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German Pages 366 Year 2014
Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.) Leben in Gesellschaft
Band 13
Editorial Die neuere empirische Wissenschaftsforschung hat sich seit den späten 1970er Jahren international zu einem der wichtigsten Forschungszweige im Schnittfeld von Wissenschaft, Technologie und Gesellschaft entwickelt. Durch die Zusammenführung kulturanthropologischer, soziologischer, sprachwissenschaftlicher und historischer Theorie- und Methodenrepertoires gelingen ihr detaillierte Analysen wissenschaftlicher Praxis und epistemischer Kulturen. Im Vordergrund steht dabei die Sichtbarmachung spezifischer Konfigurationen und ihrer epistemologischen sowie sozialen Konsequenzen – für gesellschaftliche Diskurse, aber auch das Alltagsleben. Jenseits einer reinen Dekonstruktion wird daher auch immer wieder der Dialog mit den beobachteten Feldern gesucht. Ziel dieser Reihe ist es, Wissenschaftler/-innen ein deutsch- und englischsprachiges Forum anzubieten, das • inter- und transdisziplinäre Wissensbestände in den Feldern Medizin und Lebenswissenschaften entwickelt und national sowie international präsent macht; • den Nachwuchs fördert, indem es ein neues Feld quer zu bestehenden disziplinären Strukturen eröffnet; • zur Tandembildung durch Ko-Autorschaften ermutigt und • damit vor allem die Zusammenarbeit mit Kollegen und Kolleginnen aus den Natur- und Technikwissenschaften unterstützt, kompetent begutachtet und kommentiert. Die Reihe wendet sich an Studierende und Wissenschaftler/-innen der empirischen Wissenschafts- und Sozialforschung sowie an Forscher/-innen aus den Naturwissenschaften und der Medizin. Die Reihe wird herausgegeben von Martin Döring und Jörg Niewöhner. Wissenschaftlicher Beirat: Regine Kollek (Universität Hamburg, GER), Brigitte Nerlich (University of Nottingham, GBR), Stefan Beck (Humboldt Universität, GER), John Law (University of Lancaster, GBR), Thomas Lemke (Universität Frankfurt, GER), Paul Martin (University of Nottingham, GBR), and Allan Young (McGill University Montreal, CAN).
Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly (Hg.)
Leben in Gesellschaft Biomedizin – Politik – Sozialwissenschaften
Gefördert vom Forschungsprogramm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog« des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Satz: Julie Mewes Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1744-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 7 Einleitung Zonen des Existenziellen. Leben verstehen, Leben schützen, Leben gefährden Joëlle Vailly, Jörg Niewöhner, Janina Kehr | 9 Von den Politiken des Lebens zur Ethik des Überlebens. Ein genealogischer und biographischer Ansatz Didier Fassin | 29 Knochenmarkspende als Volksabstimmung – oder: die Politisierung des Organischen und die Moralisierung der Medizin in Zypern Stefan Beck | 54 Moral, Wissenschaft und (Ent?)Politisierung: Eine Analyse der offiziellen Diskurse über Embryonenforschung Boris Hauray | 83 Reproduktion und Antizipation. Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Bertrand Pulman | 114 Die Nutzung von DNA-Tests in Einwanderungsverfahren. Das Beispiel Deutschland Thomas Lemke & Malaika Rödel | 143 Lebensqualität oder ›gutes Leben‹? Das kranke Kind, das Gen, der Fötus Joëlle Vailly | 179 Transplantierte Normalitäten: Messen, Herstellen, Leben Katrin Amelang | 212
Patient/innen am Lebensende in der Notaufnahme. Zeitlichkeit und Definition des Todes im Krankenhaus Carine Vassy & Marie-France Couilliot | 240 Kardiovaskuläre Prävention als Technik zur Bildung von Leben selbst. Eine ethnographische Untersuchung Jörg Niewöhner & Michalis Kontopodis | 271 Die Dichte sozialer Leben. Zur Tuberkulose-Umgebungsuntersuchung
Janina Kehr | 299 Formationen des »Sozialen« in Biomedizin und Lebenswissenschaften. Eine Politik der Assoziationen?
Susanne Bauer | 331 Autorinnen und Autoren | 360
Vorwort Berlin/Paris, 10. Januar 2011
Die Beiträge in diesem Band haben überwiegend ihren Ursprung in einem gemeinsamen Symposium des Labors: Sozialanthropologische Wissenschafts- und Technikforschung des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin und dem Institut de recherches interdisciplinaires sur les enjeux sociaux – Sciences sociales, politiques, santé (IRIS), das im Herbst des Jahres 2008 in Paris unter dem Titel »Health Policies, Politics of Life« stattfand. Eines der Ziele dieses Symposiums war ein Gedankenaustausch zwischen deutschen und französischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, um Ansätze in einem Forschungsfeld zu diskutieren, das weitgehend von angloamerikanischen Analysen geprägt ist. So präsentieren alle Beiträge eigenes Material, vorwiegend aus Deutschland und Frankreich, aber auch aus Südafrika und Zypern, um sich anhand dessen mit etablierten theoretischen Konzepten auseinanderzusetzen, diese zu hinterfragen, zu kommentieren, zu erweitern und Alternativen zu entwickeln. Wir, die Herausgeberinnen und der Herausgeber, danken an dieser Stelle allen Beteiligten dieses Symposiums für den anregenden Austausch, insbesondere auch Didier Fassin, Vololona Rabeharisoa und Jean-Paul Gaudillière für die Diskussion der Beiträge und die Diskussionsleitung. Weiterhin danken wir allen Autorinnen und Autoren für die engagierte und kollegiale Zusammenarbeit während der Fertigstellung dieses Gemeinschaftsprojekts. Dieser Band findet eine Entsprechung in dem französischen Band De la vie biologique à la vie sociale. Approches sociologiques et anthropologiques, der zeitgleich im Verlag La Découverte erscheint. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein gemeinschaftliches Projekt, das zumeist in englischer Sprache geführt wurde, sich aber in einem deutschen und einem französischen Buch manifestiert, für die Über-
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setzung die eine oder andere Herausforderung bereit gehalten hat. Wir danken daher ganz herzlich Katharina Voss (subtextnetwork) für die Übersetzungen ins Deutsche, Bernard Müller sowie dem Übersetzungsbüro ubiqus für die Übersetzungen ins Französische, sowie den Autorinnen und Autoren für Ihre rasche und konstruktive Unterstützung bei diesen Arbeiten. Manche sprachlichen Holprigkeiten haben sich allerdings nicht vermeiden lassen, so z.B. die Übersetzung des englischen Konzepts der vital politics ins Deutsche. Dies ist keineswegs der Übersetzung selbst geschuldet, sondern verweist zum einen auf Unterschiede in der Art und Weise, wie Konzepte in Sprache gefasst werden (können). Zum anderen, und unseres Erachtens wichtiger, verweist es aber auch auf Unterschiede im Umgang mit Theorien und Konzepten, die unterschiedliche, immer auch durch eine landesspezifische Perspektive geformte Denkkollektive ausmachen. Sollte Ihnen das eine oder andere Konzept in der Übersetzung also nicht gefallen, bitten wir Sie herzlich, dies als Aufforderung zur Diskussion und einer transnationalen Weiterentwicklung theoretischer Konzepte zu verstehen. Übersetzungen ins Deutsche produzieren darüber hinaus das Problem, dass beide bzw. alle Gender-Formen eingeschlossen werden sollen, obwohl dies in den Originalen sprachlich nicht angelegt ist. Wir haben in diesem Band zu einer pragmatischen Lösung gefunden. Generell verwenden alle Beiträge die /innen Variante. Wo sie sich vermeiden ließ, durch Partizipial- oder Pluralkonstruktionen, haben wir dies getan. Wo dies nicht der Fall war, und wo daher ganze Wälder von Bindestrichen den Lesefluss erheblich gestört hätten, haben wir mal die männliche und mal die weibliche Form gewählt. Wir danken an dieser Stelle ganz herzlich unserer studentischen Mitarbeiterin Julie Mewes, die unermüdlich am Satz gearbeitet und damit entscheidend dazu beigetragen hat, dass der Band rechtzeitig den Druck erreicht hat. Last but not least gilt unser Dank dem Bundesministerium für Bildung und Forschung, das mit seinem Programm »Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog« die Arbeit an diesem Projekt und die Publikation finanziell unterstützt hat. Jörg Niewöhner, Janina Kehr, Joëlle Vailly
Einleitung Zonen des Existenziellen. 1 Leben verstehen, Leben schützen, Leben gefährden
J OËLLE V AILLY , J ÖRG N IEWÖHNER , J ANINA K EHR
L EBEN :
BEGRIFFLICHE
V IELFALT
»Nach einer 50 000 Dollar teuren In-Vitro-Fertilisation kommt ein Kind zur Welt, während am anderen Ende der Welt eine junge, sehr arme Mutter an AIDS stirbt.« Diese Worte bilden den Auftakt zu einem Überblick über die aktuelle anthropologische Literatur zu den Grenzen des Lebens, also seinem Beginn und Ende (Kaufman/Morgan 2005). Die Gegenüberstellung dieser beiden konträren Ereignisse – eine Geburt unter High-Tech-Bedingungen auf der einen Seite, ein Tod in Armut auf der anderen Seite – mag simplifizierend wirken. Sie eröffnet aber auch einen unmittelbaren Einstieg in das Thema des Lebens in Gesellschaften, des Lebens von Menschen in spezifischen sozialen und politischen Konfigurationen. Es ist ein Einstieg, der sogleich wichtige semantische Differenzen aufzeigt, indem er unterschiedliche Lebensbegriffe aufruft. Das Leben lässt sich zunächst darüber definieren, was es nicht bedeutet. Auf der einen Seite steht es im Kontrast zu allem Unbelebten – 1 Mit »Zonen des Existenziellen« schlagen wir ein Konzept vor, dass sowohl Lebensräume im herkömmlichen Sinne einschließt, als auch verschiedene »Räumlichkeiten«, in denen Leben als Konzept verhandelt wird. Wir orientieren uns an Anna Lowenhaupt Tsing’s ›zones of awkward engagement‹. (Tsing 2005)
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schierer Materie. So lässt sich das Lebende vom nicht Lebenden unterscheiden. Andererseits steht das Leben dem Tod gegenüber; eine Unterscheidung, die ganz andere Assoziationen weckt und Verknüpfungen herstellt und die für den Menschen mannigfaltige soziale, philosophische, und psychologische Implikationen andeutet (Ardoino 2001). In der gleichen Stoßrichtung unterscheidet der Historiker und Wissenschaftstheoretiker Georges Canguilhem zwischen zwei Bedeutungen des Lebens: das Lebende (die organisierte Materie) und das Gelebte (das menschliche Erleben). Canguilhem widmet sich in seinen Arbeiten zwar primär dem Lebenden, befasst sich allerdings auch mit einer Engführung von Lebendem und Gelebtem. Davon zeugt seine Formulierung »Lebensgebaren«, die den engen Rahmen von Molekülen und Zellen zu sprengen scheint und sich in einem Raum bewegt, der von Schmerzen und Alltag geprägt ist. Orientiert man sich an diesem Begriff, so wäre Krankheit ein spezifisches Lebensgebaren (Canguilhem 1974). Allgemeiner gesprochen bezeichnen das Lebende und das Gelebte unterschiedliche, sich aber zum Teil überschneidende Zonen des Existenziellen. Diese Überschneidungen verleihen dem Lebensbegriff seine Dichte, da sie es ermöglichen, zugleich wissenschaftliche, politische und moralische Fragestellungen schärfer zu konturieren. Zur Illustration dieser These widmet sich João Biehl (2005) dem Beispiel von Catarina, einer Frau, die die wechselseitigen Effekte der Biomedizin, des Regierens der Lebenden und des Erlebens von AIDS und Armut in prekären und völlig verarmten Gegenden in Brasilien quasi verkörpert. Das Leben, wie wir als Herausgeber/innen es verstehen, ist im Übrigen nicht nur das Leben der Kranken. Es ist auch ein Zusammenspiel und ein gemeinsames Produkt des gesellschaftlichen bzw. politischen Lebens und des biologischen Lebens. Bevor wir uns unterschiedlichen Lesarten des Lebensbegriffs nähern, beginnen wir diese Einleitung jedoch, indem wir kurz darauf eingehen, wie die beiden im ersten Satz herangezogenen Szenarien die entscheidenden sozialen Dynamiken des späten 20. Jahrhunderts verkörpern und aktiv an der Entwicklung der Herausforderungen des ›Lebens‹ teilhaben. Biomedikalisierung Erstens gilt es, auf die rasanten Entwicklungen im Feld der Lebenswissenschaften und der Biomedizin hinzuweisen. Tatsächlich ist seit dem Zweiten Weltkrieg vor allem in Europa und in den USA ein Pro-
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zess der Biomedikalisierung zu verzeichnen – das heißt ein Prozess der gleichzeitigen Hervorbringung technowissenschaftlicher Ansätze im Zusammenspiel mit den Lebenswissenschaften auf der einen und damit eng verschränkten klinischen Praktiken auf der anderen Seite. Diese Entwicklung hat sich seit dem Beginn der 1980er Jahre wesentlich beschleunigt (Clarke/Mamo/Fisman/Foskett u.a. 2003). Michel Foucault bemerkte anlässlich eines Beitrags über Canguilhem, es sei »nicht möglich [gewesen], eine Wissenschaft des Lebenden zu begründen, ohne der Möglichkeit der Krankheit, des Todes, des Monströsen, der Anomalie und des Schreckens Rechnung zu tragen. Sie alle sind wesentliche Aspekte des Lebenden.« (Foucault 2001: 1591) Anders gesagt und das gilt heute immer noch: Das Verstehen biologischer Phänomene im Zusammenhang mit dem Lebenden hat sich immer auch aus der Erforschung von Krankheiten gespeist und damit die Erforschung dieser Krankheiten vorangetrieben. Dies gilt im Besonderen für genetische Erkrankungen. Spätestens seit der Entdeckung der Struktur der DNA in den frühen 1950er Jahren haben rasante Entwicklungen des biologischen Wissens über Genetik zu einer zunehmenden Molekularisierung des Verständnisses des Biologischen beigetragen und die Schlüsselposition konsolidiert, die Bio-Technologien in der Produktion wissenschaftlichen Wissens zukommt. Paradigmatisch für diese Entwicklung steht sicherlich die Sequenzierung des menschlichen Genoms im Rahmen des Humangenomprojekts, die am Ende des vorigen Jahrtausends emphatisch als Entschlüsselung des »Buchs des Lebens« gefeiert wurde. Im heutigen postgenomischen Zeitalter setzt sich die Molekularisierung unseres Wissens über das Lebende fort und erreicht immer höhere Komplexitätsgrade. So werden umfassende Forschungsprojekte zum Zusammenspiel von Genen und Umwelt lanciert, die zu einem besseren Verständnis der Ätiologie komplexer Krankheiten (HerzKreislauf-Krankheiten, Diabetes etc.) beitragen sollen. Zurzeit ist eine »Biokapitalisierung« der biologischen Forschungsplattformen zu verzeichnen, in deren Zuge technowissenschaftliche Komplexe mit teils erheblicher ökonomischer Bedeutung entstehen. (Rajan 2006) Dies geschieht vor allem auch in den so genannten Schwellenländern, die ihre Wachstums- und Entwicklungsstrategien zum einem zunehmenden Teil auf Biotechnologien abstellen. Darüber hinaus verändert das Wissen über das Leben den Gegenstand dieses Wissens (also das Lebende). Davon zeugt die Ankündigung der ersten Nachbildung eines
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lebenden Organismus auf der Grundlage eines zu 100 % künstlich hergestellten Genoms in den USA. 2 So geht es nicht mehr nur darum, die Mechanismen des Lebenden zu beschreiben, zu entschlüsseln und zu erläutern, sondern auch, das Lebende durch molekulare Interventionen zu transformieren. Die Entwicklung der Molekularbiologie spielt zwar eine tragende Rolle in der Aufmerksamkeit, die dem Lebenden entgegengebracht wird. Es ist jedoch wichtig, die anderen Facetten des Wissens über das Lebende nicht zu übersehen. Vor allem dem staatlichen Gesundheitswesen und der Epidemiologie kommt in vielen Bereichen ebenso viel Bedeutung zu. Das gilt beispielsweise für ihre Einflussnahme auf den individuellen und gesellschaftlichen Alltag, für die individuelle und kollektive Aufmerksamkeit gegenüber Risikofaktoren, wie z.B. Lebensstilen, und für die Kontrolle der Ausbreitung von Infektionskrankheiten mit Hilfe von Impfungen und der Steuerung des Soziallebens (vgl. auch Raman/Tutton 2009). Betroffen sind davon zum einen Bereiche wie Präventivmedizin und Public Health, wo immer extensivere und immer frühere Präventionsmaßnahmen an spezifische Populationen herangetragen werden. Zum anderen betrifft dies aber auch Felder wie z.B. die psychiatrische Forschung und Versorgung, in denen eine schleichende Ausweitung der diagnostischen Kriterien zu verzeichnen ist. Der Prozess der Biomedikalisierung ist also keineswegs auf die spektakulären Felder der Gentechnologie beschränkt, in denen auf scheinbar offensichtliche Art das Lebende transformiert wird. Vielmehr findet sich eine schleichende Verschiebung der Bedingungen und Praxen des Lebenden in vielen Bereichen der Medizin. Transnationalisierung Zweitens lässt sich das Leben der Individuen und ihr Gesundheitszustand vor dem Hintergrund der Effekte sich intensivierender transnationaler Austausch- und Globalisierungsprozesse betrachten. Seit den 1980er und 1990er Jahren hat sich der globale Austausch von Wissen, Waren und Menschen explosionsartig verstärkt. Diese globalen Verbindungen produzieren Machtverhältnisse, Abhängigkei-ten und Chancen zwischen Nationalstaaten und Kontinenten (Ong/Collier 2005), die sich nicht nur auf Regierungs- und Regulationsformen 2 Vgl. den Artikel »Création d’une cellule ›synthétique‹« (Le Monde: 22. 5. 2010).
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auswirken, sondern auch auf das Leben der Einzelnen und auf Fragen der Zugehörigkeit und Identität. Wir gehen hier nur auf vier Aspekte ein: (1) Im Bereich der Biomedizin manifestiert sich diese internationale Zirkulation in dem Zusammenspiel von biologischen Begriffen und Konzepten, Vorstellungen, Kenntnissen, Methoden und Material. Die zunehmende Bedeutung des Internets und die wachsenden Mobilitätsmöglichkeiten der Patient/innen sind Teil dieses Prozesses. Im Zusammenspiel mit der Globalisierung verleiht die Fragmentierung des Lebenden, das in stabilisierte, tiefgefrorene, verkaufte und ausgetauschte Objekte zerlegt wird, diesen Elementen einen zunehmend transnationalen Charakter (Rose 2008). (2) Weiterhin, und auch das steht in einem Zusammenhang mit der Globalisierung, sieht es so aus, als ob alte und neue Infektionskrankheiten – von denen viele, wie beispielsweise die Tuberkulose, Kinderlähmung und bestimmte Grippetypen, seit der epidemiologischen Transition im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts in den so genannten Ländern des Nordens ausgerottet schienen – für die Bevölkerungen dieser Länder wieder eine gesundheitliche Bedrohung darstellen. Hier möchten wir allerdings darauf hinweisen, dass man zwischen der Realität gesundheitlicher Probleme und ihrer Wahrnehmung durch Bevölkerung und Regierung unterscheiden sollte. Zoé Vaillant und Gérard Salem schreiben dazu: »In einer globalen Sichtweise entdeckt man schnell Abhängigkeiten zwischen Räumen, die dazu führen, dass Krankheiten sich leichter ausbreiten. Trotzdem bleibt die territoriale Einschreibung gesundheitlicher Tatsachen für die Ausbreitung oder Nichtausbreitung von Krankheiten, für riskante Lebensweisen etc. entscheidend.« (2008: 5)
(3) Weiterhin beeinflussen die ökonomische Globalisierung, die Ströme von Personen, Kapital und Wissen, die Ungleichheiten zwischen reichen und armen Ländern bzw. zwischen sozialen Welten und die zunehmende Verstädterung die Gesundheit von Bevölkerungen (Vaillant/Salem 2008). Der Zugang zu Medikamenten gegen Malaria und die effektivsten Behandlungen gegen AIDS sind zwei Beispiele aus diesem Netzwerk von Austausch, das zwar dicht geknüpft sein mag, aber diejenigen, die nichts zu seiner Herstellung beitragen können und
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denen es nicht zugute kommt, in Gefahr und zuweilen in lebensbedrohliche Positionen bringt. (4) Schließlich leisten die mit der Globalisierung einhergehenden Ungleichheiten einen erheblichen Beitrag zu einer anderen Form der internationalen Mobilität, nämlich zu Migrationsbewegungen in der Folge ökonomischer oder politischer Zwangslagen. Im Gefolge der Bewegungen von Personen über Grenzen hinweg entsteht eine unübersichtliche Zahl neuer Institutionen, die darauf hinarbeiten, diese Bewegungen einzudämmen und sie Formen der Regulierung zu unterwerfen, die sich in neuen Migrationsgesetzen manifestieren. Diese Veränderungen ziehen die Aufmerksamkeit der Sozialwissenschaften auf sich – nicht nur aufgrund ihrer symbolischen und politischen Implikationen, sondern auch aufgrund der Tatsache, dass es sich hier häufig um Über-Lebenskämpfe handelt. Geschichte des Lebensbegriffes und seine Politisierung Diese sozialen Dynamiken des Lebenden und des Lebens befinden sich gegenwärtig in einer Phase massiven Umbruchs. Nichtsdestotrotz gilt es auch, sie in historischen Prozessen zu verorten. Die Vorstellung, dass das Leben erforscht und möglicherweise auch verstanden werden kann, basiert zunächst natürlich auf seiner Konstituierung als Konzept. Die grundlegende Unterscheidung zwischen dem Lebenden und dem Unbelebten und damit zwischen Lebewesen und Dingen etablierte sich erst im späten 18. Jahrhundert. Wie François Jacob in seiner Geschichte der Biologie zeigt, ist es die hinter der sichtbaren Struktur liegende versteckte Organisation, die den Lebewesen ihre Eigenschaften verleiht. So konnte sich die Vorstellung eines Sets von für Lebewesen spezifischen Eigenschaften herausbilden, das im 19. Jahrhundert dann das ›Leben‹ genannt wurde (Jacob 1970: 53). Historisch gesehen entstanden die Voraussetzungen für das Verständnis und die Konstitution von Leben und Tod als wesenhaft biologische Prozesse vor allem durch den wissenschaftlichen und medizinischen Blick (Kaufman/Morgan 2005). Die Darwinsche Evolutionstheorie und die von der Physiologie des 19. Jahrhunderts entwickelten Konzepte haben die Herausbildung der Lebenswissenschaften befördert, deren explosionsartige Entwicklung und radikale Transformationen weiter oben am Beispiel der Molekularbiologie angerissen wurden. Allerdings wäre es ganz offensichtlich falsch, die Bedeutung des Lebens ausschließlich
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von der Biologie her zu denken. Ebenso stark ist das Leben ganz grundlegend an die Politik gebunden. Michel Foucaults theoretische Arbeiten in diesem Feld sind wegweisend, da sie das Eintreten des Lebens und der Gesundheit in das Feld der politischen Strategien in den Blick nehmen. Zunächst weist Foucaults Begriff der Biomacht auf die Herausbildung einer Macht über das Leben: »Was sich […] im 18. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Entwicklung des Kapitalismus in einigen Ländern des Okzidents abgespielt hat […], war nichts geringeres als der Eintritt des Lebens in die Geschichte – der Eintritt der Phänomene, die dem Leben der menschlichen Gattung eigen sind, in die Ordnung des Wissens und der Macht, in das Feld der politischen Techniken« (Foucault 1977: 169).
Diese Macht agiert auf der Ebene des Individuums und kurze Zeit später auch auf der Ebene der Bevölkerung: Auf der Ebene des Individuums zielt sie auf den Körper ab, um ihn zu disziplinieren und seine Kraft zu intensivieren. Dafür befreit sie ihn von jenen leiblichen, sexuellen und sozialen Gewohnheiten, die seiner Gesundheit abträglich sein könnten. Auf der Ebene der Bevölkerung versucht Biomacht, die Spezies zu überwachen, die als Herausforderung in das Feld der politischen Strategien eingetreten ist, und so unter Zuhilfenahme von Demographie und Epidemiologie ihre Ausbreitung und Langlebigkeit sicherzustellen. Diese beiden Aspekte – die »politische Anatomie des menschlichen Körpers« und die »Biopolitik der Bevölkerung« – agieren nicht unabhängig voneinander. Gesundheitspolitiken formen ein Dispositiv, das sich zugleich um die Behandlung von Kranken, als auch um die Beobachtung, Vermessung und Verbesserung der Gesundheit der Bevölkerung kümmert (Foucault 2001: 731). Die Beziehungen zwischen Politik und Leben sollten nicht nur im Kontext der Herausbildung solcher wissenschaftlichen und medizinischen Rationalitäten betrachtet werden, wie sie weiter oben bereits erwähnt wurden (von pseudowissenschaftlichen Projekten wie Galtons Eugenik soll hier nicht die Rede sein), sondern auch in ihrem Zusammenspiel mit dem zunehmenden Aufkommen und der gezielten Nutzung von Bevölkerungsstatistiken, der Durchsetzung einer städtischen Hygienepolitik, der Ansiedlung von Friedhöfen an Stadträndern, der Überwachung der Körper in Schulen und Gefängnissen etc. Politische Strategien zielen darauf ab, das biologische Leben zu steuern. Dies
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geschieht nicht nur zum Erhalt und der Verbesserung der für die im Kapitalismus unverzichtbare Arbeitskraft, sondern auch als Element einer Geschichte der Lebenswissenschaften, in deren Verlauf nach Möglichkeiten gesucht wurde, das Leben zu verändern, zu bewerten und zu verbessern. Das Spiegelbild des Lebens, den Tod und das Sterben, haben diese politischen Strategien scheinbar außer Acht gelassen – außer wenn sie in der Gestalt von Thanatopolitik (Politiken des Todes) wie beispielsweise bei Genoziden oder anderen rassistischen Praktiken auf den Plan traten. Der Vollständigkeit halber soll hier zumindest kursorisch darauf hingewiesen werden, dass manche Theoretiker/innen die Ansicht vertreten, das Eintreten des Lebens in politische Strategien sei bereits viel früher zu verorten (Agamben 1997) oder folge aus allgemeinen Mechanismen, die sich auch in anderen geschichtlichen Phasen und an anderen Orten finden lassen, so beispielsweise im alten Rom (Fassin 1996: 227). Biolegitimität Dieser kurze historische Überblick soll es ermöglichen, genauer zu verstehen, welche Herausforderungen das Leben in den gegenwärtigen Gesellschaften bereithält. Der Soziologe Nikolas Rose (2008) ruft uns ins Gedächtnis, dass die Menschen ihr Leben, wenn man Max Weber glauben will, an der Soteriologie ausrichten, an einer Heilsdoktrin also, die dem Leiden einen Sinn verleiht, Gründe für das Leiden und auch Wege anbietet, sich von ihm zu befreien. Folgt man Rose, so nimmt die Soteriologie eine zunehmend somatische Gestalt an: Viele Schwierigkeiten werden zumindest in westlichen Gesellschaften in Begriffen von Gesundheit und Lebenskraft identifiziert und interpretiert.3 Dies gestaltet sich so, als seien der Schutz und die Verbesserung eines gesunden Lebens zu einer Art Tugend geworden – mit der ganzen dazugehörigen moralischen Dimension. Damit wird es moralisch verwerflich, sich nicht um seine Gesundheit zu kümmern und dem Leiden seiner Nächsten nicht vorzubeugen. Am Beispiel der weiter oben skizzierten Sachverhalte sollte jedoch auch deutlich geworden sein, dass man diese Diagnose auf jene Gesellschaften bzw. Milieus begrenzen muss, die über die Ressourcen und Fähigkeiten verfügen, die es braucht, um dieses gesunde Leben zu bewahren. Die Technisie3 Ein Beispiel hierfür ist die Ausweitung der Kategorien der psychischen Gesundheit, von der weiter oben bereits kurz die Rede war.
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rung und Verwissenschaftlichung der Medizin führt natürlich keineswegs zu einem Ausgleich von Stratifizierungsprozessen durch sozioökonomische Ungleichheiten – weder in reichen noch in armen Ländern. Ihre Reichweite ist begrenzt. Der von Didier Fassin (2009) entwickelte Begriff der »Biolegitimität« ist hilfreich für ein Verständnis dieser Grenzen. In seinem Konzept wird die zentrale Stellung sichtbar, die Gesundheit in unseren Gesellschaften einnimmt, während zugleich den ungleichen ›Werten‹ verschiedener Leben Rechnung getragen werden kann. So kann die Vorstellung einer globalisierenden Macht, die sich in gleicher Weise auf alle Leben erstreckt, modifiziert werden. Der Begriff der Biolegitimität lenkt die Aufmerksamkeit stärker auf die Bedeutung und den Wert des Lebens als auf die Strategien zu seiner Kontrolle; so beschreibt Fassin eine Macht des Lebens und weniger eine Macht über das Leben (Fassin 2009).
L EBEN IN DEN S OZIAL - UND G EISTESWISSENSCHAFTEN Mit diesen unterschiedlichen Punkten – Biomedikalisierung, Globalisierung, Geschichte und Politisierung des Lebensbegriffs und Biolegitimität – ist der Rahmen umrissen, in den wir unsere Forschungen einschreiben. Bevor wir aber die einzelnen Beiträge genauer vorstellen, werfen wir noch einen kurzen Blick auf jene sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungen, die sich mit dem Leben befasst haben. Im Lauf der letzten Jahre haben sich vier Lesarten des Lebensbegriffs herauskristallisiert, die wir hier kurz skizzieren möchten, ohne dabei zu behaupten, unsere Perspektive sei erschöpfend. Ihnen allen gemein ist eine Bezugnahme auf Foucault.4 Davon abgesehen eröffnen sie jedoch Wege zu unterschiedlichen Forschungsthemen mit durchaus unterschiedlichen Implikationen. Die erste Lesart speist sich aus vor allem italienischen politischen und philosophischen Arbeiten, während die anderen drei sich am Schnittpunkt von Soziologie und Anthropologie verorten lassen und sich vor allem in Großbritannien, in den USA und in Frankreich durchgesetzt haben.
4
Siehe auch (Lemke 2007).
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Nacktes Leben In einer philosophischen Perspektive befasst sich Giorgio Agamben (1997) mit dem Phänomen des Todeslagers und entwickelt daraus die Hypothese, dass die gegenwärtigen Biopolitiken darauf abzielen, das »nackte Leben« hervorzubringen, das auf seine biologische Essenz heruntergebrochen ist, und Bürger/innen produziert, deren politische Existenz durch ihre Körper selbst auf dem Spiel steht: »[Die] Möglichkeit zwischen unserem biologischen Körper und unserem politischen Körper, zwischen dem, was nicht mitteilbar und stumm, und dem, was mitteilbar und sagbar ist, zu unterscheiden, ist uns ein für allemal genommen« (Agamben 2002: 197). Wenn sich diese Arbeiten auch stärker als die ihnen vorangehenden auf historische Prozesse berufen, lässt sich hier doch ein Vergleich zu den Texten von Michael Hardt und Antonio Negri (2000) ziehen. Folgt man dieser philosophischen Analyse, so ist der Übergang zur Biomacht nicht im 17. und 18. Jahrhundert zu verorten, wie Foucault behauptet, sondern in den 1970er Jahren. Er verdanke sich dem Agieren transnationaler Konzerne und Organisationen und habe eine netzartige Struktur hervorgebracht, die die Grenzen der Nationalstaaten überschreite: das so genannte »Empire«. Trotz ihrer theoretischen Leistungen wurden Agambens und Hardt/Negris Arbeiten vor allem aus der Anthropologie und den Science and Technology Studies (STS) heraus dafür kritisiert, maßgebliche Unterschiede zwischen den Mitteln und Zielen verschiedener Biopolitiken zu verschleiern. Das gilt vor allem für die Gleichsetzung der nationalsozialistischen Verbrechen bzw. deren biopolitischen Paradigmen und den gegenwärtigen Politiken. Dieser Kritik zufolge liegt das Problem darin, dass unterschiedliche Kategorien und Prozesse unter einer Makrotheorie subsumiert werden, statt sie differenziert und nuanciert zu analysieren (Rabinow/Rose 2006; Agier 2002). Leben selbst – life itself Im Fokus des zweiten Ansatzes steht der Begriff des »Lebens selbst« [life itself]. Diese analytische Klammer gründet in der Annahme, dass die gegenwärtigen Regierungsmodi nicht mehr nur auf den Schutz der Gesundheit und die Eindämmung von Krankheiten, sondern auch unmittelbar auf die Lebensfähigkeit abzielen, die sie außerdem qualita-
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tiv zu verbessern suchen (Franklin 2000; Rose 2001; Rose 2007). Nikolas Rose vertritt die Ansicht, die Entstehung der Lebenswissenschaften ermögliche einen neuen molekularen Zugriff auf das Leben selbst: »Die Menschen haben gerade eine für sie als biologische Wesen gänzlich neue Erfahrung gemacht: Als biologische Wesen wird ihre körperliche [vital] Existenz zu einer Herausforderung für die Regierung, zu einer Zielscheibe für neue Formen von Autorität und Expert/innenwissen, zu einem massiv aufgeladenen Wissensbereich, zu einem stets wachsenden Territorium, das bioökonomisch ausgebeutet wird, zu einem ethischen Prinzip und zum wichtigsten Gegenstand der Molekularpolitik des Lebens.« (Rose 2007: 4) Rose stützt sich in erster Linie auf die Analyse der Genforschung bzw. genauer gesagt auf die Technologien, die im Kontext der Sequenzierung des Humangenoms in der Genforschung Anwendung finden, und auf die Diagnosen und Therapien, die hier entwickelt – bzw. zumindest versprochen – werden. Rose greift auf Adriana Petrynas Konzept der »biologischen Staatsbürgerschaft« zurück (Petryna 2002). Mit diesem Begriff verweist Rose auf bürgerliche bzw. zivilgesellschaftliche Projekte, die die biologische und bürgerliche Existenz der Menschen in einen unmittelbaren Zusammenhang bringen, und durch die sich Menschen als Individuen, als Männer und Frauen, als Mitglieder von Familien und Abstammungslinien, von Communities, Bevölkerungen und einer Spezies deklinieren lassen. Mannigfaltige Politiken des Lebens Diese Analyse, deren zentrales Argument es ist, das Leben an sich entstehe innerhalb der Biopolitik, wird von vielen Autor/innen geteilt. Eine kritische Erweiterung, vor allem durch Forscher/innen aus dem Bereich der Science and Technology Studies, ergibt sich aus der Argumentation, dass der Begriff der Molekularisierung, so fruchtbar er im Zusammenhang mit den empirischen Erkenntnissen von Rose und seinen Kolleg/innen auch sein mag, die Vielfalt der Produktion wissenschaftlichen Wissens und der Formen, in denen Biopolitik sich manifestiert, nicht abdeckt (Raman/Tutton 2009, siehe auch oben). Sie regen dazu an, nicht nur Individuen, sondern auch Bevölkerungen, nicht nur die Verantwortung von Personen, sondern auch jene Kontroll- und Überwachungsmechanismen mit einer größeren historischen
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Kontinuität und Tiefe in den Blick zu nehmen. Sie weisen ausdrücklich darauf hin, dass »die biologische Existenz der Menschen durch den Bias mehrerer, sich gegenseitig ergänzender und miteinander rivalisierender Diskurse über medizinische Therapien, durch Entscheidungen, die am Beginn und Ende des Lebens getroffen werden, sowie durch das staatliche Gesundheitswesen, durch Umwelt, Migration und Grenzkontrolle politisiert wird; all dies impliziert nicht nur eine, sondern sehr unterschiedliche Lebenspolitiken« (Raman/Tutton 2009: 1).
Aus diesem Grund machen sich diese Autor/innen für das Konzept einer »Vielfalt der Lebenspolitiken« [multiple politics of life] stark. Leben als solches Jenseits dieser Vielfalt hat Didier Fassin (2009) entscheidende Verschiebungen im Hinblick auf den Foucaultschen Begriff von Biomacht und Biopolitik vorgeschlagen. Zunächst legt er dar, dass Biopolitiken, wie Michel Foucault sie analysiert hat, Politiken sind, die eher auf Bevölkerungen abzielen als auf das Leben. Allgemeiner gesprochen beschäftigt Foucault sich in seinen Arbeiten nicht wirklich mit dem Leben, sondern vielmehr mit der Art und Weise, wie Lebewesen als Bevölkerungen und Individuen betrachtet wurden und werden und wie Gouvernementalität und Subjektivierung (d.h. die Konstituierung von Subjekten mit ihren Bestrebungen, Bedürfnissen, Entscheidungen etc.) unsere Sicht auf die Welt und auf die ›Menschheit‹ geprägt haben (Fassin 2009). Nun neigen Analysen der Kunst des Regierens und von Subjektivierungsprozessen dazu, die Bedeutung und die Folgen der Regierungspraktiken für das Leben der Einzelnen kaum zu beachten. Analog zu der Analyse der Politiken des Lebens selbst, wie sie weiter oben beschrieben wurden, schlägt Didier Fassin vor, eine andere Anthropologie des Lebens zu erarbeiten und dafür das Leben, wie es ›als Körper‹ (und nicht nur ›als Ansammlung von Zellen‹) und ›als Gesellschaft‹ (und nicht nur ›als Spezies‹) gelebt und erlebt wird zu erforschen. Dieses Leben, das Fassin als »Leben als solches« [life as such] bezeichnet, lässt sich als Menge der Ereignisse fassen, die zwischen Geburt und Tod geschehen. Das »Leben als solches« kann durch Gesundheits- und Sozialpolitik verlängert, aber auch durch Gewalt verkürzt werden. Auf der Grundlage von Daten zu unterschiedlichen Lebensrealitäten (Collier/Lakoff 2005), die in sorgfältig ausgearbeite-
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ten Studien über die Implikationen von Lebenspolitiken in den so genannten Ländern des globalen Südens oder bei marginalisierten Bevölkerungen erhoben wurden, lässt sich der Blick so auf die gesellschaftlichen, materiellen und ethischen Folgen von Lebenspolitiken und den damit einhergehenden Praxen richten. Hier schöpft Didier Fassin eher aus den Arbeiten von Hannah Arendt und Walter Benjamin als aus denen von Michel Foucault.
D IE K APITEL
DIESES
B ANDES
In der Vielfalt der Gegenstände, die in sozial- und geisteswissenschaftlichen Forschungen über das Leben behandelt werden, spiegelt sich eine enorme Themenvielfalt. Die Polysemie des Lebensbegriffs verweist auf Technologien, die bei der medizinisch assistierten Reproduktion zum Einsatz kommen, ebenso wie auf staatliche Gesundheitspolitiken, auf das Leben in Lagern, auf Genozide, auf physische Gewalt usw. Unser Beitrag zu diesem Forschungsfeld ist auf Analysen von Gesundheit, Biomedizin und die hier zum Einsatz kommenden Technologien beschränkt. Trotzdem möchten wir darauf hinweisen, dass dieser Band dem Sozialen und dem Politischen einen ebenso zentralen Platz einräumt wie dem Medizinischen oder dem Biologischen: Unser Ziel ist es, gerade die Verknüpfungen zwischen diesen Feldern zu untersuchen und dabei in den Blick zu nehmen, was sie gemeinsam hervorbringen. So geht es uns um die gleichzeitige Produktion der sozialen und biologischen Leben der Menschen, und um eine Untersuchung ihrer epistemologischen Grundlagen wie auch ihrer politischen Effekte und der Werte, in denen diese Leben gründen. Wir versuchen zu zeigen, wie Wissensformen, Technowissenschaften, Gesundheitspolitiken und Krankheitserleben das Leben prägen, seine Wahrnehmung verändern, soziale Unterschiede verwalten und Differenz produzieren – oder dies auch nicht tun. Spannungen zwischen technischen Neuerungen und der Stabilität traditioneller sozialmedizinischer Regimes, zwischen für alle Mitglieder einer Gesellschaft geltenden Gesundheitspolitiken und sozialen Ungleichheiten, zwischen lokalen Besonderheiten und der globalen Zirkulation von Wissen werden auf diese Weise sichtbar gemacht.
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Wir stützen uns auf den weiter oben kursorisch skizzierten Korpus sozial- und geisteswissenschaftlicher Arbeiten und möchten davon ausgehend einen Raum für drei perspektivische Verschiebungen im Blick auf das Feld der Gesundheit, der Biomedizin und des Lebens öffnen: 1. Zunächst ist uns daran gelegen, die politischen Dimensionen stärker in die Analysen zu integrieren, als es bisher in Studien üblich ist, die sich mit Wissenschaft und Technologie beschäftigen. Zu den Fragestellungen an die Politik gehört nicht nur die Konstituierung der Subjekte, sondern auch die Position marginalisierter oder benachteiligter Bevölkerungen in den Dispositiven, die das Leben betreffen, die Konstruktion bzw. Transformation nationaler und regionaler Identitäten und das Thema der Migration und Grenzkontrolle. Hier soll auch der Frage nachgegangen werden, inwiefern Bürger/innen für ihre eigene Gesundheit verantwortlich sind und wie Machtbeziehungen und ihre Effekte im Zusammenhang mit unterschiedlichen sozialen Positionierungen, in Diskursen und auch in Praxen zum Tragen kommen. 2. Des Weiteren rücken der Alltag und das Erleben kranker Personen und der ihnen nahestehenden Personen sowie die täglichen Praxen des medizinischen Personals in den Mittelpunkt der Analysen. Damit möchten wir neben dem Leben auch dem Gelebten einen zentralen Platz einräumen und gleichzeitig das Verhältnis zwischen Lebendem und Gelebtem beleuchten. Die Verknüpfung dieser beiden Perspektiven, die traditionelle disziplinäre Ausrichtungen der Medizinanthropologie und der Wissenschaftsforschung widerspiegeln, ermöglicht so eine dichtere Beschreibung der Alltage innerhalb der Zonen des Existenziellen. 3. Schließlich möchten wir neben der Molekularbiologie und der Genetik – die im Kontext des gegenwärtigen biomedizinischen Wissens und des Wissens über uns selbst zweifellos eine Schlüsselfunktion besitzen – noch weitere Wissensformen in die Analyse mit einbeziehen. Die zentrale Stellung der Biologie führt Sozialwissenschaftler/innen manchmal dazu, andere, bereits länger bestehende Betrachtungsweisen, mit denen Biomacht klassischerweise analysiert wird, zu vernachlässigen. Dazu gehören die Epidemiologie, das staatliche Gesundheitswesen und Statistiken. Alle drei prägen nach wie vor, wie das Leben betrachtet, transformiert, Werturteilen unterworfen und politisch gesteuert wird. Anders gesagt: Wir möchten zwar die neuen
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Entwicklungsschritte der biomedizinischen Forschung und der Lebenswissenschaften in den Blick nehmen. Gleichzeitig ist uns jedoch daran gelegen, der Vielfalt der Situationen gerecht zu werden, die nicht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den neuen Lebenstechniken stehen. Dieser Band führt anthropologische und soziologische Beiträge zusammen, denen in allen Fällen die Analyse von alltäglicher Praxis am Herzen liegt. Die Forschungen, die den Beiträgen zugrunde liegen, basieren auf Gesprächen bzw. ethnographischer Feldforschung in einer Vielzahl von Institutionen von Kliniken bis zu Kindergärten und mit verschiedensten Akteuren von medizinischem Personal über führende Mitglieder von Nicht-Regierungs-Organisationen bis zu kranken Personen und deren Familienmitgliedern. Darüber hinaus stützen sich die Analysen auf die Analyse der wissenschaftlichen und grauen Literatur, sowie weiterer öffentlicher Medien. In dieser Quellenvielfalt spiegeln sich unterschiedliche Perspektiven. So wird dem Erleben kranker Personen ebenso viel Platz eingeräumt wie dem Wissen um Krankheiten, politischen Debatten und ethischen Fragestellungen. Mit dieser Herangehensweise haben wir versucht, mikrosoziale Prozesse mit allgemeineren strukturellen Vektoren ökonomischen, politischen und sozialen Charakters zusammenzudenken. Die Forschungen wurden zwar in erster Linie in Europa durchgeführt. Wir haben uns jedoch dafür entschieden, den Band mit einem Beitrag zu eröffnen, dem eine in Südafrika durchgeführte Forschung zugrunde liegt. Das erlaubt uns eine erweiterte Perspektive auf das Leben in der gegenwärtigen Welt und bewahrt uns gleich zu Beginn vor einem Blick, der auf EuroAmerika beschränkt ist. Alle weiteren Forschungen wurden vor allem in Frankreich und Deutschland durchgeführt, aber auch in Zypern und Großbritannien. Einen formalen Ländervergleich bietet jedoch keiner der Beiträge. Das Buch versammelt 11 Kapitel. Den Auftakt machen zwei Beiträge, die sich mit dem Leben befassen, wie es von kranken Personen ge- und erlebt wird. Hier geht es um die Vermittlung zwischen Existenz und der Bedeutung von Politik und Ethik. Ausgehend von dem letzten Gespräch zwischen dem Journalisten Jean Birnbaum und Jacques Derrida über das »Überleben« und auf der Grundlage des Erlebens von AIDS-Kranken in Südafrika versucht Didier Fassin, den Dualismus von biologischem und politischem Leben zu überwinden,
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der so vielen Forschenden und Studierenden als heuristisch gilt. Fassin macht hier eine nicht nur theoretische, sondern auch ethische Position stark und rehabilitiert so die »bloße Tatsache des Lebens« im Benjaminschen Sinne als »gutes Leben«. In einer ebenfalls ethnographischen Herangehensweise zeigt Stefan Beck auf der Basis kontinuierlicher Feldforschung über Knochenmarksspenden in Zypern, wie das Leben der Kranken die politischen, biologischen, kulturellen und sozialen Konflikte zwischen den türkischen und griechischen Gemeinschaften auf Zypern überschreitet. Seine Analyse stellt einen Ausgangspunkt dar, darüber nachzudenken, welche sozialen Handlungsmöglichkeiten, Identitäten und von der Biomedizin geschaffenen Beziehungen in und zwischen Nationalstaaten und darüber hinaus bestehen, und welche Rolle Wissenschaft, Politik und Ethik darin spielen. Die folgenden drei Beiträge von Boris Hauray, Bertrand Pulman und Thomas Lemke/Malaika Rödel widmen sich mittels praxisnaher diskursanalytischer Techniken gleichfalls ethischen und politischen Fragen, die hier aber um die neuen Lebenstechniken kreisen. So untersucht Boris Hauray die Art und Weise, in der das Thema der Embryonenforschung in Frankreich, Deutschland und Großbritannien konstruiert, diskutiert und interpretiert wird. Dabei stützt er sich auf eine Analyse der entsprechenden offiziellen Diskurse. Er zeigt, wie dieses Problem von der Politik vereinnahmt wird und öffentliche Debatten auslöst, gleichzeitig aber Gegenstand einer Entpolitisierung zu sein scheint, da es aus der genuin politischen Auseinandersetzung herausgedrängt wird. Bertrand Pulman widmet sich den neuen Reproduktionstechnologien und den damit einhergehenden Praxen und analysiert ihre zunehmende Einflussnahme auf soziale Beziehungen und Selbst-Verständnisse. Er legt den Entwicklungsstand dieser Technologien und die bereits umgesetzten Fortschritte detailliert dar und zeichnet zugleich bestimmte Debatten und Probleme nach, die mit ihnen einhergehen. Besonders ausführlich beleuchtet er dabei das Konzept der liberalen Eugenik. Malaika Rödel und Thomas Lemke richten ihr Interesse auf die Verwendung von DNA-Tests im Zusammenhang mit Migration und Familienzusammenführungen in Deutschland. Dabei geben sie zunächst einen Überblick über den historischen Kontext und dessen gegenwärtige Bedeutung, um anschließend die juristischen, sozialen und technischen Probleme und Folgen aufzuzeigen, die sich hier ergeben. Zum Abschluss diskutieren sie diese Praxen vor dem
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Hintergrund einer kritischen Lesart der Konzepte der »Genetisierung« der Gesellschaft und der »biologischen Staatsbürgerschaft«. Während sich diese drei Beiträge also regulativen Diskursen und Politiken widmet, beschäftigen sich Joëlle Vailly, Katrin Amelang und Carine Vassy/Marie-France Couilliot in den folgenden drei Beiträgen anhand ethnographischer Forschungen in Krankenhaus-Settings mit der Untersuchung des Lebens vom Standpunkt klinischer Praxen und des Erlebens von Patient/innen. Joëlle Vailly untersucht am Beispiel einer genetischen Krankheit, der Mukoviszidose, wie das Ziel der Bewahrung nicht nur der »Lebensqualität«, sondern auch dessen, was sie ein »gutes Leben« nennt, mit Hilfe von Screeningpraxen verfolgt wird. Sie legt dar, wie die Strategien, mit denen die Krankheit vor und nach der Geburt diagnostiziert wird, sich zueinander verhalten, so dass ein Spannungsverhältnis um die anthropologische Schwelle der Geburt entsteht. Katrin Amelang widmet sich der Frage, wie Normalität im Leben von Kranken nach einer Organtransplantation definiert wird. Ihr Material hat sie im Verlauf einer Studie in einem Zentrum für Lebertransplantationen zusammengetragen. Sie stellt vier Definitionen von Normalisierung zur Diskussion, die sich in einer Spanne bewegen, die von chemischen Analysen bis hin zu den Alltagserfahrungen der Transplantierten reicht. Dabei werden vor allem die vielfältigen Verschränkungen verschiedener Alltage deutlich. Carine Vassy und Marie-France Couilliot schließlich untersuchen in einer Notaufnahme in der Region Paris die Konsequenzen, die Krankenhauspolitik und strukturelle bzw. administrative Zwänge auf die Versorgung von sich am Ende ihres Lebens befindenden Patient/innen haben. An zentraler Stelle steht hier die Frage, wie Patient/innen am Lebensende als solche definiert werden. Die Autorinnen können zeigen, dass für die Versorgung von Patient/innen am Lebensende, die nicht innerhalb kürzester Zeit sterben, niemand zuständig zu sein scheint. Der Band schließt mit drei Beiträgen von Jörg Niewöhner/Michalis Kontopodis, Janina Kehr und Susanne Bauer, die die Frage aufwerfen, wie man in der Untersuchung von Wissensformen und Praxen im staatlichen Gesundheitswesen und in der Wissenschaft der Bedeutung des sozialen Lebens gerecht werden kann. Auf der Grundlage einer ethnographischen Studie, die von molekularbiologischen Laboren bis zu Präventionsprogrammen in Kindergärten reicht, analysieren Jörg Niewöhner und Michalis Kontopodis am Beispiel von Herz-KreislaufErkrankungen die Stichhaltigkeit der Konzepte der Molekularisierung,
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Optimierung und Subjektivierung, wie Nikolas Rose sie vorgelegt hat. Die Autoren räumen diesen Begriffen Relevanz ein, betonen jedoch auch, dass die Herausbildung eines neuen Körperkonzeptes und die Renaissance stärker paternalistischer Auffassungen von Prävention nicht ohne weiteres unter Optimierung und Subjektivierung gefasst werden können. Janina Kehr analysiert, wie das sozialen Leben von Kranken, das nur selten im Zentrum der biomedizinischen Aufmerksamkeit steht, von den Mitarbeiter/innen eines Tuberkulosezentrums verstanden wird. Sie zeigt, wie das soziale Leben im Rahmen von »Umgebungsuntersuchungen« nicht nur als Summe von Infektionsbeziehungen, sondern ebenso als »dichter Alltag« gefasst wird. Dabei sind lokale Arbeitsethiken im Spiel, in denen nicht nur den Zielen staatlicher Gesundheitsfürsorge, sondern auch den sozialen und politischen Lebensbedingungen der Kranken Rechnung getragen wird. Susanne Bauer schließlich stützt sich auf ethnographische Beobachtungen und Dokumente, um zu analysieren, wie »das Soziale« in epidemiologischen Forschungen berücksichtigt wird. Sie analysiert die unterschiedlichen statistischen und konzeptuellen Operationalisierungen des Sozialen in diesem Forschungsbereich und die Art und Weise, in der die Forschenden Konzepte wie »Veranlagung« und »Suszeptibilität« übersetzen. Ihr gelingt es damit zu zeigen, wie »das Soziale« doppelt situiert wird, nämlich als lokal gebundener Indikator für Sozialstruktur und als lokale Wissenspraxis. Wir hoffen, dass dieser Band, um mit Mitchell Dean zu sprechen (1999: 99), die Frage nach »Leben in Gesellschaft« als Frage nach den »gesellschaftlichen, kulturellen, ökonomischen, geographischen und Umweltbedingungen [stellt], unter denen Menschen leben, sich fortpflanzen, erkranken, gesund bleiben bzw. werden und sterben«. Und wir hoffen, dass die hier zusammengestellten Beiträge sich in angemessener Weise ebenso mit Wissen und Technologien, wie auch mit dem Leben in urbanen Kontexten, mit Krankheiten und Leiden, mit Familie und alltäglichen sozialen Beziehungen befasst haben. Denn es ist das Verständnis der zunehmenden Verschränkung dieser Phänomene, das für die Analyse individueller und kollektiver Alltagspraktiken zunehmend an Bedeutung gewinnt (Fassin 1996).
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Von den Politiken des Lebens zur Ethik des Überlebens Ein genealogischer und biographischer Ansatz1
D IDIER F ASSIN
»Lange vor den Erfahrungen des Überlebens [survivance], die ich gerade gegenwärtige, [habe ich] betont, daß das Überleben [survie] ein ursprünglicher Begriff ist, der die Struktur selbst dessen darstellt, was wir Existenz oder Dasein nennen. Wir sind strukturell gesehen Überlebende, die durch die Struktur der Spur, des Testaments geprägt sind. Wenn ich dies sage, möchte ich aber keinesfalls jener Interpretation freien Lauf lassen, derzufolge das Überleben eher auf der Seite des Todes und der Vergangenheit steht als auf der des Lebens und der Zukunft. Nein, die Dekonstruktion steht immer schon auf der Seite des Ja, der Bejahung und Behauptung des Lebens.« (Derrida 2005: 62)
Einige Wochen vor seinem Tod führte Jacques Derrida mit dem Journalisten Jean Birnbaum sein wohl letztes philosophisches Gespräch. Im Verlauf dieser Unterhaltung entwickelte er ausführlich und in vielen Denkschlaufen und Wiederholungen ein Konzept des Lebens als
1 Der vorliegende Text hat seinen Ursprung in einem kurzen Vortrag, den ich anlässlich der am 11. Dezember 2004 stattgefundenen Trauerfeier für Jacques Derrida an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales verfasst habe. An dieser Stelle möchte ich die Gelegenheit ergreifen, meine Gedanken weiter auszuführen. Eine deutlich abweichende englischsprachige Fassung erscheint in Kürze in der ersten Ausgabe der Zeitschrift Humanity. An International Journal of Human Rights, Humanitarianism and Development. Mein Dank gilt Joëlle Vailly für ihre hilfreichen Anmerkungen.
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Überleben.2 Im Wissen darum, an einer tödlichen Krankheit zu leiden, räumte er gleich zu Beginn des Gesprächs ein: »Da […] gewisse gesundheitliche Probleme immer dringlicher werden, stellt sich mir die Frage des Überlebens oder des Aufschubs, der Frist, die mich schon immer, in jedem Moment meines Lebens ganz konkret und unermüdlich heimgesucht hat – im wahrsten Sinne des Wortes –, heute anders.« (Ebd.: 32) Und im Verweis auf eine Formulierung, die er in einem seiner Bücher eingeführt hatte (»Ich möchte endlich lernen, endlich lehren, zu leben«; ebd.: 28), fügte er mit beißender Ironie hinzu: »Nein, ich habe niemals leben-gelernt. Ganz und gar nicht! Zu leben lernen, das müßte bedeuten, zu sterben lernen […] Ich habe nicht gelernt, den Tod zu akzeptieren. […] [I]ch bleibe unerziehbar, was die Weisheit des Zu-sterben-Wissens […] betrifft.« (Ebd.: 30f.) Jenseits der Dringlichkeit der »Zeit des Aufschubs, [die] immer schneller [schrumpft]« (ebd.: 31) – einer Dringlichkeit, gegen die Derrida sich übrigens nicht ohne Humor wehrte; so stellte er beispielsweise fest: »[W]ir sind hier nicht für ein ärztliches Bulletin zusammengekommen« (ebd.: 28) –, stellt sich währenddessen die allgemeinere Frage des Überlebens, die er in den Blick nehmen möchte: »Ich habe mich schon immer für dieses Thema des Überlebens interessiert, dessen Sinn nicht zusätzlich zum Leben oder zum Sterben hinzutritt. Es ist etwas Ursprüngliches: Leben ist Überleben.« (ebd.: 32) Tatsächlich sind diese beiden Dimensionen in seinen Augen eng miteinander verschränkt: In der persönlichen Erfahrung wiederholt sich die existenzielle Erfahrung; die konkrete Herausforderung lässt die strukturelle Tatsache akuter und schmerzhafter erscheinen. Wie sonst wäre es zu verstehen, dass die Reflexion über das Überleben im Angesicht des Todes so drängend geworden ist, dass sie über die gesamte Gesprächsdauer hinweg immer wieder zurückkehrt? Bis hin zu diesem abschließenden Glaubensbekenntnis: »Alles, was ich […] über das Überleben als Komplikation des Gegensatzes von Leben und Tod gesagt habe, rührt bei mir von einer unbedingten Bejahung des Lebens her. Überleben, das heißt eben über das Leben hinaus leben, mehr Leben als das Leben, und meine Rede ist keine todbringende Rede, sondern im Gegenteil die Affirmation eines Lebenden, der das Leben 2 Das Gespräch erschien am Donnerstag, 19. Juli 2004, unter dem Titel »Jacques Derrida: ›Ich befinde mich im Krieg gegen mich selbst‹« in Le Monde, S. 12-13. Auf Deutsch erschien das Gespräch 2005 in Buchform im Wiener Passagen Verlag.
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[le vivre] und also das Überleben [le survivre] dem Tod vorzieht, denn Überleben, das ist nicht einfach das, was übrigbleibt, es ist das Leben in seiner größtmöglichen Intensität.« (ebd.: 63) In diesem Beitrag möchte ich zeigen, dass eine Auffassung des Lebens als Überleben in ihrer Polysemie und Ambivalenz eine Alternative zu jenen Lebenskonzepten sein kann, die von Benjamin bis Agamben und in einer anderen Sichtweise auch von Lamarck bis Canguilhem eine zugleich verführerische und vereinfachende Perspektive auf das Leben eröffnen, von der die Sozialwissenschaften nach wie vor maßgeblich geprägt sind. Hier kommt das doppelte Erbe der aristotelischen Philosophie zum Tragen. Auf der einen Seite steht das Leben als biopolitische Tatsache: »Die Heiligkeit des Lebens, die man heute gegen die souveräne Macht als fundamentales Menschenrecht in jedem fundamentalen Sinn geltend machen möchte, meint ursprünglich gerade die Unterwerfung des Lebens unter eine Macht des Todes«, wie es Giorgio Agamben in seinem Buch Homo Sacer formuliert, in dem er seine Theorie des »nackten Lebens« entwickelt (2002: 93). Er spricht hier von einem Kontinuum der Macht über das Leben, das von der Politisierung des Lebens in totalitären Systemen zur Isolation des heiligen Lebens in den gegenwärtigen Demokratien reicht.3 Auf der anderen Seite kann das Leben als biologisches Phänomen begriffen werden: »Lebendig und Gegenstand des biologischen Wissens ist das, was von der Erfahrung gegeben ist und worüber sich eine Geschichte schreiben lässt, die von seiner Geburt bis zu seinem Tod reicht«, schreibt Georges Canguilhem in seinem Beitrag über das »Leben« in der Encyclopedia Universalis. Ausgehend von einem rein naturwissenschaftlichen Modell legt er die Entwicklung der biologischen Theorien dar, die beim »Leben als Beseelung« anfängt und über die Vorstellung des »Lebens als Mechanismus« und des »Lebens als Organisation« schließlich beim »Leben als Information«, also bei der Genetik, aufhört – bekanntermaßen wird das Genom häufig als der »Code des Lebens« bezeichnet.4 Anders gesagt stellt die erste dieser
3 Wie man weiß, wurde Giorgio Agamben für sein Konzept der »innersten Solidarität zwischen Demokratie und Totalitarismus«, das Homo Sacer (2002) stark prägt, vielfach heftig kritisiert. 4 Es ist auffällig, dass der einzige Artikel der Encyclopedia Universalis (1990), der sich dem Lebensbegriff widmet, ausschließlich diejenige Dimension des Lebenden berücksichtigt, die auf jenen Wissenschaften basiert, die das Leben zum Gegenstand haben. Ebenso bemerkenswert ist auch, dass es in dem
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beiden Lesarten das Leben als etwas dar, dem mit einem gewaltsamen Tod ein Ende gesetzt werden kann; die zweite Lesart hingegen postuliert das Leben als das, was sich von der Geburt bis zum Tod erstreckt. Im ersten Fall handelt es sich um die ›tragische‹ biopolitische Sichtweise; im zweiten Fall hat man es mit dem nüchternen Blick der Naturwissenschaften zu tun. Die Sozialwissenschaften haben lange aus dieser doppelten Verfasstheit geschöpft: Die erste Perspektive ermöglicht es, die Regierung von Bevölkerungen und Menschen zu theoretisieren, die zweite hat der Soziologie und der Anthropologie der Biowissenschaften und Biotechnologie Nahrung gegeben. Trotz ihrer Unterschiede beruhen beide Modelle allerdings auf der gleichen Grundlage: auf dem Verständnis des Lebens als etwas Körperliches – ob es sich nun um das nackte Leben oder um das biologische Leben handelt. Was das biologische Leben angeht, so führen uns beide Theoretiker auf verschiedenen Wegen vor Augen, dass die Menschen es mit den Tieren gemein haben, und dass es sich unter Berufung auf eine politische oder wissenschaftliche Begründung vom Leben als existenziellem Phänomen abgrenzen lässt – unabhängig davon, ob man dieses, wie Agamben, »qualifiziertes Leben« oder wie Georges Canguilhem das »Gelebte« nennt.5 Es scheint mir, dass Jacques Derrida diese Unterscheidung in seinem letzten Gespräch mit seinen Überlegungen ins Wanken bringt: Im »Überleben« verschränkt sich das durch Krankheit gefährdete körperliche Leben ununterscheidbar mit der existenziellen Erfahrung, die sich in Derridas Texten ausdrückt. Überleben bedeutet, sich noch mitten im Leben zu befinden und gleichzeitig über den Tod hinaus fortzuleben. Überleben ist also die »bedingungslose Bejahung« des Lebens und der Lebenslust und gleichzeitig die Hoffnung eines »Überlebens« durch eine den anderen Menschen hinterlassene Spur. Ich glaube, hinter dieser Erkenntnis steht mehr als die letzte Äußerung eines Philosophen, dessen Denken nicht unbedingt als klar und einfach gilt. Ich sehe hier eine ethische Geste am Werk, die sich für von Monique Canto-Sperber herausgegebenen Dictionnaire d’éthique et de philosophie morale (1996) keinen Eintrag zum Begriff »Leben« gibt. 5 Canguilhem zufolge (1994: 335) muss man zwischen dem Partizip Präsens und dem Partizip Perfekt des Verbs »leben« unterscheiden, also zwischen dem Lebenden und dem Gelebten. Agamben wiederum (2002) verweist auf den Gebrauch des Wortes bíos bei Platon und Aristoteles im Kontrast zur zoé und spricht von einem »qualifizierten Leben«, das er dem »nackten Leben« gegenüberstellt.
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das Leben in seiner offensichtlichsten und banalsten Dimension ausspricht: für ein Leben nämlich, dessen Horizont der Tod ist, das sich aber trotzdem nicht vom Leben als soziale Form abgrenzen lässt, das in eine Geschichte, eine Kultur, eine Erfahrung eingeschrieben ist. Die Tragweite dieser Geste, so scheint mir, hat wichtige Implikationen für die Sozialwissenschaften; diesen Gedanken möchte ich hier entwickeln. Unter dem Einfluss jener zwei philosophischen Lebenskonzepte, die ich weiter oben beschrieben habe, neigen Anthropologie und Soziologie gegenwärtig tatsächlich häufig dazu, die Unterscheidung zwischen den in diesen Konzepten implizierten Lebensformen6 – biologisches und qualifiziertes Leben, körperliche Existenz und exstenzielle Erfahrung – für bare Münze zu nehmen. Ein solcher Reduktionismus hat, wenn er bei der Analyse der Lebenswissenschaften auf den Plan tritt, natürlich seine Daseinsberechtigung, auch wenn er dazu tendiert, seine Definition des Lebens mit einem hegemonialen Gestus zu präsentieren bzw. mögliche andere Definitionen außer Acht zu lassen. Einige Theoretiker/innen sprechen sogar vom »Leben selbst.« 7 Kommt dieser Reduktionismus jedoch bei der Analyse der Regierung der Lebenden zum Tragen, dann hat das oft zur Folge, dass das Leben von Gruppen oder Individuen, die von der Gesellschaft auf ihr nacktes Leben reduziert werden – Flüchtlinge, in Armut lebende Personen, Ausgeschlossene, Marginalisierte, Kranke –, als weniger wertvoll herabgewürdigt wird. Ich selber war für diesen Ansatz, den ich als ›tragisch‹ bezeichnet habe, empfänglich8; auch gegenüber meinen Kolleg/innen und Studierenden habe ich Faszination für dieses Paradigma des nackten Lebens geäußert. Insofern hege ich eine besondere Vorsicht gegenüber den nicht nur intellektuellen, 6 Dieser Ausdruck ruft uns natürlich die Formulierung von Wittgenstein (2001) in Erinnerung. Jenseits der theoretischen Diskussionen, die sie angestoßen hat, darf man nicht vergessen, dass der Verfasser der Philosophischen Untersuchungen kein Konzept aus diesem Begriff entwickelte und ihn im allgemeinsprachlichen Sinn verwendete, so wie ich das an dieser Stelle auch tue. 7 Das gilt z.B. für Sarah Franklin (2000) und im weiteren Sinn für Nikolas Rose (2001). Beide sprechen im Grunde genommen so über Lebenswissenschaften und biomedizinische Praxen, als ob die grundlegende Wahrheit über das Leben in der lebenden Materie (also in der Zelle oder im Genom) zu finden sei. 8 Vgl. vor allem meine Arbeiten über Nothilfe für Arbeitslose (Fassin 2000), über die Regulierung kranker ›Ausländer/innen‹ (Fassin 2001) und über die Kontroversen in Südafrika im Kontext von AIDS (Fassin 2007).
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sondern auch ethischen Gefahren, die der ungenaue Gebrauch dieses Konzepts in den Sozialwissenschaften mit sich bringt. Daher konzentriere ich mich in diesem Text ausschließlich auf seine biopolitische Lesart, nicht aber auf seine biologische. In einem ersten Schritt werde ich versuchen, die Genealogie dieser tragischen Sichtweise auf das politische Leben nachzuzeichnen. Sie reicht von Walter Benjamin über Hannah Arendt bis zu Giorgio Agamben (warum Foucault hier keine große Rolle spielt, zeige ich weiter unten). Statt herauszuarbeiten, wie sich eine notwendige Linie aufgedrängt hat, möchte ich gerne zeigen, dass bestimmte Entscheidungen getroffen wurden: Die Analyse der Lebenspolitiken hätte durchaus auch andere Wege nehmen können. In einem zweiten Schritt werde ich Lebenswege in Südafrika im Zeitalter von AIDS beschreiben; dafür greife ich auf die Biographien von AIDS-Kranken zurück. Am Ende dieser Reihung steht die Biographie des berühmten Zachie Achmat. Als ich meine Forschungen in Südafrika durchführte, war ich gerade dabei, das Gespräch mit Derrida zu lesen, und mir fiel sofort ins Auge, wie sehr seine Worte sich in den Äußerungen widerspiegelten, die ich im Feld gehört hatte und hörte. Es ist dieses Zusammenspiel, das mir die anthropologischen Implikationen jenes Lebenskonzepts erschlossen hat, das Derrida postuliert.
G ENEALOGIE »Überleben im landläufigen Sinne bedeutet fortfahren zu leben, aber auch nach dem Tod leben, erläutert Derrida in dem Gespräch (2005: 32). Und er fügt hinzu: »In Bezug auf die Übersetzung betont Walter Benjamin die Unterscheidung zwischen Überleben, den Tod überleben, wie ein Buch den Tod seines Autors oder ein Kind den Tod seiner Eltern überleben kann, einerseits und dem Fortleben, living on, fortfahren zu leben, andererseits.« In seiner Bezugnahme auf Benjamin bringt Derrida also die doppelte Bedeutung zur Sprache, die er der Erfahrung des Überlebens zuschreibt: über das Leben hinaus leben und immer noch leben, an der Grenze zwischen dem Biographischen und dem Biologischen. Von dieser Bedeutung ist bei Theoretiker/innen, die sich in Benjamins Nachfolge sehen, allerdings kaum etwas zu vernehmen. Wer sich auf Benjamin beruft, verweist vielmehr auf seine Kritik der Gewalt. Entsprechend möchte ich diese vergessenen Alternativen
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und tragischen Entscheidungen nachvollziehen und auf diesem Weg die Genealogie der zeitgenössischen Lebensphilosophien schreiben. Die bloße Tatsache des Lebens In seinem berühmten Aufsatz über die »Aufgabe des Übersetzers« (1972: 9-21) leistet Walter Benjamin die folgende bemerkenswerte Engführung: »So wie die Äußerungen des Lebens innigst mit dem Lebendigen zusammenhängen, ohne ihm etwas zu bedeuten, geht die Übersetzung aus dem Original hervor. Zwar nicht aus seinem Leben so sehr denn aus seinem ›Überleben‹.« (ebd.: 10). Man kann also von einem Leben des Originals und von einem Überleben vor allem durch seine »Übersetzung«, aber auch durch seinen »Ruhm« sprechen (ebd.: 11) – und in einem weiteren Sinn von einem Leben, das sich seiner Materialität entzieht. Dank dieser Intuition kann Benjamin vom literarischen Werk zu einer allgemeineren Reflexion über das Leben gelangen: »Denn von der Geschichte, nicht von der Natur aus […], ist zuletzt der Umkreis des Lebens zu bestimmen. Daher entsteht dem Philosophen die Aufgabe, alles natürliche Leben aus dem umfassenderen der Geschichte zu verstehen.« Was für das Kunstwerk gilt, gilt auch für den Menschen. Die umfassende Anerkennung seines Lebens liegt in dieser Geschichte, in die sich die Natur einschreibt – anders als etwa bei Georges Canguilhem, für den das Lebende umgekehrt über das Gelebte »befiehlt« (1994: 335). Die Biographie obsiegt über die Biologie, und die Geschichte obsiegt über die Natur. Zwei Jahre früher hatte Benjamin einen Aufsatz mit dem Titel »Zur Kritik der Gewalt« veröffentlicht, in dem er seine Gedanken über revolutionäre Gewalt nicht ohne Sinn für Dramatik zur Sprache bringt: »Falsch und niedrig ist der Satz, daß Dasein höher als gerechtes Dasein stehe, wenn Dasein nichts als bloßes Leben bedeuten soll.« (vgl. 1965: 29-77) Diese Unterscheidung präzisiert er im Folgenden: »Der Mensch fällt eben um keinen Preis zusammen mit dem bloßen Leben des Menschen, so wenig mit dem bloßen Leben in ihm wie mit irgendwelchen andern seiner Zustände und Eigenschaften, ja nicht einmal mit der Einzigkeit seiner leiblichen Person.« Anders gesagt: Wenn »der Mensch [heilig] ist«, dann nicht aufgrund seines »leiblichen Lebens«, wie das »Dogma von der Heiligkeit des Lebens« nahelegt. So legt Benjamin dar, dass in seinen Augen nicht jede Form von Gewalt verwerflich ist: Die »rechtsetzende, welche die schaltende [Ge-
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walt] genannt werden darf«; und die »rechterhaltende, die verwaltete Gewalt, die ihr dient«, sind zu verurteilen; im Gegensatz dazu ist Gewalt, die für einen höheren Zweck gegen andere Menschen verübt wird, nicht unbedingt verwerflich: Solche Gewalt nimmt zwar keine Rücksicht auf das »bloße Leben«, aber auf »dasjenige Leben in ihm, welches identisch in Erdenleben, Tod und Fortleben liegt.« Zum Leben gehört also etwas, das sich nicht auf seine körperliche Dimension beschränken lässt, sondern diese Dimension vielmehr beinhaltet und überschreitet. Die Formulierung »bloßes Leben«, die also eine Kritik an der »Heiligkeit des Lebens« darstellt, ist vielfach kommentiert und vor allem von jener philosophischen Tradition aufgegriffen worden, die die tragische Sichtweise der Sozialwissenschaften geprägt hat. Dies gilt es zu durchdringen und in seiner Tragweite zu verstehen. Zunächst entsteht so in dem heiligen Charakter des menschlichen Lebens eine Unterscheidung zwischen der Einzigartigkeit der physischen Person und der Kontinuität des Lebens über seine bloße physische Dimension hinaus. Zweitens begünstigt diese Perspektive eine Hierarchie zwischen beiden Aspekten, in der die Existenz über das bloße Leben gesetzt wird. Hier vollzieht sich also eine zweifache Unterscheidung und Hierarchisierung. Diese Lesart – die ›harte‹ Lesart, könnte man sagen – hat sich durchgesetzt. Es wäre auch eine andere, ›gemäßigtere‹ Lesart im Sinne Walter Benjamins möglich gewesen, in der beide Formen des Lebens bruchlos nebeneinander stehen und die physische, irdische Existenz sich mit dem Überleben jenseits des Todes, der Natur und der Geschichte verschränkt. Das biologische Leben als solches Hannah Arendt, die Benjamin bewunderte und einige seiner wichtigsten Texte herausgab und mit einem englischen Vorwort versah, schlägt ihrerseits eine Lesart der Französischen Revolution und späterer Revolutionen vor, in deren Zentrum die Frage des Lebens steht: »Hinter dem Anschein der Unwiderstehlichkeit lag etwas durchaus Wirkliches, nur daß dieses Wirkliche nicht eigentlich historischpolitischer, sondern biologischer Natur ist, wenn es auch im Verlauf der Französischen Revolution vielleicht zum erstenmal ins volle Licht der Geschichte trat.« (1965: 73) Ihre biologische Revolutionstheorie, die sich als Kritik des Marxismus lesen lässt, weist durchaus analyti-
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sche Widersprüche auf. Einerseits versteht sie sie als Produktion eines sozialen Körpers: »[An die Stelle der astronomischen Metapher] traten die bekannten biologischen Metaphern, die den organischen und gesellschaftlichen Geschichtsvorstellungen des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts zugrunde liegen, mit deren Hilfe es möglich wird, die faktische Pluralität einer Nation oder eines Volkes oder einer Gesellschaft im Bilde eines übermenschlich großen Leibes zu sehen, als Körper der Nation oder des Volkes oder der Gesellschaft, der einem für den Einzelnen unwiderstehlichen allgemeinen Willen, eben Rousseaus volonté générale, Untertan ist.« (ebd.: 74) Andererseits sieht sie hier die Letztbegründung revolutionärer Gewalt: »Unter dem Diktat dieser Notwendigkeit kam die Menge der Armen der Französischen Revolution zu Hilfe, feuerte sie an, trieb sie vorwärts, um sie schließlich unter dem Drang ihrer Not zu begraben.« (74f.) Ihre Theorie des Lebens, wie sie es am Ursprung der Französischen Revolution sieht, beinhaltet also gleichermaßen eine organische Dimension (das Volk) und eine materialistische Dimension (Bedürfnisse): die »tobende Gewalt« des »Aufstand[s] der Armen und Entrechteten gegen die Reichen und Bevorrechteten« scheint »unwiderstehlich, denn [sie] bezieht [ihre] Kraft von der Notwendigkeit, die allem Biologischen als solchem innewohnt« (ebd.: 143). In seiner Engführung dieser beiden Dimensionen hat Marx Hannah Arendt zufolge »mehr als irgend jemand sonst dazu beigetragen, der politisch jedenfalls verderblichsten Lehre der Moderne, daß das Leben der Güter höchstes und daß der Lebensprozeß der Gesellschaft Zweck und Ende aller Politik sei, zu einem endgültigen Siege zu verhelfen« (ebd.: 79). Auch Arendt kritisiert also die Sakralisierung des Lebens, unterscheidet sich von Benjamin jedoch in ihrer Ablehnung der Marxschen Theorie, aus der Benjamin seine Geschichtstheorie herleitete. Man darf nicht vergessen, dass das Leninsche Projekt zwischen Benjamins und Arendts Zeiten in Stalins Totalitarismus umschlug. In Arendts zwei Jahre früher vorgelegten Analyse der Condition humaine (Vita Activa, 2002/1972) ist eine weniger tragische Grundhaltung wahrzunehmen. Bekanntermaßen beschäftigte sie sich mit der »Vita Activa«, die sie in die drei Grundaspekte Arbeit, Herstellen und Handeln unterteilt sah. Ihr Vorhaben, »die Natur und die Kreislaufbewegung, in die sie alle lebendigen Dinge hineinzwingt« (ebd.: 115), zu erfassen, ergänzt sie um die Ansicht: »[d]as Geborenwerden und das Sterben von Menschen sind nicht einfach natürliche Dinge, sondern
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können nur mit Bezug auf eine Welt verstanden werden, in die Einzelne – einmalig, unverwechselbar und unwiederholbar – hineingeboren werden und aus der heraus sie sterben« (ebd.). Nietzsches »ewige Wiederkehr« der menschlichen Spezies ist nur unter dieser Voraussetzung möglich: Das Überleben der Menschheit setzt die Geburt und den Tod der Menschen voraus – das gilt allerdings für singuläre Personen, die nicht auf ihr natürliches Dasein reduziert werden können. Hier sind also zwei nicht voneinander zu trennende Dimensionen im Spiel. Auf der einen Seite steht das Leben, »durch Anfang und Ende begrenzt« (ebd.: 116), das »einer eindeutig gradlinig bestimmten Bewegung [folgt], wiewohl diese lineare Bewegung ihrerseits noch einmal von der Triebkraft des biologischen Lebensprozesses gespeist wird…« Auf der anderen Seite steht das »menschliche Leben«, das sich dadurch auszeichnet, dass es »selbst aus Ereignissen sich gleichsam zusammensetzt, die am Ende als eine Geschichte erzählt werden können, die Lebensgeschichte…« Unter Berufung auf Aristoteles kontrastiert Arendt also »diese[s] Leben, bíos«, mit der zoé; ersteres lässt sich, so zeigen es die Geschichte und die Sprache, als eigentlich Menschliches bezeichnen. Im Abstand von wenigen Jahren legt Hannah Arendt zwei deutlich verschiedene Lesarten vor. Weniger als der zeitliche Abstand steht jedoch die Unterschiedlichkeit der Gegenstände am Ursprung dieser Differenz. Die Prämissen sind die gleichen: das Leben als natürliches Phänomen im Unterschied zum Leben als historisches Phänomen; die Biologie, die mit der Biographie kontrastiert wird. Und trotzdem ist das Verhältnis zwischen beiden Seiten im einen Fall konflikthaft und gewaltförmig, im anderen Fall harmonisch und friedlich. In Arendts Augen ist es das Verhängnis der Menschen, dass sie das biologische Leben ins Zentrum der Politik stellen; gleichzeitig ist sie jedoch überzeugt davon, dass es glücklicherweise unmöglich ist, das körperliche Leben vom menschlichen Erleben zu unterscheiden. Von der MarxKritik gelangt sie also zurück zu Aristoteles. Die Unterscheidung zwischen bíos und zoé führt hier eher zu einer Komplementarität als zu einem Widerspruch.
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Das nackte Leben Giorgio Agamben stützt sich zwar auf den gleichen politiktheoretischen Korpus, wählt in seiner Untersuchung über den homo sacer aber einen ganz anderen Weg (2002: 81-84). Diese Figur des archaischen römischen Rechts, die Agamben als ersten Ausdruck der »Heiligkeit [des] menschlichen Leben[s]« bezeichnet, erklärt bestimmte Kriminelle zu Lebewesen, die nicht geopfert werden dürfen, deren Ermordung aber keine Bestrafung nach sich zieht. Das Paradox des homo sacer wird zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen über »die souveräne Macht und das nackte Leben«, jene Rechtsfigur, die er zugleich zu dem Körper des Königs und zu der Situation des Flüchtlings ins Verhältnis setzt. Im Hinblick auf beide Figuren versucht Agamben herauszuarbeiten, dass diese zwei extremen Formen des Politischen – die Macht des einen und die Ohnmacht des anderen – sich in eine lange Geschichte der Politisierung des körperlichen Lebens und einer im Ausnahmezustand gründenden Souveränität einschreiben. Agamben nimmt die Unterscheidung zwischen bíos und zoé auf, die Arendt bei Aristoteles liest, und leistet eine zweifache radikale Interpretation dieser Konzepte (2002: 11-21). Zunächst stellt er die Unterschiede zwischen ihnen heraus und akzentuiert ihre Bedeutungen schärfer: Die zoé ist »die einfache Tatsache des Lebens«, die »aus der Polis im eigentlichen Sinn ausgeschlossen und […] strikt auf den Bereich des ôikos eingeschränkt [ist]« ; bíos hingegen ist eine »Form oder Art und Weise des Lebens, die einem einzelnen oder einer Gruppe eigen ist«, und zudem ein »politisch qualifizierte[s] Leben« (ebd.: 11f.); eine Engführung von zoé und bíos scheint unmöglich. Andererseits weist er in einer fast widersprüchlichen Geste auf die Verschränkung beider Konzepte hin: »Die Politik erweist sich demnach als im eigentlichen Sinn fundamentale Struktur der abendländischen Metaphysik, insofern sie die Schwelle besetzt, auf der sich die Verbindung zwischen Lebewesen und Sprache vollzieht. Die ›Politisierung‹ des nackten Lebens ist die Aufgabe schlechthin der Metaphysik, in der über die Menschheit und den lebenden Menschen entschieden wird.« (ebd.: 18) Entsprechend ist die westliche Welt seit jeher durch die Einschreibung des biologischen Lebens in das Herz des politischen Lebens gekennzeichnet. In dieser Aporie der Grenze zwischen zoé und bíos und ihrer gleichzeitigen Verschränkung liegt Agamben zufolge insofern die
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letztendliche Wahrheit unserer Moderne, als dass »das nackte Leben, ursprünglich am Rand der Ordnung angesiedelt, […] immer mehr mit dem politischen Raum zusammenfällt und auf diesem Weg Ausschluss und Einschluss, Außen und Innen, zoé und bíos, Recht und Faktum in eine Zone irreduzibler Ununterscheidbarkeit geraten.« (ebd.: 19) Der homo sacer, der einst am Rand der Gesellschaft stand, ist so nach Agamben zur zentralen Figur unserer Welt geworden. In der Verlängerung dieser ersten Erkundung des Verhältnisses zwischen Leben und Politik leistet Agamben eine zweite Untersuchung über den »Ausnahmezustand«, den er als das »ursprüngliche Dispositiv« bestimmt, »durch das sich das Recht auf das Leben bezieht und es durch seine eigene Suspendierung in sich einschließt«, als ein »Niemandsland zwischen Öffentlichem Recht und politischer Faktizität, zwischen Rechtsordnung und Leben« (Agamben 2004: 7f.; geringfügig geänderte Übersetzung). Vor allem seit dem 11. September 2001 schlägt sich das auf internationaler Ebene nieder; das gilt vor allem für die Vervielfältigung der Ausnahmeregelungen in den Vereinigten Staaten vom US Patriot Act bis zu Guantánamo. In Agambens Augen kann der Ausnahmezustand insofern als »Paradigma des Regierens« dienen, als dass er eben nicht eine in Ausnahmefällen getroffene Regelung darstellt; stattdessen sei die Ausnahme, ganz entsprechend der Formel von Benjamin, zur Regel geworden, zu einer »Technik des Regierens«, deren »für die Rechtsordnung paradigmatisch-konstitutives Wesen ans Licht kommt« (ebd.: 13). So kann Agamben auch diagnostizieren, dass die afghanischen Gefängnisse, in denen die Amerikaner Taliban festhalten, auf juristischer Ebene »allenfalls« mit den Lagern vergleichbar sind, in die die Nazis Jüdinnen und Juden internierten (ebd.: 10). Mit dieser Darlegung illustriert Agamben nur seine allgemeiner gehaltene Hypothese, die er einige Jahre zuvor in folgende prägnante Worte gefasst hatte: »Das Lager und nicht der Staat ist das biopolitische Paradigma des Abendlandes.« (Agamben 2002: 190) Das erläutert er nun genauer und erklärt, dass diese Hypothese »einen dunklen Schatten auf die Modelle [wirft], mit denen die Humanwissenschaften, die Soziologie, die Urbanistik und die Architektur heute den öffentlichen Raum der Staaten dieser Welt zu denken und zu organisieren versuchen, ohne sich im Klaren darüber zu sein, dass in deren Zentrum (wenn auch in verwandelter, scheinbar menschlicherer Form) immer noch das nackte Leben steht, das die Biopolitik der großen totalitären Staaten des 20. Jahr-
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hunderts bestimmt hat« (ebd.). Die Radikalität dieser These hat in den gegenwärtigen Sozialwissenschaften zwar auch kritische Reaktionen provoziert, vor allem aber lebhafte Begeisterung hervorgerufen. ›Nacktes Leben‹, ›Ausnahmezustand‹ und ›Lager‹ sind zu gängigen Figuren geworden, in denen unsere Welt gedacht wird; das trifft auf repressive Politiken ebenso zu wie auf humanitäre Praxen. Walter Benjamin und Hannah Arendt lassen also die Möglichkeit durchscheinen, dass sich physisches und politisches Leben, Natur und Geschichte miteinander versöhnen lassen. Das schließt Giorgio Agamben kategorisch aus. Wie gezeigt werden konnte, sind diese beiden Formen des Lebens miteinander inkompatibel und verfließen gleichzeitig potenziell ineinander – beides jeweils mit den denkbar fatalsten Konsequenzen. Einerseits schließen sie sich gegenseitig aus, und es kann festgestellt werden, dass das nackte Leben immer die Oberhand über das qualifizierte Leben gewinnt. Andererseits schließen beide Formen die jeweils andere ein; hier ist die Annahme, dass das nackte Leben im qualifizierten Leben aufgeht. Diese Spannung lässt sich auf exemplarische Weise anhand der Flüchtlingsfrage illustrieren. Hier lässt sich eine »Trennung zwischen Humanitärem und Politischem« (ebd.: 142) beobachten, die nur die extremste Manifestierung der »Verflechtung von zoé und bíos« ist (ebd.: 197). In dieser Sichtweise besteht zwischen dem Vernichtungslager und dem Flüchtlingslager eine Kontinuität: »Ein Lager ist dann sowohl das Stadion von Bari, in dem die italienische Polizei 1991 vorübergehend die illegalen Einwanderer aus Albanien zusammentrieb, bevor sie sie zurückgeschafft hat, als auch das Vélodrome d’Hiver, in dem die Vichy-Behörden die Juden vor der Übergabe an die Deutschen gesammelt haben […].« (ebd.: 183: geringfügig veränderte Übersetzung) Dieser Blick auf die Welt ist bar jeder Hoffnung: »Von den Lagern gibt es keine Rückkehr zur klassischen Politik; im Lager sind Staat und Haus ununterscheidbar geworden.« (ebd.: 197) Jenseits dieses radikalen Pessimismus birgt die tragische Transposition der Figur des homo sacer in die gegenwärtigen Gesellschaften eine hierarchisierende Vorstellung des Lebens in sich (das körperliche Leben wird auf das nackte Leben reduziert), die auch eine hierarchisierte Vorstellung des Mensch-Seins impliziert (zwischen denen, die nur das nackte Leben haben, und denen, deren Leben qualifiziert ist). Zweitens impliziert sie ein undifferenziertes Politikverständnis (die Unterscheidung zwischen
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Migrant/innen, die in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden, und Jüd/innen, die in Vernichtungslagern ermordet wurden, wird bedeutungslos), das auch eine undifferenzierte Vorstellung des bürgerschaftlichen Zusammenlebens beinhaltet (da eine Rückkehr zum Politischen nicht möglich ist). Man sollte den kritischen Impetus von Agambens Thesen nicht übersehen, und man sollte sie nicht ins Lächerliche ziehen; trotzdem kann man diese Lesart der heutigen Gesellschaften als undemokratisch bezeichnen. Die Begründung für diese Kritik liegt in Agambens Hierarchisierung der Lebensformen, in seinem undifferenzierten Politikverständnis und vielleicht vor allem in dem Verschwinden der Subjekte, in dem sich das wiederholt, was Agamben selber anklagt. Epilog 1: Foucaults Abwesenheit Dass sich in einer Genealogie der Biopolitik – hier verstanden als Politik des biologischen Lebens – keine Verweise auf Michel Foucault finden, mag erstaunen. Immerhin ist er der Erfinder des Begriffs und beschreibt »Biopolitik« als eine der beiden Ausdrucksformen der Biomacht, dieser »Macht, leben zu machen oder sterben zu lassen« (vgl. Foucault 1977) in der er den Beginn der modernen Politik verortet. Und immerhin ist er jener Theoretiker, der am Ausgangspunkt von Agambens Überlegungen steht. Trotzdem darf man nicht übersehen, dass Foucault sich, wenn er von Biopolitik spricht, nicht mit dem Leben beschäftigt, sondern vielmehr mit Bevölkerungen als Erfindung der Moderne (Fassin 2009). Bereits in Der Wille zum Wissen bezeichnet er Biopolitiken als Techniken zur Regulierung von Bevölkerungen. In seiner wenig später gehaltenen Vorlesungsreihe Die Geburt der Biopolitik (2006) thematisiert er die Herausbildung der politischen Ökonomie und der liberalen Vernunft. Foucault definiert Biomacht zunächst als eine Macht über das Leben, die sich an die Stelle der souveränen Macht setzt – also an die Stelle des Rechts, zu töten. In seiner 1976 gehalteten Vorlesungsreihe Man muss die Gesellschaft verteidigen reißt er zwar eine Genealogie des ›Rassen‹-Diskurses an und zeichnet darin kurz den Zusammenhang zwischen Biologie und Politik nach, legt aber im Grunde genommen eine biopolitische Theorie vor, in der das Leben quasi nicht vorkommt. Nichtsdestoweniger schlägt er eine produktive theoretische Richtung ein, die in folgendem Zitat gut zusammengefasst ist: »Jahrtausende hindurch ist der Mensch
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das geblieben, was er für Aristoteles war: ein lebendes Tier, das auch einer politischen Existenz fähig ist. Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.« (Foucault 1977: 171) Die Frage, was es mit der Regierung des Lebens auf sich hat, lässt er allerdings unbeantwortet. Seine Nachfolger/innen neigen häufig dazu, die möglichen Implikationen dessen auszublenden. Man darf allerdings nicht vergessen, dass Michel Foucault sowohl in seinen politischen Kämpfen als auch in seiner Theoretisierung des ethischen Subjekts einen entschieden demokratischen und letztendlich wenig tragischen Lebensbegriff vertrat.
B IOGRAPHIEN »Wir alle sind Überlebende mit einer Aufschubsfrist (und vom geopolitischen Standpunkt […] liegt in einer Welt, die ungleicher ist denn je, der Nachdruck vor allem auf den Milliarden von Lebenden – seien es Menschen oder nicht –, denen außer den elementaren ›Menschenrechten‹, die zweihundert Jahre alt sind und an Umfang immer zunehmen, zunächst einmal das Recht auf ein Leben verweigert wird, das es wert ist, gelebt zu werden).« (Derrida 2005: 31) Diese beiläufige Bemerkung von Derrida fällt in diesem ansonsten persönlichen Gespräch aus dem Rahmen. Bedenkt man jedoch, wie stark Derrida sich für unterschiedlichste politische Anliegen und vor allem für den Kampf gegen die Apartheid engagierte – das dürfte vielen seiner Leser/innen nicht mehr präsent sein –, so ist sie nicht mehr besonders überraschend. Hinter diesen Worten steht der Appell, persönliche Erfahrungen in ihrer politischen Dimension zu sehen und im Angesicht des Lebens und Überlebens mit einer Hinterfragung der in dieser Welt herrschenden Ungleichheit zusammenzudenken. Eben diesen Weg möchte ich an dieser Stelle einschlagen. Ich werde kursorisch drei Biographien in den Blick nehmen, die mir in den bei Johannesburg gelegenen Townships Soweto und Alexandra begegnet sind, und mich anschließend einer Person des öffentlichen Lebens widmen. Dabei möchte ich herausarbeiten, wie das physische und das qualifizierte Leben sich nicht etwa im tragischen Modus des Ausnahmezustandes artikulieren, sondern im Gegenteil in den ganz normalen Erfahrungen von Menschen in einem demokratischen Raum. Ich habe meine Studie (Fassin 2006) zwischen 2000 und 2005 in Südafrika durchgeführt, also in jenem
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Zeitraum, in dem Südafrika zu dem am massivsten von AIDS betroffenen Land der Welt wurde. Hier leben etwa 5 Millionen HIV-positive Menschen; das entspricht einem Fünftel der erwachsenen Bevölkerung. Die AIDS-Epidemie fördert die krassen Ungleichheiten zutage, deren Ursachen sich in der Segregationspolitik und dem Apartheidsregime verorten lassen. Am sichtbarsten werden diese Ungleichheiten dort, wo es um den Zugang zu wirksamen antiretroviralen Therapien geht. Die Situation verschlimmert sich zudem noch durch die Weigerung der südafrikanischen Regierung, eine effektive Behandlungs- und Präventionspolitik zu entwickeln und umzusetzen. Alle vier Personen, deren Geschichten ich hier erzähle, waren mit ihrem eigenen Überleben konfrontiert; über sie hinaus ist jedoch das Überleben eines ganzen Landes in Gefahr – beziehungsweise vielmehr eines Teils der Bevölkerung. Rob Dorrington, Leiter des Centre for Actuarial Research, prognostiziert, dass die Lebenserwartung schwarzer Südafrikaner/innen innerhalb von zwei Jahrzehnten um 20 Jahre sinken wird; Malegapuru Makgoba, Leiter des Medical Research Council, spricht mit einem dramatischen Gestus über den näher kommenden Zeitpunkt, ab dem Schwarze in Südafrika die Minderheit stellen werden. Ich bin mir darüber bewusst, dass die Interpretation der folgenden, hier kaum kontextualisierten Zitate enge Grenzen hat. Meine Vertrautheit mit den Personen, über deren Geschichte ich hier spreche, schreibt sich jedoch in eine mehrjährige ethnographische Arbeit ein, und ich stütze meine Analyse auf das gleiche Material wie auch in meinen Überlegungen zu Derrida: auf Gespräche nämlich. Wir bewegen uns also in beiden Fällen auf dem gleichen Terrain – außer, wenn man meint, Derrida spreche ›wahrer‹ oder ›richtiger‹ über das Überleben als die Bewohner/innen der südafrikanischen Townships. Dem möchte ich die sozusagen demokratische Hypothese entgegenstellen, dass das nicht so ist. Ich weiß, dass ich überleben werde In dem kleinen Haus in Alexandra, das sie aufgrund ihrer terminalen AIDS-Erkrankung nicht mehr verlassen kann, empfängt Sophie mich mit den Worten: »Ich habe Sie schon so lange nicht mehr gesehen!« Mit einem traurigen Lächeln fügt sie hinzu: »Nächstes Mal werde ich tot sein.« Sie weiß um die Dramatik ihrer Lage und regelt alles Notwendige für ihre Beerdigung. Und trotzdem sagt sie kurz darauf: »Ich glaube, ich werde überleben. Ich glaube fest daran. Ich weiß, dass ich
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überleben werde.« Wie lässt sich dieses Spannungsverhältnis zwischen der Antizipation des Todes und der Hoffnung auf Überleben fassen? Und wie sollte man übersehen, wie sehr diese Äußerungen – und vielleicht ihr Erleben – dem ähneln, worüber Derrida spricht? Auf den ersten Blick kann man natürlich einen Widerspruch diagnostizieren: Der Akzeptanz des bevorstehenden Todes steht die Verneinung einer unerträglichen Zukunftsperspektive gegenüber. Statt von Widerspruch sollte man hier jedoch vielmehr von Ambiguität sprechen, von einer inneren Zerrissenheit zwischen Realismus und Hoffnung. Dass Sophie sich auf ihre Religion bezieht, stützt diese Lesart. »Ich werde es schaffen«, sagt sie, »weil meine Kirche mir sehr hilft, sogar der Priester hilft mir sehr.« Die zahlreichen mehr oder weniger christlich geprägten afrikanischen Kirchen, die ihre Anhänger/innen unter AIDS-Kranken rekrutieren, versprechen ihnen ein Überleben, das körperliche Genesung, moralische Wiedergeburt und jenseitiges Glück beinhaltet. Die Frage, welcher dieser drei Aspekte sich letztendlich bewahrheiten wird, kommt nie zur Sprache, und eben deswegen ist dieser schmerzhafte Lebensabschnitt überhaupt lebbar und oft von Glück erfüllt. Die Grenzen zwischen dem natürlichen, dem guten und dem ewigen Leben sind durchlässig; und die Kranken nehmen in all diesen Bedeutungen die Möglichkeit des Überlebens wahr. Wenn Sophie irritierenderweise ausruft: »Ich will nicht, dass dieser Virus mein Leben zerstört!«, bewegt sie sich jenseits des offensichtlichen Widerspruchs zwischen dem, was sie sagt, und ihrem schlechten Gesundheitszustand. Auf einer zweiten Ebene, die der ersten nicht etwa widerspricht, sondern sie im Gegenteil vertieft, gilt es, das Spannungsverhältnis, das in ihren Worten zum Ausdruck kommt, näher zu betrachten. Sophie weiß, dass sie sterben wird; sie hat mit dem Priester gesprochen und ihm detailgenau erklärt, wie ihre Beerdigung ablaufen soll – bis hin zu der Musik, die sie sich wünscht. Das Überleben, von dem sie spricht, bewegt sich also auf zwei Realitätsebenen. Auf der einen Seite geht es um die Lebenszeit, die ihr noch bleibt, und die sie so erfüllt und sinnvoll wie möglich gestalten möchte. Sie möchte ihre »Aufschubsfrist« dazu nutzen, ihr Leben in Ordnung zu bringen. Sie plant, das Grab ihres Vaters zu besuchen und dort ein Ritual abzuhalten, das gleichzeitig der Sühne und dem Abschiednehmen dient. Sie muss mit ihm reden, ihm von ihrer Krankheit, vom Tod ihres Lebensgefährten und der Geburt ihres Sohnes erzählen. Aber in der Zeit, die ihr bleibt, erlebt sie auch glückliche Momente. Sie hat gerade einen Mann kennen gelernt,
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der sich in sie verliebt hat und dem sie erzählt hat, dass sie HIV-positiv ist. Er besucht sie jeden Tag, und seine Anwesenheit gibt ihr Kraft. Sie erzählt ihm von ihrer Krankheit, von ihren Symptomen, von ihren Medikamenten, von ihren Ängsten, von der Unmöglichkeit, eine normale Beziehung zu führen. Ihr physisches Leben schlägt sich in ihrem emotionalen Leben nieder, bestimmt es aber nicht durchgängig. Andererseits wird ihr Leben sie überleben und ihr ermöglichen, auch nach ihrem Tod für die ihr nahe stehenden Menschen weiterhin zu existieren. Sie hinterlässt einen kleinen Sohn und weiß bereits jetzt, dass ihre Familie und ihre Schwiegerfamilie sich um das Sorgerecht und die Waisenrente streiten werden. Damit ihr Sohn, der noch sehr klein ist, sich später an sie erinnern wird, hat sie – wie viele andere Kranke, die von auf den Kampf gegen AIDS spezialisierten NGOs unterstützt werden – eine so genannte Memory Box angefertigt. In dieser Schachtel befinden sich mehrere Gegenstände: Kleidungsstücke, ein Schuh, ein Foto von Sophie, bevor die Krankheit ihren Körper ausgemergelt hat, eine Kassette, auf die sie einen kurzen autobiographischen Text aufgenommen hat, ein Heft, in dem sie diese Geschichte schriftlich fortgeführt hat, ein Gipsabdruck ihrer Handfläche. Überleben heißt für Sophie also, »erfüllt zu leben« und gleichzeitig »über den Tod hinaus weiterzuleben«, wie Derrida schreibt. Ähnlich haben sich auch andere Personen geäußert, die ich in Südafrika kennen gelernt habe. Ich habe ein normales Leben Im Gespräch mit Mesias begriff ich, wie eng das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Lebensformen ist, ohne dass sie ineinander aufgehen. So nahmen es auch meine Gesprächspartner/innen wahr; so unter anderem auch in Soweto, wo ich Mesias kennen gelernt hatte. »Wir wissen, dass wir geboren werden und dass wir sterben; aber zwischen beiden liegt das Leben.« Dieser Satz gleicht auf erstaunliche Weise dem, was Hannah Arendt über das Leben schreibt, »das durch Anfang und Ende begrenzt [ist]«. Ich fragte ihn, was er meint. »Ich habe ein normales Leben. Ein normales Leben ist das, was die Leute eben machen. Etwas zu essen haben. Jemanden an seiner Seite haben, den man braucht. In seiner Community respektiert werden.« Physiologisches, affektives und soziales Leben: Damit ist genau das beschrieben, was Mesias endlich erlebt. Diese drei Aspekte dessen, was er ein normales Leben nennt, waren über einen langen Zeitraum nie gleich-
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zeitig in seinem Leben anwesend. Aber was genau meint er mit dieser bemerkenswerten Formulierung? Im Licht der vielen Unterhaltungen, die wir miteinander geführt haben, verstehe ich seine Worte in einem zweifachen Sinn: Zunächst beschreiben sie ein gewöhnliches Leben (der Norm entsprechend im Sinne von durchschnittlich). Und darüber hinaus beschreiben sie ein moralisches Leben (der Norm entsprechend im Sinne von gesellschaftlich akzeptiert). Dieses gewöhnliche Leben, dieses moralische Leben stellten eine neue Erfahrung für ihn dar: Bis dahin hatte er nur Unsicherheit und Chaos erlebt. Mesias kommt aus der Provinz Limpopo im Norden Südafrikas. Mit seiner Ankunft in einer Großstadt begann, wie für so viele Jugendliche in den letzten Jahren der Apartheid, ein unruhiges und prekäres Dasein für ihn. Er lebte einige Jahre mit einer Prostituierten zusammen und lernte dann eine junge Frau kennen, mit der er eine Tochter bekam, die kurz nach ihrer Geburt an AIDS starb. So erfuhren die Eltern, dass sie selbst HIV-positiv sind. Kurz danach trennten sie sich, und er zog in die Kleinstadt zurück, aus der seine Familie kommt. Dort lebte er unverheiratet mit einer jungen Frau aus der Gegend zusammen. Er wagte nicht, ihr von seiner Krankheit zu erzählen; schließlich stellte sie selbst fest, dass sie HIV-positiv ist. Mesias erfuhr also nicht nur von der Krankheit seiner Freundin, sondern wurde sich auch darüber bewusst, dass er sie möglicherweise infiziert hat, was ihn tief erschütterte. Seine Freundin brachte ihm schließlich die Zion Christian Church nahe, die größte Kirche Südafrikas. Diese religiöse Entdeckung beschleunigte sein moralisches Umdenken. Die beiden adoptierten einen behinderten Jungen. Mesias ging nicht mehr aus und hörte auf zu trinken. Er beteiligte sich an AIDS-Aufklärungskampagnen, was ihm in seinem unmittelbaren Umfeld und sogar darüber hinaus einen gewissen Bekanntheitsgrad verschaffte, weil er ab und zu im Lokalradio über seine Situation sprach und zur Prävention aufrief. Dank der staatlichen Unterstützung, die er aufgrund seiner Krankheit erhielt, konnte er zum ersten Mal in seinem Leben ein geordnetes und unabhängiges Leben führen, hatte genug zu essen und konnte sogar ein Haus mieten. Weit davon entfernt, ihm nur eine ›biologische Staatsbürgerschaft‹ zu verleihen, ermöglichte ihm diese Unterstützung ein würdiges Leben. Er war krank, und er verdankte seiner Krankheit sein gutes Leben: Sie war ihm nicht nur zu einer ökonomischen, sondern auch zu einer moralischen und staatsbürgerlichen Ressource geworden. Sie hatte ihn »[gelehrt], zu leben«, um Jacques Derrida zu zitieren
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(2005: 30) – wie so viele andere Südafrikaner/innen, die ich kennen gelernt habe. Leute wie ich sterben nicht Zum Ende des langen Gesprächs, das Magda und ich in Johannesburg führten und in dessen Verlauf sie mir ihre Lebensgeschichte erzählte, sagte Magda, die ich seit mehreren Jahren kannte: »Die Leute sagen zu mir: ›Du wirst sterben, weil du HIV-positiv bist.‹ Dann sage ich: ›Leute wie ich sterben nicht.‹ Ich lebe, ich bin stark, weil ich keine Angst mehr habe.« Sie ist zwar noch jung, hat aber schon ein hartes Leben hinter sich. In ihrer Kindheit, die sie bei ihrer Großmutter im ländlichen Lesotho verbrachte, wurde sie von einem ihrer Onkel sexuell missbraucht. Als ihre Mutter, eine Wanderarbeiterin, sie wieder zu sich holte, wurde sie von ihrem Stiefvater vergewaltigt. Mit 18 ging sie mittellos nach Johannesburg, wo sie mit Männern schlief, die sie auf der Straße kennen lernte und die ihr etwas Geld gaben oder ein Getränk oder eine Mahlzeit kauften. Das betrachtete sie nicht als Prostitution; Prostituierte waren in ihren Augen die jungen Frauen, die sie in einem Stundenhotel gesehen hatte. Es ging ums Überleben, sagte sie; an dieser Stelle benutzte sie einen Zulu-Begriff, der bedeutet, dass man auf der Suche nach Nahrung in der Erde wühlt. Später hatte sie unterschiedliche kleine Jobs und mehrere Beziehungen. Mit einem dieser Männer bekam sie ein Kind, das nach kurzer Zeit an AIDS starb. Sie selber war auch krank; schließlich zog sie allein in ein kleines Haus in Alexandra und begann ein neues Leben. Sie fing an, für eine NGO zu arbeiten, die mit finanziellen Mitteln aus dem Ausland Patient/innen unterstützt und häusliche Pflege leistet. Gleichzeitig erhielt sie aufgrund ihrer Krankheit staatliche Unterstützung. So verbesserte sich ihre ökonomische Lage sehr schnell. Sie beschloss, ein Kind zu bekommen. Um zu vermeiden, dass dieses Kind HIV-positiv sein würde, nahm sie an einer klinischen Studie im Krankenhaus von Soweto teil. Sie brachte einen gesunden Sohn zur Welt und konnte anschließend mit einer antiretroviralen Therapie beginnen. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Regierung die Distribution antiretroviraler Medikamente in öffentlichen Einrichtungen noch nicht genehmigt. Um an solche Medikamente zu gelangen, musste man entweder genug Geld haben, um sie direkt in der Privatwirtschaft zu kaufen, oder an einer klinischen Studie teilnehmen. Das tat Magda,
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und ihr Zustand verbesserte sich entscheidend. Vor diesem Hintergrund wurde sie zu einer Aktivistin im Kampf gegen AIDS und für den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten. Sie nahm an zahlreichen regierungskritischen Demonstrationen statt, und ihre ungewöhnliche Biographie und ihr militantes Engagement brachten ihr in der nationalen und sogar internationalen Presse einen gewissen Bekanntheitsgrad ein. So gelang ihr innerhalb weniger Jahre die vollständige Wiederaneignung eines Lebens, das bis dahin fast ausschließlich von Gewalt, Elend und Krankheit geprägt gewesen war. Auf der Grundlage ihrer physisch bedrohten Existenz baute sie sogar ein politisches Projekt auf, das ihrem Leben einen neuen Sinn gab. Wie Jacques Derrida hatte sie nicht gelernt, zu sterben (vgl. Derrida 2005: 31). Ihr physisches Überleben, das den Mediziner/innen, die ihre Krankheit diagnostiziert hatten, so unwahrscheinlich erschien, verdankte sie ihrem Lebenswillen; dieser Wille äußerte sich in Form ihres sozialen Engagements und ihrer politischen Kämpfe, die das biologische Leben zum Gegenstand hatten und die Grenze zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten verschoben. Epilog 2: Achmats Anwesenheit Im Kontext der Bekämpfung von AIDS in Südafrika ist Zachie Achmat eine zentrale Figur. In ihm, dem Mitbegründer und Vorsitzenden der Treatment Action Campaign, findet dieser Kampf gewissermaßen seine Verkörperung. Als Mitglied des ANC kämpfte er bereits gegen Apartheid. Chris Hani, der charismatische Anführer des damals illegalen bewaffneten Zweigs des ANC, hatte 1990 vorausgesagt, dass Südafrika nach der Überwindung der weißen Vorherrschaft im Kampf gegen AIDS der nächsten großen Herausforderung begegnen würde. Diese berühmt gewordene Prophezeiung hallt wie ein Echo in Achmats politischem Weg wider. Zachie Achmat wuchs in einem Township auf, das ausschließlich von Personen mit einem schwarzen und einem weißen Elternteil (›Coloured People‹) bewohnt wurde. In seinem Leben als militanter Kämpfer für Homorechte, Gründer der ersten schwullesbischen Organisation Südafrikas und AIDS-Kranker sind seine verschiedenen politischen Kämpfe quasi in seine Identität eingeschrieben. Die Bekanntheit und Autorität, die er in Südafrika genießt, ist jedoch in erster Linie ein Produkt seiner Arbeit in der Treatment Action Campaign. Am Anfang dieser Organisation stand der Kampf
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gegen Pharmakonzerne, deren Preispolitik dem Großteil der Kranken den Zugang zu antiretroviralen Medikamenten völlig versperrte. Ihre nächste Zielscheibe war die südafrikanische Regierung, deren völliges Nichtwissen über HIV/AIDS jegliche effektive Behandlungs- und Präventionspolitik verunmöglichte. Die Treatment Action Campaign organisierte Aufsehen erregende Kampagnen, kämpfte in den Medien, auf der Straße und im Gerichtssaal und gewann schließlich einen Prozess, in dessen Folge das Gesundheitsministerium dazu gezwungen war, die Medikamente der Allgemeinheit zugänglich zu machen. Während dieser Jahre der politischen Kämpfe verweigerte Achmat die Einnahme der antiretroviralen Medikamente, die ihm zur Verfügung gestellt wurden, und kündigte an, er werde mit der Behandlung erst dann anfangen, wenn alle anderen Südafrikaner/innen, die darauf angewiesen seien, ebenfalls medikamentös versorgt seien. Seine Krankheit war ihm kein passiv erlittenes Unglück, sondern vielmehr eine aktiv mobilisierte Ressource. Er machte sein privates Leiden zu einer öffentlichen Angelegenheit, setzte seine körperliche Existenz für seinen politischen Kampf aufs Spiel und überwand so die vermeintlichen Grenzen zwischen biologischem und politischem Leben. Er kämpfte für die Idee einer nicht nur politischen, sondern auch biologischen Staatsbürgerschaft (Petryna 2002). In den 1990er und 2000er Jahren wurden zahlreiche Kämpfe ausgefochten, in deren Mittelpunkt der leidende Körper stand, und in denen Rechte eingefordert wurden, die nicht nur eine biologische Dimension besitzen: Eben weil sie Rechte und keine Pflichten sind, sind sie auch politisch. Zu diesen Errungenschaften gehörten beispielsweise die DOHA-Erklärung der WHO9 und die Durchsetzung staatlicher Unterstützung für kranke Personen mit einem ungesicherten Aufenthaltsstatus. Solche Kämpfe sind eine Herausforderung für die Demokratie; gleichzeitig erhalten sie die Demokratie am Leben. Diese Dialektik, deren treibende Kraft bei den sozialen Akteur/innen selbst liegt, entgeht einer dualistischen Sichtweise auf Lebenspolitiken.
