generationenrhetorik herausgearbeitet. Die „Genealogie der Bundesrepublik“ für westdeutsche Wortmeldungen und das „Rhizom einer verschwundenen Gesellschaft“ für die ostdeutsche Generationenrhetorik. Rhizom wird als ein nicht-hierarchisches, nicht-diskursives diskursives Konstrukt verstanden, dass eher als eine Antigenealogie zu verstehen ist, denn diese Wortmeldungen sind vor allem durch das Wegbrechen verlässlicher Bezugspunkte gekennzeichnet. Wer sich aus ostdeutscher Sicht als 89er bezeichnet kann auf wenige intellektuelle Traditionen zurückgreifen und nicht in eine Genealogie von politischen Eliten und oder als Verlierer des Wohlfahrtsstaates betrachten, während diese Motive in der westdeutschen Debatte mehr oder weniger selbstverständlich vorausgesetzt werden. Beide Arten der Wortmeldung haben gemeinsam, dass sie die Wahrnehmung eines „nicht-mehr“ zum Ausdruck bringen. In dem zweiten Teil der Arbeit wurden sechs typische Fälle einer Wortmeldung als 89er aus einer biographischen Perspektive portraitiert und die Frage gestellt, welche Erfahrungen und Erlebnisse der Protagonisten als eine Erfahrung der Generation betrachtet werden. Die Generationenrhetorik kann als die Selbstthematisierung der „neuen Kulturvermittler“ gekennzeichnet werden. Ein antizipierbarer Einwand an diesem Vorgehen ist, dass die Arbeit hierdurch überfrachtet wirkt, indem eine Kritik an der Generationenrhetorik der 89er kritisiert wird, die „Existenz“ dieser Generation über die Beschreibung einer Trägergruppe zu belegen. Ein möglicher alternativer Ansatz wäre es, die Generationenrhetorik durch eine rein diskursanalytische Herangehensweise als öffentliche Debatte zu betrachten. Wann wurde eine öffentliche Wortmeldung über das Konzept der Generation begründet. Aus Gründen der empirischen Fundierung der Kritik habe ich mich zu dem Vorgehen entschlossen: In den Fallstudien wird deutlich, wie die „Neuen Kulturvermittler“ (Bourdieu) versuchen ihre Wahrnehmung als hegemoniales Deutungsmuster zu etablieren. Es wurde gezeigt, dass die postulierten Prägeereignisse dieser Generationengestalt als arbiträr gelten können. Sie können vielmehr als Symptome einer sich schnell ändernden Welt und spätmoderner Verunsicherung gelesen werden. In der vorliegenden Arbeit melden sich genau genommen die

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Protagonisten einer Fernsehgeneration zu Wort: Es kann argumentiert werden, dass die Wahrnehmung eines nicht-mehr vor allem durch Fernsehbilder vermittelt wird. Die Fallstudien zeichnen ein gegenteiliges Bild: Es wird gezeigt, wie anhand der Erfahrungen meiner Interviewpartner eine Gemeinsamkeit zu den gleichaltrigen erschlossen wird. Das Ziel der vorliegenden Arbeit war, den Konstruktionsprozess einer Generationenrhetorik vor dem Hintergrund der sozialen Lagerung der Protagonisten nachzuvollziehen. Das vorliegende Vorhaben ließe sich damit als Entwicklung einer Theorie der Generation beschreiben, ohne den Begriff der Generation aufzugeben.

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Sozialtheorie Silke Helfrich, Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) Commons Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat April 2012, 528 Seiten, Hardcover, 24,80 €, ISBN 978-3-8376-2036-8

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Sozialtheorie Thomas Alkemeyer, Gunilla Budde, Dagmar Freist (Hg.) Selbst-Bildungen Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung Februar 2013, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1992-8

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Leon Hempel, Marie Bartels (Hg.) Aufbruch ins Unversicherbare Zum Katastrophendiskurs der Gegenwart Oktober 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1772-6

Konstantin Ingenkamp Depression und Gesellschaft Zur Erfindung einer Volkskrankheit Februar 2012, 370 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1930-0

Herbert Kalthoff, Uwe Vormbusch (Hg.) Soziologie der Finanzmärkte September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1806-8

Sven Lewandowski Die Pornographie der Gesellschaft Beobachtungen eines populärkulturellen Phänomens Juni 2012, 316 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2134-1

Stephan Lorenz Tafeln im flexiblen Überfluss Ambivalenzen sozialen und ökologischen Engagements Januar 2012, 312 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2031-3

Max Miller Sozialtheorie Eine Kritik aktueller Theorieparadigmen. Gesammelte Aufsätze September 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-89942-703-5

Birgit Riegraf, Dierk Spreen, Sabine Mehlmann (Hg.) Medien – Körper – Geschlecht Diskursivierungen von Materialität Juli 2012, 290 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-2084-9

Ulrich Willems, Detlef Pollack, Helene Basu, Thomas Gutmann, Ulrike Spohn (Hg.) Moderne und Religion Kontroversen um Modernität und Säkularisierung September 2012, ca. 500 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1966-9

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