9 A.d.Ü.: Im Zusammenhang mit Diskussionen über Patente für antiretrovirale Medikamente spricht sich die Doha Declaration der Weltgesundheitsorganisation dafür aus, dass Staaten durch das TRIPS-Abkommen über geistiges Eigentum nicht daran gehindert werden sollen, Krisen im öffentlichen Gesundheitswesen zu bewältigen.
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S CHLUSS Das Überleben, wie Derrida es in seinem letzten Gespräch versteht, verschiebt nicht nur die oft verhärteten Trennlinien zwischen dem biologischen und dem politischen Leben, sondern eröffnet auch einen ethischen Denk- und Handlungsraum. In den letzten Jahrzehnten waren Biopolitiken bzw. Lebenspolitiken oftmals Gegenstand kritischer Denkweisen. So konnte herausgearbeitet werden, wie Macht, Markt und Staat im Kolonialismus wie auch in den gegenwärtigen Gesellschaften auf Individuen und Gruppen bzw. Nationen zugreifen. Neben ihren theoretischen Errungenschaften zeigten sich allerdings auch die Grenzen und Gefahren dieser Herangehensweise. Erstens wird der binäre Reduktionismus von biologischem und politischem Leben, von nacktem und qualifiziertem Leben, von Natur und Geschichte manchmal zu wörtlich von der Philosophie auf die Sozialwissenschaften übertragen; das kann dazu führen, dass sich uns zahlreiche Aspekte des vergesellschafteten Lebens entziehen und sie damit unter Umständen nicht verstanden und nicht beschreibbar werden. Die Wirksamkeit des Paradigmas hat also tendenziell den Effekt, dass neues Wissen eher verunmöglicht als ermöglicht wird. Zweitens führen die normativen Vorannahmen, die der Bewertung der Lebensformen und der Lebenspolitiken zugrunde liegen, in dem Moment, in dem sie systematisch zur Geltung kommen, dazu, dass die Delegitimierung der sozialen Akteur/innen, ihrer Forderungen und ihrer Handlungen noch verstärkt wird. Die Radikalität der Perspektive wendet sich ins Undemokratische. Dieses zweifache – wissenschaftliche wie politische – Risiko verlangt nach einer kritischen, ethisch geprägten Arbeitsweise. Eben eine solche Arbeitsweise wollte ich in diesem Beitrag verfolgen. In dieser Absicht habe ich die Entstehungsmomente des biopolitischen Denkens nachvollzogen und die dieses Denken prägenden Spannungsverhältnisse, Zweifel und Entscheidungen herausgearbeitet; anschließend habe ich das Leben AIDS-kranker Südafrikaner/innen beschrieben, um – wenn auch fragmentarisch – nicht nur die darin enthaltene Geschichte, sondern auch ihre Art des Erzählens wiedergeben zu können und damit wirklich zu ›hören‹, was sie zu sagen haben. Diese kritische Analyse zielt, wie ich bereits dargelegt habe, auf einen bestimmten Strang neuerer Texte ab, von denen auch ich einige verfasst habe. Trotzdem leiste ich keine Reue im moralischen Sinn eines Bedauerns oder Abschwörens oder im Sinn der Geste eines Malers,
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der etwas auslöscht und übermalt; vielmehr spreche ich mich für eine theoretische Vertiefung und Verschiebung aus. Es geht mir nicht darum, von mir oder anderen Theoretiker/innen zu einem früheren Zeitpunkt geleistete Analysen zu verwerfen. Stattdessen möchte ich dafür plädieren, bestimmte Vereinfachungen, deren ethische Konsequenzen ich hier dazulegen versucht habe, zu vermeiden. Im Prinzip folge ich der Richtung, die Michel Foucault einige Monate vor seinem Tod in seinem Seminar Der Mut zur Wahrheit (Foucault 2010) am Collège de France einschlug: »Die Herausbildung des wahren Lebens im Prinzip und in der Form des Die-Wahrheit-Sagens (den anderen die Wahrheit sagen, sich selbst die Wahrheit sagen, über sich selbst und über die anderen die Wahrheit sagen), das wahre Leben und das Spiel des DieWahrheit-Sagens – das ist das Thema, das Problem, das ich untersuchen möchte.« In dieser »ethischen Parrhesia« verschränken sich auf unbestimmte Zeit das forschende Denken und das Leben.
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Knochenmarkspende als Volksabstimmung – oder: die Politisierung des Organischen und die Moralisierung der Medizin in Zypern
S TEFAN B ECK
Dieses Foto stammt nicht aus einem gewöhnlichen Familienalbum, sondern dokumentiert den unerwartet glücklichen Ausgang sehr ungewöhnlicher Ereignisse, die eine ebenso ungewöhnliche Beziehung zwischen dem jungen Mann und dem kleinen Mädchen stifteten. Onur und Andrea sind »blutsverwandt«, sie sind dies jedoch nicht durch biologische Reproduktion. Trotzdem verstehen sie und ihre Verwandten sich Angehörige einer Familie: Sie fühlen sich sozial, spirituell und biologisch verbunden durch eine Knochenmarkspende, mit der Onur das Leben von Andrea rettete, als sie vor einigen Jahren an einer tödlich verlaufenden Leukämie litt. Nach der erfolgreichen Transplantation seiner Stammzellen im Jahr 2002 produzieren diese inzwischen in Andreas Knochenmark seine Blutzellen und erhalten sie am Leben. Onur hat Andrea nicht nur das Leben gerettet, sondern beide sind nun auch mehr als »blutsverwandt« – sie sind »blutsidentisch«. Wie diese merkwürdige, unsichtbare, nur mit molekularbiologischen Methoden feststellbare Gleichheit – ihre »endophänotypische Identität« – von allen Beteiligten mit Bedeutung ausgestattet wird, wie sie diese biologische Verbindung sozial interpretieren, und was diese Form der Bindung so außergewöhnlich macht, wird im folgenden Beitrag analysiert.
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Dieses Foto, auf Bitten der Angehörigen von Andrea entstanden, versucht diese endophänotypische Identität zwischen Onur und Andrea sichtbar zu machen, indem es das klassische Genre des Familienfotos als Ausdrucksform wählt.
Abbildung 1:Onur und Andrea im Eingang zum Ledra Hotel, Nicosia, März 2003 In seiner ganzen Gewöhnlichkeit verbirgt es jedoch, dass diese »natürliche« Verbindung zwischen beiden »technogen« ist, dass sie nur entstehen konnte, weil viele »Aktanten« – menschliche und nichtmenschliche Akteure (Akrich 1992) – in Dienst genommen wurden, um diese Verbindung zu ermöglichen: biomedizinisches Wissen und molekulare Diagnosetechniken, politische Entscheidungsträger und subpolitischer Druck, Menschenrechts-Aktivisten und transnationale Organisationen sowie – vor allem – altruistische Gefühle und moralische Haltungen, die »das Recht auf Leben« über den Herrschaftsanspruch der »Politik« stellen. Alle diese Aktanten sind nicht auf dem Foto abgebildet und nur deshalb kann die Verbindung zwischen Onur und Andrea als ›natürlich‹ erscheinen: als Ikone der Menschlichkeit. Diese (un-)natürliche Verbindung zwischen Onur und Andrea wurde möglich, weil 2002 durch die – für die Öffentlichkeit weitgehend unsichtbare – Arbeit des zypriotischen Knochenmarkspender-Registers, einer transnational vernetzten »biomedizinischen Plattform«
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(Cambrosio, et al. 2009), festgestellt worden war, dass Onur und Andrea »histo-kompatibel« waren: Durch Zufall stimmen viele der relevanten Allele ihrer DNA überein, die verantwortlich sind für die Arbeit ihres Immunsystems, das zwischen »eigenem« und »fremdem« Gewebe unterscheidet. Obwohl es mehrere Millionen mögliche Kombinationen gibt und es deshalb selbst bei Geschwistern höchst unwahrscheinlich ist, dass sie das gleiche immunologische Profil aufweisen, stimmten bei Andrea, der Leukämie-kranken, achtjährigen Tochter eines griechisch-zypriotischen Ehepaares, und Onur, einem jungen türkischen Ingenieur, der vom anatolischen Festland stammend in Nordzypern wohnte, die Werte fast perfekt überein: Immunologisch betrachtet waren sich ihre Körper sehr »nahe«. Doch um diese immunologische Nähe zwischen beiden zur Heilung von Andrea nutzen zu können, musste zuvor ein fast unüberwindbares politisches Hindernis überwunden werden: Obwohl sie nur wenige Kilometer voneinander entfernt auf Zypern wohnten, trennte sie die zu diesem Zeitpunkt noch fast undurchdringliche Grenze zwischen Nord- und Südzypern. Die politischen Ereignisse, die zu der Begegnung von Andrea und Onur in der UN-Pufferzone Nicosias führten, ein Jahr nachdem sich Onurs Knochenmarkszellen bereits mit Andrea im »Exil« eines USamerikanischen Krankenhaus erfolgreich »getroffen« hatten, sind dabei nicht weniger unwahrscheinlich als die erstaunliche Kompatibilität ihrer Immunsysteme und die daraus resultierende biosoziale Intimität zwischen beiden: Die Knochenmarkszellen verbinden nicht nur zwei Individuen biologisch, sondern sie stellen auch für viele Menschen in Zypern ein hoffnungsvolles Zeichen der Verbindung der zwei »ethnischen« Gruppen in Zypern dar, die seit langer Zeit in einem Zustand des kalten Bürgerkrieges leben – auf beiden Seiten der militärisch geteilten Mittelmeerinsel Zypern. Im Folgenden soll rekonstruiert werden, wie politische, biologische, kulturelle und soziale Widerstände überwunden werden konnten, um das Leben von Andrea zu retten. Zudem wird analysiert, wie in Zypern die materielle und spirituelle Verbindung zwischen Spendern und Empfängern von Knochenmarkzellen interpretiert wird, welche Verbindungen aus Sicht der Spender gestiftet aber auch welche Verbindungen durch Praktiken der Knochenmarkspende gekappt werden. Das empirische Material für diese Analysen wurde in einer seit 2002 laufenden Feldforschung in Zypern erhoben. Ergänzend wird empirisches Material hinzu gezogen, das in Schweden, Deutschland und Zypern vergleichend Praktiken der Or-
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gantransplantation analysierte.1 Auf einer generellen Ebene wird analysiert, welche Formen des Sozialen global verfügbare biomedizinische Plattformen nahe legen und es wird gefragt, in welchem Maße sie von ihren Nutzern lokalen Praktiken „einverleibt“ werden können.
K ONZEPTIONELLE V ARIATIONEN – ZUR D IALEKTIK DER M EDIKALISIERUNG Theoretischer Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen ist, dass Biomedizin nicht nur reproduktiv im engeren, biologischen Sinn ist, sondern – ebenso wie andere Technologien und Wissensformen – auch zur Re-Produktion des Sozialen und des Kulturellen beiträgt. Wird Biomedizin unter dem Aspekt analysiert, dass und wie sie als Mittel eingesetzt wird, um soziale und kulturelle Ordnungen zu reproduzieren, werden ihre materiellen ebenso wie ihre imaginären Effekte offenbar: Sie erzeugt neue oder manipuliert alte Ordnungen, sie transformiert oder rekonfiguriert ältere materielle, soziale, ökonomische, politische oder symbolische Verbindungen zwischen Menschen, Institutionen und Ideen. Biomedizinische Praktiken tragen zur Erzeugung neuer Formen und Modi des Sozialen bei, indem sie neuartige As-Soziationen heterogener Elemente in die Welt bringen. (Latour 2005) Schon im engeren Bereich der Medizin sind etwa die Wirkungen molekulargenetischer Diagnostik, wie sie in der Immunologie eingesetzt werden, nicht auf »technische« Aspekte begrenzbar: Sie transformieren klinische Praktiken, indem neues Wissen und neue Formen von Expertise zentral werden. So wird etwa im Feld der Blutkrankheiten neben dem Wissen von Hämatologen nun das von Biochemikern oder Genetikern wichtig, weil teure und hoch spezialisierte Analyseinstrumente eingesetzt werden, die einen »molekularen Blick« (AbiRached/Rose 2010) auf Krankheitsursachen ermöglichen, oder indem Biobanken aufgebaut und internationale Vernetzungen des Informations- und Gewebeaustausches etabliert werden müssen. Aber diese in Dienst genommene »biomedizinische Plattform« hat auch das Potential, Inhalt und Form des Verhältnisses zwischen Medizinern und Pati1 EU-Projekt Nr. SAS6-CT-2003-510238 »Challenges of Biomedicine«; vgl. die Webseite www.univie.ac.at/virusss/cobpublication für Informationen zu beteiligten Forschern und Ergebnissen.
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enten sowie die Selbstsicht von Betroffenen zu verändern. Werden »genetische Veranlagungen« eines Patienten sichtbar gemacht, sind von diesen Informationen stets auch seine engsten ›biologischen‹ Verwandten betroffen, mit denen er diese »Veranlagungen« teilt. Üblicherweise werden in westlichen Industriegesellschaften die damit verbundenen Effekte als »ethisch-moralische Probleme« klassifiziert und entsprechend bearbeitet: Etwa indem sichergestellt werden soll, dass die Betroffenen sich im Rahmen intensiver genetischer Beratung darüber klar werden, dass genetische Informationen insofern besondere Informationen sind, als sie eine besondere Reflexivität und Verantwortung – in Fragen der Eheschließung, des Kinderkriegens, der Umstellung des Lebensstiles – nahelegen. (Beck 2005) Hierdurch verändert sich Form und Inhalt der Beziehung zwischen Medizinern und Patienten, weil zunehmend neben Krankheitsfragen auch Lebensfragen diskutiert werden müssen. Dies kann als ein paradoxer Effekt der Biomedikalisierung der Medizin (Clarke, et al. 2003) angesehen werden: Die Molekularisierung der Medizin fördert die tendenzielle Entgrenzung und Ausweitung medizinischer Expertise in der Beratung auf lebensweltliche Zusammenhänge. Zugleich prägen diese lebensweltlichen Fragen und moralischen Dilemmata der Patienten die Praktiken der Medizin – sie wird säkularisiert oder politisiert. Dabei ist diese Politisierung der Medizin keine Entwicklung, die erst im 20. Jahrhundert einsetzt, sondern sie ist integrales Element der Professionalisierung der Medizin in der Moderne. So formulierte etwa bereits im Kontext der deutschen Revolution 1848 der einflussreiche Berliner Mediziner und Anthropologe Rudolf Virchow, dass die Medizin zu allererst der an wissenschaftlich-rationalen Kriterien orientierten Transformation der sozialen Lebensumstände zu dienen habe. Und auch die Politik habe sich dieser wissenschaftlichen Rationalität zu unterwerfen, womit er sogar das konventionelle Verständnis des Verhältnisses von Medizin und Politik umkehrte: »Politik« – so Virchow – sei »weiter nichts, als Medicin im Grossen.« (Virchow 1848; vgl. Goschler 2002). Aber erst seit den 1960er und 70er Jahren wird sozialwissenschaftliche Kritik an der Medizin und ihrer gesellschaftspolitischen Rolle zunehmend scharf artikuliert. Unter dem Stichwort der »Medikalisierung« (Illich 1975) wird hier üblicherweise argumentiert, dass nicht-medizinische Probleme zunehmend als medizinische beschrieben und behandelt würden, als Krankheiten oder organische Leiden. Damit etabliere sich in modernen Gesellschaften die Medizin
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als Instrument sozialer Kontrolle, wenn etwa sozial unerwünschtes Verhalten als pathologisch klassifiziert werde. (Conrad 1975) Diese herrschaftstheoretische Kritik neigt in ihrer bestechenden Einfachheit jedoch dazu, Widersprüchlichkeiten und Dialektiken auszublenden, die allen Machtkonstellationen eigen sind. (Beck 2007) Dies lässt sich etwa an der in allen Industriegesellschaften verbreiteten »Ethisierung« medizinischer Probleme aufzeigen: auf allen Ebenen des medizinischen Systems wurden in den vergangenen Jahren obligatorische Passagepunkte (Star/Griesemer 1989) geschaffen – klinische BioethikKommissionen bis hin zu nationalen Bioethik-Gremien –, in denen medizinische Interventionen als ethische Probleme behandelt werden, einer normativen Güterabwägung unterworfen und forschungspolitische Entscheidungen eine »ethische Form« annehmen. (Nassehi 2006) Der Medikalisierung des Sozialen steht damit eine Ethisierung der Medizin gegenüber; Ähnliches ließe sich – etwa im Feld des public health – aufweisen, wenn die Medizin politisch zur Lösung sozialer Probleme in Dienst genommen wird. Biomedizinische Plattformen – so die Ausgangsthese – integrieren damit zahlreiche Widersprüche moderner Gesellschaften, sie sind ein Terrain sozialer, politischer und kultureller Kämpfe. In einem engeren Sinne etablieren sie neuartige Verbindungen zwischen biowissenschaftlicher Grundlagenforschung, klinischer Forschung und therapeutischer Praxis. In einem weiteren Sinne greifen sie in soziale, ökonomische und kulturelle Konstellationen ein, sie tragen zur Transformation von Selbst- und Weltsichten bei, sie bringen neue Verantwortlichkeiten und neue Handlungsmuster in die Welt jenseits der Labor- und Klinikmauern. Damit verändern sie Repräsentationen und Funktionsweisen des Sozialen. Zugleich bringt sich die Lebenswelt über diese heterogenen Plattformen in der Medizin zur Geltung, modifiziert wissenschaftliche Relevanzsetzungen und beeinflusst klinische Verfahrensweisen. Für die sozial- und kulturanthropologische bzw. ethnologische Forschung ergibt sich aus dieser doppelten Entwicklung die Frage, wie die gegenläufigen Prozesse von Biomedikalisierung und Säkularisierung der Medizin einerseits, und andererseits der Medikalisierung des Sozialen und der Indienstnahme der Medizin theoretisch gefasst werden können. Auf einer abstrakten Ebene handelt es sich hierbei um eine Vergesellschaftung der Wissenschaft ebenso wie um eine Verwissenschaftlichung der Gesellschaft. Unterhalb dieser Ebene ist anthropologisch interessant, dass diese doppelte Transformation
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durch eine intensive Moralisierung charakterisiert ist: Es geht stets um nichts weniger als um Leben und Tod; und es werden grundlegende Annahmen westlicher Kosmologien aufgerufen. Für die Ethnologie liegt es nahe, bei der Analyse dieser Transformationen des Sozialen weniger der Perspektive Émile Durkheims und der klassischen Soziologie zu folgen, die vor allem jene abstrakte Sphäre normativer Ordnungen in den Blick nimmt, die das Handeln der Individuen und Institutionen lenkt, sondern eher der Perspektive Gabriel Tardes zu folgen, der das Soziale als emergente Eigenschaft heterogener Beziehungen ansah. (Tarde 2000) Gerade für die Analyse der Wirkungsweisen biomedizinischer Plattformen ist eine solche Perspektive auf dynamische Komplexitäten und emergente Prozesse gefordert, um neben Veränderungen des »Wertehimmels« materielle, rechtliche und institutionelle Arrangements ebenso zu berücksichtigen wie die Veränderung sozialer Interaktionen und kultureller Orientierungen. Damit muss auch über zwei middle range concepts (Merton 1968) hinaus gegangen werden, mit denen in den vergangenen Jahren Effekte der Biowissenschaften auf das »Soziale« und neue biopolitische Konstellationen analysiert wurden: das von Paul Rabinow vorgeschlagene Konzept der »biosociality« (Rabinow 1992) und das von Adriana Petryna geprägte Konzept der »biological citizenship« (Petryna 2002). Mit beiden Begriffen werden gewöhnlich neue Konstellationen zwischen Personen oder Kollektiven beschrieben, die maßgeblich durch biomedizinisches Wissen geprägt sind. Beide Konzepte haben gemeinsam, dass sie immaterielle und unkörperliche Phänomene Privilegieren: Wissen, Normen, Rechte, Moral und Solidarität, die in ihren Auswirkungen auf Identitäten und Subjektivitäten analysiert werden. Biosozialität verweist auf biomedizinische Klassifikationspraktiken und deren »looping« Effekte: diejenigen, die klassifiziert wurden, machen diese Klassifikationen interaktiv zur Bedingung künftiger Handlungen und zur Grundlage von Selbstbildern. Ian Hacking bezeichnet solche Effekte wissenschaftlichen Wissens als dynamischen Nominalismus (Hacking 2002: 100); hierbei handelt es sich um einen inter-aktiven Prozess, weil die betreffenden Subjekte diese Klassifikationen schließlich im engeren Sinne verkörpern können – es entstehen somatische Individualitäten. (Hacking 2006) Hackings bekanntestes Beispiel ist die Erfindung der psychiatrischen Diagnose der »multiplen Persönlichkeitsstörung« um 1875, die zuerst in Frankreich und dann in den USA einen regelrechten Boom erlebte und in dessen Folge sich
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zahlreiche Menschen als »Multiple« zu verstehen und ihr Leben entsprechend zu führen lernten. Ganz ähnlich versucht das Konzept der Biosozialität zu beschreiben, wie durch neue ›genetische‹ Krankheitskonzepte Erkrankungen neu klassifiziert und erfahren werden. Auf dieser Grundlage – so Rabinows These – könnten sich Identitäten herausbilden, die als Kristallisationskern etwa die Aussage »Ich bin Träger der Mutation X …« aufweisen und dazu anregen würden, dass sich Gruppen von Betroffenen zusammenschließen und gegebenenfalls politisch aktiv werden könnten, um ihre Interessen zu verfolgen. In einem kürzlich veröffentlichten Aufsatz schätzt Rabinow sein in den frühen 1990er Jahren vorgeschlagenes Konzept der »biosociality« als »angemessen unterentwickelt« ein, um einen gerade im Entstehen begriffenes Phänomen analytisch erschließen zu können: das durch biotechnologische Verfahren und genetisches Wissen vorangetriebene Problematisch-Werden hergebrachter Verständnisse des »Lebens«. (Rabinow 2008: 188) Der Begriff habe dazu dienen sollen, einige mit der Entzifferung des genetischen Codes verbundene Veränderungen zu problematisieren (etwa das entstehende neue Konzept des Lebens in Wissenschaft und populärer Kultur), neue Formen wissenschaftlicher Expertise (insbesondere die zunehmende Bedeutung genetischen Wissens in den Lebenswissenschaften), neue Ökonomien wissenschaftlicher Erkenntnisproduktion und neue Rationalitäten bei der Bekämpfung von Krankheiten. Der Begriff der Biosozialität wurde in den folgenden Jahren von zahlreichen Sozial- und Kulturwissenschaftlern aufgegriffen, er entwickelte jedoch ein beachtliches Eigenleben, indem er in einem oft verengten, theoretisch reduzierten Sinne Verwendung fand. So bilanzieren etwa Sarah Gibbon und Carlos Novas in einem kürzlich veröffentlichen Artikel zutreffend, dass der Begriff in der überwiegenden Zahl sozialwissenschaftlicher Veröffentlichungen dazu gedient habe, die These zu vertreten, dass genetisches oder medizinisches Wissen zunehmend Identitäten und Formen der Identifizierung präge. (Gibbon/Novas 2008: 6) Im Gegensatz zu Rabinows umfassender, durch die Studien Michel Foucaults inspirierten Idee, den Zusammenhang zwischen einem neuen Wissenstyp und neuen Formen des Sozialen in der Spätmoderne zu thematisieren, (vgl. Rabinow 2008) arbeiten die meisten dieser sozialwissenschaftlichen Studien mit einer theoretisch recht simplen Dreiecks-Konstellation: neues biomedizinisches Wissen erzeugt neue Identitäten und diese wiederum neue Formen der Solida-
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rität. Obwohl die Bedeutung biomedizinischen Wissens für neue Gesellungsformen – wie etwa Patientenorganisationen (Beck 2010; Callon/Rabeharisoa 2004) – nicht unterschätzt werden sollte, muss kritisch gefragt werden, welche theoretischen Vorannahmen hier am Werk sind. Es scheint vor allem die in den US-amerikanischen Sozialwissenschaften dominante Thematisierung von »Identitätsfragen« zu sein, über die Grundfragen von gesellschaftlicher Teilhabe und politischen Rechten diskutiert werden.
Z UR P ROVINZIALISIERUNG WESTLICHER S OZIALTHEORIEN Im folgenden wird die These vertreten, dass die hinter solchen Untersuchungen stehende Problemsicht durch sozialtheoretische Erbschaften und »westliche Kosmologien« geprägt ist, deren »Provinzialisierung« (Chakrabarty 2000) im Sinne einer historischen Lokalisierung und Ent-Universalisierung überfällig ist. Die Annahme, dass Gesellschaft aus »Atomen« – Individuen – zusammengesetzt sei, die sich aufgrund ähnlicher, erworbener und gewählter, Eigenschaften – Identitäten – zusammenschließen, und dass diese ›sozialen Moleküle‹ wiederum gesellschaftliche Zusammenhänge bilden, ist alles andere als unproblematisch. Ausgehend von diesen Annahmen erscheint es in der Tradition westlicher Sozialtheorie jedoch nahe liegend, das Individuum, seine Bedürfnisse und sein Leiden als Ausgangspunkt jeder sozialwissenschaftlichen Analyse zu wählen. Das besondere Verdienst der kulturvergleichend arbeitenden Anthropologie ist es, diesen westlich-kosmologischen common sense grundsätzlich zu hinterfragen. Eine wichtige Kritik daran formulierte etwa der US-amerikanische Kulturanthropologe Marshall Sahlins. Er argumentiert, dass die »eingeborene Anthropologie westlicher Gesellschaften« vor allem dadurch charakterisiert sei, dass »individuelle Bedürfnisse und Gier als Basis menschlicher Sozialität« angesehen würden: Von Vico über Machiavelli, die Aufklärungs-Philosophen, die englischen Utilitaristen bis hin zu den Ökonomen der Gegenwart habe stets die Ansicht im Zentrum gestanden, dass das »individuelle Eigeninteresse« den fundamentalen Verknüpfungsmechanismus‹ der Gesellschaft darstelle. (Sahlins 1996: 398) Ähnlich argumentiert der französische Anthropologe Louis Dumont – für ihn ist die Wertschätzung des Individuums eine für westli-
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che Modernen charakteristische Ausnahmeerscheinung, die auf einer einzigartigen, mit der Moderne einsetzenden »individualistischen Revolution« beruhe, die in anderen komplexen Gesellschaften so nicht feststellbar sei. Als Ergebnis dieser Revolution würde in westlichen Modernen das Individuum, seine Bedürfnisse und Eigenschaften als wichtigster Referenzpunkt aller Sozialphilosophie gewählt: »each man as an individuum of the species is a substance existing by itself (by the will of God to begin with), and there is a tendency to reduce, to obscure or to suppress the social aspect of his nature; society becomes an as-sociation, a ›partnership‹« autonomer Individuen. (Dumont 1970: 32; Hervorh. SB)
Mit dieser Revolution entstehe nicht nur ein »individualistisches Universum« sondern auch eine Konzeption von Staatlichkeit als einer hochgradig spezifischen Form der Sozialität in westlichen Industriestaaten. Für Dumont wie für Sahlins ist offensichtlich, dass diese ›exzentrischen‹ Kosmologien, vor allem aber der unhintergehbare Individualismus der daraus abgeleiteten Sozialtheorien, nicht als Basis taugen, um nicht-westliche Gesellschaftsordnungen zu analysieren. Ganz ähnlich wie Dumont und Sahlins argumentiert auch die britische Sozialanthropologin Marilyn Strathern in ihrem Buch »Gender of the Gift«: In westlichen Sozialtheorien und Alltagsverständnissen würden Individuen als »präsoziale (biologische) Wesen« konzeptualisiert, die das Rohmaterial aller gesellschaftlichen Sozialität darstellten: Gesellschaft erscheine hierdurch als eine »unifying force that gathers persons who present themselves as otherwise irreducibly unique. Persons receive the imprint of society … as individuals, they are imagined as conceptually distinct from the relations that bring them together.« (Strathern 1988: 12f.) Im Gegensatz dazu sähen etwa ihre Melanesischen Respondenten die Fähigkeit, Verbindungen einzugehen und zu erhalten als grundlegend an: Personen erscheinen hier als Ergebnis und nicht – wie in der westlichen Sozialphilosophie – als Voraussetzung von sozialen Beziehungen. Vor dem Hintergrund dieser kultur- und sozialanthropologischen »Provinzialisierungen« des westlichen Konzeptes einer auf dem assoziativen, interessensbasierten Zusammenschluss von Individuen gegründeten Sozialität verliert die in vielen Studien unter dem Begriff der Biosozialität angesprochene Problemstellung zwar nicht ihre Relevanz, doch ist die sozial-kulturelle Reichweite des Problems eingeschränkt. Denn es wäre erst zu begründen, dass neues – als universal
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verstandenes – biomedizinisches Wissen auch in nicht-westlichen Kontexten biosoziale As-Soziationen stiftet, wie sie vor allem am Beispiel US-amerikanischer Patientenorganisationen beschrieben wurden: In diesen Studien wird ungefragt vorausgesetzt, dass biomedizinisches Wissen als Klebstoff wirkt, der Individuen in Not zusammen führt, die nur durch gemeinsame Interessenvertretung und »autolobbying« ihr Leid zu lindern vermögen. Sie geraten damit in Gefahr, den ontologischen Individualismus westlicher Sozialtheorien zu universalisieren. Diese Gefahr besteht erst recht bei einem weiteren, in den letzten Jahren modisch gewordenen Konzept mittlerer Reichweite, mit dem soziale Effekte biomedizinischen Wissens analysiert werden: biological citizenship. Ähnlich wie beim Begriff der Biosozialität ist hier das Individuum der Startpunkt der Analyse, statt seiner Bedürfnisse stehen jedoch seine Rechte im Zentrum. Der untersuchte Zusammenhang nimmt seinen Ausgang von der Person und ihren Rechten, die durch biomedizinische Diskurse modifiziert und neu bestimmt werden, wodurch neue Beziehungen zu Kollektivitäten und neue Relationen zum Staat geschaffen werden. Die in diesen Studien verfolgte Kernfrage lautet, wie historisch wechselnde Konzeptionen des Biologischen das Verständnis von »vitalen Rechten« verändern, die der Einzelne gegenüber einem Staatswesen geltend machen kann. (Petryna 2002) Nikolas Rose und Carlos Novas prägten hierfür den Begriff der »citizenship projects« um die historisch veränderten Arten zu untersuchen, mit denen unter verschiedenen Regierungsformen »Individuen als potentielle Bürger« verstanden und Mittel entwickelt wurden, um auf sie einzuwirken. Das Zeitalter der biological citizenship sei dabei von vorhergehenden Projekt dadurch unterschieden, dass hier »beliefs about the biological existence of human beings, as individuals, as families and lineages, as communities, as population and races, and as a species« im Zentrum der angewandten Machttechnologien stünden. (Rose/Novas 2005: 440) Analog zum Konzept der Biosozialität problematisiert das Konzept der biological citizenship, auf welche Weise biomedizinisches Wissen Verständnisse von Identität und Zugehörigkeit modifiziert. Es wird gefragt, wie Individuen ihr Selbstverhältnis im Sinne einer somatischen Individualität modifizieren, und es wird untersucht, wie Gruppen durch biomedizinisches Wissen entstehen und zusammen gehalten werden. Ebenso wie der Begriff der Biosozialität betont der Begriff
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der biological citizenship die individualisierenden ebenso wie die kollektivierenden Effekte biologischen Wissens, die von verschiedenen citizenship projects in Dienst genommen werden. Rose und Novas sind sich natürlich sehr bewusst, dass der Begriff citizenship eng an die Entstehungsbedingungen der europäischen Nationalstaaten im 18. und 19. Jahrhundert gebunden ist. Der Vorzug dieses Konzeptes liegt besonders darin, dass vor diesem historischen Horizont gegenwärtige Entwicklungen schärfer herausgearbeitet werden können – wie etwa die Schwächung des Nationalstaates, transnationale oder globale Entwicklungen, vor allem die beschleunigte Verbreitung (bio-)wissenschaftlichen Wissens über die Grenzen normativer und moralischer Ordnungen hinaus. Tatsächlich ist das Konzept der biological citizenship gut geeignet, zwischen unterschiedlichen Modi und Techniken des Regierens zu differenzieren. Allerdings setzt es dabei eine recht exzentrische Konstellation des Sozialen voraus: jene Beziehungen, die Bürger westlichindustrialisierter Gesellschaften zu ihren Staaten unterhalten. Gerade für ethnologische Studien, die die Ausbreitung und Anwendung biomedizinischen Wissens an Orten fern der industrialisierten Zentren untersuchen, ist diese Konstellation nur teilweise einschlägig. Hier sind abstraktere Konzepte angebracht, die nicht die wohlgeordneten Konstellationen moderner Staatlichkeit voraussetzen. Wird zudem citizenship als relationales Konzept verstanden, das die ›vertikalen‹ Beziehungen zwischen Bürgern und ihrem Nationalstaat (und den Rechten, die sie ihm gegenüber geltend machen können) thematisiert, dann bleibt nicht nur unklar, wer Adressat dieser Ansprüche sein kann, wenn grenzüberschreitende, transnationale Initiativen »Lebensrechte« einklagen. (Fox 2005) Die im folgenden geschilderten Initiativen um die Spendenaufrufe in Zypern lassen sich jedenfalls mit dem in den Politikwissenschaften vorgeschlagenen »Bumerang-Effekt« nur unzureichend erklären, bei dem zivilgesellschaftliche Kampagnen grenzüberschreitende humanitäre Aktionen dazu nutzen, um durch internationalen Druck Spielräume gegenüber ihren eigenen Regierungen zu schaffen. (Keck/Sikkink 1998) In dieser Perspektive bleiben die neu entstehenden transnationalen Beziehungen gerade unthematisiert. Hierauf werde ich unten nochmals eingehen. Ich möchte im folgenden Fälle medizinischer Mobilität als eine Art Freiland-Experimentalsystem oder Versuchsanordnung nutzen, mit dem neuartige Formen sozialer Verbindungen und die Gründung neuer As-
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Soziationen in und jenseits von Nationalstaaten beobachtet werden können. Ob es die Mobilisierung von Geweben und Organen im Dienste sub-politischer Aktionen, die Mobilisierung ›lokaler‹ Erfahrungen von Leid in einen transnationalen Raum hinein, oder die Entstehung neuer Formen imaginärer biologischer Verbindlichkeiten und spiritueller Verbindungen ist – in allen diesen Fällen werden Wissen, Institutionen, Praktiken und Körper re-konfiguriert, wobei stets auch auf ›lokales‹ Wissen und kulturelle Erfahrungen zurückgegriffen wird, die mit Ansprüchen eines universellen Humanismus verbunden werden.
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1998 nahm die zypriotische Knochenmarkspender-Datenbank ihren Betrieb unter dem Namen Karaiskakio-Stiftung auf, womit der Stifter, Andreas Karaiskakios, ein wohlhabender, griechisch-zypriotischer Geschäftsmann, geehrt wurde. Er hatte das Startkapital für diese Stiftung zur Verfügung gestellt, nachdem sein Sohn in den späten 1990er Jahren an Leukämie gestorben war, weil kein geeigneter Knochenmarkspender gefunden werden konnte. Die Stiftung war ebenso wie die Spender-Datenbank von Beginn an als bi-kommunale Institution2 angelegt, als Einrichtung, die den griechisch- wie türkisch-sprachigen Zyprioten auf der geteilten Mittelmeer-Insel dienen sollte. Allerdings führte eine Verschlechterung der politischen Situation schon 1999 dazu, dass alle bi-kommunalen Aktivitäten eingefroren und auch im Feld der Gesundheitsversorgung jegliche grenzüberschreitende Zusammenarbeit eingestellt werden musste. In den folgenden Jahren hatten daher nur Zyprioten Zugang zum Registrierungsprozess, die auf dem Territorium der Republik Zypern lebten, zu dem die türkisch-sprachigen Zyprioten keinen Zutritt hatten. 2 Der Ausdruck »bi-kommunal« bezeichnet im zypriotischen politischen Diskurs alle Kooperationen und Institutionen, in die griechische und türkische Zyprioten gemeinsam eingebunden sind. Seine Verwendung ist als politischer Kompromiss zu sehen – er erlaubt es der griechisch-zypriotischen Seite sowie internationalen Organisationen wie der UN, über die Beziehungen zwischen der völkerrechtlich nicht als Staat anerkannten »Türkischen Republik Nordzypern« und der Republik Zypern (deren Gebiet sich de facto momentan nur auf den südlichen, nicht von der Türkei besetzten Inselteil erstreckt) politisch korrekt zu sprechen.
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Trotz dieser politischen Einschränkungen konnte die Stiftung bereits in den ersten beiden Jahren 15.000 potentielle Spender registrieren. Angesichts der Tatsache, dass die Republik Zypern nur 600.000 Einwohner hat, kann diese Zahl als außergewöhnlicher Erfolg gewertet werden. Trotzdem wurden diese Zahlen im März 2000 vollständig in den Schatten gestellt, als sich in einem Zeitraum von nur drei Wochen 57.000 Freiwillige als Knochenmarkspender registrieren ließen. Vorausgegangen war ein Aufruf der Karaiskakio-Stiftung, dass Spender für zwei an Leukämie leidende, zypriotische Jungen gesucht würden – den türkisch-sprachigen Kemal Saraçoğlu und den griechisch-sprachigen Andreas Vassiliou. Sowohl die nationale als auch die internationale Presse berichtete intensiv über diese Suche, nicht zuletzt wegen des außergewöhnlichen politischen Symbolismus’: Entgegen der Trennung beider ethnischer Gruppen auf der Insel durch eine undurchdringliche, militarisierte und von der UN bewachte Grenze werde durch diese Spendenaktion ein verbindendes, humanitäres Band hergestellt. Obwohl die Mehrheit der Freiwilligen aus dem griechisch-sprachigen Süden der Insel stammte, gab es eine signifikante Zahl von türkischsprachigen Zyprioten, die eine von der UN zur Verfügung gestellte, provisorische Registrierungsstelle nutzen, um sich eintragen zu lassen. Dieser Ort, in einem ehemaligen, nun von der UN genutzten Hotel im Niemandsland zwischen den Grenzposten liegend, steigerte die Symbolik des Registrierungsaktes nochmals: Ein lebensfeindlicher, zwischen Minen und Stacheldraht gelegener Ort diente einer Demonstration für den Wert des Lebens und der Versöhnung zwischen griechischen und türkischen Zyprioten. Trotz dieses großen Aufwandes konnte das Ziel des Spendenaufrufes jedoch nur teilweise erreicht werden. Während für Andreas Vassiliou ein in einer amerikanischen Spenderdatenbank registrierter Spender vermittelt werden konnte und er ein erfolgreiches Transplantat in den USA erhielt, konnte für Kemal Saraçoğlu kein ausreichend kompatibler Spender gefunden werden. Er erhielt zwar ein Transplantat, doch war seine Krankheit bereits zu weit fortgeschritten und sein Körper stieß die transplantierten Knochmarkzellen ab. Er starb kurz nach dem Eingriff in einem Krankenhaus. Für seinen Vater, Sua Saraçoğlu, trägt der türkische Staat an seinem Tod eine große Mitschuld: Die türkisch-zypriotischen Behörden wie auch die Regierung in Ankara hätten mit allen Mitteln verhindern wollen, dass rechtzeitig ein griechisch-zypriotischer Spender gefunden werden konnte. Aus seiner
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Sicht behinderten sie die rechtzeitige Immunotypisierung durch die Karaiskakio-Stiftung mit dem Argument, dass »türkisches Blut niemals an feindliche Mächte gegeben werden dürfe«. Tatsächlich besitzt Saraçoğlu eine Kopie eines Gutachtens, gefertigt von einem Mitglied der türkischen Akademie der Wissenschaften, das fordert, alle genetischen Informationen über türkisches Blut wie Staatsgeheimnisse zu behandeln. Dieses Gutachten ist auf einer CD dokumentiert, die von der Kemal-Saraçoğlu-Stiftung mit der Unterstützung von USAID und UNOPS vertrieben wird. Tatsächlich ist anzunehmen, dass für die mangelnde Unterstützung der türkischen Gesundheitsbehörden auch die notorisch schlechte personelle, technische und finanzielle Ausstattung der türkisch-zypriotischen Gesundheitsbehörden in Kombination mit Ignoranz und gekränktem Stolz, auf die Hilfe des »Gegners« angewiesen zu sein, für die von Saraçoğlu erfahrene mangelnde Unterstützung ursächlich war. Ein weiterer handfesterer Grund fehlender Kooperation zwischen türkisch- und griechisch-zypriotischen Behörden war zudem, dass für eine solche Zusammenarbeit keinerlei institutionelle Rahmenbedingungen bestanden, noch nicht einmal direkte Telefonate zwischen den Experten waren möglich, wenn nicht die wenigen Telefonleitungen der UN genutzt werden konnten. Zudem war auch auf griechisch-zypriotischer Seite vollkommen unklar, wer die Kosten der Behandlung übernehmen und wie Patient oder Spender über die hermetisch-abgeriegelte Grenze transportiert werden sollten. Im Folgenden soll geklärt werden, wie sich der bemerkenswerte Erfolg dieses Spendenaufrufes im Jahre 2000 und eines noch spektakuläreren drei Jahre später erklären lässt. Welche Motive hatten die Beteiligten dieser und der folgenden Aktion? Wie gelang die massenhafte Mobilisierung altruistischer Gefühle und ihre schrittweise Politisierung? Lässt sich hieraus auf das Entstehen einer neuen »Politik des Lebens von unten« schließen, die auch im transnationalen Raum ihre Wirkungen zu entfalten beginnt, weil sie nationalstaatliche Grenzen zu überschreiten vermag?
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K NOCHENMARKSPENDE ALS V OLKSABSTIMMUNG Sua Saraçoğlu, der ein selbstbewusster und international tätiger Geschäftsmann ist, erlebte den Tod seines einzigen Sohnes nicht nur als familiäre Katastrophe. Die Behinderungen, die er bei der Suche nach einem lebensrettenden Spender durch die türkischen Behörden erfahren hatte, zerstörten auch sein Vertrauen in seinen Staat, wie er sagt. Aus seiner Sicht wurden sein Sohn und seine Familie Opfer eines repressiven politischen Regimes, das nationalen Interessen und ethnischen Vorurteilen Priorität über den Schutz seiner Bürger vor Krankheit und Tod gab. Indem der Staat diese Schutzpflicht gegenüber seinem Sohn verletzte, verspielte er in seinen Augen jegliche Legitimität seiner Herrschaftsansprüche. Als Bürger fühlte sich Sua verraten; aber als gebildeter Mensch mit Unternehmergeist sah er sich zum Handeln gezwungen: Um ähnliches Unrecht in Zukunft zu verhindern, gründete er 2001 die Kemal Saraçoğlu Stiftung, für die er die Unterstützung durch USAID, das UN Development Program und UNOPS gewinnen konnte, einer UN-Agentur, die bi-kommunale Initiativen und NGOs in beiden Teilen Zypern finanziell und organisatorisch unterstützt. Auf griechisch-zypriotischer Seite verfolgte Marinos Ioannides als Vorsitzender einer Bürgerinitiative ganz ähnliche Ziele, ohne Sua zu kennen. Ioannides war zum Studium nach Deutschland gegangen und hatte dort zehn Jahre als Ingenieur gearbeitet. Mit seiner amerikanischen Frau und seinen beiden Töchtern entschloss er sich aber Mitte der 1990er Jahre, nach Zypern zurückzukehren, um Computerwissenschaften an der Technischen Universität Zypern zu unterrichten. Nach seiner Rückkehr sah er den bei allen griechisch- wie türkisch-zypriotischen Parteien militanten Nationalismus und den dominanten »ethnischen Autismus« (Papadakis 2006) zunehmend kritisch und trat schließlich einer lose organisierten Gruppe von Aktivisten bei, die mit Unterstützung der UN bi-kommunale Projekte mit ähnlichen Gruppen im Norden der Insel durchführten. Auf beiden Seiten des zypriotischen »Eisernen Vorhanges« wurde diese wenigen Hundert Personen, die sich für Verständigung und Versöhnung türkischer und griechischer Zyprioten einsetzten, von der Geheimpolizei und dem Staatsschutz eng überwacht. Immer im Verdacht, die »eigene Seite« zu verraten und mit »dem Feind« zu fraternisieren, waren diese Gruppen sehr erfolgreich, Unterstützung durch internationale Geldgeber zu sichern: Die Rockefeller-Stiftung, USAID und Organisationen der UNO sowie die Euro-
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päische Union hatten ein großes Interesse, bi-kommunale Bürgergruppen und Graswurzel-Aktivisten zu unterstützen, die die angespannte politische Situation auf der Insel zu überwinden und den stillstehenden politischen Annäherungsprozess wiederzubeleben suchten. Obwohl diese Gruppen nie die politische Stimmung in beiden Teilen der Insel wesentlich zu Gunsten einer »Lösung« des seit 30 Jahren eingefrorenen Konfliktes beeinflussen konnten, bestritten sie doch auf symbolischer Ebene sehr erfolgreich die Alternativlosigkeit des harten nationalistischen Kurses der herrschenden Parteien in beiden Landesteilen: Die Aussage jedenfalls, dass man die »Anderen« als niederträchtige Feinde anzusehen habe, mit denen keine Ebene der Verständigung gefunden werden könne, wurde durch diese Gruppen in zahlreichen persönlichen Treffen, in gemeinsam durchgeführten Chorproben, Picknicks, Theateraufführungen oder Umweltschutzaktionen (Baga 2001; Schulze 2001) pressewirksam dementiert – obwohl diese Treffen nur unter dem Schutz der UN in der Pufferzone stattfinden konnten. Die jeweiligen Autoritäten sahen durch diese wohlmeinenden, aber letztlich ohnmächtigen Aktionen ihre Souveränität über die eigene »Volksgruppe« herausgefordert. Es verwundert daher nicht, dass den politischen Machtzirkeln auf beiden Seiten der zypriotischen Demarkationslinie der Aufruf zur Spende von Knochenmark für Kemal Saraçoğlu und Andreas Vassiliou alles andere als willkommen war. Aus ihrer Sicht war jede Demonstration der Solidarität und gegenseitigen Hilfe durch türkische und griechische Zyprioten ein Angriff auf ihre Politik, die auf strikte Separierung beider »ethnischer Gruppen« gerichtet war. Vor diesem Hintergrund sahen Marinos Ioannides und seine Gruppe drei Jahre später eine Chance, ein weiteres subversives Signal an die Politik zu senden. Im März 2003 hatten unter der Vermittlung von Kofi Annan in Den Haag Verhandlungen über eine Lösung des Zypernkonfliktes begonnen, denen jedoch wegen der Unwilligkeit der Delegationen, reale Veränderungen einzuleiten, keine Chance gegeben wurde – ihr Scheitern war schon absehbar. In dieser frustrierenden Situation hörte Ioannides, dass auf türkisch-zypriotischer Seite der Grenze dringend nach einem Knochenmarkspender für ein an Leukämie leidendes Mädchen, Jale Sakaoğlu, gesucht wurde. Über seine Verbindungen zu bi-kommunalen Gruppen im Norden kontaktierte er Sua Saraçoğlu und verabredete mit ihm, die Suche zu einer gemeinsamen Sache zu machen. Innerhalb weniger Tage organi-
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sierten er und seine Mitstreiter eine Pressekampagne, überzeugten die UN, in dem in der Pufferzone gelegenen und als UN-Hauptquartier dienenden Ledra-Hotel eine Registrierungsstelle einzurichten, zu der griechische wie türkische Zyprioten gleichen Zugang hatten und sicherten die Unterstützung medizinischen Personals und der Karaiskakio-Stiftung. Dieser Spendenaufruf war ein voller Erfolg: in dem kurzen Zeitraum von 11 Tagen ließen sich nicht nur 13.500 Freiwillige registrieren, sondern auch die nationale wie internationale Presse berichtete ausführlich. Vor dem Hintergrund dieser internationalen Aufmerksamkeit wagten die türkisch-zypriotischen Behörden nicht, ihren Bürgern den Zugang zur UN-Pufferzone zu verbieten, obwohl es durchaus die Befürchtung gab, sie könnten die Gelegenheit nutzen und um Aufnahme im wirtschaftlich prosperierenden Süden der Insel bitten. Vor allem in Griechenland und der Türkei stieß die Spendenaktion auf große Sympathie nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch bei den Regierungen, da sie – im Gegensatz zu den Parteien in Zypern – die Verhandlungen in Den Haag zu einem Erfolg führen wollten. Auch für die UN in Zypern stellte die bi-kommunale Suche nach einem Spender für Jale einen positiven public relations event dar; das hauseigene Magazin »Blue Beret« berichtete im gleichen Heft ausführlich über die Verhandlungen in Den Haag und die Spendenaktion. In einem Interview mit den Presseoffizieren schilderte Marinos Ioannides, dass es darum gegangen sei, die »Nachricht« an die Verhandlungsdelegationen zu schicken, dass die Bürger – im Gegensatz zu den herrschenden Parteien – durchaus den starken Willen hätten, sich anzunähren und eine friedliche Lösung des Konfliktes zu finden. Er hoffe – so Ioannides –, dass die Nachricht gehört worden sei und die Verhandlungen dadurch einen kleinen Stoß in die richtige Richtung erhalten hätten. (N.N. 2003: 13) Sua Saraçoğlu verfolgte hingegen eine persönlichere Agenda – er wollte diesmal beweisen, dass es trotz des Widerstandes seiner Regierung möglich sei, gemeinschaftlich mit den griechischen Zyprioten ein türkisch-zypriotisches Kind zu retten. Seine Idee war es auch, zu einem Pressetermin in der UN-Pufferzone Onur und Andrea einzuladen: denn Onur hatte sich anlässlich der Spendersuche für seinen Sohn im Jahre 2000 registrieren lassen und war ein Jahr später in der Datenbank der Karaiskakio-Stiftung als idealer Spender für Andrea gefunden worden. Obwohl die Verhandlungen in Den Haag schließlich scheiterten, hatte die große Resonanz, die die Registrierungsaktion national wie
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international gefunden hatte, einen politischen Erdrutsch zur Folge: Die türkischen Behörden hatten anfangs ihren Bürgern nur widerstrebend den Zugang zur Pufferzone gestattet, weil sie fürchteten, dass eine größere Zahl aus ökonomischen oder politischen Gründen in den Süden fliehen könnte. Doch zur Überraschung vieler in Administration und Militär nutzten zwar zahlreiche Menschen die Gelegenheit, sich im Süden Nikosias umzusehen, sie kamen jedoch alle nach einem ausgiebigen Shopping-Spaziergang in den Norden zurück. Zwei Wochen nach der Spendenaktion, als die Verhandlungen in Den Haag offiziell gescheitert waren, lief eine Welle des politischen Protestes durch den türkischen Teil der Insel: unzufrieden mit der sich verschlechternden wirtschaftlichen Situation, der politischen Repression und der Dominanz des türkischen Militärs in allen Lebensbereichen forderten immer mehr Menschen grundlegende Reformen und vor allem eine Öffnung der Grenze. Die Proteste weiteten sich aus, in fast allen Dörfern brannten nachts Mahnfeuer, die auch im Süden der Insel sichtbar waren, und die Opposition begann sich zu organisieren. Um den politischen Druck zu kanalisieren, öffneten die türkischen Behörden schließlich am 23. April 2003 die Grenze und gewährten ihren Bürgern Reisefreiheit in den Süden. In einem Gespräch mit Marinos Ioannides schilderte später im Jahr 2003 ein türkisch-zypriotischer Minister aus seiner Sicht die Ereignisse, die zur Grenzöffnung führten: »Eure Aktion hat uns viel Kopfzerbrechen verursacht; sie hat die Grenze durchlöchert, die politischen Proteste in den folgenden Wochen haben sie weggeschwemmt.« (I-MI, 18.2.2004) Eine genauere Analyse der Ereignisse macht klar, dass der politische Protest seine Energie vor allem aus einer symbolischen Delegitimierung der Souveränitätsansprüche bezog, die die türkisch- wie die griechisch-zypriotische Regierung über jeweils ›ihre‹ Bürger geltend machte: Die Aktionen um den Spendenaufruf verdeutlichten, dass beide Regime durch ihre Politik der Abschottung der Rettung des Lebens eines unschuldigen Kindes im Weg standen. Besonders im Fall der türkisch-zypriotischen Behörden wurde damit die offizielle Ideologie subversiv gegen den Staat selbst gewendet, der sich als »guter Vater« seiner Bürger darstellt, dem Gehorsam und Vertrauen entgegenzubringen ist. Dieses Staatsverständnis kommt etwa in dem berühmten Zitat Kemal Atatürks zum Ausdruck: »Türke, rühme dich, arbeite und vertraue!« (Türk, öğün, calış, güven!) Ein Staat – so die implizite Aussage des Protestes –, der seine pastorale Macht nicht
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verantwortungsvoll wahrnimmt, verliert das Recht, die Loyalität seiner Bürger einzufordern. Aber auch im Süden der Insel wurde die nationalistische Ideologie der herrschenden Parteien kreativ unterlaufen. Niemand wollte es riskieren, den Versuch zu verhindern, ein unschuldiges türkisch-zypriotisches Kind zu retten: der Wert dieses Lebens stand gegen die Staatsdoktrin der Nicht-Kooperation mit der »anderen Seite«. Diese Herausforderung staatlicher Legitimität machte die bikommunale, von »einfachen Bürgern« betriebene Spendersuche zu einer durchaus gefährlichen Aktion.
(S UB -)P OLITISCHE U MVERTEILUNGEN DER B IOMACHT »Gefährlich« erscheinen diese Aktionen vor allem deshalb, weil sie das von beiden Staatsapparaten beanspruchte Monopol auf die Ausübung von Biomacht herausfordern, einen der Kernbestände ihrer Souveränitätsansprüche gegenüber ihren Bevölkerungen. Michel Foucault hatte den Begriff der Biomacht vorgeschlagen, um damit die Macht des absolutistischen Souveräns über Leben und Tod zu charakterisieren. Im Übergang zur Moderne sah Foucault diese Machtform als transformiert an: in eine Anatomo-Politik, die sich auf die Disziplinierung der Körper, und eine Biopolitik, die sich auf die Kontrolle einer Population in Bezug auf ihre vitalen Lebensumstände wie Gesundheit, Krankheit, Geburt und Sterblichkeit bezog. (Foucault 1976) Dieses von Foucault nie präzise ausgearbeitete Konzept entwickelten kürzlich Paul Rabinow und Nikolas Rose weiter für die Analyse aktueller Veränderungen in jenen »Wahrheitsdiskursen«, in denen Konzepte des »Lebens« neu problematisiert würden und neue biopolitische Regimes entstünden. Für Rabinow und Rose umschreibt das Konzept der Biomacht dabei eine »plane of actuality« – einen Möglichkeitsraum – in dem mindestens drei Elemente wirksam seien: Einer oder mehrere Wahrheitsdiskurse, in denen der vitale Charakter menschlicher Lebewesen durch autorisierte Experten bestimmt werde; die Verfügbarkeit bürokratischer Strategien, mit denen in die kollektive Existenz von Populationen interveniert werden könne; und schließlich Modi der Subjektivierung, durch die Menschen dazu angehalten würden, orientiert an diesen »Wahrheitsdiskursen« an sich selbst im Na-
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men ihrer Gesundheit, der ihrer Familie oder ihrer Population zu arbeiten. (Rabinow/Rose 2006: 197) In diesem Möglichkeitsraum treffen nach Rabinow und Rose durchaus widersprüchliche Wahrheitsdiskurse aufeinander, werden biopolitische Interventionen mit durchaus unterschiedlichen Ergebnissen durchgeführt und es entstehen verschiedenartige Konstellationen von Selbstpraktiken. Wichtig ist dabei ihr Hinweis, dass diese Formen der Biopolitik, wie sie für liberale, demokratische Staaten charakteristisch seien, klar von absolutistischen oder diktatorischen Formen der Herrschaft über Leben und Tod abgegrenzt werden müssten, die sie »Thanatopolitik« nennen. Damit kritisieren sie Versuche, totalisierende, homogene Machtkonzepte zum Modell der Biomacht zu erklären, wie sie etwa von Michael Hardt und Antonio Negri (Hardt/Negri 2000) oder Giorgio Agamben (Agamben 1998) vorgetragen wurden. Diese Differenzierung ist im hier diskutierten Zusammenhang wichtig, weil damit auf Widersprüche und Dialektiken hingewiesen wird, deren Ursachen letztlich in der Wahrheitsabhängigkeit der Machtregimes liegen: Wird dieser Hinweis Michel Foucaults kombiniert mit der Einsicht Niklas Luhmanns, dass mit wissenschaftlichen Wahrheiten zugleich auch der (wissenschaftliche) Zweifel an diesen Wahrheiten in die Welt kommt (Luhmann 1995), dann wird offenbar, dass moderne Gesellschaften sich totalitäre (Bio-)Machtregimes nur unter der Strafe ihrer eigenen Dementierung – im Sinne eines Widerrufs grundlegender Funktionsprinzipien aufgeklärter Gesellschaften wie auch einer bewussten (Selbst-)Verdummung gesellschaftlicher Diskurse – leisten können. Mit einer ähnlichen Intention hat kürzlich Didier Fassin das Konzept der Biomacht aufgegriffen; auch er grenzt sich kritisch gegen Versuche ab, Biomacht als totalisierenden »Durchgriff« auf das Leben zu konzipieren. Für Fassin sind moderne Gesellschaften eher dadurch charakterisiert, wie und welche Legitimitäten sie ›Leben‹ zuweisen, als durch die Macht, die sie über dieses Leben direkt auszuüben versuchen. Weisen Rabinow und Rose auf die Wissenschaftsabhängigkeit der Biomacht hin, so Fassin auf ihre Moralabhängigkeit, ein Zusammenhang, für den er den Begriff der »Biolegitimität« einführt: »Talking of biolegitimacy rather than biopower is thus to emphasize the construction of the meaning and values of life instead of the exercise of forces and strategies to control it.« (Fassin 2009: 52) Beiden Ansätzen ist gemeinsam, dass sie auf Widersprüche in den Regimes der
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Biomacht und den ihnen zugrunde liegenden, teilweise widerstreitenden Diskursen hinweisen. Sie eröffnen damit eine analytische Perspektive, die es erlaubt, Gegenläufigkeiten, Auseinandersetzungen, Brüche und Veränderungen zu thematisieren, die sich in unterschiedlichen Politiken des Lebens manifestieren. Und diese Perspektive erlaubt auch, Projekte der Gegenmacht oder Subversion analytisch präziser zu fassen, wie sie sich in den oben beschriebenen, bi-kommunalen Spendenaufrufen in Zypern zeigten. Im Fall der zwei Spendenaufrufe für Kemal und Andreas sowie für Jale ermöglicht der durch die Biomedizin etablierte, molekulare Blick auf Histokompatibilitäten Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen Menschen zu identifizieren, die den in beiden Teilen Zyperns dominanten, ethnisch-nationalistischen Repräsentationen des »Eigenen« und des »Fremden« zuwiderlaufen, die stets durch Verweis auf unterschiedliche »Abstammungsgemeinschaften« beider Gruppen auch biologistisch aufgeladen wurden: Der »türkische« Ingenieur Onur und das »griechische« Mädchen Andrea etwa erwiesen sich trotz ihrer Zugehörigkeit zu unterschiedlichen »Ethnien« auf molekularer Ebene als fast identisch. Die erfolgreiche Knochenmarkspende schließlich führte dazu, dass sie tatsächlich über »gleiches Blut« verfügen, ohne dass dies durch den uninstrumentierten Blick offenbar würde: weder Unterschiede in Alter, noch Geschlecht oder Zugehörigkeit zu unterschiedlichen Populationen können diese biologisch zertifizierte Ähnlichkeit in Frage stellen. Ebenso stark wurden durch die erfolgreiche Transplantation dominante moralische Sicherheiten auf beiden Seiten der Grenze Zyperns irritiert: Im Rahmen der herrschenden Doktrinen erschien es undenkbar, dass Menschlichkeit und Solidarität die tiefe Feindschaft zwischen Türken und griechischen Zyprioten überwinden konnten. Der überwältigende Erfolg der Spendenaufrufe demonstrierte hingegen die massenhafte Bereitschaft zahlreicher „einfacher Menschen“, humanitären Werten Vorrang vor politischen Ideologien und nationalistischen Loyalitäten zu geben.
A NONYMISIERTE I NTIMITÄT UND R EZIPROZITÄT IM TRANSNATIONALEN R AUM In Interviews mit zypriotischen Knochenmarkspendern wird deutlich, welche starken Motive hinter ihrer Bereitschaft standen, sich der kör-
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perlich durchaus schmerzvollen Prozedur bei der für die Transplantation notwendigen Gewinnung von blutbildenden Zellen aus ihrem Körper zu unterziehen. Für eine 30-jährige Spenderin gab es schlicht keine Alternative: »Es war schmerzhaft, aber ich würde es sofort wieder tun. Ich habe darüber viel nachgedacht – es könnte schließlich auch eines meiner Kinder sein, ein Familienmitglied, ein Freund [der ein Transplantat braucht]. Wie würde ich mich fühlen wenn ich wüsste, da ist jemand, dem ich helfen könnte und ich würde mich weigern?« (I–ET: 064)
Ebenso stark erlebte ein ca. 40-jähriger Bankmanager diese moralische Verpflichtung: »Ich habe gar nicht daran gedacht, abzulehnen. Wenn ich nein gesagt hätte [nachdem er als Spender über die Datenbank gefunden wurde], dann wäre diese Person wegen mir gestorben – das wäre schrecklich gewesen. Wenn ich abgelehnt hätte – das wäre so gewesen, als ob ich ihn umgebracht hätte!« (I– PD: 033)
Auch bei allen anderen der von mir interviewten Spender erzeugte das durch den »molekularen Blick« hergestellte Wissen, als Spender in Frage zu kommen, einen unmittelbar erfahrenen, moralisch höchst aufgeladenen Handlungsdruck: Der Rolle des Lebensretters wollte und konnte sich keiner der Befragten entziehen. Einen Eindruck der dahinter liegenden Motive vermittelt die Aussage eines 40-jährigen Geschäftsmannes; für ihn ist das durch die erfolgreiche Transplantation hergestellte Verhältnis zu »seinem« Knochenmarksempfänger eines der »Erzeugung«: »Ich fühle, dass er ein Stück von mir ist [ένα κοµµάτι µου]. […] Ich sehe ihn als einen meiner nächsten Personen – ob er nun eher mein Sohn oder mein Bruder ist, was wäre der Unterschied? Du fühlst für alle deine Familienmitglieder in der gleichen Weise.«
Zur Erläuterung erzählte er mir, dass er kurz nach seiner Spende ein Kloster besuchte, wo ihm eine der Nonnen gesagt habe: »›Sein Vater gab ihm ein Leben, du gabst ihm ein zweites.‹ Ich weiß, dass er ohne einen kompatiblen Spender nicht überlebt hätte. Ich habe ihm Leben gegeben, es ist etwas sehr bedeutendes, das er von mir erhalten hat.« (I–AA: 081) Auch eine 45-jährige Spenderin – selbst Mutter zweier
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Kinder – sieht »ihren« Empfänger nun als Sohn, dem sie bei der Wiedergeburt vom sicheren Tod geholfen habe. (I–DP: 048) Sicherlich spiegelt sich in diesen Aussagen die offizielle Rhetorik der Aufrufe, in denen immer wieder von dem »Geschenk des Lebens« die Rede ist, das die Spender machen könnten. Und für die meisten der interviewten Spender ist es nicht nur ein materieller, sondern ein höchst symbolischer Akt, dass aus ihrem Blut Zellen gewonnen werden, die im Körper der Empfänger wiederum ihr Blut erzeugen – für die von mir interviewten Zyprioten ist »gemeinsames Blut« synonym mit »Verwandtschaft«, gemeinsamer biologischer Abstammung und gegenseitiger sozialer Verbindlichkeit. Für diese mit großer Intensität gefühlte Verbindung, die Spender gegenüber »ihren« Empfängern empfinden spricht auch die Frustration, von der alle berichteten, weil es ihnen nicht möglich gemacht werde, ihr »Gegenüber« in Person kennenzulernen; die strikt gehandhabten Regeln der anonymen Spende verbieten es sogar, dass sie allgemeine Angaben über die Empfänger erhalten. Nur einige wenige konnten – durch Zufall – Informationen erhalten, welcher Nationalität sie angehören, ob es Männer oder Frauen sind bzw. wie alt die Empfänger waren. Auch deshalb ist der eingangs geschilderte Fall von Onur und Andrea so außergewöhnlich: Erst auf hartnäckiges Betreiben von Sua Saraçoğlu und gegen den erklärten Willen des für die Datenbank verantwortlichen Wissenschaftlers der Karaiskakio-Stiftung wurde hier die sonst geltende Anonymität zwischen Spender und Empfänger aufgehoben – Sua wollte vor allem wegen des Publizitätsgewinns Onur und Andrea auf einem Foto abbilden. Für die anderen interviewten Spender jedoch gilt, dass sie allein auf ihre Phantasie verwiesen sind, wenn sie sich das von ihnen gerettete Leben vorstellen wollen. Fast alle der Interviewten erleben dies als frustrierend – trotzdem sind sie bereit, auch in Zukunft ohne zu zögern einer Bitte um Knochenmarkspende nachzukommen und sie wissen dabei, dass ihre Knochenmarkzellen überall auf der Welt einen Kranken retten könnten. Tatsächlich weist Zypern die höchste Rate registrierter Knochenmarkspender in der Bevölkerung auf – mehr als 17 % im Vergleich zu niedrigen einstelligen Anteilen in den meisten Industrieländern. Die meisten der Befragten führen diese große Resonanz der Spendenaufrufe in Zypern darauf zurück, dass das soziale Leben in ihrem Land noch überwiegend durch dörfliche Mentalitäten charakterisiert sei, nach denen Nachbarschaftshilfe und tägliche Mitmensch-
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lichkeit selbstverständlich seien, gerade auch vor dem Hintergrund der gewaltsamen Trennung der Insel. Eine 30-jährige Interviewpartnerin brachte dieses Selbstbild auf den Punkt: »Wir in Zypern sind sensibilisierter [στην Κύπρο είµαστε πιο ευαισθητοποιηµένοι] für Schmerz und Leid.« (I-DK: 089) Für die Befragten ist es dabei nicht nur kein Widerspruch, dass sie ihre lokal gelernte Mitmenschlichkeit mit der Hilfe einer biomedizinischen Plattform in einem transnationalen Rahmen nun anonym zur Geltung bringen, sondern sie fühlen auch eine moralische Verpflichtung, nationale Vorurteile und ethnisierende Ideologien zu überwinden. Wie es die bereits zitierte 45-jährige Mutter ausdrückte: »Bei solchen existentiellen Problemen kann man nicht zwischen Griechen und Türken unterscheiden.« (I–DP: 039) Es ist diese mitfühlende Haltung gegenüber individuellem Leid, an der die kollektivierende Logik der offiziellen, ethnisierenden Biopolitik der beiden Regimes scheiterte: Es gelang den Herrschenden auf beiden Seiten des zypriotischen »Eisernen Vorhanges« nicht, ihre Politik der strikten Abgrenzung zu legitimieren und die humanistischen Gefühle »ihrer« Bevölkerungen ethnisch einzuhegen.
S OLIDARITÄT JENSEITS STAATLICHER K OLLEKTIVE – BIOLOGISCHER K OSMOPOLITANISMUS ? Im hier diskutierten Zusammenhang ist signifikant, dass das konkrete Motiv vieler türkischer und griechischer Zyprioten, sich an den Spendenaktionen zu beteiligen, zwar durch konkrete, lokale »Fälle« der Hilfsbedürftigkeit ausgelöst wurde, sich diese direkte Hilfsbereitschaft jedoch in abstrakte soziale Zusammenhänge ausdehnen lässt: Die biomedizinische Plattform der Transplantationsmedizin ermöglicht auch gewöhnlichen Bürgern, durch eine einfache Registrierung und die Spende von Stammzellen an einem transnationalen humanistischen Projekt teil zu haben, das offiziell verordnete, nationale und ethnisierende Bornierungen hinter sich lässt. Durch das transnationale System der vernetzten Spenderdatenbanken wird ein Möglichkeitsraum für einen biotechnologisch mediierten Altruismus’ geschaffen, der nicht nur Patienten – potentiell – »in aller Welt« zu helfen vermag, sondern auch für die Registrierten verändernd auf ihr Selbstbild wirkt. Die biotechnologische assemblage der Knochenmarkstransplantation ent-
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faltet intendierte ebenso wie unintendierte as-soziierende und subjektivierende Effekte. Es sind Effekte, die – folgt man der Bestimmung der Biopolitik, wie sie etwa Paul Rabinow und Nikolas Rose vorschlagen – als biopolitisch klassifiziert werden können, ohne dass sie jedoch an Staatlichkeit oder eine Gesellschaft gebunden wären: global geltende biomedizinische Wahrheitsdiskurse und der »molekulare Blick« der Immunologie erzeugen neue physiologische Ähnlichkeiten und dementieren die durchgreifende Bedeutung ethnisierender Diskurse, durch die etwa »Türken« und »Griechen« als unterschiedliche, klar voneinander geschiedene Abstammungsgemeinschaften konstruiert werden. Mit der biomedizinischen Plattform existiert ein Interventionsinstrument, mit dem in das Leben von Menschen eingegriffen werden kann, ohne dass diese Eingriffe auf eine Population beschränkt blieben. Und für die Registrierten wird über die Teilhabe an diesem Netzwerk der humanitären Intervention eine neuartige Selbstsicht ermöglicht. Ebenso wichtig ist im oben diskutierten Fall, dass Widersprüche im Feld der Biolegitimität erzeugt werden, die transformierende Wirkungen auf nationalistisch gebundene Kollektivitäten haben: Das moralische Gebot der Menschlichkeit, der Hilfe in existentiellen Lebenskrisen, das für die Freiwilligen Spender leitend ist, gerät in Konflikt mit den Versuchen herrschender Regimes, Solidarität und Mitmenschlichkeit auf die eigene Bevölkerung einzuhegen. Ob sich hieraus ein biopolitischer Kosmopolitanismus entwickelt, der den engeren Bereich medizinischer Nothilfe überschreitet, kann auf der Grundlage des hier analysierten empirischen Materials nicht beantwortet werden; diese Frage stellt eine Herausforderung sozialanthropologischer Forschung dar.
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Moral, Wissenschaft und (Ent?)Politisierung: Eine Analyse der offiziellen Diskurse über Embryonenforschung
B ORIS H AURAY
Wissenschaftliche Forschungen an embryonalen Zellen sind, ähnlich wie bereits seit längerer Zeit Abtreibungen, ein zentraler Faktor in der Konstitution von Embryonen als gesellschaftliches Problem (Mulkay 1997; Prainsack et al. 2008). In der Folge der Entwicklung von InVitro-Fertilisationstechniken (IVF) in den späten 1970er Jahren und der dadurch entfachten Debatten löste das erste durch Klonen erzeugte Säugetier Ende der 1990er Jahre einen moralischen Schock aus. Das erklärt sich unter anderem daraus, dass erstmals embryonale Stammzellen von Menschen isoliert worden waren und deren Potenzial für die Heilung degenerativer Krankheiten diskutiert wurde; das Plädoyer vieler Forscher/innen für eine Aufweichung der gesellschaftlichen und politischen Kontrolle in diesem Feld zog Kontroversen und Polemiken nach sich. Zu Beginn des neuen Millenniums wurden die Anfang der 1990er Jahre erlassenen Gesetze, die die Verwendung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken regulieren sollen, in mehreren europäischen Staaten entsprechend geändert. In Großbritannien wurde die seit 1990 geltende Genehmigung für Embryonenforschung dergestalt erweitert, dass nun mit bis zu 14 Tage alten Embryonen gearbeitet werden kann; auch die Herstellung von Stammzelllinien und der Rückgriff auf Technologien zum so genannten ›therapeutischen‹ Klonen sind nun erlaubt. In Frankreich wurde 2004 an dem Prinzip des
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Verbots der Embryonenforschung festgehalten; das Gesetz wurde allerdings um einen Zusatz erweitert, der verfügt, dass überzählige Embryonen aus IVFs während eines Zeitraums von fünf Jahren zu Forschungszwecken verwendet werden dürfen; Klonen ist allerdings nicht erlaubt. In Deutschland schließlich gilt nach wie vor das 1990 erlassene Verbot, aber Forschungen an Stammzelllinien sind legal, wenn diese vor Januar 2002 und außerhalb Deutschlands hergestellt wurden. Menschliche Embryonen in ihrem Zwischenstadium zwischen Nichtexistenz und Existenz sind zwar schon seit langer Zeit Gegenstand von Debatten über das menschliche Leben; trotzdem stehen wir hier zugleich vor einer typischen Herausforderung für moderne Gesellschaften. Einerseits wurden zuvor ungeahnte technische und wissenschaftliche Fortschritte gemacht, aufgrund derer wir in der Verantwortung stehen, die Grenzen unserer Intervention in die Welt und die Natur zu bestimmen (Jonas 1990). Auf der anderen Seite birgt die Bestimmung dieser Grenzen Unsicherheiten, die es schwierig machen, diesbezügliche politische Entscheidungen auf ein solides Fundament zu stellen. In pluralistischen und global vernetzten Gesellschaften scheint es tatsächlich schwierig zu sein, sich auf eine einheitliche ›nationale Moral‹ zu berufen. Zudem wird das politische Geschehen auch davon beeinflusst, wie die Wirklichkeit beschrieben wird, also vom verfügbaren Wissen über das Leben und vom Stand der Medizin. Das lebenswissenschaftliche und das medizinische Wissen weisen aber selber erhebliche Lücken und Unsicherheiten auf, werden in Zweifel gezogen und entziehen sich gleichzeitig weitgehend dem Verständnis der Bürger/innen und ihrer politischen Vertreter/innen (Jonas 1990). In diesem Beitrag soll untersucht werden, wie das Problem der Embryonenforschung zu Beginn des neuen Jahrtausends in Europa trotz dieser und mit diesen Unsicherheiten »konstruiert, stabilisiert, thematisiert und interpretiert« wurde (Cefaï 1996). Dafür stütze ich mich auf eine Analyse der Strukturierung der ›offiziellen Diskurse‹ in drei Ländern (Frankreich, Deutschland, Großbritannien).1 Das sind in erster Linie Parlamentsdebatten, Stellungnahmen von Politiker/innen und Empfehlungen von »Bioethik«-Kommissionen. An diesen Diskur1 Diese Forschungsarbeit wurde vom CNRS-Inserm-Nire-Programm »Sciences bio-médicales, Santé et Société« gefördert. Die Daten für das Beispiel Deutschland (vor allem Interviews und Presseartikel) wurden von N. Mirc im Rahmen einer Masterarbeit zusammengestellt (Mirc 2005).
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sen lässt sich tatsächlich besonders gut beobachten, wie das Ergebnis der Strategien unterschiedlicher gesellschaftlicher Gruppen ausfällt, die die Spielregeln der Diskussion mitbestimmen wollen; sie sind zentrale Schauplätze des »öffentlichen Dramas«, um hier die Wendung von Joseph Gusfield zu zitieren (Gusfield 1981), und der gesellschaftlichen Inszenierung vermeintlicher Gefahren, die vor allem darauf abzielt, sich gegen diese Gefahren »abzusichern«. Vor allem aber sind politische und gesellschaftliche Autoritäten nicht nur Empfänger von Botschaften, sondern auch und vielleicht in erster Linie die »auctores« von Botschaften, die soziale Repräsentationen stark prägen (vgl. Rancière 2004 zur Etymologie des Wortes »Autorität«). Schließlich steuern Autoritäten ihren Teil zu diesen Diskursen immer in der Absicht bei, öffentliche Entscheidungen in einer bestimmten Weise zu beeinflussen. Zunächst sollen die Rahmen analysiert werden, die diese Diskurse charakterisieren, sowie die typischen Äußerungen dieser Diskurse ›außerhalb‹ dieser Rahmen. Hierbei bezeichnet der Rahmen das zentrale organisatorische Konzept, das einer Gesamtheit von Konzepten Kohärenz verleiht (Gamson et al. 2002). Dieser Beitrag soll verdeutlichen, dass die Stellungnahmen von Forschungsbefürworter/innen und Forschungsgegner/innen – mit diesen Begriffen sind natürlich je nach Land leicht voneinander abweichende Positionen beschrieben – jenseits ihrer einander konträr gegenüber stehenden Ziele auch zahlreiche Gemeinsamkeiten aufweisen. Meine Hypothese lautet also, dass diese Strukturierung der offiziellen Diskurse über Embryonenforschung eine paradoxe Politisierung dieser bioethischen Fragen sichtbar macht und zu dieser Politisierung auch selber beiträgt. Während solche Diskurse von öffentlichen Institutionen vereinnahmt werden und Anlass zu öffentlichen Debatten geben, scheint ein Teil der offiziellen Diskurse gleichzeitig zu bezeugen, dass versucht wird, sie aus einer genuin politischen Diskussion herauszuhalten, so dass sie nicht zum Gegenstand einer Entscheidung werden, die im Rahmen eines Konflikts über »Identitäten und konfligierende politische Alternativen« getroffen werden muss (Mouffe 2002). Ein Verständnis des Charakters und der Funktionsweisen offizieller Diskurse über Embryonenforschung kann also hilfreich sein, wenn man sich umfassend mit den so genannten ›bioethischen‹ Politiken und mit dem Zusammenspiel von Wissenschaft, Moral und Politik auseinandersetzen möchte.
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P OLITIK UND B IOETHIK Eine Gewissensfrage Die Embryonenforschung gehört zu jenen gesellschaftlichen Problemen, die nicht nur über eine moralische Dimension verfügen, sondern von dieser Dimension ganz wesentlich und grundsätzlich geprägt sind. Auf der einen Seite prägt die Moral im Sinne unserer kollektiven Auffassungen von Gut und Böse die Diskussionen über Embryonenforschung. Moralische Kategorien wie ›Menschenwürde‹, ›menschliche Werte‹, ›Prinzipien‹, ›das Verbotene‹, ›Tabus‹, ›Doppelzüngigkeit‹, ›Heuchlerei‹ und ›Transgression‹ werden permanent mobilisiert. In Parlamentsdebatten berufen sich Redner/innen auf die Moralphilosophie von Aristoteles, Kant, Hans Jonas, Jürgen Habermas oder Hannah Arendt, um ihre Standpunkte zu verteidigen. Oft wird auf den außergewöhnlichen ›Ernst‹ der zur Debatte stehenden Fragen hingewiesen. Dank des – klassisch moralphilosophischen – Rückgriffs auf das Argument der ›schiefen Ebene‹ ist der Gegenstand der Sorge nicht nur der jetzige Entwicklungsstand und die damit verknüpften Fragen, sondern ein wesentlich weiter gehender Entwicklungsprozess, der ausgelöst oder zumindest verschärft werden könnte. Die Untersuchung dieser moralischen Dimension wurde in allen drei Ländern über die Einrichtung so genannter ›Bioethik‹-Gremien institutionalisiert, die häufig im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Problem der Embryonenforschung gegründet wurden. Das französische Comité Consultatif National d’Ethique (CCNE) wurde 1983 ins Leben gerufen, nachdem die ersten In-Vitro-Fertilisationen (IVFs) in Frankreich durchgeführt worden waren. Das britische Nuffield Council on Bioethics (NCoB), ein privates, aber aus öffentlichen Mitteln finanziertes Gremium, wurde 1991 im Nachhall der Auseinandersetzungen gegründet, die um das 1990 erlassene Embryonenforschungsgesetz geführt wurden (Jasanoff 2005). In Deutschland schließlich wurde im Rahmen der kontroversen Debatten über den Import embryonaler Stammzellen 2001 der Deutsche Ethikrat2 ins Leben gerufen.
2
A. d. Ü.: »Nationaler Ethikrat« bis Februar 2008.
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Auf der anderen Seite stellt die Politik die Embryonenforschung als eine »Gewissensfrage« dar und verweist damit auf die individuelle Dimension der Moral, die »Verantwortung gegenüber sich selbst« (Descombes 2001). Dahinter steht die Auffassung, dass alle gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure, die sich zu einem solchen Thema äußern müssen, das ausschließlich auf der Grundlage ihrer innersten Überzeugungen tun können. Im Einklang mit einer in der christlichen Tradition zentralen Vorstellung (Russell 1971: 167) müssen sie ihrer ›inneren Stimme‹ folgen; entsprechend ist nicht erwünscht, dass sie ihre Positionen von kollektiven und vor allem spezifisch parteinahen Logiken beeinflussen lassen. »Das ist nicht wie bei einer Entscheidung über die Umleitung einer Autobahn oder so was. Bei Themen wie Abtreibung, Organtransplantation oder Embryonenforschung […] geht es um echte Gewissensentscheidungen«,
wie ein deutscher Bundestagsabgeordneter in einem Interview sagt. Auch in Frankreich beruft sich die Justizministerin, als sie die Gesetzesvorlage der französischen Regierung 2002 der französischen Nationalversammlung [Assemblée Nationale, AN] vorstellt, auf die »Überzeugungen einer/s Jeden«. Es liegt auf der Hand, dass diese Rahmung der Embryonenforschungspolitik sich auch mit dem Einfluss der Kirche auf jene Fragen erklärt, die den Anfang und das Ende des menschlichen Lebens betreffen. (Andere Politikfelder, in denen wichtige moralische Fragen aufgeworfen werden, werden hingegen nicht primär als ›moralpolitisch‹ konstruiert.) Den Kirchen werden im Zusammenhang mit bioethischen Fragen bestimmte Kompetenzen zugesprochen; ebenso, und vielleicht mehr noch, eine gewisse Zeitlosigkeit und ›Repräsentativität‹. Daraus erklärt sich auch, dass sie in den so genannten Bioethik-Komitees vertreten sind. Der »Schutz des Lebens von seinem Beginn an« ist gegenwärtig eines der wenigen Themen, zu denen die Ansichten der katholischen Kirche deutlich zu vernehmen sind und bei denen sich ihr Einfluss zeigt (Fink 2008). Die evangelischen Kirchen vertreten inzwischen zwar differenziertere Standpunkte, aber die christlichen Wurzeln moralischer Empfindungen gegenüber allem, was mit Embryonen zu tun hat, können kaum in Zweifel gezogen werden. Die politische Bezugnahme auf diese religiöse Dimension fällt natürlich je nach Land und den dominierenden Auffassungen über die Beziehung zwischen Kirche und Staat sehr unterschiedlich aus (Willaime 2004). In
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Deutschland spielt die Kirche eine wichtige Rolle, die sich auch in der Gesetzgebung niederschlägt. Hier fand ab dem Jahr 2000 eine massive Mobilisierung der katholischen und evangelischen Kirchen statt. Bevor im Bundestag über das Gesetz abgestimmt wurde, richteten die Kirchen in einem sehr ungewöhnlichen Schritt ein gemeinsames Schreiben an die Bundestagsabgeordneten und baten sie darum, gegen die Stammzellforschung zu stimmen. In den Bundestagsdebatten begründen diverse Abgeordnete ihre Standpunkte mit expliziten Verweisen auf das ›christliche Menschenbild‹ oder auf ›christliche Werte‹. In Großbritannien werden die Positionen der Kirchen ebenso offen im Parlament diskutiert, um so mehr, als dass einige Mitglieder des Oberhauses [House of Lords, HoL] auch Kirchenvertreter/innen sind. Ann Winterton, Mitglied des Unterhauses [House of Commons, HoC], führt beispielsweise 2001 an, dass die Regierung »die traditionellen jüdischchristlichen Werte unserer Nation [angreift]« (HoC: 19. Dezember 2001). Die Inkonsistenz der Äußerungen der anglikanischen Kirche zu diesem Thema erlaubt beiden politischen Lagern, die Ansichten der Kirche für sich zu beanspruchen. Im Unterschied zu der 1990 geführten Diskussion berufen sich die Forschungsbefürworter/innen übrigens stärker auf die Kirche als die Forschungsgegner/innen (Parry 2003), um zu verdeutlichen, dass sie die Gesetzesvorlagen der Regierung nicht einheitlich ablehnen. In Frankreich wiederum sorgt die strikte Trennung von Kirche und Staat dafür, dass die offizielle Anerkennung der religiösen Dimension dieser Debatte wesentlich schwächer ausfällt. Bei der ersten Debatte des Gesetzes 2002 stellte die Linke die Mehrheit im Parlament, und Religion war kaum Thema. Das änderte sich, als die konservative Regierung den Gesetzentwurf 2003 und 2004 erneut im Parlament diskutieren ließ (Hennette-Vauchez 2006). Aber der mögliche religiöse Einfluss auf Standpunkte oder Zweifel französischer Abgeordneter wurde diskret verklausuliert: Statt sich auf ihren Glauben zu berufen, sprachen die Abgeordneten von ihren ›Überzeugungen‹; ging es um die religiöse (vor allem katholische) Bewertung der Embryonenforschung, so berief man sich auf unterschiedliche ›Philosophien‹. Eine politische Position religiös zu begründen, gilt in Frankreich als eine Provokation und läuft Gefahr, diskreditiert zu werden. So bemerkt ein linker Abgeordneter 2003: »Ein gewisser Laizismus muss auch im Hinblick auf die Forschung gelten und nicht nur für das Kopftuch.« Auf den Bänken der Parlamentsmehrheit breitet sich Unruhe aus, und
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ein gläubiger konservativer Abgeordneter ruft aus: »So ein Quatsch!« (AN: 9. Dezember 2003) Trotzdem lassen sich in Stellungnahmen von Abgeordneten, die sich als laizistisch gerieren, religiöse Einflüsse ausmachen, so etwa bei Verweisen auf die ›Schöpfung‹ oder die ›Transzendenz‹. 3 Die Verteidigung von Positionen, die stark von religiösen Überzeugungen oder Traditionen beeinflusst sind, wird übrigens, ohne dass diese explizit benannt werden müssen, durch die Bedeutung vereinfacht, die das Konzept der ›Menschenwürde‹ vor allem in Frankreich und Deutschland in diesen Debatten einnimmt. In Deutschland, wo die Unantastbarkeit der Menschenwürde das oberste Prinzip des Grundgesetzes ist, wird sie auf den 28 Seiten des Berichts des Deutschen Ethikrats nicht weniger als 35 Mal erwähnt (Ethikrat 2002). Im vorläufigen Bericht der parlamentarischen EnqueteKommission über Recht und Ethik der modernen Medizin wird auf 130 Seiten 140 Mal auf die Menschenwürde verwiesen. In der Argumentation gegen den Import von Stammzellen wird unterstrichen, dass »der Import von aus menschlichen Embryonen gewonnenen Stammzelllinien unter ethischen Gesichtspunkten nicht mit dem Standpunkt vereinbar ist, dass der menschliche Embryo von Anfang an ein Recht auf Menschenwürde hat und daher uneingeschränkten Schutz verdient« (Enquete-Kommission 2001).
So wird die Menschenwürde häufig als Letztkriterium in Anschlag gebracht, das trotz der Komplexität und Polysemie dieses Begriffs keiner weiteren Begründung oder Erklärung bedarf. Das Konzept der Menschenwürde scheint in der politischen Argumentation die Rolle einer ›Black Box‹ zu spielen. Diese moralische Rahmung der Debatte wirkt sich in mehrfacher Hinsicht auf den politischen Umgang mit Embryonenforschung aus. Erstens veranlasst sie die politischen Akteurinnen und Akteure darauf hinzuweisen, dass es sich hier um einen nicht parteigebundenen Konflikt handelt. In Deutschland werden in den relevanten parlamentarischen Debatten gleichzeitig drei konkurrierende Anträge diskutiert, die jeweils von Mitgliedern verschiedener Parteien unterstützt werden; Parteidisziplin spielt hier keine Rolle. Ein Bundestagsabgeordneter 3 Der für den Gesetzentwurf zuständige Minister gibt 2003 zu Protokoll: »Die materiellen Wesen, die wir sind […], sind von etwas belebt, das sie überschreitet; ob man das Geist, Vernunft oder Seele nennt, spielt keine Rolle. Jedes menschliche Leben hat eine Dimension, die es überschreitet.« (Senat, 30. Januar 2003)
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äußert 2005 in einem Interview: »Hier können wir endlich Abgeordnete als individuelle Personen hören und kennenlernen.« (Interview) In Großbritannien ordnen die beiden Parteien offiziell einen ›free vote‹ an, also den außerordentlichen Verzicht auf parteigebundenes Abstimmungsverhalten. Als die parlamentarische Unterstaatssekretärin für Gesundheit den Gesetzesentwurf der britischen Regierung vorstellt, erläutert sie: »Für uns ist die Embryonenforschung keine Frage der Parteizugehörigkeit.« (HoC: 15. Dezember 2000) Auch in Frankreich scheinen die Parteien das Abstimmungsverhalten im Hinblick auf dieses Thema, das in den Worten eines Ministers »die üblichen Parteigrenzen überschreitet«, wesentlich weniger stark als gewohnt zu kontrollieren. 2003, als ein linker Abgeordneter sich dazu hinreißen lässt, auf die unterschiedlichen Sichtweisen linker und konservativer Abgeordneter auf Embryonenforschung hinzuweisen, ruft der für das Gesetz zuständige (konservative) Minister aus: »Machen Sie daraus keine parteipolitische Frage! Wirklich, Sie sind unverbesserlich!« (Senat: 30. Januar 2003) Zweitens fordern die politischen Akteurinnen und Akteure eine ausführliche öffentliche Debatte; nur so, scheint es, lassen sich ihre Äußerungen zu ›grundlegenden‹ moralischen Problemen im Nachhinein legitimieren. Tatsächlich werden in allen drei Ländern zahlreiche Argumente in Anschlag gebracht, mit deren Hilfe eine öffentliche Debatte angeregt und die Öffentlichkeit ›informiert‹ werden soll (Hauray 2009; Herrmann/Könninger 2008). Dazu zählen Forschungen und Beratungen durch entsprechende Gremien und Institutionen (vor allem, aber nicht ausschließlich durch das CCNE in Frankreich, den Deutschen Ethikrat und das Nuffield Council in Großbritannien), die Durchführung öffentlicher Beratungen und Tagungen und die spontane Einberufung zusätzlicher Gremien. So wurde 1999 in Großbritannien speziell zu diesem Thema eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Chief Medical Officers (CMO) Sir Liam Donaldson gegründet; in Deutschland wurde 2002 die parlamentarische Enquete-Kommission »Recht und Ethik der modernen Medizin« ins Leben gerufen. Drittens wird die Rechtsprechung als Ersatz für die politische Auseinandersetzung und Argumentation mobilisiert. Angesichts der wiederholt geäußerten Absicht von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, Stammzellen zu importieren, nimmt die juristische Debatte in Deutschland einen zentralen Platz ein. Dem ersten Absatz des Grundgesetzes, der den Schutz der Menschenwürde garantiert, wird
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das ebenfalls verfassungsmäßig garantierte Recht auf Forschungsfreiheit gegenübergestellt. Seit 2001 steht vor allem die Frage zur Debatte, ob das eventuelle Verbot des Imports von Stammzellen vom deutschen Bundesverfassungsgericht genehmigt wird oder nicht. Schließlich wurde der Antrag im Parlament angenommen und unter anderem als eine Lösung dargestellt, die vor dem Bundesverfassungsgericht Bestand haben könnte: So laufe ein vollständiges Verbot Gefahr, vom Verfassungsgericht nicht für rechtsgültig erklärt zu werden und insofern eine Gesetzeslücke zu schaffen (Mirc 2005). Auch in Frankreich wurde der am heftigsten diskutierte Bestandteil der von Lionel Jospin eingebrachten Gesetzesvorlage – die Legalisierung von Klonierungstechniken zum Zweck des so genannten ›therapeutischen‹ Klonens – schließlich von Jospin selber wieder gestrichen, und zwar ausschließlich unter Verweis darauf, der Staatsrat (Conseil d’Etat), ein in erster Linie juristisches Organ, spreche sich gegen diese Praxis aus. In Großbritannien umgehen die Regierung und die zuständigen Gremien die grundlegende Frage der Herstellung oder des Gebrauchs von Embryonen zu Forschungszwecken mit dem Verweis darauf, dass das 1990 verabschiedete Gesetz beides ohnehin schon für bestimmte Zwecke (im Zusammenhang mit IVF) erlaube. Dieses Gesetz wird als Manifestation der nationalen Moral und als unhintergehbarer Ausgangspunkt für alle weiteren Überlegungen dargestellt. Es muss also nur noch beurteilt werden, inwieweit eine Ausweitung der Forschungszwecke akzeptabel ist. Wenig überraschend kommt der Donaldson-Bericht in dieser Frage zu der Einschätzung, dass die Stammzellenforschung »keine neuen ethischen Fragen [aufwirft]« (CMO Expert Advisory Group 2000), und spricht sich dementsprechend für ihre Ausweitung aus. Dieses Argument wurde von dem Gesundheitsminister im Unterhaus wieder aufgenommen. Der Rahmen der politischen Debatte war damit stark begrenzt (HoC: 19. Dezember 2000). Ein Leben aufs Spiel setzen Auch jenseits des Rückgriffs auf moralische Konzepte wie ›Menschenwürde‹ begünstigt die moralische Konstruktion der politischen Debatte natürlich bestimmte Argumentationsformen. Vielfach wird versucht, die ›Prinzipien‹ der Beziehung zum Embryo, in die sich die Verantwortung der Gesellschaft gegenüber dem menschlichen Leben übersetzt, zu konkretisieren und zu definieren – es geht also nicht nur
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darum, punktuell bestimmte Interessen zu verfolgen. Die Forschungsfrage wird zu anderen Interventionen in embryonales Leben in Beziehung gesetzt: mit Verhütungspraxen (bzw. mit der Spirale) und vor allem mit Abtreibungen. Wer die Forschung befürwortet führt an, dass diese Praxen erlaubt sind, und stellt so die Ansicht in Frage, dass das Prinzip der Menschenwürde auch für Embryonen gilt (und somit ihre Zerstörung verbietet). Die Argumente der Gegner sollen nicht als Infragestellung dieses Rechts auf Abtreibung wahrgenommen werden, und so betonen sie ihrerseits, dass eine Abtreibung einen signifikanten Eingriff in die Intimität und Integrität der Frau darstellt. Dieser Zwang, moralisch kohärent zu argumentieren, zeigt sich auch in den Diskussionen über die (unvermeidbare) Verwendung möglicher medizinischer Forschungsergebnisse im eigenen Land, in dem die Forschung selber jedoch verboten ist. Hier wird auf die ›Doppelmoral‹ verwiesen. Dieses Argument wird vor allem in der in Deutschland geführten Debatte mobilisiert – hier ist die Gesetzgebung strikter als in anderen Ländern. Das gleiche Argument dient allerdings auch dazu, sich für ein völliges Verbot der Embryonenforschung – und des Imports von Stammzellen – auszusprechen, damit nicht Nutzen aus Zellen gezogen werden kann, deren Herstellung im eigenen Land illegal ist. Auch in Frankreich betont der für das Gesetz zuständige Minister, dass, wenn in Frankreich keine Stammzellen hergestellt würden, sie trotzdem importiert würden. Mit Verweis auf Deutschland schlussfolgert er: »Was wäre das für eine Heuchlerei!« (Senat: 30. Januar 2003) Diese moralische Konstruktion produziert eine signifikante Verschiebung weg von einer Biopolitik, in deren Zentrum das ›Lebendige‹ steht – das zeigt sich in der Fokussierung auf Lebenswissenschaften und biomedizinische Interventionen – und hin zu einer Biopolitik, die das Leben als ›Gelebtes‹ in den Mittelpunkt stellt (Fassin 2009). In den Diskursen lässt sich tatsächlich eine dominante Inszenierung eines ›Opfers‹ beobachten, dessen Leben es zu retten gilt. Gegnerinnen und Gegner der Embryonenforschung operieren mit der Gleichsetzung ›Embryo = Fötus = ungeborenes Kind = vollständiger Mensch‹. So verkündet beispielsweise ein französischer Senator: »Man kann nicht den einen Menschen dadurch retten, dass man einen anderen tötet.« (Senat: 30. Januar 2003) Die in den Medien sehr präsente Forschungsgegnerin Christine Boutin zieht zu Beginn ihrer Rede in der Nationalversammlung eine Analogie zwischen der Weigerung, den Status des Embryos als Mensch vollständig anzuerkennen, und der Nichtaner-
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kennung der Native Americans durch die europäischen ›Entdecker‹ (AN: 15. Januar 2002). Die Argumente gegen die Embryonenforschung, die der Deutsche Ethikrat in seinem Bericht anführt, stellen die Zerstörung eines Embryos als eine nicht zu rechtfertigende ›Tötung‹, als ›Mord‹ dar, der auch als solcher bewertet werden muss (Bezugnahme auf Notwehr etc.).4 Die gleichen Begriffe finden auch in den politischen Diskussionen Verwendung (Mirc 2005). In allen drei Ländern wird zudem ein Zusammenhang zwischen der Zerstörung von Embryonen und den Verbrechen der Nationalsozialisten aufgemacht. Die Verlagerung vom ›Lebendigen‹ zum ›Gelebten‹ ist in Deutschland um so stärker festzustellen, als dass die Mobilisierung von Menschen mit Behinderungen gegen Embryonenforschung dazu führt, dass sie erneut im Hinblick auf die Frage problematisiert wird, wie die deutsche Gesellschaft mit ›ihren schwachen Mitgliedern‹ umgeht. Selbst wenn beispielsweise Lord Alton die Embryonenforschung im britischen Oberhaus als »kannibalisch« bezeichnet, so sind solche Argumentationsformen dennoch wesentlich weniger gängig als während der Auseinandersetzung über das 1990 erlassene Gesetz (Mulkay 1997). Tatsächlich stellt die zur Debatte stehende Regelung nur eine Ausweitung dieses Gesetzes dar, und so geht es den Forschungsgegner/innen vor allem darum, die Heilsversprechen der Embryonenforschung zu dekonstruieren. Was die Forschungsseite angeht, so scheinen die Zunahme des medizinischen Wissens und die Aussicht, mit Hilfe des Rückgriffs auf das ›Lebendige‹ neue Heilungsmöglichkeiten entwickeln zu können, nicht auszureichen, um die instrumentelle Zerstörung (bzw. Produktion) von Embryonen moralisch zu rechtfertigen. Die Forschungen werden also in der Regel mit dem Verweis auf bereits gelebte Leben, genauer gesagt: auf erlebtes Leiden begründet. Die parlamentarische Unterstaatssekretärin für Gesundheit verteidigt bei ihrer Vorstellung des Gesetzes gegenüber dem Unterhaus die Absicht, »das Leiden bereits lebender Personen durch den Gebrauch von Embryonen, die sonst zerstört werden würden, zu beenden« (HoC: 17. November 2000). In seiner Stellungnahme vom 18. Januar 2001 erklärt der französische CCNE: »Die Pflicht zur Solidarität mit an Krankheiten lei4 Dieser Bericht nimmt im Wesentlichen die Form einer Gegenüberstellung zweiter Themen (Isolierung bzw. Import von Stammzellen) und zweier Positionen (Forschungsbefürworter/innen und Forschungsgegner/innen) ein und erarbeitet so vier mögliche Ergebnisse.
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denden Personen verbietet es hier, die Forschung zu behindern und so möglicherweise die Kranken unwiederbringlich zu bestrafen.« In der Nationalversammlung zieht der Forschungsminister 2002 eine Analogie zwischen dem Verhältnis der Patient/innen zu zukünftigen Zelltherapien und der gängigeren Situation von Patient/innen, die »bewegt und voller Furcht« auf eine Herztransplantation warten. Diejenigen, die die Embryonenforschung befürworten, versuchen vor allem, die therapeutische Hoffnung möglichst stark zu personalisieren und zu konkretisieren und ein Leben als »auf dem Spiel stehend« darzustellen. So zitiert ein britischer Abgeordneter aus einem Brief, den ihm eine Frau geschrieben hat, die »an Parkinson leidet« und sagt, dass die Abgeordneten sich beim Abwägen ihres Abstimmungsverhaltens mit ihrer kleinen Tochter über den Wert des Lebens unterhalten sollten. Ihre Tochter »will nur eins: eine Mutter, die sich um sie kümmern kann, statt eine Mutter, die immer schwerer von dieser schrecklichen Krankheit gezeichnet ist, gegen die eine Behandlung gefunden werden könnte, wenn Embryonenforschung genehmigt werden würde« (HoC: 17. November 2000).
In der von den Forschungsbefürworter/innen konstruierten moralischen Situation geht es also häufig um die geleistete oder unterlassene Hilfe gegenüber einer »gefährdeten Person«. Der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog erklärt, er wolle »einem mukoviszidosekranken Kind, das, den Tod vor Augen, nach Luft ringt, nicht die ethischen Gründe […] erklären, die die Wissenschaft daran hindern, seine Rettung möglich zu machen« (Die Welt, 28. Mai 2001). In Frankreich und vor allem in Großbritannien werden auch das Leben und die Körper der Abgeordneten, ihre gegenwärtigen oder zukünftigen Krankheiten oder die Krankheiten ihrer Angehörigen ins Feld geführt. Ein Mitglied des Oberhauses leitet seine Stellungnahme beispielsweise mit den folgenden Worten ein: »Es ist meine eigene Erfahrung, die mich dazu gebracht hat, meinen Namen auf die Redner/innenliste zu setzen. In meinen späten Teenagerjahren und mit Anfang Zwanzig habe ich dabei zugesehen, wie meine Mutter an Parkinson gestorben ist. Das war kein schöner Tod.«
Seine Schlussfolgerung: »Ich konnte meiner Mutter nicht helfen, aber ich kann versuchen, anderen Menschen zu helfen.« (HoL: 22. Januar 2001)
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Die Herausforderung für die Forschungsbefürworter/innen liegt hier natürlich darin, sich nicht auf einen Konflikt zwischen Wissenschaft bzw. Ökonomie und Moral festnageln zu lassen. Die Forschungsgegner/innen versuchen, dem ›Morden‹ egoistische Motive zu unterstellen – Geld oder ›Wissensdurst‹ – und so auf ganz klassische Weise als universell dargestellte Werte (die Menschenwürde) und Partikularinteressen einander gegenüberzustellen. So sagt ein britischer Abgeordneter: »Wir wägen hier nicht das moralische Argument für die Embryonenforschung gegen die moralische Gefahr der Ausbeutung von Embryonen ab, sondern wir wägen die moralische Gefahr der Ausbeutung von Embryonen gegen das Risiko ab, dass in unserer biotechnischen und pharmazeutischen Forschungsindustrie keine Fortschritte gemacht werden.« (HoC: 17. November 2000)
Das deutsche Beispiel ist besonders interessant. Bundeskanzler Gerhard Schröder äußert sich zu Beginn der Debatte dahingehend, dass die ökonomischen Interessen und vor allem die Entwicklungsmöglichkeiten der Pharmaindustrie ebenfalls berücksichtigt werden müssen, und hinterfragt die moralischen Bedenken (und auch die »ideologischen Scheuklappen«) der Forschungsgegner/innen (Die Woche, 20. Dezember 2000). Seine Worte lösen einen Skandal aus und werden von Kirchenvertreter/innen, von Mitgliedern der CDU und auch von seinen eigenen Parteimitgliedern wie beispielsweise der Justizministerin scharf kritisiert (Mirc 2005). Die Berücksichtigung ökonomischer Interessen auf diesem Gebiet stößt auf heftige Ablehnung. Bundespräsident Johannes Rau verurteilt die Embryonenforschung mit den folgenden Worten: »Wo die Menschenwürde berührt ist, zählen keine wirtschaftlichen Argumente.« Schröder versucht anschließend, seinem Standpunkt ein moralisches Antlitz zu verleihen, indem er die »sozialethische« Bedeutung der Entwicklung eines Landes betont (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. Mai 2005). Bei den späteren Parlamentsdebatten ändert der Bundeskanzler seine Position dahingehend ab, dass er auf die moralische Pflicht hinweist, sich gegen die Leiden von Kranken einzusetzen. Wissenschaftspolitik Politiken im Feld der Embryonenforschung sind allerdings nicht immer ausschließlich als ›moralische Politiken‹ konstruiert (Mooney
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1999). Eine besonders gängige und dieser Rahmung konträr gegenüberstehende Perspektive ist die der ›Wissenschaftspolitik‹. Wenn alle politischen Diskurse Urteile über das Wahre und Wünschenswerte artikulieren und wenn wissenschaftliche Daten eine Grundlage der Autorität solcher Diskurse sind (Gusfield 1981), nimmt das wissenschaftliche Wissen (als das Wissen über das Lebendige) innerhalb der offiziellen Diskurse über Embryonenforschung auf der einen Seite einen besonderen Platz ein. Auf der anderen Seite gilt die Embryonenforschung als besonders verheißungsvoller Zweig des ›Biokapitalismus‹, also der Schaffung von Märkten, Werten und Profiten durch Wirtschaftsunternehmen auf der Grundlage von Wissen und biologischen Entitäten (Helmreich 2008). Als solche wird ihr von Regierungsseite, aus der Wirtschaft und im Zusammenhang mit dem internationalen Wettbewerb ein Höchstmaß an Aufmerksamkeit entgegengebracht. Wissenschaft als Autorität über das Lebendige Möchte man sich zum Thema Embryonenforschung äußern, so scheint es zunächst wichtig zu sein, zu beweisen, dass man die Wissenschaft als solche bis zu einem gewissen Grad versteht, dass man mit ihren neuesten Erkenntnissen vertraut ist und sich mit der Entwicklung von Embryonen auskennt. Hier besteht für alle Akteur/innen (und insbesondere für politische Akteur/innen) die Möglichkeit, sich als ›glaubwürdig‹ darzustellen, also ›rational und ernsthaft‹ zu wirken, selbst (und vielleicht vor allem) auf diesem Gebiet, das an die religiösen Ansichten und persönlichen Überzeugungen aller Beteiligten rührt. Für Akteur/innen aus dem biomedizinischen Sektor ist es natürlich einfacher, am Diskurs zu partizipieren und Verantwortung zu übernehmen, wenn sie in der diskursiven Rahmung der Auseinandersetzung Autorität beweisen können (Edelman 1988). In Frankreich und Großbritannien weisen die politischen Akteur/innen häufig auf ihre medizinische oder naturwissenschaftliche Ausrichtung bzw. Ausbildung hin, um ihrem Urteil Gewicht zu verleihen. So begründet Jean-François Mattéi, der französische Gesundheitsminister, die (neue und provisorische) Genehmigung der Stammzellforschung, die er seinen konservativen Parteigenoss/innen anträgt, die gerade die Mehrheit im Parlament stellen: »Es ist unumgehbar – so lautet meine Überzeugung als Wissenschaftler und Arzt –, zumindest für einige Jahre gleichzeitig For-
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schungen an embryonalen und adulten Stammzellen durchzuführen.« (Senat: 28. Januar 2003) Politische Akteur/innen, die weder Ärzt/innen noch Wissenschaftler/innen sind, betonen dies häufig, als müssten sie sich dafür entschuldigen. Dabei haben sie dank Artikeln in Fachzeitschriften oder neuer Ergebnisse laufender Forschungsprogramme einen uneingeschränkten Zugang zu Informationen über den aktuellen Stand der Wissenschaft. Politiker/innen, die sich gegen Embryonenforschung aussprechen, räumen dementsprechend häufig jenem Argument einen zentralen Platz ein, demzufolge solche Forschungen die Wissenschaft von einem vermeintlich vielversprechenderen Weg abbringen: Es geht um die Beforschung adulter Stammzellen. Joanne Lynch macht darauf aufmerksam, dass ein solcher Gebrauch der Wissenschaft in den Augen der Forschungsgegner/innen wie ein Teufelskreis aussehen könnte: Er legitimiert letztlich die zur Debatte stehende Wissenschaft, ohne dass er notwendigerweise ein Maximum an Expertise auf diesem Gebiet mit sich brächte (Lynch 2009). Auch wissenschaftliche und medizinische Institutionen werden als Instanzen gleichzeitig wahrer und vorsichtiger Urteile mobilisiert, so zum Beispiel in der folgenden Rede eines britischen Abgeordneten: »Die medizinischen Stiftungen können sich nicht allesamt irren. Es gibt ungefähr 100 solcher Stiftungen, und sie können sich nicht alle irren, wenn sie den Gesetzesvorschlag für den richtigen Weg halten.« (HoC: 17. November 2000)
Ähnlich äußert sich ein französischer Senator: »Wissenschaftliche Autoritäten, denen man wohl kaum unterstellen kann, sie seien experimentelle Avantgardist/innen, die von einer Menschheit wie bei Huxley träumen – ich denke hier vor allem an die Erklärungen der Académie nationale de médecine und an die Académie des sciences – also, 85 % ihrer Mitglieder sagen […], dass man den Weg für therapeutisches Klonen freigeben muss. […] Wie kann man angesichts dessen nicht denken, dass man der wissenschaftlichen Forschung erlauben muss, ihren Gang zu gehen? Das gebietet die Vernunft.« (Senat, 30. Februar 2003)
In Deutschland ist die Betonung der wissenschaftlichen Autorität weniger wichtig, da die Debatte dort stärker ›moralisch‹ gerahmt ist (Gottweis 2002) und Technowissenschaften auf stärkeres Misstrauen stoßen (Braun 2005). Trotzdem lässt sich bei den deutschen Anhänger/innen der Stammzellproduktion das gleiche Argument vernehmen:
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»Meine Damen und Herren, nicht nur die Präsidenten und Vorsitzenden der großen Wissenschaftsorganisationen von Markl bis Winnacker, nicht nur sechs Nobelpreisträger wie Christiane Nüsslein-Vollhardt, sondern auch Vertreter von Patientenorganisationen […] sagen: Wir brauchen die Grundlagenforschung und wir brauchen dafür den Import von Stammzellen.« (Ulrike Flach, Bundestag: 30. Januar 2002.)
Die Autorität des wissenschaftlichen Diskurses in diesen Fragen zeigt sich besonders deutlich an der starken Präsenz von Angehörigen des biomedizinischen Sektors in den so genannten ›Bioethik‹-Instanzen, die nicht nur mit ihren inhaltlichen Stellungnahmen, sondern auch mit ihrer Darstellung der Problematik und ihren deskriptiven Aussagen (s.u.) Einfluss auf die Diskussionen nehmen. Es ist kaum zu übersehen, dass diese Personengruppe in solchen Gremien, auch wenn sie als pluralistisch dargestellt werden (Kelly 2003), stark überrepräsentiert ist. Während der Diskussion über Embryonenforschung stellte sie mehr als die Hälfte der Mitglieder des Donaldson-Komitees und des Nuffield Council on Bioethics, 32 % der Mitglieder des Deutschen Ethikrats und mehr als die Hälfte der Mitglieder des französischen CCNE. Ohne den Akteur/innen eine bestimmte Haltung unterstellen zu wollen – selbstverständlich sprechen sich nicht alle von ihnen für eine umfassende Liberalisierung aus –, muss doch diskutiert werden, ob hier wirklich von ›moralischer Expertise‹ gesprochen werden kann. Die Situation wird dann problematisch, wenn die Empfehlungen solcher Gremien auf einer Mehrheitsabstimmung zwischen zwei einander gegenüberstehenden Positionen beruhen und das Abstimmungsergebnis in den Medien unter der Überschrift »Das Bioethik-Gremium spricht sich für X oder gegen Y aus« auftaucht. Biologie und Politik des Lebendigen Stellungnahmen zum Thema Embryonenforschung stützen sich auf deskriptive, biologisch begründete Aussagen. Die Mitglieder der öffentlichen Autoritäten äußern zwar in der Regel, es gebe keine biologische Antwort auf diese Fragen, greifen aber in ihren Begründungen auf das zurück, was sie als biologische ›Fakten‹ darstellen. Zudem mobilisieren sie ganz schlicht wissenschaftliche Begriffe, die unter Umständen mit bestimmten, natürlich nicht immer strategischen Ansichten über Embryonenforschung einhergehen.
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Ein erster Knotenpunkt der ›biologischen‹ Politikdebatte ist natürlich der Embryo selbst und seine Entwicklung. Forschungsbefürwortende Argumente stützen sich auf die Evidenz für die Existenz separater biologischer Entwicklungsstadien, aus der sie anschließend moralische Urteile und unterschiedliche politische Entscheidungen ableiten. Hier werden mehrere Trennlinien hervorgehoben: zwischen Embryonen und embryonalen Stammzellen (die als ›pluripotent‹ gelten, d.h. sie können sich zu allen Zelltypen entwickeln, aber nicht zu einem Embryo werden); des Weiteren zwischen ›In-Vivo‹-Embryonen und ›InVitro‹-Embryonen, die auf eine vorsätzliche Intervention von außen angewiesen sind, um ›potenzielle Personen‹ zu werden. Die Einnistung wird also als wesentlicher Einschnitt dargestellt, als Symbol für den Beginn der individuellen Entwicklung. Eine der deutlichsten biologisch-moralischen Grenzziehungen besteht darin, den eigentlichen Embryo von dem (weniger als 14 Tage alten) Prä-Embryo zu unter5 scheiden, der damit als legitimer Forschungs-gegenstand gesetzt ist. In Großbritannien ist dieser Begriff seit den Mitte der 1980er Jahre publizierten Ergebnissen des Warnock Committee geläufig (obwohl der Begriff ›Prä-Embryo‹ als solcher in dem Bericht des Gremiums gar nicht erscheint). Die ›wissenschaftlichen‹ Grundlagen dieser ethischen Grenze werden im Jahr 2000 bei der Verteidigung des Gesetzesvorhabens der Regierung gegenüber dem Parlament ganz klar wieder in Anschlag gebracht. So unterstreicht der Bericht des Nuffield Council: »Das 14-Tage-Stadium geht unmittelbar dem Stadium der Ausbildung des Primitivstreifens voraus. Während dieses zweiten Stadiums werden sowohl die Entwicklung des individuellen Embryos als auch die Zellbestimmung des zukünftigen Fötus festgelegt.« (NCoB 2000)
Das Modell eines ›früheren‹ Embryonenstadiums ist in den beiden anderen Ländern zwar weniger stark institutionalisiert, wird aber dennoch diskutiert. So erwähnt der Bericht des Deutschen Ethikrats in dem Abschnitt zur Forschung, dass »bis zum Moment der Ausbildung des so genannten Primitivstreifens […] für jeden so definierten Embryo die Möglichkeit besteht, multiple Individuen
5 Der 14. Tag entspricht der Ausbildung des Primitivstreifens (des Vorläufers des Nervensystems) und dem Ende des Stadiums, in dessen Verlauf sich das Ei in zwei Embryonen teilen kann.
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hervorzubringen. Zumindest bis zu diesem Stadium hat sich noch kein individuelles Wesen entwickelt.« (2002)
Der französische CCNE kritisiert zwar die »Anhänger/innen der Verdinglichung des Embryos in den ersten Stadien seiner Entwicklung«, schlägt dem Gesetzgeber aber dennoch vor, auf das Ende des Präimplantationsstadiums als zeitliche Grenze der Forschungen zu verweisen – also auf den Moment, in dem der Embryo die Fähigkeit entwickelt hat, sich in die Gebärmutter einzunisten (CCNE 2001). Auch in den offiziellen Diskursen in allen drei Ländern finden sich Verweise auf die sehr geringe Größe und nicht vorhandene Individualität der diskutierten Entitäten. Die Forschungsgegner/innen bemühen sich stattdessen, die zur Debatte stehende Entität mit einer Person gleichzusetzen (Lynch 2009), und berufen sich auf »Kontinuitätsdarstellungen« der embryonalen Entwicklung. Diese Position ist in zweifacher Hinsicht biologisch begründet. Zunächst handelt es sich hier um die Essentialisierung der biologischen Vorstellung der »Verschmelzung« als Schöpfung des Wesens und einzigartiges Entwicklungsstadium. So äußert Dr. Hans Küng im Bundestag: »Wenn der Mensch mit der Verschmelzung von Ei und Samenzelle beginnt, dann kommt ihm von diesem Zeitpunkt an eine unverfügbare Würde zu – unverfügbar für den Staat, die Gesellschaft und die Mitmenschen.« (Bundestag: 30. Januar 2002)
Demgegenüber werden die anderen Stadien dekonstruiert, und es wird beispielsweise in den Argumenten des Deutschen Ethikrats gegen Stammzellforschungen (2002) darauf hingewiesen, dass diese Stadien »weder echte Zäsuren noch Übergänge zwischen Entwicklungsphasen [sind], die sich klar voneinander abgrenzen ließen«. Die Einnistung selbst »ist keineswegs der Augenblick, in dem sich der Kontakt zwischen dem Embryo und dem weiblichen Organismus herstellt«, sondern die schlichte Fortsetzung eines Dialogs zwischen dem mütterlichen und dem embryonalen Gewebe. Dieses Bild des Embryos gründet zweitens in dem Verweis auf seine Einzigartigkeit und Vollständigkeit; beides sind zentrale Eigenschaften von Personen. Diese beiden Charakteristika finden sich häufig im Gen verkörpert, das als säkulare Variante der heiligen Schöpfung ins Feld geführt wird. Die Stellungnahmen der katholischen Kirche beinhalten übrigens zahlreiche Verweise auf die Genetik; das zeigt sich beispielsweise in dem Referenz-
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text Donum Vitae von 1987, in dem zu lesen ist, dass die Genetik »gezeigt [hat], daß schon vom ersten Augenblick an eine feste Struktur dieses Lebewesens vorliegt: eines Menschen nämlich, und zwar dieses konkreten menschlichen Individuums, das schon mit all seinen genau 6 umschriebenen charakteristischen Merkmalen ausgestattet ist.« In der französischen Nationalversammlung äußert sich eine katholische Abgeordnete dazu folgendermaßen: »Zeigt uns nicht die Wissenschaft selbst, dass das menschliche Leben mit der Befruchtung anfängt? Ab diesem Augenblick besitzt es die Gesamtheit seines genetischen Erbes, das exakt mit der genetischen Information der zukünftigen erwachsenen Person übereinstimmt.«
Die gleiche Abgeordnete weist auch darauf hin, dass »die jüngsten Erkenntnisse es uns erlauben, den ganzen Reichtum des Lebens in der Gebärmutter zu verstehen. […] Wer diese Beobachtungen bestreitet, bestreitet auch die Wissenschaft.« (AN: 15. Januar 2002)
Wie bereits angemerkt, spielt die Verteidigung des Embryos als vollständiges Lebewesen und die aus ihr folgende Verschiebung des Rahmens, den das 1990 erlassene Gesetz bereitstellt, seit 2000 in den offiziellen britischen Diskursen kaum eine Rolle. Die wissenschaftlichen Technologien selbst stehen im Mittelpunkt wichtiger Definitionskämpfe. Um die ›zerstörerische‹ Intervention der Menschen verbal zu entdramatisieren, bemühen sich die Akteur/innen zunächst darum, sie zu naturalisieren. So werden vor allem in den britischen Diskursen die massiven Zerstörungen von Embryonen durch natürliche Prozesse angeführt: Sind das alles Seelen, um die man sich sorgen müsste? Ist die Natur etwa unmoralisch? In den französischen und britischen Parlamentsdebatten werden rhetorische Kämpfe auch über die Technik des ›Klonens‹ als solche geführt. ›Klonen‹, so zeigt sich überdeutlich, ist ein Begriff, der nicht so sehr Hoffnungen transportiert als vielmehr moralische Besorgnis. Daher wird oft der Zusatz ›therapeutisch‹ verwendet, um das therapeutische Klonen vom so genannten ›reproduktiven‹ Klonen abzugrenzen. Diese Terminologie wird natürlich von den Kritiker/innen des Klonens kritisiert, und sie selber sprechen nur vom Klonen bzw. vom Klonen durch Zellkern6 Eine deutschsprachige Fassung der Instruktion findet sich beispielsweise unter www.human-life.ch/themen/donum.htm. Letzter Zugriff: 3. 06. 2010.
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transfer. Eine zweite diskursive Praxis besteht darin, den Begriff des Klonens verschwinden zu lassen und ihn durch einen rein wissenschaftlichen Begriff zu ersetzen. So verwendet der Bericht des Nuffield Council den Terminus »somatischer Zellkerntransfer« [somatic cell nuclear transfer, SCNT], um Verfahren im Zusammenhang mit Klonen zu beschreiben, die noch nicht genehmigt sind, da der Begriff cloning implizit dem reproduktiven Klonen vorbehalten ist. So erklärt sich ebenfalls, warum der erste wichtige Bericht der öffentlichen Autoritäten Großbritanniens über diese Fragen 1998 unter dem Titel Cloning issues in reproduction, science and medicine erschien, während im Titel des Donaldson-Berichts, der im Vorfeld der im Jahr 2000 geführten parlamentarischen Debatte veröffentlicht wurde, nur von »Zellkernersatz« [cell nuclear replacement, CNR] die Rede ist; diese Terminologie verwendete dann die Regierung, um ihr Gesetz zu verteidigen (CMO’s expert advisory group 2000). Die Forschungsgegner/innen greifen diese Strategie natürlich an. So sagt Winterton: »Der Minister und Professor Donaldson rufen der Presse und der Öffentlichkeit permanent ins Gedächtnis, dass all diese wohlklingenden Institutionen die Position des Expertenteams um den Chief Medical Officer unterstützen, die sich über das Thema Klonen von Menschen äußern. Das Wort selber vermeiden sie, auch wenn es das ist, was sie wollen; stattdessen sprechen sie immer über ›Zellkernersatz‹.« (HoC: 17. Dezember 2000)
Der französische CCNE verwendet in seiner 2001 publizierten Empfehlung, die den Vorschlag der Regierung Jospin unterstützt, diese Technik zu legalisieren, an zahlreichen Stellen die Formulierung »aus Embryonen durch ITNS gewonnene Stammzellen« (CCNE 2001); ITNS bedeutet »aus dem Zellkerntransfer einer somatischen Zelle gewonnen« [issus du transfert nucléaire d’une cellule somatique]. Hier kann man anmerken, dass die deutsche Enquete-Kommission, die sich in der Mehrheit gegen solche Forschungen ausspricht, zwar manchmal ebenfalls von »Zellkerntransfer« spricht, aber ansonsten in ihren Schlussfolgerungen darum bemüht ist, die Gemeinsamkeiten von ›therapeutischem‹ und ›reproduktivem‹ Klonen herauszustellen (Enquete-Kommission 2001). Diese terminologischen Kämpfe gehen Hand in Hand mit einer allgemeineren Auseinandersetzung über die Bewertung der Hoffnungen, die sich an die hier zur Debatte stehenden Techniken knüpfen. Diese Hoffnungen, so kann man sagen, stehen im Zentrum der Politi-
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sierung der hier erörterten Fragen (Rose 2007). Die Argumente der Forschungsbefürworter/innen stellen die Erforschung menschlicher Embryonen als einen elementaren Schritt eines zugleich unvermeidbaren, revolutionären und seinem endgültigen Triumph nahen Programm der regenerativen Medizin dar, das es ermöglichen wird, hunderttausende Kranke zu heilen. Das ›therapeutische Klonen‹ selbst wird als unumgängliches Mittel für die Produktion hundertprozentig kompatibler Transplantate dargestellt. Im Hintergrund zeichnet sich das möglicherweise wenig realistische Bild ab, dass irgendwann wirklich individuelle Transplantate hergestellt werden können. So hebt beispielsweise der französische CCNE hervor, dass seine Empfehlung aus dem Jahr 1997, die sich zugunsten von Stammzellforschungen aussprach, »sich auf Heilungsaussichten stützte, die durch die rasanten wissenschaftlichen Fortschritte auf diesem Gebiet zu erwarten waren«; diese Hoffnungen »wurden ausschließlich bestärkt, noch schneller als erwartet«; »durch ITNS aus Embryonen gewonnene Stammzellen scheinen besonders vielversprechend zu sein« (2001). Ein linker französischer Minister, der sich für eine sehr umfassende Legalisierung der Embryonenforschung (einschließlich des therapeutischen Klonens) stark macht, gibt 2002 zu Protokoll, er sei »überzeugt, dass die Forschung auf jeden Fall weitergeht: Sie ist die Quelle des Fortschritts, und dem Fortschritt kann man keinen Maulkorb anlegen. Höchstens kann man ihn ein bisschen umlenken.« (AN: 15. Januar 2002) Auch in Großbritannien liegt der Fokus auf dem Potenzial der Stammzellforschung, die, vor allem dank Klontechnik, zu der Entwicklung einer »permanenten Quelle von Gewebe [führen könnte], das in der Lage wäre, sämtliche Zelltypen zu produzieren, so dass auch das Problem der Abstoßung von Transplantaten gelöst wäre« (NCoB 2000).
In Deutschland weist Bundeskanzler Gerhard Schröder auf die Möglichkeit hin, mit Hilfe solcher Forschungen »neue Medikamente und Heilverfahren für bislang unheilbare Krankheiten« herzustellen (Bundestag: 30. Januar 2002). Ein Mitglied der FDP sagt sogar: »Die Zahl derjenigen, die sich von der Stammzellforschung Therapiemöglichkeiten erhoffen, ist riesig: 150.000 Menschen in Deutschland leiden an Multipler Sklerose, 700.000 an Epilepsie, 200.000 an Parkinson und 500.000 an Alzheimer.« (Bundestag: 31. Mai 2001) Die Forschungsgegner/innen äußern Zweifel an den therapeutischen Hoffnungen, die durch Wissenschaftler/innen und deren politische Instrumentalisierung
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mobilisiert werden. So wird darauf hingewiesen, dass an Embryonenforschung »nichts Therapeutisches ist«, und es wird kritisiert, den Kranken würden falsche Hoffnungen »verkauft«. So hinterfragt ein französischer Senator »diese Versprechen, von denen kein Mensch weiß, ob sie gehalten werden können« (Senat: 28. Januar 2003). Diese Kritik ist in Deutschland besonders stark (Mirc 2005); der Bericht des Deutschen Ethikrats warnt einhellig vor zu großen Erwartungen (Ethikrat 2002, S. 13). Die Forschungsgegner/innen in Großbritannien teilen diese Perspektive. In einer etwas widersprüchlichen Weise gehen diese Diskurse, in denen die Versprechen der Medizin dekonstruiert werden, oft Hand in Hand mit der Befeuerung anderer wissenschaftlicher Hoffnungen vor allem im Hinblick auf Forschungen an adulten Stammzellen. So werden im Bundestag das »Potenzial« der Forschungen an adulten Stammzellen und ihre erwarteten »guten Ergebnisse« beschworen – dahingehend äußerte sich Andrea Fischer bei der Debatte im Januar 2002. Ein besonders interessantes abschließendes Beispiel für diese diskursive Arbeit an den bestehenden Erwartungen stellt der Rückgriff auf das Argument über mitochondrische 7 Krankheiten in Großbritannien dar. Dort sprechen sich die Forschungsbefürworter/innen vor allem für das ›therapeutische Klonen‹ aus. Mitochondrien sind Zellstrukturen mit einer eigenen, nicht mit der DNA im Zellkern übereinstimmenden Erbinformation, die mütterlicherseits vererbt werden. Fehler auf der mitochondrialen DNA sind die Ursache mehrerer Krankheiten. Es wäre also theoretisch möglich, zu verhindern, dass ein mit IVF gezeugtes Kind die betreffenden Mitochondrien erbt, indem man durch Zellkerntransfertechnologie einen Zellkern der Mutter in ein gesundes Ei einsetzt. Diese Hoffnung, die weibliche Eizelle ›reparieren‹ zu können, die in den britischen Diskursen artikuliert wird, ist insofern charakteristisch, als dass hier konkrete und sichtbare Opfer angeführt werden; zudem stützt sich dieser Diskurs auf eine hochkomplexe wissenschaftliche Darlegung – die aber keineswegs ›evident‹ ist und in den französischen und deutschen Berichten und Debatten auch nicht vorkommt.
7 Vgl. z.B. den Bericht der Donaldson-Kommission (CMO’s expert advisory group 2000).
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Stammzellen und nationale Wettbewerbsfähigkeit Die Durchführung von Embryonenforschungen wird schließlich auch als Herausforderung für die nationale Forschungslandschaft und Innovationsfähigkeit verhandelt. Für Staaten, die sich als Wissensökonomien verstehen, handelt es sich hier dementsprechend um eine Frage der Macht und der Wettbewerbsfähigkeit. Dieser Diskurs gründet in der Vorstellung, dass die wissenschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen der Embryonenforschung erstens von enormer Bedeutung sind und dass auf diesem Gebiet zweitens ein europa- und weltweiter Wettlauf zwischen Staaten ausgetragen wird, dessen Startschuss man auf gar keinen Fall verpassen darf. In den drei hier besprochenen Ländern beinhalten die öffentlichen Debatten und Berichte Verweise auf die Entwicklung der Gesetzgebung in anderen Ländern, und die öffentlichen Gremien laden auch Akteur/innen aus anderen, primär europäischen Staaten zur Anhörung ein (Hauray 2009). Der Imperativ der nationalen Wettbewerbsfähigkeit äußert sich in Großbritannien wohl am deutlichsten. Als die Debatte über Stammzellen in Großbritannien gerade heftige Wogen schlug, hielt Tony Blair bei der European Bioscience Conference eine bemerkenswerte Rede, in der er verlauten ließ: »Die Biotechnologie ist das nächste große Thema der Wissensökonomie, und ich will, dass Großbritannien zu ihrem europäischen Mittelpunkt wird. […] Die britischen Biotechnologie-Giganten wie Celltech sollen den Kontinent dominieren. Ich möchte hier ganz deutlich sein: Wir werden unsere Führungsposition nicht abgeben, und wir sind dazu bereit, dieses Engagement mit Investitionen zu unterstützen.«
Eben dieses Argument der Verteidigung der (europäischen und sogar weltweiten Führungsposition) Großbritanniens wird in den britischen Parlamentsdebatten sehr häufig mobilisiert. Dieser britische Diskurs kann als ein auslösender Faktor dafür gelten, dass sich Lionel Jospin im November 2000 zugunsten von Forschungen und therapeutischem Klonen äußerte, und dass Gerhard Schröder Deutschland im Dezember 2000 dazu aufrief, am internationalen Wettbewerb um Forschungen an embryonalen Stammzellen teilzunehmen (vgl. oben). Der Sachzwang, der durch das Argument des internationalen Wettbewerbs behauptet wird, nimmt die Form zweier Narrative an, in denen die Gefährdung der nationalen Interessen heraufbeschworen wird. Das erste Narrativ
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dreht sich um den Überlauf zum ›Feind‹, also um den Brain Drain. So äußert beispielsweise die Baronin Kennedy während einer Debatte im Oberhaus: »Es steht zu befürchten, dass frustrierte Genetiker/innen aus Großbritannien ins Ausland gehen werden. Die Leute wollen, dass Großbritannien die Führungsposition auf diesem Gebiet behält.« (HoL: 22. Januar 2001)
Interessanterweise sind solche Diskurse über eine mögliche ›Flucht‹ in Großbritannien besonders wichtig, obwohl das Land vor allem seit der Wahl 2001 eines derjenigen Emigrationsziele für Wissenschaftler/innen darstellt, die in den französischen und deutschen Debatten mit Angst heraufbeschworen werden. Die zweite Gefahr liegt in dem Übergriff anderer Staaten auf das nationale Territorium und vergegenwärtigt sich in dem Konzept des ›Patents‹. Dieses Narrativ kreist darum, dass die zur Debatte stehenden Forschungen unabhängig davon, was auf der nationalen Ebene verfügt wird, im Ausland durchgeführt werden. Also ist nicht nur ihr Verbot quasi zwecklos, sondern Forscher/innen und Unternehmen aus anderen Ländern werden zudem Patente auf ihre Entdeckungen anmelden, die dann von anderen Ländern gekauft werden müssen. Beispielsweise erklärt Jean-François Thiery, Berichterstatter des Staatsrats über das französische Gesetzesvorhaben, 1999 in einer bemerkenswerterweise katholischen Zeitschrift: »Selbstverständlich gelten Embryonen aus einer christlichen Perspektive als eine potenzielle menschliche Person und haben daher ein Anrecht auf absoluten Schutz. […] Es gibt eine weitere Überlegung, die nicht einfach von der Hand zu weisen ist: In anderen Ländern ist die Embryonenforschung bereits im Gang. Wenn man den französischen Forscher/innen Restriktionen auferlegt, werden wir zahlen müssen, um von der Arbeit profitieren zu können, die unsere Nachbarländer leisten.« (La Croix, 30. November 1999)
Der französische Ethikrat macht sich in einer vielleicht noch erstaunlicheren Form zu einem Vertreter dieser Ansicht: In seinen 2001 publizierten Empfehlungen über Bioethik-Gesetze betont er seine Unterstützung des Vorschlags der Regierung, das therapeutische Klonen zu erlauben, »aufgrund der Globalisierung der Forschung, der Härte des internationalen wissenschaftlichen Wettbewerbs und der wirtschaftlichen Interessen, die hier auf dem Spiel stehen«, und mobilisiert ebenfalls ein Bild der Abhängigkeit: »Darauf zu verzichten, würde die
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französische Gesellschaft in die Abhängigkeit der im Ausland durchgeführten Forschungen drängen.« (CCNE 2001) Im vorhergehenden Textabschnitt habe ich bereits darauf hingewiesen, dass die Legitimität der Bedeutung dieser Dimension, hinsichtlich derer stark mit wirtschaftlichen Interessen argumentiert wird, in den drei Ländern heftig diskutiert wurde, da sie frontal mit der dominanten moralischen Rahmung der Debatte zusammenstößt. Vor allem wird jedoch der rein ökonomische Aspekt des internationalen Wettbewerbs scharf kritisiert, und die Verteidigung der ›nationalen wissenschaftlichen Interessen‹ wird wesentlich weniger in Frage gestellt. Eine Entpolitisierung der Bioethik-Politiken? Die offiziellen Diskurse über Embryonenforschung in Frankreich, Großbritannien und Deutschland weisen also bestimmte übereinstimmende Strukturen auf. In diesen ›Gemeinsamkeiten‹, so scheint es mir, zeigen sich wichtige Prozesse der Politisierung dieser Fragen, die es genauer zu untersuchen gilt. Die Politisierung hat zwei Gesichter. Einerseits steht die Embryonenforschung im Fokus der Aufmerksamkeit der Regierungen, ist Gegenstand ›öffentlicher Debatten‹ und provoziert manchmal sehr konträre Stellungnahmen, so beispielsweise in Deutschland. Andererseits scheint ein Teil der offiziellen Diskurse den Willen zu bezeugen, diese so genannten ›bioethischen‹ Fragen nicht zum Gegenstand einer genuin politischen Auseinandersetzung zu machen, die eine antagonistische Dimension aufweisen (Mouffe 2002; Rancière 2004) und die Politik auf einen moralischen, wissenschaftlichen, juridischen oder ökonomischen Diskurs reduzieren würde (Mouffe 2002). Drei Modalitäten dieser ›Entpolitisierung‹ konnten in diesem Beitrag aufgezeigt werden: eine Abgrenzung der Embryonenforschung von ›normalen‹ politischen Kontroversen, die Absicht, als rational und/oder konsensfähig dargestellte Lösungen an die Stelle von Konfrontationen zwischen politischen Alternativen zu setzen, und die Betonung wechselseitiger internationaler Abhängigkeiten. Zunächst führt die Konstruktion der Embryonenforschung als eine ›Gewissensfrage‹ dazu, dass die unterschiedlichen Sichtweisen der politischen Parteien, also die Gegensätze zwischen linker und rechter Politik bzw. zwischen ›Konservativen‹ und ›Liberalen‹ im Hinblick auf dieses Thema heruntergespielt werden. In diesen politischen Lagern spiegelt sich die Verteilung der individuellen Standpunkte natür-
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lich nur sehr ungenau wieder, und auf beiden Seiten werden sehr unterschiedliche Ansichten vertreten. Aber lässt sich das nicht auch über zahlreiche andere Themen sagen, die trotzdem nicht aus dem Feld der parteipolitischen Konflikte ›verschwunden‹ sind? Beispielsweise hat Philip Cowley sehr gut herausgearbeitet, dass das Fehlen von Parteidisziplin, das in Debatten über ›Gewissensfragen‹ behauptet wird, natürlich nicht bedeutet, dass parteipolitische Dynamiken sich nicht in der Strukturierung der Abstimmungsergebnisse niederschlagen (Cowley 1998). Jenseits der Diskurse zeigt sich das überdeutlich in den effektiven Abstimmungsergebnissen auf dem Feld der Embryonenforschung. Selbst in Deutschland, wo der Fraktionszwang möglicherweise die geringste Rolle gespielt hat (die Regierung hat keinen Gesetzesentwurf eingebracht, und es wurden drei überparteiliche Anträge gleichzeitig diskutiert), stimmten 70 % der sozialdemokratischen Abgeordneten so wie ihr Bundeskanzler Gerhard Schröder für eine Erlaubnis des Imports von Stammzellen, während 60 % der Abgeordneten der CDU und der Grünen dagegen stimmten. Der Ausschluss dieser so genannten ›bioethischen‹ Fragen aus der normalen politischen Auseinandersetzung verbannt sie also gewissermaßen in die private Sphäre und verhindert so auf diesem Gebiet die Entwicklung und Transformation politischer, d.h. kollektiver Vorstellungen. Zweitens bringt die Hoffnung, im Hinblick auf diese als moralische Herausforderung geltende Frage eine ›konsensfähige‹ und ›vernünftige‹ Position bilden zu können, die politischen Akteur/innen dazu, die Entscheidungsfindung an Expertengremien oder parlamentarische Kommissionen zu delegieren. Diese übernehmen damit die Rolle von Politiker/innen, und es entsteht der Eindruck, sie erarbeiteten eine säkulare, rationale und gewissermaßen ›neutrale‹ Position (Kelly 2003: 342). Dieser Neutralitätsdiskurs kollidiert allerdings mit den politischen Zielen, die es bereits vor ihrer Gründung gab, und verschleiert sie natürlich auch teilweise. Dieser politische Einsatz der Bioethik-Gremien manifestiert sich zumindest in Deutschland in der Gründung des von Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikrats, dessen Aufgabe darin bestand, die erwartete Negativempfehlung der parlamentarischen Untersuchungskommission auszugleichen, und in der britischen Donaldson-Kommission, deren Zusammensetzung so geplant wurde, dass mit keinerlei inhaltlichen Überraschungen zu rechnen war (Hauray 2009). Auf einer allgemeineren Ebene ermöglicht der massive Rückgriff auf wissenschaftliche Erkenntnisse, ›ideo-
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logische‹ Erkenntnisse in einem hyperrationalen Gewand zu präsentieren (Edelman 1988), so dass das Wirken der Regierung unsichtbar wird und Entscheidungen naturalisiert werden. Dieser Wille zu einer konsensfähigen und ›rationalen‹ Entscheidung geht zudem mit einem Rückzug auf die Gesetzgebung einher: Das in Deutschland verabschiedete Gesetz wird als eine juristische Lösung konstruiert und durchgesetzt, die französische Regierung unter Lionel Jospin rückt nach einer Empfehlung des Staatsrats vom Klonen ab, und in Großbritannien blockieren die öffentlichen Autoritäten jegliche erneute Diskussion über die Prinzipien, die mit dem 1990 erlassenen Gesetz einhergehen; diese Prinzipien werden damit zu einer Art Verkörperung der nationalen Moral. Drittens wird im Zusammenspiel mit den Diskursen über wechselseitige internationale Abhängigkeiten auch die Vorstellung bestärkt, dass autonome Entscheidungen auf diesem Gebiet nicht möglich sind: Es ist zwecklos, Forschungen zu verbieten, wenn sie nicht in allen anderen Ländern ebenfalls verboten werden; wir sind dazu gezwungen – sogar in Deutschland, wenn auch im kleinstmöglichen Ausmaß –, Forschungen an embryonalen Stammzellen zu erlauben, denn unsere Position im Wettlauf zwischen den Nationen würde andernfalls zu stark in Gefahr geraten. Obwohl Analyst/innen immer wieder auf die Unterschiede zwischen den nationalen Politiken hinweisen, ist es eine bequeme Strategie, eine allgemeine Entwicklung aller Staaten in Richtung zunehmend liberaler Standpunkte zu behaupten (Salter/Salter 2007). Dieser letzte Punkt lässt sich gut mit der allgemeineren Vorstellung in Einklang bringen, dass die politischen Alternativen stetig abnehmen; das wird durch die ›Globalisierungsrhetorik‹ ebenso befeuert wie durch Hypothesen, die behaupten, dass die Politik einzelner Staaten scheinbar immer stärker von den Zielen des internationalen Wettbewerbs und von der Notwendigkeit absorbiert wird, der ›globalen Vernunft‹ zu folgen (Cerny 2010).
S CHLUSS Die offiziellen Diskurse, die über Embryonenforschung produziert werden, weisen zwei grundlegende Rahmungen auf, die sich nur teilweise widersprechen: eine moralische Rahmung – der Gebrauch von Embryonen wird als ›Gewissensfrage‹ verhandelt – und eine wissen-
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schaftliche: Die Akzeptabilität solcher Forschungen wird unter Zuhilfenahme wissenschaftlicher Argumente beurteilt und in Abhängigkeit des Platzes bewertet, der der Wissenschaft innerhalb der nationalen Interessen zukommt. Innerhalb dieser zwei grundlegenden Rahmen, die, um eine militärische Metapher zu verwenden, sozusagen das ›Operationsgebiet‹ definieren, ist es möglich, eine Reihe gleichzeitig voneinander abgrenzbarer und miteinander verwobener diskursiver ›Kämpfe‹ zu identifizieren, die von konträren Beschreibungen, Bewertungen und/oder einander widersprechenden politischen Meinungen bestimmt sind. Ich habe mich hier dafür entschieden, die Strukturierung dieser Diskurse herauszuarbeiten, statt unterschiedliche ›nationale Debatten‹ zu beschreiben. Um eine wirklich komparatistische Interpretation der politischen Arbeit zu leisten, müsste man meines Erachtens nach, wenn man nicht in die Kulturalismusfalle tappen will, diese Diskurse in ihren länderspezifischen Ausformungen und Dynamiken verorten und über ihr Zusammenspiel mit den Mobilisierungen und Interaktionen der beteiligten Gruppen nachdenken. Dennoch zeigt sich in dieser knappen Analyse, wie unterschiedlich sich die beiden Rahmungen in den drei Ländern auswirken – so kann für Frankreich und vor allem für Deutschland festgestellt werden, dass die moralische Rahmung stärker ist als die wissenschaftliche Rahmung; in Großbritannien ist es genau umgekehrt. Die ›Kämpfe‹ (um die therapeutischen Hoffnungen in Großbritannien, um die Notwendigkeit moralischer Kohärenz in Deutschland) nehmen jeweils unterschiedlich viel Raum ein, und ebenso zeichnen sich spezifische Themen (beispielsweise der Status von Menschen mit Behinderung in Deutschland) und Herangehensweisen ab (das besondere Verhältnis zur Religion in Frankreich). Schließlich haben die konkurrierenden diskursiven Strategien natürlich nicht in allen drei Ländern gleich viel Bedeutung oder ›Erfolg‹. Diese Differenzen zeugen von einer unterschiedlichen Konstruktion dieser Fragen in den drei hier diskutierten Ländern und sind von zentraler Bedeutung für das Verständnis der letztendlich getroffenen Entscheidungen. Es sollte also keineswegs versucht werden, die länderspezifischen Unterschiede kleinzureden. Stattdessen wollte ich die Notwendigkeit aufzeigen, auch die Gemeinsamkeiten der in den drei Ländern vertretenen Standpunkte zum Thema Embryonenforschung zu untersuchen. Auf der Grundlage einer Analyse der offiziellen Diskurse sollte in
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diesem Beitrag die Hypothese untersucht werden, dass diese politischen Fragen auf paradoxe Art politisiert werden. Die herausgearbeiteten ›Entpolitisierungsprozesse‹ – die Ablehnung parteipolitischer Konfrontationen, die Suche nach konsensfähigen und/oder rationalen Lösungen und die Bedeutung, die wechselseitigen internationalen Abhängigkeiten zugesprochen wird – spielen natürlich auch in anderen Politikfeldern eine Rolle und verweisen auf umfassendere politische Transformationen (Mouffe 2002). Trotzdem greifen sie auf diesem Gebiet wohl in einer sehr spezifischen Form ineinander; hier zeigt sich, wie wichtig es ist, ›bioethische‹ Probleme zu analysieren, um die politischen Dynamiken und Herausforderungen der gegenwärtigen Gesellschaften durchdringen zu können.
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Reproduktion und Antizipation Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?
B ERTRAND P ULMAN
»Woher kommen die Kinder?« Diese Frage steht im Zentrum unserer Beziehung zum Wissen und zur Existenz. Sie stellt das erste große Rätsel dar, mit dem Menschen vom jüngsten Alter an konfrontiert sind. Wie Kinder dieser Frage nachgehen, kann sich erheblich auf das Verhältnis auswirken, das sie später zum Denken und Forschen entwickeln (Freud 1908). Von all jenen Neuerungen, die im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts zu verzeichnen waren, gehören diejenigen, die die Bedingungen der Fortpflanzung transformiert haben, zu den bedeutendsten. Diese Transformationen wiederum beeinflussen zwangsläufig unser Denken. Als Michel Foucault in Sexualität und Wahrheit das Konzept der ›Biopolitik‹ einführte, wollte er auf die zentrale Rolle hinweisen, die statistische Berechnungen in den modernen Formen der Beziehungen zwischen Wissen und Leben spielen. Er schreibt: »[Man müsste] von ›Bio-Politik‹ sprechen, um den Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewussten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens zu bezeichnen.« (Foucault 1977: 170)
Diese Vorstellung findet ihre Entsprechung in den tiefgreifenden Veränderungen, die in den letzten Jahren auf dem Feld der Reproduktionsmedizin zu verzeichnen waren. In der Tat hatten die Transformationen, die die Modi der Fortpflanzung verändert haben, zur Folge, dass
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das Gebiet der Reproduktion mittlerweile massiv von Berechnungen und Prognostiken geprägt ist. Die zunehmende Bedeutung von Methoden der Pränataldiagnostik (Fruchtwasseruntersuchung, Ultraschall) und der Präimplantationsdiagnostik (die bei In-Vitro-Fertilisationen zum Einsatz kommt) bindet die Zeugung eines Kindes untrennbar an die Antizipation und Bewertung seiner zukünftigen Eigenschaften. Diese Entwicklung hat psychische, gesellschaftliche und ethische Konsequenzen, die es zu verstehen gilt. Der drängende Charakter dieser Probleme tritt deutlich in Erscheinung, wenn wir uns ins Gedächtnis rufen, dass die Antizipation Max Weber zufolge im Zentrum des Rationalisierungsprozesses steht, der den wichtigsten Motor der Entwicklung des Lebens in Gemeinschaften darstellt. Besorgte Expert/innen haben versucht, diese Orientierung in Richtung Antizipation, die das Feld der Reproduktion durchzieht, in eine Perspektive zu setzen: »Diese relative, aber dennoch real vorhandene Möglichkeit, bestimmte Seinsweisen des Lebendigen zu antizipieren, entspricht dem prädiktiven Voyeurismus, aus dem sich die Moderne auch in anderen Bereichen speist (Versicherungen, Arbeitsverhältnisse, Bildungswege etc.). Hier wird versucht, die optimalen Überlebens- und Handlungsbedingungen aller Personen einzuschätzen, so dass jeder Mensch der Gesellschaft, genauer gesagt der marktförmigen Gesellschaft, sein Bestes gibt. […] Möglicherweise laufen medizinisch begründete technologische Perspektiven und eine ideologische Entscheidung für eine bestimmte Gesellschaftsform erstmalig in der Geschichte der Menschheit so deutlich zusammen.« (Testart 2000: 3).
Manche Autoren gehen sogar so weit, von der Gefahr einer neuen Eugenik zu sprechen, die sie als »liberal« bezeichnen (Habermas 2005 (2001)). Ein Nachdenken über die Auswirkungen der Wissenschaft auf das Leben führt unweigerlich zu einer Konfrontation mit diesem Thema: »Über dem gesamten Komplex der Genetik schwebt das Schreckgespenst der Eugenik.« (Fukuyama 2002: 124). Ängste und Phantasmen verschränken sich hier also mit Argumenten jeglicher Art. Vor diesem Hintergrund ist es dringend geboten, den tatsächlichen Stand der Dinge offenzulegen, bisherige Erfahrungen zu beschreiben, ein Verständnis der laufenden Forschungen zu befördern, zukünftige Durchbrüche zu antizipieren und die damit einhergehenden Herausforderungen zu durchdringen.
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K INDER SEHEN , K INDER K INDER ZEUGEN
ANTIZIPIEREN ,
Der Impuls, der uns dazu treibt, den Prozess der Reproduktion und vor allem das, was sich während der Schwangerschaft im Körper der Mutter abspielt, sehen und darstellen zu wollen, ist uralt. Das zeigt sich an archäologischen Funden, deren schieres Alter uns erstaunt und berührt. So wurden beispielsweise nördlich von Rom Terrakotta-Votivbilder aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. mit Gebärmutterdarstellungen gefunden, die als Opfergaben in medizinische Heiligtümer gelegt wurden, um Gottheiten um Fruchtbarkeit und um Schutz für die Schwangerschaft zu bitten. Die Kügelchen, die bisweilen im Inneren dieser heiligen Stätten gefunden werden, werden von Archäolog/innen als Emryonendarstellungen gedeutet (Ducaté-Paarmann 2007). Diese uralte Neugier der Menschen hinsichtlich der Rätsel der Fortpflanzung hat zwei besonders bewegte Phasen erfahren, während derer den Menschen zuvor noch nie Dagewesenes buchstäblich vor Augen getreten ist. Die erste dieser beiden Phasen lässt sich im 17. Jahrhundert verorten, also zu Beginn der Moderne. Zu diesem Zeitpunkt richtete sich der wissenschaftliche Wille zum Sehen auf die Frage der Zeugung und Fortpflanzung. In dieser Epoche legte beispielsweise der große britische Arzt Harvey die Grundsteine der modernen Embryologie. Im Park von Windsor schlitzte Harvey während der Paarungszeit täglich einem Reh den Bauch auf und konnte so beobachten, wie sich der Fötus im Uterus allmählich entwickelt. Etwa zur gleichen Zeit wurden die ersten Mikroskope hergestellt. Die Mikroskope des Holländers Leeuwenhoek vergrößerten das Objekt mehr als zweihundertfach. 1677 legte Leeuwenhoek ein paar Tropfen Sperma unter eines seiner Mikroskope und entdeckte das erstaunliche Schauspiel einer sich lebhaft bewegenden Menge winzig kleiner Geschöpfe, die er »Samentierchen« (Animalcules spermatiques) taufte. Er berichtete der Londoner Royal Society von seiner Entdeckung und wurde berühmt. Gelehrte und Herrscher wie der russische Zar Peter der Große und Friedrich Wilhelm der I., König von Preußen, besuchten ihn in Delft, um in seine Mikroskope zu schauen. Es wurde zu einer großen Mode, Sperma unter dem Mikroskop zu beobachten. Man fragte sich, welche Rolle diese Samentierchen bei der Fortpflanzung spielen. Manche Personen, so der Naturalist Carl von Linné, bestritten schlichtweg ihre Existenz und behaupteten, es handle sich um Gasblä-
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schen. Andere wiederum schrieben ihnen eine überhöhte Bedeutung zu. Die damals am weitesten verbreitete Hypothese war die These von der so genannten Präformation. Ihren Verfechter/innen zufolge existiert jedes Wesen vollständig präformiert, aber als Miniaturausgabe im Spermium oder in der Eizelle, und die Befruchtung ist nur der Auslöser für sein Wachstum. So veröffentlichte der Physiker Hartsoeker 1694 eine Illustration, auf der zu sehen ist, wie der kleine Homunkulus zusammengekrümmt im Kopf des Samentierchens hockt. Die Beobachtungen mit den ersten Mikroskopen bewegten die Geister und die Vorstellungskräfte also heftig (Jacob 1972; Leroy 2002). Gegenwärtig erleben wir eine ähnliche Zeit. Die Entwicklung und anschließende Verbreitung des Ultraschalls in der Schwangerschaftsmedizin hat die Wahrnehmung von Schwangerschaft und Fötus tiefgreifend verändert. Dadurch, dass sie das Körperinnere visuell erfahrbar machen, haben bildgebende Verfahren in der Medizin die Grenze zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten verschoben: »Der Anblick des Kindes vor seiner Geburt ist sicherlich eins der zentralen Elemente der kognitiven und emotionalen Umwälzungen unserer Zeit.« (Porqueres 2004: 142). Der Uterus der Mutter, jener einst mysteriöse Ort, bietet seinen Inhalt mittlerweile der Betrachtung dar. Diese neu gewonnene Möglichkeit, das Kind vor seiner Geburt sehen zu können, hat über ihre medizinische Bedeutung hinaus tief greifende Implikationen. Auf einer individuellen Ebene ist mit den Ultraschallbildern eine gänzlich neue Situation entstanden. Für die Eltern besitzt das vom Ultraschallgerät produzierte Bild des ungeborenen Kindes eine beachtliche Realität. Seit einigen Jahren entwickelt sich sogar ein regelrechter Boom beim ›Ultraschall auf Wunsch‹, bei dem Eltern für ein paar hundert Euro von einem privaten Anbieter einen kleinen Videoclip von dem Baby im Bauch seiner Mutter herstellen lassen können. Manche Eltern laden sich digitale Bilder vom Ultraschallgerät auf einen USB-Stick und stellen sie anschließend über ihren Blog ins Internet. Diese »Externalisierung des Fötus aus seiner traditionellen Unantastbarkeit in der Gebärmutter« und »seine Projektion in die Sphäre der Familie und der Gesellschaft« (Bessis 2007: 108) ist eine Entwicklung, die innerhalb einer einzigen Generation stattgefunden hat. Gesamtgesellschaftlich gesehen ist der Fötus über seine starke visuelle Präsenz hinaus in den öffentlichen Raum eingetreten. Dieses Phänomen hat Luc Boltanski besonders eindringlich beschrieben:
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Ohne Zweifel hätte der Fötus ohne das Mittel der Technologien nicht in die Gesellschaft eintreten können, denn erst diese machten ihn für die Sinne zugänglich und führten ihn aus dem Zustand eines vollkommen Unbekannten (in großem Maß inbegriffen auch die Mutter, die ihn in ihrem Schoß trägt) in den eines Wesens, das man ›sehen‹ und das man auf einer Fotografie festhalten kann… […] Aber der Fötus hat durch die Vermittlung der Konflikte, deren Gegenstand er wurde, je mehr er seine physische Anwesenheit behauptete, auch eine Präsenz in der Gesellschaft erlangt.« (Boltanski 2007: 276f.)
Anders gesagt: Der Fötus ist zum Gegenstand normativer Kontroversen und juristischer Auseinandersetzungen geworden. Wie die Frage nach der Euthanasie gehört auch die Frage nach dem Status des Fötus zu den sensibelsten Themen unserer Zeit.
D IE H ERAUSFORDERUNGEN DER P RÄIMPLANTATIONSDIAGNOSTIK Mit der Präimplantationsdiagnostik (PID) hat die Prädiktivmedizin ihren bisher höchsten Entwicklungsstand erreicht. Diese Methode kommt bei In-Vitro-Fertilisationen zum Einsatz und ermöglicht es, eine Diagnose zu stellen, bevor der Embryo überhaupt in den Uterus transferiert wird. Zu diesem Zeitpunkt ist er drei Tage alt und besteht aus nur sechs bis zehn Zellen. Ihm werden ein oder zwei Zellen entnommen und auf genetische oder chromosomale Krankheiten untersucht, ohne dass sich dieses Verfahren negativ auf seine spätere Entwicklung auswirkt. Nur Embryonen ohne Gendefekt werden in die Gebärmutter eingepflanzt. Die erste Schwangerschaft nach einer PID wurde 1990 von Prof. Handyside in London zustande gebracht. Das Diagnoseverfahren war für eine Geschlechtsbestimmung verwendet worden. Tatsächlich gibt es mehr als 200 Krankheiten, die mit dem X-Chromosom zusammenhängen. Die bekannteste unter ihnen ist die Duchennesche Muskeldystrophie. In einem solchen Fall werden nur weibliche Embryonen transferiert. Seitdem ist die Methode weiterentwickelt worden, und PIDs kommen mittlerweile bei der Entdeckung zahlreicher Erbkrankheiten (Mukoviszidose, spinale Amyotrophie, CurschmannSteinert-Syndrom) und Chromosomenanomalien (Translokationen, Inversionen) zum Einsatz. Bis heute wurden mehr als 1000 Kinder nach einer PID geboren. Einige Länder sind in diesem Bereich
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geboren. Einige Länder sind in diesem Bereich besonders aktiv, vor allem die USA, England, Belgien und Spanien. In Frankreich wurde die PID durch ein Gesetz vom 29. Juli 1994, das sich mit der Bereitstellung und der Verwendung von Teilen und Produkten des menschlichen Körpers, mit medizinisch assistierter Reproduktion und mit Pränataldiagnostik befasst, »in Ausnahmefällen« genehmigt. Die werdenden Eltern müssen beweisen, dass sie »mit großer Wahrscheinlichkeit ein Kind bekommen werden, das an einer besonders schweren Erbkrankheit leidet, die zum Zeitpunkt der Diagnose als unheilbar gilt.« Valentin, das erste französische Baby, das nach einer PID zur Welt kam, wurde am 13. November 2000 im Hôpital Antoine Béclère in Clamart geboren. Ihm wird die vererbbare Lebererkrankung, deren Gene die Mutter in sich trug, erspart bleiben. Den Zahlen der Agence de la biomédecine zufolge nahmen im Jahr 2006 220 Paare eine PID in Anspruch, und 46 Kinder wurden geboren. In der Mehrzahl der Fälle hatten die Paare, die eine PID in Anspruch nahmen, traumatische Erfahrungen hinter sich. Häufig hatten sie bereits kranke Kinder bekommen oder wiederholt Abtreibungen vornehmen lassen. Die Eltern von Valentin beispielsweise hatten vorher bereits drei Kinder gehabt, die alle gestorben waren. Dank einer PID können Personen, die sich aus Furcht, ihre Nachkommen könnten krank zur Welt kommen, nicht fortpflanzen wollten, wieder in Betracht ziehen, Kinder zu bekommen. Andere Personen müssen dank der vor der Einpflanzung des Embryos vorgenommenen PID nicht aufgrund einer positiven Pränataldiagnostik (PD) das Kind zu einem fortgeschrittenen Zeitpunkt der Schwangerschaft abtreiben. Vor der Einführung der PID wurde Paaren, die Träger einer genetischen Anomalie sind, eine PD und eventuell ein Schwangerschaftsabbruch vorgeschlagen. Diese Option, mit der eine gewünschte Schwangerschaft unterbrochen wurde, war natürlich sehr schmerzhaft. Mit einer PID ist die genetische Anomalie noch vor der Schwangerschaft diagnostizierbar. So ermöglicht sie es, Abtreibungen zu vermeiden. In diesem Zusammenhang ist eine in England und Spanien durchgeführte Umfrage unter Paaren, die eine PID in Anspruch genommen haben und sich zu ihren Vor- und Nachteilen äußern, sehr aufschlussreich. Wie zu erwarten war, wurde von den Patient/innen als der größte Vorzug der PID genannt, dass nur gesunde Embryonen in die Gebärmutter transferiert und medizinisch indizierte Abtreibungen so vermieden werden können. Als Nachteile nannten die Befragten die geringe Erfolgsquote (es
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gelingen nur etwa 20 % der innerhalb eines Zyklus vorgenommenen In-Vitro-Fertilisationen), die Kosten, die Gefahr, dass Fehler gemacht werden, und den Stress. Trotzdem geben 77 % der Paare, die eine weitere Schwangerschaft in Betracht ziehen, an, dass sie sich erneut für eine PID entscheiden würden. 15 % der Befragten würden sich für eine PD entscheiden, 8 % für keinen der möglichen Tests. Entsprechend lautet die Schlussfolgerung: »Unsere Daten legen nahe, dass die PID auf Akzeptanz stößt und eine wertvolle Alternative zur Pränataldiagnostik darstellt.« (Lavery et al. 2002: 2467) Die PID hat sich im Bereich der medizinisch assistierten Reproduktionstechnik also schrittweise durchgesetzt. 2004 äußerte ein Kliniker: »Die in Frankreich betroffenen Familien haben so extreme klinische Geschichten, dass niemand auf die Idee kommen würde, den bisher durchgeführten PIDs ihre Existenzberechtigung abzusprechen.« (Nisand 2004: 170) Das Gebiet der Reproduktionsmedizin ist allerdings ein umkämpftes Feld. In der Tat hat die PID starke Einwände provoziert und stößt nach wie vor auf erhebliche Widerstände. Zunächst ist hier jene Meinung zu nennen, derzufolge der Embryo ab dem Zeitpunkt seiner Befruchtung eine Person ist. Der Selektionsprozess mit der nachfolgenden Zerstörung der nicht transferierten Embryonen wird entsprechend abgelehnt. Dies ist die wiederholt geäußerte Position der katholischen Kirche. Im Dezember 2008 hat die von der Kongregation für die Glaubenslehre veröffentliche Instruktion Dignitas Personæ die PID nachdrücklich als »vorsätzliche Abtreibung«1 und als Ausdruck einer »eugenischen Mentalität« verurteilt. Der Wille, den Embryo zu schützen, leitet auch die Gesetzgebung derjenigen europäischen Staaten, die die PID verbieten. Dazu gehören zum Beispiel Deutschland, Österreich, Irland und Italien. Die Situation ist allerdings dann paradox, wenn Abtreibungen gleichzeitig erlaubt sind. Das ist in Italien der Fall, wo nach einer stürmischen Debatte zwischen Katholik/innen und Vertreter/innen des Laizismus über die Grenzen der traditionellen politischen Lager hinaus das Gesetz vom 19. Februar 2004 verabschiedet wurde, das sehr restriktive Bestimmungen über die medizinisch assistierte Reproduktion verfügt. Der Embryo ist Personen rechtlich gleichgestellt, und seine Rechte können gegen die Rechte der Mutter geltend gemacht werden. So dürfen Emb1 A.d.Ü.: In der deutschen Fassung der Instruktion ist von einer »vorsätzlichen« Abtreibung die Rede, in der französischen Fassung jedoch von einem »avortement précoce«, d.h. von einer »verfrühten« Abtreibung.
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ryonen weder zerstört noch eingefroren werden. Sämtliche Embryonen, die bei einer In-Vitro-Fertilisation erzeugt werden, müssen in den Uterus der Mutter transferiert werden – auch die, bei denen eine Anomalie festgestellt wurde. Die Gesetzgebung schützt also den Embryo vor dem Zeitpunkt seines Transfers, erlaubt aber seine spätere Vernichtung: Ein ›Risikopaar‹ kann problemlos eine PD vornehmen lassen und im Fall eines positiven Testergebnisses die Schwangerschaft beenden. In Deutschland wurde die PID besonders kontrovers diskutiert.2 Das erklärt sich aus der deutschen Geschichte und den Verbrechen der Nazis. Das Embryonenschutzgesetz vom 13. Dezember 1990 (ESchG) bestraft jede Person, die einen menschlichen Embryo für andere Zwecke als die Sicherung seines Lebens verwendet, kriminalisiert also die PID. Allerdings haben verschiedene Organisationen und vor allem die Bundesärztekammer, sich dafür eingesetzt, das Gesetz zu lockern. Darauf folgte eine weitere intensive Debatte über eine mögliche Entkriminialisierung der PID. Aus diesem Anlass bezogen mehrere deutsche Intellektuelle sehr deutlich Stellung zum Thema Gentechnik. Jürgen Habermas artikulierte deutliche Vorbehalte gegen PID und Embryonenforschung. Seine Entschlossenheit, eine auf herrschaftsfreier Kommunikation beruhende egalitäre Lebenswelt zu bewahren, lässt ihn jegliche Intervention ablehnen, die unilateral in das biologische Schicksal eines anderen Wesens eingreift: »Indem einer für einen anderen eine irreversible, tief in dessen organische Anlagen eingreifende Entscheidung trifft, wird die unter freien und gleichen Personen grundsätzlich bestehende Symmetrie der Verantwortung eingeschränkt.« (Habermas 2005 (2001), 30f.)
In seinen Augen besteht bei der PID eben dieses Problem: »Diese Art der vorsätzlichen Qualitätskontrolle bringt einen neuen Aspekt ins Spiel – die Instrumentalisierung eines unter Vorbehalt erzeugten menschlichen Lebens für die Präferenzen und Wertorientierungen
2 Dieser Artikel wurde im Sommer 2010 fertiggestellt. Zwischen Fertigstellung und Drucklegung im Januar 2011 hat eine viel beachtete Entscheidung des deutschen Bundesgerichtshofs die Debatte weiter vorangetrieben. Bei Drucklegung galt weiterhin die bisherige Gesetzeslage. Der deutsche Bundestag wird voraussichtlich in 2011 über ein neues Gesetz abstimmen, wobei parteiübergreifend derzeit drei Anträge vorliegen: ein generelles Verbot und zwei unterschiedlich restriktive Öffnungen für schwere Erberkrankungen.
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Dritter.« (Ebd.: 58) Es gilt allerdings, die Kluft zwischen dieser Position und der öffentlichen Meinung zu beachten. Eine 2003 durchgeführte repräsentative Umfrage unter 2110 Personen zwischen 18 und 50 Jahren ergab, dass 80 % der Deutschen eine zumindest begrenzte Legalisierung der PID befürworten (Meister et al. 2005). Bei einer anderen Befragung von 265 unfruchtbaren Paaren in Berlin zwischen 2003 und 2005 sprachen sich 96 % für eine Legalisierung der PID aus (Borkenhagen et al. 2007). In Frankreich hat der Widerstand gegen die PID mit Jacques Testart einen bekannten Wortführer. Testart betont das »eugenische Potential« der PID und will zeigen, dass es sich im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung, »die den spezifisch eugenischen Charakter der PID kleinredet«, bei der PID nicht einfach um eine vorgezogene PD handelt. Bei allen denkbaren Forschritten und Weiterentwicklungen wird eine PD immer zu einer Entscheidung zwischen zwei Alternativen führen: Die Schwangerschaft wird fortgeführt oder abgebrochen. In der Folge ist »die PD keine echte bzw. nur eine begrenzte Eugenik«. Die PID hingegen ist eine Auswahl zwischen einer relativ hohen Anzahl gleichzeitig anwesender potenzieller Personen. Zudem findet die Zerstörung außerhalb des Körpers statt und richtet sich auf Embryonen, zu denen noch kaum ein emotionaler Bezug besteht. Daher stößt sie bei Elternpaaren und in der Gesellschaft eher auf Akzeptanz. So ist die PID in Testarts Augen »historisch gesehen die erste effiziente und tolerierbare Handlung, die zur Umsetzung eugenischer Phantasmen vorgeschlagen wird.« In einer extrem wettbewerbsorientierten gesellschaftlichen Situation wird sich das Streben nach einem ›Qualitätskind‹ intensivieren, während die Tests immer besser werden: »Auf eine Selbstkontrolle der Eltern oder der Medizin zu hoffen, ist genauso naiv, wie daran zu glauben, dass Staatsbürger ihre Steuern freiwillig zahlen; die ›Qualität‹ eines Kindes weckt zu viele objektive oder imaginierte Sehnsüchte.«
So bestehe die Gefahr, dass immer mehr Krankheiten und immer harmlosere genetische Veranlagungen in die Tests mit einbezogen werden. Testart zufolge handelt es sich hier um eine inakzeptable Selektion aus eindeutig persönlichen Gründen. Wenn es die PID ab sofort zu verbieten gelte, dann deshalb, weil »diese Methode prädestiniert ist, außer Kontrolle zu geraten« (Testart/Sèle 1996; 1999).
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Testart und Habermas mobilisieren das gleiche Bild des »rutschigen Abhangs« oder der »schiefen Ebene« (Habermas 2002). Beide weisen beharrlich darauf hin, dass auch eine sehr begrenzte Legalisierung der PID unausweichlich zu inakzeptablen Praxen führen wird: »Der Widerstand gegen die PID, wie wir ihn zum Ausdruck bringen, findet seine Rechtfertigung in der nicht vorhandenen Barriere gegen die Weiterentwicklung dieser Methode und damit in der Gewissheit, dass, wer die PID heute aus guten Gründen akzeptiert, den Weg dafür bereitet, dass sie später (in 50 Jahren, in 100 Jahren) für noch ungeahnte Zwecke genutzt werden wird.« (Testart/Sèle 1996: 1401)
Testart betont vor allem die Durchlässigkeit erzeugende Funktion von Ausnahmefällen, die stets dazu beitragen, die Grenzen des Tolerierbaren zu verschieben. In diesem Punkt scheinen ihm die jüngsten Entwicklungen Recht zu geben, wie das folgende Beispiel zeigt. Kürzlich stellte sich die heikle Frage einer möglichen Ausweitung der PID zum Zweck der Suche nach einer immunologischen Inkompatibilität in Familien, die von der Fanconi-Anämie betroffen sind. Dabei handelt es sich um eine vererbbare Blutkrankheit, die nach schmerzhaften Komplikationen zum Tod führt. Die einzige bis dato verfügbare Behandlungsmethode ist eine Knochenmarkstransplantation oder eine Transfusion von Nabelschnurblut. Die/der Spender/in muss zudem mit der/dem Empfänger/in immunologisch kompatibel sein. Aus dieser Problemlage entstand der Gedanke, dass Eltern, die bereits ein von dieser Krankheit betroffenes Kind haben, im Rahmen einer In-VitroFertilisation mehrere Embryonen erzeugen können. Anschließend wird eine zweifache PID durchgeführt, so dass ein Embryo transferiert werden kann, der nicht nur diese Krankheit nicht hat, sondern zudem ein/e potenzielle/r Spender/in für das ältere Geschwisterkind ist. Anschließend können der Nabelschnur Stammzellen entnommen werden, die dem älteren Kind transplantiert werden, ohne dass ein Abstoßungsrisiko besteht. Eine solche Operation wurde erstmalig im Jahr 2000 in den USA durchgeführt. Die Geburt von Adam Nash rettete das Leben seiner sechsjährigen Schwester Molly. In Frankreich war dieses Verfahren, bei der eine PID durchgeführt wird, um einer dritten Person zugutezukommen, durch das Gesetz von 1994 verboten. Die erste Revision des Gesetzes wurde von heftigen Debatten über »Babys als
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Ersatzteillager« bzw. »Babys als Lebensretter« begleitet. Die Legalisierungsgegner/innen stellten schwierige Fragen: Steht ein solches Verfahren nicht im Widerspruch zu dem Grundsatz, dass ein Kind nie ein Mittel zum Zweck sein darf? Was passiert, wenn das Elternpaar Embryonen erzeugt, die diese Krankheit zwar nicht haben, aber alle immunologisch inkompatibel sind? Wie soll damit umgegangen werden, wenn die Transfusion des Nabelschnurbluts nicht ausreicht und anschließend noch eine Knochenmarkstransplantation durchgeführt werden muss? Die Verfechter/innen einer Revision machten geltend, dass eine PID in jedem Fall notwendig ist, um einen gesunden Embryo auswählen zu können; zudem sei es problematisch, einer Familie, die bereits so schwer getroffen ist, einen zusätzlichen Test zu verweigern, der die einzige Hoffnung für die Gesundung ihres bereits geborenen Kindes bedeutet. Schließlich genehmigte das Bioethikgesetz vom 6. August 2004 »in Ausnahmefällen« einen solchen Gebrauch der PID und schränkte ihn gleichzeitig stark ein: Eine PID darf nur dann durchgeführt werden, wenn die Lebensaussichten eines Kindes, »das von einer Erbkrankheit betroffen ist, die in den ersten Lebensjahren zum Tod führt, sich entscheidend [verbessern]«. Diese Praxis ist in mehreren europäischen Staaten erlaubt (Belgien, Spanien, Großbritannien und Nordirland) und hat bereits mehreren Kindern das Leben gerettet. Da aber ein Grenzfall unweigerlich weitere Grenzfälle nach sich zieht, stellt sich ebenso unweigerlich das Problem, ob das Verfahren ausgeweitet werden darf, um andere Krankheiten zu heilen, die allerdings keine Erbkrankheiten sind, wie beispielsweise Leukämie. In diesem Fall liegt das Dilemma darin begründet, dass die PID nur wegen der immunologischen Inkompatibilität durchgeführt werden muss. Das Kind muss nicht als Spender/in von Stammzellen geboren werden, da es nicht Gefahr läuft, an der gleichen Krankheit zu leiden wie sein Geschwisterkind. Diese Indikation ist in Frankreich (noch) verboten. In den USA ist sie allerdings legal, und europäische Elternpaare zögern nicht, in die USA zu reisen, um diese Methode ihrem kranken Kind zugutekommen zu lassen (Baruch et al. 2008: 1055; CantoSperber/Frydman 2008: 106). Die Verfechter/innen eines absoluten Verbots sehen bei solchen Neuerungen alle Schranken brechen. Entrüstet über das grüne Licht für »Babys als Ersatzteillager« schreibt Testart:
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»Tatsächlich hält keine ethische Überzeugung der medizinischen Argumentation stand. Ethik löst sich nämlich auf: in der Zeit (das zeigt das abnehmende Interesse an parlamentarischen Debatten), im Raum (die anderen machen es doch auch, warum nicht auch wir?) und in der Kasuistik (bei der ›ausnahmsweisen‹ Einwilligung in dramatischen Fällen und bei der nachfolgenden Ausweitung).« (Le Monde, 25. Januar 2004)
Umgekehrt lässt sich auch die Meinung vertreten, dass solche Grenzfälle, bei denen das moralische Urteil besonders schwierig zu fällen ist, eine positive Funktion haben, weil sie es unmöglich machen, sich auf eine unveränderbare Position festzulegen. Im Hintergrund zeichnen sich weitere, noch problematischere Gebrauchsweisen der PID ab. Ursprünglich wurde die PID entwickelt, um die Geburt von Kindern zu verhindern, die Träger/innen einer genetischen Mutation sind, die unweigerlich zu einer schweren Krankheit führt. Kürzlich wurde mit der Möglichkeit, die schlichte genetische Prädisposition für bestimmte Krankheiten zu diagnostizieren, eine neue Schwelle überschritten. Hier führt die Diagnostik nicht zu einer Gewissheit, dass die Person erkranken wird, sondern zu der Identifizierung eines ›Risikofaktors‹. So können PIDs durchgeführt werden, um Mutationen zu diagnostizieren, die Personen für bestimmte Krebsarten (Brustkrebs, Darmkrebs etc.) oder für spät ausbrechende Krankheiten wie beispielsweise Alzheimer prädisponieren. In diesem Fall besteht das ethische Dilemma darin, dass vollkommen lebensfähige Embryonen zerstört werden. Ob die Krankheit ausbrechen wird, ist nicht sicher, aber das Individuum weist eine überdurchschnittlich hohe Erkrankungswahrscheinlichkeit auf. Das gilt vor allem für bestimmte, häufig in einer Familie vorkommenden Krebserkrankungen (Darm-, Brust- und Eierstockkrebs). So wird eine Mutation auf dem BRCA1Gen mit einem erheblichen Brustkrebsrisiko in Verbindung gebracht. An dieser Stelle kann es von Interesse sein, eine PID in Anspruch zu nehmen. Im Januar 2009 kam in einem Londoner Krankenhaus nach einer solchen Prozedur ein gesundes Mädchen zur Welt. Ihre Mutter war nicht unfruchtbar, hatte sich aber für eine In-Vitro-Fertilisation entschieden, um von einer PID Gebrauch machen zu können. Ihre Großmutter, ihre Mutter und die Schwester ihres Ehemannes waren an Brustkrebs erkrankt. Mit Hilfe der PID wählten die Mediziner/innen einen Embryo aus, der die für diese Krankheit verantwortliche Mutation nicht aufwies. So hat nicht nur die Tochter im Erwachsenenalter ein
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geringeres Risiko an Brustkrebs zu erkranken; zudem ist auch die Vererbung des Gens auf zukünftige Generationen unterbrochen. Die USA streben ebenso wie mehrere europäische Staaten (so Großbritannien und Nordirland, Belgien und Spanien) eine Weiterentwicklung und Ausweitung dieser Prädispositionsdiagnostiken an. In Frankreich wird diese Frage nach wie vor heftig diskutiert, da die Gesetzeslage keine explizite Liste von Krankheiten bereitstellt, für die eine PID erlaubt ist. Es ist nur verfügt, dass es sich um »besonders schwere« Erbkrankheiten handeln muss, die »zum Zeitpunkt der Diagnose unheilbar sind«. Der Gesetzgeber überlässt es den jeweiligen Mediziner/innenteams, je nach Fall einzuschätzen, welche Krankheiten unter diese Definition fallen. Drei Kliniken in Clamart, Strasbourg und Montpellier dürfen PIDs durchführen. 2006 löste Professor Stephane Viville, der Leiter des Strasbourger Zentrums, eine Kontroverse aus, als er zu verstehen gab, dass er es für legitim erachte, eine Prädisposition für in einer Familie gehäuft vorkommende Krebsarten und insbesondere für Darmkrebs zu diagnostizieren. Carine Camby, die Vorsitzende der Agence de la biomédecine, kommentierte dies anschließend folgendermaßen: »Ich für meinen Teil halte wenig davon, dass eine solche Praxis weiterentwickelt wird, ohne dass eine öffentliche Debatte darüber stattfindet. Wenn das Bioethikgesetz großzügig ausgelegt wird, so kann das nicht von einer einzigen Klinik aus passieren.«
In einem Bericht, mit dessen Erstellung eine Expert/innengruppe unter der Leitung der Onkogenetikerin Dominique Stoppa-Lyonnet beauftragt worden war, trat kurz darauf zutage, dass in Frankreich bereits rund 20 solcher PIDs durchgeführt worden waren, die zu der Geburt von sechs Kindern geführt hatten, die ohne die entsprechende genetische Mutation zur Welt kamen. Das war Jacques Testart Anlass genug, um wieder auf die Barrikaden zu gehen. In einem Kommentar mit dem Titel »Auf der Suche nach dem perfekten Kind« (Le Monde, 14. Oktober 2006) schrieb er, er habe immer darauf hingewiesen, dass Ausweitungen und Folgeentwicklungen der PID ebenso unausweichlich wie fatal seien. Diese Tendenz, so legte er dar, werde sich als besonders unheilvoll erweisen, wenn man die Diagnose von Prädispositionen erlaube; das sei eine wahre Büchse der Pandora:
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»Während tödliche Krankheiten zum Großteil bereits bekannt und quantifiziert sind, gibt es potenziell unendlich viele ›genetische Prädispositionen‹, da viele Genetiker/innen Krebs, Lepra, Fettleibigkeit, Bluthochdruck, Multiple Sklerose, Diabetes, Infarkte oder Malaria ebenso dazu zählen wie Alkoholabhängigkeit, Autismus, Schizophrenie oder manisch-depressive Psychosen. […] Die Ausweitung der PID von monogenetischen Krankheiten auf Risikofaktoren ist ein wesentlicher Schritt in Richtung einer genetischen Kategorisierung beliebiger Besonderheiten zukünftiger Personen. Wir alle tragen unzählige genetische Faktoren in uns, die als negativ gelten und die wir unseren Nachkommen möglicherweise vererben werden.«
So zeichne sich am Horizont eine explosionsartige Zunahme von Tests ab, mit deren Hilfe die Embryonen mit dem besten genetischen Profil ausgewählt würden. Gegenwärtig begrenze die beschränkte Anzahl der Embryonen, die bei einer In-Vitro-Fertilisation zur Verfügung stehen, die Auswahlmöglichkeiten. Die technologischen Neuerungen zur Vervielfältigung der Eizellen würden das jedoch ändern. Man müsse also bereits jetzt gegen die »Produktion eines universellen homo geneticus« angehen. Auf diese Positionierung folgte eine sofortige Antwort von Israël Nisand, Professor für Gynäkologie und Geburtshilfe am Universitätsklinikum Strasbourg. Nisand veröffentlichte einen Artikel namens »Die legitime Wahlfreiheit der Eltern« (Le Monde, 20. Oktober 2006), in dem die Vielfalt der möglichen Meinungen zu dieser Frage gut dargelegt ist. Nisand unterstreicht zunächst, dass Entscheidungen im Zusammenhang mit PID nicht leichtfertig getroffen werden. Jeder Fall wird in einem pluridisziplinären Pränataldiagnostikzentrum ausführlich besprochen. Das Team beschäftigt sich mit der Frage, ob der vorliegende Fall den gesetzlich vorgegebenen Bedingungen entspricht, und diskutiert insbesondere, ob die Krankheit als »besonders schwer« definiert werden kann. Natürlich muss in dieser Einschätzung auch das Leiden der Eltern berücksichtigt werden, die sich für oder gegen einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden müssen: »Jedes Jahr treffen fast 6000 Elternpaare diese Entscheidung, die schmerzhaft und einsam ist – trotz der Hilfe von Psychiater/innen und Psycholog/innen. Man tut ihnen Unrecht, wenn man sagt oder glaubt, sie seien auf der Suche nach dem ›perfekten Kind‹.«
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Prof. Nisand versucht anschließend darzulegen, welche Entscheidungen dazu geführt haben, dass die Identifizierung von Prädispositionen so polemisch diskutiert wird: »In der Tat kann eine Erbkrankheit, die mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem vor der Pubertät auftretenden Krebs im Verdauungstrakt führt, der es erforderlich macht, den Darm Stück für Stück zu entfernen und in den meisten Fällen weitere Krebsarten nach sich zieht, in den Augen der Eltern und auch der Ärzt/innen eine besonders schwere und zum Zeitpunkt ihrer Diagnose unheilbare Krankheit darstellen. Und wenn die Möglichkeit besteht und es von den Eltern gewünscht ist, kann die PID Eltern genehmigt werden, die wie alle anderen Eltern schlichtweg hoffen, dass sie ihrem Kind mit Hilfe der Medizin den unausweichlichen Weg einer Krankheit, die sie kennen und fürchten, und den frühzeitigen Tod infolge einer genetischen Anomalie, die sie ihrem Kind selber vererbt haben, ersparen können.«
In seinem Plädoyer für eine »strenge und umsichtige juristische Rahmung« der PID unterstreicht er trotzdem die Notwendigkeit, die Entscheidungsfreiheit der Eltern sicherzustellen: »Die Gesellschaft hätte Unrecht, sich an die Stelle der Eltern zu setzen; eine so schwerwiegende Entscheidung können nur die Eltern selber treffen.«
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Der Gebrauch der PID zu außermedizinischen Zwecken wirft noch heiklere Fragen auf. Es ist tatsächlich vorstellbar, dass solche Tests eines Tages durchgeführt werden, um Merkmale wie Körpergröße, Gewicht, Hautfarbe, Haartyp und langfristig auch Intelligenz oder bestimmte Charaktereigenschaften zu diagnostizieren und auszuwählen. In seinem Buch Remaking Eden (1997) hat der US-amerikanische Genetiker Lee Silver in fiktionaler Form ein solches Schreckensszenario entworfen. In einem Land wie den USA, in dem die Kosten, die bei der Durchführung von Verfahren wie der PID entstehen, bekanntermaßen nicht von der Krankenversicherung getragen werden, könnte die Gesellschaft sich in zwei Gruppen aufspalten: die »GeneRiches« und die »Naturals«. Eine wohlhabende Klasse verbessert ihr genetisches Erbe immer weiter; allen anderen bleibt diese Option verwehrt. Ab einem bestimmten Grad genetischer Divergenz werden sich zwei
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Mitglieder aus den unterschiedlichen Gruppen nicht mehr miteinander fortpflanzen können. Meistens werden solche Szenarien mit dem Einwurf vom Tisch gewischt, in naher Zukunft werde nichts dergleichen eintreten. Intelligenz, Charakterzüge und Verhaltensweisen sind nicht einfach genetisch determiniert. Vielmehr sind sie Variablen, die von der Umgebung, in der ein Mensch sich bewegt, und von dem, was er lernt, maßgeblich geprägt werden. Daher ist nicht zu befürchten, dass ein unmittelbar mit dem IQ zusammenhängendes Gen identifiziert werden kann, auf dessen Grundlage Eltern ihre Kinder auswählen könnten. So überzeugend diese Einwände auch sind, so ist doch nicht von der Hand zu weisen, dass außermedizinische Gebrauchsweisen der PID bereits Realität sind. An dieser Stelle ist es geboten, eine Einschätzung der beständig wachsenden Auswirkungen der technologischen und wissenschaftlichen Entwicklungen auf die sozialen Verhältnisse zu leisten. Vor weniger als einem halben Jahrhundert erschien In-Vitro-Fertilisation als unrealistischer Traum von ein paar Zauberlehrlingen. Mittlerweile werden auf der ganzen Welt tausende In-Vitro-Kinder geboren, ohne dass sich die Öffentlichkeit darüber aufregt. Was gestern schockierend schien, ist heute normal. Was heute heftig diskutiert wird, ist morgen wahrscheinlich die Normalität. Angesichts dessen scheint es unvernünftig, sich auf eine bestimmte Position festzulegen. Während die Ethiker/innen sich bekriegen, macht die Technik Fortschritte, verändert permanent die Gegebenheiten und führt zu einer Veränderung gesellschaftlicher Werte und Ansichten. Ein Beispiel, an dem sich diese Dynamik besonders gut abzeichnet, ist die wachsende Verbreitung von Verfahren, mit denen das Geschlecht des ungeborenen Kindes festgelegt wird. Es gab schon immer eine Art populären Glauben daran, dass sich das Geschlecht des zukünftigen Kindes anhand bestimmter Zeichen voraussagen lässt. Bis in die 1970er Jahre hinein war der mit Gewissheit getätigte Ausruf »Es ist ein Junge!« oder »Es ist ein Mädchen!« allerdings dem Kreißsaal vorbehalten. Das hat sich dank Fruchtwasseruntersuchung und Ultraschall stark geändert. Mittlerweile besteht das Risiko, dass diese Methoden nicht nur zu medizinischen Zwecken angewendet werden, sondern auch aus rein persönlichen Gründen. Diesbezüglich hat der Nobelpreisträger Amartya Sen als eine der ersten Stimmen auf das zahlenmäßige Ungleichgewicht zwischen den
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Geschlechtern hingewiesen, das in bestimmten asiatischen Ländern zugunsten männlicher Kinder ausfällt. Dort hat dieses Problem beunruhigende Ausmaße angenommen. 2003 wies Sen darauf hin, dass weltweit mehr als 100 Millionen Frauen fehlen, davon 44 Millionen in China und 37 Millionen in Indien. In diesen Regionen lässt sich der Wunsch nach einem männlichen Nachkommen im Wesentlichen mit ökonomischen und kulturellen Faktoren erklären: Töchter stellen eine Last dar, weil ihre Familie bei ihrer Eheschließung eine Mitgift zahlen muss, während Söhne sich um ihre alternden Eltern und auch um ihre Bestattung kümmern. Das Frauendefizit kann natürlich nicht ausschließlich der Pränataldiagnostik angelastet werden: Traditionell sind Säuglingsmorde und mangelnde Versorgung nach der Geburt hierfür verantwortlich. Nichtsdestotrotz »hat die Existenz der zeitgenössischen Methoden, mit denen sich das Geschlecht des Fötus festlegen lässt, solche Abtreibungen aufgrund des Geschlechts, die in vielen Gesellschaften häufig vorgenommen werden, ermöglicht und vereinfacht. Normalerweise liegt das Geschlechterverhältnis unter Neugeborenen bei 95 Mädchen je 100 Jungen (so stellt es sich in Europa und Nordamerika dar); im Vergleich dazu liegt es in Singapur und Taiwan bei 92 Mädchen, in Südkorea bei 88 und in China bei 86 Mädchen je 100 Jungen« (Sen 2003: 1297).
Die Gefahr, dass dieses Problem sich auch in der westlichen Welt stellt, wächst beständig. Eine 1994 durchgeführte Umfrage unter 2900 Genetiker/innen in 37 Ländern lieferte darauf deutliche Hinweise: 47 % der Genetiker/innen waren bereits von Eltern, die sich das Geschlecht ihres Kindes aussuchen wollten, um eine PD ersucht worden. In Frankreich lag diese Zahl bei 37 %, in den USA bei 62 % und in Schweden bei 75 %. Die Genetiker/innen sollten sich außerdem zu dem Fall äußern, dass die Eltern von vier Töchtern sich einen Sohn wünschen und die schwangere Frau verkündet, sie würde einen weiblichen Fötus abtreiben. Hier gaben 29 % der Genetiker/innen zu Protokoll, sie würden die Diagnostik durchführen; in den USA waren es 34 %, in Israel 68 % und in Russland 90 %. Des Weiteren gaben die jüngeren Genetiker/innen deutlich häufiger positive Antworten, so dass sich eine wachsende Tendenz bemerkbar macht, solchen Anfragen in Zukunft nachzukommen (Wertz/Fletcher 1998).
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Und tatsächlich hat sich aus der Wahl des Geschlechts in einem einzigen Jahrzehnt eine ganze Industrie entwickelt. Das gilt vor allem für die USA, wo diese Praxis nicht gesetzlich verboten ist. Inzwischen bietet eine Vielzahl von Websites ihre Dienste auf diesem Gebiet an. Dieses Phänomen ist auf dem Weg, auch in Europa anzukommen; seine gesellschaftlichen Implikationen sind bei weitem nicht erfasst. Hier muss man darauf hinweisen, dass die in diesem Bereich angewendeten Verfahren bis vor kurzer Zeit einen eher anekdotischen Charakter hatten, dass sich die Situation mittlerweile jedoch durch technische Neuerungen maßgeblich geändert hat. Bei der Wahl des Geschlechts mit Hilfe einer PID im Rahmen einer In-Vitro-Fertilisation besteht eine fast hundertprozentige Gewissheit. PIDs kommen bereits seit geraumer Zeit bei der Bekämpfung von Krankheiten zum Einsatz, die mit dem X-Chromosom zusammenhängen. Neu an der hier diskutierten Situation ist, dass mittlerweile einige private Einrichtungen unabhängig von jeder medizinischen Notwendigkeit PIDs zum rein privaten Gebrauch anbieten. In den USA ist das absolut legal: Ein Paar, das das Geschlecht seines ersten Kindes festlegen will oder ein zweites Kind haben möchte, das nicht das gleiche Geschlecht wie das ältere Kind haben soll, kann sich an eine Klinik wenden. Das Prozedere ist kompliziert, da die Eltern die Probleme und die Kosten der In-Vitro-Fertilisation auf sich nehmen müssen. Dennoch findet es im Rahmen des in den USA so genannten ›family balancing‹, also der Herstellung eines zahlenmäßigen Gleichgewichts von Töchtern und Söhnen innerhalb einer Familie, zunehmend Verbreitung. In einer kürzlich durchgeführten Umfrage zeigte sich, dass 9 % aller durchgeführten PIDs nicht aus medizinischen Gründen vorgenommen werden, sondern um das Geschlecht des Kindes festzulegen (Baruch et al. 2008: 1056). Der Gebrauch dieser Methode verbreitet sich auf der ganzen Welt: »Es gibt mittlerweile mehr als zehn In-Vitro-Fertilisationszentren in Jordanien, genauso viele im Libanon, noch mehr in Saudi-Arabien oder im Iran, doppelt so viele in Ägypten oder in Brasilien und fast 150 in China, wo die Geschlechtsfestlegung ganz normal ist.« (Canto-Sperber/Frydman 2008: 90)
Und das ist längst nicht alles. So erklärt ein indischer Arzt: »Das wird zwar von immer mehr Kliniken auf der ganzen Welt angeboten, aber nur wenige veröffentlichen ihre Daten, denn gemessen an westlichen Standards ist diese Praxis nicht politisch korrekt.« (Malpani 2002: 12)
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In der Tat werden in dem entsprechenden beruflichen Umfeld heftige Kontroversen um die Frage ausgetragen, ob diese Praxis erlaubt bzw. weiterentwickelt werden darf oder soll. In Frankreich, wo die PID zu persönlichen Zwecken verboten ist, haben die führenden Mediziner/innen auf diesem Gebiet eindeutig Stellung zu dieser Frage bezogen. Aber nichts hält ein finanziell gut gestelltes und wild entschlossenes französisches Paar davon ab, ins Ausland zu fahren. Unabhängig davon, was man über diese Frage denkt, muss man auf jeden Fall zur Kenntnis nehmen, dass eine Nachfrage besteht und dass man diese Nachfrage nicht einfach ignorieren kann. In den USA wurde eine Umfrage unter 561 Frauen durchgeführt, die aufgrund von Unfruchtbarkeit ärztliche Hilfe gesucht hatten und insofern potenzielle PID-Interessentinnen sind. Sie führte zu deutlichen Ergebnissen: »Unter unfruchtbaren Patient/innen besteht eine erhebliche Nachfrage nach der Festlegung des Geschlechts vor der Einpflanzung des Embryos.« (Jain et al. 2005: 649) So wollten 41 % der befragten Frauen das Geschlecht ihres nächsten Kindes festlegen können, 21 % waren auch bereit dazu, die damit einhergehende finanzielle Belastung zu tragen, und 16 % wollten eine PID als Auswahlmethode in Anspruch nehmen. Es zeichnet sich ab, dass diese Option tendenziell zunehmend offen in Betracht gezogen wird. Im März 2005 äußerte sich eine Kommission im britischen Unterhaus zugunsten der Geschlechtsfestlegung zum Zweck einer ausgewogenen Familie. Im Mai 2005 verabschiedete das israelische Parlament ein Gesetz, das Eltern, die mindestens vier Kinder gleichen Geschlechts haben, in Ausnahmefällen die Geschlechtsfestlegung erlaubt. Kanadische Paare fahren in die USA, um diese Verfahren in Anspruch zu nehmen, und französische Paare zögern nicht länger, aus dem gleichen Grund nach Zypern zu reisen. Auf dem Feld der Geschlechtsfestlegung wird sich eine weitere Neuerung zweifelsohne als noch explosiver erweisen. Der Markt wird gerade von einer neuen Generation sehr einfach zu handhabender Tests erobert. Seit einigen Jahren ist es in den Vereinigten Staaten möglich (und völlig legal), im Internet Tests zu bestellen, mit denen schwangere Frauen ab der 5. Schwangerschaftswoche das Geschlecht ihres Embryos bestimmen können (vgl. www.babygendermentor.com). Der Frau wird ein Kit zugestellt, mit dem sie sich an einer Fingerkuppe selber Blut abnehmen kann. Ein bereits frankierter Briefumschlag wird mitgeliefert. Die Frau schickt ihre Blutprobe an ein Labor und wird ein paar Tage später per Email darüber informiert, dass sie das
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Geschlecht ihres Embryos auf einer Internetseite abrufen kann. Der Test ist nicht verschreibungspflichtig, er greift nicht in den Körper der Schwangeren ein, und die Prozedur wird streng vertraulich gehandhabt. Das Verfahren kostet insgesamt 275 US-Dollar. Der Test funktioniert darüber, dass es mittlerweile möglich ist, fötale Zellen im Blut der Schwangeren zu identifizieren. Der Anbieter versichert, die Zuverlässigkeit liege bei 99,9 %, und verspricht eine Geld-zurück-Garantie. Es ist zur Zeit noch nicht möglich, die Zuverlässigkeit dieses Tests mit Sicherheit einzuschätzen, und in den USA sind in diesem Zusammenhang bereits einige Gerichtsverfahren anhängig. Trotzdem steht fest, dass solche nicht-invasiven pränataldiagnostischen Methoden auf der Grundlage der Analyse fötaler Zellen sich in Zukunft ausweiten werden. Mehrere Biolog/innenteams auf der ganzen Welt und vor allem in Frankreich arbeiten an der Entwicklung nicht-invasiver frühdiagnostischer Methoden für die Feststellung von Krankheiten wie Mukoviszidose, spinaler Amyotrophie und Trisomie 21. Sobald solche Tests tatsächlich zuverlässig und verfügbar sind, werden sie die gängigen Vorstellungen und Praxen im Bereich der Pränataldiagnostik maßgeblich transformieren. In den Vereinigten Staaten hat die Markteinführung des ersten »Baby Gender Tests« sofort ein großes Medienecho verursacht (so gab es eine CNN-Sendung, einen Newsweek-Artikel etc.). Noch verbieten viele Länder seine Vermarktung, aber die Grenzen verschieben sich bei solchen Produkten schnell. Das liegt vor allem daran, dass europäische, indische oder chinesische Paare sich, abgesehen von den Reisekosten, von nichts abhalten lassen werden, wenn sie in die USA fahren wollen, um dort diesen Test zu kaufen. Dazu kommt die Tatsache, dass das Internet alle Grenzen überwindet. So finden diese Produkte auch ihren Weg nach Europa. Seit dem Jahr 2007 wird auf einer britischen Website für etwa 350 EUR ein Test namens »Pink or Blue« angeboten. Der Anbieter behauptet, das Geschlecht des Kindes könne ab der 7. Schwangerschaftswoche mit einer Trefferquote von 95 % bestimmt werden. 2009 hat ein Unternehmen aus Texas zu dem bescheidenen Preis von 35 US-Dollar den Urintest »Intelligender« auf den Markt gebracht, der das Geschlecht des Kindes ab der 10. Schwangerschaftswoche mit 80 %iger Zuverlässigkeit bestimmt. Wenn die theoretische Reflexion nicht der Realität hinterherhinken soll, gilt es, die Fragen zu antizipieren, die sich in Zukunft stellen werden – und die sich auch jetzt schon stellen –, sobald diese Tests
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mehr oder weniger legal auf dem französischen Markt auftauchen werden. Eine Frau muss nicht begründen, warum sie abtreiben will, solange sie die Abtreibung innerhalb der gesetzlich vorgegebenen Fristen vornehmen lässt, also in Großbritannien und Nordirland bis zur 24. Schwangerschaftswoche und in Frankreich bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Zudem ist in Frankreich bis zur 5. Schwangerschaftswoche der medikamentöse Schwangerschaftsabbruch in ärztlichen Praxen auf Rezept erlaubt, wenn das Rezept von einer/m Vertragsärzt/in eines Krankenhauses ausgestellt ist. Die hier besprochenen Produkte dürfen in Frankreich natürlich nicht verkauft werden. Aber man darf nicht übersehen, wie weit die Gesetzgebung und die Praxen auseinanderliegen. Eine Umfrage unter 610 Leserinnen der Frauenzeitschrift Elle förderte im Juni 2007 zutage, dass 50 % der Befragten solche Tests verwenden würden und dass 18 % von ihnen abtreiben lassen würden, wenn das Geschlecht des Kindes nicht ihrem Wunsch entspricht. Was einige Personen schockiert, ist für andere längst nicht mehr erschreckend. Es ist gut möglich, dass solche Tests eines Tages routinemäßig dafür Verwendung finden werden, das innerfamiliäre Geschlechterverhältnis auszubalancieren.
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Es wäre illusorisch, auf einem Feld, das sich per se in einem permanenten Entwicklungsprozess befindet, universelle und dauerhafte Normen aufstellen zu wollen. Das zeigt sich auch an einem weiteren Beispiel. PIDs werden auch für die Auswahl eines klassischerweise als Behinderung geltenden Merkmals verwendet, das aus bestimmten Perspektiven aber keineswegs als Behinderung betrachtet wird. Die PID wurde zwar ursprünglich entwickelt, um Embryonen auswählen zu können, die keine Träger von Erbkrankheiten sind; sie eröffnet aber auch die Möglichkeit, einen Embryo eben aus dem Grund auszuwählen, dass er ein bestimmtes Merkmal aufweist. Diese Frage stellt sich beispielsweise bei bestimmten vererbbaren Formen der Taubheit. Manche tauben Eltern lassen eine PID durchführen, um ein hörendes Kind zu bekommen, andere nehmen eine PID in Anspruch, damit ihr Kind, ebenso wie sie selber, taub sein wird. Diese Praxis ist nicht so selten, wie man meinen könnte. Bei einer kürzlich in einigen Spezial-
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kliniken durchgeführten Umfrage in den USA ergab sich folgendes Bild: »3 % der Kliniken, in denen In-Vitro-Fertilisationen und PIDs praktiziert werden, geben an, dass sie bereits auf Bitten von Elternpaaren PIDs durchgeführt haben, um einen Embryo mit einem Handicap auszuwählen.« (Baruch et al. 2008: 1055)
Eine ähnliche Problematik ergibt sich, falls eine Diagnostik entwickelt werden sollte, mit der die sexuelle Orientierung festgelegt werden kann. Zwar weist nichts darauf hin, dass das möglich sein wird, aber es ist aufschlussreich, dass dieses Thema bereits von Ethiker/innen diskutiert wird. Einige dieser Ethiker/innen nehmen hierzu Extrempositionen ein und meinen, »Eltern [müsse] es erlaubt sein, PIDs zur Wahl der sexuellen Orientierung ihres Kindes in Anspruch zu nehmen« (Dahl 2003: 1368). Hier muss man festhalten, dass im Sinn der Nichtdiskriminierung und der Kohärenz von der gleichen Seite geäußert wird, Eltern sollten »nicht nur die Geburt heterosexueller Kinder sicherstellen dürfen, sondern ebenso die Geburt homosexueller Kinder« (ebd.: 1369). Es zeichnet sich also eine deutliche Tendenz ab, PIDs zu außermedizinischen Zwecken zu verwenden. Was vor kurzer Zeit noch mehr oder weniger Science Fiction zu sein schien, nimmt mittlerweile konkret Gestalt an. In diesem Feld können moralische Skrupel sich nur schlecht gegen technologische und wissenschaftliche Neuerungen behaupten; sobald zuverlässige Tests auf den Markt kommen, wird die PID wohl unausweichlich auch für die Umsetzung der Vorstellungen der Eltern über ihr zukünftiges Kind zum Einsatz kommen. So unterstreicht ein Biologe: »Auf diesem Gebiet verlaufen Entwicklungen oft rasend schnell. Vor 50 Jahren brachten französische Frauen ihre Kinder häufig zu Hause zur Welt; das hat heute Seltenheitswert und stößt bei Mediziner/innen auf starkes Missfallen. Ebenso ist die In-Vitro-Fertilisation kein Ausnahmeverfahren mehr, und man kann sich vorstellen, dass sie zum Standardverfahren wird, wenn sie als Bonus noch die Wahl des besten Embryos unter 10 oder sogar 100 Möglichkeiten bietet. Sich auf natürliche Weise fortzupflanzen, die Vereinigung von einer Eizelle und einem Spermium gänzlich dem Zufall zu überlassen, könnte irgendwann als Verantwortungslosigkeit auf Seiten der Eltern gelten.« (Jordan 2003: 185)
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Diese Transformationen werden sich wohl weiter beschleunigen: Die gegenwärtigen Forschungen zu Neogameten 3, Chimären, Parthenogenese oder Klonen verschärfen den Eindruck, der Status quo sei ein bloßes Provisorium (Pulman 2005). In seinen Überlegungen zur PID und zur Embryonenforschung fragt Jürgen Habermas, ob wir »auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik« sind. So lautet der Untertitel seines Buches Die Zukunft der menschlichen Natur, dessen Duktus sich als eindeutig alarmistisch beschreiben lässt. So schreibt er beispielsweise: »Verbrauchende Embryonenforschung und Präimplantationsdiagnostik lösen starke Reaktionen aus, weil sie als eine Exemplifizierung der Gefahren einer auf uns zukommenden liberalen Eugenik wahrgenommen werden.« (Habermas 2005 (2001): 45) Auffällig ist, dass Habermas an keiner Stelle begründet, warum er PID und Embryonenforschung als »Eugenik« bezeichnet. Dabei ist die Verwendung dieses Begriffs aus mindestens zwei Gründen problematisch. Erstens führt es a priori zu Stigmatisierungen und Diskreditierungen, wenn man den Eugenikbegriff so verwendet, dass er in direkte Nachbarschaft zu den Verbrechen der Nazis gerückt wird; der Diskussion ist das eher abträglich. So unterstreicht einer der besten Spezialisten auf diesem Feld: »Der Begriff wird seitdem so stark abgelehnt, dass die schlichte Bezeichnung eines Gedankens oder eines Verfahrens als ›eugenisch‹ oft bereits mit ihrer Verurteilung gleichzusetzen ist.« (Gayon 1999: I)
Prof. Nisand hat sich ebenfalls nachdrücklich dazu geäußert: »Die leichtfertige Bezeichnung der PID als ›eugenische Praxis‹ trägt nicht zur Erhellung ethischer Debatten bei, sondern steigert im Gegenteil noch die Verwirrung. Ethische Debatten können weder auf manipulativ eingesetzte Slogans noch auf den aggressiven Austausch unzutreffender, geradezu diffamierender Vergleiche reduziert werden, die in der Absicht geäußert werden, diese den Einzelnen überlassenen und allen Personen zugutekommenden medizinischen Verfahren in die Nähe der Medizin unter den Nazis zu rücken.« (Le Monde, 20. Oktober 2006)
Zweitens bezeichnet der Begriff sehr heterogene Realitäten, was die allgemeine Verwirrung zusätzlich steigert. Seit Francis Galton Ende 3 So bezeichnet René Frydman Gameten, die aus einer Stammzelle hergestellt werden. Vgl. ders.: »Néogamètes: merveilles et vertige«, in: Médecine/Sciences Nr. 6-7, Vol. 23, Juni/Juli 2007.
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des 19. Jahrhunderts den Begriff ›eugenics‹ eingeführt hat, wurde er für die Beschreibung sehr verschiedener Denksysteme und juridischpolitischer Praxen verwendet. Er umfasst eine Art aufgeklärtes Hygienekonzept ebenso wie die krassesten rassistischen Ideologien. PierreAndré Taguieff hat als einer der ersten Autor/innen darauf hingewiesen, dass man den Begriff systematisch und angstfrei betrachten muss, und hat in diesem Sinn seine grundlegenden unterschiedlichen Ebenen herausgearbeitet. So beschreibt er unter anderem eine kollektive und per Zwangsmaßnahmen durchgesetzte Eugenik, eine individuelle Eugenik, die auf Entscheidungsfreiheit beruht, eine positive Eugenik, die auf die Wahl der Besten abzielt, und eine negative Eugenik, deren Zweck die Ausmerzung unerwünschter genetischer Merkmale ist (1989; 1994). Nimmt man das zur Kenntnis, so scheint es nicht unbegründet zu sein, im Zusammenhang mit bestimmten biomedizinischen Neuerungen von Eugenik zu sprechen: Es handelt sich tendenziell um Auswahlverfahren zwischen Personen auf der Grundlage vererbbarer Merkmale. »Man kann gegenwärtig wohl kaum übersehen, dass zwischen dem, was früher ›Eugenik‹ hieß, und der Verbreitung genetischer Tests, medizinisch indizierter Abtreibungen, der Auswahl von Embryonen und Programmen zur Ausmerzung von Erbkrankheiten und der Ausweitung ähnlicher Praxen eine Kontinuität besteht.« (Gayon 2004: 451)
Nichtsdestotrotz ist es angezeigt, genau zu erfassen, worin sich diese »neue Eugenik« von ihren vorherigen Erscheinungsformen unterscheidet. Hier müssen verschiedene Aspekte diskutiert werden. Zunächst hat sich das Verhältnis zwischen der Eugenik und ihrer Absicht tiefgreifend verändert. Zu diesem Punkt hat besonders Gayon wertvolle Forschungsbeiträge geleistet: »Angenommen, eine eugenische Praxis ist ein Vorhaben zur Auswahl von Menschen, das zu einer vorsätzlichen Veränderung der genetischen Zusammensetzung einer Population führt. Dann sind zeitgenössische Praxen wie Pränataldiagnostik und Abtreibung gemessen an ihrer Wirkung eugenisch, da sie auf den Genpool von Populationen einwirken. Gemessen an ihrer Absicht sind sie jedoch nicht ›eugenisch‹. Frauen, die sich heutzutage für eine Abtreibung oder PID entscheiden und die Selektion eines Embryos für die In-VitroFertilisation in Anspruch nehmen, tun das nicht, um das genetische Erbe der Menschheit zu verbessern. Wenn die Eugenik hier erneut auf den Plan tritt,
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dann als nichtintentionale Folge von Entscheidungen, die Eltern individuell treffen.« (Gayon 2004: 456)
Weiterhin stellt sich die Frage der Eugenik nicht mehr auf der Ebene einer öffentlichen Politik, die auf zukünftige Populationen abzielt, sondern im Rahmen privater Vorstöße konkreter Individuen. Die neue ›familieninterne‹ oder ›private‹ Eugenik ist in dem Prinzip der reproduktiven Selbstbestimmung verankert. So hat sich die Ansicht durchgesetzt, dass es sich bei der Reproduktion um eine Privatangelegenheit handelt, in die der Staat sich so wenig wie möglich einzumischen hat. Auf die genetischen Eigenschaften des Nachwuchses abzielende Eingriffe werden mittlerweile auf der Grundlage individueller Entscheidungen getroffen und von der Dynamik zwischen Angebot und Nachfrage geregelt. Diese Dynamik organisiert sich im Rahmen der Kommerzialisierung, die in die Sphäre der Reproduktion einbricht. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Formulierung »liberale Eugenik« unbestreitbar als treffend: »In liberalen Gesellschaften wären es die über Gewinninteressen und Nachfragepräferenzen gesteuerten Märkte, die eugenische Entscheidungen den individuellen Wahlakten von Eltern, überhaupt den anarchischen Wünschen von Kunden und Klienten zuspielen.« (Habermas 2005 (2001): 86).
Mittlerweile besteht die Gefahr nicht mehr nur darin, dass sich ethisch zu verurteilende Praxen entwickeln, sondern auch in sozialen Stratifikationseffekten, die zu einem genetischen Graben führen: »Es ist zu befürchten, dass die PID nicht den Personen zur Verfügung gestellt wird, die sie am dringendsten brauchen, sondern denjenigen, die sie sich leisten können. Schaffen wir gerade eine Gesellschaft, in der nur die Wohlhabenden sich dazu entscheiden können, ihre Nachkommen auf zahlreiche genetische Anomalien testen zu lassen?« (Klipsten 2005: 1352)
Man darf aber auch nicht übersehen, dass diese Entwicklung eine neue Sichtweise des Staates auf die Frage der Eugenik ermöglicht. Und tatsächlich ist es nicht ausgeschlossen, dass ein demokratischer Staat das Feld der Eugenik umsichtig, systematisch und progressiv neu besetzt. Anders gesagt: In Zukunft könnte der Staat, weit entfernt von einer Rolle als lenkende Instanz einer öffentlichen Zwangseugenik, eine schützende Funktion auf dem Feld der privaten Eugenik einnehmen und Grenzen setzen bzw. als soziales Korrektiv fungieren. Francis
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Fukuyama ist einer der wenigen Theoretiker/innen, die diese Möglichkeit in die Debatte eingebracht haben: »Die von den heutigen Bioethikern am häufigsten artikulierte Befürchtung läuft darauf hinaus, dass nur die Reichen Zugang zu dieser Art von Gentechnologie haben werden. Aber wenn eine Biotechnologie der Zukunft beispielsweise eine sichere und wirksame Methode entwickelt, durch genetische Manipulation intelligentere Kinder hervorzubringen, dann wird sich das Interesse sogleich erhöhen. In solch einem Fall ist es durchaus vorstellbar, dass sich ein fortgeschrittener, demokratischer Wohlfahrtsstaat wieder auf eugenische Bemühungen einlassen wird.; diesmal würde er jedoch nicht eingreifen, um Menschen mit einem niedrigen Intelligenzquotienten an der Fortpflanzung zu hindern, sondern er würde genetisch benachteiligten Menschen helfen, ihre Intelligenzquotienten und die ihrer Kinder zu erhöhen. Unter diesen Umständen wäre es der Staat, der dafür sorgen würde, dass das Verfahren preiswert und für alle zugänglich ist.« (Fukuyama 2002: 121)
Der wissenschaftliche Kontext und die Technologie haben sich also grundlegend verändert. Die frühere Eugenik stützte sich auf unzeitgemäße und phantasmatische Repräsentationen von Vererbbarkeit und Krankheit. Vor allem die Entwicklungen in der Genetik und der Molekularbiologie haben dazu beigetragen, diese falschen Gewissheiten zu diskreditieren. Gleichzeitig sind wir durch die Weiterentwicklung effizienter Methoden zur Antizipation, Selektion und Intervention in das Genom mit völlig neuen Dilemmata konfrontiert. Gegenwärtig ist der Druck durch wissenschaftliche und technologische Neuerungen, die von einer ökonomischen Rationalität getragen werden, so hoch, dass man bestimmten Entscheidungen nicht mehr aus dem Weg gehen kann. Insofern klingt der Konditional, wie Habermas ihn verwendet, nach einer falschen Naivität. Die Frage lautet nicht mehr, ob wir auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik sind. Man muss der Tatsache ins Auge sehen, dass wir uns bereits mitten auf diesem Weg befinden. In diesem Punkt möchte ich mich Gayon anschließen, wenn er schlussfolgert: »Angesichts des umfassenden Wissens und der Mittel, die die Genetik den gegenwärtigen Gesellschaften zur Verfügung stellt, ist es gut möglich, dass wir uns heute nicht mehr entscheiden können, außerhalb jeglicher eugenischer Problematik zu bleiben. […] Die modernen Gesellschaften haben ihre genetische Unschuld verloren. Der Stand der Wissenschaft und Technik lässt uns nicht mehr die Freiheit, so zu tun, als wüssten wir nicht Bescheid.« (Gayon 2004: 456)
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Ob man es begrüßt oder ablehnt – die Methoden sind bereits da und vergegenwärtigen sich in den Praxen, sie treffen auf eine gesellschaftliche Nachfrage, schaffen diese Nachfrage und überschreiten Grenzen. Unter dem Strich besteht kein Zweifel daran, dass wir auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik sind. Tatsächlich sind wir schon mittendrin. Aber angesichts der Gefahr, dass sich eine neue Eugenik entwickelt, ist es doch eher beruhigend, dass diese Eugenik »liberal« ist – denn das sorgt dafür, dass die Öffentlichkeit die Möglichkeit hat, Exzesse zu begrenzen, statt sie voranzutreiben.
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Die Nutzung von DNA-Tests in Einwanderungsverfahren Das Beispiel Deutschland
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Vor 25 Jahren machte der britische Genetiker Alec Jeffreys eine Entdeckung, die bald unter dem Titel »genetischer Fingerabdruck« weltweit für Aufregung sorgte.1 Bekannt wurde die Technologie vor allem durch ihren Einsatz durch Strafverfolgungsbehörden zur Verbrechensaufklärung und der Identifizierung von Straftätern. Zunächst standen aber nicht ungeklärte Kriminalfälle, sondern strittige Familienverhältnisse im Mittelpunkt des Interesses. Nachdem Jeffreys 1985 zusammen mit seinem Forschungsteam einen Artikel über die Entdeckung in der Fachzeitschrift Nature veröffentlichte und die Medien ausführlich darüber berichteten, nahmen Rechtsanwälte zu ihm Kontakt auf, die gegen die Abschiebung eines Jungen protestierten. Nach Ansicht des Innenministeriums war er kein Kind einer britischen Staatsbürgerin und besaß daher kein Aufenthaltsrecht. Jeffreys nahm Speichelproben von dem Jungen, seiner mutmaßlichen Mutter und ihren drei Töchtern. Die DNA-Analyse ergab, dass das Kind mit der Mutter und den Geschwistern genetisch verwandt ist. Auf der Grundlage des DNA-Tests erkannte das Innenministerium die Verwandtschaft an, und der Junge konnte in Großbritannien bleiben. Dieser Fall markierte den Ausgangspunkt für die umfassende Anwendung des Verfahrens in Immigrationsfällen: »Over the next decade, DNA fin1 Für wertvolle Kommentare und Kritik danken wir Sonja Buckel, Susanne Schultz und Jörg Niewöhner.
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gerprinting was used to test more than 18.000 immigrants who had been refused entry into the UK. Of these, more than 95 % produced results that showed they were blood relatives of UK citizens and were therefore entitled to British citizenship – thanks to DNA fingerprinting.« (McKie 2009)2 Seit den 1990er Jahren setzen auch andere Staaten die DNAAnalyse in Einwanderungsverfahren zur Regelung des Familiennachzugs ein. Gleichzeitig verschärften viele Länder die Bedingungen für die legale Einwanderung und verfolgten eine zunehmend restriktivere Immigrationspolitik. In diesem veränderten Kontext kommt DNAAnalysen zur Familienzusammenführung eine ambivalente Rolle zu. Sie erlauben einerseits den Nachweis der biologischen Abstammung in (aus Sicht der Ausländerbehörden) »zweifelhaften« Fällen, in denen eine Abschiebung droht bzw. der Familiennachzug verweigert wird, und ermöglichen auf diese Weise erst die Familienzusammenführung; andererseits wirft die Praxis, bei Anträgen auf Familiennachzug genetische Abstammungstests durchzuführen, eine Vielzahl von Problemen auf, die von datenschutzrechtlichen Bedenken bis hin zur Abwertung sozialer Familienmodelle reichen. Obwohl inzwischen das internationale Medieninteresse an dem Thema sehr groß ist (vgl. z.B. Swarns 2007; Kieser 2008; Funk 2009), gibt es nur wenige Forschungsarbeiten und wissenschaftliche Publikationen in dem Feld. Mit der Problematik haben sich bislang vor allem Juristen und Menschenrechtsaktivisten beschäftigt (Taitz et al. 2002; Frenz 2008; Murdoch 2008), sozialwissenschaftliche Analysen finden sich hingegen kaum. Vor diesem Hintergrund geht der folgende Beitrag der Frage nach, wie sich der Einsatz genetischer Abstammungstests in Einwanderungsverfahren auf das gesellschaftliche Verständnis von Familie und Verwandtschaft auswirkt und welche sozialen Probleme er aufwirft. Wir werden zunächst die historische Entstehung und die rechtliche Regulierung der Nutzung von DNA-Tests in Immigrationsverfahren untersuchen. Der Schwerpunkt des Artikels liegt im zweiten Teil auf der Darstellung der Situation in Deutschland, um an einem besonders prägnanten Beispiel die Dimensionen und Folgen des Einsatzes von genetischen Informationen für Einwanderungsverfahren aufzuzeigen. Im dritten Abschnitt wird genauer auf eine Reihe von rechtlichen, sozialen und technischen Problemen dieser Praxis einge2 Zur Geschichte der Entwicklung des »genetischen Fingerabdrucks« vgl. auch Cole 2001.
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gangen. Im vierten Teil verbinden wir die Analyse der Nutzung von DNA-Tests für Entscheidungen zur Familienzusammenführung mit den theoretischen Debatten um Genetifizierung und biologische Bürgerschaft. Am Ende steht ein Fazit, das zentrale Ergebnisse der Analyse zusammenfasst.
D AS R ECHT AUF F AMILIENZUSAMMENFÜHRUNG UND DIE N UTZUNG VON DNA-T ESTS IN E INWANDERUNGSVERFAHREN Der Anspruch auf Familienzusammenführung leitet sich aus dem rechtlich garantierten Schutz der Ehe und der Familie ab, der in Artikel 16 der UN-Charta der Menschenrechte und in einer Vielzahl internationaler und europäischer Rechtsdokumente festgeschrieben ist. Die Formulierung eines expliziten Rechts auf Familiennachzug findet sich etwa in den Empfehlungen des Flüchtlingskommissariats der UNO (UNCHR) und des europäischen Flüchtlingsrates (ECRE) sowie in der UN-Kinderrechtskonvention. Während UNHCR und ECRE eine möglichst liberale staatliche Politik im Umgang mit Flüchtlingen und Migrant_innen fordern und auf die psychischen Folgen der Trennung von Familienangehörigen verweisen (vgl. UNHCR 2007), haben Staaten in der ganzen Welt in den letzten Jahrzehnten die rechtlichen Rahmenbedingungen für einen Familiennachzug verschärft. Die Regelungen in der EU zeigen diesen Entwicklungstrend besonders deutlich. 1999 vereinbarten die Mitgliedstaaten im sogenannten Amsterdamer Vertrag eine Angleichung der nationalen Asyl- und Migrationsregelungen, die langfristig zu einer einheitlichen Rechtslage innerhalb der EU führen soll. Für EU-Bürger_innen gilt das Recht über die allgemeine Freizügigkeit (Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, Art. 18 EG), das Aufenthalte und Arbeitserlaubnisse in anderen EU-Staaten sowie den Familiennachzug regelt und EU-Bürger_innen eine weitgehende Gleichbehandlung im Vergleich zu »Inländer_innen« garantiert. Demgegenüber sind für Migrant_innen aus Drittstaaten die Möglichkeiten des Familiennachzugs eingeschränkt worden. In der EU-Richtlinie 2003/86/EG zur Familienzusammenführung vom 22.09.2003 wurden zentrale Eckpunkte für den Familiennachzug aus Drittstaaten festgelegt, die zu einer Harmonisie-
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rung der Rechtsvorschriften der Mitgliedsstaaten beitragen sollten.3 Ein zentraler Punkt europäischer Migrationspolitik ist die Begrenzung des Anspruchs auf Familiennachzug auf die Kernfamilie, d.h. auf den Ehepartner, die Ehepartnerin und gemeinsame minderjährige Kinder. Weitere Familienangehörige können nur unter besonderen Bedingungen ein Aufenthaltsrecht erhalten, beispielsweise wenn nachgewiesen wird, dass die Eltern pflegebedürftig sind und ihre Pflege im Herkunftsland nicht von weiteren Angehörigen übernommen werden kann. Ob unter der Kernfamilie auch gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gefasst werden, wird den Regelungen der einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen (Franz 2006). Voraussetzung für den Familiennachzug ist in den Staaten innerhalb der EU (aber auch in vielen außereuropäischen Staaten) der Nachweis einer leiblichen Verwandtschaft durch die Vorlage von amtlichen Dokumenten (Geburts- und Heiratszeugnisse, Pässe etc.). Aus vielfältigen Gründen ist es jedoch oft schwierig, manchmal unmöglich, die amtlichen Papiere vorzulegen. So gibt es Staaten, in denen es kein nach westlichen Maßstäben funktionierendes Pass- oder Meldewesen gibt; möglich ist auch, dass Identitätspapiere aufgrund von politisch instabilen Situationen verloren gehen, Dokumente beschädigt werden, Antragsteller_innen überstürzt fliehen müssen (etwa aufgrund politischer oder religiöser Verfolgung) oder ihnen die Papiere im Herkunftsland verweigert werden. Falls die Aufnahmeländer die vorliegenden Informationen als unzureichend und unbefriedigend einschätzen, greifen viele unter ihnen auf DNA-Tests zurück, um zu überprüfen, ob zwischen Antragsteller_innen und deren Kindern eine leibliche Verwandtschaft besteht (Taitz et al. 2002). Neben den USA, Kanada, Australien und Neuseeland nutzen heute dreizehn europäische Staaten DNA-Tests für Entscheidungen in Einwanderungsverfahren: Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien, Dänemark, Finnland, Italien, Litauen, Norwegen, die Niederlande, die Schweiz und Schweden. Im nächsten Teil wollen wir genauer auf die Nutzung von DNA-Analysen für Einwanderungsverfahren in Deutsch-
3 Die Europäische Kommission bemängelt den bisher erreichten Stand der Harmonisierung der einzelstaatlichen Vorschriften zum Familiennachzug und schlägt eine Überarbeitung der Richtlinie vor. Sie sieht das Ziel eines einheitlichen und transparenten Rechtsraumes in Bezug auf Migrationsregelungen bislang als noch nicht erfüllt an (vgl. Kommission der Europäischen Gemeinschaft 2009).
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land eingehen. An diesem Länderbeispiel lassen sich nicht nur einige zentrale Probleme dieser institutionellen Praxis illustrieren und exemplarisch nachvollziehen, Deutschland verfügt auch über eine der restriktivsten Regelungen im Bereich des Familiennachzugs in Europa und radikalisiert Tendenzen, die in anderen EU-Staaten weniger deutlich ausgeprägt bzw. in liberalerer Form existieren (vgl. Kofman 2009).
D IE S ITUATION IN D EUTSCHLAND Seit dem 1. Januar 2005 ist in Deutschland das »Zuwanderungsgesetz« in Kraft, das verschiedene Formen der Migration wie Arbeitsmigration, das Recht auf Asyl und die Voraussetzungen für ein Aufenthaltsrecht und für Familienzusammenführungen zusammenfasst und neu regelt. 4 Im »Zuwanderungsgesetz« ist die EU-Richtlinie zur Familienzusammenführung bereits weitgehend umgesetzt.5 Es legt Änderungen des deutschen Aufenthaltsgesetzes fest, das in den Abschnitten zum »Aufenthalt aus familiären Gründen« (§ 27 bis § 36) den Anspruch auf Familiennachzug auf die (eheliche) Kernfamilie begrenzt. Ein Aufenthaltsrecht kann entfernten Verwandten, bereits erwachsenen Kindern oder unverheirateten Partner_innen nur dann zugesprochen werden, wenn dies zur Vermeidung außergewöhnlicher Härten erforderlich ist (Kreienbrink/Rühl 2007).6 Anträge auf Familienzusammenführung sollten bereits vorab im Heimatland bei einer deutschen Auslandsvertretung eingereicht und 4 Neben Bestimmungen zu Migrationsvoraussetzungen enthalten die Änderungen des Zuwanderungsgesetzes auch Integrationsanforderungen. So haben neu zugewanderte Ausländer_innen aus Drittstaaten einen Rechtsanspruch auf einen Integrationskurs, sind aber zugleich verpflichtet, diesen bei einer dauerhaften Aufenthaltsgenehmigung auch zu besuchen, soweit sie nicht bereits Sprachkenntnisse nachweisen können (vgl. Oberndörfer 2006). 5 Da die rechtliche Ausgestaltung auf der nationalen und der europäischen Ebene zeitlich parallel stattfand, konnte die »Richtlinie« im »Zuwanderungsgesetz« bereits berücksichtigt werden. Bei den Verhandlungen über die europäische Richtlinie hat die deutsche Delegation eine Reihe von Änderungen durchgesetzt, die zumeist auf eine restriktive Fassung der Familie als Kernfamilie und die Begrenzung der Nachzugsberechtigten zielten (vgl. Walter 2009: 237). 6 Nach den Angaben des Auswärtigen Amtes sank die Zahl der Visa-Anträge zur Familienzusammenführung von insgesamt 85.305 Anträgen im Jahr 2002 auf 50.300 für das Jahr 2006 (Kreienbrink/Rühl 2007: 42).
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von dieser an die zuständige Ausländerbehörde in Deutschland weitergeleitet werden. Die Antragstellenden müssen nachweisen, dass es sich bei ihnen um Mitglieder der Kernfamilie handelt; ohne diesen Nachweis und/oder bei dem Verdacht, dass die familiäre Bindung nicht besteht, wird der Antrag abgelehnt. Als Nachweise gelten in der Regel die Geburts- und Heiratsurkunden der Antragsteller_innen. Allerdings werden amtliche Dokumente aus mehr als 40 Staaten durch die deutschen Auslandsvertretungen momentan nicht anerkannt, da sie Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Urkunden haben oder ein funktionierendes staatliches Meldewesen in den betreffenden Ländern nicht existiert. (vgl. Auswärtiges Amt 2009). Migrant_innen aus diesen Ländern haben daher große Schwierigkeiten, ihre Familienverhältnisse nachzuweisen. In solchen Fällen scheinen Ausländerbehörden und Auslandsvertretungen Antragsteller_innen häufig zu empfehlen, Abstammungsgutachten zur Familienzusammenführung in Auftrag zu geben. Erste Hinweise auf die Durchführung solcher Gutachten im Rahmen von Einwanderungsverfahren finden sich bereits in einer Kleinen Anfrage der Partei Die Grünen aus dem Jahr 1998.7 In weiteren Kleinen Anfragen der Parteien FDP (Bundestag 2007) und Die Linke (Bundestag 2008) und einer Vielzahl von Medienberichten wird deutlich, dass DNA-Tests bei Entscheidungen über Familienzusammenführungen keine Einzelfälle darstellen und seit mehr als zehn Jahren für Anträge auf Familiennachzug eingesetzt werden. Nach Informationen der Tageszeitung taz sind DNA-Analysen für Antragsteller_innen aus Afghanistan bereits eine notwendige Voraussetzung für ein Visum geworden. Die taz zitiert aus einer ihr vorliegenden internen Anweisung des Auswärtigen Amtes für Afghanistan: »Es wird nunmehr in Visaund Passangelegenheiten grundsätzlich die Durchführung eines DNAGutachtens eingeleitet, um die Abstammung eines Kindes zu klären.« (Schmidt 2007).
7 In der Anfrage wird die damalige Bundesregierung aufgefordert, Auskunft über die Durchführung von DNA-Analysen bei irakischen Flüchtlingen zu geben, die den Nachzug ihrer Familienangehörigen beantragt hatten. Die Bundesregierung schreibt in ihrer Antwort, dass sich im November 1997 »etwa 60 bis 90 Familien aus dem Nordirak freiwillig für den Test entschieden« (Bundestag 1998: 2).
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Dass sich in den vergangenen Jahren institutionelle Routinen und informelle Verfahrenswege bei Ausländerbehörden und Auslandsvertretungen herausgebildet haben, die den Einsatz von genetischen Informationen im Rahmen von Einwanderungsverfahren begünstigen, räumt auch die Bundesregierung ein. Diese erklärte in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage im Jahr 2007, dass Antragsteller_innen von den zuständigen Behörden »hinsichtlich der Modalitäten – selbstständige Beauftragung eines Untersuchungslabors […] – eingehend beraten« werden (Bundestag 2007: 4). Damit ein Gutachten anerkannt wird, muss es den »Richtlinien für die Erstattung von Abstammungsgutachten« genügen, die die Bundesärztekammer festgelegt hat. Rechtsmedizinische Institute und humangenetische Labore, die Abstammungsgutachten durchführen, haben sich auf Migrant_innen als Kund_innen eingestellt und werben öffentlich für DNA-Tests als Grundlage für die Familienzusammenführung.8 Im Folgenden wollen wir drei zentrale Aspekte des Einsatzes von DNA-Analysen zur Familienzusammenführung in Deutschland genauer untersuchen: Zunächst den Konflikt zwischen dem Prinzip der informationellen Selbstbestimmung und der faktischen Fremdkontrolle der genetischen Daten; zweitens das Spannungsverhältnis zwischen der immer wieder herausgestellten Freiwilligkeit der Tests und dem institutionellen Zwang, sich dem Nachweisverfahren zu unterziehen, da sonst mit einem negativen Ausgang des Verfahrens zu rechnen ist; drittens schließlich die Existenz eines doppelten Standards rechtlich anerkannter Familienmodelle für »Inländer_innen« und »Ausländer_innen«.
8 So findet sich beispielsweise auf der Homepage des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Köln folgender Hinweis: »Wollen Sie für Ihr Kind ein Visum zur Einreise nach Deutschland beantragen? Benötigen Sie anerkannte Dokumente für den Nachweis der Elternschaft zu Ihrem Kind? Sind Sie vom Ausländeramt aufgefordert worden, ein Gutachten über die Abstammung Ihres Kindes vorzulegen? Dann können wir Ihnen helfen!« (Uniklinik Köln, Institut für Rechtsmedizin) Auf der Website werden die einzelnen Verfahrensschritte vorgestellt und die anfallenden Kosten erläutert. Vgl.www.medizin.unikoeln.de/institute/rechtsmedizin/Flyer_Imm_deutsch.pdf (abgerufen am 1.09.2009).
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I NFORMATIONELLE S ELBSTBESTIMMUNG VS . F REMDKONTROLLE GENETISCHER D ATEN Die öffentliche Debatte um DNA-Analysen bei Migrant_innen nahm in Deutschland ihren Anfang mit dem Vorhaben des französischen Präsidenten Nicolas Sarcozy zur Verschärfung des Einwanderungsgesetzes im Jahr 2007. Deutsche Zeitungen und Zeitschriften berichteten ausführlich und überwiegend sehr kritisch über die Pläne der französischen Regierung, DNA-Tests zum Nachweis der Verwandtschaftsverhältnisse durchzuführen.9 Im Verlauf der Auseinandersetzung zeigte sich – für viele überraschend –, dass in Deutschland bereits seit langem DNA-Analysen im Rahmen von Einwanderungsverfahren eingesetzt werden. Dass diese Praxis von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt blieb, liegt sicher auch daran, dass lange keine rechtliche Grundlage für die Durchführung von DNA-Tests im Kontext von Familienzusammenführungen existierte. Eine erste rechtliche Regulierung der Verwendung von DNAAnalysen für Einwanderungsverfahren findet sich im Gendiagnostikgesetz (GenDG), das zum 1. Februar 2010 in Kraft trat. Das Gendiagnostikgesetz regelt genetische Untersuchungen am Menschen und den Umgang mit genetischen Informationen. Es bezieht sich auf die Nutzung genetischer Daten in der medizinischen Versorgung, bei Abstammungsuntersuchungen sowie im Arbeitsleben und beim Abschluss von Versicherungsverträgen und legt fest, ob und unter welchen Bedingungen genetische Tests in diesen Bereichen zulässig sind. In diesem Gesetz wird das Recht auf informationelle Selbstbestimmung auch für den Umgang mit genetischen Daten festgeschrieben und somit das Recht jedes Einzelnen gestärkt, über persönliche genetische Informationen selbst entscheiden zu können.10 Das Gesetz garantiert 9 Die Presseüberschriften lauteten etwa »Frankreich entdeckt EinwandererGen« (Hahn 2007) oder »Biologie statt Recht« (Schmidt 2007). 10 Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung ist vom Bundesverfassungsgericht 1983 im »Volkszählungsurteil« als ein Grundrecht definiert worden. Damals befasste sich das Gericht mit Verfassungsklagen, die gegen die Einschränkung der Privatsphäre im Volkszählungsgesetz protestierten und eine Erfassung privater Daten im Rahmen einer geplanten Volkszählung zu verhindern versuchten. Das Gesetz zur Durchführung der Volkszählung wurde vom Verfassungsgericht in Teilen als verfassungswidrig erklärt, da es gegen den grundrechtlich abgesicherten Schutz der Persönlichkeitsrechte verstoße. In seiner Urteilsbegründung führt das Bundesverfassungsgericht aus: »Das
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ein Recht auf Nichtwissen und legt fest, dass bereits erfasste Daten auf Wunsch vernichtet werden müssen und ohne Einwilligung nicht weitergegeben werden dürfen. Durch die Regelungen sollen die Persönlichkeitsrechte der Untersuchungsperson geschützt und Diskriminierungen aufgrund genetischer Informationen verhindert werden. Im dritten Abschnitt des Gendiagnostikgesetzes wird in § 17, Abs. 8 ausgeführt, wie mit den genetischen Daten aus den Anträgen zur Familienzusammenführung umgegangen werden soll. Bezeichnenderweise werden in diesem Abschnitt ausschließlich Ausnahmen definiert, auf die die Bestimmungen zum Schutz genetischer Informationen nicht angewendet werden müssen. Im Rahmen von DNA-Tests zur Familienzusammenführung ist keine genetische Beratung vorgesehen, die über mögliche Konsequenzen der Analyse aufklärt, so dass eine informierte Zustimmung nicht gewährleistet ist. Des Weiteren können Migrant_innen weder über die weitere Nutzung ihrer Daten bestimmen, noch wird ihnen garantiert, dass sie ihre Daten wieder vernichten lassen können. So ist etwa die Weitergabe genetischer Daten möglich, wenn der Verdacht einer Straftat besteht – selbst dann, wenn ein Widerruf zur Nutzung der Daten vorliegt (vgl. GenDG; §17, Abs. 8). Die Regelungen zur Nutzung genetischer Daten im Kontext des Familiennachzugs stehen daher dem übrigen Gesetzestext entgegen, da hier das Recht der informationellen Selbstbestimmung nicht etwa geschützt und erweitert, sondern im Gegenteil substanziell eingeschränkt wird. In der Diskussion um das Gesetz meldeten sich auch Pro Asyl, eine bundesweite Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge, der Deutsche Anwaltsverein und das Gen-ethische Netzwerk (GeN), eine gentechnologiekritische Organisation, zu Wort. Als bekannt wurde, dass deutsche Behörden DNA-Tests in Einwanderungsverfahren einsetzen, hat das Gen-ethische Netzwerk im Dezember 2008 die Kampagne »Finger weg von meiner DNA! – Touche pas à mon ADN!« initiiert und ihre Arbeit mit den Protesten in Frankreich gegen eine Verschärfung der Ausländergesetzgebung verknüpft. Pro Asyl und der Deutsche Anwaltsverein haben sich der Kampagne angeschlossen. Gegenstand der Kritik waren insbesondere die Passagen zur Durchführung von DNAGrundrecht gewährleistet insoweit die Befugnis des Einzelnen, grundsätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung seiner persönlichen Daten zu bestimmen. Einschränkungen dieses Rechts auf ›informationelle Selbstbestimmung‹ sind nur im überwiegenden Allgemeininteresse zulässig.« (BVerfGE 65, 1 – Volkszählung)
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Analysen zur Familienzusammenführung im Gendiagnostikgesetz. Die Vereine haben als Sachverständige bei der öffentlichen Anhörung zum Gesetzesentwurf auf die rechtliche Ungleichbehandlung von Migrant_innen hingewiesen. Sie argumentierten, dass diese von dem grundlegenden Recht der informationellen Selbstbestimmung ausgeschlossen werden, da ihnen bspw. nicht das Recht auf Nichtwissen und die Vernichtung der Probe zustünde (vgl. Pro Asyl 2009). Die Ausnahmeregelung im Gendiagnostikgesetz sei aus »bürger- und menschenrechtlicher Sicht nicht hinnehmbar, da sie die betroffene Personengruppe im Rahmen von Visa- und Passverfahren stigmatisiert.« (Gen-ethisches Netzwerk 2009). Sie fordern, dass das Recht der informationellen Selbstbestimmung gerade für den Bereich der genetischen Gutachten zur Familienzusammenführung gelten müsse, da sich als Folge der rechtlichen Regelung DNA-Tests zum Standardverfahren der Migrationskontrolle entwickeln könnten (vgl. Schultz 2009). Das Gendiagnostikgesetz schließt zwar die rechtliche Lücke bei der Durchführung von DNA-Tests zur Familienzusammenführung; es etabliert jedoch auch ein Rechtsgefälle zwischen Bundesbürger_innen einerseits und Migrant_innen andererseits. Während die Selbstbestimmungsrechte und das Recht auf Nicht-Wissen für »Inländer_innen« gestärkt werden, gelten entscheidende Rechtsgarantien über die Verwendung genetischer Daten für Migrant_innen gerade nicht. Vielmehr geben Migrant_innen mit der Abgabe einer genetischen Probe im Antragsverfahren der Familienzusammenführung die Kontrolle über die weitere Verfügung ihrer Daten auf und werden im Gendiagnostikgesetz prinzipiell vom Recht auf informationelle Selbstbestimmung ausgeschlossen.
P RINZIP DER F REIWILLIGKEIT VS . FAKTISCHER Z WANG Im Zuge der Diskussion um das französische Einwanderungsgesetz sind im Deutschen Bundestag von den Fraktionen der FDP und der Linken Anfragen zu den Praktiken der Familienzusammenführung in Deutschland gestellt worden, die sich unter anderem auf die Freiwilligkeit der Durchführung des Tests bezogen (vgl. Bundestag 2007; Bundestag 2008). In beiden Antworten betont die Bundesregierung, dass Antragsteller_innen nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 82) verpflichtet sind, an
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dem Verfahren mitzuwirken und geeignete Nachweise vorzulegen. Dies bedeute aber explizit nicht, dass die Auslandsvertretungen oder beteiligten Ausländerbehörden von den Antragsteller_innen ein genetisches Abstammungsgutachten verlangten; die Antragsteller_innen würden vielmehr auf die Möglichkeit der DNA-Analyse hingewiesen, falls diese eine kostengünstigere und schnellere Lösung als die Überprüfung der Dokumente verspreche (Bundestag 2007: 2). Während die Bundesregierung die DNA-Tests als zusätzliche Option darstellt, die den Antragsteller_innen angeboten und von diesen aufgrund vielfältiger Vorteile bereitwillig aufgegriffen werde, legen Medienberichte eine andere Einschätzung nahe. In der Presse finden sich mehrere Fälle, in denen Familien von Auslandsvertretungen und Ausländerbehörden massiv unter Druck gesetzt wurden, ein genetisches Gutachten vorzulegen. Es kann also nicht ausgeschlossen werden, dass die Durchführung eines DNA-Tests faktisch zur Voraussetzung für einen erfolgreichen Familiennachzug wird. So wird in der Frankfurter Rundschau der Fall einer birmesischen Familie vorgestellt, die sich um eine Familienzusammenführung bemühte. Die Einreise der Ehefrau und der zwei Töchter zu ihrem seit sechs Jahren in Deutschland lebenden Ehemann bzw. Vater wurde erst möglich, nachdem die Familie ihre Zustimmung zu einem genetischen Gutachten gegeben hatte. Da Identifikationspapiere aus Birma von der Auslandsvertretung vor Ort nicht anerkannt und Überweisungsbelege sowie Fotografien nicht als ausreichender Beleg eines familiären Zusammenhangs akzeptiert werden, blieb der DNA-Test als letzte Möglichkeit (Funk 2009).11 Aber nicht nur bei Anträgen aus Ländern, deren Urkundenwesen angezweifelt wird, werden genetische Gutachten verlangt. So berichtet die Tagesschau von dem Fall eines in Deutschland lebenden Türken, der seine Ehefrau und seine zwei Kinder nachholen wollte. Die Deutsche Botschaft in Ankara lehnte die Visumsanträge der Kinder trotz
11 Dass diese Praxis möglicherweise rechtswidrig ist, zeigt eine Entscheidung des Berliner Verwaltungsgerichtes. Das Gericht hatte in einem Urteil vom 30. Oktober 2007 zugunsten einer birmesischen Familie entschieden, die trotz der Vorlage aller notwendigen Unterlagen von der Ausländerbehörde aufgefordert wurde, Abstammungsgutachten durchführen zu lassen. Die Behörde dürfte »nicht auf DNA-Tests bestehen, wenn bereits durch Geburts- und Heiratsurkunden, Reisepässe und Fotos das Verwandtschaftsverhältnis nachgewiesen sei.« (Pro Asyl 2009: 6, vgl. auch Schmidt 2007)
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der Vorlage gültiger Geburtsurkunden ab.12 Auf Nachfrage wurde dem Anwalt der Familie durch die Botschaft mitgeteilt, dass ohne ein »DNA-Gutachten […] eine erneute Visumsbeantragung keinen Sinn« (Rocker 2007) habe. Ergänzt wurde diese Aussage um ein standardisiertes Informationsblatt zur Durchführung genetischer Abstammungsgutachten inklusive der Empfehlung eines rechtsmedizinischen Instituts, das diese erstellt. Ähnlich erging es auch einem äthiopischen Flüchtling. Seine Ehefrau und die beiden Kinder hatten einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, um bei ihrem Ehemann bzw. Vater in Deutschland leben zu können. Die zuständige Ausländerbehörde sah jedoch die eingereichten Papiere nicht als ausreichenden Beleg der Vaterschaft an und verlangte einen DNA-Test als Nachweis, obwohl die deutsche Botschaft in Äthiopien von der Existenz eines Verwandtschaftsverhältnisses überzeugt war (vgl. Gaserow 2007). Pro Asyl, der Deutsche Anwaltsverein und das Gen-ethische Netzwerk (GeN) machten weitere Fälle bekannt, in denen genetische Abstammungsgutachten von Ausländerbehörden eingefordert wurden: »Im Falle einer Familie aus Kempen haben die Behörden bezweifelt, dass der Ehemann (mit türkischer Staatsangehörigkeit) einer deutschen Frau der biologische Vater des Kindes sei, obwohl die beiden seit 2005 verheiratet waren und gem. § 1592 Nr. 1 BGB die Elternschaft schon von Gesetzes wegen bestand. Die Eltern stimmten der geforderten Gen-Diagnostik nicht zu. Die Staatsanwaltschaft Krefeld beantragte daraufhin kurzerhand, dass ein Rechtspfleger für das Kind bestellt wird, der der Blutentnahme zur Durchführung der DNA-Analyse und Feststellung der Vaterschaft zustimmen sollte. Das Amtsgericht Kempen stimmte diesem Antrag zu (Beschluss vom 13.9.2007, 29 VII 3076). Erst im Beschwerdeverfahren konnte dem Ansinnen der zwangsweisen DNA-Analyse an einem Kind Einhalt geboten werden.« (Pro Asyl 2009: 5) Auslöser für dieses Verfahren war der Antrag des Mannes, seine befristete Aufenthaltserlaubnis zu verlängern, die ihm zur Geburt des Kindes ausgestellt wurde. Die Weigerung der Eltern, 12 Die Verweigerung der Familienzusammenführung trotz gültiger Nachweise durch die Deutsche Botschaft in der Türkei ist von besonderer Bedeutung: Der Großteil der erteilten Visa zum Nachzug von Ehegatten oder zur Familienzusammenführung nach Deutschland wird in der Türkei ausgestellt. Zwar sank die Zahl der erteilten Visa von 25.068 im Jahr 2002 kontinuierlich bis auf 11.980 Visa im Jahr 2006 ab. Über den gesamten Zeitraum blieb die Türkei jedoch das Hauptherkunftsland beim Familiennachzug (vgl. Kreienbrink/Rühl 2007).
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ein genetisches Gutachten durchführen zu lassen, wurde von der zuständigen Behörde als Indiz für eine Scheinehe angesehen (vgl. Kieser 2007). Bemerkenswert an diesem Fall ist nicht nur das rigorose Vorgehen des Amtes, sondern auch die zum Ausdruck gebrachte prinzipielle Infragestellung der Vaterschaft, obwohl das Kind in der Ehe geboren und somit die Vaterschaft gesetzlich anerkannt war.13 Die angeführten Beispiele machen deutlich, dass von Freiwilligkeit im Rahmen der Antragsverfahren nicht die Rede sein kann; die Betroffenen unterliegen vielmehr einem faktischen Zwang zur DNAAnalyse. Der DNA-Test ist die erfolgversprechendste und häufig auch einzige Möglichkeit, um eine Bewilligung des Antrags herbeizuführen; mit der Entscheidung gegen einen DNA-Test gefährden Migrant_innen einen positiven Ausgang ihres Verfahrens und setzen sich darüber hinaus dem Verdacht des Betrugs aus. Die gesetzlich verankerte Mitwirkungspflicht der Antragsteller_innen führt dazu, dass eine Verweigerung des genetischen Gutachtens als Eingeständnis eines fehlenden Verwandtschaftsverhältnisses oder sogar als Täuschungsabsicht bewertet wird. Um das Verfahren der Familienzusammenführung nicht zu gefährden und Angehörige nachholen zu können, lassen Familien selbst dann eine DNA-Analyse durchführen, wenn sie Bedenken gegenüber dem Testverfahren haben. Auch der Zeitfaktor spielt hier eine entscheidende Rolle: Um die Trennung der Familie möglichst kurz zu halten und keine längeren Verzögerungen durch die Prüfung von Dokumenten oder gar ein Gerichtsverfahrens zu riskieren, entscheiden sich Familien oft für die DNA-Analyse. Ein weiteres Problem stellt die fehlende Kostenübernahme durch den deutschen Staat dar. Die Antragsteller_innen müssen die Kosten für ein genetisches Gutachten von bis zu 500 Euro pro Test selbst tragen. Gerade Migrant_innen aus Ländern, in denen das Lohnniveau deutlich niedriger ist als in Deutschland, dürften Schwierigkeiten haben, diese Summe aufzubringen. Wenn jedoch genetische Gutachten in der institutionellen Praxis zunehmend zur Voraussetzung einer
13 Das Beispiel verweist auf eine wichtige gesetzliche Neuerung: Zum 1. Juni 2008 ist das »Vaterschaftsanfechtungsergänzungsgesetz« in Kraft getreten, das eine missbräuchliche Anerkennung der Vaterschaft verhindern soll. Nach dem Gesetz können Behörden die Vaterschaft anfechten, wenn sie vermuten, dass diese nicht aufgrund eines biologischen oder sozialen Verhältnisses anerkannt wurde, sondern um eine Aufenthaltsgenehmigung für einen der Elternteile und das Kind zu erhalten. (vgl. Fehrenbacher 2009)
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Familienzusammenführung werden, bleiben Familien, die die Erstellung eines genetischen Gutachtens nicht bezahlen können, faktisch vom Verfahren ausgeschlossen.
S OZIALER VS .
BIOLOGISCHER
F AMILIENBEGRIFF
Die Reduktion auf die Kernfamilie und biologische Verwandtschaft im Migrationskontext verläuft konträr zu dem gesellschaftlichen Verständnis und der rechtlichen Definition der Familie in Deutschland. Mit der Kindschaftsrechtsreform und den Änderungen der Vorschriften zur Anfechtung der Vaterschaft, sind in dem letzten Jahrzehnt neue rechtliche Regelungen in das Bundesgesetzbuch aufgenommen worden, die durchgängig soziale Aspekte der Elternschaft bzw. Vaterschaft stärken. In dieser Perspektive wird Vaterschaft nicht biologisch definiert, sondern, wie es in einem Urteil des Bundesgerichtshofs heißt, als »sozial-familiäre Beziehung […], wenn der rechtliche Vater für das Kind tatsächliche Verantwortung trägt« (Bundesgerichtshof 2008). Liegt in diesem Sinne eine Vaterschaft vor, kann sie auch vom biologischen Vater nicht angefochten werden, um die funktionierende Beziehung zwischen dem rechtlichen Vater und dem Kind nicht zu gefährden. Des Weiteren kann eine zunehmende Angleichung von nichtehelichen und ehelichen Partnerschaften beobachtet werden. Mit der Anerkennung gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften und der Erleichterung für eingetragene Partnerschaften, »Stiefkinder« adoptieren zu können, sind rechtliche Instrumente für alternative Modelle der Familie entstanden, die Elternschaft als soziale Beziehung begreifen. So teilte das Bundesverfassungsgericht im August 2009 in einer Presseerklärung mit, »dass nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die leibliche Elternschaft gegenüber der rechtlichen und sozial-familiären Elternschaft keine Vorrangstellung einnimmt.« (Bundesverfassungsgericht 2009; vgl. auch Fehrenbacher 2009) 14 14 Dies soll nicht darüber hinwegtäuschen, dass die als heterosexuelle Beziehung definierte Form der Ehe immer noch rechtlich bevorzugt wird. Beispiele hierfür sind die Möglichkeit des Steuersplittings, die verheirateten Paaren große Steuervorteile einräumt, und die Regelung zur anteiligen Kostenübernahme bei einer künstlichen Befruchtung, die nur für verheiratete Paare vorge-
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Im Migrationsrecht und in der Einwanderungspraxis lässt sich hingegen ein gegenläufiger Trend beobachten. Mit der Begrenzung des Anspruchs auf Familiennachzug auf die Kernfamilie und der Nutzung von genetischen Abstammungsgutachten wird Familie als eine biologische Einheit definiert. Als Konsequenz wird es Migrant_innen erschwert, alternative Vorstellungen von Familie in Deutschland leben zu können. Die geforderte Reduktion auf die Kernfamilie schließt den Nachzug größerer Familienverbände aus, was zur Trennung von wichtigen Bezugspersonen wie den Eltern oder im Haushalt lebenden Verwandten führen kann. Auch Pflege- und Adoptivkinder fallen aus einem biologischen Familienbegriff heraus. Zwar sollen Adoptivkinder mit dem Nachweis der Adoptionsurkunde biologischen Kindern gleichgestellt werden; in der Rechtspraxis dürfte dies jedoch zu Problemen führen, falls das Melde- und Passwesen eines Landes nicht anerkannt wird. Nur positive Ergebnisse aus Nachforschungen eines Vertrauensanwalts der Auslandsvertretung vor Ort könnten dann einen Familiennachzug ermöglichen (vgl. Bundestag 2008). Problematisch ist auch die Regelung, nicht nur die genetische Übereinstimmung zwischen Mutter und Kind zu überprüfen, sondern von allen Mitgliedern einer Familie ein genetisches Gutachten zu fordern. So berichtet der Deutsche Anwaltsverein von dem Fall einer afghanischen Familie, in dem der Vater erst im Visumsverfahren erfuhr, dass »eines der Kinder, welches während der Ehe geboren war, nicht vom Ehemann war« (Deutscher Anwaltsverein 2009). Eine solche »Entdeckung« ist regelmäßig eine schwere Belastung für die Betroffenen und die familiären Beziehungen.
sehen ist. Während unverheiratete Paare ihre Kosten selber tragen müssen, trägt die Krankenkasse bei Ehepaaren 50 % der Kosten. Diese Regelung stellt laut einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts keinen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz dar, denn, »die ehelichen Bindungen bieten einem Kind grundsätzlich mehr rechtliche Sicherheit, von beiden Elternteilen betreut zu werden.« (Bundesverfassungsgericht 2007b) Doch selbst die Institution Ehe unterliegt einem Wandel. So entschied dasselbe Gericht im Jahr 2008, dass von Transsexuellen nicht der Nachweis verlangt werden dürfe, ledig, bzw. nicht verheiratet zu sein, um eine rechtlich Anerkennung des neuen Geschlechts zu erhalten. Denn dies könne dazu führen, dass für die Anerkennung eine Ehe geschieden werden müsse, auch wenn die Beziehung intakt sei. Damit ist es möglich, dass zwei gleichgeschlechtliche Personen eine Ehe (weiter-)führen können, wenn diese bereits vor den geschlechtsumwandelnden Operationen eingegangen wurde (vgl. Bundesverfassungsgericht 2008).
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Da nach Auskunft des Auswärtigen Amtes der Großteil der Anträge zur Familienzusammenführung von Frauen und Kinder gestellt werden (vgl. Kreienbrink/Rühl 2007: 42), muss sich in der Regel die Ehefrau entscheiden, ob sie im Herkunftsland bei den Kindern und Familienmitgliedern bleibt, die durch die deutsche Rechtslage nicht als Teil der »Familie« definiert werden (etwa ihre volljährigen Kindern), oder ob sie mit der Kernfamilie zu ihrem Mann nachzieht. Die Reduktion auf einen biologischen Familienbegriff, die die sozialen Aspekte des Familienlebens konsequent ausklammert, produziert neue Zwänge für Migrant_innen. Der Ausschluss von Personen, die für Migrant_innen zur Familie zählen, aber qua Gesetz nicht als solche definiert werden, belastet insbesondere Flüchtlinge, die keine Möglichkeit haben, über Besuche in ihr Heimatland den Kontakt aufrecht zu halten (UNHCR 2007:13). Damit zeichnet sich auch in Bezug auf die Familiendefinition eine rechtliche Ungleichbehandlung von »Inländer_innen« und Migrant_innen ab. Letztere müssen einer traditionellen Vorstellung der heterosexuellen Kleinfamilie genügen, um rechtlich als Familie anerkannt zu werden, während eben jenes Modell im deutschen Familienrecht zunehmend aufgelöst bzw. durch die Betonung sozialer Aspekte der Eltern- und Partnerschaft erweitert wird.
R ECHTLICHE ,
SOZIALE
UND TECHNISCHE
P ROBLEME
Von Politiker_innen und den Vertretern von Ausländerbehörden in vielen Ländern wird eine Reihe von Argumenten zugunsten des Einsatzes von DNA-Tests im Rahmen von Einwanderungsverfahren vorgebracht. Diese stellen Zuverlässigkeit, Schnelligkeit und Aussagekraft der Genanalyse heraus, die als äußerst wirksames Mittel zur Bekämpfung illegaler Einwanderung und des Kinderhandels angesehen wird (vgl. Murdoch 2008: 1527f.). Ein weiteres zentrales Argument für den Einsatz der DNA-Test ist, dass es Flüchtlingen auf diese Weise der Nachweis einer leiblichen Verwandtschaft ermöglicht wird, ohne dass dafür amtliche Dokumente erforderlich sind. Wie die Praxis in Deutschland zeigt, wirft der Einsatz von DNA-Tests im Kontext der Einwanderung jedoch auch zahlreiche rechtliche, soziale und technische Fragen auf, die im Folgenden
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zusammenfassend dargestellt werden sollen. Da DNA-Tests zur Familienzusammenführung inzwischen in vielen Einwanderungsländern auf der ganzen Welt eingesetzt werden, stellen sich diese Fragen keineswegs nur in Deutschland, sondern führen in vielen Staaten zu ähnlichen oder vergleichbaren Problemstellungen und Normenkollisionen. In rechtlicher Hinsicht muss sichergestellt werden, dass das Recht der Antragsteller_innen auf den Schutz der Privatsphäre und der Familie respektiert wird (Frenz 2008). Im Regelfall widerspricht der Einsatz von DNA-Tests in Einwanderungsverfahren den Prinzipien von informierter Zustimmung und dem Recht auf Nicht-Wissen. Da bei einer Familienzusammenführung meist die Kinder getestet werden, die nicht in der Lage sind, informiert zuzustimmen, stellt sich dieses Problem in besonderer Schärfe. Grundlage des gesellschaftlichen Umgangs mit genetischen Informationen ist das Recht des Individuums zu entscheiden, welche Informationen über ihn/sie anderen zugänglich gemacht werden sollen und unter welchen Umständen dies geschehen soll. Dies setzt voraus, dass genetische Tests unbedingt freiwillig sind, was bei Einwanderungsverfahren gerade nicht der Fall ist, da die Person, die sich gegen die Durchführung eines DNA-Tests entscheidet, vermutlich die Möglichkeit einbüßt, seine/ihre Familie nachholen zu können. Besonders problematisch ist schließlich, dass die Testergebnisse negative Effekte für das Familienleben und das psychische Wohl haben können, wenn etwa Eltern und Kinder erfahren, dass sie nicht biologisch verwandt sind.15 Darüber hinaus sind auch datenschutzrechtliche Probleme zu beachten. In Frage steht etwa, wie lange die genetischen Informationen gespeichert werden und wer Zugang zu ihnen haben soll. Die sozialen Probleme, die sich mit dem Einsatz von DNA-Tests in Einwanderungsverfahren stellen, sind nicht minder vielfältig. Der Fokus auf genetische Bindungen führt dazu, dass alternative Formen von Familie abgewertet und als zweitrangig angesehen werden, sie gelten nicht als »echte« Familienbeziehungen. Diese amtlich forcierte und rechtsverbindliche Definition von Familie als Abstammungsgemeinschaft steht
15 Daher fordern der Europäische Flüchtlingsrat (ECRE) und das UN Flüchtlingskommissariat (UNHCR), dass DNA-Tests aufgrund der Sensibilität der Daten und den möglichen negativen Konsequenzen für die Familien erst angewendet werden, wenn alle anderen Möglichkeiten des Nachweises ausgeschöpft sind und nur unter der Vorraussetzung, dass alle Mitglieder der Familie ihre informierte Zustimmung gegeben haben (vgl. ECRE 2000, UNHCR 2008).
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zunächst im Gegensatz zu den Familienkonzepten der Herkunftsländer. In vielen Kulturen umfasst »Familie« nicht nur leibliche Verwandte, sondern auch Angehörige, zu denen eher soziale als biologische Bindungen existieren. Die Verweigerung der Familien-zusammenführung auf der Grundlage von DNA-Analysen zeigt, welche Probleme unterschiedliche Konzepte von Familienzugehörigkeit schaffen.16 Das Kriterium einer biologischen Verbindung als Voraussetzung für die Anerkennung von Familienzugehörigkeit konfligiert aber nicht nur mit den Familienkonzepten in den Herkunftsländern, sondern es steht auch der Familienpolitik in den meisten Aufnahmestaaten entgegen, die soziale statt genetische Bindungen betont. Es besteht die Gefahr, dass sich eine unterschiedliche Rechtslage für »Inländer_innen« und Migrant_innen etabliert, da bei Letzteren nur leibliche Verwandtschaft, nicht aber Patchwork-Familien und gleichgeschlechtliche Partnerschaften anerkannt werden. In vielen Einwanderungsländern existiert eine Art doppelter Standard, wobei die jüngste Familiengesetzgebung und die darin ausgedrückte Stärkung sozialer Elternschaft sich diametral von den Regelungen und Familienkonzepten in Einwanderungsverfahren unterscheiden. Murdoch beschreibt diesen Kontrast am Beispiel der französischen Rechtslage: »While parenthood is considered a multi-faceted relationship for French citizens, immigrants are limited to defining the parent-child relationship as genetics-based. While French family law was modified to prevent the creation of any formal distinction between legitimate and illegitimate children, the differing standard applied to immigrants creates a new foundation for disparity. Children of immigrants who are not genetically linked to their parents are given a secondary status and the relationship is not recognized, despite the fact that the child may be with the only parent she has ever known. This dual standard implies that French families may recognize multi-faceted relationships, but without documentation, an immigrating family may only be trusted when they assert the most basic nuclear family structure.« (Murdoch 2008: 1521)
16 Ein Fall aus Dänemark illustriert diese Problematik eindrücklich: »Of all the Somali who were subjected to DNA testing by the Danish Immigration Service from January 1997 to September 1998, 58 % received a negative result. Somali community leaders responded to these findings by stating that ›the concept of family is very different in [the Somali] culture, and many Somalis are not aware of the Danish concept of who is a family member and thereby entitled to family reunification.‹« (Taitz et al. 2002: 26f.).
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Ein weiterer Aspekt, der Beachtung verdient, ist die Tatsache, dass einige Familien aus finanziellen Gründen nicht in der Lage sind, DNA-Tests in Auftrag zu geben oder religiöse Überzeugungen in manchen Fällen ihre Durchführung verbieten (Taitz et al. 2002: 28). Auch der mögliche diskriminatorische Einsatz von Genanalysen in Einwanderungsverfahren ist immer wieder hervorgehoben worden. Zwar gibt es in dem meisten Staaten keine genauen statistischen Daten über dieses Einsatzfeld von DNA-Tests, aber es existieren Hinweise, dass in einigen Ländern Pässe und Ausweispapiere von Menschen afrikanischer Herkunft oder solchen aus ärmeren Ländern häufiger als andere abgelehnt werden und von ihnen routinemäßig die Durchführung eines DNA-Tests verlangt wird (Taitz et al. 2002: 28f.). Obwohl die DNA-Analyse gegenüber traditionellen Identifikationsverfahren (z.B. Bluttests) eine Reihe von Vorteilen hinsichtlich der Aussagekraft und der Vermeidung von fehlerhaften Untersuchungsergebnissen bietet (Davis 1994), existiert eine Reihe von technischen Fehlerquellen. Abgesehen von menschlichen Irrtümern in der Durchführung der DNA-Analyse, können Chimären oder Mutationen fälschlicherweise zu negativen Testergebnissen führen.17 Darüber hinaus ist auch zu beachten, dass DNA-Analysen im Kontext von Immigrationsverfahren einige Besonderheiten aufweisen, die die Identifizierung von Familienmitgliedern erschweren, da sie häufig Populationen betreffen,
17 Einen solchen Fall schildert Susan Kruglinski in ihrer Kurzdarstellung möglicher Fehlerquellen genetischer Abstammungstests: »Human error was not the cause of Lydia Fairchild’s unexpected maternity test results in 2003. A mother of two at the time, Fairchild submitted her DNA to establish maternity when applying for welfare, says Alan Tindell, her former lawyer. But the results that came back said she was not the biological mother of her children, placing her in danger of losing them. When she gave birth to a third child with DNA that did not match her own, Tindell says, judges and lawyers involved in the case where stunned. Fairchild could not be reached for comment, but Tindell says she seems to have two sets of DNA. One set matched poorly with her children’s DNA, as if she were their aunt. Fairchild may be a tetragametic chimera. A chimera is any animal with more than one set of genetically distinct cells, each set originating from a different fertilized egg. Fairchild’s body could be the result of the fusion of two nonidentical embryos, which can occur at the earliest stage of development. Different parts of her body could have come from different cell lines. The eggs that produced her children may have been spawned from tissues that came from one of those cell lines; the DNA taken from her mouth for testing would have been from a different cell line.« (Kruglinski 2006: 68f.)
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bei denen das wissenschaftliche Wissen um die Häufigkeiten von Genvarianten unzureichend sein kann (Junge et al. 2005; Kruglinski 2006; Karlson et al. 2007; Murdoch 2008: 1521-1523). Inwieweit Migrant_innen von den hier beschriebenen Problemen betroffen sind, richtet sich nicht nur nach ihrem Herkunftsland, sondern nicht zuletzt auch nach dem jeweiligen Zielland der Zuwanderung. Trotz der politischen Vorgabe einer einheitlichen Einwanderungspolitik auf europäischer Ebene, gibt es auch innerhalb der EUStaaten deutliche Unterschiede in der Ausgestaltung und der Nutzung von Genanalysen für Entscheidungen zum Familiennachzug. Deutschland zählt mit der Forderung nach einer genetischen Untersuchung aller beteiligten Familienmitglieder, der Einschränkung der informationellen Selbstbestimmung und der fehlenden Kostenübernahme durch den Staat zu den Ländern mit der restriktivsten Regelung (Kofman 2004: 253). Demgegenüber dürfen in Frankreich Tests nur in letzter Instanz und mit einer richterlichen Anordnung durchgeführt werden und werden auf die Überprüfung des Verhältnisses von Mutter und Kind begrenzt. Die Kosten hierfür trägt der Staat (vgl. Kröger 2008, Hahn 2007). Anders als Deutschland verfügt Finnland bereits seit dem Jahr 2000 über rechtliche Regelungen für die Durchführung von DNATests. Die Verwendung der genetischen Daten ist strikt auf das Verfahren der Familienzusammenführung beschränkt (Taitz et al. 2002). Wie in Frankreich trägt auch hier der Staat die Kosten für die Gutachten und entspricht damit den Forderungen des UNHCR (vgl. UNHCR 2008).
G ENETIFIZIERUNG UND GENETISCHE B ÜRGERSCHAFT Die Diskussion um DNA-Tests in Einwanderungsverfahren ist am Schnittpunkt zweier wichtiger sozialwissenschaftlicher Debatten angesiedelt. Auf der einen Seite steht der Begriff der Genetifizierung, der von vielen kritischen Sozialwissenschaftler_innen aufgegriffen wurde, um auf unerwünschte soziale Folgen, bedenkliche politische Konsequenzen oder ideologische Implikationen der Entstehung und Verbreitung genetischen Wissens hinzuweisen. Auf der anderen Seite hat der Begriff der »biologischen« bzw. »genetischen Bürgerschaft« in den letzten Jahren eine große Resonanz erfahren und wird immer häufiger
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angeführt, um neue Formen von Vergemeinschaftung und Identitätsbildung zu bezeichnen, die im Kontext genetischer und biowissenschaftlicher Praktiken entstehen. Genetifizierung von Familie und Geschlecht Der Begriff der Genetifizierung (geneticization) wurde von der kanadischen Sozialwissenschaftlerin Abby Lippman Anfang der 1990er Jahre geprägt, um die Interaktionsdynamik zwischen medizinischen und genetischen Forschungsergebnissen und Praktiken auf der einen und sozio-kulturellen Prozessen auf der anderen Seite zu erfassen. Lippmann kritisierte mit dem Neologismus eine (medizinische) Perspektive, die in Genen eine Art Programm für die Entwicklung und Steuerung des Organismus sieht und die Genetik als das zentrale konzeptionelle Modell zur Erklärung menschlichen Lebens und Verhaltens, von Gesundheit und Krankheit, Normalität und Abweichung betrachtet. »Geneticization refers to an ongoing process by which differences between individuals are reduced to their DNA codes, with most disorders, behaviors and physiological variations defined, at least in part, as genetic in origin. It refers as well to the process by which interventions employing genetic technologies are adopted to manage problems of health. Through this process, human biology is incorrectly equated with human genetics, implying that the latter acts alone to make us each the organism she or he is.« (Lippman 1991: 19)
Seit seiner ersten Formulierung in den 1990er Jahren wurde der Begriff der Genetifizierung von vielen Sozialwissenschaftler_innen als ein Analyseinstrument genutzt, um auf problematische Aspekte des wachsenden genetischen Wissens aufmerksam zu machen. Er verknüpft die zeitdiagnostische These eines Prozesses der »Genetifizierung« mit dem Vorwurf, die analytische Konzentration auf genetische Erklärungsvariablen und Interpretationsmuster sei einseitig oder fehlerhaft und berücksichtige wichtige Kausalfaktoren nicht oder nur unzureichend (vgl. Koch 1993; Koch 1999; Hoedemaekers/ten Have 1998; Sherwin/Simpson 1999). In dieser Traditionslinie kommt etwa Kaja Finkler in ihrer medizinanthropologischen Studie zu Verwandtschafts-konzepten im Kontext der neuen Genetik zum Ergebnis, dass die Vorstellungen ihrer
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Interviewpartner zu Familie und Verwandtschaft weitgehend von einer »genetic inheritance ideology« (Finkler 2000: 10; vgl. auch Finkler et al. 2003) geprägt seien.18 Demnach strukturieren Vorstellungen von Vererbung und genetischer Verwandtschaft die Alltagserfahrungen der Einzelnen und ihre Beziehungen zu Kindern, Eltern und anderen Verwandten. Finkler zufolge führt diese Verengung der Wahrnehmung von Verwandtschaft schließlich auch zu einer »Medikalisierung der Familie«: Gesunde Menschen, mit einer »Familiengeschichte« für eine bestimmte Erkrankung erfahren sich als anfällig oder verwundbar in Bezug auf das betreffende Leiden. Die Familie wird als eine Art »Gefährdungsgemeinschaft« imaginiert, wobei das gemeinsame Betroffensein von Krankheitsrisiken einen wichtigen Teil der familiären Identität ausmacht. 19 Die Genetifizierung von Familie und Verwandtschaft führt Finkler zufolge dazu, dass Familienverbände sich weniger über Willenshandlungen definieren als über eine gemeinsame biologische Herkunft. Die genetische Karte postuliert Nähe zwischen Menschen, die häufig durch räumliche oder zeitliche Distanzen voneinander getrennt sind. In den Fokus geraten Leiden der lange verstorbenen Großeltern oder von Geschwistern, die weit entfernt leben. Die genetische Nähe transzendiert auch emotionale Entfremdungen und Zerwürfnisse. Selbst wenn Familienmitglieder einander nicht mehr sehen, den Kontakt zueinander abgebrochen haben, bleiben sie sich doch auf genetischer Ebene einander nahe. In dieser Perspektive werden Familienbeziehungen primär in Begriffen genetischer Abstammung erfahren, diese erscheinen grundlegender und wesentlich stabiler als Familienbande, die sich auf Liebeshandlungen, Entscheidungen und Emotionen gründen (Finkler 2000; Finkler et al. 2003; vgl. auch Petersen/Bunton 2002: 59-64).20
18 Die Studie beruht auf ausführlichen Interviews mit drei Gruppen: Brustkrebspatient_innen, gesunden Frauen, in deren Familie Brustkrebs bereits aufgetreten ist, und Adoptivkindern, die ihre leiblichen Eltern ermitteln wollten. 19 Weitere Beispiele für die Verbindung von Genetifizierung und Medikalisierung bieten der Einsatz von Gentests für die Partnerwahl in jüdischorthodoxen Gemeinden (Prainsack/Segal 2006) oder für den Einsatz von genetischen Reihenuntersuchungen zur Familienplanung in Zypern (vgl. Beck 2006). 20 Ähnlich Ergebnisse zeigen sich auch für die genetische Beratung. David Armstrong, Susan Michie und Theresa Marteau haben in ihrer qualitativen Studie insgesamt dreißig genetische Beratungen analysiert und untersucht, wie
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Die Vorstellung einer gemeinsamen genetischen Herkunft prägt damit die Selbstwahrnehmung und Identität der Familienmitglieder. Allerdings ist es wichtig, noch einen weiteren wichtigen Aspekt der Genetifizierung in den Blick zu nehmen: Das genetische Wissen bestimmt nicht nur Formen der Selbstdeutung und personaler Identität, sondern kann durchaus im Gegensatz zu diesen stehen. Genetische Tests funktionieren in institutionellen Kontexten als eine Art Wahrheitsmaschinerie, die ein epistemologisches Feld des Sichtbaren und Sagbaren organisiert und die Bedingungen des Wahren wie des Falschen spezifiziert (vgl. Foucault 1977). Diese Wahrheitsmaschinerie verspricht, die »echten« Familienbeziehungen, die »tatsächlichen« Verbrechensbeiträge und die »wirklichen« Geschlechtszugehörigkeiten scheinbar neutral festzustellen und beansprucht Priorität gegenüber nicht-genetischen Erklärungsformen und alltagsweltlichen (Selbst-) Deutungsmustern (vgl. dazu auch Lemke 2004). Ein noch immer relativ wenig bekanntes Beispiel dafür ist die Praxis der »gender verification« im internationalen Leistungssport. Hatten lange Zeit das äußere Erscheinungsbild und Ausweispapiere für eine Starterlaubnis für internationale Wettbewerbe ausgereicht, wurden seit den 1960er Jahren genetische Tests eingesetzt, um das Geschlecht eines Menschen mittels labortechnischer Nachweisverfahren zu ermitteln. Diese »gender verification« wurde erstmals von der International Amateur Athletic Foundation (IAAF) bei den Europäischen Leichtathletikmeisterschaften 1966 angewendet, nachdem Gerüchte kursierten, dass Männer sich als Frauen ausgeben und an Frauenwettkämpfen teilnehmen. Seit 1968 war der »Gendertest« auch für die Teilnahme bei den Olympischen Spielen für alle Sportler_innen obligatorisch (ab der Olympiade 2000 werden die Nachweisverfahren nur noch sporadisch eingesetzt) und wird bis heute bei internationalen Wettkämpfen in einer Reihe von Disziplinen praktiziert, um das Geschlecht biologisch zu »prüfen«. Diese Geschlechtskontrolle durch genetische Tests innerhalb der Beratungspraxis die Identität der Ratsuchenden konstruiert wird. Ihre Ergebnisse zeigen, dass in der Beratung über die Rekonstruktion von Abstammungslinien und Stammbäumen biologische Bindungen gegenüber sozialen in den Vordergrund treten und die eigene Identität prägen : »The processes of exploring the family tree and mapping the genetic links therefore serves to state forcibly that genetic status was non-negotiable. There was never discussion of ›who you are‹ as this was pre-given by the density of the genetic map: identity was located in genetic make-up.« (Armstrong/Michie/Marteau 1998: 1657)
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führte dazu, dass eine Reihe von Frauen mit scheinbar männlichen Geschlechtsmerkmalen (z.B. Frauen mit einem xy-Chromosomensatz) von den Sportveranstaltungen ausgeschlossen wurde und diese zumeist erst durch das Testverfahren von ihrer »Geschlechtsanomalie« erfuhren (Ljungqvist/Simpson 1992; Simpson et al. 2000; Dickinson et al. 2002; Müller 2006; Hummel 2009). Der Einsatz von DNA-Analysen in Einwanderungsverfahren kann analog als eine »family verification« begriffen werden. Die DNATests sollen aufzeigen, wer die »echten« Verwandten sind und diese von den »vermeintlichen« (in der Regel: sozialen) Familienmitgliedern unterscheiden helfen. Sie funktionieren auch in diesem Fall als eine »Wahrheitsmaschinerie«, die präziser als Identitätspapiere und amtliche Dokumente Abstammungslinien und Verwandtschaftsverhältnisse sichtbar macht. 21 Dass die genetische Definition von Familie und Geschlecht in vielen Fällen nicht mit dem Alltagswissen und dem Selbstverständnis der Betroffenen sowie ihren gelebten Familienbeziehungen übereinstimmt – diesen Zwiespalt sollen diejenigen, die den institutionellen Entscheidungs-prozessen unterworfen sind, aushalten und sich an die »genetische Realität« anpassen. Hier ist ein interessantes Paradox zu beobachten: Dieselben Gen- und Reproduktionstechnologien, die zur Überprüfung der Geschlechts- und Familienzugehörigkeit eingesetzt werden, untergraben gleichzeitig die Idee, dass Geschlecht und Elternschaft biologische Tatsachen sind, die sich einfach nur verifizieren lassen. Sie machen die Vielfalt von möglichen Bestimmungen der Geschlechtszugehörigkeit deutlich und ermöglichen es erst, zwischen verschiedenen Formen biologischer und sozialer Elternschaft zu unterscheiden (vgl. auch Murdoch 2008: 1520).
21 Die Fiktion einer Kontrolle durch technologische Verfahren ist freilich nur die andere Seite seit langem kultivierter und tief sitzender Ängste: »Behind the growing acceptance of new forms of verification of identity, by biometric passports, ID carts or DNA databases, are the fears connected to those who are unidentified, unidentifiable or ›identity-less‹, such as potential fraudulent welfare recipients, terrorists, immigrants and asylum seekers. If ›dirt is matter out of place‹ (Douglas, 1995), then they are the ›dirty‹, the disorderly, the ›out of place‹, whose minds cannot be trusted but whose bodies do not lie.« (Aas 2006: 156)
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Biologische Bürgerschaft In den vergangenen Jahren ist insbesondere innerhalb der angloamerikanischen Sozialwissenschaften eine neue Diskursfigur aufgetaucht: »biologische« (Petryna 2002; Rose/Novas 2005; Rose 2007; Fitzgerald 2008) bzw. »genetische Bürgerschaft« (Kerr 2003; Heath et al. 2004; Schaffer et al. 2008). Obwohl diese Konzepte von den einzelnen Autor_innen unterschiedlich verwendet werden, ist ihnen doch gemeinsam, dass sie Ansprüche auf Teilhabe an sozialen und politischen Prozessen und die Anerkennung individueller oder kollektiver Identitäten bezeichnen, deren konstitutive Grundlage in spezifischen biologischen oder genetischen Merkmalen gesehen wird. Entstehung, Verbreitung und Aneignung biowissenschaftlichen und medizinischen Wissens führen demnach zu neuen Formen von Vergemeinschaftung und Identitätsbildung, aber auch zur Einforderung von Rechten aufgrund biologischer Besonderheiten und zu bislang unbekannten Formen politischen und sozialen Engagements (vgl. auch Novas/Rose 2000; Rabinow 2004). Bemerkenswert an der Debatte ist ihre Fokussierung auf die Ausweitung von Rechten, das Auftauchen neuer Teilhabemöglichkeiten und erweiterter Gestaltungs- und Interventionsspielräume. Wenig untersucht ist hingegen, inwiefern der Rekurs auf »biologische Bürgerschaft« auch zur Einschränkung von Rechten führt und bislang unbekannte normative Verpflichtungen und möglicherweise unerwünschte Neben- oder Folgewirkungen entstehen. Ein Beispiel für die bislang vorherrschende selektive Verwendung des Begriffs ist ein Artikel von Nikolas Rose und Carlos Novas (Rose/Novas 2005; vgl. auch Rose 2007: 131-154). Die Autoren diagnostizieren eine »neue Form von Bürgerschaft« (ebd.: 439) in westlichen Demokratien und sehen in Praktiken biologischer Bürgerschaft eine Herausforderung für nationalstaatliche Regulationsformen. Sie unterscheiden zwei wichtige Dimensionen dieses Prozesses. Erstens verweise biologische Bürgerschaft auf bislang unbekannte Partizipationsprozesse und Rechtsansprüche, die überkommene Formen nationalstaatlicher Bürgerrechte in Frage stellten. Biowissenschaftliches Wissen und biotechnologische Innovationen überschreiten Rose und Novas zufolge regelmäßig den nationalstaatlich definierten Rahmen. Ebenso wählten Patientenvereinigungen und Selbsthilfegruppen immer häufiger transnationale Organisationsformen und das Internet werde zunehmend wichtiger als
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Kommunikations- und Informationsplattform für Patient_innen und Menschen mit Krankheitsrisiken (vgl. auch Schaffer et al. 2008). Zweitens verbinden die Autoren die Beobachtung einer Pluralisierung und Fragmentierung traditioneller politischer Räume mit der These einer historischen Zäsur. Sie gehen davon aus, dass biologische Vorannahmen und Vorurteile immer schon die Konzeptionen von (Staats-) Bürgerschaft prägten, indem sie implizit oder explizit Mitgliedschaftsregeln, Partizipationsvoraussetzungen und Zugangskriterien festlegten und auf diese Weise bestimmten, wer aufgrund welcher biologischen Merkmale überhaupt für den Bürgerstatus kandidieren kann (aufgrund von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Rassenzugehörigkeit etc.). Vor dem Hintergrund dieser Kontinuitäten konzipieren Rose und Novas den aus ihrer Sicht entscheidenden Bruch zwischen den eugenischen Projekten der Vergangenheit und den aktuellen biowissenschaftlichen Praktiken. Biologische Bürgerschaft steht demnach im 21. Jahrhundert für eine Verlagerung politischer Rationalitäten, die nicht mehr auf die Kontrolle von Risiken auf der Ebene von Bevölkerungen, sondern auf das individuelle Management genetischer Risiken zielen.22 Die Praxis von DNA-Tests bei Einwanderungsverfahren zeigt, dass beide Thesen und vor allem die Schlussfolgerung einer Verschiebung politischer Rationalitäten weg von bevölkerungsbezogenen Strategien nur mit einer Reihe von Einschränkungen und Qualifizierungen aufrecht zu erhalten sind. Es ist zweifellos wichtig, das Augenmerk auf die gewachsene Bedeutung von Selbsthilfegruppen und Patientenvereinigungen für (genetische) Krankheiten zu richten, deren Organisationsformen und Kommunikationswege oft nationalstaatliche Grenzen überschreiten (vgl. etwa Epstein 1996; Rabeharisoa/Callon 1999; Brown et al. 2008). Der Einsatz von DNA-Tests im Rahmen von Familienzusammenführungen zeigt jedoch die weiter andauernde Relevanz biologischer Kriterien, um festzulegen, wem Bürgerrechte in einem bestimmten Nationalstaat zugesprochen werden. Insofern ist nicht nur eine transnationale Dynamik zu beobachten, sondern auch die Weiterführung und Festigung der Bindung von Biologie und Bürgerrechten. Dies bedeutet, dass auch die zweite These, die einen historischen Bruch mit bevölkerungspolitischen Projekten diagnostiziert, 22 Rose zufolge verschwinden eugenische Ambitionen zugunsten von »forms of self-government imposed by the obligations of choice, the desire for selffulfilment, and the wish of parents for the best lives for their children« (Rose 2007: 69).
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nicht uneingeschränkt gilt. Biologische Bürgerschaft meint nicht nur die Verlagerung auf das individuelle Management von genetischen Risiken, sondern es steht auch für eine Form der Migrationskontrolle, die sich gezielt gegen bestimmte Bevölkerungen richtet. Insofern ist die These, dass die Nutzung genetischer Informationen zur Bevölkerungskontrolle der Vergangenheit angehört, zumindest ergänzungsbedürftig, wenn nicht falsch. 23 Der Einsatz von DNA-Tests für Einwanderungsverfahren zeigt eine Schieflage in der Debatte um biologische Bürgerschaft auf. Diese betont regelmäßig den biologischen Körper als Grundlage von Ansprüchen auf soziale Inklusion, Anerkennung und demokratische Gestaltung. Die zentrale Frage, die in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bislang überraschenderweise keine Rolle spielte, ist, inwiefern biologische Kriterien bei Ent-scheidungen über die Mitgliedschaft in einem Staat herangezogen werden: Welche biologischen Eigenschaften muss ein Individuum haben, um Bürgerrechte zu erhalten?24 23 Die Betonung der Diskontinuitäten in der Literatur über biological citizenship birgt auch die Gefahr, die Fortdauer präventiver Rationalitäten und das anhaltende Interesse an der Steuerung und Optimierung des Reproduktionsverhaltens aus dem Blick zu verlieren. Die Folge dieser Fokussierung auf historische Brüche ist, dass den »statischen und reaktionären Aspekten der ›neuen Genetik‹ nicht die notwendige Aufmerksamkeit geschenkt wird« (Kerr 2003: 44). 24 Rose und Novas werfen die Frage auf, verfolgen sie aber nicht weiter. Vgl. dazu auch Didier Fassins Konzept der Biolegitimität, demzufolge der Körper zunehmend als letzte Quelle politischer Legitimität fungiert. Fassin illustriert seine These am Beispiel der französischen Flüchtlingspolitik der letzten zwanzig Jahre. Im Verlauf der 1990er Jahre lassen sich zwei gegenläufige, aber nach Auffassung Fassins komplementäre Entwicklungstrends beobachten. Auf der einen Seite sank die Zahl der anerkannten Asylbewerber auf ein Sechstel des Werts vor 1990, vor allem aufgrund einer zunehmend restriktiven Auslegung des Rechts auf Asyl. Auf der anderen Seite stieg im gleichen Zeitraum die Zahl der Flüchtlinge, die ein befristetes Aufenthaltsrecht erhielten, da sie an einer schweren Erkrankung litten, die in ihren Herkunftsländern nicht behandelt werden kann, um das Siebenfache an. Fassin zufolge demonstrieren diese konträr verlaufenden Entwicklungsprozesse eine systematische Verlagerung gesellschaftlicher Legitimitätsgründe. Die wachsende Anerkennung für das Leben eines Kranken, der von einem körperlichen Leiden betroffen ist, verdränge die Anerkennung für das Leben eines Bürgers, der Gewalt erfahren hat. Es sei – so Fassin – inzwischen offenbar akzeptabler, einen Asylanspruch als unbegründet abzulehnen als ein ärztliches Gutachten zurückzuweisen, das einen zeitlich begrenzten Aufenthalt aus medizinischen Gründen empfiehlt (2006).
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Die Analyse der Nutzung von genetischen Informationen in Einwanderungsentscheidungen und der Nachweis von genetischen Bindungen bei Familienzusammenführungen eröffnet eine neue Dimension in den Debatten um biologische Bürgerschaft.25
F AZIT Die Nutzung von DNA-Tests zur Familienzusammenführung zeigt die widersprüchlichen Implikationen des biowissenschaftlichen Wissens für die Sozialform »Familie«. Auf der einen Seite fördern Gen- und Reproduktionstechnologien wie die In-vitro-Fertilisation, Eizellenspende etc. die Loslösung der sozialen Elternschaft von ihren biologischen Grundlagen. Einige Beobachter_innen haben daher davon gesprochen, dass sich Elternschaft analog eines Baukastensystems in einzelne Bestandteile zerlegen und neu kombinieren lasse (vgl. etwa Beck 1990: 209-213). Auf der anderen Seite werden dieselben technologischen Verfahren dazu eingesetzt, die Vorstellung einer unveränderlichen biologischen Grundlage und anthropologischen Konstanz von Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen zu bekräftigen und zu verfestigen (vgl. Weigel 2002). Als Folge werden biologisch gefärbte Konzepte von Familie und Verwandtschaft gestärkt. Weitere Beispiele dafür sind neben den genetischen Abstammungsgutachten etwa das zunehmend anerkannte Recht von Adoptivkindern, über die Identität ihrer leiblichen Eltern aufgeklärt zu werden oder die Diskussion um die Zulässigkeit und die rechtliche Bedeutung von »heimlichen« Vaterschaftstests26 (Koch 1999: 194; Gehring 2006: 100-109). Insgesamt ist also eine Paradoxie zu beobachten: Während genomanalytische Verfahren auf der operativen Ebene die bestehende Familien- und Geschlechterordnung untergraben, tragen sie zugleich zur Recodierung und Erneuerung traditioneller Geschlechtergrenzen und biologisch definierter Familienmodelle bei. Im Mittelpunkt steht dabei regelmäßig ein Familienkonzept, das auf der Weitergabe von Genen basiert – und auf den Rechten und Pflichten, die sich daraus ergeben 25 Für eine ausführlichere Auseinandersetzung mit dem Konzept »biologische Bürgerschaft« vgl. Lemke/Wehling 2009. 26 Vgl. dazu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2007 zu heimlichen Vaterschaftstests: www.bundesverfassungsgericht.de/pressemitteilungen/bvg07-018.html (Zugriff: 31. 08. 2009).
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sollen. Gleichzeitig werden andere Familienmodelle abgewertet – etwa solche, die nicht auf heterosexuellen Beziehungen beruhen oder sich an anderen Vorstellungen von Paar- und Intimbeziehungen orientieren. Interessanterweise verbindet sich also die Auflösung »natürlicher« Familienbeziehungen bzw. ihre Rekonfigurierung unter genetischen Gesichtspunkten mit einem verstärkten Rekurs auf gesellschaftliche Naturalisierungen (Franklin 1993; Franklin 2000: 195, Kontos 1997; Kettner 2001).
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Lebensqualität oder ›gutes Leben‹? Das kranke Kind, das Gen, der Fötus
J OËLLE V AILLY
Die von Michel Foucault beschriebene historische Bewegung, mit der die Gesundheit und das Leben in politische Strategien integriert wurden, steht in einem engen Zusammenhang mit dem Konzept des Wohlergehens. Foucault spricht vom »Erscheinen der Gesundheit und des physischen Wohlergehens der Bevölkerung im Allgemeinen als eine[m] der wesentlichen Ziele der politischen Macht. […] Nun sieht man im 18. Jahrhundert eine neue Funktion auftauchen: die Einrichtung der Gesellschaft als Milieu des physischen Wohlergehens, der optimalen Gesundheit und der Langlebigkeit.« (2003: 23f.)1 Ähnlich lässt sich der Begriff der ›Lebensqualität‹ verorten, der die einschlägigen Diskurse und Praxen zunehmend prägt. Die Instrumente zur Bemessung der Lebensqualität gründen entsprechend in der Überzeugung, es sei möglich, diejenigen Politiken, die das allgemeine und kollektive Wohlergehen am meisten steigern, empirisch zu bestimmen (Leplège 2004). In dieser Sicht haben die Methoden zur Bemessung der Lebensqualität den Vorteil, dass sie eine vermeintlich objektive quantitative Perspektive (gesundheitliche Kriterien, den Grad der Lebenszufriedenheit, die familiäre und emotionale Eingebundenheit etc.) mit einer subjektiven Perspektive verklammern (beispielsweise mit der Frage, wie die betroffene Person oder das medizinische Perso-
1 Diese Arbeit wurde u.a. vom Gis-Institut des Maladies Rares unterstützt. Mein Dank gilt dem Personal und den Angehörigen der Patient/innen, die bereit waren, meine Fragen zu beantworten und von mir begleitet zu werden.
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nal diese Faktoren bewertet). In diesem Zusammenhang interessiert sich die Soziologie für die Transformationen des Verhältnisses zwischen den Symptomen und der Krankheit, die unter anderem anhand der Indikatoren zur Bemessung der Lebensqualität sichtbar werden (Armstrong et al. 2007). In diesen Forschungen wird ersichtlich, wie die Einbeziehung von Fragen zur Bemessung der ›Aktivitäten des täglichen Lebens‹ [activities of daily living, ADL] in Gesundheitsfragebögen seit den 1960er Jahren dazu geführt hat, dass die unmittelbaren Symptome der Krankheit aus dem Zentrum der Analyse gerieten und eher unspezifische Aspekte bzw. Randeffekte stärker berücksichtigt wurden; beispielsweise wurde bei der Arthritis nicht mehr nur thematisiert, dass eine spezifische Form von Schmerz mit ihr einhergeht, sondern auch, dass die Betroffenen Probleme beim Treppensteigen haben. So wurden diese Bemessungen inhaltlich mit Beeinträchtigungen des sozialen Lebens und mit der erweiterten Definition von ›Gesundheit‹ verknüpft, wie die WHO sie ausgearbeitet hat. Die WHO definiert Gesundheit als einen »Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens, der sich nicht nur durch die Abwesenheit von Krankheit auszeichnet«.2 Auf dieser Grundlage konnten sich die Instrumente herausbilden, mit denen unter Rückgriff auf vier zentrale Parameter die Lebensqualität bemessen wird: Symptome, geistige Gesundheit, ADL und soziale Aktivitäten. In diesen Indikatoren verschränkt sich das biologische Leben (die Symptome) mit bestimmten Aspekten des sozialen Lebens (sich mit Freund/innen treffen etc.). Wer sich mit dem Leben und seiner Qualität beschäftigt, richtet seinen Blick fast zwangsläufig auch auf den Alltag kranker Personen. Seit den 1970er Jahren wächst der Korpus sozialwissenschaftlicher Literatur über das Leben mit chronischen Krankheiten beständig (Strauss et al. 1984). Diese Forschungsrichtung thematisiert vor allem die Verhandlungen und Interaktionen zwischen den beteiligten Akteur/innen, die Organisation der Regeln des sozialen Lebens im Verlauf der Krankheit und die Transformationen dieser Organisation (Baszanger 1986). In dieser Perspektive untersuchen die Forscher/innen, wie der Körper sich so in die sozialwissenschaftliche Analyse der chronischen Krankheitserfahrung integrieren lässt, dass biologische und soziale Aspekte gleichermaßen berücksichtigt werden 2 Eine deutschsprachige Version der WHO-Verfassung findet sich z.B. unter www.admin.ch/ch/d/sr/0_810_1/(Stand: 23. 01. 2010)
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können. Biologische Fakten können vor allem dann ›sozial‹ werden, wenn andere Personen die/den Erkrankte/n im Hinblick auf ihre/seine körperlichen Beeinträchtigungen wahrnehmen (Kelly/Field 1996). Andere Autor/innen wiederum untersuchen den Blick auf die Krankheit, ihre Symptome und die von ihr verursachten Beeinträchtigungen sowie die Beziehungen zwischen Krankheit und sozialem Leben (Timmermans/Haas 2008). Letztere problematisieren auch, wie die Soziologie, nachdem sie sich in den 1950er Jahren zu stark an der medizinischen Praxis orientierte, durch ihre anschließenden Distanzierungsbestrebungen nun die physiologischen Aspekte der Krankheit (ihre Schwere, ihre Symptome) in ihren Forschungen zu stark außer Acht lässt. Die Autoren dieses Beitrags werfen der Soziologie unter anderem die Tendenz vor, spezifische Unterschiede zwischen verschiedenen chronischen Krankheiten nicht ausreichend zu berücksichtigen. Diese Kritik wird indirekt durch eine weitere Studie untermauert (Petersen 2006). Die Verfasserin analysiert und vergleicht die Erfahrungen und Äußerungen von Personen mit genetisch und nichtgenetisch bedingten Krankheiten. Aufgrund der Erblichkeit der Krankheit sprechen erstere auch über das Leben von Angehörigen und Nachkommen, die ebenfalls (potenziell) von der Krankheit betroffen sind. Dies kann beispielsweise zu Problemen und Konflikten führen, wenn betroffene Familienmitglieder untereinander Informationen weitergeben und austauschen möchten oder wenn die Gesundheit bzw. das Wohlergehen eines zukünftigen Kindes zum Gegenstand von Sorge und Auseinandersetzungen wird. In diesem Zusammenhang können Forschungen über die Optimierung des Lebens und über die möglichst präzise Bemessung der Lebensqualität die Frage nach der (zunehmend an Bedeutung gewinnenden) Beurteilung des Werts eines Lebens aufwerfen. Urteile über den Wert eines Lebens kommen bereits in all jenen biomedizinischtechnologischen Anwendungsfeldern zum Vorschein, die nach einer wie oben definierten Bewertung der ›Lebensqualität‹ verlangen, auf deren Grundlage eine entsprechende Vorgehensweise festgelegt wird. Das zeigt sich in den wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten über Entscheidungen im Kontext der Euthanasie, über die Wiederbelebung von Neugeborenen, Fruchtwasseruntersuchungen und pränatale (vorgeburtliche) Diagnostik; hier wird deutlich, dass manche Leben weniger wünschenswert zu sein scheinen als andere. Entsprechend können Soziolog/innen und Anthropolog/innen zeigen, dass vor
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allem die Pränataldiagnostik unterschwellig von der Frage bestimmt ist, welches Leben es wert ist, gelebt zu werden (Landsman 2003; Press/Browner 1997). Zwar sind seit langer Zeit aus diversen Ländern Praxen der Aussetzung kranker oder behinderter und als daher als lebensunwürdig geltender Neugeborener bekannt (Landsman 2003); das Gebiet der In-Vitro-Fertilisation und der Präimplantationsdiagnostik in Großbritannien ist jedoch ein besonders bezeichnendes Beispiel für die zunehmende Bedeutung, die die Biomedizin in den entsprechenden Debatten und Praktiken spielt.3 Diese Praxen werden von einem Gesetz reguliert, das festlegt, dass die praktizierenden Ärzt/innen vor der Geburt eine an medizinischen und sozialen Kriterien orientierte Bewertung des Wohlergehens des zukünftigen Kindes leisten müssen (Ehrich et al. 2006). In dieser Studie artikuliert das Mediziner/innenteam zum einen, dass es gesellschaftlich und beruflich verantwortungsbewusst handeln muss. Zum anderen sorgt es sich aber auch, dass die Einschätzung über das zukünftige Wohlergehen des Kindes für die betroffenen Eltern im Vergleich zu Paaren, die nicht auf Reproduktionstechnologien zurückgreifen müssen, als invasiv und diskriminierend verstanden werden kann. Den Autor/innen zufolge lässt sich diese Spannung als Konsequenz einer zumindest partiellen Verschiebung verstehen: weg vom ›sozialen‹ Umgang mit Behinderung (soziales Wohlergehen) hin zu einem genetischen Umgang (genetisches Wohlergehen). Die Studie verdeutlicht, wie wichtig es ist, Werturteile über zukünftige Leben sorgfältig zu analysieren und die Kriterien für solche Urteile möglichst genau zu bestimmen. Manche Bioethiker/innen äußern Besorgnis über die Normalisierung und Verbreitung bestimmter Praxen der pränatalen Diagnostik. Diese Praxen, so heißt es, würden Ausnahmetalente wie Mozart oder Einstein heutzutage als ›lebensunwertes Leben‹ bestimmen.4 Andererseits, so der Soziologe Nikolas Rose, »bedeutet der Versuch, ein defektes Gen auszuschalten, nicht, dass das Leben derjenigen, die mit diesem Gen auf die Welt kommen, weniger lebenswert ist oder dass sie weniger Pflege und Unterstützung verdienen. Nichts weist darauf hin, dass Eltern, deren Kinder Träger/innen solcher Krankheiten sind, denken, 3 Bei der Präimplantationsdiagnostik wird den Embryonen nach der InVitro-Fertilisation eine Zelle entnommen und genetisch getestet. Anschließend wird der Trägerin der gewünschte Embryo eingesetzt. 4 Vgl. dazu den Artikel »La France au risque de l’eugénisme«. In: Le Monde, 4./5. 2. 2007.
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ihr eigenes Leben oder das Leben ihrer Kinder besäße einen geringeren Wert.« 5 Wenn man beide Positionen gleichzeitig in Betracht zieht, so lässt sich zeigen, dass die Frage der Werturteile über potenzielle oder tatsächliche Leben vor und nach der Geburt möglicherweise unterschiedlich verhandelt wird. Viele Sozialwissenschaftler/innen untersuchen das Thema der Geburt schwerkranker oder behinderter Kinder in Form von Hypothesen über die Schwangerschaft und über genetische Beratungen (Remennick 2006; Press/Browner 1997). In diesem Beitrag möchte ich einen Perspektivwechsel vorschlagen und stattdessen erörtern, wie das Leben von Kranken interpretiert wird, die bereits auf die Welt gekommen sind.
V ORSTELLUNG
DER
S TUDIE
An dieser Stelle wird bereits ersichtlich, dass es bei all diesen Fragen auch, aber längst nicht nur, um ›Lebensqualität‹ geht. Wenn man hier einen Zusammenhang zur Pränataldiagnostik aufmacht, berührt man Themen wie ›das Lebende‹, die Existenz und schließlich das Leben selbst. Daher möchte ich vorschlagen, den Begriff der ›Lebensqualität‹ durch das Konzept des ›guten Lebens‹ zu ersetzen, das mir im Zentrum dieser Praxen zu stehen scheint. Für die Darstellung des Übergangs von der ›Lebensqualität‹ zum ›guten Leben‹ analysiere ich, wie sich der Zusammenhang zwischen dem moralisch weitgehend begrüßten Streben nach Gesundheit (durch die Behandlung der Kranken) und der bisweilen kontroverser diskutierten Ausrottung der Krankheit (durch die Diagnostik am Fötus) in der Praxis darstellt. Der Versuch, diesen Zusammenhang zu erfassen, kann zu einem besseren Verständnis des biomedizinischen Feldes und bestimmter Entwicklungen auf diesem Gebiet beitragen. Dabei lautet meine Arbeitshypothese, dass die Geburt in diesem Kontext ein zentrales Moment darstellt. Die Arbeit untersucht diese Hypothese am Beispiel der wissenschaftlichen, politischen und moralischen Herausforderungen des Screenings von Neugeborenen auf Mukoviszidose. Dieses Neugeborenenscreening wurde im Jahr 2002 in Frankreich eingeführt und bezeichnet die Reihenuntersuchung aller Neugeborenen auf die genetisch
5
Vgl. www.abc.net.au/rn/talks/bbing/stories/s1539272.htm.
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bedingte Krankheit Mukoviszidose.6 Das Screening steht im Kontext einer generellen Zunahme von Neugeborenenscreenings, wie sie vor allem in Europa und in den USA zu beobachten ist. In den USA werden Neugeborene je nach Bundesstaat auf durchschnittlich etwa 30 genetisch bedingte Krankheiten gescreent. In Deutschland liegt diese Zahl bei 15, in Frankreich bei 5 Krankheiten etc. In diesem Artikel geht es entsprechend darum, wie das Ziel, den Betroffenen ein gutes Leben zu ermöglichen, durch die Praxis des Screenings erreicht werden soll. Im ersten Teil des Beitrags wird die medizinische Behandlung der betroffenen Kinder analysiert. Was verstehen die Mediziner/innen und die Angehörigen der betroffenen Patient/innen unter einem ›guten Leben‹? Wie stellt sich der Zusammenhang zwischen bzw. die gleichzeitige Hervorbringung des sozialen und des biologischen Lebens dar? Anschließend möchte ich mich der Frage widmen, wie sich das Verhältnis zwischen zwei unterschiedlichen diagnostischen Ansätzen, nämlich Neonatal- und Pränataluntersuchungen, auf diesem Gebiet gestaltet. Natürlich bestehen Unterschiede auf der (berufs-)praktischen Ebene. Darüber hinaus möchte ich aber zeigen, wie diese beiden diagnostischen Herangehensweisen (vor und nach der Geburt) zwar in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen, im Ganzen betrachtet aber auch zusammenlaufen. Ebenso soll ersichtlich werden, wie die Idee der Frühzeitigkeit und allgemeiner gesprochen der Zeitlichkeit dieses Verhältnis mitbestimmen. Zum Ende möchte ich eine allgemeiner gehaltene Debatte über den Begriff des ›guten Lebens‹ im Kontext der Geburt anregen. Auf der Ebene der Praxen ist festzuhalten, dass Neugeborenenscreenings in Frankreich von einem Berufsverband empfohlen und durchgeführt werden. Dieser Organisation, der AFDPHE (Association française pour le dépistage et la prévention des handicaps de l’enfant; Französische Gesellschaft für Screenings und die Prävention von Behinderungen bei Kindern), gehören vor allem Kinderärzt/innen und 6 ›Screening‹ wird als ein Verfahren definiert, mit dem diejenigen Personen innerhalb einer Population identifiziert werden, die das Risiko tragen, von einer bestimmten Krankheit betroffen zu sein (in diesem Fall folgt auf das Screening ein diagnostischer Test zur Bestätigung), oder die bereits von ihr betroffen sind, ohne es zu wissen. – Mukoviszidose ist eine selten auftretende Krankheit, die sich in meist schwerwiegenden Atem- und Verdauungsproblemen äußert. In Frankreich sind etwa 5000 Personen insgesamt und pro Jahr 180 Neugeborene von ihr betroffen. Die Krankheit ist nicht heilbar, und die Lebenserwartung der Betroffenen liegt in Europa bei etwa 35 Jahren.
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in zweiter Linie Genetiker/innen an. Wie ich in einem früheren Artikel bereits zeigen konnte, war die wichtigste Voraussetzung für die Einführung des Screenings von Neugeborenen auf Mukoviszidose (hiernach: Screening) die Einrichtung von spezialisierten Behandlungszentren unter der Schirmherrschaft der AFDPHE, mit denen dafür gesorgt ist, dass unmittelbar im Anschluss an die Diagnose die erforderlichen Behandlungsschritte unternommen werden können (Vailly 2006). Seit Beginn der Screenings wurden etwa 50 Behandlungszentren für Mukoviszidosepatient/innen eingerichtet. Diese ›Muskoviszidose-Ressourcen- und Kompetenzzentren‹ [Centres de ressource et de compétence de la mucoviscidose, im Folgenden: CRCM] sind zumeist in Universitätskliniken angesiedelt. In diesen multidisziplinären, hochspezialisierten Zentren arbeiten Kinderärzt/innen, Genetiker/innen, Physiotherapeut/innen etc. Meine Forschungsarbeit stützt sich zunächst auf eine ortsspezifische Feldstudie, die 2005 über die Dauer von sieben Monaten in einem CRCM an einem großen Krankenhaus in der Region Paris durchgeführt wurde. Die Grundlage für meine Untersuchung bilden meine Beobachtungen während der Beratungen durch Kinderärzt/innen, die sich auf die Behandlung von Mukoviszidosepatient/innen spezialisiert haben (91 Beoachtungen, ein Drittel davon bei gescreenten Kindern), sowie 22 Gespräche mit praktizierenden Ärzt/innen und mit Müttern gescreenter Kleinkinder. Die Gespräche mit dem medizinischen Personal hatten vor allem die klinischen Praxen zum Gegenstand und thematisierten, wie das Screening diese Praxen verändert. Außerdem ging es um die ärztliche Einschätzung der Screenings und um die Patient/innen, die im Zentrum in Behandlung waren und sind. In den Gesprächen mit den Müttern der gescreenten Kinder wurde versucht, detailliert alle Etappen des Neugeborenenscreenings und der anschließenden Behandlung nachzuvollziehen. Hier wird ersichtlich, wie die Mütter die Screenings und bestimmte sensible Fragen im Zusammenhang mit dem Wert des Lebens der erkrankten Kinder bewerten. Wenn die an der Behandlung der Kinder beteiligten Väter anwesend waren und an dem Gespräch teilnehmen wollten, wurden sie in die Studie mit einbezogen. Über diese lokalen Interviewdaten hinaus greife ich auf meine Beobachtungen auf Biomedizin- bzw. NeugeborenenscreeningFachtagungen von 2003 bis 2005 (16 Beobachtungen), auf 23 Gespräche mit den wichtigsten Akteur/innen in dem Entscheidungsprozess zugunsten eines landesweiten Screenings von Neugeborenen auf Mu-
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koviszidose und auf die Analyse einiger Dokumente zurück (Informationsbroschüren zu Neugeborenenscreenings, landesweite Statistiken etc.) und hebe die Analyse damit auf eine nationale Ebene.
D AS L EBEN DER GESCREENTEN P ATIENT / INNEN IM K INDESALTER Die überwiegende Zahl der Dokumente, die sich für das Neugeborenenscreening und für eine frühzeitig einsetzende Mukoviszidosebehandlung aussprechen, macht das Thema der ›Lebensqualität‹ geltend. So verdeutlicht eine auf der Entbindungsstation ausliegende Informationsbroschüre über Neugeborenenscreenings: »Eine frühzeitige und intensive Behandlung […] stellt sicher, dass sich die Lebensqualität der Patient/innen verbessert, auch wenn es keine spezifische Behandlung gibt, die die Patient/innen endgültig heilt.« (AFDPHE 2001) Eine Pressemeldung, die die Verantwortlichen für die Screenings herausgaben, als diese lanciert wurden, unterstreicht, dass es »wichtig [ist], Kinder so früh wie möglich [auf Mukoviszidose] zu screenen, um die Lebensqualität der gescreenten Kinder zu verbessern und ihre Lebenserwartung zu steigern« (Assurance Maladie 2000). Hier lassen sich zahlreiche weitere Beispiele anführen. Eine frühzeitig einsetzende und adäquate Behandlung gilt Mediziner/innen als Voraussetzung für ein möglichst gutes Leben. Dementsprechend werden gescreente und erkrankte Kinder in CRCMs eingewiesen, und so kommt ab dem Zeitpunkt des Screenings bereits bei Patient/innen im Säuglingsalter ein ganzes Behandlungsregime zum Einsatz. Die verstärkte Überwachung vollzieht sich in Form von Untersuchungen, die im ersten Lebenshalbjahr monatlich und anschließend alle zwei Monate stattfinden. Dazu gehört unter anderem eine systematische bakteriologische Analyse des Auswurfs. Zweimal jährlich verbringen die Kinder ein oder zwei Tage in der Tagesklinik. An der Analyse des Schleims zeigt sich die doppelte Bedeutung der ärztlichen Untersuchung: Sie ist Beobachtung und Test(ergebnis) zugleich. Die Auswurfuntersuchung liefert das Urteil: Das Kind »hat Pseudomonas« – es ist mit dem Erreger Pseudomonas aeruginosa infiziert – oder eben nicht. Es kann auch von anderen Erregern befallen sein, aber Pseudomonas gilt als der gefährlichste. Bei der bisweilen für die Patient/innen unangenehmen Untersuchung in der Tagesklinik wird eine ganze
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Reihe Resultate nur im Hinblick auf diesen spezifischen Erreger produziert und bewertet. Ab dem Zeitpunkt, zu dem ein Neugeborenes positiv diagnostiziert wird, werden Überwachung und Behandlung zudem um ›Physio‹ (Physiotherapie für die Atemwege) ergänzt. Bei leichten Formen der Mukoviszidose und wenn es dem Kind gut geht, finden Physiotherapiesitzungen durchschnittlich zweimal wöchentlich statt; ist es allerdings ›verschleimt‹, werden bis zu zwei Sitzungen pro Tag durchgeführt. Die ›Physio‹-Sitzungen sind für Außenstehende eindrucksvoll: Mit größter Anstrengung wird der Schleim aus den tiefsten Tiefen der Atemwege der Säuglinge hervorgeholt. Häufig müssen Patient/innen im Kindes- und Jugendalter täglich stattfindende, ermüdende Physiotherapiesitzungen über sich ergehen lassen. Zur eigentlichen Behandlung ist zu sagen, dass richtiggehende Handlungspläne zum Einsatz kommen (Ernährungsumstellung, neue Antibiotika etc.), wenn die medizinische Bilanz nicht zufriedenstellend für das Kind ausfällt. Wenn der Zustand der Patient/innen sich verschlechtert, kommt bisweilen eine kämpferische bzw. kriegerische Semantik zum Tragen: Man ›versetzt dem Pseudonomas einen Schlag‹ oder ›bewaffnet sich‹. Die Waffen tragen die Namen von Antibiotika, von intravenösen Behandlungen, von Sprühinhalatoren und von Tabletten mit Verdauungsenzymen. Die Verbündeten sind eine reichhaltige Ernährung, körperliche Hygiene und Regeln dafür, wie man sich im Alltag vor Krankheitserregern schützt. Dieser Kampf bedeutet für kleine Kinder, die an schwereren Formen der Mukoviszidose leiden, dass die Behandlung ihrer Krankheit jeden Tag zwei Stunden in Anspruch nimmt. Zugleich sind die Kinderärzt/innen sich darüber im Klaren, dass ein ›gutes Leben‹ für ein gescreentes Kind nicht ausschließlich in der Behandlung seiner Krankheit bestehen kann – umso mehr, als dass die Krankheit chronisch ist. So schreibt die Soziologin Isabelle Baszanger (1986): »[Chronisch] kranke Menschen müssen über die medizinisch vorgeschriebene Behandlung hinaus zudem noch die Auswirkungen ihrer Krankheit auf die Organisation ihres Lebens und auf ihr Verhältnis zu anderen Personen managen.« Mit anderen Worten: Da die Krankheit über eine lange Dauer verläuft, kann sie nicht einfach als ›vorübergehende Aufhebung‹ der normalen sozialen Rollen betrachtet werden. Eine der Herausforderungen besteht darin, sich, wenn möglich, in die sozialen Strukturen einzugliedern, da zwischen dem biologischen Leben (Hygiene, medizinische Versorgung) und bestimmten
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Aspekten des Soziallebens (Spiele, Unternehmungen) ein Gleichgewicht bestehen muss. Dieses Gleichgewicht lässt sich in Beratungsund Untersuchungsgesprächen an konkreten Beispielen näher bestimmen, wenn z.B. Mütter die Kinderärzt/innen detailliert fragen, welchen Freizeitbeschäftigungen ihr Kind nachgehen kann, ohne dabei eine Verschlechterung seines Gesundheitszustands zu riskieren. Sie versuchen hier, den Nutzen der Freizeitaktivitäten (in den Park oder ins Schwimmbad gehen, mit anderen Kindern spielen etc.) zu dem eventuellen Risiko ins Verhältnis zu setzen, das ihr Kinder hier eingeht. Manche Eltern streben an dieser Stelle nach Kompromissen bzw. versuchen, für ihr Kind Momente der Geselligkeit zu erkämpfen (wenn sie zum Beispiel wollen, dass es an der Weihnachtsfeier im Krankenhaus teilnimmt, und darüber hinwegsehen, dass es damit ein Ansteckungsrisiko eingeht, worauf die Ärztin Eltern und Kind hingewiesen hat). Bei den Untersuchungen und Gesprächen wird wiederholt artikuliert, das Kind könne ja nicht in einer ›Blase‹ leben. Das Gleichgewicht zwischen Normalisierung und ›Entnormalisierung‹ des Lebens infolge der Krankheit kann unter Umständen schwer zu bestimmen sein (Strauss et al. 1984). Allgemeiner gesprochen besteht ein Spannungsverhältnis zwischen dem Versuch, das Kind vor Infektionen und den verschiedensten Risiken zu schützen, und dem Wunsch, ihm ein ›gutes Leben‹ zu ermöglichen, das ihm eine gewisse ›Normalität‹ gestattet. Aufgrund des Infektionsrisikos wird in der Regel davon abgeraten, Mukoviszidosepatient/innen in die Kita bzw. in den Kindergarten gehen zu lassen; der Schulbesuch wird jedoch stark nahegelegt. Auch bei einer der Tagungen, an denen französische Expert/innen und einige Personen aus betroffenen Familien teilnehmen, benennen ein Kinderarzt und ein Lungenarzt als eines der Behandlungsziele das »Gleichgewicht zwischen einer intensiven Behandlung und einer zufriedenstellenden Lebensqualität […]. Wir haben es mit Kindern zu tun und nicht mit Mukoviszidosepatient/innen«. Des Weiteren sprechen sie davon, »die Hygienevorkehrungen mit einer gleichbleibend hohen Lebensqualität in Übereinstimmung zu bringen«. Der Vater eines Mukoviszidosekindes und leitendes Mitglied eines Betroffenenverbands hebt wiederum hervor, dass »der gemeinsame Kampf allein das Ziel [verfolgt], die Qualität der Behandlung und mittlerweile auch verstärkt die Lebensqualität zu verbessern«. Diese beiden Elemente –eine umfassende Behandlung und eine zufriedenstellende Lebensqualität – stehen in
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diesen Aussagen in einem Spannungsverhältnis zueinander, und es muss eine Möglichkeit der Vermittlung zwischen den beiden Polen gefunden werden. Das angestrebte Gleichgewicht kann sich als sehr komplexes Problem erweisen, wenn sowohl Freizeitaktivitäten als auch Behandlung potenzielle Träger von Nutzen und Gefahren gleichermaßen sind. Das zeigt sich gut an dem Thema Spielzeug, das wiederholt vom medizinischen Personal diskutiert wird. Je nach der konkreten Umwelt, so wird in diesen Diskussionen deutlich, kann Spielzeug einem Kind ein besseres Leben ermöglichen (zu Hause tragen Spielzeuge zu einer hohen ›Lebensqualität‹ bei) oder eine Gefahrenquelle sein (Spielzeuge im Krankenhaus übertragen Krankheitserreger). Bei einer der von mir beobachteten Untersuchungen hält eine Kinderärztin ein Spielzeug hoch und erklärt, dass es sich hier um einen »Träger von Krankheitskeimen« handelt – was manche der gescreenten und kranken Kinder aber nicht davon abhält, im Wartezimmer damit zu spielen. Ebenso kann die Behandlung einerseits als Zwang empfunden werden, der das Kind belastet, und andererseits als der Trumpf, der seinen Gesundheitszustand und damit letztendlich seine Lebensqualität verbessert. Bei der oben erwähnten Tagung äußern sich eine Kinderärztin und ein Pneumologe folgendermaßen: »Die Behandlungsmöglichkeiten haben sich verbessert, und zwar erstaunlicherweise fast gar nicht auf Kosten der Lebensqualität der Kinder. […] Eine angemessene Basishygiene führt zu Lebensqualität, eine verbesserte Behandlungsssituation führt zu einem Mehr an Lebensqualität.« In dieser Sicht löst sich das Spannungsverhältnis zwischen Behandlung und Lebensqualität auf, da die Behandlung die verbesserte Lebensqualität erst ermöglicht. Wie lässt sich diese komplexe Situation zusammenfassen? Mediziner/innen und Eltern sind bisweilen dazu gezwungen, schmerzhafte Entscheidungen zwischen dem biologischen Leben (der Bewahrung des Gesundheitszustands) und bestimmten Aspekten des sozialen Lebens zu treffen (mit anderen Kindern zusammensein, spielen etc.). Aber diese Entscheidungen finden nicht einfach zwischen zwei einander gegenüberstehenden Polen statt: Das biologische Leben hat auf das soziale Leben Negativauswirkungen (täglich zwei Stunden Behandlung bedeuten eine Einschränkung der Freizeit), aber auch positive Wirkungen (dank der Behandlung geht es den Kindern besser, so dass sie überhaupt erst an Freizeitaktivitäten teilnehmen können). Umgekehrt hat das soziale Leben Negativauswirkungen auf das biologische
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Leben (wenn man schwimmen geht, kann man sich eine Infektion zuziehen), beeinflusst es aber auch positiv (Planschen und Schwimmen macht Spaß, und ein Mehr an Lebensfreude wirkt sich positiv auf den Gesundheitszustand aus). Diese Verschränkung zeigt sich dort, wo die sozialen Aktivitäten in das Konzept der ›Lebensqualität‹ mit eingehen, und ebenso an der Tatsache, dass soziale Aktivitäten sich auf die Mukoviszidose auswirken. Im Verständnis des medizinischen Personals findet die Erhaltung der Lebensqualität primär auf der Ebene des biologischen Lebens statt, dessen Bewahrer/innen sie sind; dennoch sehen sie, dass ›Lebensqualität‹ auch bedeutet, Dinge zu unternehmen, zu spielen, zur Schule zu gehen und so weiter. In diesem Verständnis und der entsprechenden klinischen Praxis berücksichtigt das medizinische Personal jene Veränderungen, die von den Instrumenten zur Bemessung der Lebensqualität ausgelöst wurden, wie sie eingangs in diesem Text beschrieben wurden. Gleichzeitig besteht in dieser Perspektive eine stärkere Bezugnahme auf die körperlichen Beschwerden als in Analysen anderer Autor/innen, die die Lebensqualität an »frei schwebenden Symptomen« messen und körperliche Beschwerden außer Acht lassen (Armstrong et al. 2007). Das lässt sich nicht auf den vorliegenden Fall übertragen: Mukoviszidose schreibt sich unübersehbar und brutal in den Körper ein. Ausgehend von dieser Verschränkung zwischen dem Sozialen und dem Körperlichen lassen sich die von Mukoviszidose verursachten Dilemmata und Paradoxa bemessen. So beschreibt die Mutter eines an Mukoviszidose erkrankten Kindes in einem autobiographischen Text ihr Entsetzen während der ersten Atemtherapiesitzungen, zu denen sie ihr Kind begleitet. Sie schreibt: »Die Kinder werden misshandelt, und diese Gewalt ist für sie überlebensnotwendig. Ein schreckliches Paradox!« (Laurent-Seguin 1999: 92) In der Analyse dieses Paradoxons könnte man könnte zweifellos einen Schritt weiter gehen und sagen: »Diese Kinder werden misshandelt, und die Gewalt ist notwendig, damit sie ein gutes Leben führen können.« Und manchmal ist sie auch einfach notwendig für das Leben an sich. Tatsächlich verkomplizieren sich die Probleme der kranken Kinder im Lauf der Jahre häufig. Sie werden sich allmählich darüber bewusst, dass sie an einer chronischen Krankheit leiden, und oft wird die Behandlung zunehmend intensiv und anstrengend. Ihr Gesundheitszustand wird immer stärker zu einer buchstäblichen Angelegenheit um Leben und Tod und konfligiert zunehmend mit ihren sozialen Aktivitä-
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ten (Schulbesuch, Ferien etc.). Im Zeitraum meiner Forschung habe ich unter anderem einen Jugendlichen beobachtet, der beim Husten Magensäure aufstieß und operiert werden musste, so dass er zwei Wochen lang nicht zur Schule gehen konnte. Die Atemfunktionen eines Mädchens waren so schlecht, dass unter Vollnarkose eine Fibroskopie durchgeführt wurde und sie anschließend zwei Wochen lang am Tropf hing. Ein Junge hatte schmerzhafte Verdauungsprobleme und konnte häufig nicht zur Schule gehen, und es mussten eine Darmspiegelung und häufige Einläufe durchgeführt werden. Infolge des chronischen Entzündungszustands der Lungen verringern sich die Behandlungsabstände, und die Krankenhausaufenthalte werden häufiger. Es kommt vor, dass Patient/innen beim Untersuchungsgespräch in Tränen ausbrechen, wenn festgestellt wird, dass eine neue intravenöse oder anderweitig anstrengende Behandlung durchgeführt werden muss. Schlimmer noch: In solchen Momenten manifestiert sich gegenüber allen Beteiligten – den Kindern, den Eltern und den Ärzt/innen – die unumgänglich tragische Dimension der Medizin: Jeder Mensch ist sterblich. Aber das Bild ist nicht durchgängig so düster. Im Gegenteil: Anderen Jugendlichen geht es gut, und es fällt schwer, sich vorzustellen, dass sie krank sind. Sie kommen zu Kontrolluntersuchungen ins Krankenhaus, sind aber durch ihre Krankheit kaum eingeschränkt, und die Erkrankung selber ist kaum sichtbar. Sämtliche Unabsehbarkeiten hinsichtlich der Folgen einer spezifischen genetischen Veränderung (Mutation) bzw. Krankheit, wie sie weiter unten in diesem Text zur Sprache kommen werden, übersetzen sich in Gestalt von Lebens- und Krankheitsaussichten. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage nach dem Wert eines Lebens, in dem die medizinische Behandlung so viel Raum einnimmt – und die Frage an die Familien und Ärzt/innen, was sie im Fall einer weiteren Schwangerschaft konkret tun wollen und sollten.
N EUGEBORENENSCREENING UND P RÄNATALDIAGNOSTIK In der Krankenhausstudie wird ersichtlich, dass an mehreren Stellen Berührungspunkte zwischen Neugeborenenscreening und Pränataldiagnostik bestehen. Vor der Einführung des Screenings konnte es in Familien mit zwei kurz hintereinander geborenen Kindern vorkom-
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men, dass ein zweites krankes Kind zur Welt kam, wenn das erste noch nicht diagnostiziert worden war. Heutzutage ist es durch Neugeborenenscreenings dagegen möglich, das erste Kind sehr frühzeitig zu diagnostizieren und im Fall einer zweiten Schwangerschaft eine Pränataldiagnose vorzuschlagen, um so zu vermeiden, dass mehrere Kinder innerhalb einer Familie von Mukoviszidose betroffen sind. Dies ist zwar nicht das wichtigste, aber dennoch ein gebräuchliches Argument, mit dem bestimmte Kinderärzt/innen und Biolog/innen die Notwendigkeit des Neugeborenenscreenings begründen (Vailly 2004). Wenn die Eltern ein weiteres Kind bekommen möchten, wird ihnen die/der behandelnde Ärzt/in in der Regel dazu raten, sich an eine/n Genetiker/in zu wenden, um eine genetische Beratung und eventuell eine Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Die überwältigende Mehrheit der schwangeren Frauen in Frankreich – mehr als 80 % – entscheidet sich für eine Abtreibung, wenn beim Fötus Mukoviszidose diagnostiziert wird (Biomédecine 2007). Hier zeigt sich ein erster Berührungspunkt zwischen Neugeborenen- und Pränataldiagnostik, der bei Expert/innen und dem medizinischen Personal allerdings so gut wie keine Beachtung findet: Die Pflege und Behandlung eines ersten kranken Kindes kann eine extrem große Belastung für die Patient/innen und ihre Familien bedeuten. Die weiteren Berührungspunkte werden im Folgenden detailliert dargestellt. Als zweiter Berührungspunkt ist die Ausweitung des Konzepts der ›medizinischen Anormalität‹ zu nennen; dieses Phänomen ist auf dem Gebiet der Biomedizin übrigens an vielen Stellen anzutreffen (Vailly 2008). Aus technischen Gründen sind etwa 15 % der betroffenen Neugeborenen eigentlich Träger/innen so genannter Grenzformen, die weder als ›normal‹ noch als tatsächlich ›pathologisch‹ beschrieben werden können. So können sie beispielsweise Mutationen aufweisen, die zu einer klassischen Mukoviszidose, zu einer Beeinträchtigung der Bauchspeicheldrüsenfunktion oder bei Männern zu einer Form der Unfruchtbarkeit führen. Nur aufgrund ihrer Symptome wäre ein Teil von ihnen wahrscheinlich nie oder erst im fortgeschrittenen Alter als mukoviszidosekrank diagnostiziert worden – womit sich die Diagnostik bei der Geburt als eine ›Über-Diagnostik‹ beschreiben lässt. Das setzt sich auch in der klinischen Praxis fort. In der Mehrzahl dieser Fälle werden Kinder, die Grenzformen der Mukoviszidose aufweisen, teilweise umfassend und intensiv behandelt, statt als gesund zu gelten (Vailly 2008). Das heißt, dass die behandelnden Ärzt/innen sich zwar
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über ihre eigene Praxis und über die Konsequenzen der Tatsache Gedanken machen, dass sie ein Kind als Mukoviszidosepatient/in kategorisieren, aber gleichzeitig auch Angst davor haben, eine Mukoviszidose fälschlicherweise auszuschließen. Wie bereits detailliert gezeigt werden konnte, wird in dem Behandlungszentrum, in dem ich meine Forschungen durchgeführt habe, zudem immer dann zu einer Pränataldiagnostik im Fall einer weiteren Schwangerschaft geraten, wenn bei dem Neugeborenenscreening eine Mutation gefunden wird, die entweder wenig geläufig ist oder zumeist einer gutartigen, manchmal aber auch einer klassischen Form der Mukoviszidose zugeschrieben wird (Vailly 2008). Nur dann, wenn Gewissheit darüber besteht, dass das genetische Profil in jedem Fall nur zu einer Form der Unfruchtbarkeit führt, wird keine Pränataldiagnostik durchgeführt, da das medizinische Personal dann davon ausgeht, dass es hier keine medizinischen Gründe für einen Schwangerschaftsabbruch gibt. Wenn bei dem Neugeborenenscreening eine Grenzform der Mukoviszidose festgestellt wird, wird der betroffenen Familie also im Fall einer weiteren Schwangerschaft eine Pränataldiagnostik nahegelegt; an dieser Stelle wird ersichtlich, wie die für die ungeborenen Kinder geltende Norm sich ändert. Bei den Grenzformen wird also ein neuer Berührungspunkt zwischen Neugeborenenscreening und Pränataldiagnostik sichtbar, der in der Ausweitung des Konzepts der Anormalität und in einer Art neuer Norm gründet. ›Heterozygot/innen‹, also Träger/innen einer Mutation, die ihre Krankheit aber nicht ausprägen (bei Mukoviszidose führen erst zwei Mutationen zum Ausbruch der Krankheit), stellen einen weiteren Berührungspunkt dar. Aus technischen Gründen, die an anderer Stelle bereits ausgeführt wurden, werden beim Neugeborenenscreening etwa 2 % aller in Frankreich neugeborenen Heterozygot/innen (also etwa 400-500 Kinder pro Jahr) als solche diagnostiziert (Vailly 2008). Ein bei der Geburt gescreentes Kind, das sich als Heterozygot/in erweist, kann sich als Erwachsene/r auf Wunsch genetisch testen lassen, wenn sie/er selber ein Kind haben möchte. Ebenso werden ihre/seine Verwandten (Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins etc.) dazu angeregt, eine/n Genetiker/in zu konsultieren und bei gegebenem Anlass eventuell eine Pränataldiagnostik durchführen zu lassen. Die (wenn auch sehr eingeschränkte) Möglichkeit, beim Neugeborenenscreening auch Heterozygot/innen zu identifizieren, bietet also auf lange Sicht die Gelegenheit, mehr Pränataldiagnostiken durchzuführen. Manche Me-
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diziner/innen bewerten diese Entwicklung als positiv, da sie es ermöglicht, in der Population eine wachsende Anzahl Heterozygot/innen zu bestimmen, zu immer mehr Pränataldiagnostiken zu raten und so insgesamt krankheitsbedingtes Leiden zu verringern. Häufiger jedoch gilt die Identifizierung von Heterozygot/innen aus mehreren Gründen als problematisch. Dabei steht zunächst die Absicht bzw. der Sinn dieser Praxis zur Debatte: Wenn man eine/n Heterozygot/in screent, so geht es nicht darum, einer kranken Person durch eine ärztliche Behandlung zu helfen, sondern darum, eine genetische Disposition festzustellen, die zu einem pränatalen Test führt. Hier besteht die Gefahr, dass die Handlungsabsicht nicht mehr klar zu erkennen ist und das medizinische Personal nicht mehr für die Behandlung zuständig ist, sondern an einen anderen Schauplatz transferiert wird, dessen genauer Zweck und Zusammenhang mit dem eigentlichen medizinischen Ziel ihnen selbst unklar ist. Zudem verändert sich nicht nur die praxisleitende Norm, sondern auch die Gestalt der Untersuchung der genetischen Disposition der Kinder und der entsprechende juristische Rahmen. So ist qua Gesetz vorgegeben, dass eine solche Untersuchung bei Minderjährigen nur dann medizinisch angewiesen werden darf, wenn dem Kind oder seiner Familie »sofortige Präventions- oder Behandlungsmaßnahmen« zugutekommen. 7 Der heterozygote Säugling wird aber nicht behandelt – er ist ja nicht krank. Daher weisen manche Kinderärzt/innen und Genetiker/innen sehr deutlich darauf hin, dass das Neugeborenenscreening »die Untersuchung der genetischen Disposition von Kindern völlig durcheinandergewirbelt hat«. Zweitens kommt es vor, dass Ärzt/innen und weitere Beteiligte die tatsächliche oder befürchtete Reichweite der von ihnen selber vorgenommenen Handlung problematisieren. Hier ist eine zunehmende Angst vor Massenscreenings und ›Eugenik‹ zu erkennen. In dieser Sichtweise könnte die Bestimmung von Heterozygot/innen direkt nach ihrer Geburt und die Inkenntnissetzung ihrer Eltern dazu führen, dass immer mehr Heterozygot/innen identifiziert werden, auch wenn es zur Zeit noch nicht möglich ist, den tatsächlichen Verbreitungsgrad des entsprechenden Wissens in den Familien einzuschätzen. Diese Beunruhigung wird manchmal dadurch 7 Vgl. den Erlass Nr. 2000-570 vom 23. Juni 2000. Allerdings ist dieses Gesetz äußerst ambivalent, denn das Screening einer/s Heterozygot/in kann, wenn im Anschluss eine genetische Beratung durchgeführt wird, als »Präventionsmaßnahme für die Familie« gelten.
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verstärkt, dass die Anzahl der identifizierten Heterozygot/innen höher eingeschätzt wird, als sie tatsächlich ist. Drittens kann eine Besorgnis darüber entstehen, dass die Konsequenzen des Neugeborenenscreenings noch nicht absehbar sind und auch diejenigen heterozygoten Kinder bestimmt werden können, die eine als zunächst harmlos geltende Mutation aufweisen, aber im Erwachsenenalter eine genetische Beratung verlangen können bzw. sollen. Hier schließt sich auch wieder das Thema der Mutationen bei den Grenzformen der Mukoviszidose an, das weiter oben angesprochen wurde. Diese drei Elemente – die Pränataldiagnostik, um einer Häufung erkrankter Kinder innerhalb einer Familie vorzubeugen, die Grenzformen der Mukoviszidose und die Identifizierung von Heterozygot/innen – sind die ersten wichtigen Berührungspunkte zwischen Neugeborenenscreening und Pränataldiagnostik. Diese drei Punkte spielen auch im Diskurs über ›Risikoschwangerschaften‹ eine Rolle, wenn in einer Familie bereits eine mehr oder weniger schwere Mutation entdeckt wurde. Sie sind einerseits in den technischen Verfahrensweisen des Neugeborenenscreenings verankert und berühren andererseits das, was Mitchell Dean die »ethischen Praxen« nennt: die Absicht der Handlung in einer ethisch geleiteten Perspektive (Dean 1999). So geraten die biomedizinischen Akteur/innen angesichts eines Screenings, das auf eine möglichst frühzeitig ansetzende Behandlung abzielt, manchmal selber ins Straucheln darüber, dass sich ihre Aufmerksamkeit tendenziell von der Behandlung kranker Kinder auf die Behandlung asymptomatischer Kinder oder gar auf die Behandlung von Kindern zukünftig erwachsener Patienten und ihrer Familien verlagert. An dieser Stelle hinterfragt das medizinische Personal durchaus das eigene Handeln; das gilt für die Grenzformen der Mukoviszidose und für den Umgang mit Heterozygot/innen gleichermaßen.
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Ein anderer Aspekt des Zusammenhangs zwischen Neugeborenenscreenings und Pränataldiagnostik zeigt sich in der Tatsache, dass das Screening die Wahrnehmung der Pränataldiagnostik beeinflusst bzw. dass hier Ängste vor einem Massenscreening schwangerer Frauen entstehen. Wie weiter oben im Zusammenhang mit den zitierten Dokumenten bereits angedeutet wurde, besteht die Bewahrung des ›guten
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Lebens‹ mit Hilfe des Neugeborenenscreenings vor allem darin, dass die Krankheit festgestellt und frühzeitig adäquat behandelt wird. Dazu muss man allerdings sagen, dass bereits vor der Einführung des Screenings von Neugeborenen auf Mukoviszidose zwei Drittel der Kinder noch während ihres ersten Lebensjahrs diagnostiziert wurden (WHO 2002). In den Gesprächen erklärten mir die befragten Kliniker/innen, dass der Gesundheitszustand von Patient/innen, die erst im Alter von sechs oder sieben Jahren diagnostiziert wurden und bis dahin nicht adäquat von Spezialist/innen behandelt wurden, bereits relativ schlecht ist. Dieses zeitliche Argument findet sich auch an anderen Punkten wieder. Um diese Punkte gänzlich zu erfassen, sollte man sich ins Bewusstsein rufen, dass der Zeitpunkt eines Schwangerschaftsabbruchs in Frankreich nicht gesetzlich begrenzt ist: Abtreibungen sind quasi bis zum Geburtstermin erlaubt. Ebenso muss man hervorheben, dass die gescreenten Kinder derjenigen Mütter bzw. Eltern, die für meine Studie interviewt wurden, jünger als zwei Jahre sind. Während der Studie erzählten mir die im Behandlungszentrum arbeitenden Mediziner/innen in Gesprächen wiederholt, dass manche Eltern, nachdem ihr Kind positiv gescreent wurde, die Ärzt/innen fragen, warum der Test nicht bereits während der Schwangerschaft durchgeführt wird. Dies scheint nicht nur in dem Behandlungszentrum vorzukommen, in dem ich meine Feldstudie durchgeführt habe. Bei Tagungen und weiteren Gesprächen mit Genetiker/innen aus anderen Gegenden Frankreichs wurden ähnliche Fragen erwähnt. Dem medizinischen Personal zufolge stellen die Eltern den Zusammenhang zwischen Neugeborenen- und und Pränatalscreening auf verschiedene Arten her: in einer in die Vergangenheit weisenden Perspektive (»Warum wurde der Test nicht früher durchgeführt?«); durch ein Nebeneinanderstellen der beiden Screeningtechniken (»Ist das technisch denn möglich?«); durch eine Verklammerung beider Elemente (»Warum testet man nicht früher auf die Krankheit, wenn es doch später auch möglich ist?«). Die Gespräche mit den Müttern bzw. Eltern der gescreenten Kinder bekräftigen übrigens die Aussagen der Mediziner/innen (das gilt für einen wesentlichen Teil der Familien und vor allem für mehr als die Hälfte der Mütter bzw. Eltern der gescreenten und erkrankten Kinder). Hinsichtlich der Methodologie meiner Studie möchte ich darauf hinweisen, dass diese Fragen immer spontan artikuliert wurden, ohne vorherige Verweise meinerseits auf das Pränatalscreening und manchmal sogar ganz zu Beginn des Gesprächs. Bei den Gesprächen
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tritt das Thema der ›Zeit‹ erneut in Erscheinung, wie sich beispielhaft an folgenden Äußerungen zeigt: »Wir haben viel Zeit verloren«, »Man sollte das früher machen«, »Ich weiß nicht, warum wir das nicht früher haben machen lassen« etc. Es scheint insgesamt, dass das Streben nach Frühzeitigkeit, das das Neugeborenenscreening so entscheidend prägt, sich nach ›hinten‹, in den Zeitraum vor der Geburt hin verlängert. Sobald ein Screening aller Föten nahegelegt wird, stellt sich außerdem im gleichen Atemzug die Frage danach, was für ein Leben das Neugeborene lebt bzw. leben wird und wie dieses Leben bewertet wird. Das zeigt sich in den folgenden Formulierungen: »So zu leben, ist schon speziell und schwierig«; »Es ist nicht immer einfach«; »In so einem Leben muss man sich um alles kümmern«; »Als Erwachsene/r wird sie/er es schwerer als andere haben«. Die Mutter eines Kleinkindes fasst zusammen: »Das Kind ist nicht glücklich.« Eine andere Mutter erklärt, sie würde »das« ihrem neugeborenen Kind »nicht zumuten«. Natürlich tritt diese Problematik in einen Konflikt mit der Zuneigung und Liebe, die die Mütter bzw. Eltern für ihr bereits auf die Welt gekommenes Kind empfinden. In den Gesprächen äußern sie wiederholt: »Ich bedaure nicht, dass ich meinen Sohn bekommen habe«, »Jetzt ist er da. Ich liebe ihn, er ist mein Kind«; [auf das kranke Kind zeigend:] »Wenn wir ihn nochmal zeugen müssten, würden wir das tun« etc. Einer der von mir interviewten Väter kann das, was ihm wahrscheinlich als Verneinung der Existenz seiner von ihm mit so viel Hingabe gepflegten Tochter erscheint, nicht artikulieren, und er sagt nur: »Wenn man uns gesagt hätte, dass unser Kind Mukoviszidose hat… Ich weiß nicht…« Schließlich ist es seine Frau, die ihren gemeinsamen Wunsch nach einem flächendeckenden Pränatalscreening zur Sprache bringt. Der Wert des Kindes wird in den Gesprächen manchmal gleichzeitig mit solchen Äußerungen bekräftigt, so etwa von einer Mutter, die es sich im Interview nicht nehmen lässt, über ihren kranken Sohn zu sagen: »Er ist trotzdem ein toller Junge.« Zudem setzen manche der Eltern die Schwierigkeiten, mit denen die kranken Kinder und ihre Eltern zu kämpfen haben, mit ihren soziökonomischen Umständen und der herrschenden Sozialpolitik ins Verhältnis. Hier betonen sie, wie sehr es an materieller Hilfe für Kranke und Behinderte fehlt und wie teuer die Krankheit für die Eltern bzw. für die Gesellschaft ist. Das bedeutet natürlich trotzdem nicht, dass die finanziell am schlechtesten gestellten Familien das Pränatalscreening
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stärker befürworten oder sich häufiger für eine Abtreibung entscheiden. Angesichts der Tatsache, dass das Neugeborenenscreening so stark durch das Streben nach Frühzeitigkeit geprägt ist, kann es nicht erstaunen, dass ein wesentlicher Anteil der Eltern gescreenter Kindern eben dieser Logik folgt und Unverständnis über ein als immer noch zu spät bewertetes Neugeborenenscreening artikuliert. Das wird noch dadurch verstärkt, dass vor allem das medizinische Personal zu Teilen dafür plädiert, Eltern während der Schwangerschaft über Screenings aufzuklären. Wenn die Aufklärung bereits vor der Geburt stattfindet und wenn es technisch möglich zu sein scheint, die Krankheit zu diagnostizieren, warum sollte man dann noch warten? Der Standpunkt der von mir interviewten Mütter ist allerdings dadurch geprägt, dass ihre kranken Kinder bereits zur Welt gekommen sind. Ihre Position ist paradox: Sie kämpfen gegen die Krankheit, lieben zugleich ihr Kind, das diese Krankheit verkörpert, und sollen den Wert seines Lebens bestimmen. So erläutert auch die Anthropologin Gail Landsman (2003), dass die Mütter behinderter Kinder zwischen unterschiedlichen Diskursen navigieren und sich im Mittelpunkt einer paradoxen Situation befinden. Sie äußern gleichzeitig, dass sie ihr Kind so lieben, wie es ist, und dass sie alles in ihrer Macht stehende tun würden, um es zu ändern (die Behinderung ›wegzunehmen‹). Möglicherweise ändern sich die Standpunkte der Mütter im Fall von Mukoviszidose mit dem Aufwachsen des Kindes; das müsste man in einer eigenen Studie untersuchen. Zur Unterstützung dieser Hypothese lässt sich auf Landsmans Feststellung verweisen, dass Mütter, die gerade erfahren haben, dass ihr Kind als behindert diagnostiziert wurde, im Sprechen über ihr Kind zunächst die ›Entwicklungsverzögerung‹ betonen (und damit implizieren, dass diese ›Verzögerung‹ später aufgeholt werden kann); später kreist ihr Diskurs stärker um die ›Behinderung‹ (die nicht ›aufgeholt‹ werden kann). Sobald die Mütter verstehen, dass ihr Kind wahrscheinlich nie der Vorstellung eines ›normalen‹ Kindes entsprechen wird, vollziehen die meisten von ihnen eine Neubewertung der Bedeutung und des Werts der Normalität und entwickeln Kritik an einem Diskurs, der ihre Kinder abwertet. Andererseits muss man betonen, dass die Mütter mukoviszidosekranker Kinder, die im Verlauf der Studie begleitet wurden, eine unter französischen Ärzt/innen seit langem sehr weit verbreitete Logik reproduzieren, in der zwischen der Zeugung
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eines Kindes und dem Danach kein Unterschied besteht. Ab dem 17. Jahrhundert hat sich die ›Kallipädie‹ der Behandlung von Schwangeren und der Geburt ebenso gewidmet wie der Erziehung des Kindes in seinen ersten Lebensjahren (Carol 1995). Am Ende des 19. Jahrhunderts führte die medizinische Erfahrung von Kinderärzt/innen sie über Disziplinen wie die Puerikultur und die Venerologie zunehmend dahin, sich mit den Vorfahren ihrer Patient/innen zu beschäftigen, um bestimmte Krankheitsbilder zu erklären und schließlich auch zu bekämpfen (ebd.). Eine ganze Indizienkette weist darauf hin, dass das Phänomen, den Blick in die Vergangenheit zu richten, nicht neu ist; das schließt daran an, was sich heute im Feld beobachten lässt. Aber was sagen die Mediziner/innen dazu? Während meiner Krankenhausstudie plädierte keine/r der befragten Kinderärzt/innen und Genetiker/innen dafür, dass alle schwangeren Frauen ihre Föten auf Mukoviszidose screenen lassen sollen. Dennoch fragt sich ein Genetiker im Gespräch angesichts der immensen Kosten des Neugeborenenscreenings, »ob es nicht vorteilhafter wäre, schwangere Frauen zu screenen«, fügt aber sofort hinzu, das grenze an Eugenik – »nicht an Eugenik, aber es wäre etwas irritierend, wenn diese ganzen Kinder nicht geboren werden dürften«. Bei einem Beratungsgespräch sagt eben dieser Genetiker beiläufig zu den Eltern: »Wir führen nach der Geburt ein Screening durch; vielleicht wäre ein Screening während der Schwangerschaft besser, aber so läuft es eben.« Prägt das Neugeborenenscreening also auch beim medizinischen Personal die Wahrnehmung des Pränatalscreenings? Das trifft teilweise sicherlich zu (mehr dazu weiter unten). Aber die mögliche Nähe zur Eugenik oder verwandten Konzepten zügelt diese Absichten, ein flächendeckendes pränatales Screening einzuführen. Entsprechend lässt sich diese Position aus moralischen Gründen nur schwer vertreten oder auch nur zur Sprache bringen. Selbst wenn die Beschäftigten im Gesundheitswesen die Geschichte der Eugenik nicht in ihren ganzen Details kennen, so bewegen sie sich doch inmitten eines Kontextes, in dem man sich zumindest zu einem gewissen Grad von der Eugenik distanzieren muss. Die Geschichte der Eugenik in Frankreich ist erhellend, weist sie doch eine doppelte Besonderheit auf: Hier wurde sie vor allem von Ärzt/innen und nicht, wie in anderen Ländern, von Statistiker/innen und Biolog/innen durchgesetzt (Carol 1995). Das erklärt teilweise, warum sie sich in Frankreich nicht sonderlich weit entwickelte. In moralischer Hinsicht befand sich die gnadenloseste
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Eugenik – die Eliminierung der Kranken – im Konflikt mit dem Selbstverständnis und den persönlichen Überzeugungen der Kliniker/innen. Auf der beruflichen Ebene wiederum stand die staatlich gesteuerte Eugenik in einem Widerspruch zu der liberalen Praxis der Ärzt/innen und bedeutete eine Gefährdung ihrer Handlungsfreiheit, ihres Ansehens und ihres Einkommens (ebd.). Die familieninterne bzw. private Eugenik war wenig verbreitet. Im Anschluss an andere Studien, in denen auf die Bedeutung des soziohistorischen Kontextes verwiesen wird, in dem diese Fragen betrachtet werden müssen (Beck/Niewöhner 2009), möchte ich hier herausstellen, dass das Wissen um die historisch gesehen relativ schwache Durchsetzung der Eugenik in Frankreich es teilweise ermöglicht, zu verstehen, in welchem Zusammenhang sie weiterhin ein sensibles Thema bleibt, das einen ganzen Berufsethos prägen kann. Im Gesundheitswesen wird währenddessen eine Form des Pränatalscreenings diskutiert, die nicht bei allen Schwangeren angewendet wird, sich aber auf anderen Wegen verbreitet. Bei dieser Methode werden Mutationen in fötalen Zellen identifiziert, die ab dem Beginn der Schwangerschaft im Blut der Mutter zirkulieren. Dieses Vorgehen, das sich gerade im Versuchsstadium befindet, ermöglicht es, Mutationen am Fötus durch eine einfache Blutentnahme bei schwangeren Frauen aufzudecken und zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine Abtreibung nahezulegen. So schließt sich hier wieder das Thema der Frühzeitigkeit an, da diese Methode auch darauf abzielt, Frauen sehr späte Schwangerschaftsabbrüche zu ersparen. Der traumatische Charakter von Spätabtreibungen wurde von den Genetiker/innen in den Gesprächen stark hervorgehoben. Zudem verringert diese neue Methode das Risiko einer Fehlgeburt, das bei den klassischen Methoden wie bei der Trophoblastenbiopsie oder der Fruchtwasserentnahme immer besteht. Die Genetiker/innen waren sich sicher darüber, dass sich zunehmend mehr Frauen für diese Methode entscheiden werden. Insgesamt lässt sich sagen, dass das Bestreben um Frühzeitigkeit die Pränataldiagnostik prägt, sobald die Schwelle der Geburt überschritten ist, wie es auch in solchen technischen Neuerungen zutagetritt. Die Anthropologin Patricia Kaufert schreibt: »Die Versuchung besteht vor allem für Kliniker/innen darin, die Grenzen kontinuierlich zu verschieben und die Krankheit in immer früheren Stadien zu ›finden‹ (2000: 176). Besser kann man es nicht auf den Punkt bringen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Neugeborenenscreening die Meinungen über ein
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flächendeckendes Pränatalscreening vor allem in den betroffenen Familien und scheinbar punktueller und indirekter bei den Kliniker/innen stark beeinflusst. Dieser Eindruck bestätigte sich in einem weiteren Gespräch. Der letzte Teil der Studie befasst sich nicht mit dem Geschehen im CRCM, sondern mit den landesweiten Entwicklungen. Dazu muss man wissen, dass seit dem Beginn der 1990er Jahre vor allem in Großbritannien und in den USA versuchsweise mehrere Programme lanciert wurden, mit denen ein Screening aller schwangeren Frauen auf Mukoviszidose bei ihrem Fötus eingeführt werden sollte. Ebenfalls zu Beginn der 1990er Jahre wurde im Norden des Departements Finistère (Bretagne) in Frankreich, wo Mukoviszidose vergleichsweise häufig auftritt, ein ähnlicher Versuch gestartet, der darauf abzielen sollte, die Krankheit auszurotten. Aus vor allem technischen und organisatorischen Gründen, die ich hier aus Platzgründen nicht näher ausführen kann, scheiterte dieser Versuch. 2002, kurz nach der Einführung des Neugeborenenscreenings, stellte ein Molekulargenetiker ein Pilotprogramm zur Durchführung eines flächendeckenden Pränatalscreenings vor. Der Adressat des Vorschlags war das CCNE (Comité consultatif national d’éthique; Nationales Beratungskomitee für ethische Fragen), dessen Aufgabe darin besteht, Beratung bei der Lösung ethischer Probleme anzubieten, die im Feld der Biomedizin aufgeworfen werden. Der Genetiker schlug vor, man solle bei allen Schwangeren ein Screening auf die am häufigsten vorkommende Mutation auf jenem Gen durchführen, das Mukoviszidose verursacht. Das Ziel war, heterozygote Frauen zu identifizieren, nachdem sie ihr Einverständnis dazu gegeben haben, und dann den betroffenen zukünftigen Vätern eine Suche nach Mutationen und einen eventuellen pränatalen Test am Fötus vorzuschlagen, wenn beide Eltern heterozygot sind. Bei der Einführung des Screenings bestritt eben jener Molekulargenetiker dessen Effizienz, da das Neugeborenenscreening nur erlaube, ab dem Zeitpunkt der Diagnose ein paar Monate zu gewinnen, an der Behandlung selber aber sozusagen nichts ändere. Im Gespräch präzisiert er: »Wissen Sie, die Zahl der Kinder bei uns im Labor, die als Neugeborene gescreent werden und über die man denkt: ›Dieses Kind… Die Eltern hatten keine Möglichkeit, eine Entscheidung zu treffen‹. … Das ist verstörend.« Um seine Position zu rechtfertigen, fügt er hinzu: »Ich sage Ihnen, ein Muko-Kind, das ist nicht schön.« So ist das Konzept des pränatalen Screenings also in der Folge des Neugeborenenscree-
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nings in Erscheinung getreten, und zwischen beiden besteht ein enger Zusammenhang. Darüber hinaus betont er in seinem Text, in dem er sich für das Pilotprogramm ausspricht, »das Fehlen einer effektiven Behandlung der Mukoviszidose« und die »extrem schwierigen Lebensumstände«. Unter dem Strich geht es hier also darum, das Leben zu bewerten, da die Verbesserung der Behandlung nach Ansicht dieses Genetikers nicht dazu führt, dass die erkrankten Kinder ein gutes Leben führen können. Zudem ist in seinem Text nicht mehr von dem Leben der Patient/innen die Rede, sondern vom Überleben der Kinder nach dem Neugeborenenscreening.
D IE ETHISCHEN ›P RAXEN ‹ Die wichtigsten Entscheidungsträger/innen bei der AFDPHE wenden sich gegen diese Politik eines flächendeckenden Pränatalscreenings. Ihre Argumente finden sich in einem Text, der anlässlich der Anhörung einer dieser Entscheidungsträger/innen vor dem CCNE verfasst wurde. Die Argumente bewegen sich auf mehreren Ebenen: auf der medizinischen (die Krankheit ist nicht ausreichend schwer, um ein solches Vorgehen rechtfertigen zu können, wenn es bereits durch das Neugeborenenscreening abgedeckt ist), auf der technisch-methodischen (der Test ist zu einem zu späten Zeitpunkt der Schwangerschaft vorgesehen, und es ist ein zu hoher Prozentsatz von falsch positiven und falsch negativen Ergebnissen zu erwarten), auf der ökonomischen (das Screening, die Patient/innenaufklärung und die damit einhergehenden Beratungen sind zu teuer) und auf der moralischen Ebene (erstens ist die Abtreibung aller zukünftigen Kranken, um eine Krankheit auszurotten, ein ethisches Problem, und zweitens werden aus technischen Gründen Paare, die das Risiko eingehen, ein krankes Kind zu bekommen, verunsichert, ohne dass es möglich ist, ihnen eine Pränataldiagnostik vorzuschlagen). Diese Argumente decken sich weitgehend mit denen des CCNE, das diesen Vorschlag 2004 ablehnte und seine Ablehnung technisch, organisatorisch, medizinisch, ökonomisch und ethisch begründete (CCNE 2004). Außer den technischen und organisatorischen Aspekten scheint die ethische Dimension das größte Hindernis für die Durchsetzung eines flächendeckenden pränatalen Screenings zu sein. Anders ausgedrückt: Das »Gewöhnungsregime« (Koch/Stemerding 1994) des Neugborenenscreenings, das die Einfüh-
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rung des flächendeckenden Pränatalscreenings in der Folge des Neugeborenenscreenings scheinbar erleichtert, wird durch ein Problem der moralischen Akzeptabilität ausgebremst. Dieses Problem gilt es genauer zu verstehen. Das ethische Argument wird von einem der Verantwortlichen der AFDPHE im Gespräch genauer erläutert. Er stößt sich an der Vorstellung eines flächendeckenden Screenings und an der, wie er sagt, vermeintlichen Entscheidungsfreiheit bei diesem Ansatz: Wenn ein solcher Test jedes Jahr routinemäßig 800.000 Frauen vorgeschlagen wird (das entspricht der Geburtenzahl in Frankreich), ist es für die Einzelne schwierig, ihn abzulehnen. Kurz gesagt, werden die »ethischen Subjekte« (Dean 1999), also diejenigen, die eine Entscheidung treffen sollen, hier in Frage gestellt. Das könnte allerdings gleichermaßen für das Neugeborenenscreening gelten, das aus Gründen, die den Rahmen dieses Artikels sprengen würden, der schriftlichen Zustimmung aller Eltern bedarf. Bei Beobachtungen zeigen sich auch tatsächlich die Grenzen der Konsensproduktion, derer sich auch dieser Interviewpartner bewusst ist (Vailly/Ensellem 2010). Das, worum es in seiner Position geht, rührt eigentlich an eine andere Dimension als an die der Entscheidungsfreiheit. Zur Disposition steht hier das, was als ›systematische Ausrottung‹ gilt: »Hitler hat alle aus dem Weg geräumt, die nicht hochgewachsen und blauäugig waren, und natürlich alle Jüd/innen. Ja – und hier räume ich alle Kinder aus dem Weg, die mit Mukoviszidose zur Welt kommen würden.« Der Vergleich mit der ›Hitlerschen‹ Politik der Eugenik rückt seine Position in die Nähe der Polemik und gibt ihr eine umso deutlichere moralische Dimension. Der direkte Vergleich mit der nationalsozialistischen Bevölkerungspolitik läuft jedoch Gefahr, die Unterschiede zwischen den »ethischen Substanzen« (Dean 1999) aus dem Blick zu verlieren: Im einen Fall geht es um Kinder bzw. Erwachsene, im anderen um Föten. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen also in erster Linie die Mittel, mit denen das Ziel – ein gutes Leben – erreicht werden soll: behandeln versus ›ausrotten/eliminieren. Um diese Position wirklich greifen zu können, muss man einen Umweg über die moralischen Praxen und Grundsätze der AFDPHE machen. Man kann hier vorausschicken, dass die Verantwortlichen des Verbands sich der Pränataldiagnostik nicht prinzipiell in den Weg stellen: Während ihrer beruflichen Laufbahnen haben sie selber als Ausführende zahlreiche Diagnostiken vorgenommen und Tests mit
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ausgearbeitet. Wenn sie Abtreibungen aus anderen denn medizinischen Gründen im Lauf ihres Berufslebens nicht befürworte(te)n – wie auch viele andere Personen im Frankreich der 1970er Jahre –, so heißt das nicht, dass sie medizinisch begründete Abtreibungen ebenfalls ablehn(t)en. Vielen von ihnen waren mit schwierigen familiären Situationen konfrontiert, und sie haben vermutlich ähnliche Entwicklungen durchlaufen wie auch der Rest der Gesellschaft. Und schließlich steht das Konzept der ›perinatalen Prävention‹, das eine Brücke zwischen Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening schlägt, seit der Gründung der AFDPHE im Zentrum ihrer Aktivitäten. »Genetische Beratung, Pränataldiagnostik und Neugeborenenscreening sind die Grundlagen der perinatalen Prävention bestimmter Behinderungen bei Kindern«, schreiben die Angehörigen der Leitungsebene des Verbandes in den 1980er Jahren. Diese Äußerung dürfte Personen, die sich mit Primärprävention (die Verhinderung der Ursachen der Krankheit, also hier der Entwicklung des kranken Fötus), Sekundärprävention (die Vorbeugung gegen die körperlichen Folgen der Krankheit) und Tertiärprävention (die Vermeidung ›sozialer Behinderungen‹ und Komplikationen) auseinandergesetzt haben, gut vertraut sein. Das Hauptziel des Verbandes war zunächst die Perinatalprävention, bis Pränataldiagnostiken im Lauf der 1990er Jahre in die Leistungskataloge der Krankenversicherungen aufgenommen wurden und so nicht mehr in den Zuständigkeitsbereich der AFDPHE fielen. Für den Verband ist der Brückenschlag zwischen Neugeborenen- und Pränataldiagnostik jedoch an bestimmte Umstände gekoppelt, denn das Legitimitätsprinzip der pränatalen Tests ist immer noch an die so genannten Risikoschwangerschaften gebunden, die dann bestehen, wenn die Familie bereits ein krankes Kind hat oder Mutationsträger/innen einschließt oder wenn Ultraschall- oder biochemische Anzeichen auf ein Krankheitsrisiko hindeuten. Im deutschen Diskurs werden pränataldiagnostische Techniken, die pauschal auf Bevölkerungen ausgeweitet werden, ohne an spezifische Krankheitsfälle gebunden zu sein, und die von Anfang an eine genetische Analyse beinhalten, in die Nähe der Eugenik gerückt – ein Begriff, der einen starken inneren Widerstand erzeugt. Auch jenseits der AFDPHE bestätigt ein Blick auf die französischen Statistiken die Geltung dieser Prinzipien. 2006 wurden in Frankreich etwa 650 Pränataldiagnostiken auf Mukoviszidose an Föten durchgeführt, wobei etwa 50 medizinisch indizierte Abtreibungen
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infolge positiver Tests 180 kranken Kindern gegenüberstehen, die zur Welt gebracht wurden. Von diesen Diagnostiken betrifft ein Drittel Paare, in deren Familien bereits Mukoviszidose aufgetreten war, und zwei Drittel betrifft Schwangerschaften bei Paaren ohne familiäre Vorgeschichte, bei denen aber Ultraschallsignale festgestellt wurden (Biomédecine 2007: 226). Eine bretonische Studie verweist auf eine nicht zu vernachlässigende Korrelation zwischen Pränataldiagnostik (mit allen gängigen Methoden) und einer abnehmenden Inzidenz der Mukoviszidose; von Biolog/innen wird sie auf 30 % in einem Zeitraum von zehn Jahren geschätzt (Scotet et al. 2003). Insgesamt gelten diese pränataldiagnostischen Praxen – bei der AFDPHE und anderen Personen und Institutionen – in Frankreich dann als legitim, wenn sie sich in einem Rahmen bewegen, der zwar Auswirkungen auf die Bevölkerung hat, aber dennoch einen gewissen Prozentsatz der kranken Kinder ›durch-‹ bzw. ›zulässt‹. Die ›ethische Praxis‹, also die Absicht der Handlung in einer ethisch geleiteten Perspektive, verknüpft sich im vorliegenden Fall mit dem Problem der Ausweitung der genetischen Praxen mit ›Ausrottungsabsichten‹. Das In-Erscheinung-Treten des ›Individuums‹ oder des ›Falls‹ im Kontext der Pränataldiagnostik passt zu einer Individualisierungsbewegung, die Soziolog/innen, die sich mit Biomedizin befasst haben (Clarke et al. 2003), ebenso bekannt vorkommen dürfte wie Historiker/innen (Turner 2003). Diese Position wird zwar von einer Mehrheit des Gesundheitspersonals vertreten, ist aber längst nicht unumstritten. Tatsächlich setzt sich andererseits auch die Präventionslogik fort, wie beispielsweise in jenem oben erwähnten Vorstoß für ein flächendeckendes Pränatalscreening auf Seiten des Genetikers und bretonischer Kliniker/innen in den 1990er Jahren. In ihrem Weg zurück durch die Zeit bis zur Geburt überschreiten schließlich auch manche Eltern und Ärzt/innen in ihrer Absicht, so früh wie möglich zu intervenieren, die Grenze der Geburt und wenden sich dem Fötus zu. Wenn diese Grenze erst einmal überschritten ist, wird eine Intervention, die so früh wie möglich vorgenommen wird, auch von schwangeren Elternpaaren verteidigt.
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Z USAMMENFASSUNG Eingangs wurde die Hypothese formuliert, dass die Analyse eines guten Lebens im Fall einer Krankheit wie der Mukoviszidose am Schnittpunkt zwischen dem Neugeborenenscreening, den dazugehörigen Behandlungspraxen und der pränatalen Herangehensweise ansetzen kann. »Einer der wesentlichen Züge der modernen Biopolitik (der in unserem Jahrhundert rasen wird) ist die Notwendigkeit, im Leben laufend die Schwelle neu zu ziehen, die das, was drinnen, und das, was draußen ist, verbindet und trennt«, schreibt Giorgio Agamben (2002: 140). Die Geburt mobilisiert zweifelsohne einen Schwelleneffekt: Das kranke Kind wird sehr intensiv medizinisch versorgt, während der Fötus möglicherweise abgetrieben wird, und zwar bisweilen noch zu einem sehr späten Zeitpunkt der Schwangerschaft. Ich möchte hier hervorheben, dass diese Schwelle uns heutzutage zwar selbsterklärend erscheint, die Rechtsanthropologie aber zeigt, dass sie nicht schon immer bestand (Cayla/Thomas 2002). Historisch gesehen war es die Erklärung der Menschenrechte 1789, die das natürliche Leben, die schlichte Tatsache der Geburt, zur Quelle und zum Träger der Menschenrechte bestimmte. Agamben schreibt: »Die Erklärung der Menschenrechte stellt die originäre Figur der Einschreibung des natürlichen Lebens in die juridische und politische Ordnung des Nationalstaats dar. Jenes natürliche nackte Leben, das im Ancien Régime politisch belanglos war und als kreatürliches Leben Gott gehörte und das in der antiken Welt (wenigstens dem Anschein nach) […] klar vom politischen Leben […] abgegrenzt war, wird nun erstrangig in der Struktur des Staates und bildet sogar das irdische Fundament der staatlichen Legitimität und der Souveränität.« (2002: 136)
Kurz gesagt: Geburt, Leben und Rechte fallen mit Beginn dieser historischen Periode in eins und verstärken den Schwelleneffekt. In der Krankenhausstudie zeigt sich jedoch, dass um die Geburt herum ein Spannungsverhältnis besteht. Das liegt erstens daran, dass die Schwelle aus mehreren Gründen uneindeutig ist. Einer dieser Gründe liegt in dem zeitlichen Band, das den Fötus von achteinhalb Monaten und das Neugeborene von einem Monat verbindet; es kommt in eben jenem Moment zur Geltung, in dem das Neugeborenenscreening durchgeführt wird. Dieser Kontinuitätseffekt verstärkt sich noch durch die Ähnlichkeit der Methoden (beim Neugeborenen wie beim Fötus wer-
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den Mutationen gesucht), durch das Konzept der Prävention (das bei pränatalen und postnatalen Herangehensweisen gleichermaßen ins Spiel kommt) und, grundsätzlicher noch, durch das Recht auf Gesundheit (das in beiden Fällen mobilisiert wird). Hinzu kommen außerdem die Pränataldiagnostiken im Fall weiterer Schwangerschaften, die auf das Neugeborenenscreening folgen, das Problem der Grenzformen der Mukoviszidose, die mehreren Hundert Träger/innen, die bei der Geburt identifiziert werden, und die Tendenz, sich in die Vergangenheit hin zu orientieren. Aus all diesen Gründen lässt es sich kaum durchhalten, eine klare Grenze zwischen pränatalen und neonatalen Herangehensweisen zu ziehen, auch wenn sie natürlich von unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen durchgeführt werden und unterschiedliche Interventionsformen darstellen. In beiden Fällen bedeutet die Sicherung eines guten Gesundheitszustands, in einer perinatalen Situation eine schwere Krankheit abzuwenden, und zwar im Zusammenspiel mit Familien, die laut Foucault (2003) seit dem 18. Jahrhundert Nachkommenschaft hervorbringen, aber gleichzeitig auch unter bestmöglichen Bedingungen ein menschliches Wesen erzeugen, das es bis zum Zustand der Reife bringen wird. Rayna Rapp zeigt in ihren Forschungen über Trisomie 21 in den USA all jene Mittel auf, mit denen gleichzeitig versucht wird, die Krankheit vor der Geburt zu diagnostizieren und das kranke Kind nach der Geburt im Hinblick auf die medizinischen Probleme, mit denen es vermutlich konfrontiert sein wird, adäquat zu behandeln. Die Familien stehen unter der Beobachtung von Gynäkolog/innen und Kinderärzt/innen gleichermaßen, da sowohl die Schwangerschaft wie auch das Kind pathologisiert werden. An diesem Punkt zeigt die Studie, dass nicht einfach unterschiedliche Praxen parallel zueinander in Anschlag gebracht werden, sondern dass ein kausales Verhältnis zwischen diesen Praxen besteht. In manchen Situationen laufen Selektionslogiken, in denen immer höhere Anforderungen an die Föten gestellt werden, mit Behandlungslogiken zusammen, die den Patient/innen immer mehr Aufmerksamkeit zukommen lassen. Das Streben nach Gesundheit und die Ausrottung der Krankheit scheinen sich nicht gegenseitig aufzuheben oder zu ergänzen, sondern bestärken sich gegenseitig. Ich möchte hier präzisieren, dass andere Krankheiten unter Umständen so effektiv behandelt werden können, dass die Pränataldiagnostik überflüssig wird – das ist aber nicht besonders häufig der Fall. Wenn Angehörige des Gesundheitswesens bei der
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Diskussion um Mukoviszidose ihren Willen zur Linderung des Leidens geltend machen, um für die Ausrottung der Krankheit zu plädieren, verteidigen sie eine ethische Position, und das ist es im Übrigen, was im absoluten Zentrum der Beobachtungen über das Leben der Patient/innen steht. Die letztendlichen Absichten, die ›ethischen Praktiken‹ bestehen immer in der Vermeidung des Leidens und in der Anteilnahme, aber jenseits dieser von allen Akteur/innen geteilten Werte sind die Mittel bzw. die Formen der ›ethischen Arbeit‹, mit der die Vermeidung des Leidens erreicht werden soll, unterschiedlich und stehen bisweilen im Widerspruch zueinander. Und tatsächlich vertreten andere Mitglieder des Gesundheitswesens eine davon abweichende Position, die den zweiten Schauplatz der oben erwähnten Spannung darstellt. Diese Position findet sich auf der Leitungsebene der AFDPHE (der es wichtig ist, zwischen Neugeborenenscreening und Pränataldiagnostik bzw. -screening zu unterscheiden) und bei Kinderärzt/innen und Genetiker/innen, die mir im Rahmen meiner Krankenhausstudie begegnet sind (und die ihre eigenen Praxen hinterfragen, während sie sie gleichzeitig weiterentwickeln). Wie sich die Anreize dafür gestalten, die eigenen moralischen Verpflichtungen anzuerkennen, ist also abhängig von dem beruflichen Selbstverständnis (die Aufgabe von Mediziner/innen ist es, Patient/innen zu behandeln), den in Anschlag gebrachten Prinzipien (eines der Legitimitätskriterien des Neugeborenenscreenings ist, dass es für das gescreente Kind einen Nutzen hat) und/oder der Gesetzeslage (die französische Gesetzgebung beinhaltet Vorgaben über genetische Tests). Einige Interviewpartner/innen äußerten sich auch fragend zum Thema ›Eugenik‹ bzw. formulierten Anklagen. Ich verwende diesen Begriff in dem vorliegenden Zusammenhang selber nicht, da ich wie auch Nikolas Rose (2007) der Ansicht bin, dass die zeitgenössischen Politiken und Praxen so komplex und neu sind, dass sie ein eigenes Vokabular verdienen. Es geht an dieser Stelle darum, sich im Sinne Michel Foucaults der Gegenwart anzunähern, ohne dabei in »theatralische Deklarationen [zu verfallen], die verkünden, dass die Zeit, in der wir leben, eine Periode des völligen Verderbens ist, ein schwarzer Abgrund oder eine triumphierende Zukunft«, sondern während dieser Annäherung stattdessen zu konstatieren, dass sie »eine Zeit wie jede andere [ist] bzw. vielmehr eine Zeit, die nie ganz so ist wie eine andere« (vgl. Dean 1999: 43). Was meine Feldstudie nahelegt, ist, dass diese Spannung sich in einem Kontext, in dem eine große Sensibilität
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gegenüber gesundheitlichen Fragen besteht, im Einklang mit der Idee der Frühzeitigkeit, die die gesamte gegenwärtige Biomedizin prägt, eher in Richtung der Vergangenheit verschiebt. Ob diese Beobachtung zutrifft, wird die Zukunft zeigen.
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Transplantierte Normalitäten: Messen, Herstellen, Leben K ATRIN A MELANG
Die Organtransplantation gilt heute medizinisch als Routine. Der Austausch und Transfer von Organen eines Körpers in einen anderen wird genutzt, wenn eine fortgeschrittene Erkrankung einzelner Organe vorliegt und so genannte konservative (nicht-chirurgische) Behandlungsverfahren erschöpft sind. Das heißt, bis Transplantierte ein Organ erhalten, haben sie eine schwere, oftmals langwierige Erkrankung hinter sich, die mit der eingeschränkten Funktion oder dem lebensbedrohlichen Versagen eines Organs einherging. Ziel der Organtransplantation ist es, »den Gesundheitszustand« der Patient/innen »wieder zu normalisieren« (Lernsoftware für Transplantierte).1 Geschichten von Organtransplantierten, die in den Medien oder öffentlichen Kampagnen für Organspende präsentiert werden, setzen genau hier an: Sie erzählen gewöhnlich von Menschen, die auf dramatische Weise mit Krankheit und häufig Tod konfrontiert waren, von einer lebensrettenden erfolgreichen Transplantation und wieder erlangter Normalität. Ein typisches 1 Es handelt sich um eine Informations- und Lernsoftware für Lebertransplantierte, die Informationen rund um die Lebertransplantation in Lernmodulen und teilweise anhand kleinerer Videointerviews bzw. Erfahrungen Transplantierter aufbereitet. Die Inhalte wurden von Ärzt/innen des untersuchten Transplantationszentrums sowie einer Firma, die Ausbildungsmaterialen zum Thema Transplantation entwickelt, gestaltet. Finanziert wurde die Software von einem großen Pharmahersteller. Während meiner Forschung bekam ich Zugang zu einer Testversion der Software, konnte aber leider nicht verfolgen wie Patient/innen diese Software nutzen.
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Beispiel ist die folgende Darstellung im Mitgliedermagazin einer Krankenkasse: »X arbeitet als Lehrer, treibt Sport, engagiert sich ehrenamtlich und ist für seine Familie da. Er führt ein ganz normales Leben – was in seinem Fall außergewöhnlich ist. Denn ohne eine Organspende wäre der 44jährige heute tot. […] Im Januar 2006 bekam X eine neue Leber. Und damit ein neues Leben.« (TK Aktuell 2009: 8).
Transplantierte werden in diesen Geschichten als fröhliche, gesunde, wieder arbeitende, manchmal schwangere, häufig sportlich aktive Menschen porträtiert, die dank der Transplantation wieder »ein ganz normales Leben« leben können. Das durch den Organaustausch gerettete, verlängerte oder verbesserte Leben wird dabei als »neues Leben« bezeichnet. Wie dieses ›neue‹ Leben nach einer Organtransplantation genau aussieht und was ›normal‹ hier eigentlich heißt, wird jedoch weniger häufig erzählt und steht daher im Mittelpunkt dieses Artikels. Im medizinischen Bereich würde die Antwort wohl lauten: das, was nicht ›pathologisch‹ ist und wäre damit eine Frage der Abgrenzung. Indem er das sich wandelnde Verhältnis des Normalen zum Pathologischen in der Medizin untersuchte, zeigte der französische Philosoph und Arzt George Canguilhem, dass es sich bei beiden nicht um faktische Gegebenheiten oder Tatsachen handelt, sondern um situationsspezifisch ausgehandelte Werte (Canguilhem 1977). In dieser Kopplung von Beschreibung und Norm bzw. der Möglichkeit mit einem Wort auszudrücken, wie Dinge sind bzw. wie sie sein sollten, liegt für den kanadischen Philosophen und Wissenschaftstheoretiker Ian Hacking die mangelnde Eindeutigkeit wie Magie des Wortes ›normal‹ (Hacking 2004: 163). In seiner historischen Analyse der Entwicklung statistischen Denkens und Argumentierens in Wahrscheinlichkeiten zeigt er, dass im Zuge dessen, das Wort ›normal‹ »one of the most powerful ideological tools of the twentieth century« (ebd.: 169) wurde. Hinsichtlich der Erforschung des ›neuen‹ wie ›normalen‹ Lebens von Organtransplantierten in diesem Artikel ist deshalb genauer zu klären: ›normal‹ für wen, in Bezug auf was und vor allem wie? Transplantierte Normalitäten bzw. Post-Transplantationsalltage werden hier nicht vor einer normativ-ethischen Bewertungsfolie befragt, sondern hinsichtlich ihrer situationsspezifischen Herstellung in Praxis untersucht. Einerseits wird in der, bereits erwähnten, Lernsoftware für Transplantierte, die Transplantationsmedizin im Sinne Canguilhems als
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Technik zur Herstellung des Normalen aufgefasst (Canguilhem 1977: 15). Andererseits wird ihr Heilungspotential im Sinne einer Wiederherstellung früherer Gesundheit eingeschränkt, da Organempfänger/innen mit verschiedenen, mit der Grunderkrankung bzw. der Transplantation zusammenhängenden Krankheiten konfrontiert sein können.2 Aufgrund der immunologischen Einstufung des ›neuen‹ Organs als ›fremd‹ und dem daraus resultierenden Risiko einer Abstoßung des Transplantats, müssen Transplantierte Medikamente einnehmen, die eben diese ›normale‹ Reaktion ihres Immunsystems unterdrücken. Ein ›normaler‹ Alltag basiert nach einer Transplantation also auf immunologischer ›Nicht-Normalität‹. Zudem kann die Einnahme dieser Medikamente, so genannter Immunsuppressiva, zu einer Vielzahl unterschiedlicher, nicht unerheblicher Nebenwirkungen führen und geht daher mit spezifischen Ernährungs- und Hygieneregeln sowie regelmäßigen ärztlichen Kontrollen einher.3 Zusammengefasst, ist das Therapieangebot der Organtransplantation in zweierlei Hinsicht besonders: Erstens nutzt sie menschliche Körperteile therapeutisch, indem tote oder lebende Spender/innen zur Quelle von Leben für andere Personen werden. Diese Seite der Transplantationsmedizin wird nach wie vor öffentlich und wissenschaftlich kontrovers diskutiert: Sie betrifft insbesondere die Verbindung von Hirntod und Organspende und damit die Voraussetzungen bzw. Infrastrukturen, die die therapeutische Nutzung menschlicher Körperteile erst ermöglichen (vgl. Hogle 1999; Lock 2002; Hauser-Schäublin et al. 2001). Zweitens geht eine Transplantation mit einer sehr spezifischen Version von Gesundheit einher (vgl. Crowley-Matoka 2005): Sie ›schenkt Leben‹, produziert aber auch Menschen, die lebenslang auf pharmazeutische Intervention und medizinische Betreuung angewiesen sind. Um diese, im Vergleich zur ersten, eher vernachlässigte Seite der Transplantationsmedizin wird es im Folgenden gehen.
2 Dies können chirurgische Komplikationen oder eine Abstoßungsreaktion sein, das erneute Auftreten der Grunderkrankung (bei Lebertransplantation z.B. Hepatitis-Erkrankungen oder Tumore) oder Folgen der Medikamente, die nach einer Transplantation notwendig sind. 3 Nebenwirkungen können unter anderem erhöhte Infektionsanfälligkeit und Krebsrisiken, Hauterkrankungen, Bluthochdruck, Diabetes, Osteoporose oder Niereninsuffizienz sein.
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Auf der Basis ethnographischer Feldforschung in einer größeren deutschen Lebertransplantationsambulanz, werde ich Post-Transplantations-Alltage und die medizinischen Rahmenbedingungen der Transplantationsnachsorge genauer darstellen.4 Im Mittelpunkt stehen dabei die Praktiken, mittels derer Mediziner/innen und Organempfänger/innen das ›neue‹ Leben bzw. ›transplantierte Normalität‹ herstellen und aufrechterhalten. Den wirksamen Konzepten des ›Normalen‹ in seinen medizinischen wie alltäglichen Facetten folgend, werde ich vier Herstellungsformen ›transplantierter Normalität‹ herausarbeiten: Ausgehend von der Skizzierung des medizinischen Behandlungsregimes nach einer Lebertransplantation werde ich zeigen, wie ›transplantierte Normalität‹, erstens, mittels laborchemischer Messverfahren und statistischer Referenzwerte produziert wird. Die aus diesen Messungen resultierenden Ergebnisse werde ich danach hinsichtlich ihrer klinischen Bearbeitungspraktiken, Handhabungen und Relevanzen analysieren: Die Herstellung ›transplantierter Normalität‹ wird hier, zweitens, auf der Basis klinischer Erfahrung und Expertise etabliert. Nach diesem Fokus auf die Mediziner/innen werde ich zu den Transplantierten wechseln, bleibe aber anfangs bei den medizinischen Methoden und der Frage, was sie ermöglichen, nun aus Sicht der vermessenen Transplantierten. Dabei wird deutlich werden, wie ›transplantierte Normalität‹ drittens, interaktiv im Vertrauensverhältnis zwischen Ärzt/innen und Patient/innen hergestellt wird. 5 Schließlich kommen die Transplantierten zu Wort: Deren eigene Messungen von ›Normalität‹ sowie Einbettung des medizinischen Behandlungsregimes in ihre jeweiligen Alltage zeigt, wie die Produktion ›transplantierter Normalität‹, viertens, in Alltagsarbeit erfolgt. Abschließend werde ich die
4 Die Forschung fand im Kontext meiner aktuell entstehenden Doktorarbeit statt. Das präsentierte empirische Material beruht überwiegend auf Feldnotizen aus teilnehmender Beobachtung und ethnographischen Interviews. Im Rahmen dieses Artikels ist das Material unterschiedlich ausführlich dargestellt und zusammengefasst, wobei direkte Zitate meiner Gesprächspartner/innen kursiv markiert sind. 5 Auch die anderen Herstellungsformen ›transplantierter Normalität‹ sind ›interaktiv‹ finden sie doch immer an der Schnittstelle von Individuum und Kollektiv bzw. im Vokabular der Akteur-Netzwerk-Theorie in netzwerkartigen Zusammenhängen von menschlichen wie nicht-menschlichen Akteur/innen statt. Hinsichtlich der dritten Herstellungsform ›transplantierter Normalität‹, beziehe ich mich mit deren Beschreibung als ›interaktiv‹ auf die konkrete wie spezifische Interaktion zwischen Patient/innen und Ärzt/innen.
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Analyse ›transplantierter Normalitäten‹ zusammenfassen und im Zusammenhang gegenwärtiger Analysen des Gesundheitsbegriffs diskutieren.
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VON
O RGANEN
Der französische Chirurg René Leriche schrieb Anfang des 20. Jahrhunderts: »Gesundheit ist das Leben im Schweigen der Organe« (zit.n. Canguilhem 1977: 58). Dass diesem ›Schweigen‹ nicht ausnahmslos zu trauen ist, wissen heute nicht nur Mediziner/innen. Viele der Lebertransplantierten aus meiner Forschung erfuhren es im Laufe ihrer Krankengeschichte sozusagen am eigenen Leib. Organe oder deren beeinträchtige Funktion merkt, spürt oder fühlt man nicht unbedingt. »Man merkt es ja nicht« ist eine Formulierung, die viele meiner transplantierten Gesprächspartner/innen benutzten, wenn sie über die Wahrnehmung ihres ›neuen‹ oder ›alten‹ Organs, über eine potentielle Abstoßungsreaktion oder allgemeiner über die Grenzen körperlicher Selbst-Beobachtung sprachen. Aus dieser Unzuverlässigkeit resultiert, was die Leiterin der von mir untersuchten Lebertransplantationsambulanz scherzhaft einen »Bund fürs Leben« nannte: Organtransplantierte bleiben ihrem Transplantationszentrum lebenslang verbunden – wenn nicht aus Dankbarkeit, dann für die notwendigen NachsorgeUntersuchungen.6 In diesem Zusammenhang betont eine herztransplantierte Interviewpartnerin die Abhängigkeit von den technisch unterstützten Beobachtungshilfen der Medizin: »Man muss sich ja ständig angucken lassen – weil ich ja nicht in mich reingucken kann!«7 Um ›stumme‹ Abstoßungsreaktionen oder Einschränkungen der Organfunktion zu bemerken und in menschliche Körper ›hineinzuschauen‹, kann die gegenwärtige Medizin auf vielfältige Techniken der Körpervermessung zurückgreifen, die ganz unterschiedliche Arten 6 Ähnliche sprachliche Bilder nutzten Organempfänger/innen, wenn sie angesichts der Häufigkeit ihrer Arztbesuche scherzten, dass sie sich fast wie »Inventar« des Krankenhauses fühlen oder, als ob sie mit dem Krankenhaus oder bestimmten Ärzt/innen »verheiratet« wären. 7 Die Gesprächspartnerin traf ich während meiner Mitarbeit im EU-Projekt »Challenges of Biomedicine« (www.univie.ac.at/virusss/cob). Darin geführte Interviews mit sechs Herz-, Leber- und Nierentransplantierten, dienten mir als exploratives Ausgangsmaterial der Promotionsforschung.
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des Sehens erlauben. In der Transplantationsnachsorge gehören dazu Blut- und Ultraschalluntersuchungen, die Biopsie des Lebergewebes, Röntgen-Thorax, Knochendichtemessung und Elektrokardiogramm (EKG). Diese bilden das Programm der eineinhalb Tage dauernden Check-up-Untersuchung, der sich Lebertransplantierte sechs und zwölf Monate nach der Transplantation und anschließend alle zwei bis drei Jahre unterziehen müssen.8 Zentraler ist in der Transplantationsnachsorge wie im Alltag der Transplantierten jedoch die regelmäßige Blutuntersuchung. Sie findet unmittelbar nach der Transplantation mehrmals täglich, im ersten Vierteljahr nach der stationären Entlassung zweimal wöchentlich, dann einmal wöchentlich und nach einem halben Jahr alle zwei bis drei Wochen statt. Wenn alles gut läuft, also Transplantationsfunktion, Blutwerte und Gesundheitszustand stabil sind, können die Abstände zunehmend verlängert werden. So traf ich Patient/innen, die seit mehreren Jahren transplantiert sind und nur noch viermal im Jahr zur Blutuntersuchung müssen. Vollständig reduzieren können Transplantierte diese Untersuchung jedoch genauso wenig wie ihre Medikamente. Wenn Transplantierte die Blutuntersuchungen unregelmäßig oder unzureichend durchführen lassen, schlägt die Leiterin der Lebertransplantationsambulanz schon mal einen strengeren Ton ihnen gegenüber an: »Wo sie Ihre Werte ermitteln lassen, ist uns egal. Was Ihnen nicht egal sein sollte: Ihre Leberwerte und ihr Prograf-Spiegel [Medikamentenspiegel eines Immunsuppressiva] sind lebenswichtig für Sie als Transplantierte – bis an Ihr Lebensende!« (Telefonat mit einem Patient 2007)
Was aber passiert mit den Ergebnissen dieser lebenswichtigen Vermessungen transplantierter Körper und welche Relevanz haben sie in der Transplantationsnachsorge?
8 Das genaue Intervall beträgt ein halbes Jahr, ein Jahr, drei, fünf, sieben, zehn, 13, 15, 17, 20… Jahre nach der Transplantation. Untersucht wird die Transplantatsfunktion aber z.B. mit der Knochendichtemessung auch mögliche Folgen der langfristigen Einnahme von Immunsuppressiva, z.B. Osteoporose.
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VERLASSEN
In der Transplantationsnachsorge steht das »neue« Organ, insbesondere dessen Funktion klar im Mittelpunkt. Dabei spielt die labormedizinische Analyse des Blutes für Diagnostik und Therapiekontrolle eine wesentliche Rolle: Patient/innen erzählen angesichts der Laborwerte und guten Funktion ihres Transplantats häufig, dass sie eine »starke« oder »gute Leber« bekommen haben oder, dass »lebermäßig alles bestens« sei. Typische Sätze der Ärzt/innen gegenüber ihren Patient/innen sind mit Blick auf die Laborwerte wiederum: »Die Leber macht hervorragende Arbeit« oder »Ihre Leberwerte sind toll«. Geht es um die Leber, geht es immer auch um Zahlen (Feldnotizen 2007).
Zahlen bzw. Laborwerte nehmen in der untersuchten Lebertransplantationsambulanz eine prominente Stellung ein: etliche der dortigen Arbeitsvorgänge sind direkt oder indirekt mit ihnen verbunden. Die Blutuntersuchung gehört zum Standardrepertoire der Medizin und beruht auf Praktiken, die Körper labortechnisch vermessen, analysieren und dabei qualitative physiologische Zustände in Zahlen übersetzen, also quantifizieren. Die Transformationskette beginnt mit der Gewinnung des Rohmaterials, das im Labor in Zahlen umgewandelt werden soll – mit der Blutabnahme. Transplantierte begeben sich hierzu entweder zu ihrem Hausarzt oder in die Lebertransplantationsambulanz. Was im Labor vermessen bzw. analysiert wird, ist der Spiegel bzw. die Stoffmengenkonzentration der Immunsuppressiva im Blut und die Leberwerte, das heißt die Konzentration des im Blut nachweisbaren Stoffwechselproduktes Bilirubin sowie diverse Enzymaktivitäten, die die Tätigkeiten bzw. Schädigung der Leber anzeigen.9 Im Labor wird organisches Material, hier Blut, zu Blutbestandteilen, zu Messwerten. Die Messwerte verlassen das Labor in Form einer Auflistung, die für den ungeübten Blick nichts als Zahlen enthält. In die Lebertransplantationsambulanz gelangen sie meist per Fax und sind dort Auslöser für verschiedene Bearbeitungspraktiken. Als erstes werden sie von den Krankenschwestern in die so genannte Kurve übertragen. Mein
9 Zudem werden Nierenwerte, Blutzellen, Blutzuckerspiegel und der Salzgehalt des Blutes ermittelt.
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Erstaunen war groß, als sich herausstellte, dass »die Kurve«, das zentralste Artefakt im Arbeitsalltag der Ambulanz gar keine Kurvenform aufweist: Stattdessen wird mir eine Tabelle voller Zahlen gezeigt, die gerade die versprochene Übersichtlichkeit einer Kurve vermissen lässt. In den Tabellenfeldern dieses Kurvenblattes, das sich auf der ersten Seite jeder Patient/innen-Akte befindet, werden Körper fein säuberlich in ihre Stoffwechselprodukte und Blutbestandteile zerlegt, deren Menge und Aktivität wiederum in Zahlen ausgedrückt wird. Kurvenfähig werden die Zahlen jedoch erst in ihrer zeitlichen Anhäufung bzw. zeilenbezogenen Reihung. Sind die Messwerte aus dem Fax in die jeweilige »Kurve« bzw. Tabelle übertragen, wechselt das mit den Zahlen hantierende Personal – von den Krankenschwestern zu den Ärzt/innen. Erst jetzt werden die Zahlen aus dem Labor für die zwei Ärzt/innen der Ambulanz sichtbar und zum Gegenstand der nächsten Bearbeitungspraktik. Die Sichtbarkeit der Werte bezieht sich hier zum einen auf die ambulanzinterne Arbeitsteilung. Zu welchem Zeitpunkt und Arbeitsschritt sind Messwerte Bearbeitungsaufgabe für wen. Zum anderen ermöglicht die Visualisierung der Werte in der Tabelle, dass Ärzt/innen Messwerte schnell einsehen und lesen können. Die Bedeutung dieser spezifischen Formatierung wird deutlich, als mir eine Ärztin den Ausdruck eines Laborbefundes zeigt: "Schau, nur Zahlenkolonnen, da fehlen die Striche [als Abgrenzung] zwischen den Zahlen, das ist viel schwieriger zu lesen." (Feldnotizen 2008) Zur Deutung der Messwerte lassen die Ärzt/innen ihre Finger, einen Kugelschreiber als Verlängerung nutzend, über die verschiedenen Zeilen und Spalten der Tabelle gleiten, gleichen parallel die vermerkten Messwerte mit dem jeweiligen Referenzbereich ab und vergleichen einzelne Messwerte untereinander.10 Eventuell werden einzelne Werte als bedenkenswert markiert oder untereinander diskutiert. Auf Grundlage der medizinischen Unterscheidung zwischen ›normal‹ und ›pathologisch‹, sind die 10 Wurde das Blut in der Ambulanz abgenommen und demzufolge im Labor der Klinik analysiert, sind die Messwerte auch über das Computersystem der Klinik einsehbar. Dort lässt sich die Entwicklung einzelner Werte per Mausklick graphisch als Kurve darstellen. Diese Funktion wird jedoch selten genutzt. Zum einen, weil viele Patient/innen von externen Laboren betreut werden und generell die Papierversion der Patient/innen-Akte in der Ambulanz aktuell noch einen wichtigeren Stellenwert als die digitale Version hat. Zum anderen findet die komplexe Praxis der Interpretation überwiegend im Kopf der Ärzt/innen statt.
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Werte »gut« oder »problematisch«, »hoch« oder »niedrig«. Orientierung geben die als Vergleichsschablone dienenden Referenzbereiche, die Auskunft über den statistischen, als ›normal‹ geltenden Schwankungsbereich der jeweiligen Messwerte bei als ›gesund‹ geltenden Personen geben (sowie indirekt darauf verweisen wie gemessen wurde). Die Referenzwerte repräsentieren somit eine deskriptive Norm, die sich immer relativ zu einer spezifischen Population verhält: Individuelle Körper werden hier also vor der Folie kollektiver Körperdaten bzw. statistischer Bevölkerungsdaten interpretiert (vgl. Foucault 2002; 1999). Im Labor produzierte Aussagen ›transplantierter Normalität‹ werden beim Verlassen des Labors bzw. ihrer Anwendung im klinischen Kontext der Ambulanz verarbeitet und verändert. Einen weiteren wichtigen Referenzpunkt bildet zum Beispiel das Transplantationsdatum, da zum Erfahrungswissen der Ärzt/innen gehört, dass Leberwerte die erste Zeit nach einer Transplantation »höher als normal« sind, erst nach und nach sinken sowie sich insgesamt erst nach einer Weile »einpegeln« und »normalisieren.«.11 Laborchemische ›Fakten‹ wie Referenzwerte werden also mit klinischen Erfahrungswerten konfrontiert und damit ›transplantierte Normalität‹ auf einer erweiterten Bemessungsgrundlage hervorgebracht. Bevor ich dies im nächsten Abschnitt genauer zeige, noch einmal kurz zur erwähnten ›Kurve‹, die die Vermessung und Produktion ›transplantierter Normalität‹ an der Schnittstelle zwischen Labor und Klinik markiert. Insgesamt dient das Kurvenblatt der Erfassung und Visualisierung der relevanten Laborwerte und verdichtet das labortechnisch erzeugte Mess- bzw. Körperwissen. Erst in ihrer Zusammenschau über die verschiedenen Tabellenfelder (Zeitpunkte und Messwerte) hinweg, entfalten die Zahlen ihre Aussagekraft – das Auf und Ab der Leberwerte. Das Kurvenblatt ist hier einerseits das Instrument, an dem sich Organfunktion und Abstoßungsreaktion ›ablesen‹ lassen, andererseits ist es Ergebnis historisch formierter Wissensordnungen und -praktiken. Erst durch die Vergleichs- und Deutungspraktiken fügen sich die Zahlen zu einem Bild. Die Kurve, die in der Praxis des Lesens und Deu-
11 Dass Untersuchungstechniken, die auf unterschiedlichen Wissensformen basieren, jeweils eigene Definitionen des Normalen produzieren, zeigt die französische Sozialanthropologin und Biologin Joëlle Vailly am Beispiel von Neugeborenen-Screenings (Vailly 2008). Zum Vergleich und Zusammentreffen von Wissensformen/-praktiken in Labor und Klinik siehe auch Struhkamp et al. 2009; Keating/Cambrosio 2003, Langstrup/Winthereik (2010).
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tens der Messwerte als inneres Bild entsteht, ist zwar eine vorgestellte, hat als Visualisierungspraktik im Krankenhaus aber Tradition. Der deutsche Medizinhistoriker Volker Hess verweist in seiner Geschichte des Fiebermessens darauf, dass die aus heutiger Perspektive selbstverständlich erscheinende Repräsentation der zeitlichen Entwicklung physiologischer Messwerte in der Form einer Kurve erst seit dem 19. Jahrhundert zur üblichen Abbildungspraxis wurde (Hess 2000: 12425). Die aus der graphischen Methode entstehende Fieberkurve wird, wie Hess weiter zeigt, am Ende des 19. Jahrhunderts zur zentralen Dokumentationsform der Krankengeschichte: Sie visualisiert nicht nur, sondern wird zum zentralen Informations- und Koordinationssystem im Krankenhaus (ebd: 231-33). Mit ihrer Visualisierungs- und Organisationsfunktion kann »die Kurve« der von mir untersuchten Lebertransplantationsambulanz als eine modernisierte, situationsspezifisch für den Kontext der Ambulanz abgewandelte Version der, auf den Krankenhausstationen nach wie vor präsenten, Fieberkurve verstanden werden. Was aber ermöglichen die Zahlen und Kurven den Ärzt/innen für ihre Behandlungspraxis?
G EZÄHMTE I MMUNSYSTEME Die Interpretation der Messwerte, ihre Rückübersetzung auf körperliches Wohlbefinden, dient der Einordnung ihrer Handlungsrelevanz. Handlungsrelevant werden Laborwerte, wenn sie als sehr gut oder eher kritisch eingestuft werden. In beiden Fällen rufen die Ärzt/innen die jeweiligen Patient/innen an: Entweder bestellen sie Transplantierte für weitere Tests ein – im Falle hoher Leberwerte und einer daher vermuteten Abstoßung für eine pathologische Untersuchung des Lebergewebes (Leberbiopsie) – oder, was häufiger der Fall ist, sie korrigieren die Dosis der immunsuppressiven Medikamente. Telefonate mit Transplantierten gehören in der Lebertransplantationsambulanz, neben direkten Gesprächen, zu den typischen Kontakten von Ärzt/innen. Zahlen werden ein weiteres Mal verarbeitet, indem sie Patient/innen kommuniziert werden. Zwar werden den Patient/innen auch Zahlen mitgeteilt, häufiger jedoch werden die in Messwerten quantifizierten Körperzustände wieder qualitativ: Die Leberwerte »eiern«, sind »hervorragend« oder »besorgniserregend«, der Medikamentenspiegel »zackelt« oder ist »schön regelmäßig«, die Synthese ist »gut« und die Leber »top«. Wurde der Körper
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vermessen, um ihn im Labor zur Zahl transformieren und damit für Medizin handhabbar machen zu können, wird diese Quantifizierung in der Bewertung der Zahlen gegenüber den Patient/innen wieder aufgehoben. Am Ende der ärztlichen Zahlenverarbeitung werden die Messwerte schließlich in eine Tablettenzahl übersetzt. Angesichts der vielfältigen Nebenwirkungen der für Transplantierte lebensnotwendigen Medikamente, ist es ein wesentliches Ziel der Ärzt/innen der Lebertransplantationsambulanz, die anfangs notwendig hohe Dosierung der Immunsuppressiva schrittweise so weit wie möglich zu reduzieren. Gerade Tacrolimus, das 'Mittel der Wahl' nach einer Lebertransplantation, das die Aktivität der immunologisch wichtigen T-Zellen hemmt, wirkt nicht nur positiv im Sinne einer Abstoßungsunterdrückung, sondern auch nierentoxisch und kann langfristig zur einer eingeschränkten Nierenfunktion führen. Die Herausforderung der Transplantations-nachsorge besteht daher laut einer Ärztin darin, die »am geringsten nötige Erhaltungsdosis« zu finden und damit das »delikate Gleichgewicht« zwischen »zu starkem und zu schwachem Immunsystem« zwischen Abstoßungsgefahr und erhöhtem Infektionsund Nebenwirkungsrisiko, zwischen Nutzen und Schaden der Medikamente. In den Worten eines Ratgebers für Transplantierte ausgedrückt: Das Immunsystem muss »teilweise gezähmt oder besser gesagt geleitet werden« (Markus/Markus 2002: 56).12 Im medizinisch kontrollierten Balancieren von Organfunktion (Leberwerte) und Immunsuppression (Medikamentenspiegel), suggerieren die in Zahlen ausgedrückten Laborergebnisse Messgenauigkeit und Manipulierbarkeit: Leberwert als Signal im Informationssystem Körper, Medikament als Antwort. Gleichzeitig betonten die Ärtz/innen mir gegenüber, dass diese Eingriffe ins Immunsystem immer auch ein Ausprobieren seien – wenn auch mit einer gewissen Erfahrung des Experimentierens. Wenn es um Immunsuppression geht, ist ›Erfahrung‹ ein zentraler Bezugspunkt in den klinischen Praktiken in der Lebertransplantationsambulanz, gerade in der Einschätzung, dessen, was mit Blick auf die Laborergebnisse normal ist und keines Eingriffs bedarf oder was problematisch und damit handlungsrelevant ist. Medikamente werden 12 Die Leber gilt im Vergleich zu anderen Organen als immunologisch robuster und weniger anfällig. Das Abstoßungsrisiko wird für Lebertransplantierte deshalb etwas weniger kritisch eingeschätzt. Warum das so ist, weiß man bisher nicht genau. Trotzdem bleiben Lebertransplantierte auf Medikamente angewiesen, die Immunsystem bzw. Abstoßungsreaktion unterdrücken.
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unterschiedlich im Stoffwechsel umgesetzt, das heißt, dass jeder Mensch unterschiedliche Mengen des Medikamentes über den Stoffwechsel aufnimmt und verbraucht.13 Der Medikamenten-Spiegel ist also, genauso wie die Wirksamkeit eines Medikaments oder daraus resultierende Nebenwirkungen, individuell spezifisch. Um den Blutspiegel des Medikaments betreffend seiner Höhe einzuschätzen und davon abgeleitet zu entscheiden, wie viel Immunsuppression nötig, aber auch wie wenig möglich ist, gibt es daher keine labortechnischen Referenzbereiche, die als versichernde Vergleichsfolie ›des Normalen‹ dienen könnten. Stattdessen gibt es klinische Erfahrungswerte, die sich aus der langjährigen Kenntnis einer Vielzahl transplantierter Patient/innen sowie deren Einbindung in klinischen Studien speisen. So erzählten Ärzt/innen, die schon seit den 1980ern im Transplantationsbereich tätig sind, dass Transplantierte früher »viel zu hoch« dosiert waren, einfach aus dem Grund, dass man Angst hatte etwas falsch zu machen (d.h. eine Abstoßung zu riskieren) und insgesamt noch nicht so viel Erfahrung mit der Immunsuppression besaß wie heute.14 Aber auch diese Erfahrung wird letztlich über die begleitenden Medikamentenstudien auf eine oder mehrere Zahlen gebracht, die Anhaltspunkte zu Medikamentendosis und Blutspiegelbereichen im Verhältnis zu bestimmten Zeitpunkten nach der Transplantation geben. Nur was messbar und im Sinne quantifizierter, diskreter Einheiten vergleichbar ist, lässt in diesem spezifischen Wissenskontext Objekte bzw. Zahlen entstehen (vgl. Poovey 1998: 242-48) und macht damit Körper, Immunsystem bzw. physiologische Zustände für die medizinische Praxis sichtbar, behandelbar und zu einem gewissen Grad kontrollierbar. Die medizinisch-pharmakologische ›Zähmung‹ des Immunsystems hängt jedoch nicht nur von der kontinuierlichen ärztlichen Kontrolle, sondern auch von der Therapietreue der Patient/innen ab (vgl. 13 Der Blutspiegel des Medikaments wird kurz vor der erneuten Einnahme der nächsten Dosis gemessen. Der so ermittelte Talspiegel gilt als Bezugsgröße zur Einschätzung von Medikamentenspiegeln. 14 Die Erfolgsgeschichte der Transplantationsmedizin ist eng mit der pharmazeutischen Entwicklung von Immunsuppressiva verbunden. Vorher überlebten Organempfänger/innen aufgrund der Immunreaktion nur kurze Zeit. Mit dem neuen Immunsuppressiva Ciclosporin verbesserten sich die Transplantatsüberlebenszeiten in den 1980ern und die Transplantationsmedizin verlor ihren experimentellen Status. Aufgrund ihrer Nebenwirkungen bleibt die Immunsuppression weiterhin ein wichtiges Forschungsfeld klinischer Studien im Transplantationsbereich.
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Cook/McCarthy 2007). Transplantierte sind dazu angehalten, ihre Tabletten regelmäßig und möglichst zu einer festen Zeit zu nehmen, ihrem geschwächten Immunsystem und ›neuen‹ Organ mit einem entsprechenden (das heißt für Leber und Immunsystem wenig riskanten) Lebensstil zu begegnen oder in einem bestimmten Zustand zur Blutentnahme zu erscheinen, nämlich ohne die übliche, morgendliche Einnahme der Immunsuppressiva. Interessant ist, bezogen auf die medizinischen Messverfahren, das Verhältnis der Einhaltung dieser Behandlungsregeln und der ›Körper kontrollierenden‹ Zahlen: Laborwerte können zwar bisweilen über die Therapietreue der Transplantierten Auskunft geben, umgekehrt durch diese aber auch verzerrt werden. So kam es im Alltag der Lebertransplantationsambulanz immer wieder vor, dass Ärzt/innen einen sehr hohen Medikamentenspiegel als fragwürdig einstuften und daraufhin betreffende Patient/innen fragten, ob sie vielleicht doch qua Gewohnheit die Tabletten vor der Blutabnahme nahmen (was meistens bejaht wurde). Die Zahl wird als ›zu hoch‹ bewertet, als ›Messfehler‹, der mit der Rückfrage an die Patient/innen geklärt werden kann. Auch zu hohe Leberwerte können unterschiedliche Ursachen haben: Einerseits verweisen sie auf eine eingeschränkte Transplantatsfunktion, andererseits können sie zum Beispiel aufgrund von Alkoholkonsum erhöht sein. Gerade bei vom Ambulanzpersonal als »auffällig« eingestuften Personen, insbesondere solchen, deren Lebererkrankung auf Alkoholmissbrauch beruhte, wird angesichts schwankender Leberwerte, ohne dass die Medikation verändert wurde, schon mal Therapieuntreue hinsichtlich des Alkoholverbots vermutet und genauer nachgefragt. Kurz: Messwerte drücken aus, dass die Leber nicht einwandfrei funktioniert, nicht aber warum dem so ist. Kontrolliert wird mittels der Leberwerte nicht nur die Transplantationsfunktion, sondern auch das ›Umfeld‹ des Organs, der Patient/innen-Körper in einem sehr weiten Sinne: das Immunsystem, was daran gehindert werden muss, das Transplantat abzustoßen, genauso wie das für die Leber mehr oder weniger gefährliche Verhalten der Patient/innen. Das zuvor ausführlicher behandelte Kurvenblatt stellt dabei das Herzstück medizinischer Überwachung transplantierter, immunologisch unterdrückter Körper dar. Insgesamt haben die Messwerte eine kontrollierende Funktion in der Therapieüberprüfung – bezogen auf das Handeln der Ärzt/innen wie der Patient/innen. An dieser Stelle werde ich innerhalb meines Feldes die Position wechseln, weg von den Schreibtischen der Ärzt/innen, hin zu den Transplantier-
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ten im Wartezimmer der Ambulanz. Was ermöglichen die Zahlen den untersuchten Patient/innen und welche Relevanz haben sie für sie?
B ERUHIGENDE Z AHLEN Bisher habe ich die labortechnische Blutuntersuchung als eine spezifische Variante, Körper zu vermessen und in diese ›hineinzuschauen‹, beschrieben. Das dieses ›Anschauen‹ im Sinne des »klinischen/ärztlichen Blickes« eine sehr spezifische Art des Sehens, Vermessens und damit »Wahrheit-Produzierens« ist, darauf hat Michel Foucault in seinem Buch »Die Geburt der Klinik« hingewiesen (Foucault 2002). Da für die Transplantierten Körper- und Krankheitserleben eher aus subjektiven, als messbaren Größen hervorgeht und ihre Selbst-Beobachtung einer Abstoßungsreaktion oder eingeschränkten Organfunktion unzureichend ist, sind sie von den Mitteln medizinischtechnischer Fremdbeobachtung sowie deren spezifischen Logiken abhängig. Umgekehrt, sind es die Logiken des medizinischen Wissenssystems, die Ärzt/innen dazu veranlassen, sich nicht auf die unsicheren Beschreibungen ihrer Patient/innen zu verlassen. Patient/innen ›beherrschen‹ die medizinischen Beobachtungsmittel zwar nicht, ausgeliefert fühlen sich meine Gesprächspartner/innen der quantifizierenden Fremdbeobachtung aber auch nicht. Neben der ordnungsgemäßen Einnahme der Immunsuppressiva, gehört die regelmäßige Kontrolle der Blutwerte – laut der bereits zitierten Lernsoftware für Lebertransplantierte – zur »besten Waffe« der Patient/innen »gegen unbemerkte Abstoßungen«. Die Blutuntersuchungen werden von Transplantierten zwar manchmal als »lästiges aber notwendiges Übel« empfunden, trotzdem sind sie für die meisten meiner Gesprächspartner/innen nicht der Rede wert: Die Blutwertekontrolle gehöre einfach zum Post-Transplantationsalltag dazu. Eine seit drei Jahren lebertransplantierte Frau sagt in diesem Zusammenhang, »die Regelmäßigkeit habe sie im Blut«. Mit diesem sprachlichen Bild verweist sie auf die zur Gewohnheit gewordene Wiederkehr der Untersuchung. Indirekt wird mit diesem Bild aber auch angesprochen, was im Labor getestet wird: die im Vergleich zu einer Norm vermessene Regelmäßigkeit des Blutes selbst. Viele der Transplantierten, die ich während meiner Forschung traf, jonglierten während unserer Gespräche kompetent und selbstbewusst
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mit den Ergebnissen medizinischer Körpervermessung. In Bezug auf die vielen Laborwerte berichtet zum Beispiel ein 65jähriger Lebertransplantierter, dass er sich, seit bei ihm eine Leberzirrhose diagnostiziert wurde, »ziemlich da reingearbeitet« habe.15 Wie vielen meiner Gesprächspartner/innen, waren ihm die Leberwerte bereits aus der Zeit vor seiner Transplantation bekannt, in jener Zeit um Auskunft darüber zugeben, wie gut die Leberfunktion noch oder wie schlecht sie bereits ist. Er besorgte sich sogar einen kleinen Ratgeber, der diverse Parameter der Labormedizin erläutert. Zudem verweist er darauf, dass die Referenzwerte im Laborbericht immer mit angegeben und im Falle eines erhöhten Wertes mit einem Pluszeichen versehen sind: Da könne man das dann »selbst sehen« und hat den Vergleich zu vorherigen Laborberichten – die bei ihm, wie bei vielen anderen auch, säuberlich in einem Ordner abgeheftet sind. Schließlich sei es wichtig, sich mit den Werten zu beschäftigen, »dass man auch selbst sieht, was da los ist und nicht immer erst die Berichte der Professoren und Doktoren abwartet«. Laborwerte ermöglichen Patient/innen selbst ›zu sehen‹, wie es um ihre Leber gerade steht. Allerdings sind dieser Zahlenkenntnis, die eine gewisse Unabhängigkeit von Ärzt/innen verspricht, Grenzen gesetzt. So berichtet der Gesprächspartner weiter vom »Muffensausen«, das er angesichts eines erhöhten Wertes hatte. Dass ›pathologische‹ Werte nicht zwangsläufig »Alarmzeichen« sein müssen, habe er inzwischen gelernt: So manches Mal konnten Ärzt/innen ihn beruhigen, dass einzelne Ausreißer durchaus normal sind, da sie in der Gesamtentwicklung eines Wertes nur eine Momentaufnahme darstellen, dass ein einzelner Wert noch nicht viel aussagt, sondern eher im Zusammenspiel verschiedener, korrespondierender Werte interpretiert wird, und dass Werte aus verschiedenen Gründen erhöht sein können. Auch wenn Patient/innen lernen, welche Zahlen ›gut‹ sind und welche nicht, bleibt die endgültige Deutungshoheit bei den Ärzt/innen, geht ihr klinisches Erfahrungswissen doch über das statistische Messwissen 15 Eine Leberzirrhose entwickelt sich oft über Jahre hinweg und stellt das irreversible Endstadium einer Lebererkrankung dar. Sie resultiert aus der gestörten Regeneration und Vernarbung von Lebergewebe, in dessen Folge es zu Durchblutungsstörungen der Leber kommt. In Europa tritt sie am häufigsten aufgrund von Alkoholmissbrauch und Hepatitisviren auf, bei diesem Patienten als Folge einer Stoffwechselerkrankung. Den Patienten lernte ich kurz nach seiner Transplantation kennen. Später begegnete er mir in Form seiner ›Kurve‹ in der Ambulanz. Ein Jahr nach seiner Transplantation besuchte ich ihn für ein ausführliches Gespräch zu Hause.
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der Labormedizin hinaus. ›Transplantierte Normalität‹ wird hier ebenfalls aufgrund von Erfahrungswerten etabliert, darüber hinaus aber auch in der konkreten Interaktion zwischen Ärzt/innen und Patient/innen. Generell finden alle meine Gesprächspartner/innen die wiederholten Blutuntersuchungen »beruhigend« und bescheinigen den Messwerten eine kontrollierende Wirkung: wird Krankheit doch oft als Kontrollverlust von Körper erlebt. Nicht für alle von ihnen sind die Laborwerte jedoch von so starkem Interesse wie für den gerade vorgestellten Patienten. So erzählte eine ebenfalls seit einem Jahr Transplantierte, dass sie die Laborauszüge nur in der ersten Zeit nach der Transplantation las, aber schnell dazu überging sich auf die Ambulanz zu verlassen: »Denn ich will mich da auch nicht unnötig nervös machen, wenn mal ein Wert ein bisschen absackt«. Wenn Werte nicht in Ordnung waren, wurde sie von den Ärzt/innen angerufen und die Dosis ihrer Medikamente verändert. Dass es ihr mit der ›neuen‹ Leber sehr gut geht, begründet sie unter anderem damit, dass sie inzwischen weniger Tabletten nehmen muss. Die Labormesswerte und die von ihnen abgeleitete Anzahl der Tabletten, stellen für die Transplantierten neues Selbst-Wissen bereit, das Anhaltspunkte für ihr Körperverständnis und Wohlbefinden nach der Transplantation liefert: Bemerken doch die Messwerte, was sie nicht merken können. In Anlehnung an die Analyse des US-amerikanischen Wissenschaftshistorikers Theodore Porter, der ein ›Vertrauen in Zahlen‹ und Quantifizierungen als wesentliches Merkmal moderner Gesellschaften beschreibt, werden Ergebnisse quantifizierender Körpervermessung hier mit Objektivität und intersubjektiver Wissensproduktion in Zusammenhang gebracht (Porter 1995). Hinzu kommt das Vertrauen der Patient/innen ins Ambulanzpersonal und ins medizinische System. Die Produktion von Normalität erfolgt daher, wie schon angemerkt, interaktiv bzw. im Dialog. Trotzdem verweisen einige der von mir befragten Transplantierten auf die Grenzen medizinischer Beobachtung und Quantifizierung: Nicht alle Modi körperlichen Wohlbefindens können ›objektiv‹ gemessen werden und Zahlen erzählen nur bedingt, wie man sich fühlt oder Körper und Krankheit wahrnimmt. So beschwert sich ein seit neun Jahren Lebertransplantierter darüber, dass seine Vergesslichkeit – für ihn eine den Alltag belastende Folge der Transplantation – in der Ambulanz ignoriert bzw. als unwichtig erachtet werde:
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»Für die ist doch nur wichtig: der Patient hat überlebt, dem geht’s gut, was sagen die Blutwerte? Vergesslichkeit ist nicht etwas, was man Schwarz auf Weiß hat, was man beweisen kann. Es ist auch nicht deren Problem. Wenn meine Blutwerte schlecht sind, dann haben sie ein Problem, aber nicht wenn ich vergesslich bin.«
Im Vergleich zu den labortechnisch messbaren Blutwerten ist Vergesslichkeit eine höchst subjektive Erfahrung, die im Kontext der Transplantationsnachsorge nicht als behandlungsrelevantes Problem anerkannt wird. Um als objektiv messbarer Fakt für die medizinische Erfahrung in Erscheinung zu treten, würden zwar Testverfahren psychologischer Wissenspraktiken zur Verfügung stehen, mitunter aber etwas völlig anderes messen als das, was diesen Mann im Alltag belastet. In medizinischen Wissenspraktiken wie der labortechnischen Blutanalyse wird subjektives Krankheitserleben objektiviert oder, wenn es nicht messbar ist, ausgeschlossen. Zahlen stellen in diesem Kontext einen Gradmesser bereit, der die Kommunikation zwischen Ärzt/innen und Patient/innen ermöglicht und auf spezifische Weise prägt. In der Zahlensprache können Patient/innen ihr Befinden nicht nur gegenüber medizinischen Expert/innen objektivieren, sondern sich auch gegenüber ihrer Familie rechtfertigen: Es ist was anderes zu sagen, ich fühle mich schlapp, als ein subjektives Gefühl der Schwäche mit einem niedrigen Blutwert untermauern zu können. Zahlen haben argumentativ eine andere Durchschlagkraft. Entscheidend ist dabei nicht ihre Validität im Sinne der Abbildung einer vermeintlichen Realität, sondern ihre gesellschaftliche Akzeptanz (vgl. Porter 1995). Meine Gesprächspartner/innen werden hier selbst zu Expert/innen, die medizinische Daten interpretieren und davon ableiten, wie ihre Leber ›ist‹, aber auch wie sie sich fühlen. Hierbei wird die Blutuntersuchung als Technik erweiterter Selbstbeobachtung nicht nur seitens der Medizin, sondern auch seitens der Patient/innen etabliert. Solche Effekte von Zahlen und Klassifikationen auf die klassifizierten Personen wurden von Ian Hacking als »Loopingeffekte« beschrieben (Hacking 2002: 95, 165). Zahlen zum eigenen Wohlbefinden in Beziehung zu setzen, erfordert aber auch einen bestimmten Modus der Reflexivität von Patient/innen: Weil mein Leberwert X super ist, geht es mir gut. Zahlen können hier auch normativ bzw. disziplinierend wirken: Da der ›vergessliche‹ Patient hervorragende Leberwerte hat, sollte es ihm
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auch gut gehen. Wohlbefinden oder Normalität wird hier im Wesentlichen auf ein Organ fixiert – in diesem Fall, die Leber.16
J ENSEITS
DER
Z AHLEN – R OUTINEN
FAST NORMALE
Jenseits der Zahlen, sagen die meisten meiner lebertransplantierten Gesprächspartner/innen, dass sie letztlich »ein normales Leben« führen. Ausführlichere Erklärungen, die während längerer Gespräche folgten, enthielten jedoch einige Differenzierungen dieses »fast normalen« Lebens. Zum Behandlungsregime nach einer Transplantation gehören nicht nur Blutwertkontrollen und Medikamente, sondern auch diverse, den Lebensstil betreffende Verhaltensregeln. Diese Regeln müssen nach einer Transplantation erlernt und täglich aufs Neue angewendet werden. Medizinsoziologische Untersuchungen betonen in diesem Zusammenhang, dass chronisch Kranke und ihre Familien verschiedenen Strategien und Routinen entwickeln müssen, um mit ihrer abweichenden Gesundheitssituation und den geforderten Therapiemaßnahmen umzugehen und dabei das tägliche Leben so normal wie möglich zu meistern (vgl. Strauss et al. 1984; Charmaz 2000). »So normal wie möglich!«, ist eine Handlungsmaxime, die die Mitarbeitenden der Lebertransplantationsambulanz Transplantierten bei ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus mit auf den Weg geben – zusammen mit einer Vielzahl von Regeln, die unter anderem Lebensmittel, Topfpflanzen, Hausstiere, öffentliche Räume oder Sexualkontakte betreffen. Die US-amerikanischen Sozialforscher/innen Anselm Strauss und Juliet Corbin verstehen chronische Gesundheitsprobleme deshalb als etwas, das täglich viel Arbeit macht, wobei sie zwischen krankheitsbezogener Arbeit, Biographiearbeit und Alltagsarbeit unterscheiden (Corbin/Strauss 1993). 17
16 Dieser Fokus ist typisch für die Transplantationsmedizin und ihr chirurgisch-anatomisches Körperbild, in dem Körper auf spezifische Weise objektiviert wird (vgl. Fox/Swazey 1992), sowie das Konzept des Organersatzes als plausible Behandlungsweise (vgl. Schlich 1998: 11-15). 17 Der Begriff der Arbeit ist bei Corbin und Strauss unscharf und meint sehr allgemein Tätigkeiten. Diese trotzdem Arbeit zu nennen, ist auch ein politischer Einsatz ähnlichen den Diskussionen zu Haus- oder Reproduktionsarbeit: Werden doch so die vielfältigen Tätigkeiten, die von chronisch Kranken, ihren
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Neben üblicher Alltagsarbeiten wie abwaschen, einkaufen, Freundschaften pflegen, Kinder groß ziehen, Bürokratie erledigen etc., lassen sich vor dieser Folie eine Vielzahl der von Organempfänger/innen absolvierten und erwarteten Tätigkeiten als ›post-transplantationsbezogene Arbeit‹ bezeichnen. Allein die Einnahme von unzähligen Tabletten verschiedener Formen und Größen zu einer festen Uhrzeit, bedeutet gewisse Anstrengungen: Während ein Gesprächspartner seine anfänglichen Schwierigkeiten damit beschrieb, viele Tabletten gleichzeitig zu sich zu nehmen, kritisierte eine Gesprächspartnerin eine schwer zu schluckende, in länglicher Stäbchenform produzierte Tablette. Die nächste Gesprächspartnerin erzählte, das ihr Problem nicht die Regelmäßigkeit der Einnahme sei, sondern sich zu merken, ob sie eine Tablette bereits genommen habe oder nicht. Demgegenüber bezeichnet eine weitere Transplantierte ihren Mann und ihre Freunde als zuverlässige Erinnerungsstützen in der täglichen Tabletteneinnahme. Weitere, von meinen Gesprächspartner/innen häufig als »Kleinigkeiten« oder »Banalitäten« bezeichnete, Tätigkeiten betreffen das aufgrund der Medikamente geschwächte Immunsystem Transplantierter: Diese Hygienemaßnahmen beinhalten unter anderem häufiges und gründliches Händewaschen, die scheinbar nebensächliche Erkundigung über den Gesundheitszustand der von der Freundin eingeladenen Partygäste oder in der Erkältungssaison eher das Auto als öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Dazu gehört zudem bestimmte Dinge zu vermeiden, zum Beispiel das Essen von Salat in einem Restaurant oder das Öffnen der Tür eines öffentlichen Gebäudes ohne die Türklinke dort zu berühren, wo üblicherweise alle Leute anfassen. Weiter wird erwartet, dass Transplantierte sich sportlich fit halten, keinen Alkohol trinken oder selbst auf mögliche Warnzeichen einer Abstoßung achten. In ihren Erzählungen beschreiben meine Gesprächspartner/innen unterschiedlich lange Listen von Verboten und Pflichten sowie Techniken mit diesen umzugehen. Umgang heißt dabei, die Regeln an die persönlichen Gewohnheiten, Vorlieben und Alltagserfordernisse anzupassen. Je nach Gesundheitszustand und Lebenssituation kann zusätzlich eine Umarbeitung der eigenen Biographie bzw. der Lebenspläne und Selbstbilder nötig werden: Sei es sich von bestimmten Träumen zu verabschieden, neue Reiseziele für sich zu entdecken, beruflich umzusatteln, sich mit dem Status der Erwerbsunfähigkeit abzufinden, oder Familien und Freunden durchgeführt werden, als geleistete und zu leistende Arbeit sichtbar gemacht.
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aber auch neu zu lernen, dass man sich nach langer Krankheitskrise wieder was zumuten kann. Nicht zuletzt wird von Transplantierten Eigenverantwortung erwartet, was in der, bereits zitierten, Lernsoftware auf den Punkt gebracht wird: »Wenn Sie nach Hause gehen, werden SIE SELBST [Hervorhebung im Original] das wichtigste Mitglied des Transplantationsteams«. Dieser Appell impliziert auch eine normative Vorstellung davon, wie Transplantierte mit ihrem ›neuen‹ Leben umgehen soll(t)en. Dazu passt, dass das Leben nach der Transplantation von verschiedenen Akteur/innen des Transplantationsbereiches öfter als »zweite Chance« bezeichnet wird. Insgesamt, wird also nicht nur von den Mitarbeitenden der Lebertransplantationsambulanz, sondern auch von den Organempfänger/innen ein gewissenhaftes Körpermanagement erwartet. Die beschriebenen Aktivitäten, in denen die Transplantierten immer auch diszipliniert wie kreativ in ihre Alltage und Körper intervenieren und Regeln situationsspezifisch anpassen (müssen), zeigen, dass das »normale Leben« nach einer Transplantation immer auch hart erarbeitet ist. Erst wenn all diese Regeln gelernt, adaptiert und routinisiert worden sind, stellen sie eine Normalität und keine Besonderheit mehr da.18 Welche Regeln einzelnen Transplantierten leichter fallen, hängt von den persönlichen Ressourcen ab (z.B. unterstützendes soziales Umfeld), aber auch davon, wie sehr Verbote in das bisherige Leben eingreifen. Der Verzicht auf Erdbeeren oder Alkohol fällt der einen schwerer als der anderen. Einige sagen, die Regeln schränken sie kaum ein, andere haben gerade nach der Transplantation keine Lust mehr, sich immer noch an Regeln halten zu müssen und betonen ihren restriktiven Charakter. Letztlich bewerten meine Gesprächspartner/innen ihren PostTransplantationsalltag vor der Folie ihres Verständnisses von Alltagsnormalität: So relativierte eine 65jährige Lebertransplantierte Besonderheiten ihres Alltags nach der Transplantation mit Verweis auf ihr Alter: »Also in meinem Alter gehen die meisten Leute regelmäßig zum 18 Dies wurde während einer einwöchigen Forschung im Transplantationsbereich einer Reha-Klinik deutlich: An der Schnittstelle zwischen Klinik (Transplantation) und Zuhause, wurde der ›transplantierte Alltag‹ erst neu entdeckt und eingeübt. Die Erzählungen der dortigen, oft noch mit körperlicher Wiederherstellung beschäftigten, Transplantierten weisen im Vergleich zu denen der länger Transplantierten in der Lebertransplantationsambulanz noch kein festes Alltagsnarrativ auf: die Post-Transplantationserzählung hat zwar begonnen, der Post-Transplantationsalltag aber noch nicht.
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Arzt und müssen Medikamente nehmen […] da hat jeder seine ›Senioren-Pralinen‹ zum Frühstück, das gibt’s doch gar nicht anders!« Mittels eines Vergleichs stellt sie ihre individuelle Abhängigkeit von Medikamenten in einen Zusammenhang, der ihr erlaubt Arztbesuche und Tabletten als normal zu betrachten. Die Transplantation erlaubte ihr »ins gleiche Leben zurückzukehren« und »ein tolles Leben« zu führen. Für die Neuropathologin bedeutete dies vor allem wieder zu arbeiten, was sie 14 Jahre lang tat bis sie erneut transplantiert werden musste. Auch nach der zweiten Lebertransplantation begann sie wieder zur arbeiten. Für sie, sind Transplantierte »völlig gesund«. Die Rückkehr zur Arbeit und damit eigene Finanzierung des Lebensunterhaltes ist für etliche meiner Gesprächspartner/innen ein wichtiger Gradmesser von Normalität und verweist auf die gesellschaftliche Bedeutung und soziale Funktion von Erwerbsarbeit. Dies wird auch im nächsten Beispiel deutlich, in dem jedoch der Patient zumindest in einem Teilbereich ›normalen‹ Lebens scheitert: Ein kürzlich Lebertransplantierter unterzieht sich in der Anschlussheilbehandlung einer Ultraschall-Untersuchung. Währenddessen spricht der Arzt den 38jährigen auf das Thema Arbeit an. Dieser seufzt: Er sei tragischerweise Frührentner, obwohl er gern wieder gearbeitet hätte. Er war Anlagenfahrer auf dem Bau, das ginge körperlich nicht mehr. Halb zum Patienten, halb zu mir als Teilnehmerin der Situation, sagt der Arzt daraufhin: Ein Computerarbeitsplatz ist ideal für Transplantierte. Der Patient verdreht die Augen: Computer, das sei nicht sein Ding, Computerarbeit stellt für ihn, der immer körperlich gearbeitet hat, keine Arbeit bzw. Alternative dar (Feldnotizen 2009).
Ich traf durchaus Lebertransplantierte, die zu körperlich anstrengenden Arbeitsverhältnissen zurückkehren konnten, dies war aber seltener der Fall, als bei Transplantierten deren Erwerbsarbeit überwiegend an Computern, Mikroskopen oder Schreibtischen stattfindet. Arbeitsverhältnisse wurden aber auch aus anderen Gründen (z.B. unregelmäßigen oder sehr langen Arbeitszeiten) als (zu) anstrengend nach einer Transplantation empfunden. Zusätzlich zu den individuellen Möglichkeiten, Erwerbsarbeit und jeweils berufsspezifische Anstrengungen zu bewältigen, spielten persönliche und soziale Faktoren für den erneuten Einstieg ins Arbeitsleben eine Rolle: sei es die Relevanz der Erwerbseinkünfte für das Familieneinkommen, die Selbsteinschätzung wie krank man ist, die Möglichkeit Teilzeit zu arbeiten oder im alten Arbeitsverhältnis nach längerer, krankheitsbedingter Abwesenheit wieder Fuß zu
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fassen. Alles in allem wird anhand dieser empirischen Skizze deutlich, dass in Post-Transplantationsalltagen, wie in sonstigen Alltagen, verschiedene Lebensnormalitäten und Normen aufeinander treffen. In diesem Spannungsfeld wird ›transplantierte Normalität‹ letztlich im Alltag individuell wie kollektiv situationsspezifisch hergestellt.
S CHLUSS : T RANSPLANTIERTE N ORMALITÄTEN … Der genauere Blick in das ›neue‹ Leben Lebertransplantierter zeigt, dass ›das Normale‹ in Post-Transplantationsalltagen unterschiedlich vermessen und produziert wird. Einige dieser unterschiedlichen Facetten habe ich anhand der vier Herstellungsformen ›transplantierter Normalität‹ veranschaulicht. Insgesamt zielen die medizinischen Messverfahren, die in der Lebertransplantationsambulanz benutzt werden und am Beispiel der Blutuntersuchungen detaillierter dargestellt wurden, auf das ›Pathologische‹ – gesucht wird nach Abweichungen. Canguilhem erinnert daran, dass dies nur im Verhältnis zu einer Norm möglich ist (Canguilhem 1977: 72). Auf Grundlage welcher Vorstellung des Normalen Transplantierte beurteilt werden, ist bereits auf medizinischer Seite mehrdeutig – sind mit Klinik und Labor doch zwei unterschiedliche Normalitätsvermessungen bzw. Normen präsent. Mit dem Blick auf die Leberwerte geht es den Ärzt/innen der Ambulanz in erster Linie, um die Funktion der ›neuen‹ Leber. Gleichzeitig wird deren ›normales‹ Funktionieren nur über das Blockieren einer anderen Funktion, der Unterdrückung der ›normalen‹ immunologischen Reaktion, erreicht. Das Austarieren beider Körperfunktionen wird mit Hilfe labortechnischer Normalwerte und klinischer Erfahrungswerte kontrolliert: dem was statistisch und dem was nach einer Transplantation als normal gilt. Das Resultat ist es eine bestimmte Dosis und Zusammensetzung immunsuppressiver Medikamente, die, je nach Patient/in, deren Grunderkrankung und Stoffwechselvorgängen, individuell spezifisch ist. Kurz, in der Lebertransplantationsambulanz werden, am Kreuzungspunkt zwischen Labor, Klinik und Individuum, durchschnittliche, häufige und typische Merkmale behandelter und vermessener Körper als ›transplantierte Normalität‹ markiert und festgestellt.
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Diese zwei Formen hergestellter Normalität erlauben jedoch nur begrenzte Rückschlüsse auf die wahrgenommene Normalität der Transplantierten selbst: Die aus dem Labor gewonnenen Zahlen berichten über die Syntheseleistung der Leber, nicht aber darüber, ob man sich krank fühlt oder seinen alten Job wieder machen kann. Gerade die Frage, ob Transplantierte krank, gesund, normal oder doch anders sind, wird von meinem Feld sehr unterschiedlich und selten eindeutig beantwortet.19 Für die Ärzt/innen der Lebertransplantationsambulanz sind Transplantierte ›chronisch krank‹, da sie dauerhaft Medikamente und medizinische Kontrolle benötigen. Meine transplantierten Gesprächspartner/innen entscheiden, ob sie »völlig gesund«, eher »nicht mehr krank« oder zumindest »weniger krank« sind, indem sie ihren aktuellen Gesundheitszustand mit dem vor ihrer Transplantation vergleichen oder indem sie Kriterien, der eigenen Leistungsfähigkeit in ihrem jeweiligen Alltag heranziehen. Solche Kriterien ›normalen Lebens‹ werden auch in einer, von der pathologischen Anatomie zu unterscheidenden, Krankheitsdefinition von René Leriche aufgegriffen: »Krankheit [ist] dasjenige, was die Menschen in ihrer normalen Lebensführung und ihren Tätigkeiten hemmt und vor allem was sie leiden macht« (zit. nach Canguilhem 1977: 58). Dass Krankheitsdefinitionen von Mediziner/innen nicht unbedingt denen von Kranken entsprechen ist für Medizinanthropolog/innen nichts Neues (vgl. Kleinman 1981; Young 1982). Vielmehr sind die Erfahrungen von Krankheit und Gesundheit in soziale Lebenswelten und Alltagspolitiken eingebettet (vgl. Kleinman/Seeman 2000). Sie beinhalten Ideen von ›(Nicht)Normalität‹, die kulturell konstruiert und eng mit der jeweiligen sozialen, politischen und moralischen Ordnung verknüpft sind (vgl. Lock 2000: 259). Die Erfahrung ›transplantierter Normalität‹ und ›immunologischer Nicht-Normalität‹ wird also vor der Folie individueller und gesellschaftlicher Vorstellungen des Normalen verhandelt und jeweils interaktiv hergestellt – sei es im Dialog mit Klinikpersonal, Familienmitgliedern oder potentiellen Chefs. In der Bewertung ihrer Alltagssituation deuteten Transplantierte zwar auf kollektive Normen, welches Kollektiv als Vergleichsmaßstab dient, kann jedoch sehr unterschied19 Auf diesen Punkt werde ich in meiner aktuell entstehenden Doktorarbeit ausführlicher eingehen. Für den US-amerikanischen Kontext siehe auch Sharp 1995: 373-375 oder bezogen auf mexikanische Nierentransplantierte CrowleyMatoka 2005.
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lich sein. Die häufige Einschätzung meiner Gesprächspartner/innen, dass sie ein »fast normales Leben« führen, wird dabei selten mit Zahlen aus dem Labor untermauert. Die verwendeten Argumente und Bewertungskriterien geben eher Aufschluss darüber, was für Alltage für die jeweiligen Patient/innen normal sind oder von ihnen als normal erachtet werden. Der Blick in solche gleichzeitig individuellen wie kollektiven Selbstverständlichkeiten ist es, der die Analyse ›gelebter Normalitäten‹ in Alltagen nach einer Transplantation für Sozial- und Kulturanthropologen interessant macht: Transplantierte sind mehr als nur Profiteure eines bestimmten medizinischen Eingriffs. Die in diesem Artikel nur kurz und exemplarisch vorgestellten Patient/innen stehen an unterschiedlichen Punkten des Spektrums ›transplantierter Normalität‹. Dabei handelt es sich jedoch um eine Normalität, die fragil ist, sei es weil die Nebenwirkung eines Medikaments sich verstärken, eine Abstoßungsreaktion erlebt oder eine erneute Transplantation notwendig werden kann. Die deutsche Ethnologin Vera Kalitzkus, bezeichnet das Leben von Organempfänger/innen deshalb als »Leben unter dem Damoklesschwert« (Kalitzkus 2003: 189). Auch für die US-amerikanische Medizinanthropologin Megan Crowley-Matoka, die Alltage Nierentransplantierter in Mexiko erforschte, ist ›transplantierte Gesundheit‹ durch einen »anhaltenden Schwellenzustand« [persistent liminality] gekennzeichnet: »Rather than emerging into a fully ›normal‹ life of health and (re)productivity, these transplant recipients often found themselves forced to continue living betwixt and between the states of ›health‹ and ›illness‹, and ›patient‹ (who depends on others) and ›normal person‹ (who participants in and contributes to a family)« (Crowley-Matoka 2005: 827).
Ich würde Crowley-Matokas Argument ›transplantierter Gesundheit‹ als spezifischer Variante von Gesundheit, die von einem permanenten Zwischenzustand geprägt ist, zwar zustimmen. Vor dem Hintergrund meines Materials wird jedoch deutlich, dass Transplantierte durchaus lernen mit dieser Situation umzugehen.20 Selbst wenn die versprochene Rückkehr oder Wiederherstellung des Normalen mitunter eine Menge
20 Einer meiner Gesprächspartner spricht die Metapher des DamoklesSchwertes selbst an: Man habe im Hinterkopf, dass etwas (Abstoßung) sein könne, im Alltag sei es (Damokoles-Schwert) aber nicht unbedingt relevant, zumal er sich durch die Ambulanz gut überwacht fühle.
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Anstrengung, Disziplin und Erfindungsreichtum erfordert und mitunter auch scheitert. Was meine Gesprächspartner/innen im Gegensatz zu den Ärzt/innen der Lebertransplantationsambulanz herstellen sind keine medizinisch häufigen, sondern aus ihren spezifischen Alltagssituationen heraus eigenen, immer aber auch interaktiv-kollektiv hergestellten Versionen ›transplantierter Normalität‹.
… UND IHRE S TABILISIERUNG Trotz der lebenslangen medizinischen Kontrolle, verweist der in den Regeln der Transplantationsnachsorge formulierte Appell an die Eigenverantwortung der Organempfänger/innen, auf die Beteiligung Transplantierter an der Gestaltung ihres Gesundheitszustandes. Die darin implizierte Normativität, selbst zum eigenen Wohle aktiv werden zu müssen, korrespondiert mit sozialwissenschaftlichen Analysen, die einen neuen Gesundheitsbegriff ausmachen: Nach zeitgenössischer Auffassung ist Gesundheit nichts Gegebenes mehr, was im Notfall reparierbar ist, sondern eine dauernde Herstellungsleistung, eine Gestaltungsaufgabe individueller Verantwortung (vgl. Greco 1993; BeckGernsheim 1994). Die daraus abgeleitete Anforderung kontinuierlich auf sich selbst einzuwirken und mittels persönlicher Entscheidungen und Strategien Gesundheit selbstverantwortlich zu managen, korrespondiert laut dem britischen Soziologen Nikolas Rose mit gegenwärtigen Vorstellungen von Individuen und Normen neoliberaler Subjektivität, die im Leitbild des ›unternehmerischen Selbst‹ auf den Punkt gebracht werden (Rose 1998; Novas/Rose 2000). Bereits Canguilhem endete seine Betrachtungen des Normalen und Pathologischen mit einer »paradoxen Pathologie des normalen Menschen«, nämlich damit, dass die mögliche Bedrohung durch Krankheit konstitutiv für die Gesundheit ist (Canguilhem 1977: 200-202). Heute manifestiert sich dieser Umstand, laut dem US-amerikanischen Medizinanthropologen Joseph Dumit, in einem gewandelten Gesundheitsparadigma, das von einem »inhärent kranken« Zustand ausgeht, chronische Krankheiten als exemplarisch ansieht und in einem pharmazeutisch modulierten und daher »abhängigen Normalzustand« resultiert (Dumit 2002). Die empirischen Beispiele der skizzierten Analysen beziehen sich meistens auf genetische oder psychiatrische Erkrankungen. Gemeinsam ist ihnen, dass Gesundheit und Körper nicht mehr als stabil ange-
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sehen werden, sondern etwas das unsicher ist und kontinuierlich gemanagt werden muss – sei es in Form von Änderungen des Lebensstils oder biochemisch wirksamen Pharmazeutika. Vor dem Hintergrund dieser Diskussionen lässt sich das in diesem Artikel untersuchte Beispiel ›lebertransplantierter Gesundheit‹ als Prototyp zu managender Gesundheit verstehen. In den vier analysierten Formen der Herstellung und Aufrechterhaltung transplantierten Lebens wird versucht transplantierte, immunologisch unterdrückte Körper zu stabilisieren. Im Fokus dieser medikamentösen wie verhaltensregulierten Stabilisierung stehen Immunsysteme und Alltage, also innere Vorgänge und äußere Kontexte, die dynamisch und nur bedingt kontrollierbar sind. Letztlich ist es die von Ärzt/innen und Organempfänger/innen gemeinsame, zumindest punktuell oder vorübergehend erfolgreiche Einhegung dieser physiologisch-sozialen ›Organ-Umgebung‹, die medizinische wie alltägliche Formen ›transplantierter Normalität‹ ermöglicht.
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Patient/innen am Lebensende in der Notaufnahme Zeitlichkeit und Definition des Todes im Krankenhaus
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Die Hälfte aller Todesfälle in Frankreich ereignet sich in öffentlichen oder privaten Krankenhäusern (IGAS 2009). Der Weg dieser Patientinnen und Patienten ins Krankenhaus verläuft meistens über die Notaufnahme. Nach der Intensivstation und der Palliativstation ist die Notaufnahme diejenige Abteilung, in der die meisten Todesfälle zu verzeichnen sind (ebd.). Hier treten jede Woche durchschnittlich ein bis zwei Todesfälle ein (Roupie 2009). Dabei handelt es sich um Patient/innen, die aufgrund akuter gesundheitlicher Probleme, aufgrund krisenhafter Verschlechterungen bei chronischen Krankheiten oder im terminalen Stadium einer tödlichen Krankheit in die Notaufnahme eingeliefert werden. Der Tod tritt in der Regel auf der Kurzliegerstation der Notaufnahme ein. Trotz der quantitativen Bedeutung dieses Phänomens ist nur wenig darüber bekannt, wie in Notaufnahmen mit Patient/innen am Lebensende umgegangen wird. Unseres Erachtens nach wird dieses Problem von den Beschäftigten im Gesundheitswesen unter den Tisch gekehrt und von der sozialwissenschaftlichen Forschung vernachlässigt. Die Qualität der Behandlung von sich am Lebensende befindenden Patient/innen wird ebenso selten thematisiert wie die Frage, wie sich die
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spezifischen organisatorischen Zwänge in solchen Abteilungen auf den ärztlichen und pflegerischen Umgang mit den Patient/innen auswirken. In britischen und US-amerikanischen Forschungen konnte gezeigt werden, dass der Umgang des Personals mit Patient/innen am Lebensende je nach Abteilung sehr unterschiedlich ausfällt. In den bahnbrechenden Arbeiten von Glaser und Strauss liegt der Schwerpunkt auf den Kommunikationsproblemen zwischen dem Personal und den Patient/innen am Lebensende (Glaser/Strauss 1965) und auf den Schwierigkeiten in dem Verhältnis zwischen der Zeitlichkeit des Todes und der Arbeitsorganisation in den verschiedenen Klinikabteilungen (Glaser/Strauss 1968). Während der 1960er Jahre starben in USamerikanischen Krankenhäusern nur wenige Patient/innen in der Notaufnahme. Die Kranken blieben nicht länger als einen Tag dort. Das medizinische Personal versuchte, ihren Zustand zu stabilisieren, bevor sie in eine andere Abteilung verlegt wurden. Ein steter Strom von sich am Lebensende befindenden Patient/innen wurde in die Notaufnahme eingeliefert, aber nur wenige von ihnen starben dort, weil sie schnell verlegt wurden. Glaser und Strauss’ Studie befasst sich also im Wesentlichen mit internistischen und chirurgischen Abteilungen. Sudnow (1967) und Timmermans (1999) haben im US-amerikanischen Kontext ihren Blick darauf gerichtet, wie subjektiv die klinischen Anzeichen des Todes interpretiert werden. Sie konnten zeigen, dass Patient/innen unter Umständen während einer bestimmten Phase von einem Krankenhausmitarbeiter als gestorben und von einer anderen Beschäftigten als noch lebend wahrgenommen werden. Mehr noch: Bei übereinstimmenden klinischen Zeichen kann eine Patientin als tot gelten und eine andere beim gleichen Versorgungsteam als lebend. Die Einschätzung wird davon beeinflusst, was die Autoren den ›sozialen Wert der Kranken‹ nennen. Dieser Wert hängt von ihrem Alter, ihrer vermeintlichen ›ethnischen Zugehörigkeit‹, ihrem gesellschaftlichen Status, ihren familiären Verhältnissen etc. ab. Ältere Patient/innen gelten als weniger wichtig und werden in der Regel schlechter versorgt, falls ihr Alter nicht von einem der anderen Faktoren ›ausgeglichen‹ wird. In neueren Arbeiten wird die Bedeutung des ›sozialen Werts‹ eines Patienten oftmals stärker nuanciert: Nurok (2009) zeigt, dass die Mitarbeitenden von Rettungsdiensten sich stärker auf die Behandlung derjenigen Patient/innen konzentrieren, deren Gesundheitszustand kritisch ist und High-Tech-Behandlungsmethoden wie beispielsweise Wiederbelebungsmaßnahmen erfordert, deren
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Anwendung gleichzeitig eine Gelegenheit für das Personal darstellt, seine beruflichen Kompetenzen in diesem Bereich zu steigern. Im Anschluss an Glaser und Strauss unterscheiden Sudnow und Timmermans zwischen dem Zeitpunkt des biologischen Todes (dabei berücksichtigen sie sämtliche bestehende Unsicherheiten im Zusammenhang mit der Interpretation der entsprechenden physiologischen Prozesse) und dem Zeitpunkt des sozialen Todes. Wenn niemand mehr das Zimmer eines Patienten am Lebensende betritt oder Mediziner am Krankenbett die anstehende Autopsie diskutieren, so Sudnow, dann geht der soziale Tod dem biologischen Tod voraus. Timmermans zeigt, dass dieses Szenario auch umgekehrt vorkommt: Der biologische Tod kann erheblich früher eintreten als der soziale Tod, wenn beispielsweise das Krankenhauspersonal versucht, eine Person zu reanimieren, die alle Anzeichen des klinischen Todes aufweist. Bisweilen ist das Personal zu solchen wiederholten Wiederbelebungsversuchen verpflichtet, damit das Krankenhaus im Zweifelsfall vor Gericht beweisen kann, dass alles getan wurde, um das Leben der Kranken zu retten. Auch in neueren, auf Intensivstationen französischer Krankenhäuser durchgeführten soziologischen Studien (Gisquet 2004; KentishBarnes 2007; Paillet 2007) tritt die soziale Dimension des Sterbens im Krankenhaus deutlich zutage. Die Autorinnen zeigen, wie medizinische Entscheidungen den biologischen Sterbeprozess modifizieren. Das Eintreten des Todes kann mit Hilfe moderner Technologien hinausgezögert oder beschleunigt werden. Die Macht, solche Entscheidungen treffen zu können, liegt stets in den Händen der Ärztinnen und Ärzte. Dabei berücksichtigen sie manchmal die Meinungen weiterer Personen, wie z.B. der Krankenpfleger/innen und, seltener, der Familienangehörigen der Patienten. Dass sie solche Entscheidungen alleine treffen, begründen Mediziner damit, dass sie niemand anderen mit der moralischen Verantwortung und der damit einhergehenden möglichen Schuld belasten wollen. Die Patient/innen selber sind häufig nicht in der Lage dazu, ihren Willen zu äußern, da sie nicht bei Bewusstsein sind. Diese Arbeiten haben zweifellos wichtige Erkenntnisse zutage gefördert. Allerdings beschränken sie sich auf bestimmte Aspekte des Sterbens im Krankenhaus. An keiner anderen Stelle im Krankenhaus werden so spektakuläre Entscheidungen über Leben und Tod getroffen wie auf den Intensivstationen. Die Ärzt/innen verfügen hier über die
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Macht, darüber zu entscheiden, ob lebenserhaltende High-Tech-Geräte nur bedingt oder gar nicht eingesetzt werden. Die oben diskutierten Studien untersuchen die Entscheidungsprozesse und die Kriterien, anhand derer begründet wird, warum eine Behandlung beendet wird – was in den untersuchten Settings meistens innerhalb kürzester Zeit zum Tod führt. Hier bestehen Anknüpfungspunkte an die in Frankreich zurzeit sehr kontrovers geführte Euthanasiedebatte. Uns interessiert das viel banalere, alltägliche Problem, wie vor allem ältere Patient/innen medizinisch versorgt werden, ohne dass der Tatsache Rechnung getragen wird, dass sie in absehbarer Zeit sterben werden. Dieses Setting kommt auf Intensivstationen nicht vor, da die leitenden Ärzt/innen die Betten bevorzugt an jüngere Patient/innen mit besseren Überlebensaussichten vergeben (Andreo 2004). Stattdessen gehört es in der Notaufnahme zum Alltag und ist vermutlich, wenn auch weniger häufig, auch in anderen Klinikabteilungen zu verzeichnen. Die weiter oben angeführten Forschungen über Intensivstationen konzentrieren sich auf die Macht des Personals und auf jene Faktoren, die die ärztlichen Entscheidungen mit beeinflussen. Dazu gehören unter anderem berufliche Zuständigkeiten, juristische Risiken und die Bereitschaft der Stationsleitung, auch die Meinung des nicht-ärztlichen Personals zur Kenntnis zu nehmen. Auf die Krankenhauspolitik und auf die organisatorischen und administrativen Zwänge, die die Arbeitsteilung auf den unterschiedlichen Stationen stark mitbestimmen, gehen diese Untersuchungen jedoch nur selten ein. Wir möchten im Folgenden zeigen, dass diese Faktoren sich maßgeblich auf die Versorgung von Patient/innen am Lebensende auswirken. Hier liegt die Begründung dafür, dass die zuständigen Ärzt/innen das Sterben in der von uns untersuchten Notaufnahme nicht einfach ›geschehen lassen‹. Inwiefern determinieren die Zuständigkeiten und Ziele der verschiedenen Krankenhausabteilungen die Praxen der Mediziner/innen? Nicht alle Beschäftigten definieren auf die gleiche Weise, wer Patienten am Lebensende sind, und ebenso fällt deren Versorgung und Pflege sehr unterschiedlich aus. Wie lassen sich diese Unterschiede erklären?
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Unsere Studie ist Teil eines an zwei Krankenhäusern durchgeführten Forschungsprogramms der Universitäten Paris 8 und Bretagne Occi-
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dentale (Leboul et al. 2005). Sie knüpft an bereits bestehende Arbeiten über den Zugang zu Behandlungsmaßnahmen in Notaufnahmen (Fassin et al. 2001; Vassy 2004) und über die Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals an (Leboul 1998). Die in diesem Beitrag vorgestellte Studie wurde in einer in der Region Paris gelegenen Universitätsklinik mit etwa 500 Betten durchge1 führt. Die Notaufnahme, deren Auslastung konstant zunimmt , besteht aus einem Akutbereich für die Aufnahme und Untersuchung der Patient/innen sowie einem im darüberliegenden Stockwerk eingerichteten stationären Bereich mit 12 Betten [Unité d’Hospitalisation des Urgences, UHU], der so genannten Aufnahmestation. Die Studie wurde in diesem zweiten Bereich der Notaufnahme durchgeführt. Die Betten sind Patient/innen vorbehalten, die die Mediziner/innen zur Beobachtung auf der Station behalten wollen, um eine Diagnose stellen und sie anschließend einer geeigneten Abteilung zuweisen zu können. Die Behandlung obliegt primär Assistenzärzten, die morgens von einer leitenden Ärztin supervidiert werden, die selber vor allem im Akutbe2 reich der Notaufnahme arbeitet. 2004 wurden 71 Sterbefälle in der Aufnahmestation verzeichnet; das entspricht in etwa dem französischen Durchschnittswert (Roupie 1999). Hier treten 10 % aller Todesfälle in diesem Krankenhaus ein, und die Notaufnahme weist nach der Intensivstation und der Onkologie die dritthöchste Todesrate innerhalb der Klinik auf. Die Person, die die Feldforschung durchführte, beschrieb die Studie dem Personal gegenüber als eine Untersuchung über das »Arbeiten in der Notaufnahme« und vor allem über »schwierig zu behandelnde Fälle«; das Erkenntnisinteresse der Forschung liege darin, festzustellen, ob Patient/innen am Lebensende in den Augen des Personals in diese Kategorie fallen. Dank der Unterstützung des Stationschefs hatte die Forscherin Zugriff auf die Krankenakten. 1 Die Auslastung ist zwischen 2001 und 2004 um 24 % gestiegen. Jedes Jahr kommen mehr als 30.000 Patient/innen in die Notaufnahme. 2 Morgens und vormittags besteht das Pflegeteam in der Aufnahmestation aus einer leitenden Pflegefachkraft, zwei Krankenpfleger/innen, zwei Pflegehelfer/innen und einer Hilfskraft für nichtpflegerische Aufgaben und das Mediziner/innenteam aus zwei Assistenzärzt/innen und einem leitenden Arzt bzw. einer leitenden Ärztin. Am Nachmittag ist die Zusammensetzung im Pflegeteam die gleiche, aber es ist nur ein/e Assistenzärzt/in anwesend. Nachts arbeiten zwei Krankenpfleger/innen und ein/e Pflegehelfer/in in der Aufnahmestation, es ist allerdings kein/e Ärzt/in vor Ort.
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Die Forschung bestand vor allem aus Beobachtungen im Zeitraum zwischen Januar 2003 und Juni 2004. Insgesamt wurden, auch an Wochenenden und nachts, etwa 40 Beobachtungen vorgenommen. Meistens fanden sie zwischen 8 und 15 Uhr statt. Bei Bedarf wurden sie bis in den Abend ausgedehnt; ebenso bei Schichtwechseln an den darauf folgenden Tagen, um mitzubekommen, wie die Versorgung eine/r Patient/in angegangen wird. Gegenstand der Beobachtungen war die Versorgung verschiedener Patient/innen. Dazu gehörten Kranke, die sofort bei ihrer Ankunft vom Personal als »am Lebensende« eingeordnet wurden, sowie Personen, bei denen das Personal zu Beginn der Versorgung bestimmte Anzeichen feststellte, aufgrund derer es ihren Zustand als lebensgefährlich kategorisierte. Bei beiden Patient/innengruppen trat der Tod nicht immer in der Notaufnahme ein. Darüber hinaus wurden Aktivitäten im Zusammenhang mit plötzlich eintretenden und vom Personal nicht erwarteten Todesfällen beobachtet, die sich in Anwesenheit oder kurz vor dem Eintreffen der Forscherin ereigneten. Wenn die Patient/innen diese Kriterien erfüllten, konzentrierten sich die Beobachtungen auf ihre Versorgung durch die Assistenzärztinnen, das leitende medizinische Personal und das Pflegepersonal (Pflegehelfer/innen, Krankenpfleger/innen, Leitungsebene des Pflegepersonals). Dazu gehörten Behandlungsentscheidungen, Pflegetätigkeiten, die ärztliche und pflegerische Dokumentation, Diskussionen unter den Mitarbeitenden und eventuell mit der Patientin und ihr nahe stehenden Personen. Während der Beobachtungen wurden vor Ort, meist im Stationszimmer, Notizen gemacht, die noch am gleichen Tag überarbeitet wurden. Ergänzt wurden die Beobachtungen durch informelle Gespräche mit dem Personal der Notaufnahme. Die empirischen Ergebnisse wurden in einem Forschungsbericht dargelegt, der detailliert die Versorgung von zwölf Patient/innen am Lebensende schildert (Leboul et al. 2005). In diesem Artikel möchten wir zunächst die übliche Arbeitsorganisation in der Notaufnahme beschreiben und uns anschließend den Praxen des Personals im Umgang mit Patient/innen am Lebensende widmen.
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D ER
STÄNDIGE Z USTROM VON A RBEIT UND DIE S CHWIERIGKEITEN BEI DER V ERLEGUNG VON P ATIENT / INNEN AM L EBENSENDE Das Personal in der Notaufnahme versucht, schnell eine Diagnose zu stellen und die Patienten anschließend in die zuständige Abteilung zu verlegen. Es muss einen ständigen Zustrom neu eingelieferter kranker Personen verwalten, die in Abhängigkeit von Uhrzeit und Wochentag in wechselnder Zahl in der Notaufnahme ankommen (Peneff 1992). Wenn der Zustand der Patienten als sehr instabil gilt, sie aber nicht unmittelbar reanimiert werden müssen, werden sie in die Aufnahmestation verlegt. Die Versorgung besteht zunächst darin, dass eine Diagnose gestellt wird und die Patienten soweit klinisch stabilisiert werden, dass sie auf eine andere Klinikstation oder in ein anderes Krankenhaus verlegt werden können. Einer der leitenden Ärzte beschreibt das Ziel dieser Abteilung darin, »die Kranken möglichst schnell und mit möglichst vielen Informationen über ihren Zustand zu verlegen«. Die Aufgabe der Notaufnahme besteht darin, die kranke Person so schnell wie möglich einer anderen Station zuzuweisen, um für die neu Eintreffenden möglichst viele freie Betten zur Verfügung zu haben. Das französische Gesetz über das öffentliche Gesundheitswesen [Code de la Santé Publique] sieht vor, dass die Verweildauer in den Aufnahmestationen in mindestens 90 % der Fälle bei weniger als 24 Stunden liegen muss.3 Daran wird das Personal regelmäßig von der Stationsärztin erinnert. Die leitenden Ärzt/innen achten auf die Einhaltung dieser Richtlinie und delegieren die Verantwortung für ihre Umsetzung an die Assistenzärzt/innen und das Pflegepersonal. Die Notwendigkeit, die Patient/innen schnell zu verlegen – falls möglich, am Morgen nach ihrer Einlieferung –, bestimmt das Handeln und den beschleunigten Arbeitsrhythmus der Mediziner/innen. Der Augenblick, in dem die Aufnahmestation voll belegt sein wird, ist Gegenstand permanenter Sorge. Die leitenden Ärztinnen und die Assistenzärzte verlassen die Aufnahmestation, wann immer sie können, um ihrer Arbeit im Akutbereich nachzugehen. Die Assistenzärztinnen klagen darüber, dass sie nicht genügend Zeit haben, darüber nachzudenken, welche Versorgung für jede Patientin die adäquateste ist: »Was in der Aufnahmestation
3 Artikel D 712-56 des Code de la Santé Publique, wieder aufgenommen im Rundschreiben 195 vom 16. April 2003.
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schwierig ist? Ständig mit allen möglichen Fragen und Anforderungen bombardiert zu werden, es mit tausend verschiedenen Krankheitsbildern zu tun zu haben, das ist anstrengend; alles verhandeln zu müssen – Untersuchungen, Tomographie, Laborbefunde. […] In sechs Stunden eine Diagnose stellen zu müssen, für Entscheidungen angeschnauzt zu werden, die man getroffen hat; die Frage, was man mit bestimmten Patienten machen soll … Das ist schwierig und frustrierend. Es wird gepfuscht; man hat immer das Gefühl, dass die Arbeit nicht gut gemacht wird.« Die schnelle Bewältigung des steten Patientenzustroms ist nur möglich, wenn die anderen Klinikabteilungen sich bereit erklären, die Patient/innen aus der Notaufnahme zu übernehmen. Das fällt je nach Krankenhaus und je nach Station sehr unterschiedlich aus. Auf den Stationen der Universitätskliniken sind oft nur wenige Betten frei, da hier vor allem Patient/innen behandelt werden, die von kooperierenden Ärzt/innen bzw. ärztlichen Einrichtungen überwiesen werden (Renard/Vassy 1992). Nicolas Dodier und Agnès Camus konnten zeigen, dass eventuelle Schwierigkeiten bei der Verlegung der Kranken aus der Notaufnahme in die anderen Abteilungen auch mit bestimmten Eigenschaften der Patient/innen zusammenhängen. In dem von ihnen untersuchten Pariser Universitätsklinikum erklären sich die Abteilungsleitungen schnell dazu bereit, neue Kranke aufzunehmen, wenn ihre Aufenthaltsdauer begrenzt ist, der Behandlungsaufwand eher gering ist bzw. das Krankheitsbild für die sich in Ausbildung befindenden Mediziner/innen oder für bestimmte Forschungsgebiete von Interesse ist. Auf Patient/innen am Lebensende trifft all dies nicht zu. Oft handelt es sich bei ihnen um alte Menschen mit mehreren Krankheiten, an denen von ärztlicher Seite aus nur ein begrenztes pädagogisches und wissenschaftliches Interesse besteht. Vom oftmals unterbesetzten Pflegepersonal und von den Pflegehelfer/innen werden sie als zusätzliche körperliche und psychische Belastung wahrgenommen. Zudem bringt die Versorgung von Patient/innen am Lebensende für die Krankenhausabteilungen im Hinblick auf die Erfüllung ihrer administrativen und ökonomischen Pflichten unter Umständen noch zusätzliche Schwierigkeiten mit sich (Dodier/Camus 1998). In Frankreich übersetzt sich der Imperativ der Einsparungen im Gesundheitswesen in eine Politik, der es in erster Linie darum geht, die Bettenzahl in den medizinischen Einrichtungen und die Verweildauer der Patient/innen zu verringern. Seit 1997 haben sich die administrativen Zwänge deutlich verschärft. Zu diesem Zeit-
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punkt wurde mit dem Programme médicalisé des systèmes d’information ein neues Krankenhausinformationssystem (KIS) eingeführt. Gleichzeitig wurde ein neues System für die Budgetierung der Krankenhäuser entwickelt, die leistungsorientierte Vergütung [tarification à l’activité, T2A] (Moisdon 2000). Das Jahresbudget, das dem Krankenhaus im Rahmen eines frankreichweit geltenden, vom Parlament festgelegten Globalbudgets zur Verfügung steht, hängt von der im KIS dokumentierten Versorgungsaktivität ab. Sämtliche Diagnosen und Behandlungs- bzw. Pflegetätigkeiten aller französischen Krankenhäuser sind hier verdatet. Sie werden Kategorien zugeordnet, den so genannten DRGs [diagnosis related groups], denen bestimmte Fallpauschalen entsprechen. Die finanzielle Vergütung der Krankenhausaufenthalte hängt von der Diagnose und der Verweildauer der jeweiligen DRG ab. Für die Behandlung ist von vornherein eine obere und untere Grenzverweildauer festgelegt. Bleibt eine Patientin über das DRGLimit hinaus im Krankenhaus, wird jeder zusätzliche Tag spezifisch vergütet. Die Berechnung ist relativ kompliziert – die (zutreffende) Botschaft an die Krankenhausverwaltung und infolgedessen auch an die Stationsleitungen lautet, dass Patient/innen mit kürzerer Verweildauer finanziell gesehen attraktiver sind (Danet 2008). Dieses neue Verwaltungssystem wird auch dafür kritisiert, dass es die rein behandlungstechnischen Aktivitäten privilegiert, was sich zum Nachteil der Information der Patient/innen oder ihrer psychologischen Begleitung auswirkt, da Letztere sich finanziell nicht lohnen. Die Stationen gehen also unter Umständen zögerlich mit der Aufnahme von Patient/innen aus der Notaufnahme um, wenn diese möglicherweise länger im Krankenhaus bleiben werden. Das trifft auf viele Patient/innen am Lebensende zu, bei denen nicht absehbar ist, wie lange sie noch am Leben bleiben werden. In den Statistiken des Gesundheitsministeriums wird ersichtlich, dass Patient/innen, die während des Krankenhausaufenthalts sterben, durchschnittlich doppelt so lange in der Klinik bleiben wie andere Patient/innen (IGAS 2009). Die durchschnittliche Verweildauer verstorbener Patient/innen auf den Kurzliegerstationen der Krankenhäuser lag 2007 bei durchschnittlich 13 Tagen, im gesamten Patient/innendurchschnitt aber nur bei 6 Tagen. Das in den Abteilungen beschäftigte Personal kennt diese Statistiken nicht, weiß aber aus Erfahrung, dass ein/e Patient/in am Lebensende mit hoher Wahrscheinlichkeit länger im Krankenhaus bleiben wird als andere Patient/innen.
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Abgesehen von den organisatorischen und administrativen Zwängen erklärt sich das Zögern der Stationsleitungen, Patient/innen am Lebensende aufzunehmen, möglicherweise auch aus einer kulturellen und symbolischen Dimension. Der Kulturanthropologe Louis-Vincent Thomas (1999) hat gezeigt, dass Krankenhäuser in Industrienationen Institutionen sind, in denen an stetiges Wissenswachstum geglaubt wird. Der Tod wird nicht als ein wichtiges Ereignis betrachtet, sondern eher als ein Scheitern der Medizin oder als ein irrelevantes Geschehen, das es besser zu vermeiden gilt. Vor diesem komplizierten Hintergrund haben wir untersucht, wie das Personal der Notaufnahme bei der Versorgung von als sich an ihrem Lebensende befindenden identifizierten Patient/innen seine Arbeitsorganisation anpasst. Um die Versorgung dieser Fälle durchdringen zu können, unterscheiden wir zwischen drei Formen der Antizipation: die Nichtantizipation des Sterbens, die Antizipation des unmittelbar bevorstehenden Sterbens bei der Ankunft in der Notaufnahme und das für einen nicht absehbaren Zeitpunkt erwartete Sterben.
K LINISCHE U NSICHERHEITEN : D ER FÄLSCHLICH ANTIZIPIERTE T OD
NICHT ODER
Wie Glaser und Strauss (1968) zeigen, gerät die Arbeitsorganisation in Krankenhäusern aus dem Gleichgewicht, wenn Patienten am Lebensende auf einer Station nicht als solche identifiziert werden oder wenn der zeitliche Ablauf des Sterbeprozesses nicht richtig antizipiert wird. Es kommt vor, dass kurz vor dem Eintreten des Todes nicht genug Personal zur Verfügung steht, um zusätzlich zu den anderen Patient/innen auch die sterbende Person versorgen zu können. Zudem können beim Personal und bei den Angehörigen starke emotionale Belastungen auftreten. Es ist also elementar wichtig, einen bevorstehenden Tod zu diagnostizieren und sich in dieser Diagnose nicht zu irren: Hier muss eine Situation definiert werden, die Veränderungen in den Arbeitsabläufen nach sich zieht und zudem impliziert, dass viele Personen in einem emotional angespannten Klima gemeinsam auf etwas ›warten‹ (Glaser/Strauss 1968). Damit die Behandlung wie gewünscht den Umständen angepasst werden kann, muss das Personal die Zeichen deuten können, die den Tod ankündigen. Allerdings ist es auch für erfahrene Kliniker/innen
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manchmal sehr schwierig, die Entwicklung der Patient/innen zu antizipieren. Diese Unsicherheit über die Zukunft der Kranken kann sowohl dazu führen, dass ihr Sterben antizipiert wird, obwohl sich ihr Zustand letztendlich verbessert, als auch zu der Situation, dass die Genesung von Patienten erwartet wird, die kurz darauf sterben. Die erste dieser beiden Situationen lässt sich am Beispiel der Versorgung einer 100 Jahre alten Patientin illustrieren. Frau L., Bewohnerin eines Altersheims, wird bewusstlos in die Notaufnahme eingeliefert. Im Akutbereich der Notaufnahme trägt der diensthabende Arzt in die Akte ein: »Patientin am Lebensende mit Palliativtherapie, Behandlung mit Morphium.« Am darauf folgenden Morgen wird die Patientin in der Aufnahmestation von der Gerontologin versorgt. Während diese die Patientin untersucht, ruft Frau L.: »Ich mag das nicht [sie meint den Kaffee], ich will heiße Schokolade!« Die Gerontologin bemerkt gegenüber der Pflegerin, dass die Patientin sich »für eine Patientin am Lebensende ganz schön berappelt« hat. Sie erkundigt sich danach, wie Frau L. vor ihrer Ankunft in der Notaufnahme im Altersheim medizinisch behandelt wurde, und kommt zu dem Schluss, dass sie wahrscheinlich eine Überdosis Schlafmittel und Psychopharmaka verabreicht bekommen hat. Schon vor der Ankunft der Gerontologin hatte die Pflegehelferin der wieder zu Bewusstsein gekommenen Patientin eine Mahlzeit gebracht und die Versorgungsroutine nicht im Geringsten verändert. Am nächsten Morgen wird Frau L. ins Altersheim zurückgebracht. Die zweite Situation lässt sich am Beispiel von Herrn G. beschreiben. Der Mediziner im Akutbereich der Notaufnahme schreibt in die Akte: »74-jähriger Patient, dement, Selbstständigkeit und Hygiene lassen nach, ischämische Herzkrankheit und Bluthochdruck mit akuten Krämpfen. Reduzierter Allgemeinzustand.« Am nächsten Tag wird der Patient in der Notaufnahme von der Gerontologin untersucht, die ihm ein Antibiotikum und ein Herzmedikament verschreibt und seine baldige Verlegung in ein gerontologisches Krankenhaus anordnet. Mehrere Pfleger/innen nehmen sich viel Zeit dafür, den Patienten zu waschen und seine zahlreichen wundgelegenen Stellen zu versorgen. Der Patient verstirbt am Abend. Die fassungslose Pflegerin gibt zu Protokoll: »Die Pflegehelfer/innen hatten gerade [die Bettwäsche] gewechselt, und eine Viertelstunde später will ich die Vitalzeichen prüfen und gehe in das Zimmer … Er war nicht mehr da (sic!). Wir waren überhaupt nicht darauf vorbereitet. Wir dachten nicht, dass er sterben würde …
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Jedenfalls nicht so schnell! Niemand hat das gedacht, auch nicht der Arzt. Wir waren am Rotieren … […] Der Sohn war am Nachmittag da. Wir haben ihm gesagt […], dass die Prognose unsicher ist, aber … wir haben keine emotionale Betreuung geleistet.« Die gleiche Bestürzung klingt in der folgenden Äußerung eines Pflegehelfers an: »Als wir nach ihm geschaut haben, ging es ihm gut. Wir hatten das Bett gemacht, wir hatten ihn umgedreht. […] Als S. [die Krankenpflegerin] nach ihm geschaut hat, war die Linie flach, völlig flach. Wir sagen uns immer, wenn sie so instabil sind, wenn man sie dann umdreht … Vielleicht …«
Der Tod dieses Patienten löst Schuldgefühle bei den Pfleger/innen aus, weil sie ihre Arbeitsorganisation nicht spezifisch auf den sich am Lebensende befindenden Patienten und seine Angehörigen zugeschnitten haben. Einige von ihnen, wie auch der zuletzt zitierte Pfleger, fühlen sich für Herrn G.s Tod mitverantwortlich. In beiden Fällen, dem fälschlicherweise als unmittelbar bevorstehend antizipierten Tod und dem sehr kurze Zeit nach der Einlieferung unerwartet eingetretenen Tod, ist der Zusammenhalt des Personals jedoch nicht gefährdet, und die Pfleger/innen ziehen ihre Arbeitsweise nicht in Zweifel. Im Folgenden beschreiben wir Fälle, in denen der Tod korrekt antizipiert wird, die Konsequenzen für die Arbeitsorganisation sich aber trotzdem dramatisch gestalten. Solche Situationen sind während unserer Beobachtung häufiger eingetreten als der Fall, dass eine falsche Diagnose gestellt wurde. Je nachdem, ob der Tod nach kurzer Zeit, d.h. innerhalb von 24 bis 48 Stunden, oder erst nach einem längeren Zeitraum eintritt, bringt das unterschiedliche Konsequenzen mit sich.
A NTIZIPIERTER , UNMITTELBAR BEVORSTEHENDER T OD UND P ALLIATIVBEHANDLUNG Bestimmte Patient/innen werden sofort bei ihrer Ankunft dahingehend diagnostiziert, dass sie innerhalb sehr kurzer Zeit sterben werden. Sie haben schwere Unfälle erlebt, ihr Bewusstseinszustand ist stark verändert oder sie befinden sich in der terminalen Phase einer chronischen Krankheit. Unter solchen Umständen vermerken die behandelnden Ärzt/innen in der Akte meistens: »Palliativtherapie«, und die Pfleger/innen sprechen davon, dass sie »Patient/innen am Lebensende
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haben«. So beschreibt eine Pflegerin den Fall der 52-jährigen Frau C., die eines Abends in Begleitung ihrer Angehörigen in der Notaufnahme erscheint. Frau C., eine Darmkrebspatientin, bekommt häusliche Pflege. Sie kommt in die Notaufnahme, weil sie sich sehr geschwächt fühlt und unerträgliche Schmerzen hat. Im Akutbereich der Notaufnahme schreibt der diensthabende Arzt in die Akte: »Reduzierter Allgemeinzustand und Hyperalgesie trotz intravenöser Morphingabe – Intensivierung der Schmerzbehandlung, Antiemetika, bei Angstzuständen: X [Anxiolytikum].« Er weist unmittelbar ihre Behandlung in der Aufnahmestation an. Dort kümmert sich sofort eine Krankenpflegerin um die Patientin und verweigert die Versorgung eventueller weiterer aus dem Akutbereich transferierter Patient/innen. Eine Pflegehelferin kümmert sich im Gang um die in Tränen aufgelöste Mutter der Patientin. Am späten Nachmittag des darauf folgenden Tages stirbt die Patientin im Beisein ihrer Familie. Davor spielt sich zwischen der Assistenzärztin aus der Notaufnahme und dem Arzt aus dem Palliativteam, den die Assistenzärztin um seine Meinung bittet, als sie ihm zufälligerweise in der Aufnahmestation begegnet, ein Konflikt über die Frage ab, wie die Patientin am besten zu behandeln ist. Der Palliativmediziner rät dazu, den Unterleib zu röntgen, aber die Assistenzärztin lehnt dies mit der Begründung ab, sie wolle »die Kranke in Ruhe sterben lassen«. An diesem Beispiel zeigt sich, wie schwierig es ist, zu definieren, welche Art der Palliativbehandlung für eine kranke Person am besten geeignet ist. Paradoxerweise tritt die Assistenzärztin hier weniger interventionistisch auf als der Palliativmediziner. So sagt sie: »Sie [die Ärzte aus dem Palliativteam] haben Angst davor, dass nichts mehr getan wird, wenn man [in der Krankenakte] ›Palliativbehandlung‹ verordnet, dass man irgendwas übersieht, dass man Behandlungsmöglichkeiten unversucht lässt.« Trotz dieses Konflikts zwischen den beiden Mediziner/innen wird die Arbeitsorganisation jedoch an die Versorgung der sich an ihrem Lebensende befindenden Patient/innen angepasst. Die Assistenzärztin weigert sich, zusätzliche unnötige Untersuchungen anzuordnen, und die Pfleger/innen beschließen sofort, sich auf die emotionale Betreuungsarbeit zu konzentrieren. Das führt nicht zu Spannungen zwischen den Angehörigen des Personals, denn die Situation wurde richtig eingeschätzt (der Tod der Patientin steht tatsächlich unmittelbar bevor), die Zeit bis zum Tod wurde ebenfalls richtig ein-
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geschätzt, und dieser Zeitraum ist kurz. Die Arbeitsorganisation kann an die Situation angepasst werden. Glaser und Strauss (1965) haben im Zusammenhang mit der Versorgung von sich am Ende ihres Lebens befindenden Patient/innen in Krankenhausabteilungen und auf chirurgischen Stationen in USamerikanischen Krankenhäusern ähnliche Phänomene beobachtet. Sie zeigen das Risiko der Störung der »Gefühlsordnung« des Personals auf, das mit jedem Tod eines Patienten einhergeht. Der Tod von Patient/innen kann Schuldgefühle beim Pflegepersonal auslösen und dazu führen, dass die Beschäftigten Stellen, die sie als zu belastend wahrnehmen, aufgeben. Die Versorgung zeichnet sich zumeist durch eine spezifische Arbeitsorganisation aus, die eine Abfolge bestimmter so genannter »zentraler Artikulationen« beinhaltet (Glaser/Strauss 1968). Die erste dieser Etappen besteht in der Definition der Patienten als sich am Lebensende befindend. Diese Diagnose dürfen ausschließlich Ärzt/innen stellen; die Pfleger/innen verfügen unter Umständen über die gleiche Kompetenz, sie wird aber nicht anerkannt. Sobald die Diagnose gestellt ist, bereiten sich das Personal, die Familie und – sofern sie bei Bewusstsein sind – die Kranken über einen Zeitraum von einigen Wochen, Tagen oder Stunden auf das Eintreten des Todes vor. In den letzten Stunden werden die Angehörigen der Kranken benachrichtigt, damit sie sich von ihnen verabschieden können, und ein Mitglied des Pflegeteams bleibt am Krankenbett. In der von uns beobachteten Notaufnahme leistet das Personal eine Versorgung, die es als »palliativ« bezeichnet. Die Beschäftigten versuchen, ihre Arbeit so zu planen, dass sie mehr Zeit für Patient/innen am Lebensende haben, auch wenn deren Tod manchmal unmittelbar bevorsteht, und verändern manche Praxen dahingehend, dass sie eine besondere pflegerische und emotionale Kompetenz mobilisieren. Die Pflegehelfer/innen legen eine andere Gestik an den Tag und berühren die Patient/innen häufiger; zudem verlangsamen sie das Tempo der Pflegeabläufe. Das gleiche ist auch bei den Krankenpfleger/innen zu beobachten. Letztere leisten außerdem Unterstützungsarbeit für die Familie und für andere den Patienten nahe stehende Personen und versuchen, sie psychologisch auf den Tod vorzubereiten. Die Mediziner/innen wiederum verschreiben in der Regel Morphium und Anxiolytika, um das Bewusstseinslevel der Patient/innen zu verringern, beschränken die zusätzlichen Untersuchungen auf ein Minimum und fühlen sich moralisch dazu verpflichtet, die Familie mit einer »vorsich-
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tigen Diagnose« auf das Ereignis »vorzubereiten«. Es steht auch zu vermuten, dass das Personal sich selber psychologisch auf das Ableben vorbereitet. Diese Arbeitsorganisation ist informell und folgt keinen schriftlich fixierten Vorgaben. Dennoch wird sie von den leitenden Pfleger/innen durchaus verlangt: Sie betonen die Verantwortung sämtlicher Mitglieder des Pflegepersonals für die Versorgung von Patient/innen am Lebensende und weisen darauf hin, dass diese nicht nur in den Aufgabenbereich des palliativmedizinischen Teams fällt. Ein leitender Pfleger gibt gegenüber der Forscherin zu Protokoll: »Sich um Patientinnen am Lebensende zu kümmern, ist eine wichtige Aufgabe in unserer Station und gehört zu unseren Pflichten. […] Für den Tod gibt es keine Spezialistinnen.«
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ERWARTETE T OD ZU EINEM NICHT VORHERSAGBAREN Z EITPUNKT In einigen Fällen identifizieren Mediziner/innen bestimmte Kranke jedoch als »jenseits aller Behandlungsfähigkeit«, ohne vorhersehen zu können, wie viel Zeit ihnen noch zum Leben bleibt. In solchen Fällen wird die Arbeitsorganisation nicht umgestellt. So ist es beispielsweise bei dem 74-jährigen, bettlägerigen Herrn L., der im Akutbereich der Notaufnahme erscheint, wo der diensthabende Arzt diagnostiziert, dass der Patient einen erneuten Schlaganfall aufgrund einer vermuteten Lungenkrankheit hat. In der Akte vermerkt der Arzt: »Am Lebensende«. Der Kranke kommt in die Aufnahmestation und wird dort von den Assistenzärzt/innen behandelt. Die leitenden Ärzt/innen verschreiben jeden Tag andere Maßnahmen und wechseln dabei zwischen medizinischen Behandlungen und einer rein palliativen Versorgung. Die Assistenzärzt/innen befolgen die widersprüchlichen Anweisungen der leitenden Mediziner/innen, die im 24-stündigen Wechsel die Leitung der Aufnahmestation übernehmen. Eine Assistenzärztin äußert gegenüber der Forscherin: »In der Versorgung gibt es ein Abstimmungsproblem. Für sich an ihrem Lebensende befindende Patient/innen gibt es keine Verhaltensrichtlinien, da wird alles richtungslos durcheinander gemacht, keiner weiß, was richtig ist, und manchmal kümmert sich einfach niemand mehr.« Jeden Tag aufs Neue versuchen die Assistenzärzt/innen vergeblich, eine Abteilung zu finden, in die sie den Patienten verlegen können. Sobald er den Leitungen der anderen Stationen
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beschrieben wird, sagen diese, bei ihnen seien keine Betten frei. Mehrere Mitglieder der Familie, alle ohne französische Staatsangehörigkeit, kommen jeden Tag zu Besuch. Wiederholt wenden sie sich an das Personal, weil sie nicht verstehen, warum sich die Behandlung ständig verändert: Einmal bekommt der Patient hohe Dosen Sauerstoff, am nächsten Tag nicht mehr, am dritten Tag wieder. Den Angehörigen wird keinerlei Erklärung dafür gegeben. Nach Ablauf einer Woche ergreift eine andere Assistenzärztin die Initiative und wendet sich an das Palliativtherapieteam, was ein ungewöhnliches Vorgehen ist. Sie erklärt uns: »Ich will wissen, was ich machen soll. Ich möchte eine kohärente Behandlung! Das ändert sich die ganze Zeit!« Der Stationschef äußert Empörung darüber, dass der Patient immer noch da ist, und verlangt seine Verlegung: »Das ist ein Skandal!« Nach zehn Tagen wird Herr L. in die gerontologische Abteilung verlegt. Ältere Patient/innen, die einen Schlaganfall mit bleibenden Defiziten erlitten haben, befinden sich häufig in dieser Situation und sind zumeist schwer zu verlegen. Das gilt auch für Krebspatient/innen, bei denen keine Behandlung mehr anschlägt. In den Augen der Ärzt/innen in der Notaufnahme sollten sie in den entsprechenden Stationen untergebracht werden. So ist es auch bei Herrn A., einem 56-jährigen Leukämiepatienten, der sich aufgrund von Schwäche und Fieber in der Notaufnahme befindet. Er gilt als »zu geschwächt« und wird in der Aufnahmestation behalten. Aufgrund seiner Leukämie wurde er bisher in der hämatologischen Abteilung des Krankenhauses behandelt. Der in der Notaufnahme tätige Mediziner hält in der Akte fest, dass der Kranke »untherapierbar« ist; das bedeutet, dass die Behandlung mittlerweile zwecklos ist. Der leitende Mediziner in der Aufnahmestation verschreibt Transfusionen und präzisiert gegenüber der Forscherin, dass »hier jede Initiative zwecklos [ist]. Der gehört in die Häma, die müssen entscheiden, ob die Behandlung eingestellt wird.« Ein Arzt aus der Abteilung für Transfusionsmedizin kommt schließlich in die Aufnahmestation, um den Patienten zu begutachten, und bestätigt: »Das ist ein Patient am Lebensende, da ist nichts mehr zu machen. Der braucht nur noch Palliativmedikation.« Am nächsten Morgen kommt der Hämatologe vorbei und bekräftigt, dass es in seiner Abteilung kein freies Bett gibt und der Patient gegenüber den anderen Kranken, bei denen die Behandlung noch anschlägt, keine Priorität besitzt. Diese Äußerung bringt das Notaufnahmepersonal zur Weißglut. Nach vier weite-
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ren Tagen wird der Kranke in die Palliativstation einer Privatklinik verlegt.
D IE A USWIRKUNGEN ORGANISATORISCHER Z WÄNGE AUF DIE MEDIZINISCHEN P RAXEN An diesen unterschiedlichen Fällen wird ersichtlich, dass der Tod sich je nach seiner Zeitlichkeit mehr oder weniger gut in die übliche Arbeitsorganisation in der Notaufnahme einschreibt. Wenn das Personal den Tod von Patienten korrekt antizipiert und das Ableben unmittelbar bevorsteht, harmonisiert die Zeitlichkeit des Sterbens mit der Zeitlichkeit innerhalb der Station. Die Mitglieder des Pflegepersonals etablieren gemeinsam innerhalb sehr kurzer Zeit eine so genannte »palliative« Behandlungsroutine. Antizipieren die behandelnden Ärzt/innen jedoch einen zu erwartenden Tod, dessen Zeitpunkt nicht abzusehen ist, und weigern sie sich, klare Entscheidungen hinsichtlich der Beendigung oder Einschränkung der Behandlung zu treffen, so verändert das Pflegepersonal die Versorgungsroutine nicht. In solchen Situationen weisen die Ärzt/innen weiterhin eine so genannte »aktive« Behandlung an, während eine palliative Behandlung ausschließlich das Ziel verfolgt, den Patienten ihre Lage erträglicher zu machen. Mit dem Begriff »aktiv« bezeichnet das Personal die Praxen in den Intensivstationen. So genannte »aktive« Behandlungen beinhalten die Stärkung der geschwächten Vitalfunktionen (Atmung, Ernährung etc.). In der Aufnahmestation der Notaufnahme wird bei »aktiven« Therapien nicht auf Geräte zur künstlichen Beatmung o. ä. zurückgegriffen. Stattdessen sind damit Praxen wie beispielsweise die künstliche Ernährung über eine Magensonde, Bluttransfusionen oder die Gabe kreislaufstabilisierender Medikamente über einen Tropf bezeichnet. Die Verwendung des Wortes »aktiv« zeugt von seiner stark aufgeladenen impliziten Bedeutung und bezeichnet im Vokabular des Personals der von uns untersuchten Station das Gegenteil von »palliativ«. Dass mit diesen Begriffen operiert wird, bezeugt die symbolische Abwertung der Palliativtherapie, die faktisch mit Passivität bzw. mangelnder Aktivität in der Versorgung der Patienten gleichgesetzt wird. Eine solche Behandlung kann dazu führen, dass die Patienten körperlich noch stärker leiden und dass die Familien, die nicht auf den
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Tod vorbereitet wurden, seelisch noch mehr in Mitleidenschaft gezogen werden. Trotzdem favorisieren die oberen Ebenen der Krankenhaushierarchie die Anwendung dieser Strategie. Vor allem die Stationsleitung und die Mehrzahl der leitenden Mediziner/innen optieren aus organisatorischen Gründen dafür. Der Stationschef ist sich darüber bewusst. Bei einem Gespräch über die Versorgung von sich am Lebensende befindenden Patient/innen in seiner Abteilung erklärt er: »Ökonomie und Ethik passen nicht zusammen.« Er definiert seine Station als eine Übergangsabteilung, in der die Mediziner/innen keine Entscheidungen treffen, die auf die weitere Behandlung der Patient/innen Einfluss nehmen. Diese Strategie ermöglicht es, eine Überauslastung der Betten in der Aufnahmestation und dementsprechend auch des Akutbereichs der Notaufnahme zu vermeiden. Die Statuten und das Leitbild der Abteilung erfordern, dass die Kranken verlegt werden. Die Leitungen der anderen Abteilungen wollen jedoch keine Patienten am Lebensende aufnehmen – selbst wenn sie sie bereits kennen. Die in den anderen Stationen herrschenden administrativen Zwänge haben Konsequenzen für die Praxen in der Notaufnahme. Damit eine Chance besteht, Patient/innen in eine andere Station verlegen zu können, bleiben die leitenden Mediziner/innen in ihrer Beschreibung der Patient/innen vage und äußern, ihre Entwicklung sei aufgrund zu vieler klinischer Unsicherheiten nicht abzusehen. Sie setzen auf das Phänomen der fließenden Übergänge zwischen einer schweren, aber nicht letalen Krankheit und der Prognose eines zeitlich nahe stehenden Todes, dessen Zeitpunkt aber nicht wirklich abzusehen ist, sowie auf mögliche Interpretationsfehler. Die Diagnose von sich an ihrem Lebensende befindenden Patient/innen impliziert die Interpretation einer Situation, in der nur noch wenige Handlungsmöglichkeiten bestehen. Ordnet man hingegen zusätzliche Untersuchungen und so genannte »aktive« Behandlungen an und teilt dies den Stationsleitungen derjenigen Abteilung mit, in die die Patienten verlegt werden sollen, so signalisiert man indirekt, dass der Zustand der Patienten stabil ist und sie vermutlich nicht innerhalb eines kurzen Zeitraums sterben werden. Wie mit Patient/innen am Lebensende in der Notaufnahme umgegangen wird, erklärt sich jedoch nicht hundertprozentig aus organisatorischen Zwängen. In unserer Studie zeigt sich, dass die Behandlungsanweisungen sich von Tag zu Tag ändern und abwechselnd aktive und palliative Maßnahmen angeordnet werden. Je länger die Ver-
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weildauer der Patient/innen ist, desto inkohärenter wird die Behandlung. Wir konnten feststellen, dass die Assistenzärzt/innen die Anweisungen der alle 24 Stunden wechselnden leitenden Mediziner/innen befolgen. Diese Ärzt/innen geben keine kohärenten Behandlungsanweisungen für Patient/innen am Lebensende. Die Notaufnahme hat keinen Versorgungsstandard, mit dem sich die Praxen harmonisieren lassen könnten, und es finden keine entsprechenden Besprechungen statt. Eine kollektive Reflexion über die Versorgung von Patient/innen am Lebensende findet überhaupt nicht statt. Dieser Punkt hat in der Arbeitsorganisation keinen Platz. Die Effizienzkultur in Krankenhäusern spielt ebenfalls eine wichtige Rolle bei den Entscheidungen der Mediziner/innen. Die ärztlichen Leiter/innen der Notaufnahmen sind häufig Intensivmediziner/innen. Ihr Spezialgebiet, die Notfallmedizin, privilegiert – sinnvollerweise – schnelle Entscheidungen, die Identifizierung von Situationen, in denen konkrete Lebensaussichten auf dem Spiel stehen, und das Erlernen »lebensrettender Maßnahmen«, nicht aber eine palliative Herangehensweise. Es agieren jedoch nicht alle leitenden Ärzt/innen in Übereinstimmung mit dieser Logik. Ihre Ausbildung, ihre berufliche Laufbahn und ihre persönlichen Erfahrungen wirken sich auf ihre Behandlungsentscheidungen aus. Einige von ihnen kommen aus den so genannten »SAMU«-Notaufnahmen [Service d’Aide Médicale Urgente; medizinischer Notfalldienst], andere wiederum sind stärker durch ihre allgemeinmedizinische Praxis geprägt. Erstere neigen stärker dazu, einen primär kurativen Behandlungsansatz zu verfolgen und sich an dem organisatorischen Ziel auszurichten, die Patient/innen schnell zu verlegen. Den Äußerungen der Assistenzärzt/innen zufolge sind manche der leitenden Ärzt/innen »mehr« Intensivmediziner/innen« als andere, also stärker dazu geneigt, interventionistische Entscheidungen zu treffen; das heißt, dass sie entweder stärker auf interventionistische Maßnahmen zurückgreifen oder dass sie stärker als andere im Fall eines abzusehenden Todes Beruhigungsmittel einsetzen. Dahingehen lassen diejenigen Mediziner/innen, die »weniger intensivmedizinisch ausgerichtet« sind, den Prozess des Sterbens eher ›ablaufen‹ und greifen so wenig wie möglich in ihn ein. Die Definition von Patienten als »sich am Lebensende befindend« und in den Bereich der Palliativmedizin fallend hängt also nicht nur von den klinischen Kompetenzen der befugten Akteur/innen, d.h. der Ärzt/innen ab, sondern ebenso von der
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Art und Weise, wie diese die organisatorischen Zwänge innerhalb des Krankenhauses interpretieren und welche Möglichkeiten zur Überwindung dieser Zwänge sie sehen. Diese Differenzen werden in den alltäglichen Arbeitsabläufen nicht explizit thematisiert. Wenn man die leitenden Ärzt/innen über Patient/innen befragt, deren Versorgung Schwierigkeiten aufweist, kommen die meisten von ihnen nicht auf das Problem der Patient/innen am Lebensende zu sprechen. Befragt man sie explizit über diese Personengruppe, so ziehen sie sich auf die Tatsache zurück, dass sie die Patienten nicht kennen und es daher nicht vertreten können, das Ende oder eine Einschränkung der kurativen Behandlung und der Untersuchungen anzuordnen. Die Verantwortung, auf eine rein palliative Versorgung umzustellen, überlassen sie lieber dem Personal derjenigen Station, die die Patienten letztendlich aufnehmen wird. Einzig die Gerontologin, die nur in Teilzeit in der Notaufnahme arbeitet und die einzige Repräsentantin ihrer Fachrichtung ist, vertritt manchmal radikal abweichende Ansichten. Ihre guten Kenntnisse der gerontologischen Kliniklandschaft erleichtern ihr die Aufgabe, innerhalb oder außerhalb des Krankenhauses ein freies Bett in einer Gerontologie zu finden. Der Stationschef bittet sie manchmal darum, den Transfer schwer zu handhabender alter Patient/innen zu organisieren. Im Rahmen unserer Beobachtungen gab es einen Fall, in dem ein Patient irreversibel im Sterben lag, ohne dass der Zeitpunkt des Todes abzusehen war. Die Angehörigen hatten den Wunsch geäußert, der Patient solle nicht »künstlich am Leben erhalten werden«. Daraufhin wies die Gerontologin den Abbruch der Behandlung und sogar der Ernährung über Magensonde an und setzte die Familie darüber in Kenntnis, dass der Patient »von nun an palliativ versorgt« werde.
K ONFLIKTE IM Z USAMMENHANG MIT DER D EFINITION UND DER V ERSORGUNG VON P ATIENT / INNEN AM L EBENSENDE Die Strategie der leitenden Mediziner/innen, Patient/innen nicht explizit als sich an ihrem Lebensende befindend identifizieren zu wollen, ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Die anderen Klinikstationen nehmen Patient/innen aus der Notaufnahme, die als »sehr geschwächt« beschrieben werden und deren Tod absehbar ist, oft nur sehr widerwillig
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bei sich auf. Wenn diese Patient/innen verlegt werden und ihr klinischer Zustand nicht eindeutig beschrieben wird, besteht die Gefahr, dass sich das Verhältnis zwischen dem Personal der Notaufnahme und den Leitungen der anderen Abteilungen verschlechtert. Letztere sind auf lange Sicht möglicherweise immer weniger bereit, Patient/innen aus der Notaufnahme aufzunehmen. Wenn die Strategie der leitenden Mediziner/innen nicht aufgeht, wenden sie sich an die Leitung der Krankenhausverwaltung, die dann die Verlegung der/s Patient/in auf eine Station anordnet, in der ein Bett frei ist – die Leitung dieser Abteilung wird hierbei nicht mehr gefragt. Diese Verlegungen – das Pflegepersonal bezeichnet sie als »Nacht-und-Nebel-Verlegungen« – finden häufig abends oder nachts statt. Die Definition der Situation, wie die leitenden Ärzt/innen sie liefern, wird nicht nur von anderen Abteilungen kritisiert. Auch innerhalb der Notaufnahme und sogar innerhalb eines zuständigen Teams wird Kritik geäußert. Manche Assistenzärzt/innen bringen Unverständnis über die Behandlungsentscheidungen für Patient/innen am Lebensende zur Sprache. Sie wundern sich über Behandlungen, die beendet werden müssen oder nicht ausgeführt werden dürfen. Wie lassen sich diejenigen Patient/innen, denen kurative Behandlungen noch helfen könnten oder bei denen es Komplikationen zu vermeiden gilt, von Kranken unterscheiden, die nur noch eine Palliativversorgung brauchen? Die Assistenzärzt/innen sind verunsichert und beklagen, dass sie nicht ausgebildet sind, solche Entscheidungen zu treffen. Bei Entscheidungen über die Einschränkung oder die Beendigung einer kurativen Behandlung wenden sie sich an die leitenden Ärzt/innen. Es fällt ihnen selbst dann schwer, die Behandlungsentscheidungen der leitenden Ärzt/innen zu kritisieren, wenn sie den Eindruck haben, dass die Behandlung »etwas barbarisch« ist, um einen Assistenzarzt zu zitieren, der bestimmte invasive Methoden wie beispielsweise das Legen einer Sonde beschreibt. Entscheidungen werden nicht in einem kollegialen Stil getroffen, sondern innerhalb eines binären Verhältnisses, dessen beide Pole sich nicht auf Augenhöhe begegnen. Je nach ihren Überzeugungen und ihrer individuellen Sensibilität gegenüber solchen Fragen stimmen die Assistenzärzt/innen mit den verschiedenen leitenden Mediziner/innen überein oder auch nicht. Im Gespräch bezeichnet eine Assistenzärztin Personen, die sich nicht dazu durchringen können, »nicht wiederbelebbar« in die Akte einer/s Patient/in zu schreiben, die sie selber als am Lebensende definiert, als »Heuchler/innen«. Das
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impliziert auch, dass man nicht versuchen sollte, Patient/innen im Fall einer Verschlimmerung ihres Zustands auf die Intensivstation zu verlegen. Eine andere Assistenzärztin, die erfährt, dass die von ihr am Vortag behandelte Patientin infolge einer autoritären Entscheidung in der Nacht auf eine andere Station verlegt wurde, ruft aus: »Aber die werden sie mir umbringen! Die hat einen Blutdruck von 60!« Für manche Assistenzärzt/innen sind die fehlenden Diskussionen und die ihnen fehlenden Kompetenzen im Hinblick auf den Sterbeprozess nur schwer zu ertragen. Andere Mitglieder des Personals kritisieren außerdem die Entscheidung der leitenden Ärzt/innen, Patient/innen nicht eindeutig als »am Lebensende« zu identifizieren und Patient/innen, deren »fatale Entwicklung abzusehen ist«, nur noch palliativ zu behandeln. Einige Krankenpfleger/innen, Pflegehelfer/innen und eine Sekretärin äußerten gegenüber der Forscherin Missbilligung im Hinblick auf die Zweckmäßigkeit der Verlegung einiger dieser Patient/innen. Ihrer Ansicht nach kann der Transport die Kranken noch zusätzlich schwächen. Zudem befürchten sie, Kranke könnten in Abteilungen verlegt werden, die nicht für ihre Versorgung geeignet sind, weil beispielsweise das dort arbeitende Personal geringere Kompetenzen im Bereich der Schmerzkontrolle hat. Es kam vor, dass eine Kranke nicht verlegt wurde, weil eine Krankenpflegerin sie als »zu geschwächt« bezeichnete, und dass eine leitende Pflegerin »vergaß«, einen betagten Patienten in der terminalen Phase seiner Erkrankung zu verlegen. Diese Beobachtungen schließen an das an, was bereits über die informelle Macht bestimmter Krankenpfleger/innen gezeigt werden konnte, die die Behandlungsentscheidungen in Krankenhäusern beeinflussen (Strauss et al. 1992). In den meisten Situationen können sich die Pfleger/innen den ärztlichen Anordnungen allerdings nicht widersetzen. In dem folgenden Gesprächsausschnitt beschränken sie sich darauf, ihre Kritik an den Behandlungsentscheidungen der leitenden Ärzt/innen zu artikulieren, wenn beispielsweise eine kurative Behandlung oder eine invasive Untersuchung angeordnet wird, während sie selber der Ansicht sind, die Patientin sei »unheilbar«. Frau B. wird aufgrund der Schwere ihrer Erkrankung in ein Einzelzimmer verlegt. Etwas später überlegt der Assistenzarzt, welche Behandlung angezeigt ist, und ist sich unsicher darüber, ob er ein Herzmittel verschreiben soll. Er diskutiert mit den diensthabenden Pflegerinnen.
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Die Pflegerin: »Die Familie will keine künstlich lebensverlängernden Maßnahmen.« Der Assistenzarzt: »Zwischen lebensverlängernden Maßnahmen und nichts machen …« Die Pflegerin: »Kommt drauf an. Ist sie reanimierbar oder nicht?« Der Assistenzarzt: »Nein, aber sie kommt aus der Kardio und wurde da behandelt, jetzt kann man doch nicht alles einstellen. Ich habe Angst, dass sie ein Lungenödem kriegt, immerhin hat sie einen Blutdruck von 170! Tod durch Ersticken …!« Die Pflegerin: »Also, was sollen wir der Nachtschicht sagen?«
Der Assistenzarzt geht los, um den diensthabenden leitenden Arzt anzurufen und nach seiner Meinung zu fragen. Die beiden Pflegerinnen im Gang kommentieren: »Auch wenn da steht, ›keine Reanimati4 on‹, wenn sie einen Sättigungsabfall des Sauerstoffs im Blut hat , rufen wir unten [bei den diensthabenden Ärzt/innen im Akutbereich] an. Wir sagen, wir schreiben sogar ›Keine Reanimation‹, und ein anderer Arzt ruft die Intensivstation an! Was sollen wir der Nachtschicht sagen?« Der inzwischen zurückgekehrte Assistenzarzt verkündet: »Wir geben ihr Amiodaron über eine Nasen-Magensonde.« Gegenüber den reservierten Pfleger/innen fügt er hinzu: »M. [ein leitender Arzt] hat mir das gesagt.« Aufgrund der Anweisung des leitenden Arztes müssen die Krankenpflegerinnen der Patientin eine Sonde legen, die in die Nase eingeführt wird und bis in den Magen reicht. Das im Magen aufgenommene Medikament erhält die Herzfunktion aufrecht. Das Legen der Sonde ist schwierig und potenziell schmerzhaft für die Patientin. Die Pflegerinnen halten die Maßnahme für nutzlos und geben das dem Assistenzarzt durch ihr Schweigen zu verstehen. In diesem Konflikt zwischen drei Gruppen – leitende Ärzt/innen, Assistenzärzt/innen und Pfleger/innen – ist die Zwischenstellung der Assistenzärzt/innen unter Umständen unbequem, wenn die Anweisungen der leitenden Ärzt/innen bei den Pfleger/innen, die sie befolgen müssen, misfallen. In diesen Beobachtungen bestätigt sich auch, wie stark berufliche Identitäten und Positionen innerhalb der Krankenhaushierarchie die Haltungen und Praxen des Personals beeinflussen. Anne Paillet (2007) hat auf einer Neugeborenenintensivstation ähnliche Phänomene beobachtet. Die leitenden Mediziner/innen sind im Hinblick auf Neugeborene mit schweren 4 Die Sauerstoffkonzentration im Blut sinkt, was das akute Sterberisiko erhöht.
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Hirnschäden zurückhaltender als die Krankenschwestern, wenn es darum geht, ob intensivmedizinische Maßnahmen eingestellt oder eingeschränkt werden sollen. Es geht hier um die Antizipation der zukünftigen Lebensqualität der Patient/innen und ihrer Angehörigen. Die Mediziner/innen befürchten, aufgrund einer falschen Einschätzung dafür verantwortlich zu sein, die Existenz eines menschlichen Wesens zu zerstören, während die Pfleger/innen eher über die zukünftige Belastung der Eltern nachdenken. Wie auch in dem von uns untersuchten Krankenhaus sind die Pfleger/innen weniger interventionistisch als die leitenden Ärzt/innen. Sie bevorzugen einen begrenzten Einsatz medizinischer Technologien, wenn ein Individuum zwischen Leben und Tod schwebt. In beiden Abteilungen nehmen die Assistenzärzt/innen eine Zwischenposition zwischen den leitenden Ärzt/innen und den Krankenpfleger/innen ein. Die Spannungen, die wir im Zusammenhang mit der Versorgung von sich am Ende ihres Lebens befindenden Patient/innen in der Notaufnahme beobachtet haben, bestehen auch in anderen Notaufnahmen. In der internationalen medizinischen Literatur äußern sich Angehörige des Gesundheitswesens aus verschiedenen angelsächsischen Ländern zu ähnlichen Phänomenen. Sie lassen Skepsis darüber anklingen, ob die Notaufnahmen in der Lage sind, das Wohlbefinden und die Würde von Patient/innen in terminalen Krankheitsphasen zu wahren (McClain/Perkins 2002; Pedley/Johnston 2001). Sie betonen die Besonderheiten des Arbeitens in der Notaufnahme; es mangelt an Zeit für die Planung einer adäquaten Versorgung und für die emotionale Arbeit mit den Patient/innen und ihren Angehörigen (Chan 2004). In Frankreich wurde dieses Problem von Notfallmediziner/innen zur Sprache gebracht, die die Qualität der Versorgung ihrer sich am Lebensende befindenden Patient/innen thematisieren (Haegy 2003; Tardy 2002). Der Berufsverband der französischen Notfallmediziner/innen, die Société Française de Médecine d’Urgence, pocht auf die Notwendigkeit, »dem Tod seinen Platz einzuräumen« (SFMU 2003). Dem Verband zufolge sind Notfall-mediziner/innen »es sich schuldig, ihr Urteilsvermögen zu beweisen und zu erkennen, wann jemand im Sterben liegt« oder wann »der Tod abzusehen ist«. Der Verband empfiehlt den Ärzt/innen, sich die erforderliche Zeit zu nehmen, um alle Fakten zu sammeln, und Behandlungen einzustellen oder nicht anzuordnen, um jeglichen »irrationalen Starrsinn« zu vermeiden. Letzteres ist eine euphemistische formulierte Empfehlung dafür, sich gegen künstlich
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lebenserhaltende Maßnahmen zu entscheiden. Es wird angeraten, palliative Behandlungen anzuweisen und Entscheidungen gemeinsam zu treffen. Das entspricht nicht dem, was wir beobachtet haben. Die Überlegungen und Empfehlungen dieses anerkannten Berufsverbands schlagen sich in der Praxis nicht nieder. Hier zeigt sich, wie organisatorische und administrative Zwänge ein Vorgehen begünstigen, das sich konträr zu den professionellen Empfehlungen über »Good Practice« verhält. Eine Arbeitsorganisation, die eine schnelle Verlegung der Patient/innen favorisiert, lässt keine Zeit für die Reflexion, die unabdingbar dafür ist, dass eine Behandlung angesetzt wird, die das Wohlergehen der Patient/innen und die emotionale Begleitung ihrer Angehörigen zum Ziel hat. All dies führt gegebenenfalls zu Inkonsistenz in der Behandlung, und es lässt sich auch jenseits von expliziten künstlich lebenserhaltenden Maßnahmen feststellen, dass oftmals »irrationaler Starrsinn« am Werk ist.
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Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Begriff der Zeitlichkeit uns von zentraler Bedeutung dafür zu sein scheint, die Arbeitsorganisation in der Notaufnahme verstehen und die Versorgung von sich am Ende ihres Lebens befin-denden Patient/innen in diesen Abteilungen analysieren zu können. Das Personal muss zeitliche und organisatorische Zwänge verwalten, die den Alltag in der Notaufnahme und auf den Stationen, auf die die Patient/innen verlegt werden, stark prägen. Tritt der Tod der Patient/innen schnell ein, so schreibt er sich in die üblichen Arbeitsabläufe ein. Wenn nicht, stellen sich zahlreiche Probleme. Wie schwierig das Management solcher Situationen ist, zeigt sich beispielsweise in der semantischen Unbestimmtheit zweier vom Personal häufig gebrauchter Wendungen: »Patient/innen am Lebensende« und »Palliativbehandlung«. Der Begriff »Patient/innen am Lebensende« verweist auf gleichzeitig biologische und soziale Phänomene und auf einen Mechanismus der Identifizierung und Interpretation klinischer Zeichen. Dieser Begriff wurde durch ein 1999 erlassenes Gesetz geprägt, das »sich am Lebensende befindenden« Kranken das Recht zuspricht, Palliativthe-
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rapie und Sterbebegleitung zu empfangen. Letzteres gilt auch für die Angehörigen (Code de la Santé Publique, Artikel 1112-68). In der Praxis ist dieser Begriff jedoch uneindeutig. Nicht alle Mitglieder eines Behandlungsteams definieren »sich am Lebensende befindende Patient/innen« auf die gleiche Weise. Weder beschreibt dieser Begriff in den Augen von Ärzt/innen und Krankenpfleger/innen den gleichen Sachverhalt, noch wird er von allen Ärzt/innen übereinstimmend verwendet. Das Wort »Lebensende« ist ein Litotes, den die Pfleger/innen in der Kommunikation untereinander verwenden, um auszudrücken, 5 dass Patienten innerhalb von kürzester Zeit sterben werden. Der Begriff ist gleichbedeutend mit »sich in der terminalen Phase einer tödlichen Krankheit befindend«, und die so bezeichneten Patient/innen benötigen palliative Versorgungsmaßnahmen. Für manche leitende Ärzt/innen hingegen hat das Wort »Lebensende« viel mehr Bedeutungen als nur die »terminale Phase«; so wird es beispielsweise in der Beschreibung von Patient/innen verwendet, die laut Prognose mittelfristig sterben werden, so dass es keinerlei Begründung dafür gibt, Anordnungen zu ändern und aktive Behandlungsmaßnahmen abzusetzen. Andere leitende Ärzt/innen schränken bei diesen Patient/innen die Anweisung zusätzlicher Untersuchungen oder bestimmter aktiver Maßnahmen ein. Sie alle treffen ihre Entscheidungen ohne Absprache mit ihren Kolleg/innen und ohne die Lebensqualität dieser Patient/innen in Betracht zu ziehen. Klinische Unsicherheiten und die Grenzen des menschlichen Wissens sind die primären Gründe für diese unterschiedlichen Ansichten. Das Personal weiß um die Möglichkeit fälschlich antizipierter, unmittelbar zu erwarten-der Todesfälle und verspürt angesichts dessen Schuldgefühle. Diese Unsicherheit und die potenziellen Fehler werden aber auch strategisch eingesetzt. Wenn Patienten als sich am Ende des Lebens befindend erklärt werden, kann das zu zweierlei Veränderungen in der Arbeitsorganisation führen. Krankenpfleger/innen, Pflegehelfer/innen und Assistenzärzt/innen versuchen nach besten Kräften, den Patient/innen einen möglichst wenig schmerzhaften Tod zu erlauben und die Angehörigen psychologisch auf ihr Ableben vorzubereiten. Das hat aber auch einen anderen Effekt: Der Unwille der Stations-
5 A.d.Ü.: Im Französischen werden sterbende Patient/innen als »fins de vie« bezeichnet, d.h. als »am Lebensende«. Im Deutschen wird manchmal der Begriff »finale Patient/innen« verwendet.
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leitungen in der Klinik, die Verlegung der Patient/innen in ihre Abteilung zu genehmigen, zeigt sich hier überdeutlich. Aus diesen Gründen spielen leitende Mediziner/innen, wenn sie unheilbar kranke Patient/innen zu versorgen haben und mit deren baldigem, aber vielleicht nicht unmittelbar bevorstehendem Ableben rechnen, mit der oben dargestellten Unbestimmtheit, um diesen Sachverhalt zu verschleiern. Die beste Möglichkeit, ein reibungsloses Funktionieren ihrer massiven organisatorischen Sachzwängen unterworfenen Station sicherzustellen, besteht für sie darin, die Patient/innen so schnell wie möglich zu verlegen, um die Betten in der Notaufnahme für neue Patient/innen freizuhalten. Je nach ihrem beruflichen Selbstverständnis und ihrer Position innerhalb der Klinikhierarchie haben die Mitglieder des Personals also unterschiedliche Definitionen davon, was »Lebensende« heißt. Die von uns beobachteten Notaufnahmepatient/innen sind selber nicht an ihren Statusänderungen beteiligt. Meistens sind sie bewusstlos und können nichts zu diesen Definitionsveränderungen beitragen. Diese Situation lässt sich mit Michel Castras (2000) Beobachtungen von Patient/innen während der Aufnahmegespräche auf Palliativstationen kontrastieren: Dort versuchen die Ärzt/innen, die Patient/innen 6 dazu zu bringen, ihren bevorstehenden Tod zu akzeptieren. Die Uneindeutigkeit des Begriffs »Patient/in am Lebensende« wiederholt sich in der Unschärfe, mit der über Palliativbehandlungen gesprochen wird. Werden Patienten als am Lebensende bezeichnet, so geht es nicht nur um ein Wort; eine solche Kategorisierung schlägt sich in der beruflichen Praxis und in der medizinischen Versorgung nieder. Solange die Patient/innen nicht als sich in der terminalen Phase befindend gelten, weisen die leitenden Ärzt/innen zusätzliche Untersuchungen und so genannte »aktive« Behandlungsmethoden an, um Krankheiten zu therapieren oder aus Krankheiten folgende Komplikationen zu vermeiden. Der Einfluss organisatorischer Zwänge macht sich nicht nur im Hinblick auf den Status der Patient/innen bemerkbar, 6 Die/der Ärzt/in aus der palliativmedizinischen Station empfängt die/den Patient/in und eine/n Angehörige/n zu einem Gespräch, um zu entscheiden, ob die Person in die Abteilung aufgenommen werden kann. Erfüllt sie die klinischen Kriterien, so versichert sich die/der Ärzt/in, dass sie mit einer Änderung ihres Status einverstanden ist. Sie wird von einer/m heilbar Kranken zu einer/m unheilbar Kranken, die/der kurz vor dem Tod steht. Die/der Ärzt/in verkündet einen Bruch mit der vorherigen Identität der kranken Person; das ist die Voraussetzung dafür, dass die entsprechende Versorgung angesetzt werden kann.
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sondern auch im medizinischen Umgang mit ihnen, wenn beispielsweise überflüssige Behandlungen angewiesen werden. Gelten Patienten als terminal krank, so bemüht sich das Personal darum, palliative Maßnahmen einzuläuten, die primär darauf abzielen, Schmerzen zu lindern und das Bewusstseinslevel abzusenken. Die Grenze zwischen »aktiven« Behandlungen und Palliativtherapie ist jedoch fließend. Die beiden Behandlungstypen können abwechselnd zum Einsatz kommen oder gleichzeitig angewiesen werden. Die Ärzt/innen verordnen erst dann eine ausschließlich palliative Behandlung, wenn Patienten bereits vor ihrer Ankunft in der Notaufnahme von ihren behandelnden Allgemeinärzt/innen oder Onkolog/innen als »in palliativer Behandlung befindlich« beschrieben wurden oder wenn sofort bei ihrer Ankunft in der Notaufnahme beispielsweise von einer Neurochirurgin aufgrund eines schweren Schlaganfalls die Prognose gestellt wurde, dass sie innerhalb kürzester Zeit sterben werden. Aber selbst in den Fällen, in denen alle Beteiligten sich einig darüber sind, dass ausschließlich eine Palliativbehandlung angezeigt ist, lässt sich beobachten, dass die Kliniker/innen unterschiedliche Anweisungen geben. Bei verschiedenen Mediziner/innen kann schon die Definition von »palliativer Behandlung« sehr unterschiedlich ausfallen. Hier sei an den fließenden Übergang zwischen kurativen und palliativen Behandlungsansätzen erinnert, die Isabelle Baszanger herausgearbeitet hat (2002: 218); so verordnen beispielsweise Mediziner/innen in onkologischen Abteilungen »palliative, aber noch therapeutische Maßnahmen«. Baszanger thematisiert allerdings nicht, wie sich organisatorische Faktoren auf Veränderungen von Behandlungsentscheidungen auswirken, obwohl sich das in unseren Beobachtungen in der Notaufnahme als zentraler Punkt herausgestellt hat. Zahlreiche Patient/innen sterben in Krankenhäusern, nachdem sie von Angehörigen in die Notaufnahme gebracht werden. In unserer Studie zeigt sich, dass die Versorgung von sich am Lebensende befindenden Patient/innen nur schwer mit den Leitbildern solcher Abteilungen vereinbar ist und zu starken Spannungen zwischen den Beschäftigten führt, wenn die Patient/innen nicht sehr schnell sterben. Es ist zu befürchten, dass die Probleme, die wir in der von uns untersuchten Notaufnahme beobachtet haben, nicht nur dort auftreten und sich zudem tendenziell verschlimmern. Die Einsparpolitik in der Versorgung von Patient/innen in Krankenhäusern übersetzt sich in eine sinkende Bettenzahl und eine abnehmende Verweildauer von Pati-
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ent/innen. Die administrativen Zwänge, unter denen die Klinikstationen stehen, haben zur Folge, dass die Arbeitsorganisation sich auf eine beständig wachsende Aktivität hin orientiert; das gilt vor allem für den Einsatz medizinischer Technologien. Demgegenüber wird die psychologische Begleitung der sich an ihrem Lebensende befindenden Patient/innen nicht entlohnt. Es gibt zwar Palliativstationen, die sich auf dieses Feld spezialisieren, aber es sind viel zu wenige; manche Stimmen kritisieren außerdem das Konzept der Palliativmedizin als solches (Castra 2000). Obwohl der Altersdurchschnitt in Industrienationen stetig wächst und Notaufnahmen immer mehr Patient/innen auffangen müssen, scheint die Zuständigkeit für die Versorgung von Personen am Lebensende, deren Tod nicht unmittelbar eintritt, in diesen Abteilungen bei niemandem zu liegen. Danksagung Wir möchten der Fondation de France für ihre Teilfinanzierung dieser Studie danken. Unser Dank gilt auch den Mitarbeiter/innen des Krankenhauses, die uns ermöglicht haben, unsere Studie an ihrem Arbeitsplatz durchzuführen.
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Kardiovaskuläre Prävention als Technik 1 zur Bildung von Leben selbst Eine ethnographische Untersuchung. J ÖRG N IEWÖHNER & M ICHALIS K ONTOPODIS
»[W]enn die Biologie [im 18. Jahrhundert] unbekannt war, gab es dafür einen einfachen Grund: das Leben selbst existierte nicht.« (Foucault 1974: 168) Leben selbst entsteht laut Michel Foucault mit der Entwicklung eines epistemischen Systems, das die grundsätzliche Vernetztheit aller lebenden Dinge postuliert. Diese Vernetztheit wiederum produziert die Bedingungen, die die Entstehung des Konzepts von Leben selbst befördern (Franklin 2000: 193). Leben selbst bezeichnet also die Gesamtheit der lebendigen Qualitäten und Kapazitäten. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts diagnostiziert Sarah Franklin in ihrer Analyse der Entwicklungen der neuen Genetik die signifikante Technologisierung und Kapitalisierung dieses Lebens selbst. Die Lebenswissenschaften zielten in der Logik und Praxis ihrer Interventionen nicht mehr nur noch auf Gesundheit, Tot und Krankheit sondern eben auf Leben selbst. Nikolas Rose führt diese Analyse fort und markiert in seiner Kartographie der Gegenwart fünf charakteristische »Mutationen« oder Dimensionen einer Politik des Lebens selbst: Molekularisierung, Optimierung, Subjektivierung, somatische Erfahrung und economies of vitality (vgl. Rose 2007: 4ff.). 1 Wir übersetzen das Konzept life itself, wie es Sarah Franklin und Nikolas Rose in den letzten Jahren etabliert haben, als Leben selbst, um es klar von möglicher Weise ähnlich lautenden Konzepten wie Lebenspolitik oder Vitalpolitik abzugrenzen.
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Molekularisierung schreibt den Trend der Biomedikalisierung, d.h. die Transformation der modernen Medizin durch das Aufkommen von technoscience, fort (Clarke, et al. 2003) und diagnostiziert eine zunehmende Verortung von Bedeutung auf molekularer Ebene. Optimierung markiert die zunehmende Verwischung der Unterscheidung von Risiko bzw. Suszeptibilität und Verbesserung (enhancement). Subjektivierung befasst sich mit der Verschiebung weg von pastoralen Herrschaftsformen zu neuen Formen der biopolitischen Aktivierung. Somatische Erfahrung meint die zunehmend zentrale Rolle von biologisch gewusster, erfahrener und produzierter Körperlichkeit in den Konstitutionsprozessen von Sozialität und Individualität. Economies of vitality bezieht sich auf die globale Kapitalisierung von Leben selbst durch das rasante Wachstum von Gesundheitsmärkten und ihrer zunehmenden Vernetzung zwischen staatlichen, halb-staatlichen, supra-nationalen und privaten Akteuren. Diese fünf Mutationen werden vor allen Dingen durch Analysen der neueren genetischen Technologien und ihren Anwendungen herausgearbeitet. In diesem Beitrag stellen wir die Frage inwiefern diese Diagnose nur auf aktuelle genetische Anwendungen zutrifft oder ob sie auch die Entwicklungen im Feld der komplexen, chronischen Krankheiten angemessen charakterisiert. Dies ist insofern von besonderer Relevanz, als dass chronische Erkrankungen nicht nur in westlichen Gesundheitssystemen den bei weitem wichtigsten Posten darstellen. Wir untersuchen diese Frage am Beispiel der Herzkreislauferkrankungen und Übergewicht, speziell dem zunehmenden Trend hin zur Prävention. Die Genetik spielt in diesem Feld nicht die herausragende Rolle, wie sie es vielleicht in den Bereichen Klonen, Reproduktionsmedizin oder Gendiagnostik tut. Trotzdem durchläuft die biomedizinische Forschung zur Ätiologie von Herzkreislauferkrankungen eine ähnliche Entwicklung. Die Spezifika dieser Entwicklung und ihre Auswirkungen auf die Praxis von Herzkreislaufprävention wollen wir im Folgenden skizzieren. Wir tun dies anhand einer detaillierten Diskussion der ersten drei Roseschen Mutationen2 im Bereich der Herzkreislaufprävention mit einem Fokus auf Deutschland – Molekularisierung, Optimierung, Subjektivierung – und berücksichtigen dabei auch die wichtigen Verschränkungen zwischen Medizin und Ökonomie. Anhand 2 Die Mutationen vier und fünf – Somatische Erfahrung und Economies of Vitality – können wir auf der Basis unserer empirischen Befunde derzeit nur unzureichend erörtern und klammern sie daher in diesem Aufsatz aus.
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eines ethnographischen Beispiels von Präventionsprogrammen in einem Berliner Kindergarten diskutieren wir die konkreten Auswirkungen dieser Mutationen, so wie wir sie für die Konzeption kardiovaskulärer Krankheiten aufzeigen, auf Präventionspraxis. Wir zeigen damit, dass die Analysen auf der Basis von »modest empiricism« (Rabinow/Rose 2006)3, wie wir sie in den ersten drei Schritten durchführen, sinnvoller Weise durch ethnographisches Material von konkreten Praxisformen begleitet werden können, um zu vermeiden, dass die Auswirkungen von biopolitischen Herrschaftsformen in spezifischen Alltagen unterbelichtet werden. Unsere Analyse baut auf Ergebnissen eines interdisziplinäres Forschungsprojekts auf, in dessen Rahmen wir mittels historischer Analyse, Diskurs- und Inhaltsanalysen von grauer Literatur und Fachpublikationen, qualitativer Analysen von Arzt-Patienten Gespräche, Interviews mit Forschenden in der Wissenschaft und Politiker/innen und ethnographischer Feldforschung in Hausarztpraxen, Kliniken und Kindergärten im Entstehen begriffene Konstellationen von Herzkreislaufprävention untersucht haben.4 Die Ergebnisse dieser Untersuchung können hier nicht vollständig präsentiert werden.5 Im Kontext der hier dargestellten Argumentation werden wir auf Diskursanalysen und ethnographische Materialien Bezug nehmen und an diesen Materialien exemplarisch eine breitere Entwicklung diskutieren. Die ethnographische Untersuchung von Kindergärten hat hauptsächlich in verschiedenen Kindergärten Berlins stattgefunden.6 Das spezifische Beispiel im letzten Abschnitt dieses Aufsatzes stammt aus einem Kindergarten in 3 Rabinow und Rose grenzen ihr Konzept des gemäßigten Empirismus von philosophischen Analyse ab und betonen damit ihre Achtsamkeit gegenüber Verschiebungen, Unstimmigkeiten und Auffälligkeiten in Diskursen und Praxen. 4 Das Forschungsprojekt wurde gefördert aus Mitteln des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung (01GWS051-054). Wir danken herzlich unseren Kooperationspartnern Regine Kollek und Martin Döring (Universität Hamburg), Jeanette Madarász und Martin Lengwiler (WZB und Universität Basel), Vittoria Braun und Christoph Heintze (Charité Berlin) und Katrin Amelang, Tom Mathar und Stefan Beck (Humboldt-Universität zu Berlin). 5 Eine ausführlichere Darstellung der Ergebnisse findet sich in (Niewöhner 2011) 6 In einem vergleichenden Ansatz, dessen Ergebnisse hier nicht präsentiert werden können, wurden verschiedene Kindergärten in Bezirken Berlins und New Yorks verglichen (Kontopodis 2009).
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einem sozial schwachen Viertel im ehemaligen Ostberlin, der seit geraumer Zeit an dem Präventionsprogramm ›Tigerkids‹ teilnimmt. Dies ist ein Programm einer gesetzlichen Krankenversicherung, das bundesweit eingesetzt wird und in unabhängigen Evaluationen sehr positiv abschneidet.
M OLEKULARISIERUNG Mit der erfolgreichen Eindämmung der infektiösen Erkrankungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts rücken die chronischen Erkrankungen in den Mittelpunkt des öffentlichen Gesundheitsinteresses: allen voran Krebs und Herzkreislauferkrankungen (Lengwiler/Beck 2008). Letztere, und hier speziell Übergewicht und erhöhter Blutdruck, werden von Beginn an als multifaktorielles Krankheitsbild diskutiert. Die vermuteten Ursachen reichen von eher materiellen Faktoren, wie übermäßige Energiezufuhr oder mangelnde Bewegung, bis hin zur ›modernen Zivilisation‹ mit ihren freien und liberalen Lebensgewohnheiten und ihrer raschen Entwicklung und Veränderung (z.B. Fisk 1915). Nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt mit der Seven Countries und der Framingham Studie (Keys, et al. 1950, Kannel/McGee 1979) der rasante Aufstieg der Risikofaktorepidemiologie. Auf der Basis epidemiologischer Daten werden damit Rauchen, Alter, Geschlecht, Blutdruck und Cholesterin zu den einflussstärksten Risikofaktoren für kardiovaskuläre Erkrankungen. Die genaue Rolle von Übergewicht in dieser Gemengelage von Faktoren bleibt bis heute umstritten. Ein wenig abseits dieser Liste spielt aber auch Stress weiterhin eine wichtige Rolle; in den 1960er und 1970er Jahren nicht mehr als »rasche Entwicklung«, sondern als Typ A Verhalten bzw. in Deutschland als Managerkrankheit. (Lengwiler/Madarász 2010) Im Einklang mit einer zunehmenden Molekularisierung der Biologie und mit ihr einer Biomedikalisierung der Medizin (Clarke, et al. 2003), beginnt in den 1980er Jahren eine Molekularisierung dieser Risikofaktoren, die bis heute andauert. Beispielhaft für diese Veränderung steht das Aufkommen des »metabolischen Syndroms« (vgl. Reaven 1988). Das metabolische Syndrom bezeichnet eine Reihe physiologischer Veränderungen – zentrale Adipositas, Bluthochdruck, Dyslipidaemie und erhöhte Nüchternglukose – deren gemeinsames Auftreten statistisch signifikant mit Herzkreislaufereignissen korreliert. Als
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statistisches bzw. epidemiologisches Phänomen stellt das metabolische Syndrom zum einen eine Ausdifferenzierung und Erweiterung einiger Risikofaktoren dar. Zum anderen verweist dieses Syndrom bereits auf die Interdependenz dieser Faktoren. Diesem in ersten Ansätzen systemischeren Verständnis soll in der hausärztlichen Praxis dadurch Rechnung getragen werden, dass Risikofaktoren nicht isoliert betrachtet werden, sondern die Diagnose eines Faktors automatisch die Untersuchung weiterer Parameter nach sich zieht. Allerdings sind sowohl der ontologische Status sowie der klinische Nutzen des Metabolischen Syndroms von Anfang an und bis heute heftig umstritten (vgl. Kahn, et al. 2005). Die Ursache für diesen Streit liegt vor allem in der mangelnden mechanistischen Erklärbarkeit dieses statistischen Phänomens. Die (gemeinsame) physiologische Basis für diese Häufung von Stoffwechselveränderungen ist bis heute nicht hinreichend verstanden. Die Suche nach der Antwort hat in den letzten zwei Jahrzehnten eine massive Molekularisierung des ätiologischen Modells von Herzkreislauferkrankungen mit sich gebracht. Dies ist nicht der Ort, um diese enorm vielfältige Forschungslandschaft näher zu skizzieren. Stattdessen konzentrieren wir uns auf einen einzelnen wichtigen Strang, der exemplarisch verdeutlicht, auf welche Art und Weise sich Risikofaktoren im Zuge dieser Forschung verändern. Folgt man einer in der Biomedizin weit verbreiteten Meinung, so lässt sich in der aktuellen Forschung eine direkte Verbindung zwischen dem, was in der Forschung gemeinhin als chronischer Stress verstanden wird und erhöhtem Herzkreislaufrisiko. In aller Kürze: chronischer Stress, z.B. durch eine Überforderung am Arbeitsplatz oder eine unglückliche Ehe, resultiert in einer permanenten Aktivierung der Stressachse, d.h. zu einer vermehrten Ausschüttung des Hormons Cortisol. Eine derartige Hypercortisolaemie verursacht mit der Zeit eine Insulinresistenz, die wiederum in direktem Zusammenhang mit Verschiebungen des Metabolismus und damit erhöhtem Herzkreislaufrisiko steht. Hier ist es also in den letzten zehn Jahren gelungen, einen Diskurs und eine Forschungsplattform zu etablieren, die einen molekularen Mechanismus für den Zusammenhang zwischen chronischem Stress und Herzkreislaufrisiko plausibel darstellen kann. 7
7 An dieser Stelle können wir nicht auf die Vorannahmen und Kontingenzen eingehen, die die Produktion dieser Befunde notwendig beinhaltet. (Niewöhner 2008)
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Diese Entwicklung steht exemplarisch für eine Molekularisierung und Vernetzung von Risikofaktoren im Bereich der Herzkreislauferkrankungen. Im Vergleich zu Blutdruck oder Cholesterinwerten stellen die Hoch- oder Herunterregulierung von funktionalen Hirnarealen oder hormonellen Pfaden deutlich dynamischere und systemischere Messgrößen dar. Genetische Komponenten werden in einer solchen molekularen Sicht von Metabolismus einerseits zwar sichtbarer, denn ein einzelner Rezeptor ist in seinen genetischen Komponenten besser zu untersuchen, als ein Parameter wie Blutdruck, der wiederum von vielen Faktoren bestimmt wird. Andererseits jedoch verweisen diese Netzwerke auf Vielfältigkeit und Dynamik. Gene, konzipiert als statische DNA Sequenzabschnitte, sind in dieser post-genomischen Sicht auf Metabolismus nur in den wenigen Fällen noch von Bedeutung, in denen Mutationen tatsächlich gravierende Auswirkungen auf den Phänotyp haben. Vielmehr werden Gene bzw. wird DNA Sequenz zunehmend eingebettet in Analysen von Genexpression und ihrer Regulierung über genomische Kontexte und epigenetische Faktoren. Epigenetische Faktoren, d.h. die chemische Veränderung von DNA mit Folgen für ihre Ablesbarkeit, rücken die Regulierung von Genexpression durch zelluläre Umwelt in den Fokus; wobei zelluläre Umwelt sowohl andere Zellen als auch den Organismus an sich samt seiner sozialen und materiellen Umwelt bezeichnet. Was epidemiologische Studien bereits angebahnt hatten, wird auf der Basis von Epigenetik nun auch molekular nachvollziehbar. So führt beispielsweise eine spezifische Ernährung von trächtigen Mäusen zur Herunterregulierung eines Gens in der Nachkommenschaft, das für die Fellfarbe mitverantwortlich ist. Die Nachkommen verändern daher unter diesem Ernährungsregime ihre Fellfarbe im Vergleich zur Mutter (Waterland/Jirtle 2004). Ähnliche Effekte lassen sich durch gezielte Veränderungen in materieller und sozialer Umwelt der Tiere wie auch beim Menschen erzielen bzw. nachweisen (z.B. McGowan, et al. 2009, Szyf, et al. 2008, Weaver, et al. 2004). Neben diesen Effekten der sozialen und materiellen Umwelt auf Genexpression und damit Phänotyp und Physiologie, sind durch das Voranschreiten biologischen Wissens über epigenetische Prozesse auch zeitliche Dimensionen für Entwicklung und Krankheit auf neue Weise relevant geworden. Unter der Hypothese »Entwicklungsbiologische Ursachen für Krankheiten im Erwachsenenalter« (developmental origins of adult disease, DOAD) werden zunächst die prä-, peri- und
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neonatalen, prägenden Einflüsse auf den adulten Stoffwechsel zunehmend besser verstanden (Gluckman, et al. 2005). Stress und Überoder Unterernährung während spezifischer Phasen vor, während und nach der Schwangerschaft scheinen einen stärkeren Einfluss auf Stellschrauben zu haben, die später für Reaktionen auf ungünstige Ernährung oder chronischen Stress verantwortlich sind, als bisher angenommen. Hinzu kommt, dass epigenetische Mechanismen es auch wahrscheinlicher werden lassen, dass solche Prägungseffekte unter Umgehung der DNA Sequenz, d.h. ohne Mutation, an die nächste Generation weitergegeben werden (z.B. Roth, et al. 2009). Auch hier werden also zunehmend molekulare Mechanismen plausibilisiert, um zu erklären, wie es passieren kann, dass die Enkelkinder von holländischen Großeltern, die im Zweiten Weltkrieg während der Schwangerschaft einer Hungersnot ausgesetzt waren, als Erwachsene 50 Jahre später ein erhöhtes Diabetesrisiko haben (Roseboom, et al. 2006). Das biomedizinische Verständnis von Krankheit bzw. Krankheitsrisiko wird also zunehmend auf einer molekularen Ebene abgebildet, und es wird versucht, Krankheit über molekulare Vorgänge zu erklären. Dies führt allerdings überraschender Weise nicht zu einem rein molekular-deterministischen bzw. techno-somatischen Körperbild (Pickersgill 2009). Statt eines hermetischen Körpers, der durch die Haut begrenzt als geschlossenes, selbst-referentielles System agiert, öffnet in einer gegenläufigen Entwicklung gerade die Molekularisierung von Körper diesen epistemologisch für seine materielle und soziale Umwelt sowie für seine eigene Vergangenheit. Das autonome Individuum bleibt in der Medizin zwar als medizinethisches Konstrukt und Fokus praktischen Handelns präsent. In der Grundlagenforschung jedoch entsteht ein neues Bild: das Bild von einem vielfältig eingebetteten Individuum, dessen Neigungen und Vorlieben, Krankheiten und Talente hochgradig durch seine Umwelten und seine eigene Vergangenheit geprägt sind. Dies schließt zwar Plastizität und Reaktionsfähigkeit auf Umweltveränderungen nicht aus. Prägung und Umwelteinfluss geben jedoch in diesem Bild bestimmte Spannweiten vor, innerhalb derer agiert werden kann. Ein Ausbrechen aus diesen Vorgaben erfordert einen erhöhten Aufwand. Die Molekularisierung des Verständnisses von Krankheit führt hier also zu einem Körperbild, das zwar stärker molekularbiologisch geprägt ist. Dieses Verständnis ist allerdings nicht eines, das mit Manipulierbarkeit und Wahlmöglichkeiten im direkten und individualistischen Sinne von Rose einhergeht
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(Rose 2007). Die adulte Biologie des eigenen Körpers wird durch diese Verschiebungen weniger verfügbar, stärker biologisiert und damit auch reifiziert. Intervenier- und Manipulierbarkeit des individuellen Körpers müssen vermehrt über die materielle und soziale Umwelt, über Bildung und Entwicklung und über verschiedene Zeithorizonte, v.a. Generationen, hinweg vermittelt werden.
O PTIMIERUNG Für Herzkreislauferkrankungen lässt sich also eine Molekularisierung bei gleichzeitiger Öffnung des Körperkonzepts diagnostizieren. Wie sieht es mit Roses zweiter Mutation – Optimierung – aus? Mit Blick auf die Entwicklungen in der neuen Genetik hat Sarah Franklin konstatiert, dass wir nun ein Zeitalter biologischer Kontrolle erreicht haben. Sie, wie auch andere, sehen eine Konfiguration entstehen, in der das Biologische nicht mehr als gegeben und begrenzend wahrgenommen wird. Stattdessen markiert das Gebiet des Biologischen zunehmend einen gänzlich kontingenten Zustand. Körper wird manipulierbar und Medizin hat nicht nur die Aufgabe einen durch Krankheit verlorenen ›natürlichen‹ Zustand wieder herzustellen. Die Normativität dieser natürlichen Gesundheit verblasst im Angesicht technologischer Möglichkeiten: »Biotechnologie verändert, was es heißt, biologisch zu sein.« (Rose 2007: 17) Diese Entwicklung ist im Bereich der Herzkreislauferkrankungen so nicht nachzuvollziehen. Zwar können wir eine Molekularisierung der ätiologischen Modelle konstatieren. Auch stellen wir fest, dass das oben analysierte neue Körperkonzept dazu führt, dass Medizin sich nicht nur mit dem Körper im engeren Sinne befasst, sondern im Sinne einer Technologie des Lebens eine große Vielzahl an Parametern zu kontrollieren sucht. Hierzu stehen der Medizin auch eine Reihe weiterer Akteure aus Politik, Sozialarbeit und Pädagogik zur Seite. Allerdings beschränkt sich dieses neue Regime auf immer detailliertere Diagnostik. Jeder Bereich des Lebens wird unter Vulnerabilitätsgesichtspunkten erfasst und analysiert: von körperlichen Voraussetzungen, über das soziale Umfeld und Alltagsgewohnheiten. Jeder Winkel des Lebens leistet einen Beitrag zu einem Risikoscore und zu einer erhöhten bzw. gesenkten Vulnerabilität. In diesem Sinne ist Herzkreislaufmedizin und -prävention selbstverständlich eine Technologie des
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Lebens selbst. Sie versucht Leben umfassend zu taxieren und nach Vulnerabilitätsgesichtspunkten zu ordnen. Dies führt aber derzeit nicht dazu, dass das Gebiet des Biologischen kontingenter oder verfügbarer wird. Das Wissen, das hier neu produziert wird, hat in der Tat hauptsächlich taxierende und ordnende Qualitäten. Körper werden daher anders, manche würden sagen ›umfassender‹ taxiert. Sie werden detaillierter repräsentiert, ohne dass daraus neue Interventionen folgen würden. Dabei liegt den Technologien des Lebens ein durch und durch moderner Wissensbegriff zu Grunde, der nicht nur Repräsentation, sondern immer auch Intervention bezeichnet (Hacking 1983). Gewusst ist etwas erst, wenn in es eingegriffen werden kann: seien dies Körper, Maschinen oder Software. Medikamentöse Eingriffe allerdings beschränken sich im Bereich der Herzkreislauferkrankungen auf die weit verbreiteten Lipidund Blutdrucksenker. Wirksame Medikamente, die langfristig und ohne signifikante Nebenwirkungen den Energiehaushalt einpegeln und damit Gewicht senken oder stabilisieren könnten, existieren derzeit nicht. Appetitkontrolle, verminderte Energieaufnahme aus der Nahrung, eine Regulierung des Belohnungssystems usw. – alle Versuche in diese hochgradig redundant organisierten Systeme einzugreifen, haben bisher nicht zufrieden stellend funktioniert. Von einer Manipulierbarkeit des Biologischen kann daher keine Rede sein. Im Gegenteil: gerade die biologischen Grundlagenforscher in Deutschland sprechen zunehmend dem Individuum, im Sinne eines autonomen Subjekts, die Fähigkeit ab, seine bzw. ihre Biologie selbstbestimmt zu verändern. Prägungseffekten einerseits und Selbsterhaltungsmechanismen von Fettzellen bzw. Stoffwechselmustern andererseits wird eine derartige Stabilität zugeschrieben, dass man Individuen nicht zutraut, sich aus diesen Mustern zu befreien. So verändert zwar die Molekularbiologie auch in diesem Feld, was es heißt, biologisch zu sein. Sie tut dies allerdings gerade nicht in Richtung größerer Gestaltungsmöglichkeiten, sondern in Richtung größerer Widerständigkeit und Starrheit. Dass diese Form der biologischen Widerständigkeit von der Forschung propagiert wird, ist in der modernen Landschaft der molekularen Biomedizin neu. Bisher wurde hier mit einer gewissen Nonchalance Übergewicht als Lebensstil bedingt und damit offen für Intervention konzipiert. Dieses Bild wandelt sich nun und kommt damit dem Verständnis näher, dass unter PraktikerInnen in der Versorgung und Prävention schon lange bekannt ist. Dort wo Patienten mit samt ihrer
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Lebenswelt Rat suchen, war schon immer offensichtlich, dass sich elementare Dinge des Alltags, wie Essen und Bewegen, nicht einfach durch punktuelle Interventionen verändern lassen. Dies wird von HausärztInnen und PräventionsmedizinerInnen nicht rein biologisch begründet. Ihnen wird täglich vor Augen geführt, dass eine Gewichtsabnahme an vielen, aus Forschungsperspektive zunächst vielleicht trivial erscheinenden Dingen scheitert: terminliche Schwierigkeiten bei der Wahrnehmung von Präventionsprogrammen, familiäre Forderungen v.a. an Mütter bei der Auswahl und Zubereitung des Essens, der »innere Schweinehund«, individuell wie sozial wichtige Gewohnheiten und Rhythmen usw. Aus den Erzählungen vieler Ratsuchender und Patient_innen geht ebenfalls hervor, dass Gewichtszunahme nicht nur kontinuierlich verläuft. Stattdessen sind viele Erzählungen gekennzeichnet von Ereignissen, die zu einer rapiden Gewichtszunahme geführt haben: physische Einschränkungen durch orthopädische Eingriffe, Beziehungsprobleme, berufliche Schwierigkeiten usw. Solche Ereignisse führen entweder direkt zu einer schlechteren Energiebalance, z.B. weil Bewegung für einige Zeit nicht möglich ist. Oder sie begünstigen diese indirekt, indem die nötige Disziplin, nicht zu kalorienreich zu essen und sich ein wenig zu bewegen, nicht mehr aufgebracht werden kann. So scheinen, zumindest wenn man den Erzählungen der Betroffenen glauben schenkt, viele ›Übergewichtskarrieren‹ eher stoßweise von Ereignis zu Ereignis zu verlaufen, als kontinuierlich. Kenntnis und Verständnis dieser Art Faktoren ist meist dem Erfahrungswissen derer vorbehalten, die tagtäglich intensiven Kontakt mit PatientInnen haben und diesen Kontakt auch über einen längeren Zeitraum aufrechterhalten. Dies gilt in Deutschland vor allen Dingen für die Hausärzte, für die klar der Erhalt einer langfristigen Beziehung mit den Patienten an erster Stelle steht; weit vor zu intensiver Beratung oder gar Bewertung von Übergewichtigen, die dadurch vielleicht abgeschreckt werden könnten. Diese Einstellung ändert sich rasch, wenn man den Hausarztsektor verlässt. Bereits in Präventionsprogrammen ist der Kontakt mit Teilnehmerinnen kurzfristiger und stark fokussiert. Hier wird das Umfeld der Teilnehmerinnen schon überwiegend kategorial und häufig psychologisierend wahrgenommen. Gängige Theorien zum Gesundheitsverhalten stehen im Vordergrund. Konzepte wie Motivation, Barrieren, Verhalten und Information werden deutlich häufiger verwendet, als dies bei Hausärzten der Fall ist. Je mehr der
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Kontakt mit den alltäglichen Leben der Menschen abnimmt, desto abstrakter wird die Redeweise über diese Leben. Bereits in der epidemiologischen Forschung sind diese Leben hochgradig klassifiziert, variabilisiert und kontrolliert. Aktuelle biologische Forschung wird in diesen Feldern nicht gezielt genutzt. Wichtig sind hier daher die gängigen Einflussfaktoren auf Übergewicht: sozio-ökonomischer Status inklusive Bildung und Familiensituation, Zugang zu gesunden Lebensmitteln und Bewegungsmöglichkeiten usw. Zwar stehen hier Populationen im Vordergrund. Das autonome Individuum spielt allerdings als Handlungsträger immer noch eine zentrale Rolle: ›man muss den Einzelnen erreichen‹, ›der Einzelne muss verstehen, wie wichtig es für ihn oder sie ist‹, ›wenn sie es dem Einzelnen nicht klar machen können‹ usw. Dies sind typische Redewendungen, die zwar die sozialen und materiellen Bedingungen eines einzelnen Lebens in Betracht ziehen, aber trotzdem individuelle, kognitive Faktoren als ausschlaggebend für Verhaltensänderung in den Vordergrund rücken. Sozialität und Alltag sind in dieser Sicht lediglich Kontext für Lebensstile, nicht aber konstitutiv für das Phänomen Übergewicht oder soziales Handeln im Allgemeinen. Diese Sichtweise beginnt sich nun zu wandeln. In der biologischen Forschung und in der biologischer orientierten Epidemiologie wird die Handlungsträgerschaft weit weniger selbstverständlich dem Individuum zugesprochen. Zwar spielen kognitive Parameter weiter eine Rolle und die Frage nach notwendigem disziplinärem Wissen wird immer noch am häufigsten mit Psychologie beantwortet. Zunehmend aber wird das Individuum mehr oder weniger gänzlich aus der Gleichung herausgenommen. Der biologische Körper in seiner Umwelt wird zum zentralen Gegenstand des Denkens in diesen Feldern. Dementsprechend werden die Interventionen zunehmend weniger als kognitive, wissensvermittelnde Eingriffe gedacht. Hier geht es nicht mehr um Gouvernementalität in dem Sinne, dass man hofft, dem Individuum eine Sorge um sich selbst und Selbstmanagementtechniken näher zu bringen und damit gesundes Verhalten zu erreichen (Foucault 1986, Martin 1993). Interventionen zielen nun entweder auf Körper oder auf materielles oder soziales Umfeld. Und da medikamentöse oder chirurgische Eingriffe nur in sehr speziellen Fällen greifen, werden für die Mehrheit der Übergewichtigen Interventionen propagiert, die über die Umwelt wirken. Dabei geht es nicht nur um die Bereitstellung eines gesünderen Angebots. Gesündere Lebensmittel in den Regalen, Spiel-
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und Sportplätze in den Städten und bezahlbare Vereinsangebote werden zwar als sinnvoll, häufig aber nicht mehr als ausreichend erachtet. Denn diese lassen den Einzelnen weiterhin die Wahl. Gemäßigte Positionen propagieren den Slogan: Die gesunde Wahl muss die einfachere sein. Dies ist vor allem in der Politik verbreitet, wo ein größeres Verständnis für die Rechtfertigung von Eingriffen in Privat- wie öffentliches Leben herrscht, als dies in der Biomedizin und Biotechnologie gemeinhin der Fall ist. Wichtige Vertreter der Grundlagenforschung, sowohl Biologie wie Epidemiologie, sind mittlerweile allerdings dazu übergegangen, Maßnahmen zu fordern, die den Einzelnen keine Wahl mehr lassen. Wenn noch eine Wahl besteht, so die Argumentation, entscheiden sich viele doch wieder für die bequemere und damit ungesündere Alternative. Also müssen Rolltreppen durch Treppen ersetzt werden, müssen Lebensmittel selektiv so besteuert werden, dass ungesund zu teuer für viele wird, muss Schulsport ausgeweitet werden usw. In diesen Feldern vereinen sich nun zunehmend molekulare Verständnisse von Fett und Stoffwechsel, Erfahrungswissen aus klinischen Kontexten, Zynismus, Einsicht in die Trägheit politischer Prozesse und die Wirkmacht industrieller Interessen, zu einem präventiven Gefüge (Rabinow 2003, Deleuze/Guattari 1987), das zunehmend frühere Interventionen fordert. Kindergärten und Schulen sind die bevorzugten Ansatzpunkte. Denn wenn schlechte Gewohnheiten einmal Einzug gehalten haben, wenn Fettzellen, Stressantworten, Geschmacksvorlieben und Sportantipathien einmal in den Menschen installiert sind, so die Argumentation, dann wird das bisschen Willenskraft, das den meisten zur Verfügung steht, nicht reichen, um ein gesundes Leben zu führen. Diese kurze Darstellung verdeutlicht, dass in den hier diskutierten Feldern vor allem über die Vermeidung risikobehafteter Lebensstile diskutiert wird. Häufig wird im Englischen von susceptibility gesprochen. Wir verwenden hier den Begriff Vulnerabilität. Diese beiden Konzepte – Risiko und Vulnerabilität – operieren nicht trennscharf. So, wie leicht erhöhter Blutdruck von Rosenberg als Protodisease bezeichnet wird, da er nicht im eigentlichen Sinne eine Krankheit darstellt, nun aber als solche behandelt wird, so könnte man von Vulnerabilität als Protorisiko sprechen (Rosenberg 2001). Vulnerabilität bezeichnet ein empfänglich sein für bestimmte ungesunde Einflüsse und ist damit weniger ausgeprägt als ein Risikofaktor. Im Kontext von Optimierung setzt Rose Vulnerabilität von enhancement, also Verbes-
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serung, ab (Rose 2007: 17ff.). Dies ist im Kontext der neuen Genetik durchaus eine wichtige Unterscheidung. Im Zusammenhang von Herzkreislauferkrankungen und Übergewicht spielt zumindest in Deutschland enhancement überhaupt keine Rolle. ›Besser als Normalgewicht‹ macht als Konzept wenig Sinn. Hinzu kommen in Deutschland historische Sensibilitäten, die allem, was auch nur in die Nähe von eugenischen Praktiken gerückt werden könnte, das Leben schwer machen. Herzkreislauferkrankungen sind hier also noch wesentlich stärker an Vermeidung von Krankheit als an Verbesserung des Lebens orientiert. Die relevantere Unterscheidung in Bezug auf Risiko, Vulnerabilität und Optimierung ist daher in diesem Kontext eine andere. Gesundheitsvorsorge und Prävention haben sich in der herkömmlichen Form an einem optimalen Lebensstil orientiert, d.h. Ernährungs- und Bewegungsmenge und –zusammensetzung waren, wenn nicht universell, so doch an so allgemein gefassten Populationen orientiert, dass für alle dieselbe Maßgabe galt. Abweichungen von diesem Optimum wurden und werden immer verstanden als Kompromisse, die den Notwendigkeiten der konkreten Situation geschuldet sind. Der neue Vulnerabilitätsdiskurs tendiert in eine deutlich andere Richtung. Der optimale Lebensstil orientiert sich jetzt nicht mehr an einem universellen Optimum, sondern an den individuellen körperlichen Vorgaben, die durch evolutionäre, elterliche und frühkindliche Prägung sowie frühe Einflüsse des sozialen und materiellen Umfelds vorgegeben sind. Die Maßgabe ist daher nicht mehr: ›Lebe dem allgemeinen Ideal entsprechend, um Dein Risiko zu minimieren.‹ Sonder vielmehr: ›Passe Dein Leben Deinem Körper an, um nicht durch Abweichungen empfänglich für Krankheiten zu werden.‹ Dies ist ein fundamentaler Wandel in der Logik von Prävention und Gesundheitsfürsorge weg von einem populationsbezogenen Idealbild hin zu einer Ausrichtung des Individuums an seinen eigenen körperlichen Vorgaben; diese jedoch immer zu verstehen als »Natur modelliert an Kultur als Praxis« (Rabinow 1992). Wir haben oben von Vulnerabilitätsdiskurs gesprochen und nicht von Praxis, da sich diese neue Orientierung zunächst einmal nur im wissenschaftlichen und biomedizinischen Diskurs durchzusetzen beginnt. Damit die Personalisierung oder zumindest Umorientierung in der Konstruktion von Populationen, die mit diesem Wandel einhergehen muss, greifen kann, braucht es diagnostische Verfahren, die in der klinischen Praxis und der Versorgung eingesetzt werden können. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Verfahren auf genomischer Ebene ange-
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siedelt und auf die Allgemeinbevölkerung ausgerichtet sein werden. Zu viele Hindernisse stehen derzeit einer individualisierten oder personalisierten Medizin auf dieser Ebene im Wege. Eine wie auch immer geartete Personalisierung von Prävention ist in diesem Sinne also nicht zu erwarten. Eine Verschiebung des Diskurses jedoch scheint zumindest mittelfristig wahrscheinlich. Und diese wird, wenn auch noch so krude, eine weitere Somatisierung von Bildung, Lebensstil und Identität vorantreiben. Denn nur wer möglichst viel über seinen Körper weiß, kann sich ›seiner selbst‹ entsprechend verhalten. Optimierung hat im Kontext von Herzkreislauferkrankungen bzw. allgemeiner chronischer, multifaktorieller Erkrankungen zwar viel mit einer Politik des Lebens und mit Vulnerabilität zu tun. Es geht allerdings in keiner Weise um enhancement, sondern um eine Optimierung der Anpassung der Lebensführung an den Körper. Die bisherigen Auswirkungen dieser Verschiebungen werden im Folgenden mit Blick auf Subjektivierungsprozesse diskutiert.
S UBJEKTIVIERUNG Ein molekularisiertes Verständnis von Krankheit und Leben, sowie die optimale Anpassung des Lebensstils an die eigenen körperlichen Voraussetzungen sind also zwei wichtige Merkmale spätmoderner Gesundheitsvorsorge und Prävention im Bereich der chronischen Erkrankungen. Um die Auswirkungen eines solchen Verständnisses auf Prozesse von Subjektivierung und kollektive wie individuelle Selbstverständnisse zu verstehen, ist es allerdings nötig, diese Verständnisse nicht als Ergebnisse abstrakter, scheinbar globaler, faktischer Wissenschaft zu sehen, sondern vielmehr auf die resultierenden Praxen, d.h. auf Prävention und Gesundheitsvorsorge als ein spätmodernes Projekt zu schauen, welches weit über das Medizinsystem hinausreicht. Foucault hat auf zwei zentrale Achsen biopolitischer Macht- und Kontrollinstrumente hingewiesen: die Disziplinierung des Individuums und die Regulierung von Bevölkerung (Foucault 1983). Beide Achsen stehen nach wie vor in einem intensiven Spannungsverhältnis. Die oben analysierten Prägungs- und Einbettungsdiskurse tragen dazu bei, dass sich das Verhältnis der beiden Achsen zugunsten der bevölkerungsbezogenen Ansätze verschiebt. Settings, d.h. durch spezifische Variablen verstandene Lebensräume und –welten, rücken in den Vor-
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dergrund. Das soziale und vor allem das materielle Umfeld von Bevölkerungsgruppen rückt mit Blick auf seine adipo- und leptogenen Eigenschaften in den Fokus, d.h. Umwelten werden als dick- oder dünnmachend untersucht. Ziel solcher Studien ist immer die gezielte Veränderung durch direkte Eingriffe oder indirekt über Änderungen der Planungsgrundlage für bestimmte Räume. Adipogene Umwelten sind gekennzeichnet durch ein Überangebot an kalorienreicher Nahrung, ein Unterangebot an Bewegungsmöglichkeiten, hohe Wohndichte und oft minderwertige Bausubstanz sowie häufig ein hohes Gewaltpotential bzw. Aggressivität im öffentlichen Raum (z.B. Swinburn, et al. 1999). Wichtig an dieser Entwicklung ist zunächst das Verschwinden des Subjekts, des autonomen Individuums, aus diesem Diskurs. Wie bereits oben beschrieben liegt einem solchen Zugriff unter anderem die Annahme zugrunde, dass es dem Individuum sowieso nicht gelingt, ihr oder sein Leben hin zu einem gesünderen Lebensstil zu ändern. Hier liegt also kein gouvernementaler Regierungsstil vor. Es geht nicht oder nicht mehr um die Aktivierung des Subjekts. Rose schreibt: »While both the wealthy and the poor had always engaged in a range of practices to maintain health, now the maintenance and promotion of personal hygiene, healthy child-rearing, the identification and treatment of illness – became central to forms of self-management that authorities sought to inculcate into citizens and hence to their own hopes, fears, and anxieties. Over this period, those who were citizens of the advanced industrial societies of the West became committed to these norms of health and hygiene disseminated through the practices of state, medical and philanthropic authorities, as matters of their own self-maintenance and self-formation (see, for one of many historical accounts, Valverde 1991). By the second half of the twentieth century, health had become one of the key ethical values in such societies. A plethora of medical and philantropic organisation engaged in campaigns of health education and health promotion, and made demands on political authorities in the name of health. Additionally, actual or potential patients and their families and advocates, now became key actors in the economics, politics, and ethics of health. … Health, understood as an imperative, for the self and for others, to maximize the vital forces and potentialities of the living body, has become a key element in contemporary ethical regimes.« (Rose 2007: 22)
Diese Analyse trifft sicherlich auf viele Bereiche von Prävention und Gesundheitsvorsorge noch zu. Pädagogische, verhaltensorientierte und kognitive Ansätze der Habitualitisierung und Wissensvermittlung spielen immer noch eine zentrale Rolle, wie wir im Folgenden an ethno-
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graphischem Material noch diskutieren werden. Es zeichnet sich aber zumindest im deutschen Diskurs ein neuer Trend ab, der auf den ersten Blick eher an eine Hygienisierungsbewegung des ausgehenden 19. Jahrhunderts erinnert, als einen aktivierenden Diskurs des späten 20. Jahrhunderts. Dies ist zum einen Entwicklungen in der Forschung und Fehlschlägen in bisherigen Präventionsbemühungen und damit verbundenen klinischen Erfahrungen geschuldet. Zum anderen hat in Deutschland in den letzten fünf Jahren eine starke Verknüpfung des Übergewichtsdiskurses mit einer neuen Unterschichts-Debatte stattgefunden. Diese neue Unterschicht hat wenig mit einer Arbeiterschicht zu tun, wie sie für ein Klassensystem englischer Provenienz herausgearbeitet worden ist. »[Vielmehr] sieht [es] ganz so aus, als ob unsere Gesellschaft in ihrem Schoß das Profil einer Bevölkerungsgruppe wiederentdeckte, das man für verschwunden geglaubt hatte, ›Nichtsnutze‹, die sich darin aufhalten, ohne wirklich dazuzugehören. Ihnen kommt die Position von Überzähligen zu, die in einer Art gesellschaftlichem no man’s land umhertreiben, die nicht integriert und zweifelsohne auch nicht integrierbar sind, zumindest in dem Sinne, in dem Durkheim von Integration als der Zugehörigkeit zu einer ein Ganzes bildenden Gesellschaft, bestehend aus voneinander abhängigen Teilen, spricht.« (Castel 2000: 359 zitiert in Lemke 2008: 104)
Analog zu dieser gesamtgesellschaftlichen Analyse lassen sich im Kontext von Prävention die ›präventiven Nichtsnutze‹ als neue Subgruppe ausmachen, d.h. diejenigen Menschen, von denen eine präventive Medizin annimmt, dass sie sich in keiner Weise aktivieren lassen. Statistisch sind diese präventiven Nichtsnutze gekennzeichnet durch niedrigen sozio-ökonomischen Status, hohe Arbeitslosigkeit, Bildungsferne und hohen Migrationsanteil. Epidemiologisch findet sich eine hohe Prävalenz chronischer Erkrankungen, insgesamt erhöhte Mortalität und Morbidität, niedrigere Lebenserwartungen, erhöhter Anteil an Rauchern usw. Diese Charakteristika sind alle nicht neu. Neu wenigstens für europäische Gesellschaften hingegen ist der Ton, mit dem diese Menschen nun zunehmend ›abgeschrieben‹ werden. Ihre Aktivierung wird als zunehmend aussichtslos beschrieben. Die Gründe für diese Aussichtslosigkeit werden entweder ethnisiert, d.h. auf kulturell verschiedene Ess- und Lebensgewohnheiten zurückgeführt, oder ökonomisiert, d.h. mangelnden Ressourcen und damit mangelnden
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Möglichkeiten und Interessen an Lebensgestaltung zugeschrieben (vgl. Fassin 2005). Dabei geht die Verschärfung des Tons nicht in erster Linie auf die Wahrnehmung eines medizinischen Risikos zurück. Vielmehr wird diese neue ›Unterschicht‹ nun im politischen Diskurs als Bedrohung der Stabilität der Sozialsysteme dargestellt. Präventive Nichtsnutze werden früh chronisch krank und damit erwerbsunfähig bzw. nur eingeschränkt erwerbsfähig. Übergewicht ist eine sichtbare Manifestation dieses Problems. Die Sozial- und Gesundheitskassen belastet dies doppelt: zum einen über die Behandlungskosten, die gerade bei chronischen Erkrankungen, die durchgehend medikamentiert werden, hoch liegen; zum anderen über das fehlende Steuer- und Abgabenaufkommen. Das Verhältnis Einzahler zu Nutzer verschiebt sich in ein kritisches Ungleichgewicht – so jedenfalls die ökonomisch-medizinische Erzählung. Übergewicht und chronische Herzkreislauferkrankungen sind damit nicht mehr Privatangelegenheit, sondern stellen eine gesellschaftliche Belastung dar. Als medizinisch-ökonomisches Risiko werden Herzkreislauferkrankungen somit zum Politikum. Zu ihrer Bekämpfung formiert sich eine präventive Assemblage aus staatlichen und privaten Akteuren. Diese präventive Assemblage verbindet ein durch Molekularisierung verändertes Körperbild mit politisch-ökonomischen Bedrohungsszenarien und selbstverständlich auch handfesten Marktinteressen, um neue Formen der Optimierung durchzusetzen und zu institutionalisieren. Ähnlich wie Rose möchten wir uns hier nicht anmaßen, eine epochale Veränderung zu diagnostizieren. Schreiben ›aus der Mitte‹ einer möglichen Entwicklung heraus macht es prinzipiell schwer, mögliche Signifikanzen zu entdecken und zu bewerten. Jedoch zeigt sich in der deutschen Präventions- und Gesundheitsvorsorgelandschaft ein Topos, der bisher in dieser Form nicht theoretisiert worden ist: spezifische Milieus fallen aus dem Aktivierungsdiskurs heraus. Es geht also gerade nicht um die vor allem durch eine feministische Kritik immer wieder hervorgehobene Neuverteilung von Verantwortung an Patientinnen oder Ratsuchende unter dem Deckmantel von Entscheidungsfreiheit und Wahlmöglichkeit (›choice‹). Gerade im Gegenteil kommen die einzelnen Mitglieder der neuen Milieus als Subjekte überhaupt nicht mehr vor. In ihrer Behandlung als Subjekte und den damit verbundenen Wahlmöglichkeiten liegt ja gerade das neue Risiko: nicht für die
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Gesundheit der Einzelnen und auch nicht für die Bevölkerung, sondern für die Stabilität der Sozial- und Gesundheitskassen. Selbstverständlich ist der Aktivierungsdiskurs nicht einfach verschwunden. Er existiert in seinen vielen Facetten und Praxisformen parallel. Diese neue Tendenz trägt jedoch eher Züge eines Neo-Hygienismus, denn eines Aktivierungsdiskurses. Hier geht es mehr um eine neue Form der pastoralen Herrschaft. Rose analysiert die dominante Form pastoraler Macht des ausgehenden 20. Jahrhunderts noch wie folgt: »This is not the kind of pastoralism where a shepherd knows and directs the souls of confused or indecisive sheep. It entails a dynamic set of relations between the effects of those who council and those of the counseled. These new pastors of the soma espouse the ethical principles of informed consent, autonomy, voluntary action, and choice and nondirectiveness.« (Rose 2007: 29)
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts und im Kontext der chronischen Erkrankungen zeigt sich nun allerdings eine neue, alte Herrschaftsform. Zwar stellen informierte Zustimmung, Autonomie, Freiwilligkeit und Entscheidungsfreiheit immer noch die zentralen medizinethischen wie politischen Werte dar. Jedoch ist eine Konfiguration im Entstehen begriffen, die durch zwei Phänomene gekennzeichnet ist, die bereits zum ersten Mal in der sozialen Hygiene und der Lebensreformbewegung Ende des 19. Anfang des 20. Jahrhunderts eine erste Blüte erlebten. Erstens verschränken sich etablierte, machtvolle und durchsetzungsstarke Institutionen und Diskurse beinahe lückenlos ineinander: medizinisches und ökonomisches Risiko gehen Hand in Hand und kommen zu einer gemeinsamen Problemdefinition. Zweitens gelingt es mittels verschiedener Wissensformen aus Medizin, Sozialarbeit, Pädagogik und Ökonomie, spezifische Milieus als Sonderfälle zu deklarieren, die besonderer Aufmerksamkeit und Hilfe bedürfen. Das Konzept der ›aufsuchenden Prävention‹, d.h. der Prävention, die nicht mehr als freiwilliges Angebot, sondern als gerichtete Maßnahme den als betroffen Identifizierten angetragen wird, steht hier exemplarisch für diesen neuen Ton. Diese Kombination aus wirkmächtiger Assemblage und Identifizierung einer Gruppe von Menschen, denen man eine besondere Behandlung zukommen lassen kann, treibt eine Tendenz zur Entmündigung spezifischer Milieus voran. Es entwickelt sich eine entsubjektivierte Präventionspraxis, die Zielgruppen ausmacht und dann für
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diese Entscheidungen im Sinne einer gesellschaftlichen Risikominimierung trifft. Dies ist ohne Zweifel eine ambivalente Entwicklung, die sowohl biopolitische Repression wie post-liberalen Paternalismus möglich scheinen lässt. Allerdings schließen wir uns Rose und anderen auch in ihrer Skepsis an, dass es sich hier, wie von vielen schnell proklamiert, um eine neue Form der Eugenik handelt. Zunächst einmal geht es nicht in relevanter Weise um Reproduktionsentscheidungen. Zwar ist die neue Unterschichtendebatte auch mit der Frage um Geburtenpolitik verknüpft. Dies steht allerdings nur noch in einem sehr losen Bezug zu Präventionspolitik. Über Demographie und die Stabilität der Sozialsysteme lässt sich diese Brücke zwar schlagen, aber dies geschieht momentan nicht und ist auch nicht das vordringlichste Problem. Des Weiteren stehen im Zentrum der Präventionsdebatte nicht die Kernwerte von eugenischen Programmen: Nation, Qualität, Staatsgebiet, Population (und ggf. Rasse). Es geht auch in keiner Weise um die Fitness einer Nation in einem geopolitischen Wettstreit. Wenn überhaupt Fitness, dann steht die politische Fitness auf dem Spiel, mittels Gesundheitspolitik erfolgreich sozialstaatliche Stabilität zu sichern und Wachstum zu befördern. Zentral ist vielmehr die Frage nach dem ›Wie‹ von Klassifikation und der Konstruktion von problematischen Subpopulationen. Von einer Neoeugenik zu sprechen, verfehlt also das Ziel. Sinnvoller erscheint eine engmaschigere Untersuchung und Kritik der neuen Formen und Auswirkungen des präventiven Gefüges in verschiedenen Praxisfeldern. Denn es ist keineswegs davon auszugehen, dass biopolitische Regulierungsmaßnahmen, die von diesem präventiven Gefüge ausgehen, ohne Widerstand in die Praxis umgesetzt werden können. Wir zeigen im nächsten Abschnitt an einer kurzen ethnographischen Sequenz aus einem Berliner Kindergarten, dass Prävention nicht einfach auf ein unbestelltes Feld ausgetragen wird. Vielmehr entstehen eine Reihe von Ambivalenzen, wenn präventivmedizinisches Wissen auf etablierte Praxisformen trifft.
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Im Folgenden analysieren wir in Kürze anhand ethnographischen Materials die Auswirkungen des bisher skizzierten Dreischritts – Molekularisierung, Optimierung, Subjektivierung – auf Alltagspraxis am Beispiel von Kindergärten. Allein die Tatsache, dass Kindergärten in den letzten Jahren vermehrt Ziel von Präventionsprogrammen geworden sind, ist zum einen der Molekularisierung geschuldet: der eingebettete Körper muss geformt werden, bevor falsche Gewohnheiten sich somatisch manifestieren. Zum anderen, und dies verdeutlicht das Scheitern so vieler Präventionsprogramme mit Erwachsenen, kann dem erwachsenen Subjekt eine Anpassung seines Lebensstils an seinen Körper nicht mehr zugetraut werden. Die optimale Anpassung von Leben selbst an je spezifische körperliche Voraussetzungen muss also so früh wie möglich begonnen und von außen unterstützt werden. Präventionsprogramme in Kindergärten produzieren daher nicht nur verschiedene Kinder ›at risk‹ (Burri/Dumit 2007, Downey/Dumit 1997). Sie zielen vielmehr auf das gesamte ›setting‹ Kindergarten und produzieren somit eine Konfiguration von Vulnerabilität und Prädisposition. Die Entwicklung von Kindern wird weniger als positive Bewegung in mögliche Zukünfte gesehen. Vielmehr bestimmt die Vermeidung negativer Szenarien die Konzepte von Entwicklung. Kognitive und behavioristische Ansätze, die Kinder als Individuen ansprechen, werden zunehmend durch setting Maßnahmen unterstützt, die Umwelten so gestalten, dass Entwicklungspfade ›natürlicher Weise‹ und ohne individuelle Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten Vulnerabilitäten minimieren. Wir möchten an zwei Beispielen zum einen die Wirksamkeit dieser Präventionsprogramme illustrieren, zum anderen aber auch verdeutlichen, dass diese Programme nicht in einem Vakuum ansetzen, sondern bestehende Praxisformen zu transformieren versuchen. Dabei betont das erste Beispiel Optimierungsprozesse, wohingegen das zweite Beispiel eher Subjektivierung in den Vordergrund rückt. Wie in vielen Kindergärten üblich so widmete sich auch einer der untersuchten Kindergärten im Dezember der Weihnachtsbäckerei. Es wurden Plätzchen gebacken. Jedoch war das Ergebnis keineswegs ein üppiger und festlicher Keksteller. Zwar hatten die Kinder vor dem Mittagsschlaf Dutzende von Ausstechern vorbereitet. Nachdem diese jedoch von den Betreuerinnen über Mittag gebacken worden waren,
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verschwanden alle bis auf einen pro Kind aus der Sicht- und Reichweite der Kinder. Beim Erwachen fand jedes Kind einen einzelnen Ausstecher auf seinem Teller drapiert. Nun sind solche Aktivitäten als Rituale sowohl in ihrer ästhetischen als auch in ihrer edukativen Komponente bekannt und an sich nicht einem Präventionsprogramm zu verdanken. Signifikant in dieser Konstellation ist allerdings, dass die Betreuerinnen jedem Kind bereits einen und nur einen Keks auf den Teller legen. Hier spielt zum einen die materielle Dimension der Aktivität eine wichtige Rolle, denn mehr Kekse essen bedeutet auch mehr Zucker und Fett aufzunehmen. So findet biomedizinisches Wissen Eingang in Alltagspraxis. Zum anderen ist hier aber vor allem das weniger offensichtliche semiotische Arrangement von Bedeutung. Kinder erhalten weder Wahlmöglichkeiten mit Blick auf die Menge, die sie essen wollen. Ihnen wird aber auch nicht erlaubt, ihre Umwelt selbst zu gestalten. In vielen Kindergärten stehen ständig Wasser und Früchte zur freien Verfügung. Kekse jedoch werden hier strikt begrenzt und in Abwesenheit der Kinder während des Mittagsschlafs arrangiert. Kinder können daher ›ungesunde‹ Lebensmittel immer nur ad limitum, nie aber ad libitum essen. Hier wird das Wesen des setting Ansatzes deutlich, der nicht primär auf Kinder ›at risk‹ zielt, sondern Umwelten verändert, um so gesunde Gewohnheiten und Verhaltensweisen hervorzubringen. Kinder werden nicht als individuelle Akteure angesprochen. Statt der korporealen, hybriden, aktiven und politischen Aspekte jedes Kindes (Prout 1999, Burman 1994, Morss 1990), rücken Präventionsprogramme den Aspekt der vulnerablen Population in den Vordergrund. Unser zweites Beispiel rückt allerdings solche Effekte von Präventionsprogrammen wie ›Tigerkids‹ in ein anderes Licht. Die Kontrolle von Essensquantität spielt eine wichtige Rolle in Kindergärten, die sich um Prävention in Sachen Ernährung und Bewegung bemühen. Die Hauptmahlzeiten spielen dabei selbstverständlich eine wichtige Rolle. In unserem Beispiel sitzen alle Kinder samt Betreuerinnen an einem Tisch. Kinder dürfen sich ihr Essen nur zu einem Teil selbst nehmen: in diesem Fall Nudeln. Warme und flüssige Speisen, d.h. Soße, werden von den Betreuerinnen serviert. Diese achten darauf, dass die erste Portion jedes Kindes möglichst klein gehalten ist, denn häufig möchten sich Kinder noch einmal nachnehmen. Möchte nun ein Kind eine zweite Portion, muss es danach fragen. Moritz (Pseudonym), das zweit dickste Kind der Gruppe, und der dünne Jan (Pseudonym) fragen
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gleichzeitig nach der Erlaubnis, sich eine zweite Portion nehmen zu dürfen. Die Betreuerin weicht zunächst aus, in dem sie den beiden sagt, dass sie nichts verstehen kann, wenn sie durcheinander reden. Jan soll als erstes sprechen. Jan fragt höflich nach einer zweiten Portion und bekommt ›Klar, nimm Dir doch was‹ von der Betreuerin als Antwort. Danach fragt Moritz ebenso höflich. Die Betreuerin antwortet: »Ich weiß nicht, ob Du darfst.« Auf diese Weise lehnt sie die Verantwortung ab, Moritz eine zweite Portion zu verweigern. Eine strikte Weigerung würde höchstwahrscheinlich eine Beschwerde der Eltern nach sich ziehen und entspricht auch keineswegs dem Erziehungsverständnis der Betreuerinnen. Moritz soll selbst entscheiden. In dieser kurzen Sequenz wird zunächst deutlich, dass setting Ansätze nie in Reinform auftreten bzw. auftreten können. Kindergärten als interaktive Räume können nur bedingt als gestaltbare Umwelten behandelt werden. Immer wieder ergeben sich fast notwendiger Weise Konstellationen, in denen Kindern Wahlmöglichkeiten gegeben werden. Dies führt dann häufig dazu, dass Konflikte zwischen institutionellen Zielen und kindlichen bzw. vor allem elterlichen Vorstellungen entstehen, die keineswegs in der Mehrzahl der Fälle zugunsten der Institution aufgelöst werden. Zwar gelingt es Betreuerinnen immer wieder, wie auch in unserem Beispiel, durch die Art wie Verantwortung an das Kind delegiert wird, dem übergewichtigen Kind ohne Verbot zu suggerieren, dass es wohl besser keine zweite Portion mehr essen sollte. Jedoch entstehen im Alltag viele Formen von Spannung und Widerständigkeit: - In den Küchen: statt dem von Präventionsfachleuten erwünschten Fisch – um ein Beispiel zu nennen – werden Fischstäbchen serviert, da Kinder mit frischem Fisch heillos überfordert wären und die finanziellen Ressourcen weder ausreichen, um frischen Fisch einzukaufen, noch um genügend BetreuerInnen einzustellen, um alle Kinder beim Fischessen zu beaufsichtigen. - In den Köpfen und Praxen der BetreuerInnen: Kinder sollen einerseits möglichst reibungslos dazu gebracht werden, sich gesund zu verhalten. Andererseits spielt aber auch die Erziehung zu eigenständigem Handeln eine zentrale Rolle in den Entwicklungskonzepten der BetreuerInnen. Was also tun, wenn Kinder sich eigenständig für ungesundes Verhalten entscheiden?
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- In den Elternhäusern: gerade in den von uns untersuchten Berliner Kindergärten weichen die stark kulturell geprägten Essgewohnheiten der Eltern deutlich von den Vorstellungen der deutschen BetreuerInnen ab. Vollkornbrot spielt nun einmal in türkischen und arabischen Haushalten keine Rolle. So sehen diese Eltern es häufig nicht gerne, dass Kindern in Kindergärten Vollkornbrot auch noch als die gesündere Alternative serviert wird. Widerstand gegen verschiedene Elemente der Präventionsprogramme regt sich also auf materieller, professioneller und kultureller Ebene in der Alltagspraxis. Hier wird deutlich, dass Präventionsprogramme nicht in einem Vakuum ansetzen. Vielmehr greifen sie in hochgradig ausdifferenzierte und stabile Praxisformen ein. Selbstverständlich haben moderne westliche Erziehungs- und Entwicklungskonzepte auf holistische Art immer schon körperliche und geistige Komponenten mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen berücksichtigt. Unter dem Einfluss der Roseschen Mutationen findet hier wieder eine Neukonfigurierung statt, die am ehesten als Re-Biologisierung von Entwicklung und Erziehung zu konzeptionalisieren ist (vgl. auch Morss 1990). Diese verläuft nicht konfliktfrei, denn anders als innerhalb der medizinischen Domäne, z.B. in Reha-Kliniken oder Gesundheitssporteinrichtungen, hat Medizin in dieser Konstellation keineswegs eine offensichtliche Deutungshoheit. Vielmehr müssen sich Präventionsprogramme gegen eine Menge unterschiedlicher Konzepte, pragmatischer Beschränkungen und kulturell geprägter Differenzen behaupten. Ihre Implementierung markiert daher immer einen Translationsprozess, im Rahmen dessen konkrete Vorgaben verändert und selektiert werden (vgl. Serres 1980/82, Serres 1983/91).
S CHLUSSFOLGERUNGEN Der kurze ethnographische Exkurs verdeutlicht, dass Präventionspraxis immer schon anders ist, als in der Logik der Programme oder der präventiven Assemblage vorgesehen. Jede Praxisform aktualisiert ihre eigene Form von Prävention, so dass selbst aus einiger Distanz monolithisch erscheinende, nationale Präventionsprogramme wie Tigerkids im Alltag multiple Praktiken hervorbringen. Dies heißt natürlich nicht, dass politische Programme und medizinische Wahrheitsregime über-
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haupt keine Wirkmacht hätten. Sie verändern die Präventions- wie die Erziehungslandschaft. Aber auf die Frage, wie sie dies tun, bieten ethnographische Analysen eine wichtige Erweiterung an, die einen »modest empiricism« (Rabinow/Rose 2006) komplementieren. Wir kommen letztlich zu dem Schluss, dass sich Herzkreislaufund Übergewichtsprävention sich von einer Technologie der Gesundheit zu einer Technologie des Leben selbst wandelt, so wie Franklin und Rose dies für die neue Genetik gezeigt haben. Allerdings wird der Dreischritt Molekularisierung, Optimierung und Subjektivierung nicht in allen Schritten nachvollzogen. Dies darf allerdings nicht als Kritik an der Roseschen Analyse verstanden werden, da Herzkreislauferkrankungen und Übergewicht als chronische, komplexe Krankheiten einen deutlich anderen Fall darstellen, als die von Rose, Rabinow, Franklin und anderen untersuchten direkten Anwendungen neuester genetischer Verfahren. Die ätiologischen Diskussionen um Herzkreislauferkrankungen erfahren eine deutliche Molekularisierung, die aber zunehmend das Konzept eines eingebetteten Körpers produziert. Dies unterscheidet Herzkreislauferkrankungen wesentlich von Gendiagnostik, Klonen oder Reproduktionstechnologien. Biologie wird hier also nicht verfügbarer, sondern im Gegenteil unverrückbarer und prägender. So kann man aus dem aktuellen Forschungsdiskurs zwar einen Trend zur Optimierung herauslesen; wobei Optimierung hier nicht im Sinne von enhancement, sondern im Sinne einer Anpassung von Leben selbst an seinen Körper verstanden werden muss. Daraus ergeben sich aber bisher keine neuen diagnostischen Verfahren oder Interventionen, die in direkter Weise auf Subjektivierungsprozesse wirken und damit Selbstverständnisse wie Verantwortungsmuster verschieben könnten. Vielmehr ergibt sich durch die Verknüpfung des medizinischen Diskurses mit der Wahrnehmung einer Bedrohung der Stabilität der Sozialsysteme durch lebensstilbedingte, chronische Erkrankungen eine Entsubjektivierung spezifischer Milieus, die dadurch Ziel einer wiederauflebenden, setting orientierten Prävention werden. Der Aktivierungsdiskurs wird hier für spezifische Milieus ausgesetzt, da man den Mitgliedern dieser Milieus nicht zutraut, die Sorge für sich Selbst zu übernehmen. Die biopolitische Kritik an dieser Verschiebung haben wir in den vorangegangenen Abschnitten ausgeführt. Wir möchten an dieser Stelle zum Abschluss aber auch darauf hinweisen, dass pastorale Macht auch ihre guten Seiten haben kann. Das Konzept von ›care‹, d.h. von Achtsamkeit und sich kümmern, gewinnt
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in der Analyse von klinischen Praxen an Bedeutung (Mol 2008). Im Kontrast zu einem neoliberaleren Konzept von ›choice‹, erscheint der achtsame, vorsichtige und kümmernde Umgang von Ärzten mit ihren Patienten durchaus wünschenswert. Nach einer deutlichen Bewegung weg von paternalistischen Beziehungen hin zu shared decisionmaking, d.h. der zunehmenden Gleichberechtigung von informierten Patient_innen im Arzt-Patienten Verhältnis, stellt sich im Kontext von ärztlicher Versorgung nun die Frage nach einer neuen Logik der Achtsamkeit (›care‹ (Mol 2008)) und von verteilter Entscheidungsfindung (distributed decision-making (Rapley 2008)) bzw. Entscheidungsfindung als Prozess (vgl. Niewöhner 2010). Ähnliches scheint uns auf der Ebene von public health und Präventionsprogrammen zu gelten. Dabei geht es nicht um die Rechtfertigung einer Ausweitung medizinischer Deutungshoheit und Herrschaftskonstellationen. Es geht nicht um die etwas übergewichtigen Angehörigen einer breiten Mittelschicht. Vielmehr geht es darum ernstzunehmen, dass Ausgrenzung und Armut auch somatische Komponenten haben und diese direkt wie indirekt einen sehr realen Leidensdruck erzeugen. Es wäre also zu Fragen, ob der Kritik an pastoraler Macht nicht auch das positive Konzept einer pastoralen Verantwortung gegenübergestellt werden sollte. Ob und wie dies möglich sein wird, ohne in die paternalistischen Entwürfe des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts abzurutschen, wird für die Beobachter dieser Entwicklungen eine wichtige Frage und analytische Aufgabe darstellen. Erste hilfreiche konzeptionelle Schritte in diese Richtung geht zum einen eine alternative Lesart von Foucault, die sich die Untersuchung von Leben als solchem statt Leben selbst zum Ziel macht und damit auf Jacques Derrida und Walter Benjamin rekurriert, um die materiell und moralisch signifikanten Konsequenzen spezifischer Regierungstechniken für »Überleben« in den Blick zu nehmen. (Fassin 2009) Zum anderen spricht Vieles gegen eine Engführung des Konzepts der Politik des Lebens selbst und für eine Erweiterung hin zu multiplen Politiken des Lebens selbst. (Raman/Tutton 2009) Dieser Beitrag möchte zu dieser im Entstehen begriffenen Forschungsstrecke und damit zur Problematisierung und Entwicklung von Gouvernementalitätsstudien einen kleinen Beitrag geleistet haben.
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Die Dichte sozialer Leben Zur Tuberkulose-Umgebungsuntersuchung J ANINA K EHR
D ER W ILLE
ZUR
T RANSPARENZ
Im heutigen Frankreich, wie auch in anderen europäischen Ländern, ist die Früherkennung von Tuberkulose im Rahmen von Umgebungsuntersuchungen die wichtigste Präventivmaßnahme gegen die Krankheit. Die Früherkennung [dépistage] zielt darauf ab, »eine Krankheit oder einen Risikofaktor bei Personen zu diagnostizieren, damit sie eine ärztlichen Behandlung in Anspruch nehmen können […], noch bevor sie spontan das Gesundheitssystem aufsuchen würden« (Comité national d’élaboration du programme de lutte contre la tuberculose 2007: 23). Das von mir zitierte Ziel der Früherkennung ist zwar ein zeitgenössisches, aber dennoch handelt es sich nicht etwa um eine neue Präventivstrategie: Im Rahmen staatlicher Antituberkuloseprogramme kamen Früherkennungsmaßnahmen in Europa bereits seit der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen massiv zum Einsatz. Die Umgebungsuntersuchung bedeutet praktisch die Suche nach mit Tuberkulose infizierten Personen im sozialen Umfeld einer/s Kranken.1 Diese sozialen Ermittlungen wurden zu Beginn des 20.
1 Tuberkulose ist eine meldepflichtige Krankheit. Das bedeutet in der Praxis, dass die Tuberkulosezentren über jeden neuen Tuberkulosefall informiert werden müssen, damit sie die Umgebungsuntersuchung durchführen können. Zudem müssen die Fälle über die Gesundheitsabteilungen der jeweiligen Départements [Directions départementales d’action sanitaire et sociale,
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Jahrhunderts in den damaligen ›Tuberkulosefürsorgestellen‹ [dispensaires] etabliert; die heutige Entsprechung der Fürsorgestellen sind die Tuberkulose-Zentren [Centres de lutte anti-tuberculose, CLAT]. Tuberkulosefürsorgestellen spielten seinerzeit aufgrund ihrer zahlenmäßigen Verbreitung und des neuen Charakters dieser Intervention eine zentrale Rolle in der Praxis der Umgebungsuntersuchung. Die Akteur/innen der Umgebungsuntersuchung – ambulante Krankenschwestern, Untersuchungsbeamt/innen, Betreuer/innen und spezialisierte Ärzt/innen – suchten, ja spürten die kranke Person im Rahmen der Ermittlungen regelrecht auf, statt darauf zu warten, dass sie sich an das staatliche Gesundheitswesen wendet (Guillaume 1986: 187). Die damaligen Ermittlungen basierten im Wesentlichen auf der Beobachtung der kranken Personen und der eventuellen Absonderung von ihrem sozialen Umfeld. So sollten die Kranken und ihre Familien in ein dichtes Betreuungs-, Beobachtungs- und Erfassungsnetz eingebunden werden (Barnes 1995: 103). Die Umgebungsermittlung war dementsprechend eine der ersten proaktiven Präventionsmaßnahmen zur Eindämmung von Infektionskrankheiten, als Behandlungen mit Antibiotika noch nicht möglich waren. Bei den Ermittlungen durchleuchteten die Akteur/innen der Tuberkulosefürsorgestellen das familiäre und berufliche Sozialleben der Kranken im Hinblick auf die Ziele des öffentlichen Gesundheitswesen, deren Handlungs- und Einflusssphäre damit erheblich erweitert wurde, wie David Armstrong in »Political Anatomy of the Body« zeigt: »Zu Beginn des 20. Jahrhunderts transformierte der Blick der Fürsorgestellen den physischen Raum zwischen den individuellen Körpern in einen sozialen Raum.« (1983: 114) Diese Objektivierung der sozialen Leben durch das, was Armstrong den »Blick des Dispensariums« [dispensary gaze] nennt, ist eine Intensivierung des klinischen Blicks [clinical gaze], wie Michel Foucault ihn für die klinische Medizin beschrieben hat. Ab dem frühen 20. Jahrhundert zielte das Disziplinardispositiv, in dem die Fürsorgestellen eine Vorreiterrolle spielten, nicht mehr nur auf biologische Körper ab, sondern ebenso auf soziale Beziehungen (Armstrong 1983: 6). So gefasst war die Tuberkulosefürsorgestelle ein »Machtmechanismus«, dessen Funktion, so Armstrong, »in erster Linie« darin bestand, die Interaktionen und Verhaltensweisen aller möglicher »normaler und anormaler« Personen sichtbar und kontrolDDASS] dem staatlichen Institut für Krankheitsüberwachung [Institut de veille sanitaire, InVS] gemeldet werden.
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lierbar zu machen und so den physischen Raum zwischen den Körpern in einen sozialen Raum umzuformen, der mit administrativen und statistischen Praktiken – zählen, bewerten, im Blick behalten, schriftlich festhalten, koordinieren – nicht nur erfass- und objektivierbar, sondern auch – durch soziale Intervention – veränderbar wurde. So entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts »das Soziale« als eigenständiger Bereich der staatlichen Gesundheitsintervention. Im Rahmen einer allgemeiner gefassten Geschichte der Wohlfahrtsstaatlichkeit entwickelt Nikolas Rose (1999) ein vergleichbares Argument. Rose beginnt mit einer Analyse desjenigen »Denkens und Handelns«, das im späten 19. Jahrhundert die Geburt des Sozialen in den europäischen und US-amerikanischen Nationalstaaten ermöglichte. Er bringt vor, dass das medizinische und moralische Handeln von Ärzt/innen, Professor/innen, Philanthrop/innen und Polizei – das auch die Grundlage für immer elaboriertere statistische Aufzeichnungen darstellte – der Ausgangspunkt dafür war, dass Zielpersonen sich in Zielpopulationen mit sehr spezifischen Eigenschaften verwandelten, die allmählich unter dem Stichwort des »Sozialen« erfasst wurden: ›Arbeiter/innen‹, ›Arme‹, ›Kranke‹.2 An dieser Stelle verortet Rose die Herausbildung einer neuen Definition des Sozialen mit seinen spezifischen Expert/innen, darunter Ärzt/innen, Krankenschwestern und Philanthrop/innen, aber auch Soziolog/innen. Für Rose wurde das neu entstandene Soziale zu einer »Dimension des Staatsgebiets, das die Eigenschaften und Charaktere der Individuen gestaltete, modellierte und sogar determinierte« (Rose 1999: 114). Anders gesagt: Das Soziale bestimmte darüber, wie ein Individuum in einer bestimmten, als nationaler Raum imaginierten Gesellschaft lebte: Arbeiter/innen verhalten sich so und so, Arme leben so und so, Kranke leiden so und so. Das Soziale determinierte also das Individuum und stellte es als das her, was es war und werden würde. In der Folge wurde das Soziale zu einem problematischen Raum, in dem eine ganze Reihe Fragen über und Auseinandersetzungen um das Leben, um Verhaltensweisen, Macht und Autorität aufgeworfen bzw. geführt werden mussten. Diese Fragen, die früher außerhalb des politischen Apparats verortet waren, sind mittlerweile intrinsisch politisch, da es heutzutage darum geht, 2 Rose schreibt den Erfolg der Kategorie des Sozialen vor allem dem im späten 19. Jahrhundert zu verzeichnenden Aufstieg der statistischen Erfassung zu, die die Bevölkerung als Wissensgegenstand und Interventionsziel für Reformen und Prävention »entdeckte« (1999: 113).
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»sozial regieren« zu wollen, wie Rose es schreibt. Hier bezieht er sich auf das Aufkommen der europäischen Wohlfahrtsstaaten, deren Rolle auch darin besteht, Krankheiten zu bekämpfen. Das von Armstrong und Rose entwickelte Argument spielt bei der sozialwissenschaftlichen Analyse der Gesundheit mittlerweile eine sehr wichtige Rolle. Ausgehend von ihrem jeweiligen ›Fallbeispiel‹ – der Tuberkulosefürsorgestelle und dem Wohlfahrtsstaat – halten sie dafür, dass die Beziehung zwischen dem Sozialen und dem Politischen sich in staatlichen und karitativen Interventionen im Zusammenhang mit Krankheits- und Gesundheitsfragen materialisiert hat und dabei zunehmend auf bestimmte, genau definierte Bevölkerungsgruppen abzielt und diese kontrolliert. Diese Gruppen sind am Ende des 19. Jahrhunderts vor allem Arbeiter/innen und arme Kranke. Die Bekämpfung der Tuberkulose war ein sehr konkreter und wichtiger Schauplatz für die Herstellung der Beziehung zwischen dem Politischen und dem Sozialen. Die Regierung armer Tuberkulosekranker wurde schrittweise durch ökonomische Unterstützung, über Lebensmittelmarken und Unterbringungsmaßnahmen in Gang gesetzt. Wie Armstrong zeigt, ging diese materielle Unterstützung jedoch Hand in Hand mit einer Präventionspolitik, die darauf abzielte, mit Hilfe von Untersuchungs-, Aufklärungs- und Kontrollmaßnahmen auch in den Raum der sozialen Beziehungen der Kranken und ihrer Familien einzudringen, ihn regelrecht zu »kolonialisieren«. So wiesen die Handlungen der Akteur/innen der Fürsorgestellen eine Dimension der Kontrolle und Inquisition auf. Ermöglicht wurde diese Dimension durch den Dispensariumsblick, der in die »sozialen Zwischenräume« eindrang, den »sozialen Körper« durchleuchtete und die Leben in der Gesellschaft überwachte. In ihren Arbeiten beleuchten Rose und Armstrong mehrere grundlegende Dimensionen der Konzeption des ›Sozialen‹ im Verlauf des 20. Jahrhunderts und insbesondere das Soziale als Kategorie des Wissens und der Regierung des Lebens. In ihren Augen ist das Soziale eine Handlungskategorie, durch die die Ausweitung des politischen Macht/Wissens und die gesundheitliche Kontrolle der »sozialen Zwischenräume« möglich wurden, so dass insbesondere das Leben bestimmter Personengruppen – in erster Linie Arbeiter/innen, Arme und mittellose Kranke – als Bevölkerungen reglementiert werden konnte. Darüber hinaus gilt ihnen das Soziale auch als eine Wissenskategorie, die Ungleichheiten zwischen unterschiedlichen Lebensumständen sichtbar und denkbar machte; diese Dimension ist für die Soziologie
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zu einem Untersuchungsfeld und für den Wohlfahrtsstaat zu einem Handlungsfeld geworden. So ist das Soziale in Roses und Armstrongs Arbeiten eine Handlungs- und Regierungskategorie, die vor allem auf den Alltag der damaligen Armen, Arbeiter/innen und Kranken einwirkt, und gleichzeitig eine Wissenskategorie, mit der unterschiedliche Lebensbedingungen in einer Gesellschaft und ihre Ungleichheitsstrukturen erfasst werden können. Mit dem Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Tuberkulose zu einem »sozialen Signifikanten« par excellence (Barnes: 217), wann immer gesellschaftliche Ungleichheiten Thema waren. Schon damals war Tuberkulose sehr ungleichmäßig in der französischen Gesellschaft verbreitet, wie bahnbrechende epidemiologische Studien zeigten. In diesen Studien wurde sichtbar, dass ein Arbeiter, der im armen 20. Arrondissement in Paris lebte, ein sechsmal höheres Risiko hatte, an Tuberkulose zu sterben, als ein Bürger aus dem reichen 8. Arrondissement (ebd.). Auch heute ist die Tuberkulose-Inzidenz nach wie vor ein aufschlussreicher Indikator für soziale Ungleichheiten. 2007 wurden in Frankreich fast 5600 neue Tuberkulose-Fälle gemeldet (Antoine/Che 2009). Im Allgemeinen ist die nationale Inzidenz – also die Anzahl neuer Tuberkulose-Fälle pro Jahr in einem bestimmten Land – in Frankreich niedrig, vor allem im Vergleich zu anderen Ländern, die wesentlich stärker von Tuberkulose betroffen sind, wie beispielsweise bestimmte afrikanische und osteuropäische Länder. In bestimmten Gegenden, darunter vor allem in der Ile-de-France und in Guyana, liegt die Inzidenz allerdings über dem französischen Durchschnitt. Ebenso sind bestimmte »Bevölkerungsgruppen« stärker von Tuberkulose betroffen als andere. Gegenwärtig sind das vor allem »Personen mit subsaharischem Hintergrund, Obdachlose und Ältere« (Antoine/Che 2009: 109), wie im letztjährigen Bericht des Instituts für Krankheitsüberwachung ersichtlich wird (InVS 2009). In diesem Bericht zeigt sich, dass sich im erhöhten Tuberkulose-Risiko von Personen, die nicht in Frankreich geboren sind, einerseits widerspiegelt, dass sie in ihren Herkunftsländern einem erhöhten Ansteckungsrisiko ausgesetzt waren; andererseits werden im Bericht auch ihre schwierigen Lebensumstände und ihr begrenzter Zugang zur Gesundheitsversorgung in Frankreich als Gründe für ihr erhöhtes Tuberkuloserisiko angeführt. Im folgenden Text werde ich versuchen, zu zeigen, dass sich nicht nur die Tuberkulose-Inzidenz in Abhängigkeit von sozialen und nationalen Zugehörigkeiten einer Personen ändert, wie es im
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epidemiologischen Bericht zu lesen ist; auch das Verhalten des medizinischen Personals im Rahmen der Umgebungsuntersuchung dekliniert sich entlang unterschiedlicher sozialer Realitäten.
D IE T UBERKULOSE -U MGEBUNGSUNTERSUCHUNG IN F RANKREICH In diesem Beitrag möchte ich die theoretische und politikhistorische Analyse des sozialen und gesundheitspolitischen Handelns des Staates, das im Zentrum von Armstrongs und Roses Ausführungen steht, um einen empirischen Blick auf ein gegenwärtiges Beispiel für gesundheitliches Handeln des Staates erweitern: die Tuberkulose-Umgebungsuntersuchung.3 In meiner Analyse der gegenwärtigen Situation arbeite ich zwar in etwa mit dem gleichen Erkenntnisobjekt wie Armstrong, verlagere es jedoch um ein Jahrhundert: Mein Erkenntnisinteresse gilt also den heutigen Praktiken der Umgebungsuntersuchung in einem französischen Tuberkulose-Zentrum. Ich widme mich konkret einem bestimmten Teil dieser Praxis, bei der die Krankenschwestern4 das Sozialleben der Kranken in den Blick nehmen. Es handelt sich um ein Patientengespräch [entretien d’entourage], das den Krankenschwestern im Tuberkulosezentrum ermöglichen soll, diejenigen »Risikopersonen« zu bestimmen, die Gefahr laufen, mit dem Mycobacterium tuberculosis infiziert zu sein. Dieses Zwiegespräch zwischen Krankenschwester und Patient/in während ihres/seines Krankenhausaufenthalts kann mehrere Stunden dauern. Das Ziel ist, zu erfahren, zu welchen Personen die/der Kranke, der so genannte »Indexfall«, während der ansteckenden Phase der Krankheit Kontakt hatte, so dass man diese Personen so zeitig wie möglich präventiv oder kurativ behandeln kann. Anhand des Gesprächs und dessen, was es über den Alltag der Kranken und ihre Beziehungen zu anderen Personen sichtbar macht, wird also bestimmt, wer besonders 3 Das empirische Material, auf das sich dieser Beitrag stützt, habe ich im Zusammenhang mit meiner Dissertation bei zwei Feldforschungen in einem Tuberkulosezentrum in der Ile-de-France zusammengetragen. Der Zeitraum der Forschungen lag zwischen Dezember 2006 und Mai 2009. 4 Ich verwende durchgängig die weibliche Form, da die Umgebungsuntersuchungen bei meinen Feldforschungen bis auf eine männliche Ausnahme von Krankenschwestern (infirmières) durchgeführt wurden.
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»gefährdet« ist, an Tuberkulose zu erkranken. Das Tuberkulosezentrum nimmt dann Kontakt zu den gefährdeten Personen auf, um sie zu untersuchen, das heißt, um ihre Lunge zu röntgen und einen Tuberkulin Hauttest durchzuführen. Die Tuberkulose-Umgebungsuntersuchung und insbesondere das dazugehörige Gespräch zwischen der Krankenschwester und der kranken Person ist eine Praxis des öffentlichen Gesundheitswesens, die bisher noch nicht ins Blickfeld der Sozialwissenschaften gerückt ist.5 Ich bin durch einen ethnographischen Zufall auf diesen Forschungsgegenstand gestoßen, da ich einen Teil der Forschungen im Rahmen meiner Dissertation in einem Tuberkulosezentrum durchgeführt habe, dessen Leitung beschlossen hatte, die Krankenschwestern systematisch an die Krankenbetten zu schicken und dort ein solches Gespräch zu führen. Die Absicht des Tuberkulosezentrums bestand darin, eine Art ›mobiles Team‹ zu bilden – in etwa vergleichbar zu den früheren Gemeindeschwestern –, das die Patient/innen am Ort ihrer Behandlung aufsucht. Wenn auch die historischen Kontinuitäten zwischen diesen beiden Formen der Umgebungsuntersuchung nicht von der Hand zu weisen sind, so möchte ich doch zeigen, dass die Form, in der diese Gespräche heutzutage durchgeführt werden, und die Konsequenzen für die Patient/innen nicht mehr die gleichen sind wie früher, auch wenn das Ziel das gleiche geblieben ist: die Verhinderung einer weiteren Ausbreitung der Tuberkulose. Früher ging es – laut Armstrong – darum, das Sozialleben aller möglicher Personen, ob krank oder gesund, dem Blick der Akteur/innen der Tuberkulosefürsorgestelle zu unterwerfen und die Handlungsund Einflusssphäre des staatlichen Gesundheitswesens erheblich auszuweiten. Durch ihr Handeln kontrollierten die Akteur/innen der Tuberkulosefürsorgestelle faktisch das Sozialleben der Kranken und der ihnen nahestehenden Personen und brachten ihnen bei, sich hygienisch zu verhalten, indem sie in ihren Alltag intervenierten. Das führte zu einer Intensivierung der sozialen Kontrolle der Kranken und ihrer Communities und unter dem Strich zu einer Form des gesundheitspolitischen Interventionismus. Die heutige Umgebungsuntersuchung ge5 Abgesehen davon, dass es in Frankreich ohnehin nur wenige soziologische oder anthropologische Arbeiten zur Tuberkulose gibt, sind die Umgebungsuntersuchung bisher vielleicht auch noch nicht untersucht worden, weil diese Praxis in Frankreich wenig gängig ist, selbst wenn sie von den bestehenden Leitfäden nahegelegt wird (Arbeitsgruppe des CSHPF 2006).
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staltet sich in dieser Hinsicht völlig anders. Die Identifizierung und Kontaktaufnahme zu Personen aus dem sozialen Umfeld der Patient/innen verläuft nicht mehr nach dem Modell eines expansiven Ansatzes, dessen Ziel darin besteht, die Lebensweise einer möglichst großen Personenzahl zu erfassen und zu verbessern. Im Gegenteil handelt es sich heutzutage um eine Methode, die in einem eng umgrenzten Konzept von ›Infektionsrisiken‹ gründet und darauf abzielt, sehr präzise anhand einer medizinisch und sozial individualisierten Risikoskala zu bestimmen, welche Individuen untersucht werden müssen. Heutzutage geht es – zumindest in dem Tuberkulosezentrum, in dem ich meine Forschungen durchführen konnte – weder darum, die Untersuchung auf alle Personen auszuweiten, die zu dem sozialen Umfeld der Patient/innen gehören, noch darum, ihre sozialen Beziehungen zu überwachen oder in ihren Alltag zu intervenieren. Just zu einer Zeit, in der die Verdatung der Individuen und das administrative Wissen über ihr Sozialleben in den europäischen Gesellschaften sich allgemein gesprochen eher ausweiten, ist dieser Dispensariumsblick (Armstrong) bzw. diese soziale Regierungsform (Rose) paradoxerweise in dem Bereich, wo er entwickelt wurde – nämlich im Rahmen der Bekämpfung der Tuberkulose – am wenigsten präsent. Eine Art »Dispensariumsblick« ist gegenwärtig eher an anderen Schauplätzen staatlicher Interventionen zu verzeichnen, so zum Beispiel im Zusammenhang mit der Regierung von »Ausländern« [étrangers], wie in einigen soziologischen und anthropologischen Studien deutlich wird (Kobelinsky 2009; Spire 2008). Bei der Bekämpfung der Tuberkulose, die mittlerweile effektiv medikamentös behandelt werden kann, ist es stattdessen das Ökonomische, das die Stelle des Sozialen als universal gültige Kategorie im Rahmen der Verwaltung infektiöser Beziehungen eingenommen hat. Im Vordergrund steht primär das Ziel, diejenigen Personen, die Kontakt zu einer/m Kranken hatten, auf »rentable« Art und Weise zu untersuchen und zu behandeln (Aissa/Madhi/Ronsin/Delarocque u.a. 2008). Hier orientiert sich die Tuberkulosefürsorgestelle nicht mehr an der Utopie, gefährdete Bevölkerungsgruppen »sozial effektiv zu managen« (Armstrong: 9); vielmehr handelt es sich um eine pragmatische Fürsorgestelle, die ihre öffentliche Aufgabe, Risikopersonen zu untersuchen und zu behandeln, trotz ökonomischer und personeller Zwänge effizient erfüllen muss. Im gegenwärtigen politischen Kontext, in dem der ökonomische Blick auf gesundheitliche Fragen zunehmend an Be-
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deutung gewinnt (Bröckling/Krasmann/Lemke 2000), und auch in dem sehr spezifischen Kontext der Bekämpfung der Tuberkulose, die sich seit 40 Jahren auf dem Rückzug befindet, hat sich die Logik der Umgebungsuntersuchung tiefgreifend verändert. Vor dem Hintergrund einer Gleichsetzung von sozialen Beziehungen und infektiösen Beziehungen besteht die neue Herausforderung in einer möglichst präzisen Definition des Infektionsrisikos. Ich möchte dafürhalten, dass der »Dispensariumsblick« im Armstrong’schen Sinn heute nicht mehr im Zentrum der Umgebungsuntersuchung steht. An seine Stelle ist ein fragmentierter und wesentlich unschärferer Blick getreten, an dem sich zeigt, wie Teile des öffentlichen Gesundheitswesens heutzutage gleichzeitig kritischer und ethischer geworden sind.
D IS /K ONTINUITÄTEN : D IE T RANSFORMATION DES B LICKS Bevor die Krankenschwester ein Gespräch mit einer/m Patient/in über ihr soziales Umfeld führt, nimmt sie in der Regel Einsicht in die Krankenakte. Sie trägt verschiedene Informationen zusammen, die ihr bei der Vorbereitung der späteren Umgebungsuntersuchung nützlich erscheinen: Die Person, die die/den Patient/in ins Krankenhaus geschickt hat, der Zeitpunkt des Behandlungsbeginns, sämtliche in der Akte vermerkten Telefonnummern, alle familiären Kontaktpersonen, das Geburtsland, die genauen Symptome und der Zeitpunkt ihres erstmaligen Auftretens (»Appetitlosigkeit seit Anfang Februar«, »Gewichtsverlust von 6 kg«, »nächtliche Schweißausbrüche«), Ergebnisse von bakteriologischen Untersuchungen etc. In der Krankenakte sind eine Vielzahl von Informationen vermerkt: der Beruf der Patient/in, Telefonnummern zu Kontaktpersonen aus der Familie, die Migrationsgeschichte, Ergebnisse von Abstrichen etc. Die Krankenschwestern lesen sich so eine erhebliche Menge medizinischer und sozialer Daten an. In der Akte finden sich nicht nur die klinischen Informationen, anhand derer das Infektionsrisiko bestimmt werden kann, sondern häufig auch bestimmte administrative Informationen über die/den Patient/in, wie mir Awa6, eine Krankenschwester aus dem Tuberkulosezentrum, erklärt hat: Geschlecht, Alter, Staatsangehörigkeit, Geburtsland, Sozial6 Sämtliche in diesem Artikel verwendeten Vornamen wurden von mir verändert.
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versicherungsstatus, Familienstand, Beruf. Diese Informationen über die »administrative« Identität der kranken Person sind von zentraler Bedeutung: Sie dienen den Krankenschwestern, die nicht mit einem standardisierten Leitfaden arbeiten, als Gesprächsgrundlage. Rhetorische Fragen Es erscheint banal, über die administrativen Daten stationärer Patient/innen zu sprechen. Diese Informationen stellen jedoch nicht nur die Gesprächsgrundlage dar; die gesamte administrative und klinische Existenz der Patient/innen stützt sich auf sie. Sie sind in der Krankenakte, in dem Bericht über den Krankenhausaufenthalt, in dem Gesprächsprotokoll des Tuberkulosezentrums, in der elektronischen Akte und an weiteren Orten zu finden. Nichts an ihnen ist spektakulär, im Gegenteil. Sie werden von einer Akte in die nächste übertragen; ab und zu passieren dabei kleine Fehler, und es tauchen administrative Absurditäten auf. Gerade ihre Banalität und Universalität sind aus anthropologischer Sicht aber interessant. Die Krankenschwestern bitten die Patient/innen systematisch darum, ihre Daten anzugeben, obwohl sie bereits in allen Akten vermerkt und den Krankenschwestern bekannt sind. Was kann uns diese Praxis des rhetorischen Fragens zu bereits bekannten Daten über die Umgebungsuntersuchung als Verfahren im heutigen Gesundheitswesen sagen? Alle im Tuberkulosezentrum beschäftigten Krankenschwestern gehen bei dem Gespräch unterschiedlich vor – »Alle kochen ihr eigenes Süppchen« – so Awa. Sozialwissenschaftler/innen wissen, dass Interviews eine sehr persönliche und intime Angelegenheit sind; das ist auch bei den Krankenschwestern so. Jedoch weist das Gespräch zwei Aspekte auf, die es trotz der individuellen Herangehensweise der Krankenschwestern systematisch vergleichbar für eine anthropologische Analyse machen: Die zu erhebenden Daten sind immer die gleichen, und die Art und Weise, wie ein Teil der Daten – darunter vor allem die Daten zur administrativen Identität der Patient/innen – bei dem Interview erhoben wird, kann als rhetorisch bezeichnet werden. Die Krankenschwestern kennen die Antworten der Patient/innen bereits, und so nimmt das Gespräch die Form einer Bestätigung bereits bekannter Tatsachen an. Im Zusammenhang mit den administrativen Fragen spielen die Antworten der Kranken eine minimale Rolle. Für die anthropologische Analyse ist also nicht der Inhalt der rhetorischen
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Informationen interessant, sondern die Tatsache, dass sie im Gespräch unumgänglich sind, obwohl die Antworten der Patient/innen kein neues Wissen einbringen. Der unumgängliche Status der Informationen zur administrativen Identität der kranken Person erinnert an das alte Bild des öffentlichen Gesundheitswesens, wie es Armstrong in seiner Geschichte des »Dispensariumsblicks« darstellt: Die Tuberkulosefürsorgestelle dient als administratives Archiv, das die Identitäten der Kranken transparent macht, und als panoptische Institution, die Wissen und vielleicht sogar Macht über ihre Patient/innen und die ihnen nahestehenden Personen besitzt, weil sie ihre soziale Identität kennt. Die soziale und administrative Transparenz der Patient/innen scheint mir jedoch nicht der wichtigste Aspekt des gegenwärtigen »Dispensariumsblicks« zu sein. Neben dem »Verdatungsaspekt« der Umgebungsuntersuchung, der dazu beiträgt, administrative Transparenz über eine kranke Person herzustellen, ist noch eine weitere Transparenz wahrzunehmen, die in dem rhetorischen Charakter der bei dem Gespräch gestellten Fragen sichtbar wird: die Transparenz der administrativen Daten zwischen unterschiedlichen staatlichen Institutionen, eine gewisse Kontinuität des administrativen Wissens also, eine Verbindungslinie zwischen staatlichen Wissensvorräten, die an verschiedenen Schauplätzen zu verzeichnen ist. Die Tatsache, dass die Fragen zur administrativen Identität der/s Kranken rein rhetorisch sind, macht deutlich, dass das Tuberkulosezentrum eine Institution ist, die im Austausch mit anderen Institutionen steht, denen die/der Patient/in bereits bekannt ist: mit dem Krankenhauswesen, aber auch mit anderen staatlichen Einrichtungen, die die kranke Person vorher vielleicht durchlaufen musste, wie beispielsweise das französische Immigrations- und Integrationsamt [Office français de l’immigration et de l’integration]. Diese administrative Kontinuität der Daten erlangt in dem Gespräch eine ganz reale Präsenz, wenn die Krankenschwestern zu verstehen geben, dass ihnen bestimmte Informationen über die Patient/innen bereits bekannt sind. Die Kontinuität bzw. Intertransparenz der Daten kann im Hinblick auf bestimmte Daten relativ harmlos sein, aber das gilt weder für alle Daten noch für alle Personen.
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Wir sind nicht von der Polizei Gespräche mit französischen Patient/innen verlaufen unter Umständen anders als Gespräche mit Personen mit Migrationshintergrund; das gilt vor allem für Personen mit einem afrikanischen Background. Bei Gesprächen mit diesen Patient/innen hört man oft die Äußerung: »Wir sind nicht von der Polizei.« Dieser Satz wird entweder gleich zu Beginn des Gesprächs artikuliert, wenn die Krankenschwestern erklären, wie das Tuberkulosezentrum funktioniert, oder mitten im Gespräch, wenn sie spüren, dass die Patient/innen bestimmte sensible Fragen nicht beantworten möchten, wenn es beispielsweise um illegale Arbeit geht oder darum, dass sie in einem ›Wohnheim‹7 leben. Es folgt ein Auszug aus einem Gespräch zwischen Marcel, einem Krankenpfleger, und einer jungen Kongolesin, die seit kurzer Zeit in Frankreich lebt, wo sich ihre Mutter bereits seit einiger Zeit aufhält. Sie spricht noch relativ wenig Französisch. M: »Also Sie sind im Dezember in Frankreich angekommen, ja? Leben Sie mit Ihrer Mutter zusammen? Oder nicht? Haben Sie eine Wohnung?« Pa: »Eine 2-Zimmer-Wohnung.« M: »Schlafen Sie im gleichen Zimmer? Und im gleichen Bett? Pa: [bejaht] M: Arbeitet Ihre Mutter?« Pa: [zögert] M: »Wir sind nicht von der Polizei. Das geht uns nichts an. Aber wenn Sie arbeiten, auch illegal, dann müssen Sie mir das sagen, das ist wichtig.« Pa: »Okay. Aber ich habe noch keine Arbeit.« (Feldtagebuch, 23. 4. 2009)
Marcel befragte die junge Frau über den Zeitpunkt ihrer Ankunft in Frankreich, über die Wohnung, die sie mit ihrer Mutter teilt, und über die Arbeit ihrer Mutter, über die sie zunächst nichts sagen wollte. Marcel reagierte darauf indem er ihr sagte, er sei nicht von der Polizei, und er sei nicht an Informationen über die Arbeit ihrer Mutter oder über sonstige Aspekte ihres Lebens interessiert, sondern an ihrer eigenen Arbeit, da dies die für ihn relevanten Erkenntnisse seien. Durch 7 Der Begriff ›Wohnheim‹ [foyer] – die Kurzform von ›Wohnheim für migrantische Arbeiter/innen‹ [foyer pour travailleurs migrants] – ist im Zusammenhang mit der Bekämpfung der Tuberkulose immer noch gängig, wenn eine gemeinschaftliche, von Vereinen bzw. Verbänden organisierte Unterbringung beschrieben wird. In der heutigen offiziellen Rhetorik in Frankreich spricht man mittlerweile von ›sozialem Wohnungsbau‹ [résidence sociale].
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seine suggestive Fragetechnik transportierte Marcel bestimmte Vorannahmen und Verdachtsmomente über den Alltag der jungen Frau, vor allem in Hinblick auf illegale Arbeit. Im gesamten Gesprächsverlauf war zudem festzustellen, dass der Krankenpfleger sichtlich entnervt war und der Patientin Missachtung entgegenbrachte, da das Gespräch ins Stocken kam und keine Fortschritte machte. Marcel hatte massive kulturelle Vorurteile und sendete irritierte Blicke in meine Richtung; dadurch machte er mich gegen meinen Willen zu seiner Komplizin in einem Gespräch, das ich als »symbolisch gewalttätig« beschreiben würde (Bourdieu 1996). Ich hatte den Eindruck, bei einer polizeilichen Befragung zugegen zu sein, auch wenn Marcel sich explizit davon abgegrenzt hatte. Wenn ich nicht näher auf die symbolische Gewalt eingehe, die sich durch dieses Gespräch zog, und mich statt dessen auf die Äußerung »Wir sind nicht von der Polizei« konzentriere, so liegt das daran, dass solch eine Form der Gewalt in der von mir beforschten Institution nicht die Regel war.8 Der Negativverweis auf die Polizei gehörte demgegenüber zum rhetorischen Repertoire aller Krankenschwestern, die über den Gebrauch dieser Phrase versuchten, das Tuberkulosezentrum ex negativo als eine Institution zu definieren, der nicht daran gelegen ist, im Alltag der Patient/innen herumzuschnüffeln, wie die Polizei es manchmal tut. Zweck dieser Abgrenzung ist es demnach, die Pflegerinnen als Akteurinnen einer staatlichen Gesundheitsbehörde darzustellen, zu deren Aufgaben es gehört, bestimmte Dinge über das Sozialleben ihrer Gesprächspartner/innen und der diesen nahestehenden Personen zu erfahren – aber eben nur bestimmte Dinge. »Das geht uns nichts an«, sagte Marcel im Hinblick auf die Arbeit der Patientinnenmutter, um der jungen Frau zu verstehen zu geben, dass es nicht seine Aufgabe ist, generell in ihrem Privatleben herumzuschnüffeln oder es zu reglementieren, sondern dass es ihm allein um gesundheitliche Präventionsarbeit geht. »Uns ist völlig egal, ob sie Papiere hat oder nicht«, sagte Awa in einem vergleichbaren Gestus nach einem per Telefon gedolmetschten Gespräch mit einer jungen portugiesischen 8 Man könnte dennoch einen weiteren Artikel über die unterschiedlichen Dimensionen der »symbolischen Gewalt« in solchen Gesprächen schreiben, auch wenn sie nicht immer die Regel ist. Das gilt insbesondere für Gespräche mit migrantischen und mehrfach prekarisierten Kranken in Frankreich (keine Aufenthaltserlaubnis, wenig Französischkenntnisse, kein fester bzw. anerkannter Wohnort, arbeitslos, illegal beschäftigt etc.).
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und in Brasilien geborenen Patientin zu mir. Während des Telefonats gab es mit der Dolmetscherin Missverständnisse im Hinblick auf die Papiere und den Sozialversicherungsstatus der Patientin, die zwar einen brasilianischen Hintergrund, aber die portugiesische Staatsangehörigkeit hatte und insofern keine Aufenthaltsgenehmigung benötigte. Dies übersetzte die Dolmetscherin im Gespräch falsch als »Sie hat keine Papiere.« Nach dem Gespräch sprachen Awa und ich über diese Episode, und sie sagte zu mir: »Das Problem mit der Dolmetscherin war, dass sie meine Position eingenommen hat und die Fragen an meiner Stelle gestellt hat, wenn man das so sagen kann; aus purer Neugier, würde ich sagen. Uns ist es persönlich total egal, ob sie Papiere hat oder nicht. Wir tun unser Bestes, damit es ihr besser geht. Unterstützung finden. Hundertprozentige Kostenübernahme durch die Versicherung. Deswegen müssen wir Bescheid wissen.« Durch den Gebrauch von Formulierungen wie »Das interessiert uns nicht« oder »Das geht uns nichts an« verweisen die Krankenschwestern auf eine bestimmte Gesprächsethik, die darin besteht, nicht grundlos im Privatleben der Patient/innen herumzuschnüffeln, sie nicht (wie die Dolmetscherin) aus Neugier oder (wie die Polizei) aus einem Verdachtsmoment heraus zu befragen. Die Unterscheidung zwischen Tuberkulosezentrum und Polizei lässt sich so als eine Abgrenzungsstrategie interpretieren, die in einer bestimmten Arbeitsethik gründet und deren Ziel darin besteht, den Patient/innen zu verstehen zu geben, dass einzig der medizinisch relevante Aspekt ihres Soziallebens zählt. Mit meiner Beschreibung dieser Gesprächsfragmente wollte ich illustrieren, dass heute nicht mehr jener Dispensariumsblick am Werk ist, der Tuberkulosepatient/innen transparent und ihr Sozialleben »transformierbar« macht, wie es im frühen 20. Jahrhundert noch der Fall war, als in einem Klima des gesundheitspolitischen Interventionismus im Zusammenspiel mit der Hygienebewegung (Barnes 1995) die massenhafte soziale und medizinische Verdatung von Populationen in Gang gesetzt wurde (Fairchild u.a. 2007). Heute grenzen sich die Krankenschwestern sogar explizit von dieser Bewegung ab, auch wenn sie immer noch unabsichtlich in deren Tradition stehen, wie in einer Äußerung einer der Pflegerinnen des Tuberkulosezentrums abermals deutlich wird. Fanny sagte während eines Gesprächs mit einer jungen Französin in der Gegenwart ihrer Eltern, die aus dem Tschad und aus dem Kongo kamen: »Sie müssen Ihre Lebensgewohnheiten nicht ändern. Kein Problem.« Fanny grenzte sich mit dieser Äußerung ex-
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plizit von jeder Art gesundheitlichem Hygienismus ab. Wie ich weiter oben genauer gezeigt habe, grenzen sich die Krankenschwestern jedoch nicht in jeder Gesprächssituation von polizeilichen Befragungen und einem willkürlichen Interventionismus ab. Dies geschieht ausschließlich bei Gesprächen mit migrantischen Patient/innen (oder Nachkommen von Migrant/innen) und primär bei Migrant/innen aus afrikanischen Ländern. Es braucht also eine zweite Interpretation des Satzes »Wir sind nicht von der Polizei«, eine Interpretation nämlich, die die Begegnung zwischen Krankenschwestern und Patient/innen in einen größeren Kontext der administrativen Begegnung zwischen auf französischem Staatsgebiet lebenden Personen und staatlichen Institutionen einschreibt. Diese Begegnungen werden von Personen mit afrikanischem Hintergrund und von weißen Französ/innen unterschiedlich wahrgenommen. Dieser Tatsache versuchen die Krankenschwestern Rechnung zu tragen. Erfahrungstatsachen Man könnte sagen, dass die explizite Abgrenzung von der Polizei gegenüber bestimmten Personen in einer »Erfahrungstatsache« gründet (Fleck 1980), durch die die Krankenschwestern versuchen, die Reaktionen ihrer Gesprächspartner/innen im Hinblick auf die Umgebungsuntersuchung zu antizipieren. Diese Reaktionen gelten ihnen als durch die soziale Identität der Patient/innen vorgegeben. Und in der Tat konnten mehrere soziologische Studien zeigen, dass die administrativen Beziehungen zwischen Staat und Bevölkerung – hier ist die Umgebungsuntersuchung nur ein Beispiel – sich je nach »Herkunft« (französisch oder migrantisch) und Hautfarbe (weiß oder nicht weiß) unterschiedlich gestalten (Jobard 2006; Knowles 1999). Wenn ich die unterschiedliche Behandlung durch die Krankenschwestern als »Erfahrungstatsache« beschreibe, so möchte ich damit verdeutlichen, dass es sich um ein Zusammenspiel von Werturteilen und Erfahrung handelt, die sie im Lauf ihrer täglichen Arbeit mit migrantischen Patient/innen erworben haben. Bei Letzteren nehmen die Krankenschwestern häufiger Zögern, Widerstände und Zweifel im Gesprächsverlauf wahr. Sie versuchen, diesen Gefühlen vorzubeugen, weil sie befürchten, dass das Gespräch sonst in der Folge »steckenbleibt«. Dass zwischen Gesprächen mit migrantischen Patient/innen und mit französischen Patient/innen Unterschiede zu verzeichnen sind, liegt also nicht nur an
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Werturteilen, auch wenn diese im Gespräch manchmal eine Rolle spielen. Ebenso liegen diese Unterschiede programmatisch in dem Arbeitsalltag der Krankenschwestern begründet, die versuchen, der Verschränkung zwischen ihrer Arbeit und einer institutionellen und sozialen Landschaft Rechnung zu tragen, die nicht von allen Patient/innen gleich erlebt wird. Die Krankenschwestern erledigen ihre Arbeit im Bewusstsein darüber, dass zwischen dem Tuberkulosezentrum und anderen Schauplätzen staatlicher Interventionen wie beispielsweise der Polizei de facto Verbindungen bestehen, und versuchen, die spezifischen sozialen Erfahrungen zu berücksichtigen, die ihre Gesprächspartner/innen mit staatlichen Einrichtungen gemacht haben (könnten) – zu denen das Tuberkulosezentrum möglicherweise auch von den Patient/innen gezählt wird. Verortet man das Gespräch in diesem institutionellen Kontext, so bekommt es den Anschein einer administrativen Prozedur, die sich in einer Reihe vielfältiger Begegnungen zwischen staatlichen Akteur/innen und Individuen einschreibt, die in Abhängigkeit davon, ob eine Person als »französisch« oder »migrantisch« wahrgenommen wird – eine Differenzierung, die besonders über die Hautfarbe hergestellt wird –, unterschiedlich verlaufen. So konnte in soziologischen Studien beispielsweise gezeigt werden, dass Migrant/innen mit afrikanischem Hintergrund bzw. ihre Kinder, also Personen mit dunkler Haut, sich häufiger als andere Personen gegenüber der Polizei ausweisen müssen und dass diese unterschiedlich häufigen Kontrollen auch massive Konsequenzen haben können (Goris u.a. 2009). Hierbei handelt es sich um rassistische Diskriminierung. Selbst wenn die Krankenschwestern den Begriff der rassistischen Diskriminierung nicht verwenden und entsprechende soziologische Untersuchungen ihnen vielleicht nicht geläufig sind – darüber kann ich nichts sagen –, so ist ihnen rassische Diskriminierung doch als gelebte soziale Tatsache bekannt. Und wenn die Krankenschwestern erklären, dass sie »keine Bullen« sind, handeln sie so, als ob sie sich explizit von diskriminierendem Verhalten abgrenzen müssten. Sie tragen den administrativen Erfahrungen ihrer Patient/innen und – implizit – ihrer eigenen institutionellen Geschichte als Mitglieder der Gesundheitspolizei Rechnung. Der Verweis der Krankenschwestern auf die Polizei zeigt deutlich, dass sie sich sehr bewusst darüber sind, dass auch heute noch eine Art »Dispensariumsblick« existiert – wenn sie auch großteils versuchen, sich davon abzugrenzen. Dass der Verweis auf die Polizei nur in be-
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stimmten Situationen artikuliert wird, zeigt insbesondere, dass dieser Blick heute nicht mehr nur ein »Klassenblick« ist, wie es die Historiker/innen der Tuberkulose für das frühe 20. Jahrhundert im Hinblick auf die Arbeiter/innen zeigen (Barnes 1995; Guillaume 1986); er ist zudem noch »rassifiziert« (Fassin/Fassin 2006). Hier wird auch ersichtlich, dass Kontrollen und Überwachung im Zusammenhang mit dem »Dispensariumsblick« sich heutzutage an anderen Schauplätzen und vor allem beim »Regieren« der »Ausländer« abspielen: so beispielsweise an Schaltern in Verwaltungsgebäuden (Spire 2008) oder in Aufnahmelagern für Asylbewerber/innen (Kobelinsky 2009). Die Umgebungsuntersuchung und das damit einhergehende Gespräch zeigen zwar, dass der interventionistische Dispensariumsblick, wie Armstrong ihn beschreibt, nicht mehr das zentrale Element in der Bekämpfung der Tuberkulose ist. Das Beispiel der Abgrenzung von der Polizei gegenüber bestimmten migrantischen Patient/innen zeigt aber ebenfalls, dass der Dispensariumsblick mit dem ›Tod‹ der klassischen Tuberkulosefürsorgestelle nicht verschwunden ist, sondern stattdessen in anderen staatlichen Handlungsfeldern weiterwirkt, von denen die Krankenschwestern sich explizit abgrenzen oder auf die sie implizit verweisen.
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Betrachtet man die unterschiedlichen Auffassungen von ›Sozialleben‹, die von den Krankenschwestern während der Gespräche ins Feld geführt werden, so bestätigt sich die Annahme, dass es nicht mehr angebracht ist, vom Dispensariumsblick im Armstrong’schen Sinn zu sprechen, wenn es um die heutige Umgebungsuntersuchung in Frankreich geht. Ich werde zeigen, dass es heutzutage weder um Kontrolle noch um die Überwachung der Sozialleben geht – wenn auch das Sozialleben stets Thema ist –, sondern vielmehr um das effiziente Management eines Infektionsrisikos. Als ich Awa fragte, was das Ziel des Gesprächs ist, antwortete sie:
»Das Ziel ist, Personen zu finden, die untersucht werden müssen, also Kontaktpersonen zu screenen, damit die Krankheit nicht ausbricht. Dafür muss man verstehen, wie Tuberkulose funktioniert. Man muss Kontakt zu einer Person haben, die die Krankheit hat: in einem geschlossenen Raum, unter dem gleichen Dach, über einen längeren Zeitraum, kontinuierlich. Solche Leute haben
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Awa erklärte mir das Ziel des Gesprächs der Umgebungsuntersuchung folgendermaßen: besonders gefährdete Personen im sozialen Umfeld der Patient/innen zu identifizieren, um sie zu untersuchen. Um eine dem wirklichen Infektionsrisiko entsprechende Vorsorgeuntersuchung durchführen zu können, muss die Krankenschwester einschätzen, welche »Kontaktpersonen« ein erhöhtes Risiko haben, eine Tuberkulose zu entwickeln. Die entscheidenden Faktoren sind hier die Zeit, die die Kontaktperson mit der kranken Person verbracht hat, der Tuberkulosetyp (sehr ansteckend oder nicht), sowie eventuelle soziale oder klinische Probleme der Kontaktperson. Das heißt, dass die Krankenschwester anhand des individuellen Risikos einschätzen muss, ob die Untersuchung einer bestimmten Person sinnvoll ist. In ihren Ausführungen bezieht Awa sich auf zwei Dimensionen des Sozialen als potenzielle Risikofaktoren: einerseits das Sozialleben als Summe infektiöser Beziehungen – insbesondere wenn der Kontakt zwischen der kranken Person und der Kontaktperson eine bestimmte Stundenanzahl überschreitet und in einem geschlossenen Raum stattfindet (Bett, Schlafzimmer, Büro …); andererseits geht es um mögliche »soziale Probleme« wie beispielsweise eine nicht vorhandene Sozialversicherung der Kontaktperson, die einen zusätzlichen Risikofaktor darstellt. Wenn auch beide Dimensionen des sozialen Risikos sehr unterschiedlich konzeptualisiert sind – die erste lässt sich präzise in Stundenzahlen quantifizieren, während die zweite ziemlich vage unter dem Begriff »soziale Probleme« gefasst wird –, stellt das Ziel des Gesprächs eine Äquivalenz zwischen den beiden Dimensionen her: die Quantifizierung des sozialen Lebens und seine Transformation in eine Risikoskala. Infektiöse Beziehungen Im Zentrum der von mir beobachteten Gespräche steht der Versuch, die »Kontaktzeit« zwischen der erkrankten Person und den Personen
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aus ihrem sozialen Umfeld genau zu bemessen, also eine Quantifizierung des sozialen Lebens vorzunehmen. Während eines Gesprächs mit einem französischen Informatikstudent erklärte ihm die Krankenschwester Catherine, die sehr viel Erfahrung mit solchen Gesprächen hat, dies folgendermaßen: »Für uns ist es wichtig, zu wissen, zu wem Sie in den drei Monaten vor Ihrer Einlieferung ins Krankenhaus Kontakt hatten. Wir vermuten nämlich, dass Sie ansteckend waren. Und darum interessiert mich Ihre Lebensweise und Ihr soziales Umfeld. Ich möchte Sie darum bitten, die Kontaktzeit einzuschätzen, damit wir das Risiko einschätzen können. Wir fangen mit der Wohnsituation an. Wo wohnen Sie?« (Feldtagebuch: 10. 10. 2006)
Catherine erklärt ihrem Patienten, dass ihr Interesse an seinem Sozialleben, an seiner »Lebensweise«, in ihrem gesundheitlichen Auftrag gründet, der sie dazu verpflichtet, das von ihm ausgehende Ansteckungsrisiko für andere Personen einzuschätzen. Während des zweistündigen Gesprächs, das auf diese Erläuterung folgte, spielte die Bemessung der »Kontaktzeit« mit allen Personen, zu denen der Kranke Kontakt hatte, eine zentrale Rolle. Catherine verließ den Raum mit stapelweise Telefonnummern, Adressen und Notizen zu sozialen Beziehungen. Sie war sehr zufrieden darüber, so viele genaue Informationen zusammengetragen zu haben. Die Menge an Informationen bedeutete zwar, dass sie eine erhebliche Menge individueller Risiken einschätzen, eine Umgebungsuntersuchung in einer Schule veranlassen und Informationen aus anderen Départements in Frankreich einholen musste. Für sie hieß das allerdings, dass das Gespräch gelungen war. Der Patient gab ihr »viele Informationen« über die Personen, zu denen er Kontakt hatte, und »hat alles verstanden«, so Catherine nach dem Gespräch. Letzteres war Catherines Kommentar dazu, dass das Ziel des Gesprächs, die »Risikoeinschätzung« in der Absicht, eine Umgebungsuntersuchung zu veranlassen, von dem Patienten unterstützt und geteilt wurde. Am Ende des Gesprächs, als Catherine ihn fragte, ob es ihm peinlich sei, an Tuberkulose erkrankt zu sein, antwortete er: »Nein, überhaupt nicht. Das ist eine Krankheit, die früher schlimm war, aber man kann sie behandeln. Und je früher, desto besser.« (Feldtagebuch: 10. 10. 2006) Der französische Student und Medizinersohn hatte das Präventionsziel des Gesprächs internalisiert: Es geht darum, so frühzeitig wie möglich diejenigen Personen aus seinem Umfeld zu untersuchen, die
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ein gewisses »Risiko haben«, Tuberkulose zu entwickeln. Er leistete eine erhebliche Erinnerungsarbeit, um Catherine in der Erfüllung ihres Auftrags zu unterstützen. Bei diesem »gelungenen« Gespräch gingen Catherine und der Patient von einer gemeinsamen Grundlage aus und stellten den Gesprächsgegenstand, das Sozialleben des Patienten, gemeinsam her. Am Krankenbett rekonstruierten sie den Alltag des Patienten und quantifizierten seine sozialen Beziehungen der letzten drei Monate, um daraus das Infektionsrisiko für seine Familie, Freund/innen und Kommiliton/innen abzuleiten. Während des Gesprächs wurde von keiner Seite angezweifelt, dass das Wissen um das Sozialleben des Patienten nur in einer ganz bestimmten Absicht zusammengetragen wurde, nämlich um individuellen Infektionsrisiken durch das Handeln des Gesundheitswesens zu begegnen. Soziale Beziehungen wurden hier von beiden Seiten als infektiöse Beziehungen imaginiert. Während des ganzen Gesprächs herrschte ein sehr medikalisierter Begriff von Sozialleben vor. Das Sozialleben bzw. die »Lebensweise« wurde als die Summe aller potenziell infektiösen familiären, beruflichen und sonstigen Beziehungen des Patienten während eines bestimmten Zeitraums aufgefasst, die retrospektiv im Hinblick auf alle Kontakte und deren drei Monate lang bestehendes Infektionsrisiko hin abgefragt wurden. Indem Krankenschwestern während ihrer Gespräche eine bakteriologische Definition des Soziallebens in den Vordergrund stellen, so wie Catherine es bei dem Gespräch mit dem französischen Studenten konsequent tat, gelingt es ihnen häufig, Fragmente aus dem Alltag ihrer Gesprächspartner/innen berichtet zu bekommen. Manchmal gelingt ihnen das allerdings nicht; Gespräche »bleiben stecken [bloquent]«, wie es bei den Krankenschwestern heißt und wie weiter oben bereits am Beispiel des Gesprächs zwischen Marcel und der jungen Kongolesin gezeigt werden konnte. In solchen Augenblicken tritt ein anderes »Soziales« auf den Plan: ein komplexeres und dichteres Soziales, das nicht auf infektiöse Beziehungen heruntergebrochen werden kann. Der Blick der Anderen Fanny und ich sind auf dem Weg in das Zimmer einer 14jährigen Patientin, die aufgrund einer ansteckenden Tuberkulose in die pädiatrische Abteilung eingewiesen wurde. Ihr Zimmer ist schon auf einige Entfernung zu erkennen: Vor der Tür liegen Masken, Latexhandschuhe und Desinfektionsmittel bereit. An
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der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift: »Atmungsisolierung«. Wir ziehen Masken an. Fanny klopft an, wir treten ein. Im Bett liegt ein dünnes schwarzes Mädchen, der Fernseher läuft, die Luft im Zimmer ist extrem stickig. Auf der einen Seite des Bettes, zum Fenster hin, sitzt ihre Mutter, auf der anderen Seite zur Tür hin ihr Vater. Das Zimmer ist nicht sehr groß, und die Fenster lassen sich nicht öffnen. Fanny und ich geben den drei Personen die Hand, stellen uns vor, sagen, was wir tun – wir sind eine Krankenschwester und eine Anthropologin –, und nehmen uns Stühle. Die Mutter setzt sich auf das Bett, und wir sitzen auf den Stühlen am Fußende des Krankenbetts. Fanny: »Wir sind vom Tuberkulosezentrum. Unsere Büros sind gegenüber, wir arbeiten für das Krankenhaus. Wenn es einen Tuberkulosefall gibt, gehen wir zu den Leuten. Was wir machen, ist eine Befragung für die Umgebungsuntersuchung, damit wir wissen, zu wem Sie Kontakt hatten. Wir sind Krankenschwestern, wir sind nicht von der Polizei.« [Allgemeines Gelächter] (Feldtagebuch: 27. 4. 2009)
Nach Fannys Erläuterungen über die Tuberkulose und die Funktionsweise des Tuberkulosezentrums, nach »administrativen« Fragen zum Wohnort, zur familiären Situation, zum Herkunftsland der Eltern, zur Nationalität und zum Sozialversicherungsstatus des Mädchens beginnt Fanny, die Patientin und ihre Eltern direkt über ihre Sozialkontakte zu befragen. F: »Und was die Familie angeht, wen sehen Sie da denn regelmäßig?« Vater: »Wir versuchen, dass die Leute das nicht mitkriegen. Tuberkulose ist nicht besonders gut angesehen. Wir selber wollen nicht sagen, dass sie Tuberkulose hat.« Mutter: „»Wie machen Sie das normalerweise [mit der Umgebungsuntersuchung?“?« F: »Wir, also das Tuberkulosezentrum, wir können den Leuten sagen: ›Also, wir nehmen Kontakt zu Ihnen auf, weil Sie Kontakt zu jemandem hatten, der Tuberkulose hat, und wir legen Ihnen eine Untersuchung nahe.‹ Wir sagen ihnen nicht, zu wem sie Kontakt hatten.« Vater: »Aber die werden wissen, dass sie es war.« F: »Denken Sie nochmal nach. Ich mache das mit vielen Leuten, man kann das erklären, die Leute verstehen das, man muss sich für Tuberkulose nicht schämen.« (Feldtagebuch: 27. 4. 2009)
Nur zögernd beantworteten die Eltern Fannys Fragen und gaben die Sozialkontakte ihrer Tochter preis. Sie fürchteten, die Umgebungsuntersuchung und das Bekanntwerden ihrer Tuberkulose könne zu Vorurteilen gegenüber ihr und ihrer Familie führen. Fanny versuchte, sie zu beruhigen, und sagte ihnen, sie verstünde sie, und sie seien nicht die Einzigen, die sich diese Sorgen machen. Sie betonte, dass die Umge-
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bungsuntersuchung trotz der elterlichen Sorgen normalerweise problemlos und ohne Folgen für die Familie ablaufe und dass man anderen Personen klarmachen könne, dass man sich für diese Krankheit nicht schämen muss; es handele sich schließlich einfach um eine Infektionskrankheit. Sie schlug eine anonyme Umgebungsuntersuchung vor, aber die Eltern waren immer noch nicht überzeugt, dass diese durchgeführt werden kann, ohne negativ auf sie und ihre Tochter zurückzufallen. Vater: »Bei uns, bei den Afrikanern, ist das anders. Die Leute sind zu kompliziert.« F: »Glauben Sie mir, das ist nicht nur bei den Afrikanern so.« Vater: »Die Leute werden das nicht verstehen. Die werden sagen, dass sie schuld an der Tuberkulose ist. Niemand redet darüber, wir reden nicht über Tuberkulose. Sie wird geheilt werden. Aber die Leute werden sie auch danach noch angucken.« F: »Aber meistens läuft das alles sehr gut.« Vater: » Dass es Tuberkulose ist, ist uns selber völlig egal. Es geht um den Blick der Anderen. Ich lebe jetzt seit 20 Jahren in Frankreich, ich habe noch nie mitbekommen, dass jemand, der mir nahesteht, Tuberkulose hat, nicht mal in Afrika, nie. Und wir sind nicht isoliert. Und sogar hier hat es einen Monat gedauert, bis die Krankheit aufgedeckt worden ist, die ist nicht so häufig. Wir bleiben nicht in unserem Milieu und so.« (Feldtagebuch: 27. 4. 2009)
Es gelang Fanny nicht, den Vater des Mädchens dazu zu bringen, ihr die familiären und freundschaftlichen Beziehungen der Patientin darzulegen. Der Vater erklärte, dass seine Bedenken der Repräsentation der Tuberkulose »bei den Afrikanern« und allgemeiner gesprochen dem »Blick der Anderen« gelten, und dass er die Namen seiner Sozialkontakte daher nicht weitergeben will. Erst nachdem der Vater zur Arbeit aufgebrochen und Fanny noch eine ganze Weile bei dem Mädchen und ihrer Mutter geblieben war, gelang es ihr, bestimmte Informationen über die Personen zusammenzutragen, zu denen die Patientin Kontakt gehabt hatte. So nahm das Gespräch doch noch eine ertragreiche Wende, aber es verlief nicht ohne Reibungen, und auch nicht auf der Grundlage einer unausgesprochenen Übereinkunft wie im Fall des Gesprächs zwischen Catherine und dem weißen französischen Informatikstudent. Als wir das Gespräch gemeinsam auswerteten, beschrieb Fanny es als »steckengeblieben«. Bei der Nachbesprechung erklärte sie der am Tuberkulosezentrum arbeitenden Pneumologin, der Vater verstecke
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sich hinter einem »kulturellen Klischee«, um »das Gespräch abzublocken«. F: »Da ging es um Stigmatisierung und Schuldgefühle. Aber ich weiß nicht, ob das bei der Familie oder bei den anderen Leuten so ist. Auf jeden Fall hat der Vater das Gespräch abgeblockt. Er hat sich hinter einem kulturellen Klischee versteckt, also habe ich irgendwann gesagt: ›Das ist nicht nur bei den Afrikanern so, das ist überall so.‹« (Feldtagebuch: 27. 4. 2009)
Fanny war sich nicht sicher, wie sie das »Steckenbleiben« interpretieren sollte, aber sie glaubte nicht an das Argument des Vaters, mit dem er vermitteln wollte, seine Widerstände lägen in den Vorstellungen der »Afrikaner« über die Tuberkulose begründet. Sie deutete es als einen kulturalistischen Vorwand in der Absicht, Schuldgefühle und Stigmatisierungen zu verstecken. Ich fügte der Unterhaltung hinzu: J: »Für mich hatte das Problem des Vaters eher mit dem Zusammenspiel Tuberkulose, schwarz sein, Immigrant aus Afrika sein zu tun und damit, was für Bilder das bei Franzosen auslöst, und nicht nur mit den Vorstellungen über Tuberkulose bei den Afrikanern. Er hat gesagt: ›Es geht um den Blick der Anderen.‹ Was hier wichtig ist, ist seine Situation in Frankreich in Bezug auf die Krankheit. Deswegen will er nicht darüber reden, darüber reden könnte faktisch schlecht für ihn und seine Familie sein. Darüber reden könnte Probleme schaffen.« Pneumologin: »Also du glaubst, das war ›Ich bin schwarz, ich habe Tuberkulose, also werden die Leute sagen, schon wieder ein Schwarzer mit Tuberkulose?‹ Das ist es, was er denkt?« J: »Ja, das würde ich eher denken.« (Feldtagebuch: 27. 4. 2009)
In dem eben analysierten Gespräch versuchte Fanny immer wieder, den bakteriologischen Begriff des Soziallebens durchzusetzen, der für Catherine und den französischen Medizinersohn so selbsterklärend gewesen war. Diesen Begriff von Sozialleben könnte man als »dünn« bezeichnen: eine bakteriologische Sichtweise auf soziale Interaktion als einfache Summe infektiöser Beziehungen. Mittels einer Entzauberung der Ansteckung und einer Entdramatisierung der Interventionen des Gesundheitswesens versuchte Fanny, eine bakteriologische Definition des Soziallebens als Ensemble infektiöser Beziehungen durchzusetzen und so die Umgebungsuntersuchung als notwendiges, aber neutrales Vorgehen zu naturalisieren, das dem Sozialleben der jungen Patientin keinen Schaden zufügen kann. Im Gespräch ein bakteriologisches Konzept des Soziallebens starkzumachen, ist ein Versuch, die
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Krankheit und die Umgebungsuntersuchung zu entmystifizieren, um mit den Patient/innen ein quantitatives Narrativ über ihr Sozialleben herzustellen, also möglichst exakt zu bestimmen, wie lange die Patient/innen mit den »Kontaktpersonen« in Berührung standen. So soll bemessen werden, welches Ansteckungsrisiko für die einzelnen Kontaktpersonen besteht. Dieser bakteriologische Blick auf das Sozialleben der Patient/innen kann sich als hilfreich dafür erweisen, ein Gespräch voranzubringen, reicht aber allein nicht dafür aus. Stattdessen stößt er auf eine wesentlich komplexere soziale Realität, die sich dem Gespräch in den Weg stellt: das ›wirkliche‹ Sozialleben der Patient/innen, ein ›dichtes‹ Leben. Die Dichte sozialer Leben Die Krankenschwestern begründen eventuelle Widerstände und das »Steckenbleiben« von Gesprächen mit Berufung auf das »System«, die soziale Identität einer Person und die daran gebundene Position der Patient/innen in der Gesellschaft. So wird die Auffassung von sozialen Beziehungen als infektiöse Beziehungen, auf die sich die Pragmatik der Befragung stützt, von einem Begriff der sozialen Beziehungen überschrieben, der Letztere in ihrer Verschränkung mit der Position einer/s Patient/in in der Gesellschaft betrachtet. Wo Widerstände zu beobachten sind, wird meistens diese Dichte der sozialen Beziehungen in den Vordergrund gerückt, um zu erklären, wann ein Gespräch einfach oder schwierig, durchführbar oder zwecklos ist. Catherine erklärte es mir folgendermaßen: »Für mich ist es auch das System, […] das, was uns in der Gesellschaft, in der wir aufgewachsen sind, so eingehämmert wurde. Unser Alltag ist nämlich in Wahrheit nicht so einfach. Und ich würde natürlich lügen, wenn ich sagen würde, dass jemand, der verheiratet ist, Kinder hat, arbeitet, einen geregelten Aufenthaltsstatus hat, da ist natürlich die Versorgung viel einfacher, das kostet mich weniger Energie als bei einem Obdachlosen oder einem undokumentierten Migranten, der in einem Squat lebt, also da muss man viele Parameter beachten. Trotzdem ist genau das auch die Stärke unserer Arbeit, nämlich dass, na ja, dass die Leute auf beiden Seiten die gleiche Krankheit haben. Also ist mein Kampf der gleiche.« (Gespräch mit Catherine: 20. 9. 2006)
In diesem Auszug bringt Catherine ihren Arbeitsalltag und ihren Gesundheitsauftrag in einen Zusammenhang mit »unserem System«, mit
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»unserer Gesellschaft«. Hier zeichnet sich ein Begriff des Soziallebens ab, der sich von dem in der Gesprächspragmatik verwendeten Konzept unterscheidet. In dieser Sichtweise determiniert nicht das Bakteriologische, sondern das Soziale das Gespräch, ermöglicht oder begrenzt es, führt dazu, dass es in Abhängigkeit von den jeweiligen Gesprächspartner/innen je anders verläuft. Der Effekt dieses ›Sozialen‹ ist, dass die Folgen der sozialen Sichtbarkeit des Bakteriums, der Sichtbarmachung der Tuberkulose, nicht für alle Personen die gleichen sind. In der französischen Gesellschaft, ebenso wie in anderen europäischen Gesellschaften, erfährt der weiße, französische, gut situierte, mit Tuberkulose infizierte Student nicht den gleichen »Blick der Anderen« wie eine junge schwarze Französin, deren Eltern in Afrika geboren sind. Man könnte auch noch weiter gehen und sagen: Diese beiden Personen sind nicht von der gleichen Krankheit betroffen, selbst wenn sie das gleiche pathologische Krankheitsbild aufweisen, wie die Krankenschwester meint: Der eine hat eine schlichte Infektionskrankheit, die andere verkörpert eine Krankheit von Migrant/innen. Folglich gibt die junge Frau ihre sozialen Beziehungen zögerlicher preis als der Informatikstudent. Das kann dazu führen, dass die Untersuchungen und die klinische Versorgung in ihrem Umfeld weniger umfassend ausfallen; diesen Effekt der Ausschließung aus dem Gesundheitswesen versuchen die Krankenschwestern mit ihrer Arbeit zu »bekämpfen«. Bei den Gesprächen der Krankenschwestern mit den Patienten – die Unterhaltungen mit Fanny und Catherine sind nur Beispiele – »supplementiert« (Derrida 1974: 250) die Konzeptualisierung des Soziallebens als »dicht« die bakteriologische Sichtweise des Sozialen als Summe infektiöser Beziehungen, also das pragmatische Paradigma der Umgebungsuntersuchung.9 Hier dominiert eine systemische Versi-
9 Mit dem Konzept des Supplements beschreibt Derrida die Doppelbedeutung des Hinzufügens und Ersetzens. Er schreibt: »Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich nur bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; […] Hinzufügend und stellvertretend ist das Supplement ein Adjunkt, eine untergeordnete, stellvertretende Instanz. […] [J]ede der zwei Bedeutungen tritt ihrerseits zurück oder hebt sich diskret von der anderen ab.« (Derrida 1974: 250). Die beiden Bedeutungen des Sozialen, die bei der Umgebungsuntersuchung im Spiel sind – als die Summe infektiöser Beziehungen und als bestimmender Faktor des Lebens der Individuen – bestehen in einer Supplementbeziehung zueinander, mit »Inflexionen«, die »von einem Moment zum anderen« wechseln (ebd.). Die beiden Bedeutungen neigen
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on des Sozialen. Das führt dazu, dass das Gespräch nicht mehr nur im Bakteriologischen bzw. in einer schlichten Summe infektiöser Beziehungen gründet, sondern in der Dichte des sozialen Systems. Emile Durkheim, einer der Begründer des wissenschaftlichen Denkens des ›Sozialen‹, schreibt über die Gesellschaft als System: »[Die Gesellschaft ist] nicht bloß eine Summe von Individuen, sondern das durch deren Verbindung gebildete System stellt eine spezifische Realität dar, die einen eigenen Charakter hat. […] [D]as soziale Leben resultiert also aus dieser Kombination und kann nur aus ihr erklärt werden.« (Durkheim 1965: 187) Was die Krankenschwestern hinsichtlich der Umgebungsuntersuchung artikulieren, lässt sich als eine intrinsisch soziologische Auffassung des Soziallebens lesen, die auf den Bereich des staatlichen Gesundheitswesens übertragen wird. Die bakteriologische Perspektive auf soziale Beziehungen wird durch einen soziologischen Begriff vergesellschafteter Leben ersetzt. Hier handelt es sich tatsächlich um zwei unterschiedliche Weisen, »das Soziale« zu konzeptualisieren. Man könnte von zwei unterschiedlichen »Rationalitäten« sprechen (Kontopodis u.a. 2011: 11). Diese beiden Rationalitäten stehen sich nicht etwa konträr gegenüber oder haben nichts miteinander zu tun; die Krankenschwestern berufen sich auf beide Rationalitäten, um ihre Praxen ins Feld zu führen, um ihnen Sinn zu verleihen und die mit ihnen zusammenhängenden Probleme, Erfolge und Misserfolge zu erklären, wie sich im Folgenden zeigen wird.
F AZIT : U NDURCHDRINGLICHKEIT UND ETHISCHE H ALTUNGEN Seit dem 2. Weltkrieg befindet sich die Tuberkulose deutlich auf dem Rückzug und stellt in Westeuropa keine gesellschaftliche Herausforderung mehr dar. Das gilt insbesondere im Vergleich zum frühen 20. Jahrhundert, als sie noch eine wahre Geißel war. Auf der einen Seite erklärt diese epidemiologische Tatsache im Zusammenspiel mit der Existenz der heute verfügbaren wirksamen antibiotischen Behandlung den pragmatischen und wenig interventionistischen Charakter der gegenwärtigen Umgebungsuntersuchung. Auf der anderen Seite führt abwechselnd je nach Gesprächssituation eher zur bakteriologischen oder eben zur soziologischen Seite hin.
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der zunehmend ökonomisierte Charakter des staatlichen Gesundheitswesens dazu, dass die soziale Intervention bei der Bekämpfung der Tuberkulose nicht mehr an vorderster Stelle steht. An ihre Stelle ist das Ziel der genauen Identifizierung des Erkrankungsrisikos getreten, deren Grundlage eine Logik der rentablen gesundheitlichen Intervention ist: nicht zu viel machen, sondern gerade genug. Die Einfluss- und Handlungssphäre der intervenierenden Tuberkulose-Präventions-einrichtungen hat sich so seit 40 Jahren beträchtlich verkleinert und stellt ein Gegenbeispiel dar, welches das Bild einer sich unwiederbringlich ausdehnenden Macht des Gesundheitswesens – ein Bild, das bestimmte Kritiker/innen des staatlichen Gesundheitswesens gerne ins Feld führen – ins Wanken bringt (Alexias 2008). Die Bekämpfung der Tuberkulose ist aber nicht nur aus epidemiologischen und ökonomischen Gründen zurückgegangen. Sie hat sich aus wissenschaftlichen und ethischen Gründen auch tiefgreifend gewandelt. Heutzutage versuchen die Akteur/innen der Tuberkulosebekämpfung, den genauen Umständen der Krankheitsübertragung unter Rückgriff auf neue wissenschaftliche Studien Rechnung zu tragen. Zudem versuchen sie, die Dichte des Soziallebens ihrer Patient/innen zur Kenntnis zu nehmen und so zu handeln, dass es mit den sozialen Umständen, in denen ihre Patient/innen leben, vereinbar ist (Kehr 2009). Das heutige Gespräch zur Umgebungsuntersuchung präsentiert sich so als ein Handeln des Gesundheitswesens, dessen Ziel darin besteht, die sozialen Beziehungen der Patient/innen in eine Risikoskala für ihr soziales Umfeld zu transformieren, statt ihre Lebensweise zu ändern, wie es wohl früher der Fall war.10 Die Befragung der Patient/innen über ihre sozialen Beziehungen ist ein Werkzeug und eine Entscheidungskategorie zur Bestimmung eines spezifischen gesundheitlichen Risikos. Die Praxis der Befragung lässt sich also als grundsätzlich pragmatisch beschreiben – und, wie ein letztes ethnographisches Beispiel zeigt, sogar als von einer bestimmten Arbeitsethik geleitet.
10 An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass es nur wenige historische Studien gibt, die die konkreten Ziele und Praktiken der Gemeindeschwestern im 20. Jahrhundert analysieren und dabei all jene Schwierigkeiten berücksichtigen, mit denen diese konfrontiert waren. Vgl. dazu Antje Kampfs Ausführungen über Praxen der Umgebungsuntersuchung im Zusammhang mit sexuell übertragbaren Krankheiten (Kampf 2008).
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Bei einem Teamtreffen berichtet eine Krankenschwester von einem Gespräch, das sie mit einem Patienten von der Elfenbeinküste geführt hat. Er lebt seit 2006 in Frankreich, hat keine Aufenthaltserlaubnis und arbeitete während der Zeit, in der er ansteckend war, auf einer Baustelle. Wenn auch seine Arbeitskolleg/innen mit Sicherheit untersucht werden müssten, ist der Krankenschwester völlig klar, warum der Patient ihr die Namen seiner Kolleg/innen nicht nannte; ein Teil seiner Sozialkontakte war für die Krankenschwestern undurchdringlich geblieben, und ein Teil der Umgebungsuntersuchung wird daher nicht stattfinden. Die Krankenschwester akzeptiert das, wie auch ihre Kolleginnen und die Mediziner/innen, die an der Teambesprechung teilnehmen. Sie sind sich im Klaren über die in mehrfacher Hinsicht schwierige soziale und administrative Situation des Patienten, die zur Folge hat, dass er nicht über seine beruflichen Kontakte spricht. Die Undurchdringlichkeit seines Soziallebens wird nicht als mangelnde Zustimmung zu den Zielen des staatlichen Gesundheitswesens interpretiert, sondern als logische Konsequenz seiner Lebensumstände. Die Schwierigkeiten, die der Patient im Fall einer Umgebungsuntersuchung seiner Kolleg/innen möglicherweise zu bewältigen hätte, scheinen mehr Bedeutung zu besitzen als das Ziel, Präventionsarbeit gegen Tuberkulose zu leisten, gegen eine Krankheit also, die sich behandeln lässt. An die Stelle des von Armstrong beschriebenen panoptischen Blicks tritt hier ein wesentlich stärker fragmentierter und unscharfer Blick, mit dem die Krankenschwestern nicht alle sozialen Beziehungen und Situationen in ihrer ganzen Dichte durchdringen können und wollen. An den letzten ethnographischen Beispielen lässt sich ablesen, dass der überwiegende Teil der Krankenschwestern und Mediziner/innen eine selbstkritische Haltung einnimmt und ein hohes Reflexionsniveau im Hinblick auf ihren Arbeitsalltag in dem von mir beforschten Tuberkulosezentrum aufweist. In dem, was ich hier als einen zeitgemäßen Ansatz der Tuberkulosebekämpfung beschreiben konnte, spiegeln sich faktisch sehr lokale Befragungs- und Umgebungsuntersuchungspraktiken wieder. Insofern wäre es vielleicht zutreffender, das, was ich in ›meinem‹ Team erlebt habe, als eine lokale Ethik zu beschreiben statt als die gegenwärtige Form der Umgebungsuntersuchung oder der Strategien des staatlichen Gesundheitswesens.11 Diese lokale Ethik 11 Das Konzept der lokalen Ethik, auf das ich mich in meiner Doktorarbeit stütze, speist sich aus Margret Locks Begriff der »lokalen Biologie«
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steht in einem Widerspruch zu dem Bild des staatlichen Gesundheitswesens als invasiv und wenig reflektiert, ein Bild, das bestimmte kritische Beobachter/innen gerne zeichnen, darunter Deborah Lupton. In ihrem viel zitierten Buch The Imperative of Health schreibt sie: »Selbst wenn die Vorkämpfer/innen der Gesundheit und die Wissenschaft seit gewisser Zeit die Ideologien kritisieren, die die Grundlage für die klinische Praxis darstellen, haben sie diese Kritik noch nicht auf ihre eigenen Epistemologien und Praxen angewendet.« (Lupton 1995: 1) Diese von vielen Theoretiker/innen geteilte Position artikulierte Lupton vor mittlerweile 15 Jahren. In gewisser Weise denke ich, dass ihr Argument immer noch Gewicht besitzt, vor allem insofern, als dass sie die zentralen Akteur/innen des Gesundheitswesens unablässig dazu auffordert, ihre Haltungen, Handlungen und Ideologien stärker zu reflektieren und zu kritisieren. Für die Public-Health-Praxis ist das sicherlich eine Herausforderung, die es noch besser zu bewältigen gilt, als bisher der Fall ist. Andererseits scheinen Luptons programmatische Äußerungen über das öffentliche Gesundheitswesen durch eine universalisierende Sichtweise verstellt, die Diskursen mehr Aufmerksamkeit entgegenbringt als lokalen Praktiken, und die daher Gefahr läuft, die alltäglichen Infragestellungen und Überlegungen der Akteur/innen des staatlichen Gesundheitswesens zu übersehen. Didier Fassin fasst es in allgemeinere Worte: »Das staatliche Gesundheitswesen erscheint nicht mehr in der Gestalt einer Ideologie, hinter der sich ein Projekt der ›sozialen Kontrolle‹ versteckt. […] Die Diversität der kleinen und großen Arrangements, anhand derer es mit der wirklichen Welt zusammenspielen muss, sollte uns Anlass sein, seine Bedeutung zu relativieren und es auch in seiner pragmatischen Dimension zu betrachten.« (Fassin 2001). Mit einem Ansatz, wie ich ihn in diesem Beitrag stark machen wollte, der gezielt die alltäglichen Praxen in den Blick nimmt, ist es unter Umständen einfacher, die Reflexion und Selbstkritik sichtbar zu machen, die die Akteur/innen des öffentlichen Gesundheitswesens bei (Lock/Nguyen 2010). Meiner Übertragung von Locks Konzept in das Feld der Ethik ermöglicht es nicht nur, die gleichzeitige Bezugnahme auf das Soziale und das Biologische zu theoretisieren, sondern auch, unterschiedliche ethische Kontexte zu berücksichtigen, in denen situierte Praxen entstehen, also das Lokale und das Globale zusammenzudenken. Anders gesagt: Hier wird es möglich, die Situiertheit beruflicher Praktiken in der longue durée zu denken, das heisst ethisch, politisch und sozialhistorisch, ohne dabei die ›Universalität‹ des Konzepts der ›Ethik‹ aus dem Blick zu verlieren.
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ihrer Arbeit im Feld leisten. So kann zum Entwurf eines weniger zynischen Bilds des gegenwärtigen öffentlichen Gesundheitswesens beigetragen werden. Vielleicht werden so auch Formen des öffentlichen Gesundheitswesens vorstellbar, die nicht um jeden Preis panoptisch und interventionistisch agieren, sondern stattdessen akzeptieren, dass bestimmte soziale Leben sich ihrem Blick widersetzen oder entziehen. Das letzte ethnographische Beispiel hat gezeigt, dass die Bakteriologisierung der »sozialen Zwischenräume« durch das staatliche Gesundheitswesen Grenzen hat und dass die soziale Situation von Patient/innen und die Komplexität ihrer Lebensrealitäten von Krankenschwestern respektiert werden. Die Krankenschwestern waren nicht blind gegenüber der Dichte des Alltags ihrer Patient/innen – und ebenso wenig gegenüber dem »Sozialen«, das diese Dichte herstellt. Und wie in anderen Beispielen in diesem Artikel sichtbar wird, waren sie sich auch darüber bewusst, dass eben dieses dichte »Soziale« teilweise die Möglichkeitsbedingungen bestimmt, unter denen sie ihre Arbeit im Auftrag öffentlicher Gesundheit erfüllen können – oder auch nicht. So waren die Krankenschwestern und Mediziner/innen weit davon entfernt, die Ziele des staatlichen Gesundheitswesens 1:1, also ohne kritische Reflexion oder pragmatische Distanz, umzusetzen; stattdessen ließen sie sie teilweise sogar völlig außer Acht. Das Beispiel der Praxis der Umgebungsuntersuchung zeigt so, dass nicht nur das »Soziale« in einem zunehmenden Ausmaß von der Medizin und dem staatlichen Gesundheitswesen »kolonialisiert« wurde. Ebenso hat das »Soziologische« – das heißt, eine kritische Art und Weise, Krankheiten zu problematisieren – das »Bakteriologische« in der Bekämpfung der Tuberkulose supplementiert. Man könnte es auch so ausdrücken: Das Soziologische hat sich den Platz, den Theoretiker wie Rudolf Virchow in Deutschland oder Jules Guérin in Frankreich ihm in ihren sozialmedizinischen Schriften eingeräumt hatten, noch bevor die Bekämpfung der Tuberkulose sich überhaupt als eine Praxis des staatlichen Gesundheitswesens institutionalisiert hatte, wieder zurückerobert.
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Formationen des »Sozialen« in Biomedizin und Lebenswissenschaften Eine Politik der Assoziationen?
S USANNE B AUER
In verschiedensten Bereichen der Sozial- und Geisteswissenschaften finden derzeit die Lebenswissenschaften – und Konzepte des »Lebens selbst« – enorme Aufmerksamkeit und Resonanz. Jenseits externalistischer Kritik suchen Teile der Sozialwissenschaften verstärkt eine Beteiligung an der Hervorbringung naturwissenschaftlichen Wissens. Nicht nur sozialwissenschaftliche Begleitforschung zu Gen- und Nanotechnologien, sondern auch eine Vielzahl von Kooperationen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften – beispielsweise von Philosophie und Neurowissenschaften stehen hoch im Kurs. Gleichzeitig sind im Zuge der Prominenz der Lebenswissenschaften weitreichende Veränderungen von Wissenschafts- und Alltagspraxen zu beobachten, die u.a. Nikolas Rose (2001, 2006) als »molekularisierte Biopolitik« analysiert hat. Als Effekt einer »Molekularisierung des Lebens« rücke mit der modernen Biomedizin das »Leben selbst« auf neue Weise in den Bereich aktiver individueller wie kollektiver Entscheidungen. Parallel zu dieser Entwicklung wenden sich – nach einer Phase des »genetischen Reduktionismus« – inzwischen weite Bereiche der biomedizinischen Forschung selbst »Phänomenen der Komplexität« neu zu und arbeiten in Feldern wie Postgenomik, Epigenetik1 und Präven1 Dieses Forschungsgebiet untersucht die Effekte chemischer Modifikationen der DNA, die vererbt werden, ohne dass ihnen eine Mutation zugrunde liegt.
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tionsmedizin daran, eine (auch als soziale verstandene) Komplexität innerhalb der Biomedizin zu operationalisieren. In der Postgenomik finden sie beispielsweise als »Gen-Umwelt-« und »Gen-LebensstilInteraktionen« einen Platz. Versuche einer Einschreibung komplexer sozialer Verhältnisse in naturwissenschaftliches Wissen gehen bereits auf eine längere Tradition der Kritik an Reduktionismen zurück, die gegenüber dem Paradigma des Codes in der Genetik artikuliert wurden. Seit einiger Zeit treffen sie jedoch auf eine Entwicklung in der Postgenomik selbst, die sich der weit komplexeren Wechselwirkungen der Gene und ihrer molekularen, zellulären und weiteren – bis in die Sphären des Sozialen reichenden – Umwelt und ihrer Pfade explizit annimmt. Obwohl diese beiden Entwicklungen in unterschiedlichen disziplinären Kontexten ablaufen, sind sie gleichzeitig eng miteinander verknüpft; die disziplinären Raster erscheinen als AushandlungsWerkzeuge, mit denen die moderne Trennung zwischen Biologie und Sozialem stets neu ausgearbeitet wird – jedoch geraten ihre jeweiligen Scharniere dabei in Bewegung. Dass diese neuen Verschränkungen soviel Resonanz erregen, Dynamiken und Widersprüche auslösen, dass sie zu einem prominenten Thema werden, kann auch als Ergebnis der modernen Aufspaltung des Lebens in Biologie und Gesellschaft, in Natur und Kultur betrachtet werden (Latour 1998)2. Im Sinn eines symmetrischen Ansatzes und ohne diese Trennung analytisch nochmals zu reifizieren, soll im Folgenden exemplarisch nachgezeichnet werden, wie in solchen Formationen und Assemblagen »Leben« und insbesondere das »Soziale« angeordnet und rekonfiguriert wird. Als empirisches Beispiel hierfür wird im Folgenden in den Blick genommen, wie das »Soziale« in der epidemiologischen Forschung operationalisiert wird. Dieses Kapitel fragt also nach den konkreten Formalisierungen des »Sozialen«, wie epidemiologische Forschungspraxen sie hervorbringen. Hierbei wird besonderes Augenmerk auf die Praxen und die Performativität epidemiologischer Wissensgenerierung gelegt – auf ihre Konzepte, ihre multifaktorielle Matrix, den daraus hervorgehenden Risikoschätzungen und deren weitere Zirkulation in Medizin, Politik und Alltag. Auf welcher Ebene die Gesundheitsforschung soziale Einflussfaktoren von Gesundheit und Krankheit konzeptualisiert, ist im breiten 2 Latour beschreibt als Modernität gerade die unaufhörlichen Anstrengungen, mit denen diese beiden Dimensionen auseinander gehalten werden.
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Spektrum von Biomedizin und Public Health äußerst heterogen und oft kontrovers. In den letzten 30 Jahren haben sich die Gesundheitswissenschaften auch im deutschsprachigen Raum etabliert; als »Public Health«-Forschung arbeiten sie mit quantitativen Methoden und Studiendesigns (Kohortenstudien und randomisierten3 Präventions-Trials), wie sie auch in der Biomedizin und der klinischen Epidemiologie verwendet werden. Für die epidemiologische Erforschung von Ätiologien – den Krankheitsursachen – werden unterschiedliche konzeptionelle Ansätze diskutiert. Hierbei sind insbesondere biomedizinische, sozialpsychologische und sozial-ökologische sowie Modelle der sozialen und politischen Produktion von Krankheit und »Social-FramingModelle« zu nennen. Während das klassische biomedizinische Modell der Risikofaktorenepidemiologie sowohl medizinische Parameter als auch insbesondere individuelle Lebensstil- und Verhaltens-Variablen fokussiert, wurden etwa zeitgleich auch erweiterte so genannte biopsychosoziale Modelle ausgearbeitet. Als dezidiertes Gegenmodell dazu wurde das soziopolitische Modell der Produktion von Krankheit entwickelt. Weiter wurde in den 1990er Jahren ein öko-soziales Modell der Krankheitsverursachung vorgeschlagen (Krieger 1994, 2001). Ein aktuelles »Social Framing-Modell« thematisiert konzeptionelle Belange und Fragen nach den konkreten Effekten der Rahmenmodelle auf die epidemiologischen Ergebnisse (Aronowitz 2008). Obwohl eine Vielzahl unterschiedlicher konzeptioneller Modelle formuliert worden ist, spielt diese in der epidemiologischen Forschungspraxis oft eher eine sekundäre Rolle. Mehr als vom »Framing« hängt die Forschung von den zugänglichen Daten ab und strukturiert sich praktisch an vorhandenen Datenbanken und deren Variablen. Konzeptionelle Arbeit findet im Zuge des Forschungsdesigns statt – hier entscheidet sich die Berücksichtigung des »Sozialen« im konkreten Design einer Studie, beispielsweise ob und wie das »Soziale« als sozioökonomischer Status – über Einkommen oder Bildung oder als kombinierter Index – einfließen soll. Nachdem sie auf diese Weise operationalisiert sind, werden spätere Entscheidungen darüber, ob soziale Variablen berücksichtigt werden sollen, auch quantitativ-empirisch über statistische Verfahren getroffen, d.h. abhängig davon, ob die Variable innerhalb des statistischen Modells einen signifikanten Ein-
3 Eine Randomisierung beinhaltet die zufällige Zuordnung der Teilnehmenden zur Interventions- oder Kontrollgruppe der Studie.
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fluss auf die untersuchten Outcomes hat und damit einen ätiologischen Faktor für die Erkrankung darstellt. Bildeten bisher sozialepidemiologische Forschung als Public Health und Biomedizin bzw. molekulare Epidemiologie in der Praxis eher getrennte Forschungskulturen, haben sich hier in den letzten Jahren Ansätze zur Integration entwickelt (Krieger 2001; Davey Smith/Krieger 2008). So hat sich inzwischen ein dynamisches Forschungsfeld zu gesundheitlicher Ungleichheit herausgebildet. Anders als individuelles Verhalten spielten soziale Verhältnisse in der Risikofaktorenepidemiologie zunächst eine untergeordnete Rolle; eine Operationalisierung des »Sozialen« war zwar möglich, wurde jedoch im behavioristischen und biomedizinischen Paradigma oft nicht als notwendig erachtet, da hier die Ausrichtung auf individuelle Lebensstilfaktoren im Vordergrund stand. Als Teil der Public Health Forschung war die Sozialepidemiologie eine Bewegung, welche sich gerade auch gegen die Effekte der Individualisierung von Risiken im Zuge einer Fokussierung von Lebensstilfaktoren wendete, wie sie die klassische Risikofaktoren-Epidemiologie betrieb. Im Kontext meist kontroverser Konzepte der Krankheitsverursachung – von soziopolitisch zu biomedizinisch – war es gerade die prinzipielle konzeptionelle Offenheit der Risikofaktorenepidemiologie, die diese als methodischen Ansatz immens erfolgreich machte (Aronowitz 1998). Sozialepidemiolog/innen und Mediziner/innen untersuchten explizit soziale Variablen als ätiologische Faktoren (Mielck/ Bloomfield 1999; Davey-Smith et al. 2002) und wiesen auf die Bedeutung konzeptioneller Rahmenmodelle hin (Krieger 2001; Aronowitz 2008). Gleichzeitig blieb die Epidemiologie äußerst heterogen und in viele Unter-Disziplinen unterteilt, die zum Teil sehr nah am jeweiligen Bindestrich-Forschungsgebiet angesiedelt sind, wie zum Beispiel die klinische Epidemiologie, psychiatrische Epidemiologie, Krebsepidemiologie, genetische Epidemiologie oder die Umweltepidemiologie. Was die Disziplin zusammenhält ist der bevölkerungsbezogene Forschungsansatz sowie ein Set an Forschungsdesigns und statistischen Methoden: Kohortenstudien, Fall-Kontroll-Studien sowie Verfahren multivariater Statistik wie z.B. logistische Regression. Während manche Epidemiolog/innen dezidiert soziale und biologische Variablen integrieren (Krieger 2001), bestehen weiterhin institutionelle Trennungen insbesondere zwischen Sozialwissenschaften und Molekularbiologie fort. Ebenso sind die Forschungsstrategien und Fragestellungen,
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die sich aus sozialer bzw. genetischer Epidemiologie ergeben, jeweils unterschiedlich. Mit der Fokussierung komplexer Gen-Umwelt-Interaktionen in der Epidemiologie bzw. mit dem entstehenden Gebiet der Epigenetik eröffnen sich hier möglicherweise neue Konstellationen. Der vorliegende Beitrag beschreibt einige aktuelle Daten-Assemblagen, wie sie durch epidemiologische Studien hergestellt werden, im Hinblick auf die darin praktizierte Operationalisierung des »Sozialen«. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, wie das »Soziale« als empirische Variable Eingang in aktuelle epidemiologische Forschung findet: Als Beispiele dienen epidemiologische Projekte, die in erster Linie auf die Untersuchung der Ätiologie chronischer Erkrankungen – Krebs wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen – ausgerichtet sind. Als formale »Einflussvariablen« stehen dabei oft Ernährung und Lebensstil (körperliche Aktivität, Rauchen und Alkohol als klassische Variablen der Risikofaktorenepidemiologie) und zunehmend auch molekulare Biomarker im Vordergrund. Welche Rolle spielt nun das »Soziale« bei der Untersuchung genomischer Marker und wie wird Lebensstil konzipiert? Inwiefern unterscheiden sich dabei die epidemiologischen Praxen des Umgangs mit »sozialen« Faktoren voneinander? Um den Spielarten dieses Netzes – des epidemiologischen »web of causation« (MacMahon et al. 1960; Krieger 1994) – nachzugehen, verfolge ich, wie das »Soziale« in der Praxis empirisch erhoben und modelliert wird, sowie die entsprechenden Operationalisierungen, Kategorisierungen und die Interpretation der statistischen Befunde. Als empirisches Material werde ich auf Beobachtungen in der epidemiologischen Forschung und Lehre sowie auf Dokumente einer multizentrischen Studie zurückgreifen. Mit EU-Förderung als epidemiologische Infrastrukturprojekte aufgebaut, werden Kohortenstudien und Biobanken zunehmend auch als Ressourcen für die Untersuchung genomischer Marker wie genetischer Polymorphismen (genetische Variation bei einzelnen Nukleotiden auf dem DNA-Strang, auch: SNPs) und Haplotypen (gemeinsam vererbtes Muster verschiedener SNPs) herangezogen. Im ersten Teil dieses Kapitels werden die vielfältigen statistischen und konzeptuellen Operationalisierungen des Sozialen im Feld der epidemiologischen Forschung beschrieben. Wie Bruno Latour zugespitzt formuliert hat, führt die sozialwissenschaftliche Frage nach »dem sozialen Kontext« zu einer bloßen Addition einer »sozialen Dimension« (Latour 2007). Mit der Operationalisierung sozialer Parameter bleibt damit das »Soziale« als das Nicht-Psycho-
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logische, das Nicht-Biologische etc. vom Psychologischen und Biologischen (als nicht-soziale Dimensionen) getrennt. Hierzu beschreibe ich zunächst die Einbeziehung der sozialen Dimension am Beispiel epidemiologischer Praxis – sowohl innerhalb des biomedizinischen Modells als auch in der Operationalisierung als direkter ätiologischer Einflussfaktor. Im Anschluss – u.a. Latour folgend – soll versucht werden, das »Soziale« nicht als eine Variable neben weiteren »nichtsozialen« Variablen zu denken. Der Blick soll gerade darauf gerichtet werden, wie das »Soziale« versammelt wird, welche Praxen von Korrelationen »in the making« als Ergebnis dieser sozialen Praxis des Korrelierens und Assoziierens in gesundheitswissenschaftlicher Praxis und Präventionspolitik entstehen. Ziel dabei ist, diese Praxis als Politik mit »Markern«, »proxies« und »Surrogatvariablen« und ihre statistische Weiterverarbeitung im Feld neu untersuchen zu können. Der zweite Teil stellt – ausgehend von den Zirkulationen der Wissensformationen zwischen Forschung und Alltag – dar, wie über Konzepte wie Suszeptibilität und Vulnerabilität Translationen vorgenommen werden, die jeweils unterschiedliche Modalitäten des Intervenierens nahe legen. Abschließend erkunde ich, unter Bezugnahme auf die Actor-Network-Theory (ANT), wie das »Soziale« von hier aus konzeptionell weiter untersucht werden kann. Statt das »Soziale« als Kategorie im Sinn »sozialer Faktoren« oder »sozio-ökonomischem Status« als residualen Risikofaktor zu formalisieren, um das Verbleibende (damit als »nicht-sozial« konstituiertes) zu erklären – wird dafür plädiert, ein Projekt der »Soziologie der Assoziationen« (Latour 2007) zu erproben. Damit kann das Machen und Gestalten von Rastern im Zuge der epidemiologischen Forschung als »Gesellschaft hervorbringend« verstanden werden. Statt einem »sozialen Kontext« von Gesundheit und Krankheit werden somit Aktanten versammelt und – mit Latour gesprochen – der Begriff des »Sozialen« erweitert – und dabei auch ein bisher nicht formatierter Hintergrund als dynamisches, veränderbares »Plasma« des Sozialen ernst genommen.
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E PIDEMIOLOGISCHE M ODELLIERUNGEN DES »S OZIALEN « Obwohl die Entwicklung epidemiologischer Methoden – insbesondere die in der US-amerikanischen Tradition geprägte Risikofaktorenepidemiologie – in enger Verbindung mit biomedizinischen Konzepten steht, ist die Epidemiologie eine zu den (quantitativen) empirischen Sozialwissenschaften durchlässige Forschungsdisziplin. Viele statistische Verfahren und Erhebungstechniken werden – unter unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen – in beiden Bereichen eingesetzt. Das »Soziale« ist zudem keine neue Kategorie innerhalb der Public HealthForschung – im Gegenteil wurde immer wieder versucht, soziale Variablen gerade auch innerhalb des Rahmens der Risikofaktorenepidemiologie zu operationalisieren, beispielsweise als soziale Klasse, sozioökonomischer Status oder Position, Bildung, Berufstätigkeit oder Einkommen oder als kombinierte Indikatoren aus mehreren Einzelvariablen. Als ein Faktor, der »Bevölkerungsgesundheit« mit erklärt, wurde – insbesondere von Sozialepidemiolog/innen – die Bedeutung sozialer Kategorien immer wieder betont und in Studien einbezogen. So schlug Nancy Krieger (2001) »ökosoziale« Erklärungsmodelle vor; in ihren Studien kartierte sie beispielsweise soziale Benachteiligung anhand von »area codes« und bezog dies als erklärende Variable in quantitative Modelle mit ein. Der Aufwand soziale Variablen ätiologisch zu untersuchen ist abhängig davon, welche Daten in staatlichen und epidemiologischen Infrastrukturen vorhanden sind: In vielen europäischen Studien werden sozio-ökonomische Variablen routinemäßig mit erhoben – in den nordischen Ländern werden sie über zentrale Register erfasst und sind so für epidemiologische Studien nutzbar. Als occupational history und sozio-ökonomischer Status haben soziale Variablen Eingang auch in große Studien mit ansonsten biomedizinischen Fragestellungen gefunden (vgl. z.B. Danesh et al. 2005). In einer 1999 gehaltenen keynote zur Zukunft der Epidemiologie mit dem Titel »Should the epidemiologist be a molecular biologist or a social scientist« sprach sich Mervyn Susser dafür aus, die Integrität der Risikofaktorenepidemiologie und das Konzept der multifaktoriellen Kausalität unbedingt zu erhalten (Susser 1999). Seinem Verständnis nach galt es, diese Faktoren der mikrobiologischen, molekularen und der sozialen Welt genau zu kombinieren; Epidemiologie sollte gerade mehrere dieser Ebenen umfassen. Susser betonte jedoch gleichzeitig,
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dass es für einzelne Wissenschaftler/innen (welche in der klassischen Risikofaktorenepidemiologie in den Datensätzen mit der Grundeinheit »Individuum« arbeiten) kaum möglich sei, gleichzeitig sowohl Mikroals auch Makroebenen zu verbinden. Jedoch sollten seiner Ansicht nach Epidemiolog/innen – anstatt entweder zu Sozialwissenschaftler/innen oder zu Molekularbiolog/innen zu werden – die Grundannahmen und Informationen aus anderen Disziplinen für epidemiologische Forschung nutzbar machen. Nach diesem Konzept sind Epidemiolog/innen also für die Integration der Ergebnisse und Variablen aus Makroökonomie sowie Molekularbiologie innerhalb des Risikofaktorenmodells zuständig. Damit ergibt sich für die Epidemiologie zudem eine Schlüsselposition in der Forschung, da sie nun zu der Disziplin wird, die Informationen aus verschiedenen Ebenen filtert, synthetisiert und bewertet. Diese Filterfunktion und die Prozesse der Stabilisierung von Evidenz durch epidemiologische Studien sollten daher im Zusammenhang mit der Frage, wie das »Soziale« operationalisiert wird und in epidemiologisches Wissens Eingang finden kann, mit untersucht werden. Das »Soziale« als »Confounding-Variable« »Haben Sie auch für soziale Schicht adjustiert?« »Wurde SES (sozioökonomischer Status) berücksichtigt?« So können explizite Fragen nach dem »Sozialen« auf Epidemiologie-Konferenzen lauten. Konkret ist mit diesen Fragen – so gestellt bei einer Tagung nach der Präsentation statistischer Risikoschätzer für ätiologische Faktoren in einer krebsepidemiologischen Studie – eine mögliche Änderung des RisikoWerts angesprochen, je nachdem ob das »Soziale« (meist als »soziale Schicht« oder »sozio-ökonomischer Status« (SES) operationalisiert) einbezogen oder nicht einbezogen wird. Diese Frage nach »dem Sozialen« reißt mehrere Dilemmata der klassischen Risikofaktorenepidemiologie an: Zum einen verweist der Einwurf darauf, dass soziale Kategorien im biomedizinischen Mainstream lange wenig beachtet wurden und nicht immer davon ausgegangen werden kann, dass dieser Einflussfaktor mit berücksichtigt wird. Ebenso impliziert die Frage bestimmte epistemische Bedingungen statistischer Modellierung: Als auf Bevölkerungsebene konzeptualisierte Größen werden Outcomes (Zielvariablen/Maßzahlen der Erkrankung) – als Effekt eines Ensembles an statistischen Determinanten gedacht; nach dem »Sozialen«
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wird als »sozialer Schicht« gefragt, also im Sinn einer erhebbaren und operationalisierbaren Kategorie quantitativer Sozialforschung; ein statistisches Modell wird in Anschlag gebracht, mit dem mehrere Variablen gleichzeitig auf ihren Einfluss untersucht werden können. Die im Zuge epidemiologischer Studien generierten umfassenden Datenbanken ermöglichen quantitative Untersuchungen zu einer Vielzahl an Fragestellungen – so beispielsweise zwischen zwei Variablen, deren Assoziation mit einer Erkrankung dann mittels statistischer Hypothesentests untersucht wird. Beispielsweise wurde anhand der EPIC-Norfolk Studie der Zusammenhang zwischen dem Konsum von Obst und Gemüse und subjektiver Gesundheit untersucht (Myint et al. 2007). In der Studie wurde für soziale Klasse (klassifiziert nach beruflicher Qualifikation in fünf Gruppen) neben anderen Parametern »adjustiert« – die Ergebnisse lesen sich dann wie folgt: »Men and women in the top quartile of [fruit and vegetable] consumption compared with the bottom quartile had a significantly higher likelihood of reporting good physical health (defined as a score > or = 55); odds ratio (OR) 1.30, 95 % confidence interval (CI) 1.11-1.53 for men and OR 1.28, 95 % CI 1.11-1.48 for women, after controlling for age, body mass index, smoking, education, social class, prevalent illness and total energy intake. Exclusion of current smokers and people with prevalent illness did not alter the associations.« (Myint et al. 2007)
Die Haupthypothese hier bezieht sich auf einen Zusammenhang von Obst- und Gemüsekonsum und subjektiver Gesundheit; für eine Reihe anderer Faktoren (Alter, Body Mass Index, Rauchen, Ausbildung, soziale Klasse, weitere Erkrankungen, und Gesamtenergieaufnahme), die als so genannte Confounders (Faktoren, die mit Exposition und Erkrankung in Zusammenhang stehend) betrachtet werden, wird im statistischen Modell »adjustiert«, so dass die Ergebnisse nicht durch Nicht-Berücksichtigen dieser Faktoren verzerrt werden. Variablen wie Bildung oder Einkommensklasse sind in vielen epidemiologischen Datenbanken – wenn auch in unterschiedlichen Erfassungsmodalitäten – vorhanden und werden auch genutzt; meist werden sie als Confounders (statistisch zu kontrollierende Faktoren) behandelt, jedoch selten als Haupthypothese untersucht. Um Konzepte des »Sozialen« in der Epidemiologie näher zu beleuchten, zoomt dieser Abschnitt nochmals weiter in die Praxen und Verfahren epidemiologischen Arbeitens hinein.
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Über die Technik der multivariaten Modellierung wird die simultane Berechnung von Risikoschätzern für mehrere Variablen sowie für deren potentielle Interaktionen möglich. Neben verschiedenen Einflussfaktoren – mathematisch als additive und multiplikative Interaktionen modelliert – gilt die Aufmerksamkeit in der epidemiologischen Praxis vor allem den Confounder-Variablen. Diese »Störfaktoren« (oder »Confounding bias« im Sinn eines systematischen Fehlers) werden meist als Variablen definiert, die sowohl mit der Exposition als auch mit der untersuchten Krankheit (Outcome) assoziiert sind (Morabia 2004). Um den Einfluss bekannter Confounders zu kontrollieren, wird die Risikoschätzung für diese standardisiert. Dieses Verfahren wird in der Praxis meist routinemäßig für Alter und Geschlecht angewandt – alternativ zur Standardisierung werden statt einem Risikoschätzer mehrere spezifische Schätzwerte für jedes Stratum (z.B. nach Altersgruppen) berechnet. Für weitere Variablen wird dann jeweils empirisch untersucht, ob ein Confounding oder eine Wechselwirkung vorliegen. Die im Rahmen einer multizentrischen Studie zu Ernährung und Krebs gesammelten Daten sind als empirische Datenressource für eine Vielzahl anderer Fragestellungen nutzbar; sie bieten Gelegenheiten für weitere »Grundlagenforschung«. Diese kann dann Fragestellungen wie die nach einem Zusammenhang zwischen Alter bei Menarche und Körpergröße als Erwachsene umfassen; bei beiden interessierenden Variablen wird sozio-ökonomischer Status (SES) als relevante Kategorie gesehen. Das »Soziale« wird als SES approximiert durch Schuljahre und als Confounder zwischen Alter bei Menarche und Größe als Erwachsene behandelt. Der potentielle Confounder wird in die statistische Modellierung aufgenommen – man lässt ihn »mitlaufen« und die Ergebnisse werden »adjustiert für SES« dargestellt. In diesem Fall wird ein Stör-Effekt der Kategorie des »Sozialen« herausgerechnet, der die Schätzung des Risikoeffekts verzerren könnte. Dieser Effekt wird als Confounding-Bias diskutiert und in der epidemiologischen Forschung mit statistischen Verfahren (Adjustierung) korrigiert: Stark vereinfacht beschrieben, berechnen diese Verfahren hierfür zunächst die schichtspezifischen Schätzer und daraus anschließend einen gemeinsamen »adjustierten« Wert. Aus der Sicht des am Zusammenhang zwischen Alter bei Menarche und Körpergröße interessierten Biomediziners verzerrt – falls nicht durch Adjustierung kontrolliert – die
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Confounding-Variable potentiell die Schlussfolgerung in Bezug auf die zu untersuchende Hypothese. Während die Erhebung von Daten in der epidemiologischen Feldarbeit mit Fragebögen auf individueller Ebene ansetzt, findet bereits in der Datenorganisation und -analyse eine Aggregation der Daten statt. Die Krankheitsraten werden intern zwischen Subpopulationen verglichen, um statistische Risiken in Bezug auf Krankheit zu berechnen, beispielsweise als Anstieg relativer Risiken mit der Menge konsumierten Alkohols. Informationen aus Fragebögen und Untersuchungen werden Teil der Studienpopulations-Datenbank; als solche werden sie mit multivariaten Analysetechniken (die mehrere Variablen gleichzeitig berücksichtigen) untersucht. Gerade auf die individuelle Ebene der Datensammlung bauen Epidemiolog/innen weiter auf, wenn sie Hypothesen testen und Krankheitshäufigkeiten in Relation zu den ätiologischen Faktoren bringen: Regionale Vergleiche oder sog. »ökologische Studien« – mit regionalen und nicht individuellen Daten – gelten als methodisch weniger robust, da hier keine individuellen Daten zu Einflussvariablen vorliegen und somit nicht auf Verzerrungen durch andere Faktoren kontrolliert werden kann. In der analytischen Epidemiologie werden numerische Risikoschätzungen unter Adjustierung (statistischer Kontrolle) weiterer korrelierter Faktoren für mehrere Risikofaktoren berechnet. Diese Verfahren arbeiten mit Variablen, die auf individueller Ebene (nicht für Regionen) erhoben werden; d.h. die Variable SES wird für jede Person im Datensatz der Studienpopulation generiert und in der anschließenden Modellierung entweder als kontinuierliche oder in Gruppen kategorisierte Daten benutzt. Multivariate statistische Analysen berechnen adjustierte Risikoschätzer (Werte, die das Risiko zu erkranken quantitativ angeben) entweder für die gesamte Studienpopulation oder für Untergruppen, also als gruppenspezifische Risiken. Bevölkerungsdatenbanken aggregieren und verarbeiten individuelle Daten zu einer Datenbank, mit der nun quasi als Repräsentation der Population insgesamt – oder als nach Alter, Geschlecht, SES oder Polymorphismus unterteilte Subpopulationen – weiter gearbeitet wird. Für jede dieser Subgruppen kann dann ein Risikoschätzer aus dem Modell abgeleitet werden – das formale Modell ist flexibel und nicht auf einen Kontext oder eine Datenquelle begrenzt: Die statistischen Modelle spezifizieren Determinanten eines Outcomes; die Variablen und Parameter sind unabhängig von den zu erforschenden Fragestellungen, d.h. sie können sich auf individuelle Biologie, Biomar-
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ker-Status oder auf soziale Netzwerke beziehen. Für die konkrete Modellierung spielen darüber hinaus auch Forschungsroutinen und Gepflogenheiten eine Rolle, die dann als Standards beibehalten werden, um die Ergebnisse und Risikoschätzungen von den Kategorisierungen her vergleichbar zu halten. Das »Soziale« als proxy-Variable Viele mathematisch und statistisch ausgebildete Epidemiolog/innen gehen Modellierungsentscheidungen nicht inhaltlich sondern vorzugsweise formal an; inhaltliche »Neutralität« wird dabei meist als Qualität gesehen. Gleichzeitig haben Epidemiolog/innen auch darauf verwiesen, dass eine Vielzahl von Problemen bei der Modellierung, der Definition von Subgruppen oder der Adjustierung nicht rein methodisch-statistisch zu lösen sind, sondern inhaltlich-konzeptionell abgewogen werden müssen. Zu weiteren Momenten, an denen konzeptuell-qualitative Überlegungen entscheidend sind, gehören – neben der problembezogenen Auswahl von relevanten Faktoren für eine Fragestellung – auch die Verfahren des Arbeitens mit Näherungsvariablen, wenn die eigentliche Größe von Interesse nicht zugänglich oder nicht erhebbar ist. Wenn Studien auf bereits vorliegende Datenbanken aus Populationsstudien aufbauen, müssen sie auf die dort vorhandenen Variablen zurückgreifen, da zusätzliche neue Parameter nur selten für die gesamte Studienpopulation vollständig erhoben werden können. Hier stellt sich dann die Frage, welche Variablen innerhalb der vorhandenen Daten-Infrastruktur die gesuchten Faktoren annähernd beschreiben und somit als Surrogatvariablen verwendet werden können. Daher kann in der epidemiologischen Modellierungspraxis das »Soziale« auch zum Platzhalter für eine andere Variable werden – beispielsweise für einen Kontext, der schwer fassbar ist, für den die physiologischen und molekularen Mechanismen unklar sind, die sich aber in epidemiologischen Studien als relevant erwiesen haben. In Studien auf der Grundlage der Datenbank einer multizentrischen ernährungsepidemiologischen Studie kommt dies beispielsweise wie folgt vor: »Analyses were adjusted for age at intake and socioeconomic status. Unfortunately, the EPIC does not have information on childhood nutrition. Nutrition may influence the onset of menarche as well as height, and information would have made it possible to more thoroughly study the associations. We used socioeconomic status as an approximation for childhood nutrition. In fact, we
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used ›'highest education‹ as a proxy for socioeconomic status in childhood. Whether highest education reflects socioeconomic status correctly may depend on the age of a woman as well as on country. Therefore, we also analyzed trends without adjustment for socioeconomic status.« (Onland-Moret et al. 2005).
Hier fungiert soziale Schicht als proxy-Variable für eine Größe, für welche keine Daten vorliegen. Proxies sind also »Ersatzvariablen«, mit denen versucht wird fehlende Information annähernd zu ersetzen. Unter Umständen werden proxy-Variablen selbst durch weitere Vereinfachungen approximiert: so wird im obigen Beispiel der höchste Schul-oder Ausbildungsabschluss als proxy für SES in der Kindheit eingesetzt. Welche Verschiebungen mit dem Ausweichen auf proxies jeweils einhergehen, wäre jeweils für den konkreten Fall zu verfolgen und nachzuzeichnen – insbesondere für die Frage, was genau aus einem dynamischen Kontext diese zu formalisieren vermögen, welche spezifischen Rekonfigurationen und welches Eigenrauschen sie jeweils mit sich bringen. Sozio-ökonomischer Status als zu testende Einflussvariable Soll das »Soziale« als ätiologische Kategorie untersucht werden, stellt sich die Frage nach seinem Platz in der ätiologischen Matrix. Wie werden Prozesse des embodiment und entsprechende Pfade, die bei Mechanismen der Krankheitsentstehung mit beteiligt sind, zu expliziten Untersuchungsgegenständen gemacht? Epidemiologische Studien, die soziale Variablen direkt als unabhängigen Ko-Faktor untersuchen, waren vor der Ära der Risikofaktorenepidemiologie international durchaus verbreitet – vor allem Studien in Großbritannien und in den skandinavischen Ländern, welche soziale Klasse über Berufsgruppen verglichen. Seit den 1970er Jahren ist epidemiologische Forschung weitgehend durch die Risikofaktorenepidemiologie geprägt, welche die Einflüsse auf Gesundheit und Krankheit vorwiegend in individualisiert gedachten »Risikofaktoren« wie Rauchen, Alkoholkonsum oder physische Aktivität sucht. Sind soziale Faktoren in manchen Studien gar nicht mit einbezogen, werden sie noch relativ häufig als potentielle Ko-Faktoren, die das Krankheitsrisiko mit beeinflussen, untersucht. Sozialepidemiolog/innen streben jedoch dezidiert direkte Hypothesentests gerade auch zu sozialen Faktoren an. Meist wird eine kombinierte
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Variable des sozio-ökonomischen Status (SES) als Ko-Determinante im statistischen Modell einbezogen – und so Risikokoeffizienten für SES direkt berechnet; je nach Kontext wird SES nicht immer einheitlich erhoben – und wird über Einkommen oder Bildung oder als zusammengesetzte Indikatoren approximiert. Als wichtige Forschungsrichtung hier ist die Forschung zu sozialer Ungleichheit zu nennen – ihr Ziel ist, strukturelle gesundheitliche Benachteiligung über epidemiologisch-statistische Methoden aufzuzeigen. Die Auswirkungen von Ungleichheit einschließlich des biomedizinischen Kontexts zu demonstrieren, heißt Gesundheit und Krankheit auf Bevölkerungsebene entlang sozialer Indikatoren zu vergleichen und so strukturelle Unterschiede als Benachteiligungen zu dokumentieren. Soziale Kategorien werden hier verwendet, um medizinische Ätiologien um diese Dimension zu erweitern; dabei wird oft auch auf bereits vorhandene Daten und Kategorien – wie beispielsweise Daten zu »Ethnizität »aus dem Zensus in den USA – zurückgegriffen: »To address gaps in knowledge we thus investigated socioeconomic gradients in cancer incidence among four mutually exclusive US racial/ethnic groups-Asian and Pacific Islander, black, Hispanic, and white-- for five major cancer sites: breast, cervix, colon, lung, and prostate cancer. METHODS: We generated age-adjusted cancer incidence rates stratified by socioeconomic position using: (a) geocoded cancer registry records, (b) census population counts, and (c) 1990 census block-group socioeconomic measures. […]RESULTS: Incidence rates varied as much if not more by socioeconomic position than by race/ethnicity, and for each site the magnitude -– and in some cases direction – of the socioeconomic gradient differed by race/ethnicity and, where applicable, by gender. Breast cancer incidence increased with affluence only among Hispanic women. Incidence of cervical cancer increased with socioeconomic deprivation among all four racial/ethnic groups, with trends strongest among white women. Lung cancer incidence increased with socioeconomic deprivation among all but Hispanics, for whom incidence increased with affluence. Colon and prostate cancer incidence were inconsistently associated with socioeconomic position. CONCLUSIONS: These complex patterns defy easy generalization and illustrate why US cancer data should be stratified by socioeconomic position, along with race/ethnicity and gender, so as to improve cancer surveillance, research, and control« (Krieger et al. 1999).
Die sozioökonomische Variable wird hier zusätzlich zu Variablen wie »Ethnizität« (als Zensusvariable verfügbar) eingeführt und die Effekte der jeweiligen Faktoren über Regressionsanalysen berechnet. Als Ziel führen diese Studien an, das komplexe Bild der Faktoren, die mit
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Gesundheit und Krankheit in Verbindung stehen zu erweitern und damit strukturelle Benachteiligungen aufzuzeigen. Über das Konzept des embodiment wird dabei versucht Pfade dessen, wie sich Armut und Diskriminierung negativ auf Gesundheit auswirken, nachzuweisen und dabei gleichzeitig Stereotypisierung und Stigmatisierung zu vermeiden. Die epidemiologische Nachweisführung von Diskriminierung steht in engem Zusammenhang zum Politikmodus evidenzbasierter Ressourcenverteilung in der Gesundheitspolitik. Dieser Modus erfordert eine Übersetzung von Kontext in das Denken epidemiologischer, populationsbasierter Outcome-Forschung. Gerade auch politische Advocacy-Arbeit bezüglich sozialer Benachteiligung im Gesundheitsbereich hat sich grundlegend gewandelt und besteht zunehmend darin, andere Repräsentationen und ko-epidemiologisches Wissen herzustellen. Hierfür wird oft mit den gleichen Werkzeugen quantitativer Dokumentation gearbeitet, da Statements zu Gesundheit nur so im Modus der Governance gehört werden und entsprechende Ausrichtungen der Gesundheitspolitik und Ressourcenallokation bewirken können. Jenseits des individuellen Levels: Das »Soziale« als area effect 4 In den bisher beschriebenen Modellierungspraxen der klassischen Risikofaktorenepidemiologie wird Variation nur auf der individuellen Ebene operationalisiert. Anders ausgedrückt werden alle Ebenen der Variation im Zuge der Datenbearbeitung in eine individuelle Ebene übersetzt. Aktuelle Multi-Level-Studien dagegen konzeptualisieren Variation auf mehr als einer Ebene – beispielsweise gleichzeitig auf individueller und auf regionaler Ebene (area level). Solche MultiLevel Studien sind nicht neu, sondern in Feldern der empirischen Sozialwissenschaften, insbesondere in Pädagogik und Geografie, bereits etabliert. In der Epidemiologie haben sie sich zunächst nur wenig durchgesetzt, vor allem da die evidenzbasierte Medizin (EBM), geprägt von den Konventionen klinischer Forschung mit ihren Evidenzhierarchien, die Forschung auf die Datenebene einer »Population von Individuen« ausrichtet. In der EBM und der Auswertung von 4 Unter »area effect« oder »area deprivation« werden strukturelle Benachteiligungen von Regionen für epidemiologische Multi-Level Studien operationalisiert (s. e.g. Shohaimi et al. 2004).
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randomisierten Studien werden zwar u.a. Multi-Level-Methoden angewandt; dies bezieht sich jedoch meist auf Variation zwischen Studienzentren (hierüber wird Region einbezogen) bzw. auf verschiedene Studiendesigns. Nur selten scheinen hier genuin für die Ätiologie relevante Einflussfaktoren mit berücksichtigt, die jenseits der individuellen Ebene relevant sind. Häufig erweisen sich dann formale und methodische Unterschiede in der konkreten Datenerhebungspraxis als für diese Variabilität verantwortlich – beispielsweise in den Verfahren der einzelnen Studienzentren, die dann bei der Synthese der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen. Epidemiologisches Wissen und klinische Studien sind zudem über Evidenzhierarchien der EBM organisiert – dabei wird die individuelle Datenebene der randomisierten klinischen Studien privilegiert, mit der auch unbekannte Confounders über Randomisierung kontrolliert werden. Komplexere Ätiologien, in deren Operationalisierung auch strukturelle, jedoch nicht individualisierbare Komponenten einbezogen sind, sind erst im Anfangsstadium ihrer Entwicklung als epidemiologisch tragfähige Methodologien. Sie werden im Vergleich zu den methodisch etablierten Designs analytischer Risikofaktorenepidemiologie noch selten angewandt. Auch mit dem gegenwärtigen Trend der Biomarker-Forschung in der molekularen Epidemiologie scheint sich diese Tendenz fortzusetzen. Sozialepidemiolog/innen haben damit begonnen, vielfältige Methoden zu entwickeln und zu etablieren, die diesen Trends entgegenwirken können. Sie haben über area codes, medizinische Geografie sowie die Zusammenführung von Sozial- und Gesundheitsdaten neue Wege quantitativer Forschung beschritten. Über das Konzept des embodiment werden Wirkungspfade, über welche z.B. niedrige soziale Klasse oder Diskriminierungserfahrung zu somatischen Effekten führen, erarbeitet und als komplexe Sedimentationen des Sozialen empirisch untersucht (Krieger/Davey Smith 2004; Krieger 2005). Zu diesem Zweck wurden standardisierte Messinstrumente entwickelt – z.B. zur Berücksichtigung der Auswirkungen von Benachteiligung, ungerechter Behandlung und Diskriminierungserfahrung (Krieger et al. 2005). Dieser Ansatz weist Resonanzen mit dem in der medizinischen Anthropologie entwickelten Konzept der »lokalen Biologien« (Lock 2001) auf – allerdings wird dies in der Epidemiologie durch eine statistische Operationalisierung in quantitative Modelle integriert. Beispielsweise gibt es epidemiologische Studien zu Benachteiligung,
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Diskriminierung und ihren Auswirkungen auf Gesundheitsverhalten. Diese Studien operieren analytisch-methodisch weiterhin mit Daten, die auf individueller Ebene erhoben wurden (dem gegenwärtigen epistemologischen Standard in den Gesundheitswissenschaften) mit dem Ziel, diese strukturellen Effekte mit etablierten Mitteln der analytischen Epidemiologie nachzuweisen. Sie versuchen strukturelle Effekte auch auf individueller Ebene sichtbar zu machen, indem sie Erhebungsmethoden anwenden, welche auf die individuelle Analyseebene und nicht auf die strukturellen sozialen Bedingungen als solche ausgerichtet sind. Der Grund für dieses Vorgehen ist, dass der biomedizinische Ansatz die individuelle Ebene der Erhebung für einen Nachweis im Sinn der analytischen Epidemiologie erforderlich macht, was nicht gegeben ist, wenn in »ökologischen Studien« globalere aggregierte Daten verwendet werden. Multi-Level-Studien dagegen versuchen, neben der individuellen Analyseeinheit beispielweise auch »Wohngebiet« als Analyseebene und area deprivation als strukturelle Faktoren, die nicht mit individuellem SES gleichzusetzen sind, zu berücksichtigen. Innerhalb der genannten ernährungsepidemiologischen Datenbanken gibt es ein Beispiel hierfür, in welchem area deprivation als mit niedriger Lungenfunktion assoziiert nachgewiesen wurde – und zwar unabhängig vom individuellen sozio-ökonomischen Status und individuellem Rauchverhalten – (Shohaimi et al. 2004). Als Schlussfolgerung betonen die Autor/innen die Notwendigkeit, Prävention nicht nur auf Hochrisiko-Individuen auszurichten, sondern auch Umweltfaktoren zu berücksichtigen (Shohaimi et al. 2004). Auch bei der Untersuchung des Einflusses von area deprivation, in einer Querschnittsstudie wird auch diese parallel wieder individualisiert, um den epidemiologischen Nachweis anzutreten. Einige neuere Studien untersuchen diese Effekte zusätzlich als local area socio-economic disadvantage – mit einem aus Zensusdaten generierten geografischen Index – nachdem sie den individuellen sozio-ökonomischen Status für ihre Studienpopulation bereits berücksichtigt haben (Adams et al. 2009). Dabei fanden sie einen wenn auch kleinen so doch signifikanten Anteil dieser lokalen Indikatoren am Gesamtrisiko – für einige Faktoren wie Rauchen, Gesundheitsverhalten und Lebensqualität – jedoch keine unmittelbaren Zusammenhänge mit der Krankheitshäufigkeit selbst (Adams et al. 2009).
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Die Sozialepidemiologie wie auch die Umweltepidemiologie stehen häufig unter dem Druck, nach den etablierten Hierarchien der Epidemiologie Expositionsdaten auf individueller Ebene zu generieren und damit sicher zu stellen, dass Ergebnisse nach den gängigen Standards überhaupt in Wissenschaft, Praxis und Politik gehört werden. Denn das, was durch das epistemologische Raster gegenwärtig akzeptierter Standards nicht abgesichert werden kann, bleibt unbestimmter Teil des statistischen Rauschens. Michelle Murphy hat das Problem epidemiologischer Nicht-Dokumentierbarkeit bestimmter Effekte – aufgrund festgeschriebener Standards für das, was als Evidenz gilt – als regimes of imperceptibility bezeichnet (Murphy 2004; Bauer 2008).
»R ÜCKÜBERSETZUNGEN « SOZIALEPIDEMIO LOGISCHER R ISIKOSCHÄTZUNGEN Präventive Maßnahmen als Test-Anordnung: Interventionsstudien Parallel zu den Beobachtungsstudien analytischer Epidemiologie, die Bevölkerungsgruppen unterschiedlicher Exposition bezüglich ihrer Krankheitshäufigkeit vergleichen, wurden experimentelle Studiendesigns wie die »randomisierte Interventionsstudie« entwickelt. Als Präventionsstudien, die nicht nur dokumentieren sondern auch verändernd eingreifen sollten, waren sie ähnlich wie klinische Studien als Interventionen, jedoch für die Präventionsforschung konzipiert. Über die Randomisierung – das heißt die zufällige Zuordnung von Teilnehmenden in die Interventionsgruppe bzw. die Kontrollgruppe – werden dann unbekannte Confounders kontrolliert und so die quantitative Schätzung des Präventionseffektes ermöglicht. Im Gegensatz zu Beobachtungsstudien und ätiologischer Forschung zielten solche experimentellen Interventionen auch darauf ab, »Lebensstile« in der Studiengruppe kontrolliert zu ändern und dabei gleichzeitig die Gesundheitseffekte der Interventionen mit zu evaluieren. Wie in der klinischen Medizin gewann auch in Public Health die evidenz-basierte Medizin (EBM) an Prominenz – es wird von evidenz-basierter Prävention gesprochen und – analog zu klinischen Studien – wurden entsprechend Interventionsstudien implementiert.
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Wie in der klinischen Medizin wurden auch in Public Health randomisierte Designs favorisiert, um der durch die EBM geforderten Evidenzgraden nachzukommen (Sackett 1995; Weisz 2005). In Interventionsstudien wird die Zuordnung der Teilnehmenden nach einem Zufallsverfahren durchgeführt und damit das Problem potentieller Störfaktoren durch diese Randomisierung kontrolliert. Dies bedeutete auch, dass solche Studien nach den Konventionen der EBM anderen Studien gegenüber als überlegen gelten. In diesem Sinn waren die Interventionsstudien nicht nur ein Mittel, um von der Ätiologie zur Prävention überzugehen – vielmehr waren sie auch ein Weg, entsprechend der aktuellen Standards, den wissenschaftlichen Wert der Studienergebnisse zu steigern. Dies wurde durch einen experimentellen Vergleich verschiedener Interventionsoptionen – beispielsweise unterschiedlich intensiver Lebensstil-Interventionen (mit bzw. ohne Gruppenterminen, mit mehr bzw. weniger Beratung) – erreicht. Das hier entstehende Modell einer wissenschaftlichen Governance spielt zunehmend auch eine Rolle in der sog. »evidenzbasierten Politik«. In vielen Politikfeldern gewinnen analog angelegte so genannte outcome studies und quantitative Auswertungen wie im Qualitätsmanagement an Bedeutung, da sie Umfang, Kosten und Effizienz von »Interventionen« aller Art einem Management zugänglich machen. Ein Effekt statistischer Subgruppenbildung, welcher auf für Individuen erhobenen Daten basiert, ist eine schrittweise Anpassung der Prävention an Profile – gerade durch statistische Neugruppierungen. Diese SubgruppenBildungen basieren auch auf Konzepten der individuellen Suszeptibilität. Suszeptibilität, Vulnerabilität oder Benachteiligung Konzeptionell sind die Variablen aus der Genomik in die epidemiologische Forschung integriert worden, indem man auf das Konzept der Suszeptibilität rekurrierte. Dabei hat insbesondere der Begriff der individuellen Prädisposition eine lange Tradition – als Teil des epidemiologischen »Dreiecks« aus »Agens, Wirt, Umwelt«, wie es im Zuge der Bakteriologie des späten 19. Jahrhunderts entwickelt wurde. Das Konzept spielt auch bis in das 21. Jahrhundert hinein eine Rolle – mit immer komplexeren Varianten, in denen die individuelle Konstitution des »Wirts«, Wechselwirkungen zwischen »Umwelt« und »Agens« immer wieder in anderen Formationen anzutreffen sind. Insbesondere
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versprach die molekulare Epidemiologie die black box zwischen Exposition und Krankheit zu öffnen: Mit der Einbeziehung molekularer Marker wurde eine bessere, personalisierte Medizin sowie »maßgeschneiderte« Interventionen, die sich gezielt an so genannte suszeptible Subpopulationen wenden, in Aussicht gestellt. Mit der molekularen Epidemiologie wurde die Suszeptibilität des »Wirts« zu einem durch Daten zu Polymporphismen und Haplotypen vermittelten Forschungsgegenstand der Bioinformatik und statistischer Modellierung. Der Begriff der Suszeptibilität fungiert als boundary object (Star/Griesemer 1989), mit dem in beiden Bereichen – Epidemiologie und Genetik/Genomik – operiert werden kann. Eine Kombination von Epidemiologie und Genetik ist keinesfalls neu, sondern hat bereits eine Tradition vor der Genomforschung. Bereits Lehrbücher aus den 1970er Jahren führten genetische Epidemiologie als »middle ground« zwischen Epidemiologie und Genetik ein; beiden Richtungen gemeinsam sei vor allem die Analyse von Pfaden als konzeptueller Ansatz, um kausale Mechanismen der Pathogenese zu untersuchen. So haben es sowohl Epidemiologie als auch Genetik mit Gen-UmweltInteraktionen zu tun – mit dem Unterschied, dass für die Genetik die Determinanten nun der Spezies intrinsisch sind und deren Umweltherkunft lange Zeit zurück liegt. Für die Epidemiologie dagegen sei die Umwelt ein aktuelles Ereignis, das Lebenszeit-Ereignisse in der Gegenwart mit konstituiert (Morton/Chung 1978). Mit der Frage nach Suszeptibilität als Zielstellung epidemiologischer Untersuchungen der Gen-Umwelt-Interaktionen blieb der Fokus meist auf individualisierbaren Faktoren. Insbesondere die vorwiegend untersuchten Gen-Lebensstil-Interaktionen entsprechen damit den klassischen biomedizinischen Modellen der Risikofaktorenepidemiologie. Aktuelle epigenetische Forschung fokussiert u.a. auf Methylierung und bleibenden Veränderungen der Genexpression, die z.B. durch frühe Ernährung oder Umweltexposition festgelegt und dann epigenetisch vererbt werden können. Die Erforschung solcher molekularen Pfade des somatischen embodiment wird derzeit in der Ernährungsund Umwelt-Epigenetik verfolgt (Landecker 2010). Konzeptualisiert diese Forschungsrichtung das »Soziale« als Kontext auch der molekularen Prozesse, so wird es erforderlich, auch die physische und soziale Umwelt auf molekularer oder biochemischer Ebene zu erfassen. Konkret privilegiert eine solche molekular-epidemiologische Perspektivierung individualisierbare und molekularisierbare Prozesse bei der Er-
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forschung des »Sozialen«. Lebensstilfaktoren und insbesondere strukturelle Parameter wie Sozioökonomie oder Diskriminierung werden vor allem dann in den Blick genommen, wenn ein molekularer Zusammenhang als biologisch plausibler Wirkungspfad zwischen Exposition und Erkrankung formuliert werden kann. Gegen individualisierte Konzepte des Risikos und die Fokussierung des individuellen Lebensstils wandten sich Sozialepidemiolog/innen, als sie strukturelle Variablen zur Erforschung von sozialer Ungleichheit gerade einforderten. Neben der Epigenetik des Verhaltens wird auch an der durch soziale Bedingungen verursachten Speicherung, Prägung und Plastizität molekularer Mechanismen bereits gearbeitet. Infrastrukturen für Genexpressionsstudien am Menschen werden über epidemiologische Biobanken zwar aufgebaut, entsprechende direkte epidemiologische Studien über mehrere Generationen mit epigenetischen Fragestellungen sind derzeit jedoch kaum absehbar. Von individueller Suszeptibilität zu sozialer Vulnerabilität Sozialepidemiolog/innen haben oft die fehlende Aufmerksamkeit epidemiologischer Forschung für soziale Faktoren und Umweltfaktoren kritisiert. Ihrer Ansicht nach werden diese viel zu oft reduziert auf einen Satz an Kovariablen oder Confounders, die statistisch kontrolliert werden müssen, anstatt selbst Gegenstand der Studie zu werden. In diesem Kontext wird der Begriff Public Health, manchmal auch population health oder »Bevölkerungsgesundheit« strategisch verwendet, um die soziale Public Health Agenda zu stärken – im Gegensatz zu den als reduktionistisch kritisierten biomedizinischen Konzepten. Allerdings ist das Konzept der Suszeptibilität in der Public Health Literatur weit verbreitet – die Frage der interindividuellen Variation, herauszufinden »warum manche gesünder sind als andere«, scheint als zentrales Anliegen gesundheitswissenschaftlicher Forschung immer wieder auf. Dieser Blick auf eine Bevölkerung aus unterschiedlichen Individuen, wirkt performativ bezüglich der Differenzierung in weitere Subpopulationen. Der Begriff der Suszeptibilität kommt als genetische Prädisposition und als individuelle Konstitution vor – in der konstitutionellen Medizin, in behavioristischen Ansätzen und in Konzepten des Risikos durch Lebensstil, soziale Bedingungen, genetische Disposition und epigenetische Prägung. Eine genaue Untersuchung der
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Praxen jedenfalls zeigt, dass auch in Bezug auf Suszeptibilität nature und nurture weit mehr verwoben sind, als diese Dichotomie erwarten lässt. Mit der Genomforschung hat sich auch das Verständnis von Umwelt gewandelt – es geht nun um eine andere molekulare Umwelt, die nicht mehr nur außerhalb sondern auch innerhalb des individuellen Körpers liegen kann. Umgekehrt steht auch das Genetische nicht länger isoliert von seiner Umwelt – Gene werden als an- bzw. ausgeschaltet oder moduliert durch ihre epigenetische Umwelt beschrieben. Mit dieser zunehmenden Integration von Komplexität oder Kontext wird jedoch nicht nur die Genetisierung oder Molekularisierung von Leben und Umwelt vorangetrieben, sondern auch eine Bewegung zurück vom Molekül zu komplexen Umwelten, die mit durch Gesellschaft formiert werden. Inwieweit darüber und über Epigenetik das »Soziale« als »Milieu« eine neue Rolle spielen wird, bleibt zu verfolgen. Das deterministische Verständnis der Gene wurde spätestens Ende der 1990er Jahre durch das Konzept der Gen-Umwelt-Interaktion bezüglich umweltbedingter Erkrankungen – der Interaktion genetischer Suszeptibilität mit Einwirkungen der Umwelt – abgelöst. Aktuell wird dieses Modell wiederum von einem postgenomischen Modell der »erworbenen Suszeptibilität« abgelöst. Die aus der Genomik entstandenen »Omics-Technologien« – welche u.a. als Transkriptomik, Epigenomik, Proteomik und Metabolomik die Gesamtheit der Proteine oder der Stoffwechsel-Metaboliten zu erfassen suchen – werden nun eingesetzt, um diese Suszeptibilitäten in ihrer Gesamtheit zu erfassen und sukzessive zu charakterisieren. Dabei erweitert sich der Blick zu einem Fokus auf komplexe Interaktionen. Gene werden nicht mehr deterministisch gedacht. Im Zusammenhang mit der Debatte um Prägung versus Vererbung, sprechen Epidemiolog/innen inzwischen auch von »erworbener Suszeptibilität« und »klinischer Vulnerabilität«, die sowohl genetisch als auch epigenetisch bedingt oder erworben sein kann (Vineis et al. 2009). Hier sind insbesondere die Verschiebungen und Anschlüsse an die Sozialmedizin über Konzepte der Vulnerabilität5 und Benachteiligung von Interesse. Im Gegensatz zu Suszeptibilität werden die Begriffe 5 Diese Verschiebung – von »individuellen Risikoverhalten« zu »sozialer Vulnerabilität« – wurde insbesondere auch von Aids-Aktivist/innen gegen stigmatisierendes Risikogruppendenken in die Biomedizin getragen (Waldby 1996).
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Vulnerabilität oder Benachteiligung bisher weitaus weniger verwendet. Im Gegensatz zu genetischer Suszeptibilität generiert der Begriff der »sozialen Vulnerabilität« andere Assoziationen – nicht im statistischen Sinn, sondern dadurch, dass sie auf andere Weise »performen«. Je nach den dabei eingegangenen Verbindungen ergeben sich verschiedene »Übersetzungen« und jeweils andere Handlungsräume für Public Health: Welche Intervention plausibel erscheint, hängt davon ab, woran die Konzepte der Suszeptibilität oder Vulnerabilität geknüpft werden. Ob Prävention bei Verhalten oder Verhältnissen ansetzt, richtet sich auch danach, ob von genetischer Disposition oder sozialer Vulnerabilität ausgegangen wird – entsprechend wird dann über Konsumempfehlungen auf individueller Ebene bzw. bei ubiquitären Stoffen durch staatliche Regulierung wirtschaftlicher und industrieller Verfahren interveniert. Wie Mervyn Susser (1999), als der die Integrität der Risikofaktorenepidemiologie von molekular bis sozial verteidigte, hat sich auch Nancy Krieger gegen Dichotomisierungen von Risikofaktorenepidemiologie und Sozialepidemiologie ausgesprochen und explizit ein theoretisches konzeptionelles Framework hierfür eingefordert (Krieger 1999). Schafft man ein gesondertes Gebiet der Sozialepidemiologie, das keine Risikofaktorenepidemiologie ist, so wären soziale Faktoren für die allgemeine Epidemiologie nicht mehr relevant. Im Latourschen Sinn wäre dem »Sozialen« ein noch viel grundlegenderer Status zu gewähren: Das »Soziale« wäre innerhalb – im Dazwischen der Parameter – des flexiblen web of causation und im »Knüpfen« von Verbindungen selbst zu finden; es sind diese Verbindungen in the making, die das »Soziale« herstellen.
S CHLUSS Gerade als ein Teil der gesundheitswissenschaftlichen Forschung in den letzten zehn Jahren die molekulare Dimension der Public Health Genetik zu entdecken schien, war die postgenomische Epidemiologie bereits wieder auf einem anderen Weg: zurück zur Integration »sozialer« Komplexität. Während Komplexität hier neu operationalisiert wird, wird auch das »Soziale« in neue (quasi)experimentelle Konstellationen gebracht. Ob diese Versionen des »Sozialen« dabei wiederum als zu kontrollierende Confounders behandelt werden oder ob daraus
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neue Modellierungen der Komplexität entstehen, scheint derzeit offen. Umwelt, soziale Benachteiligung und deren embodiment in biologischen Prozessen – ihre Einschreibung in das Leben selbst – haben aktuell Auftrieb auch innerhalb der Biowissenschaften erhalten. Dies ist nicht zuletzt dadurch bedingt, dass sich die Visionen einiger genetischer Epidemiolog/innen bezüglich des Potentials genetischer Faktoren und Gen-Umwelt-Interaktionen nicht erfüllten, da mit genetischen Assoziationsstudien nur wenige und meist schwache genetische Marker identifiziert werden konnten. Mit dem Aufstieg eines durch Risikomanagement geprägten Denkens in Konsum, medizinischer Praxis und Forschung werden Gesundheit und Krankheit weniger über das Normale und das Pathologische gedacht, sondern zunehmend in ein Kontinuum aufgelöst: Oft werden nicht Symptome sondern Risikofaktoren in den Blick genommen und »gesund« bedeutet gleichzeitig »unter Risiko« oder »präsymptomatisch krank«. Multiple »Ursachen« oder vielmehr »statistische Determinanten« von Gesundheit und Krankheit werden in der Forschungspraxis der Risikomodellierung simultan auf verschiedenen Ebenen – von molekular bis zu äußeren Bedingungen – bearbeitet. Auf ähnliche Weise geschieht auch die Optimierung in Alltag und Gesundheitspolitik als Präventivmedizin immer frühzeitiger – das »Risikofaktoren«-Denken erfährt dabei eine performative Umsetzung auch als eine molekulare Biopolitik durch präventive Risikooptimierung im Alltag. Epidemiologische Schätzungen »relativer und absoluter Risiken« sind heute nicht nur in der biomedizinischen Forschung ubiquitär. Sie kursieren in Sprechzimmern, in Empfehlungen zur Krankheitsprävention sowie im Management, in Gesundheitspolitik und Populärkultur. Risikoabschätzungen ziehen sich durch Politik und Praxis von Public Health und Gesundheitsversorgungssystemen. Um Risikoschätzer zu berechnen versammeln epidemiologische Studien Informationen aus ansonsten getrennten Bereichen: Diese können von molekularen Markern oder Details von Alltagsgewohnheiten wie die Zahl der pro Tag konsumierten Tassen Tee bis hin zu hier als »Makro«-Ebene verstandenen Variablen wie Erziehung, Einkommen oder soziale Netzwerke reichen. Das »Soziale« wird hier explizit Teil epidemiologischer Modellierungen – zum Beispiel als »soziale Klasse« oder als »sozioökonomische Risikofaktoren« operationalisiert. Damit lassen sich strukturelle Ungleichheiten statistisch sichtbar machen, gleichzeitig
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stellt die Epidemiologie auch den Ort der Entwicklung und Aushandlung von Werkzeugen für diese Sichtbarmachung dar. Die Gesundheitswissenschaften verfolgen in der Regel einen pragmatischen Ansatz, der sich an Dateninfrastrukturen, proxies und große Zahlen hält – oft ohne die zugrundeliegenden Annahmen explizit zu machen. Ihre quantitativen Methoden sind hochgradig reguliert, jedoch gleichzeitig offen genug, um pragmatisch weitere Faktoren als potentielle Determinanten mit in die statistische Modellierung aufzunehmen. Somit kann über epidemiologische Statistik Biopolitik nicht nur betrieben, vielmehr können ihre Effekte auch aufgezeigt werden – im Sinn einer »Biolegitimität« (Fassin 2009) kann damit strukturelle Ungleichheit bzw. strukturelle Benachteiligung als solche sichtbar gemacht werden. Nach Alain Desrosières haben gerade die statistischen Technologien – beispielsweise wären hier Sozialstatistik wie Armutsberichterstattung und Gesundheitsberichterstattung zu nennen – die Konstitution eines Raums erst ermöglicht, in dem das »Soziale« politisch diskutierbar wird (Desrosières 2005). Latours Ansatz folgend sind es die Prozesse des assembling selbst, die als empirischer Forschungsgegenstand – als »Soziales Nr. 2« – weiter zu entwickeln wären: Welche Bereiche werden miteinander verbunden? Wie können Verbindungen gemacht, aufgezeigt und gestaltet werden? Mit einer »Soziologie der Assoziationen« wird hier eine Verschiebung vorgenommen – zu einer anderen Perspektivierung epidemiologischer Studien, die statistische Assoziationen als quasikausale Zusammenhänge testen: Anstatt ein statisch-quantitatives »Soziales« hinzuzufügen, um bisher nicht erklärte Residuen quantitativ zu erfassen, können so die Konstitutionsprozesse statistischer datascapes in den Fokus der Analyse rücken. Während diese datascapes kein »komplexes Soziales« erfassen und umsetzen, bringen sie bestimmte »Sphären des Sozialen« produktiv hervor – dies für sich kann potentiell in entgegen gesetzte Richtungen wirksam werden – etwa als Reduzieren des komplexen »Sozialen« zu einem Confounder im ätiologischen Modell oder aber als strukturelles Sichtbarmachen gesundheitlicher Ungleichheit. Einerseits scheint die Epidemiologie durchaus das »Soziale« in Erklärungsmodelle der Krankheitsverursachung hineinzuholen – allerdings oft mit dem Effekt, dass damit alle anderen Dimensionen als »nicht-sozial« oder als vom »Sozialen« abgetrennt erscheinen. Latour weiter folgend könnte man für Teile epidemiologischer Arbeit auch
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fragen, ob das Feld der Epidemiologie nicht selbst, gerade durch die Verbindungen so konkreter Variablen wie Einkommen, Diskriminierung mit Gesundheit/Krankheit – längst dabei ist, neue Assemblagen zu entwickeln, die bereits über den »sozialen Kontext« hinausgehen. Damit könnte der Blick auf die stetigen Interventionen in die Wissensbildung sowie auf die Neuformulierungen der Relationen, die Variablen eingehen können, gerückt werden. Von hier aus könnten die Umsetzungen und Einschreibungen des »Sozialen« als komplexe, relationale und prozessuale Kategorie weiter verfolgt werden. Eventuell stellt genau dies ein produktives Feld dar, in dem sich für Epidemiologie wie Wissenschaftsforschung Anknüpfungspunkte ergeben können – trotz der oft diametral entgegen gesetzten Strategien im disziplinären Alltagsgeschäft. Wenn auch epidemiologische Studien stabile Standardisierungen erfordern, finden dort zahlreiche Neuzusammensetzungen statt – im Prozess des Studiendesigns und der Entwicklung von Instrumenten, die auch komplexe soziale Effekte in ihrem Einfluss auf Gesundheit dokumentierbar machen. Weitere Möglichkeiten, Verbindungen einzugehen wären symmetrische Ansätze, welche die meist fortgeführte analytische Trennung von Natur/Kultur und Biologie/Soziales für die konkreten Praxen hinterfragen. Damit lassen sich aus beiden Richtungen – Wissenschaftsforschung wie Epidemiologie – die Formationen und Assemblagen von »Leben« und die Lebenswissenschaften neu perspektivieren. Von den Zirkulationen der Wissensformationen zwischen Forschung und Alltag ausgehend, wurde aufgezeigt, wie die Translationen epidemiologischer Ergebnisse – von molekular bis sozial – jeweils unterschiedliche Modalitäten des Intervenierens nahe legen können. »Assoziationsstudien« im epidemiologischen Sinn führen das »Soziale« als Kategorie – operationalisiert als »soziale Faktoren« oder »sozio-ökonomischer Status« im Sinn von Risikofaktoren – ein, um das Verbleibende (damit als »nicht-sozial« konstituiertes) zu erklären. Inspiriert durch eine »Soziologie der Assoziationen« (Latour 2007) kann epidemiologische Praxis jedoch gerade als »Gesellschaft hervorbringend« verstanden werden. Statt auf den »sozialen Kontext« von Gesundheit zu verweisen oder »Soziales« auf standardisierte Variablen zu beschränken, könnten Epidemiologie und Wissenschaftsforschung jeweils auf ihre Art die beteiligten Aktanten neu versammeln. Ein solches erweitertes Konzept des »Sozialen« geht über »soziale Kontextualisierung« und über Dekonstruktion hinaus – es ermöglicht
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gleichzeitig politische Analysen der Neu-Assemblagen des »Lebens« in Gesellschaft.
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Autorinnen und Autoren
Amelang, Katrin ist Doktorandin am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin. Aktuell verfasst sie ihre Dissertation zu Chronizität und Normalisierung in medizinischen Praktiken, die auf einer ethnografischen Studie zu Alltags-, Körperund Wissenspraktiken nach einer Lebertransplantation beruht. Zuletzt hat sie zusammen mit Stefan Beck »Comparison in the wild and more disciplined usages of an epistemic practice« im Buch »Thick Comparison. Reviving an ethnographic aspiration « (Brill, 2010) veröffentlicht. Email-Adresse: [email protected] Bauer, Susanne ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-PlanckInstitut für Wissenschaftsgeschichte in Berlin. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Wissensgeschichte, Wissensanthropologie, Wissenschafts- und Technikforschung im Feld Biomedizin, Epidemiologie und Public Health. Aktuelle Veröffentlichungen: Contested Categories. Life Sciences in Society (Hg., mit Ayo Wahlberg, Ashgate 2009). U.a. hat sie in den Zeitschriften Studies in History and Philosophy of the Biological and Biomedical Sciences, Environmental Health und Surveillance Studies publiziert. Email Adresse: [email protected] Beck, Stefan ist Professor am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin. Er arbeitet aus wissensanthropologischer Perspektive zu biomedizinischen und lebenswissenschaftlichen Themen. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören u.a.: Translating Experience into Biomedical Assemblages. Observations on European Forms of (Imagined) Participatory Agency in Healthcare. In: Thomas Mathar and Yvonne J.F.M. Jansen (eds.): Health Promotion and Prevention Programmes in Practice. Münster 2010, S. 195-222;
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Historizität, Materialität und Hybridität von Wissenspraktiken: Die Entwicklung europäischer Präventionsregimes im 20. Jahrhundert. In: Geschichte und Gesellschaft H. 34, Herbst 2008, S. 489-523 (zusammen mit Martin Lengwiler); Natur | Kultur. Überlegungen zu einer relationalen Anthropologie. In: Zeitschrift für Volkskunde, 104 Jg., 2008/II, S. 161-199. Email Adresse: [email protected] Couillliot, Marie-France ist Dozentin für Public Health an der Universität Paris 13, Ärztin und als Forscherin dem Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé angegliedert. Ihr Forschungsinteresse liegt auf Pflegepraktiken im Krankenhaus, vor allem im Bezug auf Schmerzbehandlung und der Pflege am Ende des Lebens. Sie veröffentlichte Artikel in den Zeitschriften Revue d’épidémiologie et de santé publique, Palliative Medicine und European Journal of Palliative Care. Email Adresse: mf. [email protected] Fassin, Didier ist Ethnologe, Soziologe und Arzt. Er ist Professor für Sozialwissenschaften am Institute for Advanced Studies in Princeton und Directeur d’étude an der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales in Paris. Bis Ende 2010 leitete er das Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé. Seine Forschungen befassen sich mit der Politik- und Moralanthropologie gegenwärtiger Gesellschaften. Zu seinen letzten Veröffentlichungen gehören La raison humanitaire (Seuil, 2010); When bodies remember. Experiences and politics of AIDS in South Africa (University of California Press, 2007), L’Empire du traumatisme. Enquête sur la condition de victime (mit Richard Rechtman, Flammarion, 2008) sowie die Herausgeberschaft von dem Sammelband Les Nouvelles frontières de la société française (La Découverte, 2010). Email Adresse: [email protected] Hauray, Boris ist Soziologe, Forscher am Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM) und gehört dem Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé (IRIS) an. Seine Forschungen befassen sich mit biomedizinischen Politiken in Europa. Er hat unter anderem L’Europe du médicament (Presses de Sciences Po, 2006) veröffentlicht, sowie Artikel in den Zeitschriften Sociologie du travail, Annales.
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Histoire, Sciences Sociales und dem Journal of European Public Policy. Email Adresse: [email protected] Kehr, Janina ist Sozialanthropologin und Politikwissenschaftlerin. Sie ist Doktorandin an der Ecole des hautes études en sciences sociales und der Humboldt Universität zu Berlin (co-tutelle) und ist an das Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé (IRIS) sowie an das Institut für Europäische Ethnologie der HU angegliedert. In ihrer Doktorarbeit forscht sie zu Praktiken klinischer Medizin und des öffentlichen Gesundheitswesens am Beispiel von Tuberkulose in Frankreich und Deutschland. Sie hat unter anderem veröffentlicht » The politics and poetics of migrant tuberculosis » in The Tapestry of Health, Illness and Disease (Rodopi, 2009) und » Geographien der Gefahr » in Medizin im Kontext (Peter Lang, 2010). Email Adresse: [email protected] Kontopodis, Michalis ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt Universität zu Berlin. Er arbeitet mittels ethnographischer Interviews und Beobachtung zu Körperpraktiken und Wissenstransfer in Kindergärten und Schulen. Zu seinem letzten Veröffentlichungen gehören unter anderem Children, Development, Education: Cultural, Historical, Anthropological Perspectives (Hrsg. mit C. Wulf & B. Fichtner, Springer, 2011) & Technologien des Selbst im Alltag: eine relational-materielle Annäherung (Hrsg. Mit J. Niewöhner, transcript, 2010). Email Adresse: michalis. [email protected] Lemke, Thomas ist Professor für Soziologie mit dem Schwerpunkt Biotechnologie, Natur und Gesellschaft am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main Seine Arbeitsgebiete und Forschungsschwerpunkte sind: Gesellschaftstheorie, soziologische Theorie, Biopolitik, politische Soziologie, Wissenschafts- und Techniksoziologie. Aktuelle Publikationen: Biopolitik zur Einführung (Junius Verlag, 2007); Der medizinische Blick in die Zukunft. Gesellschaftliche Implikationen prädiktiver Gentests (zusammen mit Regine Kollek, Campus, 2008), Governmentality: Current Issues and Future Challenges (hg. zusammen mit Ulrich Bröckling und Susanne Krasmann, Routledge, 2010). Email Adresse: [email protected].
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Niewöhner, Jörg ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin, Koordinator des dortigen Labors: Sozialanthropologische Wissenschafts- und Technikforschung und principal investigator am Center for Integrative Life Sciences. Seine Arbeit konzentriert sich auf ethnographische Forschung in peripheren urbanen Milieus, medizinischer Praxis und lebenswissenschaftlicher Forschung. Seine Aufsätze sind unter anderem in Science, Technology & Human Values und Neural Networks erschienen. Aktuell: Epigenetics – Embedded bodies and the molecularisation of biography and milieu in BioSocieties. Email Adresse: [email protected] Pulman, Bertrand ist Soziologe und Kulturanthropologe. Er ist Professor für Soziologie am Institut Santé, Médecine, Biologie Humaine der Universität Paris 13 und dem Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé (IRIS) angegliedert. Er arbeitet zur Schnittstelle von Sozialwissenschaften und Psychoanalyse sowie zu sozialen Problemstellungen im Hinblick auf Bioethik. Er veröffentlichte unter anderem Anthropologie et psychanalyse. Malinowski contre Freud (Presses Universitaires de France, 2002) und Mille et une façons de faire les enfants. La révolution des méthodes de procréation (Calmann-Lévy, 2010). Email Adresse: [email protected] Rödel, Malaika ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Goethe-Universität Frankfurt, im Arbeitsbereich Biotechnologie, Natur und Gesellschaft. Sie arbeitet an einem Dissertationsprojekt zu »gen(dered) bodies – Natur Technologie und Körper in den Diskursen in der Humangenetik« und hat ihre Forschungsschwerpunkte in den Bereichen Biopolitik, Wissenschafts- und Technikforschung sowie feministische und soziologische Zugänge zu Körper und Reproduktionstechnologien. Zu ihren Veröffentlichungen gehört: Mediale »Reinigungsarbeit«. Der Diskurs um die PID in der ZEIT. In: Liebsch, Katharina/Manz, Ulrike (Hg.): Leben mit den Lebenswissenschaften. Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? (Transcript, 2010). Email Adresse: ma.roedel@ soz.uni-frankfurt.de
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Vailly, Joëlle ist Soziologin, Kulturanthropologin und Biologin. Sie ist Forscherin am Nationalen Institut für Gesundheit und medizinische Forschung (INSERM) und Mitverantwortliche des Forschungsbereichs » Biomedizin, Gesundheit, Arbeit » des Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé (IRIS). Sie arbeitet zu den sozialen und politischen Herausforderungen von Biomedizin, Genetik und Gesundheit. Sie hat unter anderem in den Zeitschriften Social Science & Medicine und Sciences Sociales et Santé, sowie Artikel in Sammelbänden bei den Verlegern La Découverte und Profil veröffentlicht. Email Adresse : [email protected] Vassy, Carine ist Soziologin, Dozentin an der Universität Paris 13 und dem Institut de Recherche Interdisciplinaire sur les Enjeux Sociaux. Sciences sociales, Politique, Santé (IRIS) angegliedert. Sie forscht im Bereich Gesundheit zu Professsionalisierungsprozessen, öffentlichen Politiken und wissenschaftlichen Innovationen. Sie hat unter anderem Artikel in den Zeitschriften Sociology of Health and Illness, Social Science and Medicine und Revue Française de Sociologie veröffentlicht. Email Adresse : [email protected]
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Susanne Bauer, Christine Bischof, Stephan Gabriel Haufe, Stefan Beck, Leonore Scholze-Irrlitz (Hg.) Essen in Europa Kulturelle »Rückstände« in Nahrung und Körper 2010, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1394-0
Michalis Kontopodis, Jörg Niewöhner (Hg.) Das Selbst als Netzwerk Zum Einsatz von Körpern und Dingen im Alltag 2010, 228 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1599-9
Martin Lengwiler, Jeannette Madarász (Hg.) Das präventive Selbst Eine Kulturgeschichte moderner Gesundheitspolitik 2010, 390 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1454-1
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
VerKörperungen/MatteRealities – Perspektiven empirischer Wissenschaftsforschung Katharina Liebsch, Ulrike Manz (Hg.) Leben mit den Lebenswissenschaften Wie wird biomedizinisches Wissen in Alltagspraxis übersetzt? 2010, 282 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1425-1
Jörg Niewöhner, Christoph Kehl, Stefan Beck (Hg.) Wie geht Kultur unter die Haut? Emergente Praxen an der Schnittstelle von Medizin, Lebens- und Sozialwissenschaft 2008, 246 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-89942-926-8
Willy Viehöver, Peter Wehling (Hg.) Entgrenzung der Medizin Von der Heilkunst zur Verbesserung des Menschen? März 2011, 312 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1319-3
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de